Paradox und Ausdruck in Spinozas »Ethik« 9783787340231, 9783787340224

Die derzeitige Konjunktur von Spinozas Philosophie auch im deutschen Sprachraum ruft nach neuen Zugängen und Methoden zu

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German Pages 271 [272] Year 2021

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Paradox und Ausdruck in Spinozas »Ethik«
 9783787340231, 9783787340224

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PA R A TIMON BOEHM

Paradox und Ausdruck

DEIG in Spinozas Ethik

M A TA

PARADEIGMATA 43

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

TIMON GEORG BOEHM

Paradox und Ausdruck in Spinozas Ethik

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-4022-4 ISBN eBook 978-3-7873-4023-1

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Spinoza Gesellschaft e. V. und der Kulturförderung Kanton Graubünden/SWISSLOS © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Für Andrea und Anna-Sophia

Inhalt

1

Problemstellung: Ethik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.1 1.2

.....

11

..... ..... .....

15 20 22

Methodik: Problem, Paradox, Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . .

27

1.3 1.4 2

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3

Mos geometricus und das Paradox von Form und Inhalt Das Problem des Anfangs und die vermeintliche Neutralität der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemgeschichtliche Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . Adaptation der problemgeschichtlichen Methodik . . . . Paradoxien: Entstehung und Typen . . . . . . . . . . . . . . . Unterscheidungen und Bedeutungsverschiebungen . . .

....

27

. . . . .

35 37 41 44 49

. . . . .

. . . . .

. . . . .

Die implizite Ethik in Spinozas Metaphysik. Eine kurze Problemgeschichte der Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1

Causa sui und die Probleme des infiniten Regresses und der Schöpfung aus dem Nichts . . . . . . . . . . . . . Substanzbegriff und das Problem der Selbständigkeit Attributbegriff und das Problem der Erkennbarkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottesbegriff und die Probleme des Anthropomorphismus und der Transzendenz . . . . . Moralkritik und revisionäre Ethik . . . . . . . . . . . . . .

53

...... ......

53 56

......

61

...... ......

66 73

Causa sui oder ein Anfangsparadox mit Folgen . . . . . . . . . . . . . . . .

79

3.2 3.3 3.4 3.5 4

Spannungen und Risse im Werk und in der Rezeption . Bestimmungsversuche des Verhältnisses von Ethik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein alternativer Begriff von Ethik: Moral als Problem . Eine alternative Methodik: Paradoxien und Ausdruck .

11

4.1 4.2 4.3 4.4

Paradox und Entparadoxierung des causa-sui-Begriffs. Paradox's revenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Substanz als causa sui. Übertragung von Paradoxien . . Herleitung der Ausdrucksrelation aus dem Begriff der causa sui . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Causa sui und Folgeparadoxien . . . . . . . . . . . . . . . . .

..... .....

79 81

..... .....

83 85

8

Inhalt

5

Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck .

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6

7.4 7.5

. . . . .

. 89 . 93 . 96 . 101 . 107

Modi und das Problem endlicher Dinge . . . . . . . . . . . . . . Das Paradox von Gott und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzeldinge und das Problem der Teilbarkeit von Substanz Das Paradox der Teilbarkeit des Unteilbaren . . . . . . . . . . Das Paradox von Modi als Dingen und als Eigenschaften .

. . . . .

. . . . .

Eine kurze Geschichte des Ausdrucksbegriffs . . . . . . . . . . . Eine kurze Systematik des Ausdrucksbegriffs . . . . . . . . . . . Der Ausdruck im Bezug auf die Relationen begreifen, verursachen, inhärieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ausdruck als Grundrelation der Immanenzphilosophie Anhang: Die Vorkommnisse von exprimere in der Ethica . .

111 114 117 118 123

. 130 . 134 . 138 . 143 . 146

Macht und Univozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 9

. . . . .

Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

7.1 7.2 7.3

8

. . . . .

Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7

Das Problem mehrerer Substanzen gleichen Attributs . . Leibniz' Einwand und die Unabhängigkeit der Attribute Das Problem von Einheit und Vielheit in der Substanz . Das Paradox von Substanz und Attributen . . . . . . . . . . Das Paradox des Substanzmonismus . . . . . . . . . . . . . .

89

Essenz, Existenz und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Univozität und das Problem der Verteilung von Macht Urteile und das Problem der Hierarchie . . . . . . . . . . . Aufwertung von Einzelwesen und Abwertung von Gattungsnormativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Rahmen für neue Fragestellungen: Was drücken Affekte und Handlungen aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . 151 . . . . . 155 . . . . . 157 . . . . . 161 . . . . . 166

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht . . . . . . . . . .

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Conatus als Trägheitsprinzip . . . . . . . . . . . . Conatus als Selbsterhaltungsprinzip . . . . . . Conatus als creatio-continua-Prinzip . . . . . Das Problem der Wirksamkeit in den Dingen Das Paradox der Individuation von Modi . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

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. . . . .

. . . . .

151

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

169

171 172 175 178 182

Inhalt

9.6 9.7 10

9

Das Paradox von Ewigkeit und Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . 186 Das Paradox von Kausalität und Finalität . . . . . . . . . . . . . . . 189

Wille und das Problem von Erkennen und Handeln . . . . . . . . . . . . .

10.1 Voluntarismus und das Problem des Dualismus von Körper und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Das Problem der Vermögen und das Paradox der Allmacht Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Das Problem der Kontingenz und der freie Wille . . 10.4 Der menschliche Wille als conatus . . . . . . . . . . . . . 10.5 Das Paradox von Erkennen und Handeln . . . . . . . . 11

. . . . . . . 193 . . . .

196 200 203 205

Handlung und das Problem der Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 12

Formen von Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen des Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . Die Wirksamkeit von Finalursachen . . . . . . . . . Die Struktur des Handlungsbegriffs . . . . . . . . . . Das Paradox von Handlung und Nicht-Handlung

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210 212 217 219 224

Freiheit und das Problem von Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

12.1 Umkehrfiguren und das Problem des Normenfolgens 12.2 Das Paradox einer Theorie der Normativität . . . . . . 12.3 Konstruktionen von Normativität: von den notiones communes zum iterativen Tracing-Verfahren . . . . . . 12.4 Das Paradox von Freiheit und Notwendigkeit . . . . . . 13

193

. . . . .

. . . . . . 228 . . . . . . 232 . . . . . . 235 . . . . . . 240

Affekte, Ausdruck und Symptom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13.1 13.2 13.3 13.4

Analyse von Affekten . . . . . . . . . . . Umkehrfiguren: Können statt Sollen Paradoxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Schlusswort zum Ausdruck . . . .

. . . .

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. . . .

247

. . . .

247 253 254 257

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

ἐδιζησάµην ἐµεωυτόν Ich durchforschte mich selbst (Heraklit, DK 22 B 101)

Moral als Problem. – Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr, – sie taugt am wenigsten zur Philosophie. Die »Selbstlosigkeit« hat keinen Werth im Himmel und auf Erden; die grossen Probleme verlangen alle die grosse Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen. Es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glück hat, oder aber »unpersönlich«: nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht. [. . .] Wie kommt es nun, dass ich noch Niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur Moral in dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem und dies Problem als seine persönliche Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr Das gerade, worin man, nach allem Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit einander überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufathmeten, auflebten. (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 345)

1 Problemstellung: Ethik und Metaphysik

1.1 Spannungen und Risse im Werk und in der Rezeption

Wer Spinozas Ethica aufschlägt, wird zunächst von ihrer Darstellungsform überrascht sein: Der Text ist gegliedert in Vorworte, Definitionen, Axiome, Lehrsätze, Beweise, Scholien und Anhänge, eine Struktur, die sich in allen fünf Buchteilen wiederholt. Die Titel dieser Teile verraten die Weite der durchquerten Gebiete, aus heutiger Sicht Metaphysik, Physik, Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie, Emotionspsychologie, Tugendlehre, Staats- und Sozialphilosophie, all das unter dem einen Titel »Ethik«. 1 Dies mag erstaunen, das Staunen aber ist der Anfang der Philosophie. Zum Staunen gehört, dass diese Darstellungsform unabhängig vom jeweils verhandelten Inhalt ist. Ob von metaphysischen oder ethischen Themen gesprochen wird, stets werden sie nach der einen, von Euklid übernommenen axiomatischdeduktiven Methode behandelt. Während diese Methode für metaphysische Belange durchaus plausibel ist (obwohl es keine zwingende Verbindung von Metaphysik und Mathematik gibt), erscheint sie für Fragen der Ethik zunächst eher abwegig. Eine erste Spannung besteht also zwischen dem vielfältigen Inhalt und der einheitlichen Form. Weiter fallen am Text selbst ganz unterschiedliche Vokabularien auf. So lautet die erste Definition der Ethica: »Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Essenz Existenz einschließt, anders formuliert das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann«, ihr letzter Lehrsatz aber: »Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern genau die Tugend; noch haben wir eine innere Freude an ihr, weil wir unsere sinnlichen Lüste hemmen; sondern umgekehrt, weil wir an ihr eine innere Freude haben, können wir unsere sinnlichen

1 Vgl. Hampe und Schnepf 2006, S. 2. Die genauen Titel der fünf Teile lauten: »Über Gott, Über die Natur und den Ursprung des Geistes, Über den Ursprung und die Natur der Affekte, Über die menschliche Knechtschaft oder die Kraft der Affekte, Über die Macht des Verstandes oder die menschliche Freiheit«. Sie werden im Folgenden mit E1-E5 abgekürzt. Aus historischer Perspektive ist eine solche Abfolge nicht ungewöhnlich. So behandelt Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica im I. Buch »Gottes Dasein und Wesen«, im ersten Teil des II. Buchs das »Ziel und Handeln des Menschen« und im zweiten Teil des II. Buchs dann »Glaube und Hoffnung«, »Liebe« und »Tugenden des Gemeinschaftslebens«.

12

Problemstellung: Ethik und Metaphysik

Lüste hemmen.« 2 Zwischen metaphysischen Termini wie Essenz und Existenz und ethischen Termini wie Glückseligkeit und Tugend ist Spinozas ganzes Gedankengebäude aufgespannt. Dazu kommt auch ein theologisches Vokabular: Glück läuft darauf hinaus, auf eine bestimmte Weise ›in Gott‹ zu sein, und ein physikalisches: Durch Bewegung und Ruhe unterscheiden sich Körper. Diese vielfältigen Vokabularien lassen ebenfalls eine Spannung aufkommen: Rationalität und Religiosität, theoretische Analyse und praktische Erfahrung überkreuzen sich bei Spinoza auf charakteristische Weise. Michael Hampe konstatiert: »Spinoza was possibly the last modern philosopher to tolerate it [the relationship between science and wisdom] within his work, before it was subsumed in a kind of ›division of labour‹ between religion, psychotherapies, literature and science.« 3 Richtet man drittens den Fokus noch schärfer auf die einzelnen Begriffe, stellt man nicht nur unterschiedliche Vokabularien, sondern einen von den jeweils gängigen Bedeutungen abweichenden Gebrauch fest. Bei vielem, was direkt an Descartes oder den niederländischen Cartesianismus von Clauberg, Geulincx oder Heereboord anknüpft, finden sich Verschiebungen, beispielsweise bei Spinozas Verwendung des frühneuzeitlichen Begriffs conatus. Es ist, als ob die Signifikate unter den Signifikanten hinwegglitten, so dass sich bei genauerem Hinsehen auch hier unter der glatten Oberfläche des mos geometricus Spannungen und Risse abzeichnen. 4 Vielleicht sind es solche Spannungen und Risse, die sich bewusst oder unbewusst in einer nicht nur vielfältigen, sondern geradezu disparaten Rezeptionsgeschichte fortpflanzen. In ganz unterschiedlichen Lesarten dieses klassischen Textes werden verschiedene Topoi ins Zentrum gestellt und verschiedene Gewichtungen unter den Teilen vorgenommen. Fast jede Deutung benennt andere historische Gegner oder andere Beweisziele. Schließlich hat auch das 2 Die hier verwendete Fassung der Ethica ist die Neuübersetzung von Wolfgang Bartuschat, Spinoza 2010a. 3 Hampe 2010, S. 49. Grundsätzlich ist aber eine Heterogenität in frühneuzeitlichen Texten nicht so außergewöhnlich, wie wir heute vielleicht denken, wie auch das Beispiel von Descartes zeigt: »In ein und demselben Traktat konnten metaphysische neben praktischen Fragen verhandelt werden, Berichte über Natur-Beobachtungen neben theoretischen Erklärungen stehen, autobiographische Exkurse neben trockenen Deduktionen, Tabellen neben kühnen Metaphern, und eindrucksvollen Abbildungen. Descartes handelt z. B. innerhalb einer Schrift, der Dioptrik, von Brechungsgesetzen, von Sinnesphysiologie und Anatomie, von Instrumentenbau und Linsenschleiferei.« Zittel 2009, S. 18. 4 Mit den abweichenden Bedeutungen soll nicht auf Leo Strauss angespielt werden, demzufolge Spinoza einerseits in einer bestimmten Sprache zur Öffentlichkeit spreche (ad captum vulgi loqui), andererseits als Vorsichtsmaßnahme den eigentlichen Bedeutungsgehalt geheim halte bzw. einem Kreis von Eingeweihten vorbehalte, Strauss 1981. Dieser Deutung wurde von Chantal Jacquet widersprochen, Jaquet 2005.

Spannungen und Risse im Werk und in der Rezeption

13

mathematische Kleid der Ethica zu allen Zeiten ebenso fasziniert wie irritiert. Die Spanne der Deutungen des mos geometricus reicht von einem strikten System bis zu einem diskursoffenen Gebilde. Und während die einen darin eine Innovation für das Philosophieren sahen, taten es andere ab als »Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie – ›die Liebe zu seiner Weisheit‹ zuletzt, das Wort richtig und billig ausgelegt – wie in Erz panzerte und maskirte«. 5 Was bei Nietzsche mit viel Verve vorgetragen wird, aber letztlich ›friendly fire‹ ist, fällt bei anderen Rezipienten weniger freundlich aus. Spinoza wurde des Atheismus bezichtigt, angefeindet und verleumdet, besonders einschneidend durch den Bannfluch der jüdischen Gemeinde Amsterdams. Entsprechend waren die Principiae Philosopiae Cartesianae von 1663 das einzige Werk, das er zu Lebzeiten (1632–1677) unter seinem Namen veröffentlichen konnte. Der religiöse und moralische Zündstoff, den seine Schriften bargen, konnte keinem aufmerksamen Leser entgehen. Sogleich nach ihrer posthumen Veröffentlichung 1677 wurde die Ethica auf den Index des Vatikans gesetzt, und im Zuge der kritischen Rezeption durch Friedrich Heinrich Jacobi entbrannte in Deutschland der ›Spinoza-Streit‹, eine heftige Kontroverse um Rationalismus, Fatalismus, Atheismus und Pantheismus, die man in Spinozas System angelegt sah. 6 In der weiteren Rezeption wurde Spinozas Philosophie nicht nur als Pantheismus (in Kurzformel: Gott gleich Natur) oder Atheismus (Natur ohne Gott) bezeichnet, sondern von Hegel als Akosmismus (Gott ohne Natur). Solche Divergenzen, die an diametral entgegengesetzte Pole des Denkens führen, sind umso erstaunlicher, als doch gerade die einheitliche und stringente Satz-Beweis-Form diese zu vermeiden zu versuchen scheint. Fritz Kaufmann, ein Schüler Husserls, der zur Wiederentdeckung Spinozas in den Vereinigten Staaten maßgeblich beitrug, schrieb: »It is strange that Spinoza's philosophical system, glorying as it does in its complete impartiality and its rigorous logic, has in the course of time become an object of widely varying interpretations and of most passionate assent und dissent.« 7 Diese Disparatheit der Rezeption zeigt sich auch in epochenbedingten Präferenzen. Der Deutsche Idealismus interessierte sich vor allem für den ersten Teil »Über Gott«, der bei Schelling etwa zu einer Philosophie des Absoluten wurde, während den folgenden Teilen kaum Beachtung geschenkt wurde, da sie nur vom Besonderen und Einzelnen handeln, das gegenüber dem Absoluten So Friedrich Nietzsche in JGB 5, KSA 5.19. Zum Pantheismusstreit siehe Goldenbaum 2011. Die Alternative, vor die sich Jacobi durch Spinoza gestellt sah, war entweder Philosophie als Atheismus oder Nicht-Philosophie als Glaube. Gerade dies versucht Spinoza aber zu unterlaufen, vgl. Kap. 6. 7 Kaufmann 1940, S. 83. 5

6

Problemstellung: Ethik und Metaphysik

14

als defizient galt. Für Schelling war die Besonderheit »[n]ichts außerdem als dieß, daß sie ihren Allgemeinbegriff nicht vollkommen ausgedrückt in sich darstellt, weil sie nur zum Theil ist, was sie ihrem Begriff nach seyn könnte. Kurz also, weil sie Negation ihres Allgemeinbegriffs ist.« 8 Gerade in der Kritik der Allgemeinheit liegt aber, wie wir sehen werden, eine nominalistische Pointe Spinozas. Umgekehrt verhält es sich mit der Gewichtung im Materialismus, der den Idealismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzulösen begann. So erklärte etwa der Physiologe Johannes Müller (1801–1858), dass die Affektenlehre als unabhängig von der Metaphysik gelesen werden könne, und betrachtete sie als das eigentliche Verdienst Spinozas: »Sollte der Verfasser in kurzem sich darüber erklären, was ihm eine wissenschaftliche physiologische Behandlung der Psychologie sey, so würde er, wenngleich gegen den Verdacht des Spinozismus sich wohl verwahrend, doch keinen Anstand nehmen die drei letzten Bücher der Ethik des Spinoza, welche von den Leidenschaften handeln und deren psychologischer Inhalt von den übrigen Lehren dieses Mannes als unabhängig angesehen werden kann, nahmhaft zu machen. Denn wenn diese Lehren auch nicht die rechten über das Leben in den Leidenschaften wären, [. . .], so erleidet es doch keinen Zweifel, daß sie wenigstens wirklich Erklärung des Lebens der Methode und dem Inhalt nach sind; was man von den meisten psychologischen Untersuchungen nicht sagen kann.« 9 Auch in der heutigen Zeit wird die Ethica von sehr unterschiedlichen Strömungen rezipiert. Auf der theoretischen Seite sind es vor allem analytische Philosophen wie Michael Della Rocca oder Jonathan Bennett, die sich mit Fragen der begrifflichen Konsistenz befassen. Der mos geometricus wird dabei als Versuch einer möglichst rigorosen Argumentation auf dem Höhepunkt des Rationalismus gesehen. Auf der praktischen Seite sind hauptsächlich drei Strömungen auszumachen: eine politische Richtung mit Vertretern aus dem französischen und italienischen Sprachraum wie Louis Althusser oder Antonio Negri, welche sich in Anlehnung an den Tractatus-theologico-politicus für Spinozas Machtbegriff und Demokratietheorie interessieren; 10 eine ökologische Richtung mit Arne Næss und eine therapeutische Richtung mit Thomas Cook und Michael Hampe, für die die Ethica eine Weisheitslehre mit transformatorischem Anspruch für Individuen ist. Hier sind auch die zahlreichen Arbeiten Schelling 1860, S. 184. So beruht für Schelling das Böse auf dem Beharren auf der Unabhängigkeit von Gott. Zu Schellings Spinozismus siehe Kisser 2013 und zum Verhältnis Spinozas zum Deutschen Idealismus im Allgemeinen die Aufsätze im thematischen Sammelband von Walther 1992. Zu Fragen der Subjektivität bei Spinoza siehe Renz 2010. 9 Müller 1967, S. IV. 10 Zu einer Analyse der Immanenz der Macht in politischer und soziologischer Hinsicht siehe Saar 2013 und Referenzen darin. 8

Bestimmungsversuche des Verhältnisses von Ethik und Metaphysik

15

zu Spinoza und der Psychoanalyse zu verorten. 11 Die Durchlässigkeit zwischen der theoretischen und der praktischen Rezeption ist aber gering und selten Gegenstand systematischer Forschungen. Hier liegt eine erste Motivation für dieses Buch, nämlich die genannten rezeptionsgeschichtlichen Schemata durch einen neuen methodischen Zugang zu unterlaufen, der in Kap. 2 näher vorgestellt wird. Schließlich sind auch die Textgattungen in der Spinoza-Forschung unterschiedlich. Nebst Studien zu einzelnen Themenbereichen, der Mehrzahl der Beiträge, gibt es umfangreiche Detailkommentare wie diejenigen von Wolfson, Gueroult oder Macherey und historische Gesamtüberblicke wie diejenigen von Kuno Fischer oder Adolf Trendelenburg. 12 Jüngst erschien von Manfred Walther eine dreibändige Gesamtübersicht über Spinozas Philosophie in religionsphilosophischer, juridischer und rezeptionsgeschichtlicher Perspektive. 13 Zudem wurde Spinoza zu allen Zeiten auch zur Nobilitierung eigener Positionen herangezogen, zunächst von Lessing, Herder, Goethe und Nietzsche, zuletzt auch von Davidson und Brandom, die sich für ihren anomalen Monismus resp. Inferentialismus auf Spinoza berufen. Das umfassende Ziel des vorliegenden Buchs ist, den Spannungen und Rissen in der Ethica auf eine Weise nachzugehen, wie es in den genannten Forschungen und Rezeptionen bisher noch nicht geschah, und dabei eine neue Methodik zum Verständnis von Spinozas Philosophie zu entwickeln. Ein erster Ansatz dazu ist das Verhältnis von Metaphysik und Ethik.

1.2 Bestimmungsversuche des Verhältnisses von Ethik und Metaphysik

Der Verlauf der im Werk konstatierten Spannungen zwischen unterschiedlichen Vokabularien, Themen und Teilbereichen der Philosophie und deren selektive Rezeption können anhand des Verhältnisses von Ethik und Metaphysik genauer verfolgt werden. Gewöhnlich wird die Metaphysik dem ersten, die Ethik dem dritten, vierten und fünften Teil der Ethica zugeschlagen. In diesen hinteren Teilen führt Spinoza einen Handlungsbegriff (E3), einen Tugendbegriff (E4) und einen Glücksbegriff (E5) ein. Wenn man aber von Metaphysik und Ethik spricht, geschieht dies aus heutiger Warte, und könnte daher eine Siehe z. B. Handwerker Küchenhoff 2006 und Referenzen darin. Therpeutische Aspekte in der Ethica wurden auch von Ursula Renz und Dominik Perler angesprochen. Renz 2008, S. 322–327 und Perler 2011, S. 415–442. 12 Vgl. Trendelenburg 1850. V. a. die Darstellung von Kuno Fischer (1824–1907) spielte für die Rezeption Nietzsches eine wichtige Rolle, vgl. Fischer 1898. 13 Walther 2018a, Walther 2018b, Walther 2018c. 11

Problemstellung: Ethik und Metaphysik

16

irreführende Rückprojektion sein. Vor Wolff und Kant war eine solche Unterscheidung in ›Disziplinen‹ kaum geläufig. Auch die platonischen Dialoge, die nach der Richtigkeit von Handlungen fragen (etwa Euthyphron), sind unabhängig von Einsichten über die Grundstrukturen der Welt (Timaios) und unabhängig von der Frage nach Erkenntnis oder Wissen (Theaitetos). Selbst Aristoteles' Nikomachische Ethik und seine Metaphysik lassen sich getrennt lesen, so wie sie auch getrennt motiviert werden: Das Projekt einer Metaphysik beruht auf dem Streben nach Wissen (τὸ εἰδέναι), dasjenige einer Ethik auf dem Streben nach Glück (εὐδαιµονία). Zu Spinozas Zeiten waren die hauptsächlichen Gebiete (und Antagonisten) Metaphysik und Theologie. Wenn wir in diesem Buch also öfter von ›Metaphysik‹ und ›Ethik‹ sprechen, dient dies vor allem zur leichteren Verständigung. Bezeichnenderweise kommt der Terminus »Metaphysik« in der Ethica nur beiläufig vor, der Terminus »Ethik«, außer im Titel, gar nicht! 14 So muss es auch als eine Funktion des mos geometricus angesehen werden, verschiedene Gebiete unabhängig von früheren oder späteren Einteilungen und Bezügen zu durchstoßen. Ein Satz aus der ›Affektenlehre‹: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges« (3p7), steht direkt in Verbindung mit einem Satz aus der ›Metaphysik‹: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt« (1p36). 15 Diese interne Verweisstruktur ist prinzipiell unabhängig von Disziplineneinteilungen, befördert also die Durchlässigkeit auch zwischen Theorie und Praxis. (Man könnte sie heute als Netz von Hyperlinks bzw. als mathematischen Graphen darstellen.) Versuchen wir unter diesen Vorzeichen dennoch, die Begriffe Metaphysik und Ethik bei Spinoza genauer einzukreisen. Ein Indiz findet sich in einem Brief an Blyenbergh, wo die Frage diskutiert wird, ob ein Dieb und ein Rechtschaffener gleich vollkommen und glücklich sind. 16 Spinoza verneint sie, denn »unter einem Rechtschaffenen verstehe ich jemanden, der beständig wünscht, daß jeder das Seine besitze, welcher Wunsch, wie ich in meiner Ethik (die noch nicht herausgegeben ist) beweise, bei den Frommen notwendig aus der klaren Erkenntnis, Die zwei Stellen sind: »Et quamvis theologi et metaphysici distinguant inter finem indigentiae et finem assimilationis« (1app). Sowie: »entia metaphysica vel universalia« (2p48s). Dagegen hatte Spinoza noch den Titel Cogitata Metaphysica für den Anhang der Principiae Philosophiae Cartesianae verwendet. Zu den Abkürzungen s. Fußnote 15. 15 Textstellen aus der Ethica werden hier wie folgt gekennzeichnet: a = axioma (Axiom), app = appendix (Anhang), c = corollarium (Zusatz), def = definitio (Definition), dem = demonstratio (Beweis), lem = lemma (Hilfssatz), p = propositio (Lehrsatz), praef = praefatio (Einleitung), s = scholium (Anmerkung). 1p36 steht also für den sechsunddreißigsten Lehrsatz des ersten Teils. Die Abkürzung Ep. (epistola) bedeutet Brief. 16 Ep. 23. Willem van Blyenbergh war Getreidehändler und calvinistischer Laientheologe in Dordrecht und stand im zeitweiligen Briefwechsel mit Spinoza. 14

Bestimmungsversuche des Verhältnisses von Ethik und Metaphysik

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die sie von sich und von Gott haben, hervorgeht. Und da nun der Dieb einen derartigen Wunsch nicht hat, so entbehrt er notwendig der Erkenntnis Gottes und seiner selbst, d. h. des Vornehmsten, was uns zu Menschen macht.« Daraus lässt sich entnehmen, dass Ethik (hier als Werkprojekt) von der Erkenntnis Gottes abhängt. In Ep. 27, ebenfalls an Blyenbergh, schreibt Spinoza weiter, dass »Sie auch den Beweis eines großen Teiles der Ethik verlangen, die bekanntlich auf der Metaphysik und der Physik begründet werden muß.« Er erklärt, dass derlei Fragen »nicht begriffen werden, ohne daß man zuvor die Notwendigkeit der Dinge versteht, denn Sie wissen, daß die Notwendigkeit der Dinge die Metaphysik berührt und daß die Kenntnis dieser stets vorangehen muß.« 17 Mit dieser Erklärung könnte ein Reduktionismus gemeint sein, bei dem ein ethisches Sollen aus einem metaphysischen Sein abgeleitet wird. Damit würde aber Spinoza in den Verdacht eines naturalistischen Fehlschlusses geraten. 18 Und tatsächlich gibt es an vielen Stellen seines Werks Spannungen zwischen Faktizität und Normativität. Auch im Tractatus politicus scheint sich Spinoza an natürlichen Fakten orientieren zu wollen und kritisiert diejenigen, die versuchen, »eine menschliche Natur, die es nirgendwo gibt, in höchsten Tönen zu loben, und diejenige, wie sie tatsächlich ist, herunterzureden. Sie stellen sich freilich die Menschen nicht vor, wie sie sind, sondern wie sie sie haben möchten; und so ist es gekommen, daß sie statt einer Ethik meistens eine Satire geschrieben und niemals eine Politik-Theorie konzipiert haben, die sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe« (TP, Kap. I, § 1, S. 7). 19 Aufschlußreich ist Bei den Briefen ist, nun eher im Sinne von Leo Strauss, stets auch eine Politik des Offenlegens und Verschweigens am Werk, umso mehr in einem heiklen Austausch wie demjenigen mit dem klerusnahen Blyenbergh. Spinoza durchschaut auch dessen Absicht, ihn öffentlich diffamieren zu wollen, und setzt hinzu, dass Blyenberghs Absicht nur sei, »jedem meine Meinung mitzuteilen, aber nicht um sie zu beweisen noch um die Leute davon zu überzeugen.« (Ep. 27) 18 Die Terminus »naturalistic fallacy« wurde durch G. E. Moore prominent: »Aber viel zu viele Philosophen haben gemeint, daß sie, wenn sie diese anderen Eigenschaften nennen [die Dinge, die gut sind, auch noch haben, Vf.], tatsächlich ›gut‹ definieren; daß diese Eigenschaften in Wirklichkeit nicht ›andere‹ seien, sondern absolut und vollständig gleichbedeutend mit Gutheit [goodness]. Diese Ansicht möchte ich den ›naturalistischen Fehlschluß‹ nennen.« Moore 1970, S. 40 f. sowie Kap. I passim. Vor ihm hat schon Hume den Schluss von Sein auf Sollen für unrechtmäßig erklärt. 19 Marcel Senn hat darauf hingewiesen, dass Spinozas Freiheits- und Rechtsbegriff »weder positivistische noch abstrakte Leerformeln [sind]. Sie sind vielmehr solide Begriffe einer funktionalen Wirklichkeitssicht. Spinoza erzeugt [aber] gerade keine postulative Wirklichkeitssicht, weshalb er auch keinen erkenntnistheoretischen Tabubruch im Sinne des späteren Kantianismus begeht, d. h. Spinoza leitet so wenig wie Kant ein Sollen aus dem Sein ab, sondern er fragt stattdessen nur, aber radikal und konsequent, danach, wie es überhaupt möglich sei, in der Wirklichkeit so etwas wie Recht aus Freiheit und Selbstbestimmung erfolgreich zu generieren. Es geht also um eine funktionale Analyse dieses Problems, wie richtige Erkenntnis möglich sei und diese zugleich auch die richtige Lebensweise verbürgen könne und wie – mit Hinweis auf König Salomo – ein innerer und äusserer Frieden entstünde.« Senn 2017, S. 88. 17

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Ep. 27, insofern der Hinweis auf die ›Notwendigkeit‹, also eine Modalitätsform, als Argument für die Metaphysik im Gegensatz zu einer ›Freiheit‹ zu stehen scheint, die gemeinhin als Bedingung der Möglichkeit einer Ethik angenommen wird. Aus dem Titel Ethica selbst lässt sich dazu wenig erschließen, zumal er wahrscheinlich nicht von Spinoza, sondern von seinen posthumen Herausgebern stammt. Das in der vatikanischen Bibliothek vorfindliche Exemplar beispielsweise ist weder mit einem Titel noch einem Frontispiz versehen. »The text of the manuscript starts off directly with the first definitions of the Ethics. The codex does not have a frontispiece, nor does it carry any precise title. This absence is probably not accidental, nor is it inexplicable or does it have to be attributed to a simple error on the part of the scribe. Rather, it may attest to the uncertainty of the author himself who wavered in establishing a definite title. Indeed, at various points, Spinoza hints at the problems he met in classifying his book through a title that might eventually appear inappropriate or unfit for the wide range of issues he tackles in this work. In the Tractatus de intellectus emendatione he speaks about his Philosophia as a work in progress in which he plans to present his thought at length. The title of the definite exposition of his system, Ethica, occurs for the first time in a letter to Willem van Blijenberg of 13 March 1665.« 20 So schließen die Herausgeber des Vatikan-Manuskripts: »In light of these considerations, the lack of a frontispiece or any indication of a title on the Vatican manuscript, may hardly surprise us. Indeed, it seems safe to assume that the name Ethics was possibly devised on the basis of the contents of that work, and then given to it by the editors of the posthumous works, rather than being chosen by the author himself.« 21 Verschiedene Kommentatoren haben in Ermangelung klarer Indizien deshalb ›das Ethische‹ im Sinne eines Fluchtpunkts zu bestimmen versucht. Für Pierre Macherey ist die Ethica: »une réflexion menée dans une perspective répondant, du début jusqu'à la fin, à une préoccupation essentiellement éthique«. 22 Bernhard Rousset konstatiert eine Verlagerung in den fünf Buchteilen vom Metaphysischen zum Ethischen im engeren Sinne: »pour finalement constituer dans la Préface de la Cinquième [partie] le noyau de ce qui est purement ›éthique‹.« 23 Eine solche Verlagerung finde aber nicht nur in der Ethica, sondern im ganzen Werk Spinozas statt: »ce qui devait être, en 1661– 1663, la ›Philosophie‹, sera appelé, à partir de 1665, ›Ethique‹.« 24 Ohne die 20 21 22 23 24

So die Herausgeber Spruit und Totaro 2011, S. 2. Vgl. oben Ep. 23. Ebd., S. 4. Macherey 1997, S. 3. Rousset 1991, S. 43. Ebd., S. 40.

Bestimmungsversuche des Verhältnisses von Ethik und Metaphysik

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systematischen Bezüge näher auszuführen schließt er: »il conviendrait alors de parler plutôt du poids de l'Ethique dans tout son effort philosophique, qui a amené Spinoza à l'Ethique.« 25 Der in den letzten Jahrzehnten wichtigste Vorschlag, das Verhältnis von Ethik und Metaphysik zu bestimmen und dadurch eine Gesamtdeutung der Ethica vorzunehmen, stammt von Wolfgang Bartuschat. 26 Bartuschats Grundgedanke ist die Vermittlung zwischen Unendlichem und Endlichem, die er auf Metaphysik und Ethik bei Spinoza überträgt: »Metaphysik ist als Ethik zu entwickeln und zwar deshalb, weil in der Ethik erst jener Bezug des in der Metaphysik erörterten Absoluten auf das endlich-Einzelne explizierbar ist.« 27 Eine solche Vermittlung werde durch die Metaphysik selber verlangt, denn ohne Ethik bliebe sie eine abstrakte und leere Theorie allgemeiner Strukturen. Dadurch bestimme sich nun, so Bartuschat, was Ethik für Spinoza bedeute: »Von diesem Problem der Vermittlung zwischen Endlichem und Absolutem her, das für eine Philosophie des Absoluten zentral ist, sich aber nur in einer Weise praktischen Handelns einer Lösung zuführen läßt, erhält der Titel ›Ethik‹ [. . .] seine rechte Bedeutung. Für das Verhältnis von Metaphysik und Ethik eröffnet er eine Perspektive, derzufolge weder die Ethik nur einen Anwendungsbereich metaphysischer Prinzipien darstellt, noch die Metaphysik nur konzipiert wird, um das Fundament für eine auf ihr aufbauende Ethik zu legen, sondern Metaphysik und Ethik sich wechselseitig bestimmen.« 28 Das eigentliche Ziel ist dabei eine Theorie des Menschen, die aus einer doppelten Perspektive, von Gott und dem menschlichen Subjekt ausgehend, in einer Praxis mündet. Das vorliegende Buch nimmt die Idee einer wechselseitigen Bestimmung von Metaphysik und Ethik (immer unter dem proviso der Problematik dieser Trennung) auf, konzipiert aber deren Auseinander-Hervorgehen auf andere Weise: Die Entwicklung erfolgt durch wiederholte Auflösung des paradoxen Verhältnisses von Metaphysik und Ethik im Ganzen. Wie bei Bartuschat ist es eine innere Notwendigkeit, die dabei treibend ist, doch werden hier nicht Konzepte aus einer bestimmten Epoche, namentlich dem Deutschen Idealismus (Vermittlung, Absolutes), übernommen und auf Spinoza angewendet, sondern mit den Paradoxien eine epochenunabhängige Perspektive eingenommen. Paradoxien waren zu allen Zeiten ebenso irritierende wie fruchtbare Denkmittel. Und es wird sich herausstellen, dass die diagnostizierten Spannungen und Risse Ebd., S. 47. Dabei ist auch zu beachten, dass die Ethica in zwei Etappen geschrieben wurde: die Teile eins und zwei um 1662–1665/6, die Teile drei bis fünf um 1671/2–1675. 26 Dazu ist in Bartuschat 2017f eine Reihe von Aufsätzen gesammelt, die über einen größeren Zeitraum entstanden sind. 27 Bartuschat 1990, S. 209. 28 Ebd., S. 225. 25

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letztlich Symptome der paradoxalen Verfasstheit der Ethica sind. Die Wahl dieser Herangehensweise wird in den nachfolgenden Abschnitten der Einleitung und die entsprechende Methodik im Kap. 2 ausführlich begründet.

1.3 Ein alternativer Begriff von Ethik: Moral als Problem

Anknüpfen lässt sich auch an eine inhaltliche These von Bartuschat, dass nämlich Ethik bei Spinoza mit Moralkritik einhergeht: »Spinoza gilt als ein scharfer Kritiker der Moral, sofern mit Moralität Normativität verbunden ist, eine Form des Sollens, die aller Faktizität transzendent ist und darin, das ist Spinozas Kritik, einer Illusion anhängt, die ohne Kraft in der Gestaltung des zwischenmenschlichen Lebens ist und insofern nicht leistet, was eine Theorie der Moral zu leisten beansprucht.« 29 Zunächst negativ gesagt, sucht also die Ethica eine Befreiung von einer derartigen Illusion, denn die »Erkenntnis des Allgemeinen ist gegenüber dem individuellen Begehren ohne Kraft, wenn es als eine bloße Vorschrift auftritt, an der dieses sich ausrichten sollte, dies umso mehr, weil sie als Vorschrift das Begehren fremdbestimmte und darin das provozierte, was sie gerade zu vermeiden sucht: Haß gegen eine Instanz, die von außen gebietet und in einem solchen Gebot das Individuum nicht in dem nimmt, wie dieses sich selber versteht.« 30 Im Tractatus theologico-politicus stellt Spinoza klar, dass niemand durch gesetzlichen Zwang Tugenden entwickeln kann: »Die Einfalt und Aufrichtigkeit der Gesinnung wird Menschen weder von der Herrschaft der Gesetze noch von einer öffentlichen Autorität eingeflößt, und schlechterdings niemand kann gewaltsam oder mit Zwang von Gesetzen dazu gebracht werden, glückselig zu werden; hierfür sind fromme und brüderliche Ermahnungen, eine gute Erziehung und vor allem ein freies und eigenständiges Urteilen erforderlich.« (TTP, Kap. 7, [21], S. 143.) Einer Ethik nach Spinoza, so die hier vertretene erste Hauptthese, kann es also nicht um die Herleitung von Normen im Sinne von Handlungsvorschriften mit universeller Geltung gehen. Im Gegenteil ist seine Ethica gerade eine Kritik an der Vorstellung, menschliches Handeln könne überhaupt durch vorgesetzte Ziele und Regeln bzw. überzeitliche Ideale des Guten bestimmt werden (einziges Ideal ist die Erkenntnis überhaupt). Wie aber kann man eine solche These verifizieren? Der Angriffspunkt muss die Quelle der kritisierten Moral sein, und das ist in der Tradition Gott (vgl. Bartuschat 2017d, S. 220. Zumindest im deutschsprachigen Raum ist Moral meist mit einem Pflichtbegriff verbunden zur Erfüllung allgemeinverbindlicher Normen. 30 Bartuschat 2006, S. 121. 29

Ein alternativer Begriff von Ethik: Moral als Problem

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Kap. 3). Was Spinoza dabei vor allem kritisiert, ist das Bild eines anthropomorphen und transzendenten Gottes. Er tut dies, wie wir sehen werden, indem er die metaphysischen Grundbegriffe konsequent durchdenkt, in Paradoxien führt und deren traditionelle Bedeutungen, d. h. auch Unterscheidungen, kollabieren lässt. Nach Marc Rölli »ermöglicht Spinoza einen neuartigen philosophischen Blick auf die traditionellen metaphysischen Annahmen und Gegensätze. Tatsächlich sind die abstrakten Vorstellungen von Freiheit, Ordnung, Moral, Gott auf ein Modell des Denkens bezogen, das die Welt der geschaffenen Dinge (natura naturata) zum Ausgangspunkt der Betrachtung wählt. Auf diese Weise etabliert sich in der philosophischen Tradition ein Dualismus, welcher der Natur und ihrer (›bloß mechanischen‹) Gesetze ein Anderes und Ursprünglicheres entgegensetzt, eine transzendente höchste Realität.« 31 Die »richtige Ordnung des Philosophierens« (2p10s) geht zwar auch nach Spinoza von Gott aus, aber von einem ›richtig‹ gedachten und nicht nach menschlicher Maßgabe vorgestellten Gott. Über diesen Angriffspunkt werden dann alle Formen des Sollen, die auf einer transzendenten Gebothaftigkeit beruhen, ausgehebelt. Insofern Normen auch erfüllt werden sollen, gehen sie mit einer Teleologie einher. Ereignisverläufe müssen so gelenkt werden, dass vorgesehene Ziele auch erreicht werden. Spinozas umfassende Teleologiekritik ist bekannt (s. vor allem 1app). In der weiteren Untersuchung wird sich zeigen, dass er aber nicht gegen jegliche Form von Teleologie antritt, sondern vor allem gegen Tendenzen, die das τέλος des Menschen in der Erfüllung einer Gattungsnormativität sehen, sowie gegen die eschatologische Teleologie der Religionen. Ebenfalls wird sich zeigen, dass trotz dieser Kritik auch die Ethica nicht ohne Normen auskommen kann. Sie betrachtet diese aber als entstanden, zeitlich, graduierbar und an verschiedene Adressaten gerichtet. Was in E3, E4 und E5 an Normativität aufgebaut wird, muss stets an das Grundbegehren des Menschen, den conatus, rückgebunden sein bzw. graduell aus ihm heraus entwickelt werden. Genau hier befindet sich der zweite Angriffspunkt; er betrifft die Wirksamkeit von Normen. Ideale sind, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, zur praktischen Handlungsorientierung nicht wirklich tauglich. Weshalb man sich gegenüber anderen ›ethisch richtig‹ verhält, liegt nicht an abstrakten Konzepten wie ›Menschenwürde‹ oder ›Solidarität‹, sondern daran, dass man mit ihnen eine Affektgeschichte teilt, die sich in vielfältigen Bindungsmustern niedergeschlagen hat. Normativität ist deshalb auf eine andere Grundlage zu stellen und dazu dient bei Spinoza eine radikale Umkehrfigur. Sie besagt, dass wir nicht etwas begehren, weil wir es für gut halten, sondern etwas für gut halten, weil wir es begehren (3p9s). Diese Gedankenfigur findet sich schon bei Hobbes und 31

Rölli 2018, S. 39 f.

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Problemstellung: Ethik und Metaphysik

dann auch bei Nietzsche. Sie ist die Grundlage für eine anti-idealistische (bei Hobbes materialistische, bei Nietzsche physiologische) und anti-teleologische Normativität. Aus ihr resultiert eine andere Art ethischer Verbindlichkeit, die sich nicht auf eine abstrakte Vernunft beruft, sondern in Individuen selbst verankert ist. Dieser Formel entspricht auch der eingangs zitierte letzte Lehrsatz der Ethica, nach dem man nicht deshalb glücklich wird, weil man die Lüste hemmt, sondern von ihnen absehen kann, weil man glücklich ist. Eine Funktion der Metaphysik besteht darin, den Rahmen für diese Umkehrung bereitzustellen. Wenn nun Gott einen solchen Angriffspunkt bildet, sofern an ihm eine bestimmte Moral festgemacht ist, so ist dieser Einsatz – und damit die Metaphysik überhaupt – auch ethisch motiviert. Spinoza hat von Beginn an nicht nur im Tractatus theologico-politicus, sondern gerade auch in der Ethica die abwegigen moralischen Konsequenzen der traditionellen Theologie und Gesellschaftsvorstellungen seiner Zeit vor Augen. Nur dem Anschein nach reduziert er seine Ethik auf ein ›naturalistisches Fundament‹ (was wie gesagt einen naturalistischen Fehlschluß nach sich ziehen würde). Vielmehr ist das Verhältnis von Metaphysik und Ethik, so die zweite Hauptthese in diesem Buch, zirkulär. Insbesondere sind die Definitionen und Axiome von E1 keine selbstevidenten Ausgangsgewissheiten, sondern stehen in lebendigen Kontexten und Debatten: religiösen, politischen, wissenschaftlichen und ethischen. Dies wird in Kap. 2 methodisch formuliert, indem sie als Antworten auf bestimmte Problemlagen verstanden werden.

1.4 Eine alternative Methodik: Paradoxien und Ausdruck

Die konsequente Problembehandlung durch Spinoza führt aber – nochmals erstaunlich – nicht zu einer problemlosen Deduktion, sondern zu mehreren Paradoxien. Prima facie sind diese kaum sichtbar. Der mos geometricus erweckt den Anschein eines intakten und robusten Gewebes. Erst bei genauerem Hinsehen scheinen die dünnen Stellen durch, die u. a. auf logische und semantische Inkohärenzen verweisen. Ist es beispielsweise nicht widersprüchlich, von einer einzigen Substanz zu sagen, daß sie ›einzig‹ sei, da diese Behauptung sich selbst die Grundlage entzieht – die Vergleichsmöglichkeit mit ›anderen derselben Art‹? Erweist sich nicht der conatus, der anfangs als Gegenprinzip zu einer teleologischen Konzeption des Strebens eingesetzt wurde, am Ende doch als teleologisch? Solche Punkte, die in der Spinoza-Literatur als vereinzelte Widersprüche diskutiert worden sind, sind letztlich viel tiefgreifender und umfassender auf die paradoxe Grundstruktur der Ethica insgesamt zurückführbar. Dies

Eine alternative Methodik: Paradoxien und Ausdruck

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wurde in der Forschung bisher kaum gesehen. 32 Dabei hatte schon einer der ersten und aufmerksamsten Leser darauf hingewiesen. Nach seinem Treffen mit Spinoza im Jahr 1676 (also ein Jahr vor dessen Tod) notierte Leibniz: »Je l'ay veu en passant par la Hollande, et je luy ay parlé plusieurs fois et fort long temps. Il a une étrange Metaphysique, pleine de paradoxes. Entre autres il croit que le monde et Dieu n'est qu'une même chose en substance, que Dieu est la substance de toutes choses, et que les creatures ne sont que des Modes ou accidens.« 33 Es ist unklar, wie sich Spinoza selbst dazu gestellt hätte. In seinen Briefen finden wir Wendungen, die man zwar als paradox bezeichnen könnte, etwa in Ep. 58 an Schuller: »Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in den freien Willen, sondern in die freie Notwendigkeit setze.« Oder in Ep. 56 an Hugo Boxel: »Daß notwendig und frei zwei Gegensätze sind, scheint mir nicht minder unsinnig und vernunftwidrig; denn niemand kann bestreiten, daß Gott sich selbst und alles übrige frei erkennt, und doch geben alle einstimmig zu, daß Gott sich selbst notwendig erkennt.« Explizit fällt das Wort ›paradox‹ jedoch nicht, und tatsächlich scheinen die Paradoxien in der Ethica auch auf einer Ebene angesiedelt zu sein, die ›unter‹ dem mos geometricus liegt, und durch diesen gerade invisibilisiert wird – so die dritte hier vertretene Hauptthese. Es ist dann zu untersuchen, inwieweit auch die Deduktion selbst ›kontaminiert‹ ist, was für die vielen Widerspruchsbeweise natürlich verheerend wäre. Intuitiv lässt sich erahnen, dass ein Grund für die Paradoxien die immer wiederkehrenden Selbstreferentialitäten sind, beispielsweise im Begriff der causa sui (vgl. 1def1 oben) oder im Begriff der Substanz als dasjenige, »was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird.« (1def3) Die Aufdeckung der paradoxen Stellen geschieht entlang folgender methodischer Spur (vgl. ausführlicher dann Kap. 2): In einem ersten Schritt werden, wie angetönt, Spinozas Konzepte als Antworten auf bestimmte Probleme verstanden. Diese Idee knüpft methodisch an die Problemgeschichte nach Hartmann an, adaptiert diese aber auf eigene Weise. In einem zweiten Schritt werden die Paradoxien aufgezeigt, die das konsequente Durchdenken metaphysischer Grundbegriffe (paradoxerweise) nach sich zieht. Mit diesen Paradoxien kann aber umgegangen werden, indem neue Unterscheidungen getroffen und Begriffe semantisch umcodiert werden. Durch diesen dritten Schritt findet dann eine Entparadoxierung statt, die aber immer nur auf Zeit ist. Dieser methodische Dreischritt wiederholt sich mit dem Durchgang durch die Ethica in fast jedem Kapitel dieses Buches. Damit entfaltet sich zugleich eine begriffliche Eine Ausnahme ist Werner Stegmaier, an dessen Arbeiten hier z. T. angeknüpft wird, vgl. Stegmaier 2011. 33 Zitiert nach der Ausgabe von Gerhardt 2008, S. 118. 32

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Problemstellung: Ethik und Metaphysik

Dynamik, die anders als bei Bartuschat nicht aus einer Vermittlung hervorgeht und die auch keiner Dialektik entspricht, sondern getrieben ist von der inneren Notwendigkeit der Auflösung von Paradoxien. Wenn man Paradoxien durch Unterscheidungen entparadoxieren kann, kann man umgekehrt ihr Auftreten als Symptom für einen Kollaps anderer Unterscheidungen deuten. Solche Unterscheidungen sind die traditionellen Begriffspaare Ursache-Wirkung, Substanz-Gott, Gott-Natur, Allgemeines-Besonderes, Ewigkeit-Zeitlichkeit, Ganzes-Teil, Freiheit-Notwendigkeit. Aus deren Schatten tritt in dieser Lesart der Ethica eine andere Unterscheidung hervor: diejenige zwischen Essenz und Existenz. Zunächst gehört auch dieses Paar dem traditionellen Vokabular an, erhält aber in der Aneignung durch Spinoza eine neue Bedeutung und Funktion. Essenzen und Existenzen sind hier aufeinander bezogen, und zwar – so die vierte Hauptthese – durch die Relation des Ausdrucks oder der Expression. Prominent wird der Ausdruck schon zu Beginn der Ethica eingeführt, wo Gott als »Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt« definiert wird (1def6, Hvg. Vf.). Auch jeder endliche Modus hat eine (individuelle) Essenz, die sich als dessen konkrete Existenzweise ausdrückt. Eine Essenz als Wesen eines Dings ist dabei nicht ›jenseits‹ oder ›hinter‹ dem Ding gegeben, sondern manifestiert sich als dessen Weise, zu sein. Die Ausdrucksrelation reicht bemerkenswerterweise über traditionelle Kategorien und Grenzen wie ewig / zeitlich, allgemein / besonders oder nicht-individuierbar / individuierbar hinweg. In der Forschung erhielt diese zentrale, alles zusammenhaltende Relation bislang kaum gebührende Beachtung. Eine Ausnahme ist die Monographie Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie von Gilles Deleuze, an die hier angeknüpft wird. Deleuze erhebt den Ausdruck zum Leitbegriff der Ethica. 34 Er situiert ihn historisch als Gegenbegriff zur Offenbarung und als Nachfolgebegriff zur Emanation und betrachtet ihn systematisch als ein prozesshaftes Geschehen zwischen Substanz, Attributen und Modi. Auch für Deleuze ist die Ethica ein Gegenmodell zur Moralphilosophie, was er durch die Bezeichnung »Ethologie« andeutet. 35 Die ethologische Frage sei nicht mehr, 34 Deleuze 1993b. Die französische Originalausgabe ist Deleuze 1968. Sie bildet den historischen Teil seiner Dissertation, während Differenz und Wiederholung den systematischen Teil ausmacht. 35 Siehe dazu etwa Sparrow 2010, S. 163, der auch auf Nietzsche verweist: »In both thinkers [Nietzsche and Spinoza], Deleuze locates a decisive critique of morality and a profound meditation on the unrealized power of bodies to organize themselves into powerful composites. He gathers this line of thinking into an ethical vision of the world which he characterizes as an ethology.« Der Terminus »Ethologie« stammt nicht von Deleuze selbst, sondern bezeichnet insbesondere im

Eine alternative Methodik: Paradoxien und Ausdruck

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was der Geist tun soll, sondern wie weit das Vermögen des Körpers reicht. Die ontologische und epistemologische Grundlage dafür sieht Deleuze in Spinozas Parallelismus von Erkennen und Handeln bzw. den entsprechenden Vermögen Gottes. Bei seiner kongenialen Deutung kommen jedoch andere Relationen wie ›begreifen‹, ›verursachen‹ und ›inhärieren‹ zu kurz, wie sie vor allem in der anglo-amerikanischen Spinoza-Forschung diskutiert werden. Deshalb wird hier neben der kontinentalen auch eine analytische Perspektive auf den Ausdrucksbegriff einbezogen. 36 Von den genannten Rezeptionen und Forschungen unterscheidet sich der hier eingeschlagene Zugang dadurch, dass er eben die paradoxen Strukturen der Ethica ins Zentrum stellt und von diesen aus die Entfaltung des Systems zu denken versucht. Er will nicht klassische Deutungsoptionen rekonstruieren, vergleichen oder bewerten, denn diese kleiden die Ethica meist in derart aufwendige Begriffsverschalungen ein, dass der Blick auf sie eher verstellt wird. Exemplarisch seien dafür genannt: »1. eine von der Philosophie der Antike und des Mittelalters geprägte Deutung (H. A. Wolfson), 2. die sogenannte ›hypothetisch-deduktive‹ Auslegung (J. Bennett, W. Klever) sowie 3. die Positionen einiger französischer Philosophiehistoriker (M. Gueroult [. . .]), 4. die dialektische Version (G. W. F. Hegel).« 37 Allen diesen Interpretationen ist gemeinsam, dass sie mit großem Scharfsinn Spinozas Philosophie analysieren, dabei aber eigene Voreingenommenheiten bisweilen auf eklatante Weise übersehen. Wolfson denkt von der hebräischen Tradition des Kommentars her, führt unzählige mögliche Quellen an, versäumt aber, die konkrete Art und Weise anzugeben, wie solche Prätexte bei Spinoza eingearbeitet sind, also gerade das Spezifikum seiner Philosophie. Gueroult deutet die Ethica mit einem Absolutheitsanspruch an philosophische Wahrheit, der heute kaum mehr plausibel ist. So trennt er strikt die Philosophie von ihrer Geschichte, weil eine »Wissenschaft nichts mit ihrer Geschichte zu tun hat: aus zeitlosen Wahrheiten bestehend, ist sie außerhalb der Zeit«. 38 Bei Bennett ist der blinde Fleck ein Szientismus, der Spinozas Ethik mit einem Experimentallabor verwechselt, in dem nach Trial-and-Error-Methode gearbeitet wird: »It is best to view the Ethics as a hypothetico-deductive system – something that starts with general hypotheses, französischen Sprachraum eine Disziplin, die das Verhalten von Tieren, einschließlich des Menschen, in ihrem biologischen Milieu oder experimentellen Umfeld untersucht und die mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. 36 Vgl. etwa Gartenberg 2017. Als rein begriffslogische Untersuchung sieht diese allerdings wiederum von historischen Kontexten ab und ist an der Verbindung von Metaphysik und Ethik nicht direkt interessiert. S. dazu Kap. 7. 37 Braun 2017, S. 34. 38 Zitiert nach Braun 2017, S. 42. Wie sich hier abzeichnen wird, entspricht einem solchen Absolutismus nicht einmal Spinozas Perspektive der Ewigkeit.

Problemstellung: Ethik und Metaphysik

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deduces consequences from them, and checks those against the data. If they conflict with the data, something in the system is wrong; if they square with the data, the system is not proved to be right but it is to some extent confirmed.« 39 Spinozas Parallelismus von Geist und Körper schließt jedoch gerade aus, dass Begriffe und empirische Daten ›abgeglichen‹ werden. Und schließlich muss sich Spinozas System, anders als Hegel meint, nicht versubjektivieren und aus einem defizitären Anfang auf ein Ziel wie das absolute Wissen hin entwickeln, gerade wegen seiner Teleologie-, Universalismus- und Abstraktionskritik. Indem man Spinoza bloß in bestimmte Traditionslinien einordnet – und an ihnen hängenbleibt –, übersieht man die Innovationen seiner Philosophie, um die es in diesem Buch vor allem gehen soll. Einige dieser Innovationen werden besser sichtbar durch die Beleuchtung aus einer weiteren Perspektive: derjenigen Nietzsches, die hier punktuell beigezogen wird. Nietzsches Verhältnis zu Spinoza schwankt zwischen Bewunderung und Ablehnung. In dieser Ambivalenz gibt es aber einige Konstanten. Eine davon ist, dass beide, Spinoza und Nietzsche, vehemente Kritiker einer dogmatischen Religiosität und einer daraus abgeleiteten Moralität sind. Oft finden sich bei Nietzsche Passagen, welche die hier vorgestellte Lesart der Ethica wie ein Vergrößerungsglas verdeutlichen können. So lässt sich etwa die für Spinozas Ethik entscheidende Umkehrung, dass man nicht etwas begehrt, weil es gut ist, sondern es für gut hält, weil man es begehrt (3p9s), durch Nietzsche sekundieren: »Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heisst: ›Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich! Im andern Falle . . .‹ Jede Moral, jede Religion ist dieser Imperativ [. . .]. In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre Umkehrung – erstes Beispiel meiner ›Umwerthung aller Werthe‹: ein wohlgerathener Mensch, ein ›Glücklicher‹, muss gewisse Handlungen thun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen, er trägt die Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu Menschen und Dingen hinein. In Formel: seine Tugend ist die Folge seines Glücks . . .« (GD, KSA 6.89). Die genannten vier Hauptthesen sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt: Die erste ist inhaltlicher Art und betrifft als Kritik an einem transzendent verankerten Normenuniversalismus ein ethisches Anliegen der Ethica. Die zweite These zielt auf deren Theoriearchitektur im Ganzen, indem sie das Verhältnis von Metaphysik und Ethik als zirkulär auffasst. Die dritte und vierte These zu Paradox und Ausdruck sind methodischer Art. Zusammengenommen sind sie stichwortgebend für den Titel dieses Buches: Paradox und Ausdruck in Spinozas Ethik. 39

Bennett 1984, S. 20.

2 Methodik: Problem, Paradox, Unterscheidung

2.1 Mos geometricus und das Paradox von Form und Inhalt

Das formal auffälligste Merkmal der Ethica ist ihre Darstellungsweise. Ein bestimmter Inhalt wird in Form von Definitionen, Axiomen, Lehrsätzen und Beweisen organisiert. Spinoza begründet den Einsatz von Mathematik als Darstellungsmedium für seine Philosophie damit, »daß die Wahrheit dem Menschengeschlecht in Ewigkeit verborgen geblieben wäre, wenn nicht die Mathematik, die sich nicht mit Zwecken, sondern nur mit dem Wesen und den Eigenschaften der Figuren beschäftigt, den Menschen eine andere Norm der Wahrheit gezeigt hätte.« (1app) Die in der Mathematik gebräuchliche Methode ist nach Euklid axiomatisch-deduktiv, was Spinoza nun als »mos geometricus« übernimmt. Es ist das erste Mal in der Philosophiegeschichte, dass dies in derartiger Konsequenz und in derartigem Umfang geschieht – und zugleich auch das letzte Mal. More geometrico wird die ganze Breite metaphysischer, theologischer, erkenntnistheoretischer und weiterer Gebiete dargestellt. Zwar hatte schon Descartes Versuche in diese Richtung unternommen, indem er den Zweiten Erwiderungen zu den Meditationen einen kurzen Anhang, »Überlegungen, die die Existenz Gottes und die Unterscheidungen der Seele vom Körper nachweisen more geometrico angelegt«, beigab. Dort sind es aber nur vier Lehrsätze, die auf diese Weise bewiesen werden. 1 Descartes traute dieser Methode nicht vollständig, denn in der Philosophie bestünde das Problem vor allem darin, Elementarwahrheiten zu finden, und das geschähe am besten durch Meditation. Bei der Alternative Meditation versus Deduktion muss man sich bewusst sein, dass im 17. Jahrhundert sowohl unter ›Meditation‹ als auch unter ›Deduktion‹ nicht dasselbe verstanden wurde wie heute. Für Descartes ist eine Mediation eine Reflexion auf Grundgewissheiten und eine Deduktion »nicht ein Ableiten von Folgerungen aus Prämissen, sondern eine Kette von Intuitionen. Wird durch die Vernunft etwas, das möglichst einfach ist, intuitiv erkannt, wird von dieser Einsicht ausgehend, eine weitere Intuition hinzugefügt, die ebenfalls klar und einfach ist. Diesen Übergang nennt Descartes ›Deduktion‹.« 2 Wenn nun Spinoza diese Methode übernimmt und zunächst in den Principiae 1 2

Descartes 2009, S. 169–178. Zittel 2009, S. 138.

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Philosophiae Cartesianae erprobt, wo er einen Teil von Descartes' Principia Philosophiae deduktiv reorganisiert, und sie dann in der Ethica zur Vollkommnung bringt, gibt es nennenswerte Unterschiede. Beispielsweise steht bei Spinoza nicht mehr das Auffinden von Elementarwahrheiten im Vordergrund bzw. die Analyse in einfache Aussagesätze, sondern deren Synthese. Die Unterscheidung analytisch-synthetisch ist allerdings mit Vorsicht zu gebrauchen und findet sich auch nur im Vorwort der PPC, das nicht von Spinoza, sondern von Lodewijk Meyer geschrieben wurde. In diesem Methodenkapitel werden zunächst Vor- und Nachteile des mos geometricus sowie mögliche Alternativen erwogen. Bei vielen Neuorientierungen in der Philosophiegeschichte ist es nicht ungewöhnlich, dass mit alternativen schriftstellerischen Formen experimentiert wird. 3 Parmenides verwendete das Lehrgedicht, Platon die Dialogform, Aristoteles die wissenschaftliche Abhandlung, Scotus die Disputation, Kierkegaard die literarische Fiktion, Nietzsche den Aphorismus usf. Stets ist die Form wichtig, denn bestimmte Inhalte scheinen sich nur in bestimmten Medien mitteilen zu lassen bzw. werden zu diesen Inhalten erst durch eine bestimmte Form. Wie steht es damit bei Spinoza – und wäre dies ein Argument für den mos geometricus? Michael Della Rocca sieht bei Spinoza Metaphysik und Methode, Inhalt und Form ganz im Einklang: »Given the structure of reality, as Spinoza sees it, there is, in the end, no better and, indeed, no other way of doing philosophy than in geometrical fashion – drawing out the implications of the definition of God. So the method of Spinoza's major philosophical work is particularly appropriate for the content of that work.« 4 Dass die Präsentation des Inhaltes aber nicht alternativlos ist, scheint der Anhang des vierten Teils der Ethica zu belegen, wo Spinoza bemerkt: »Was ich in diesem Teil über die rechte Lebensweise dargelegt habe, ist nicht so geordnet worden, daß es sich auf einen Blick erfassen ließe; stattdessen habe ich es da und dort bewiesen, so wie ich am leichtesten das eine aus dem anderen ableiten konnte. Ich will es deshalb hier zusammenfassen und in Hauptsätze von Wichtigkeit bringen.« (4app) Es scheint also, dass dieselben Inhalte auch anders dargestellt werden können. Eine Unabhängigkeit von Form und Inhalt ließe sich auch deshalb vermuten, weil Spinoza in seiner früheren Kurzen Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück (der sogenannten ›kleinen Ethik‹) ganz ähnliche Themen in ähnlichen Kontexten thematisiert, ohne dabei deduktiv vorzugehen. 5 Und müsste nicht eigentlich jeder Inhalt (mit mehr oder weniger Plausibilität) in deduktive Form gebracht 3 4 5

Zu Formen philosophischer Schriftstellerei s. Werner Stegmaier, in Erscheinung. Della Rocca 2008, S. 11. Spinoza 1991.

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werden können, wie es ja gerade der vielfältige Themenbereich der Ethica zeigt? Felix Hausdorff, einer der Begründer der Mengenlehre und Topologie, schrieb: »Dass Spinoza sich der mathematischen Beweisform bediente, war gewiss überflüssig; aber noch viel überflüssiger, dass Kant die Unmöglichkeit dieser Form für philosophische Zwecke beweisen wollte, aus ›reinen Begriffen‹, wie man sich denken kann. Jede beliebige Schlusskette lässt sich, wenn man durchaus will, more geometrico vertragen; es versteht sich von selbst, dass an Natürlichkeit und Eleganz dadurch nichts gewonnen, an Papier und Worten nichts gespart wird. Das wissen nicht nur Philosophen, sondern auch die Mathematiker selbst und beschränken die schwerfällige Handhabung von Axiomen, Lehrsätzen und Beweisen, als unentbehrliche Gymnastik für Anfänger, auf den Schulunterricht.« 6 Wäre also der mos geometricus vor allem ein pädagogisches und propädeutisches Verfahren zur Einübung und Erzeugung von Einsicht? Dass alternative Darstellungen jedenfalls möglich sind, implizieren auch alle Rezeptionen und Interpretationen der Ethica, die eben nicht more geometrico, sondern in Form von Abhandlungen geschrieben sind. Exemplarisch sei Della Rocca selbst erwähnt: »My way of presenting Spinozas's system [. . .] is – for better or worse – not the geometrical method. Rather, I will endeavor to narrate a story.« 7 Diese ›story‹ nimmt als Leitfaden das Prinzip des zureichenden Grundes (principle of sufficient reason oder kurz PSR), d. h. die Forderung, dass für jede Tatsache und für jede Behauptung eine hinreichende Erklärung gegeben werden muss. Das PSR schließt den mos geometricus nicht aus und führt auch nicht zu anderen Ergebnissen, sondern zeigt andere Argumentationslinien auf. Spinoza selbst beruft sich nirgendwo in der Ethica explizit auf ein principium rationis sufficientis (das erst durch Leibniz prominent wurde). Man kann aber zwei Stellen als Vorläufer erachten. Die erste ist 1p8s2: »Es ist hervorzuheben, daß es für jedes existierende Ding eine bestimmte Ursache geben muß, derentwegen es existiert.« Die zweite Stelle ist 1p11dem2: »Von jedem Ding muß sich eine Ursache oder ein Grund angeben lassen, weshalb es existiert, wie auch weshalb es nicht existiert.« 8 Beide Male kann allerdings der prinzipielle Charakter bezweifelt werden. Zudem wären die Kontexte zu berücksichtigen. Die erste Stelle steht im Kontext des Problems, ob die Anzahl existierender Dinge aus einer Wesensdefinition folgt (was Spinoza verneint, weil es dazu eines äußeren Grundes bedürfe), die zweite im Kontext eines Gottesbeweises, für den Spinoza lediglich an einen Usus appelliert, für die Existenz Gottes eine Ursache zu fordern. Hätte das PSR tatsächlich einen so hohen Hausdorff 2004, § 372, S. 402. Hausdorff trat später allerdings gerade durch eine rigorose Axiomatisierung der Mengenlehre und Topologie hervor. 7 Della Rocca 2008, S. 11. 8 »Cuiuscunque rei assignari debet causa, seu ratio, tam cur existit, quam cur non existit.« 6

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Stellenwert, würde es eher in einem Axiom stehen, wie andere erkenntnistheoretische Grundsätzen auch. 9 Eine zweite Schwierigkeit ist, was überhaupt als erklärungsbedürftig angesehen wird bzw. auf welche Seite die Beweislast abgewälzt wird. Beispielsweise schreibt Della Rocca: »Non-identities, by the PSR, require explanation.« 10 Warum aber sind nicht umgekehrt Identitäten erklärungsbedürftig? 11 Drittens stellt sich die Frage, ob es in der Ethica überhaupt primär um Erklärungen und Begründungen geht, angesichts des doch breiten und reichen Spektrums von Motiven und Themen (vgl. Kap. 1). Von den möglichen Alternativen zum mos geometricus drängt sich eine besonders auf, die noch nicht genannt wurde: Warum hat Spinoza nicht die Form des Syllogismus gewählt, d. h. seine Lehrsätze nach dem Vorbild ›Menschen sind sterblich (major), Sokrates ist ein Mensch (minor), Sokrates ist sterblich (conclusio)‹ bewiesen? Eine solche Form würde doch genauso stringent sein und genauso zu Einsicht führen müssen. Gerade diese Ansicht hat Wolfson vertreten: »The geometrical method of demonstration of the synthetic type is nothing but valid syllogistic reasoning as practised throughout the history of philosophy.« 12 Die Verwendung des mos geometricus wäre also eher eine Extravaganz und reüssierte in der Frühen Neuzeit nur deshalb, »weil ein Unbehagen an den metaphorischen und persuasiven Autorstrategien der Renaissancephilosophie wie auch an den mittelalterlichen Syllogismen in der Luft lag«. 13

Zwei Thesen für den mos geometricus

Anhand des Vergleichs von syllogistischer und deduktiver Methode lässt sich umgekehrt aber auch eine erste These für den mos geometricus gewinnen. Syllogismen subsumieren etwas Besonderes unter etwas Allgemeines, wobei letzteres z. B. ein Gattungsbegriff oder eine Universalie sein kann. Solchen Etwa: »Was durch ein anderes nicht begriffen werden kann, muß durch sich selbst begriffen werden« (1ax2) oder: »Aus einer gegebenen bestimmten Ursache erfolgt notwendigerweise eine Wirkung« (1ax3). 10 Della Rocca 2008, S. 47. 11 Darüberhinaus nimmt Della Rocca noch ein zweites Leibniz’sches Prinzip bei Spinoza an, das principium identitatis indiscernibilium: »Further, since non-[attribute-]neutral properties do not, as we just saw, enable us to individuate modes of thought and modes of extension, it follows that, for Spinoza, there would be no legitimate explanation for the non-identity of mind and body, if indeed they were not identical. Given Spinoza’s version of the principle of the identity of indiscernibles, it follows that the mind is identical with the body.« Della Rocca 2002, S. 32. Auch hier stellt sich die Frage der Beweislast. 12 Wolfson 1983, S. 45. 13 Braun 2017, S. 35. 9

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Allgemeintermini spricht Spinoza aber einen eigentlichen Erkenntniswert ab, indem er sie in 2p40s1 als bloß inadäquate Ideen kritisiert. Weiter beruht das Subsumptionsverfahren auf Ähnlichkeit und Analogie, denen gegenüber Spinoza ebenfalls skeptisch ist und die er durch ein Denken der Univozität ersetzt. 14 In einer Deduktion dagegen tritt der Subsumptionscharakter zurück und man kann in Bandbreiten von Allgemeinheiten operieren. Diese Allgemeinheiten sind nicht mehr Gattungen oder Universalien, sondern haben den Status von notiones communes und damit von adäquaten Ideen. Somit trägt die Form dem Inhalt Rechnung, und es lässt sich systemimmanent begründen, weshalb Spinoza den mos geometricus verwendet. Ein deduktives Verfahren muss ferner nicht mit dem allgemeinsten Term beginnen, sondern nur jeden Schritt aufgrund des vorangehenden absichern. Man kann dies aus heutiger Perspektive mit Luhmann sehen. Luhmann unterscheidet zwischen der deduktiven und der kybernetischen Methode: »Im Falle der deduktiven Methode wird jeder Schritt davon abhängig gemacht, daß die Startposition bzw. die gerade erreichte Position unbezweifelbar gesichert ist.« 15 Diese Methode ist somit im Prinzip eine unzweifelhafte Möglichkeit zur Entscheidung über Wahrheit und Falschheit. »Theorien sind komplexe Programme, die aus einer Vielzahl von Sätzen bestehen können [. . .]. Die Arbeit an Theorien erfordert von sich her keine Zweiwertigkeit [wahr / falsch, Vf.]. Sie zielt auf Anfertigung einer komplexen Beschreibung. Um den binären Code, die Unterscheidung von wahr und unwahr, zur Geltung zu bringen, benötigt man daher Programme eines anderen Typs. Wir nennen sie Methoden.« 16 In dieser Perspektive erscheint also – wie schon in der eingangs zitierten Stelle aus 1app – der mos geometricus als Methode, die Spinoza für die Entscheidung über Wahrheit und Falschheit als besonders geeignet hielt. Wie aber werden diese Schritte in eine bestimmte Richtung gelenkt? Die Kybernetik gibt das Stichwort für die zweite These für den mos geometricus. Der mos geometricus ist eine Darstellung, die ohne Nennung von Zielen auskommt, die die Argumentationsschritte motivieren und steuern. Er ist so eine Vermeidung von Teleologie auf Darstellungsebene, unabhängig von einer möglichen Teleologie auf inhaltlicher Ebene. Sofern es also die Absicht ist, etwas absichtslos vorzuführen, stoßen wir auch hier auf ein Paradox. Um damit umzugehen, müssten wir zwischen verschiedenen Ebenen wechseln können. Gerade dies geschieht nun, Vgl. dazu Kap. 8. Nach 2p40s1 beruhen Gattungsbegriffe, Universalien und Transzendentalien auf Erkenntnisdefiziten, weil über viele Individuen hinweggemittelt wird statt jedes Individuum klar und deutlich wahrzunehmen. Spinoza vertritt, bis auf die notiones communes, einen Nominalismus. 15 Luhmann 1990, S. 415. 16 Ebd. 14

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indem eine Ebene der Vorworte, Scholien und Appendizes eingezogen wird, d. h. eine metasprachliche Ebene, auf der über Argumentationsziele und -strategien gesprochen werden darf. Man kann also die Unterscheidung zweier Textebenen in der Ethica als Auflösung eines Darstellungsparadoxes auffassen. Vorworte, Scholien und Appendizes sind dann nicht mehr bloßes Zubehör zur eigentlichen Philosophie, sondern notwendig für ihre Kohärenz im Ganzen, zu der eben auch die Motive gehören. Eine lebendige Diskussion bedarf immer wieder einer Reflexion über die einzuschlagende Richtung und die Beweisziele überhaupt. Vor jener metasprachlichen Unterscheidung ist also nicht nur der Inhalt der Ethica von Paradoxien durchzogen, sondern auch ihre Form.

Zwei Einwände gegen den mos geometricus

Der Einsatz der Mathematik in der Philosophie wurde u. a. von Kant kritisiert, und zwar im Blick darauf, was die mathematische Erkenntnis für die Synthese von Begriffen zu leisten vermag: »Die Gründlichkeit der Mathematik beruht auf Definitionen, Axiomen, Demonstrationen. Ich werde mich damit begnügen, zu zeigen: daß keines dieser Stücke in dem Sinne, darin sie der Mathematiker nimmt, von der Philosophie könne geleistet, noch nachgeahmet werden. Daß der Meßkünstler, nach seiner Methode, in der Philosophie nichts als Kartengebäude zu Stande bringe.« 17 Kants Einwand ist, dass die erkenntniskonstitutiven Verfahren im Prinzip verschieden sind: »Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe.« 18 Ganz anders urteilte Schelling: »Wie unrecht würde man Spinoza thun, wenn man glaubte, ihm sei es in der Philosophie einzig und allein um die analytischen Sätze zu thun gewesen, die er als Fundament seines Systems aufstellt. Man fühlt recht gut, wie wenig er selbst damit gethan zu haben glaubte: ihn drückte ein anders Räthsel, das Räthsel der Welt, die Frage: Wie das Absolute aus sich selbst herausgehen und eine Welt sich entgegensetzen könne?« 19 Bei solch divergenten Rezeptionen ist einer der Streitpunkte, ob es sich beim mos geometricus um ein analytisches oder ein synthetisches Vorgehen handelt, um eine bloße Begriffszergliederung oder um eine Verbindung, die einem Begriff etwas hinzufügt, das nicht schon in seiner Intension enthalten ist. Marc Rölli hat mit Deleuze darauf hingewiesen, dass Spinozas Methode nicht nur analytisch, sondern auch genetisch sei. »[Es] zeichnet sich die genetische 17 18 19

Kant 1993, B 754 f., S. 744. Ebd., B 741, S. 732. Sechster Brief über Dogmatismus und Kritizismus, Schelling 1982, S. 77.

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Methode Spinozas vor der regressiv-analytischen Methode Descartes' dadurch aus, daß sie die Wirkursache expliziert, die von jedem endlichen Seinsmodus gemäß der intensiven Quantität seines Vermögens ausgedrückt wird.« 20 In der genetischen oder synthetischen Lesart würde beispielsweise der Begriff ›Gott‹ laufend semantisch angereichert, statt nur entfaltet, was schon in ihm liegt. Es stellt sich aber die Frage, ob die Unterscheidung analytisch versus synthetisch hier weiterführend ist. (Die Kunst der Philosophie besteht ja darin, möglichst aufschlussreiche Unterscheidungen zu treffen.) Mit Blick auf moderne Auffassungen von Mathematik muss dies bezweifelt werden. Mathematik kann empiristisch (Mill), logizistisch (Frege), fiktionalistisch (Hartmann), konventionalistisch (Poincaré), formalistisch (Hilbert), intuitionistisch (Brouwer) oder strukturalistisch (Bernays) verstanden werden. 21 All diese Strömungen treffen andere Grundentscheidungen und verfolgen andere Interessen. Es ist hier nicht der Ort, um diese zu diskutieren und zu evaluieren, sondern nur um auf den Reichtum an Alternativen hinzuweisen, von denen N. B. die Interpretation von Mathematik als ›Wissenschaft von kalkülbezogenen Handlungen‹ für Spinoza besonders interessant wäre. 22 In dieser Perspektive würde eine Entscheidung über ein analytisches oder synthetisches Verfahren zweitrangig und weitere Schwierigkeiten der Anwendung von Mathematik auf Philosophie gemildert, etwa dass die Gegenstände einer Ethik keine Zahlen sind. Umgekehrt darf der mos geometricus hinsichtlich Anspruch und technischer Elaboriertheit nicht mit der modernen Hilbert'schen Axiomatik verglichen werden. Sowohl in der Ethica als auch in deren Vorlage, Euklids Elementen, sind etliche Folgerungen nicht axiomatisch gedeckt. Beide berufen sich auf Selbstverständlichkeiten, die als solche epochengebunden sind. 23 Das erklärt mitunter Lücken, knappe Beweise oder lose Enden. Auch hat »Spinoza im Fortgang der Niederschrift seines Hauptwerks Umbenennungen von Axiomen in Propositionen oder Postulate vorgenommen« 24, oder er definiert wichtige Termini wie »Wille« oder »Trieb« in Scholien statt in eigentlichen Definitionen. »Spinoza presents numerous definitions outside of where one would expect to find them in a Euclidean system.« 25 All diese Suchbewegungen sind aber bei der Übertragung einer Methodik aus einem Gebiet in ein anderes verständlich. Vgl. Rölli 2012, S. 194. Thiel 1995, Kap. 1. 22 Ebd., S. 21. 23 Siehe dazu Mueller 1981, insbesondere Kap. 1. Eine historische Theorie über die Emergenz der deduktiven Methode in der Praxis griechischer Mathematik gibt auch Netz 1999. Ich danke Roy Wagner, Zürich, für diesen Hinweis. 24 Braun 2017, S. 31. 25 Jobani 2016, S. 5. 20 21

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Ein zweiter Einwand ist, dass das deduktiv errichtete Gerüst keine selbsttragende Konstruktion ist. Dies zeigt sich zunächst darin, dass zu Beginn jedes Teils der Ethica neue Definitionen und Axiome eingespeist werden, mit denen u. a. empirische Bezüge hergestellt werden, etwa: »Der Mensch denkt« (2ax2), oder: »Es gibt kein Einzelding in der Natur, in Bezug auf das es nicht ein anderes gäbe, das mächtiger und stärker ist.« (4ax) Im Prinzip könnten diese auch gebündelt am Beginn des ersten Teils stehen. Die Platzierung in verschiedenen Teilen macht nur deutlicher, wofür Definitionen und Axiome konkret gebraucht werden. Das Vorhandensein eines axiomatischen Vorbaus an sich ist aber kein Einwand, sondern gehört gerade zum mos geometricus. Die Frage ist vielmehr, wie die Auswahl von Definitionen und Axiomen begründet wird. Nur wenn diese den Status von Elementarwahrheiten hätten oder selbstevidente Aussagen wären, könnte man für eine Geschlossenheit des Systems plädieren. Wenn dies aber nicht zutrifft und Spinoza hierin von Descartes abweicht, wird das Problem der Auswahl bzw. die Auswahl der Probleme virulent, vor deren Hintergrund Definitionen und Axiome zu sehen sind. Dagegen bedeutet Selbstevidenz nur, dass etwas in einem gewissen Kontext keine Irritationen hervorruft. Robert Schnepf hat dazu bemerkt: »Der ordo geometricus ist daher m. E. kein hermetisch in sich geschlossenes Verfahren zur Garantie der Wahrheit, sondern vielmehr eine Weise der konzisen Darstellung und Begründung der eigenen Position in einem lebendigen Diskussionskontext.« 26 Es gilt also den Grund, in den das deduktive Gerüst eingelassen ist, zu untersuchen und die kontigenten Wurzeln der Ethica freizulegen. Wenn man Definitionen und Axiome als Instrumente zum Ausweis einer Position versteht und so deren Auswahl auch am diesbezüglichen Nutzen bemisst, dann ist eine Teleologie mit im Spiel. Diese funktionalen und kontextuellen Aspekte werden hier dadurch berücksichtigt, dass die Definitionen und Axiome Spinozas als Antworten auf bestimmte Problemlagen verstanden werden. Damit wird auch dem Anschein entgegengewirkt, dass die Gedankengänge der Ethica aus situierten Problemzusammenhängen herausgelöst werden könnten. Ohne eine historische Kontextualisierung bliebe unverständlich, warum und wozu Spinoza sein systematisches Gerüst baut. Die Vorworte, Scholien und Appendizes allein reichen dazu nicht aus; beispielsweise werden so wichtige Hintergründe wie die creatio-continua-Konzeption für das conatus-Prinzip nicht einmal benannt, und so sind auch weitere Kontexte einzubeziehen. Was den axiomatischen Teil betrifft, ist der Einwand, dass die Ethica kein geschlossenes System ist, nicht so gravierend, weil es gerade der Sinn der Unterscheidung in Definitionen und Axiome einerseits und Lehrsätze andererseits 26

Schnepf 1996, S. 15.

Das Problem des Anfangs und die vermeintliche Neutralität der Metaphysik

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ist, die kontingenten Prämissen von den notwendigen Konklusionen zu separieren. Schwerwiegender ist jedoch, dass auch innerhalb der Deduktion zahlreiche Begriffe und Relationen nicht definiert sind. So erklärt Spinoza zwar in 1def3, was »Substanz« ist, nicht aber, was ebenso wichtig wäre, was »in se esse« und »per concipere« bedeuten. Und wenn in 1def4 »Attribut« das explanandum ist, so bleibt der zum explanans gehörende Begriff »Verstand« unbestimmt. 27 Schnepf weist darauf hin, dass sogar »die grundlegenden Ausdrücke aus dem Kontext entnommen« sind und als den zeitgenössischen Lesern vertraut vorausgesetzt werden. 28 Zachary Gartenberg geht noch weiter: »Many – indeed, the most fundamental – of Spinoza's metaphysical claims are ungrounded constitutive claims: categorical claims about what a thing simply must be.« 29

2.2 Das Problem des Anfangs und die vermeintliche Neutralität der Metaphysik

Diese Überlegungen zur Axiomatik lassen den Anfang der Ethica in einem anderen Licht erscheinen. Wenn Definitionen und Axiome keine selbstevidenten Wahrheiten sind, müssen sie anderweitig plausibel gemacht werden. Aber auch dasjenige, was aus ihnen folgt oder folgen soll, ist dadurch nicht vollumfänglich festgelegt. Schon in den ersten Lehrsätzen wird eine bestimmte Richtung eingeschlagen. Man würde erwarten, dass Spinoza seine Absichten in einem vorangestellten Vorwort oder in begleitenden Scholien kundtut. Erstaunlicherweise fehlt aber gerade für den ersten Teil eine Einleitung oder ein Vorwort. Die Ethica beginnt unvermittelt mit der Definition des Begriffs causa sui. Es wäre wünschenswert, diesen Anfang zu kontextualisieren und zu motivieren. Dagegen könnte man einwenden, dass Spinoza ein Vorwort gerade deshalb weggelassen hat, um einem teleologischen Denken nicht Vorschub zu leisten. Trotzdem stellt sich die Frage nach den Prämissen bzw. dem Problem des Anfangs gerade bei einem so durchkomponierten System wie demjenigen Spinozas. Nach Robert Schnepf sind die Definitionen und Axiome der Ethica schlicht taugliche Instrumente, um gewisse Aussagen zu beweisen: »Den Definitionen kommt es nicht zu, Wesenseinsichten zu vermitteln, sondern sie gelten als mehr oder weniger geeignete Ausgangspunkte bei dem Versuch, das anvisierte Wesen zu erfragen oder sich seiner zu vergewissern.« 30 »Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmachend erkennt.« (1def4) 28 Vgl. Schnepf 1996, S. 14. 29 Gartenberg 2017, S. 4. 30 Schnepf 1996, S. 123. Vgl. auch: »Nach all dem ist es nicht das spezifische Kennzeichen des ordo geometricus, von selbstevidenten Prämissen ausgehend, zu unbezweifelbarer Erkenntnis durch korrekte Deduktion fortzuschreiten.« Ebd., S. 131. 27

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Die derart aufgeworfenen Fragen betreffen aber nicht nur die Axiomatik, sondern auch die anschließende Deduktion. Diesbezüglich hat Schnepf eine strengere These vertreten und den ersten Teil der Ethica als metaphysica generalis bezeichnet. In einer metaphysica generalis werden »res, quatenus res sunt« untersucht, d. h. Gegenstände in weitgehender Unabhängigkeit von historischen, politischen oder ethischen Kontexten. 31 »[Die] Verwendungsweise von ›res‹, die in der Ethik nachweisbar ist, entstammt der Systematik einer allgemeinen Metaphysik (metaphysica generalis), wie sie in der Tradition des Johannes Duns Scotus ausgebildet und noch bei wichtigen Zeitgenossen Spinozas präsent war.« 32 Aufgrund dieser Traditionslinien charakterisiert Schnepf den Anfang der Ethica als »eine ordine geometrico durchgeführte Untersuchung der Charakteristika von entia realia innerhalb einer ›bereinigten‹ Metaphysica generalis zur Revision und Reinterpretation der tradierten Begriffe von affectiones entis«. 33 Durch eine Ausdifferenzierung erhält der traditionellerweise zu den Transzendentalien gezählte Begriff res dann seine Bestimmtheit. Damit beschreite Spinoza aber nicht neue Wege, denn das »Verfahren und die Interpretation der Bedeutungsausdifferenzierung von ›res‹ (als Bestimmung verschiedener Arten von res) ist spätestens seit Duns Scotus ein konstitutives Lehrstück der Metaphysica generalis, die Goclenius in seinem Lexicon Philosophicum wohl als erster Ontologia getauft hat«. 34 Damit schließt Schnepf aber auch mögliche ethische Hinsichten im ersten Teil aus und reduziert die Ethica auf ein metaphysisch-naturalistisches Fundament. Auch für Bernard Rousset ist im ersten Teil der Ethica kein Platz für ethische Einflüße: »Des passages entiers ne laissent apparemment aucune place à des considérations éthiques: cela va de soi pour la Première partie, qui n'est rien d'autre que l'ontologie rejetant tout anthropomorphisme et tout anthropocentrisme.« 35 Und er folgert: »[O]n ne peut assurément pas dire que des considérations morales pèsent sur les analyses des premières Parties, mais elles se révéleront ensuite y avoir Ebd., S. 103. Dieser Formulierung liegt die aristotelische Wendung ὄν ἡ ὄν zugrunde, die in der Scholastik zu ens quatenus ens latinisiert und ens später durch res substituiert wurde. »Res ist der durch nominalistische Einwände bereinigte Nachfolgebegriff von ens.« Ebd., S. 233. 32 Ebd., S. 103. 33 Ebd., S. 231. 34 Ebd., S. 165. »Es sind also fünf Bedeutungen von ›res‹, die nacheinander im geordneten Argumentationsgang der Ethik bis Lehrsatz 15 auftreten: 1. res als etwas, das aus Substanz, Attribut und Modus ›zusammengesetzt‹ ist; 2. die Substanz-Attribut-Einheit; 3. nicht-substantielle Komponenten der vollen res; 4. die Attribut-Substanz-Einheit; 5. die pure Substanz.« Schnepf 1996, S. 151. Fast jeder Kommentar nimmt je nach Interpretationsinteresse andere Gliederungen vor, etwa dass 1p1-15 die natura naturans, 1p16-34 die natura naturata betreffen, oder dass die Gegenstände von 1p1-15 die Begriffe res und substantia sind, von 1p16-20 der Begriff deus und von 1p21-36 wiederum res. 35 Rousset 1991, S. 42. 31

Problemgeschichtliche Methodik

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été présentes à titre d'enjeux, au moins implicites, et même déjà quelque peu explicités.« 36 Entgegen diesen Lesarten versucht das vorliegende Buch, gerade die impliziten ethischen Schichten auch in der Metaphysik freizulegen und explizit zu machen. Denn was ist die ›Abwehr eines Anthropomorphismus‹ anderes als ein ethisches Anliegen? Selbst der so unverdächtige Begriff res kann bestimmte Seinsauffassungen wie eine verdinglichte Ontologie implizieren, und diese wiederum bestimmte ethische Auffassungen. Nach der in Kap. 1 exponierten zweiten Hauptthese stehen Ethik und Metaphysik bei Spinoza nicht in einem reduktiven, sondern in einem zirkulären Verhältnis. Der Anfang der Ethica ist so keine neutrale Metaphysik, sondern verflochten in historische, gesellschaftliche und ethische Kontexte. Die Methodik, mit der diese These hier aufgewiesen werden soll, entstammt einem Zweig der Philosophiegeschichte, der als ›Problemgeschichte‹ bekannt wurde.

2.3 Problemgeschichtliche Methodik

In gewissem Sinn ist dieses Vorgehen zunächst verwandt mit der von Harry Wolfson vorgeschlagene Suche nach einem impliziten Autoren. Die Stimme dieses Autors bringt eine Kritik an der Tradition vor, die aber nur implizit präsent ist und daher explizit gemacht werden muss: »[S]ince the Ethics before us is not the result of a syncretism of traditional philosophy but rather the result of criticism, and since this criticism, though implied, is not explicitly expressed, we shall have to supply it ourselves.« 37 So zeichnet Wolfson unter Einbezug einer Vielzahl von spätmittelalterlichen Quellen eine hypothetische Ausgangslage, worauf dann die Ethica reagiere. »After all, what we have done is to construct an imaginary setting to fit the Ethics.« 38 Schnepf beschreibt dieses Vorgehen wie folgt: »Der dem vorliegenden Text der Ethik zugrundeliegende hypothetische Text soll [. . .] weitgehend unabhängig vom dokumentierten Text einzig aus dem jeweiligen Problem und der Position Spinozas zu ihm konstruiert werden; von diesem latenten Text soll dann der Text der Ethik allererst

Ebd., S. 43. Wolfson 1983, S. 4. 38 Ebd., S. 25. Vgl. dazu Braun: »Die Ethica zeichnet sich [nach Wolfson] nicht durch das aus, was sie auszeichnen sollte, nämlich Klarheit, Kohärenz, Ordnung, geregelte Abfolge im Sinne der Geometrie und ihrer Methode, sondern durch Allusionen und Kondensationen diskursiver Großformationen wie der Kabbala, Scholastik, des Talmud, der islamischen Konversionstheologie, des Averroismus, Stoizismus etc.« Braun 2017, S. 35. 36 37

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verständlich werden.« 39 Eine solche Interpretation sei, so Schnepf, aber textlich nur unzureichend abgesichert und würde sich auf einen ›ewigen Problembestand‹ berufen. Er kritisiert eine Willkür bei der Auswahl der Probleme und weist Wolfsons Methode zurück. Der Anfang der Ethica sei »nicht als eine Kritik der Tradition konzipiert«, wie Wolfson behaupte, sondern, wie oben angeführt, »als eine Abhandlung über einige Themen der allgemeinen Metaphysik.« 40 Mir scheint dabei nicht der Vorwurf der Bezugnahme auf Probleme an sich, sondern allenfalls der der mangelnden Konkretheit bei einem solchen Vorgehen haltbar. Die moderne Textforschung hat sich zur Einsicht durchgerungen, dass »die bloße Nennung eines Quellentatbestands unerheblich [ist] im Vergleich zu einer Untersuchung der Art und Weise, wie ein Prätext in das Werk integriert wird, denn erst eine solche Analyse vermag entscheidende Einblicke« 41 zu eröffnen. Diese Bemerkung von Claus Zittel drückt ein allgemeines Caveat aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gegen eine in der Philosophie verbreitete Praxis aus. Die Ethica unterscheidet sich nicht zuletzt deshalb von der Tradition, weil sie mit deren Motiven und Themen charakteristisch anders umgeht. Beispielsweise übernimmt Spinoza mit den infiniten Modi (s. Kap. 6) nicht bloß scholastische Konzepte wie causa remota und causa proxima, sondern weist jenen Modi eine neue und eigene Funktion im konkreten Rahmen des Problems der Teilbarkeit des Unteilbaren zu. Wolfson blendet solche Aspekte aus und kommt über den Schluss: »There is no logical connection between the contents of a philosophy and the particular literary form in which it is written« 42 zur Einschätzung, dass die Propositionen der Ethica ein Remake bekannter Inhalte sind: »Most often they are merely restatements of generally accepted mediaeval brocards.« 43 Auch diese Deutung kann nicht ohne Widerspruch bleiben. Wolfson übersieht, dass sich bei Spinoza, trotz Verwendung des traditionellen Vokabulars, etwas Neues anbahnt. Eine Möglichkeit, dieses Neue in den Blick zu nehmen, besteht darin, paradoxe Strukturen in der Ethica freizulegen, wie dann im zweiten Teil dieses Methodenkapitels erörtert wird. Dennoch ist Wolfsons Idee, dass der Ethica implizite Probleme zugrundeliegen, im Prinzip aufschlussreich, wenn es gelingt, diese Probleme spezifisch, und das heißt auch aus Spinoza Perspektive, statt aus einer allgemeinen scholastischen Perspektive, zu formulieren. Dann ließe sich damit ein erster methodischer Schritt machen, mit

39 40 41 42 43

Schnepf 1996, S. 91. Ebd. Zittel 2011, S. 31. Wolfson 1983, S. 54. Ebd., S. 58.

Problemgeschichtliche Methodik

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dem zunächst die kontingente Axiomatik, dann auch die deduktiven Passagen problemgeschichtlich motiviert werden. Was aber ist genau unter ›Problemgeschichte‹ zu verstehen? Problemgeschichte steht hier für eine Methode, die Nicolai Hartmann, Arbeiten von Wilhelm Windelband weiterführend, vorgeschlagen hat. Demnach besteht eine wesentliche Geschichte der Philosophie nicht in einem Verstehen, »was die Denker gedacht, gemeint, gelehrt, gewollt haben« 44, sondern in einem Wiedererkennen ihrer Probleme. Diese Auffassung unterscheidet sich von einer systematischen Architektonik der Vernunft nach Kant, aber auch von einer historischen Dialektik nach Hegel. In seinem Essay Der philosophische Gedanke und seine Geschichte legt Hartmann die Grundzüge seiner Methode dar, die hier, weil sie nicht mehr so geläufig sein dürfte, kurz rekapituliert wird. Im Unterschied zu »Systemdenkern« gingen »Problemdenker« nicht von Prinzipien aus, sondern auf Probleme ein. Die Problemgehalte lägen aber »nicht immer vordergründig zutage, sie verbergen sich hinter oft ganz anders geformten Fragestellungen der Denker. Sie verraten sich oft nur im scheinbar Peripheren«. 45 Systeme dagegen sind Gedankengebäude, die diese Probleme eher verdecken, u. a. aufgrund der »Vordringlichkeit ihres Eingefügtseins in das System«. 46 Als Beispiel nennt Hartmann das Problem der Erkenntnis von Gegenständen. Wenn Kant dazu die Einsicht hatte, dass keine Dinge an sich, sondern nur deren Erscheinungen erkannt werden können, so sei augenfällig, »daß diese Lösung mit dem komplizierten Gerüst des transzendentalen Idealismus nicht das geringste zu tun hat, ja daß sie der ungeheuren – und vergeblichen – Zurüstung jener ›Deduktion‹ geradezu Hohn spricht«. 47 Die Kritik am Systemdenken bedeutet nicht, dass Problemgeschichte kontingent oder subjektiv sei. Vielmehr gibt es einen ewigen Bestand und einen »eigengesetzlichen Gang der Probleme«. 48 Die »großen philosophischen Problemgehalte gehen durch, an ihnen bleibt etwas wesensidentisch und wiedererkennbar«. 49 »Was wir das Problem der Seele, des Guten, der Gerechtigkeit, der Substanz nennen, ist nicht etwas Willkürliches, nicht menschengemacht: es sind unabweisbare, sich immer wieder aufdrängende [. . .] Grundfragen.« 50 Was bei Demokrit »die γνησίη γνώµη ist, kehrt bei Platon als reine Schau, als Hartmann 1957, S. 19. Vgl. auch: »Die wirkliche Problemgeschichte, die auf dem Wiedererkennen der Probleme in der Gedankenarbeit der Denker beruhen müßte, ist ungeschrieben geblieben.« Ebd., S. 13 f. 45 Ebd., S. 9. 46 Ebd., S. 67. 47 Ebd., S. 63. 48 Ebd., S. 15. 49 Ebd., S. 54. 50 Ebd., S. 8. 44

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ἀνάµνησις, als ἐπιστήµη wieder; Aristoteles nimmt trotz aller Polemik gegen die Ideen diesen selben ἐπιστήµη-Begriff auf. In der Scholastik kehrt er als intellectio, visio, intuitus wieder. Die Philosophie der Neuzeit klärt ihn dann allmählich zum Begriff der Erkenntnis a priori«. 51 Wenn hier ziemlich vieles durcheinandergewürfelt scheint, so würde sich Hartmann damit rechtfertigen, dass es nicht auf die einzelnen Bezeichnungen, sondern auf das gemeinsame Problem ankomme. Charakteristisch für seine Auffassung von Problemgeschichte ist, dass sich eine ganze Reihe von Denkern an demselben Problem abarbeitet, bis einer es löst (im Beispiel der Erkenntnis: Kant). »Ein und dasselbe Problem durchläuft eine ganze Reihe von ›Systemen‹ der verschiedensten Art. Es selbst wird aber dabei nur langsam verschoben, nur unwesentlich aus seiner Linie gebracht.« 52 Aus den Lösungsversuchen zu diesem gleichbleibenden Problem entspringen dann verschiedene Begriffe und Systeme. »Der alte Kern einer zentralen Einsicht wächst und reift, erfährt Bestätigung von immer neuer Seite; es entsteht mit der Zeit ein beträchtliches, in sich gerundetes und gefestigtes Stück solider Erkenntnis [. . .]. Dabei aber klaffen die Systeme, die sie [die Denker] darüber erbauen, weit auseinander. Ja, indem sie einander zu überbieten suchen, werden sie immer diskrepanter; ihre Aufeinanderfolge wird immer dialektischer.« 53 Noch Heideggers »Seinsgeschichte« operiert mit solchen Denkmustern: »Was Leibniz hier denkt, kommt bei Kant und Fichte als der Vernunftwille zur Sprache, dem Hegel und Schelling, jeder auf seinem Weg, nachdenken. Das Selbe nennt und meint Schopenhauer, wenn er die Welt als Wille und Vorstellung denkt; das Selbe denkt Nietzsche, wenn er das Ursein des Seienden als Wille zur Macht bestimmt. Daß hier überall durchgängig das Sein des Seienden als Wille erscheint, beruht nicht auf Ansichten, die einige Philosophen vom Sein sich bilden [. . ., sondern] läßt sich nur durch ein Denken erfragen«. 54 War es bei Hartmann ›das Problem‹, das eine Eigendynamik entfaltete, ist es bei Heidegger ›das Sein‹, das sich in verschiedenen Gestalten entbirgt und zur Sprache kommt. 55 Die Rede von ewigen Problemen mag uns heute als essentialistischer und transhistorischer Topos befremden. Ist es tatsächlich dasselbe Problem, auf das sich alle Denker beziehen bzw. das sich bei allen wiederholt? Setzen sich jene Probleme tatsächlich durch ihr »eigenes Gewicht« durch, 56 oder sind es nicht Ebd., S. 36. Hartmann 1910, S. 478. 53 Hartmann 1957, S. 36. 54 Heidegger 1954, S. 36. 55 Dabei verbirgt Heidegger den eigenen Deutungsanspruch hinter einem vorgeblichen Walten des Seins. 56 Vgl. Hartmann 1957, S. 8. 51 52

Adaptation der problemgeschichtlichen Methodik

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vielmehr verschiedene Kräfte, die sich eines Problems bemächtigen und es in ihrem Sinne und Interesse auslegen? Und müsste man nicht differenzierter und sorgfältiger mit den doch erheblich verschiedenen Erkenntnisbegriffen umgehen? Im Folgenden sollen daher die Ansätze von Hartmann und Wolfson aufgegriffen und auf eine pragmatische und redimensionierte Weise weiterentwickelt werden. Danach muss ein Problem nichts Ewiges sein, sondern nur eine hinreichende Stabilität und Kenntlichkeit haben. Auch muss es nicht einem Kanon von Problemen (der, wie man argwöhnen kann, auch bloß gemacht ist) angehören, sondern kann situativ bestimmt werden. Relevant ist vor allem, inwiefern das jeweilige Problem zum Verständnis von philosophischen Einsätzen, hier denjenigen Spinozas, beiträgt. Die klassische problemgeschichtliche Methode kann durchaus gewinnbringend und aufschlussreich sein, sie muss aber gewissen Adaptationen unterzogen werden. 57

2.4 Adaptation der problemgeschichtlichen Methodik

Als erste Adaptation scheint es sinnvoll, Probleme nicht mehr als ewig zu betrachten, sondern selbst in zeitlicher Entwicklung und Veränderung. Man kann die Entwicklung dann auf zwei Zeitskalen betrachten: eine langsamere für die Probleme selbst und eine schnellere für deren Umstände. Probleme haben einen hinreichenden Bestand und eine hinreichende Kenntlichkeit, wenn sie sich im Vergleich zu den Umständen langsamer wandeln. 58 Eine direkte Konsequenz davon ist, dass mehr Gewicht auf der Auswahl von Problemen liegt, zumal sie nicht mehr einem fixen Bestandskatalog entnommen werden können. Berücksichtigt werden muss auch der zeitliche Abstand zu Spinoza, der uns manches gar nicht mehr als Problem erscheinen lässt (etwa die creatio continua), was für ihn noch eines war. Neben Hartmann haben auch Philosophen wie Deleuze und Dewey die Relevanz problemorientierten Denkens hervorgehoben. Philosophie antworte auf Probleme, nicht auf Phänomene, so Deleuze. Und Dewey konstatiert: »Empirisch beginnt alles Denken mit dem Problematischen und Verworrenen.« Dewey 1995, S. 77. 58 Eine berühmte Postkarte von Nietzsche an Overbeck mag dies illustrieren. Darin zeigt sich Nietzsche »entzückt«, einen »Vorgänger« zu haben – eben jenen Spinoza –, und findet sich »in fünf Hauptpunkten seiner Lehre« wieder. Dann fügt er an: »wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft«, also im obigen Sinn an den Umständen. Brief 135 vom 30. Juli 1881, KSB 6.111. Man kann diese Stelle so lesen, dass Nietzsche und Spinoza nicht in derselben Begrifflichkeit operieren, aber verwandte Probleme adressieren. Vgl. dazu Boehm 2017. Mit Deleuze ließe sich dieser Gedanke auch differenzphilosophisch artikulieren. Statt der Selbigkeit der Probleme, die eine Wiederholung bei einem anderen Denker ermöglicht, ist es die Selbigkeit der Wiederholung, die eine Identifikation der Probleme ermöglicht. Deleuze 2007, S. 373; Boehm 2017, S. 29–32; vgl. dazu auch Boehm 2019. 57

Methodik: Problem, Paradox, Unterscheidung

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Betrachten wir damit die Ethica, so können sich solche Problemdiskussionen nicht auf der deduktiven Ebene finden. Stattdessen sind es die erwähnten nicht-deduktiven Textteile, also Vorworte, Scholien und Appendizes, wo wir Hinweise erwarten dürfen. Beispielsweise thematisiert Spinoza die Teleologie als Problem in 1app, die Teilbarkeit von Substanzen in 1p15s oder den freien Willen in 1p17s. Martin Saar beschreibt diese Unterscheidung wie folgt: »[Während sich auf einer ersten Ebene] eine formal und terminologisch strikte Argumentation findet, findet auf der zweiten eine Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden, alternativen Auffassungen und erkenntnisverhindernden Vorurteilen statt, die oft erfahrungsgesättigt ist und mit Begriffen und Annahmen operiert, die nicht selbst hergeleitet sind.« 59 Diese Passagen der Ethica »enthalten keine ganz andere Philosophie, sie schreiben keinen ganz anderen Text. Aber sie verweisen auf vieles, was im Haupttext der Lehrsätze und Beweisführungen nicht explizit zur Sprache kommt, was ihm vorausliegt und ihn motiviert.« 60 Deshalb sind diese Textpassagen der primäre Ort, um die Probleme auszumachen, auf die Spinoza mit seinen Konzepten reagiert. Neben der Ethica werden ergänzend auch der TTP und die Briefe beigezogen, sofern sie aufschlussreiche Hintergründe für unsere Fragestellung liefern. Beispielsweise kann die Kritik an einer anthropomorphen und transzendenten Gottesvorstellung (vgl. Kap. 3) im Rückgriff auf den TTP besser konturiert werden. Mit der Verzeitlichung und der pragmatischen Redimensionierung kann die klassische Problemgeschichte besser auf die Besonderheiten Spinozas zugeschnitten werden, während gleichzeitig andere attraktive Eigenschaften beibehalten werden. Gegen eine solche Übertragung könnte man einwenden, dass Spinoza doch ein paradigmatischer Systemdenker sei, und mehr noch, daß er durch den mos geometricus gerade von einer problemorientierten Art des Philosophierens wegkommen wollte. Eine solche würde doch eher an die scholastische Tradition der Disputationes anknüpfen, an deren Stelle nun die Frühe Neuzeit mit ihrem mathematisch-naturwissenschaftlichen Instrumentarium trete. Wie ›systematisch‹ auch immer Spinoza sich selbst verstanden haben mag, kann es sich doch als lohnend herausstellen, ihn gegen den Strich oder den vermeintlichen Anstrich zu lesen und ihn eben auch als Problemdenker in Betracht zu ziehen. 61 Saar 2013, S. 81. Ebd., S. 81, Hvg. Vf. 61 Auch muss man sich einer allfälligen Rückprojektion bewusst sein, da der Begriff des Systems sich erst durch Kant und den Deutschen Idealismus in der Philosophie einbürgerte. Denker des Systems benutzten oft Architekturmetaphern. Dabei war Johann Heinrich Lambert mit seiner Schrift Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen 59 60

Adaptation der problemgeschichtlichen Methodik

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Neben der praktischen arbeitstechnischen Frage, wie man konkret Spinozas Probleme ausmacht, stellt sich auch die grundsätzliche epistemologische Frage, wie man überhaupt ein Problem als Problem erkennen kann. Angenommen, ein Problem ist ein Bereich des Nicht-Wissens: Wie kann man dann von ihm wissen? Muss man diesen Bereich nicht schon hinreichend durchdrungen haben, um überhaupt etwas Problematisches daran erkennen zu können? Dann aber wäre das Problem ja gelöst. Luhmann hat deshalb von einem ›Problem zweiter Ordnung‹ gesprochen und die Sachlage am platonischen Dialog Menon exemplifiziert: »Man fragt sich seit Platons Menon: wie kann man etwas wissen, was man nicht weiß? Wie kann man ein Problem erkennen?« 62 Damit Menon überhaupt Sokrates' Frage nach der Länge der Diagonalen im Quadrat versteht, muss er schon einiges über diese Diagonale, deren Lage und Länge erschlossen haben. Platons Erklärung dafür ist, dass die Seele das entsprechende Wissen in einem früheren Leben geschaut hat und sich nun daran erinnert. Diese Erklärung ist aber paradox, denn eine exakte Wiederholung des gleichen Wissens ist nicht nur empirisch, sondern auch logisch unmöglich. Ein ›wiederkehrendes Gleiches‹ ist allein durch die Feststellung, dass es wiederkehrt, vom ›vormaligen Gleichen‹ unterschieden. Ein Paradox tritt hier auf, weil man einen zeitlichen Vorgang – die Wiederholung – unzeitlich – als strikte Gleichheit – denken will. 63 Nach Luhmann wird die Paradoxie, wie man etwas wissen kann, was man nicht weiß, nun gerade »mit der Unterscheidung Problem / Problemlösung kuriert«. 64 »Die Unterscheidung Problem / Problemlösung respezifiziert den Code durch die Möglichkeit, die Wahrheitsfrage im (vorläufig) unentschiedenen zu belassen; denn ein Problem wird mit Sätzen formuliert, die eine in Hinsicht auf Wahrheit / Unwahrheit unentschiedene Meinung kommunizieren, während die Problemlösung die Zuteilung der Werte wahr bzw. unwahr kommuniziert. Aus dieser Paradoxie kommt man jedoch hinaus, und das will die Unterscheidung und mathematischen Erkenntniß, erschienen 1771, wohl auch Stichwortgeber für Kant. So heißt es in der transzendentalen Elementarlehre dann: »Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System.« Kant 1993, B 502, S. 518. Das dritte Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre ist überschrieben mit »Die Architektonik der reinen Vernunft«. Spinoza selbst benutzt keine Architekturmetaphern. In einem ganz anderen Sinn ist Problemgeschichte auch verwandt mit einer talmudischen Diskussionsmethode, die verlangt, für jede Behauptung bzw. für jeden eingeführten Begriff einen möglichen Gegengrund, also ein Problem, das damit beantwortet werden soll, zu nennen. Im Hebräischen ist die Wendung dafür ‫[ ֲהוָה ֲא ִמינָא‬hawa amina], Frank 1994, S. 83. Ich danke Daniel Strassberg, Zürich, für den Hinweis. 62 Luhmann 1990, S. 420. 63 Gerade so taucht es auch in Nietzsches Formel der ewigen Wiederkunft des Gleichen auf. Vgl. dazu Stegmaier und Boehm 2019. 64 Luhmann 1990, S. 420.

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suggerieren, wenn man Zeit einbaut. Man kann aber auch in die Gegenrichtung vorgehen und zu einem bekannten Sachverhalt das Problem suchen, das diesen Sachverhalt als Lösung erscheinen läßt und eventuell die Suche nach anderen Problemlösungen stimulieren kann.« 65 Beide Bewegungen werden wir uns zu Nutze machen, um im Folgenden mit Problemen und Paradoxien zu operieren. Luhmanns Beobachtung zeigt auch, dass Hartmanns Idee eines sich wiederholenden ewigen Problembestandes nur paradox gedacht werden kann. Eine Verzeitlichung der Probleme, wie sie hier durch die Adaptation der Problemgeschichte vorgeschlagen wird, drängt sich deshalb auch als Entparadoxierung jener Idee auf. Damit kommen wir zum zweiten methodischen Pfeiler dieses Buches: den Paradoxien.

2.5 Paradoxien: Entstehung und Typen

In Kap. 1 wurde die Hypothese aufgestellt, dass Paradoxien aufgrund von Spinozas konsequenter Problembehandlung im neuen monistischen und immanenten Rahmen auftreten. Um dieses Auftreten genauer zu verstehen, sind zunächst einige grundlegende Beobachtungen zu Paradoxien hilfreich. Umgangssprachlich bezeichnet man als paradox Sätze und Sachverhalte, die einerseits einer Erwartung widersprechen, also ›neben der Meinung‹ sind, andererseits intuitiv richtig scheinen. Mit Paradoxien verwandt sind Widersprüche und Antinomien, die sich von jenen auch nicht immer klar abgrenzen lassen. Intuitiv ist eine Paradoxie eine selbstwidersprüchliche Aussage, aus der man nicht herauszukommen scheint. Widersprüche waren zu allen Zeiten ein Dorn im Auge der Philosophen. Ebenso aber verstand man, sie produktiv zu nutzen. Aristoteles machte aus dem Widerspruch sogar ein Prinzip zum Auffinden der Wahrheit. In seiner Metaphysik nannte er die Vermeidung von Widersprüchen das »sicherstes Prinzip [βεβαιοτάτη ἀρχή]«: »daß nämlich dasselbe demselben und in derselben Beziehung [. . .] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann.« 66 Kant zeigte durch vernunftimmanente Widersprüche, die Antinomien, dass gewissen begrifflichen Verwendungen Schranken gesetzt sind. Hegel schließlich verzeitlichte die Widersprüche und versuchte sie dialektisch aufzuheben. Sehen wir zu, ob etwas Ähnliches auch bei Spinoza gelingen kann, beginnend beim einfachsten Fall: dem simplen Widerspruch. Eine der wenigen Studien zu Ebd., S. 421. Vgl. auch Werner Stegmaier, Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, S. 226 f. 66 »τὸ γὰρ αὐτὸ ἅµα ὑπάρχειν τε καὶ µὴ ὑπάρχειν ἀδύνατον τῷ αὐτῳ καὶ κατὰ τὸ αὐτό.« Aristoteles 1989, Γ/IV, 1005b, S. 137. 65

Paradoxien: Entstehung und Typen

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Spinoza, die explizit mit Widersprüchen arbeitet, ist The Role of Contradictions in Spinoza's Philosophy von Yuval Jobani. Darin wird eine Reihe von systematischen Widersprüchen in der Ethica und im TTP aufgedeckt: i) Ein erster Widerspruch beinhaltet nach Jobani das Konzept Gottes. Er wiederholt sich auf jeder der drei Erkenntnisebenen: »The concept of God in the first kind of knowledge contradicts itself because it functions distinctly as a morally oriented concept in the first part of the TTP, but distinctly as a politically oriented concept in the second part.« 67 Dieser Widerspruch kann noch einfach gelöst werden, indem man zwei Aspekte, moralisch und politisch, unterscheidet, die sich im Fortgang der Untersuchung ablösen. ii) Als zweiten Widerspruch führt Jobani sowohl »the contradiction between the finite and the infinite« und »the contradiction between immanence and transcendence in Spinoza's concept of God« an. 68 Die Ungereimtheit im ersten Fall bestehe darin, dass es in Spinozas System keinen Platz für endliche Dinge gäbe, weil es im Grunde eine Philosophie des Absoluten sei. Der zweite Fall bezieht sich auf die Unterscheidung von Substanz und Modi: »While in the second scholium to proposition I.33 Spinoza adheres to an immanent position according to which it is not possible to separate between the substance and its affects, in the demonstration to proposition I.5, he takes the transcendent position, positing that the substance ›in itself‹ (in se) is distinguished from its affections.« 69 iii) Weiter sei es widersprüchlich, dass die Essenz der von Gott geschaffenen Dinge einerseits Existenz einschließe, andererseits nicht, und iv) dass die Vollkomenheit dieser Dinge einerseits absolut, andererseits nur partiell sei. Zusätzliche Widersprüche bestünden, so Jobani, zwischen der Realität als statischer Einheit und als dynamischer Multiplizität, zwischen causa efficiens und causa finalis im conatus, zwischen gut und böse in Gott, zwischen Ewigkeit und Zeit bzw. deren Zirkularität. 70 Wenngleich nicht alle hier aufgezählten Widersprüche gleich plausibel sind, lässt sich daraus eine wichtige methodische Erkenntnis ableiten: Widersprüche können durch Unterscheidungen in Hinsichten, Perspektiven, Neben- und Nacheinander gelöst werden. Darauf hat u. a. schon Luhmann hingewiesen. Jobani selbst macht in seiner Arbeit nur geringfügig Gebrauch davon. 67 Jobani 2016, S. 6. »Spinoza presents a revised religion that is founded on a reduction of the religious to the moral, wherein obedience to God is reduced to obedience to the laws of morality. In the second part of the TTP (Chapters 16–20), however, Spinoza presents a revised religion that is founded on a reduction of the religious to the political, wherein obedience to God is reduced to obedience to the laws of political authority.« Ebd., S. 5 f. 68 Ebd., S. 7. 69 Ebd., S. 56. 70 Vgl. ebd., S. 7 f.

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Neben Widersprüchen kommen auch Antinomien in Betracht, d. h. Gegenüberstellungen sich ausschließender Aussagen, die sich auf das Gleiche beziehen. Nach Rosemarie Rheinwald »besteht eine Antinomie aus einem logischen Widerspruch (meist durch einen Satz der Form ›p genau dann, wenn nicht p‹ oder ›p und nicht p‹ ausgedrückt), der aus einer Menge von als intuitiv einleuchtend angesehenen Annahmen mittels ebensolcher Methoden gewonnen wird«. 71 Es besteht hier ein gradueller oder qualitativer Unterschied zu gewöhnlichen Widersprüchen: »Damit etwas als Antinomie angesehen werden kann, muß der Widerspruch besonders gut versteckt sein.« 72 Ein klassisches Beispiel sind die erwähnten Antinomien der reinen Vernunft. Mit ihnen zeigt Kant, dass die kollektive Einheit der Verstandeserkenntnisse sich nicht in durchgängig widerspruchsfreie Begriffe fassen lässt. 73 Wenn man uneingeschränkt über die Welt als Ganzes, deren Zusammensetzung und Gesetzlichkeit spricht, führt das zu konträren bzw. subkonträren Aussagen. So thematisiert die erste der vier Antinomien die Frage, ob die Welt einen Anfang habe oder nicht. Die Thesis in diesem ersten »Widerstreit der transzendentalen Ideen« lautet: »Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen«, die (konträre) Antithesis: »Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raums, unendlich.« 74 Diese Antinomie verlangt sowohl eine Unterscheidung zu ihrer Auflösung als auch eine Erklärung ihrer Entstehung. Die Auflösung besteht darin, beide Seiten für falsch zu erklären (was bei einem konträren, nicht aber bei einem kontradiktorischen Gegensatz möglich ist) und zwischen einer Vernunftidee und einem sinnlichen Gegenstand zu unterscheiden. Die Erklärung ist, dass im Begriff ›Welt‹ die Totalität der Erscheinungen und eine Erscheinung selbst verwechselt werden. ›Welt‹ wird sich dann als regulative Idee herausstellen, die nicht Gegenstand empirischer Aussagen sein kann. 75 Was sind nun aber Paradoxien und welche Typen gibt es? Ein erstes Merkmal ist wiederum der Widerspruch. »Alle Charakterisierungen des Paradoxen enthalten als Kern den Bezug auf einen Widerspruch im weitesten Sinn – sei

Rheinwald 1988, S. 9. Ebd., S. 12. 73 Vgl. Stegmaier 2008, S. 212. 74 Kant 1993, B 454 f. 75 Im problemgeschichtlichen Sinne können Kants Antinomien z. T. sogar in Korrespondenz zu Spinozas Paradoxien gesetzt werden. Dem kantischen Problem der Teilbarkeit von substanzieller Materie in der 2. Antinomie, dem Problem der Determination in der 3. Antinomie und der Existenz eines notwendigen Wesens in der 4. Antinomie entsprechen bei Spinoza das Problem der Teilbarkeit von Substanz in 1p15s, das Problem des Willens in 1p17s und das Problem des Anfangs, die allesamt nur paradox gedacht werden können. 71 72

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es im Gewand eines Unsinns oder des Widersinns.« 76 Ein zweites Merkmal ist, dass während bei einem gewöhnlichen Widerspruch oder bei einer Antinomie die konträren oder kontradiktorischen Aussagen mehr oder weniger getrennt vorliegen, sie bei einem Paradox in einer einzigen Aussage versteckt sein können. Es braucht dann einige Kunstfertigkeit, um anzugeben, was hier eigentlich schiefläuft. Erschwerend ist, dass dieser logische Widerspruch oft »aus anscheinend wahren Prämissen mittels anscheinend korrekter Schlußregeln gewonnen wird«. 77 Eine eindeutige Abgrenzung zwischen Paradoxien, Antinomien und Widersprüchen lässt sich dennoch nicht vornehmen, und selbst in einer logisch-formalisierten Sprache gibt es keine allgemeingültige Definition von ›paradox‹, ebenso wenig wie eine einheitliche Theorie von Paradoxien. Stattdessen treten verschiedene paradoxe Fälle auf, die je für sich untersucht werden müssen. Man kann diese Fälle grundsätzlich in logische bzw. mengentheoretische Paradoxien und semantische Paradoxien einteilen. 78 Zur ersten Gruppe gehört etwa die Paradoxie der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthält, zur zweiten die Paradoxie des Lügners, der die Wahrheit sagt. Unabhängig von dieser Einteilung lässt sich feststellen, dass Paradoxien oft aufgrund von Selbstbezüglichkeiten entstehen, d. h. »immer dann, wenn eine Unterscheidung mit ihrem negativen Wert auf sich selbst angewendet wird, wenn man z. B. sagt, daß man jetzt nichts sagt (oder ausführlich begründet, daß man sich kurz fassen will, begreift, daß man etwas nicht begreift, weiß, daß man nichts weiß (das Sokratische Paradoxon), wahrheitsgemäß sagt, daß man lügt (das Kreter-Paradoxon), die Menge aller Mengen bildet, die sich nicht selbst enthält (die Antinomie der Mengenlehre), oder die Unvollständigkeit mathematischer Beweise vollständig mathematisch beweist (der Gödelsche Unvollständigkeitsbeweis)«. 79 Betrachten wir einige Fälle konkreter: i) Das Russell'sche Barbier-Paradox: Dieses Paradox geht von der intuitiv plausiblen Situation aus, dass der Barbier eines Dorfes genau all diejenigen Dorfbewohner rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Wie aber steht es mit dem Barbier? Angenommen, er würde sich selbst rasieren, dann muss er zugleich einer von denen sein, die sich nicht selbst rasieren, denn er rasiert per definitionem nur diese. Angenommen, er rasiert sich nicht selbst, dann muss er durch den Barbier rasiert werden, das aber ist er selbst. Er rasiert sich also genau dann, wenn er sich nicht rasiert.

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Rheinwald 1988, S. 9. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 14. Stegmaier 2011, S. 209.

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ii) Der Lügner: Das Lügner-Paradox entsteht, wenn der Satz ›Alle Kreter lügen‹ von einem Kreter geäußert wird. Denn wenn es stimmt, dass alle Kreter lügen, dann wäre derjenige, der den Satz ausspricht, ebenfalls ein Lügner, und damit der Satz falsch, obwohl mit ihm eine Wahrheit behauptet werden soll. Formalisiert schreibt sich das Paradox: λ = ¬T (pλq), für einen Satz λ (›Alle Kreter lügen‹), einen singulären Term pλq, der λ denotiert, und für den Wahrheitsoperator T . Es folgt, dass λ wahr gdw. λ falsch. 80 Damit dieses Paradox überhaupt eines ist, müssen gewisse Annahmen im Hintergrund aktiv sein: zum einen das Äquivalenzprinzip (ein Satz < λ > ist genau dann wahr, wenn λ der Fall ist), zum anderen die uneingeschränkte Quantifikation über alle Kreter. iii) Zenons Pfeil: In der Überlieferung von Diogenes Laertios lautet Zenons Pfeilparadox: »Zenon schafft die Bewegung ab, indem er argumentiert, das Sichbewegende [κινούµενον] bewege sich weder an dem Ort [τόπῳ], wo es ist, noch an dem, wo es nicht ist.« 81 Auch dieses Paradox taucht nur mit gewissen Annahmen auf, etwa einer Auffassung vom Raum, wonach Körper zu bestimmten Raumabschnitten gehören. Der Ort, an dem sich der Pfeil befindet, unterscheidet sich dann durch seine Anwesenheit von anderen Orten. So kann man sagen, dass der Pfeil in dem ihm zugehörigen Ortsstück ruht, wenn dieses etwa von der Größe des Pfeils angenommen wird. »Wenn aber der Ort, an dem der Pfeil zur Zeit ist, genauso groß ist wie dieser selbst, kann er sich an diesem Ort nicht bewegen. A fortiori ist seine Bewegung ausgeschlossen, an dem Ort, wo er nicht ist. Der fliegende Pfeil steht still, sobald man ihn mit dem Gedanken erfaßt.« 82 Diese drei Typen von Paradoxien haben verschiedene Auflösungen und Erklärungen ihrer Entstehung. Die Lösung des Barbier-Paradoxes besteht schlicht darin, zu sagen, dass kein solcher Barbier existiert. Eine selbstverständlich gemachte Prämisse wird damit aufgegeben. Zur Lösung des Lügner-Paradoxes hat Tarski vorgeschlagen, die logischen Strukturen so zu erweitern, dass neben der Objekt-Sprache, in der der Satz ›Alle Kreter lügen‹ formuliert ist, eine Meta-Sprache eingeführt wird, in der über die Objekt-Sprache gesprochen werden kann. Damit wird es möglich, sich über die Eigenschaften desjenigen zu verständigen, der den Satz äußert. Das Besondere an Tarskis Lösung ist, dass auf jeder Ebene eine separate Wahrheitsprädikation möglich ist. Eine WiederZu genaueren impliziten Annahmen vgl. Rheinwald 1988, S. 19. Zititert nach Mansfeld 2007, S. 49. DK 29 B 4. 82 So der Kommentar in Mansfeld 2007, S. 12. Kant bemerkt zu diesem Paradoxon: »Der eleatische Zeno, ein subtiler Dialektiker, ist schon von Platon als ein mutwilliger Sophist darüber sehr getadelt worden, daß er, um seine Kunst zu zeigen, einerlei Satz durch scheinbare Argumente zu beweisen und bald darauf durch andere eben so starke wieder umzustürzen suchte.« Kant 1993, B 530. 80 81

Unterscheidungen und Bedeutungsverschiebungen

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holung des Paradoxes auf höherer Ebene (eine paradox's revenge) wird damit verhindert. Das Zenon-Paradox schließlich lässt sich ebenfalls durch eine Erweiterung der Strukturen lösen, nun nicht der logischen, sondern der semantischen. Den darin vorkommenden Termini wird eine neue Bedeutung verliehen. Hier ist es die Zeit, die anders gedacht werden muss, nämlich als kontinuierlich fließende Größe, womit eine zusammenhängende Sequenz von Orten sowie eine Bahn des Pfeils denkbar wird. In seiner Physik gibt Aristoteles folgende Erklärung für das Auftreten des Paradoxes: »Zenon schließt fehlerhaft: Wenn ein Jedes, sagt er, immer dann im Ruhezustand ist, wenn es ›in dem gleichen‹ (Raumstück) ist, wenn dann weiter immer das Fortbewegte in dem Jetzt ist, so wäre der fliegende Pfeil unbewegt. – Das aber ist ein Irrtum: die Zeit besteht ja gar nicht aus unteilbaren Jetzten [ἐκ τῶν νῦν τῶν ἀδιαιρέτων].« 83 Zenon selbst hatte zur Lösung des Paradoxes im Sinne seines Lehrers Parmenides vorgeschlagen, die Bewegung zum Schein zu erklären und die Ruhe als eigentlichen Zustand anzunehmen. In einer moderneren Betrachtungsweise, nach der sich der Pfeil durch einen newtonschen Raum bewegt, stellt sich das Paradox aber ebenfalls. In jedem Punkt seiner Bahn kann man ein Inertialsystem einführen, in dem der Pfeil ruht. Dadurch, dass dann ein infinitesimal kleines Ortsintervall in ein Verhältnis zu einem infinitesimal kleinen Zeitintervall gesetzt wird, kann ihm aber eine Geschwindigkeit zugeschrieben werden. Weitere Lösungen von Paradoxa können darin bestehen, das Äquivalenzprinzip abzulehnen oder statt der klassischen zweiwertigen Logik (wahr-falsch) mit mehrwertigen Logiken zu operieren, wie sie ukasiewicz eingeführt und Kripke weiterentwickelt hat. Solche werden hier aber nicht in Betracht gezogen.

2.6 Unterscheidungen und Bedeutungsverschiebungen

Nach der adaptierten Problemgeschichte und den Paradoxien, dem ersten und zweiten methodischen Schritt für die nachfolgende Untersuchung der Ethica, kommen wir nun zum dritten Schritt: der Auflösung von Paradoxien durch eine bestimmte ›Unterscheidungstechnik‹. Diese schließt an die im Zusammenhang mit dem Zenon-Paradox erwähnte Erweiterung der semantischen Strukturen an. Rosemarie Rheinwald hat als »Ursachen des Entstehens semantischer Paradoxien in natürlicher Sprache« folgende genannt: »1) die Kontextabhängigkeit und daraus resultierende Mehrdeutigkeiten der semantischen Begriffe; und 2) eine realistische Auffassung von Sprache und Kontexten. Vermieden werden können die Paradoxien durch: 1) den Ausschluß von Mehrdeutigkeiten 83

Aristoteles 1988, Z 9, 239b, S. 91.

Methodik: Problem, Paradox, Unterscheidung

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durch Relativierung auf Kontexte; und 2) eine konstruktive Auffassung von Sprache und Kontexten.« 84 Diese Möglichkeiten wollen wir uns für Spinoza zunutze machen. Zum Beispiel gilt auch: »Die semantischen Definitionsparadoxien können vermieden werden, wenn man den Kontext der Definition berücksichtigt, eine Sprache als offenes Gebilde ansieht und eine konstruktive Auffassung von dem Prozeß der Erweiterung einer Sprache vertritt.« 85 Wenn Spinoza zum Beispiel die cartesischen Begriffe von Substanz und Attribut aufgreift und auf seine Weise behandelt, tritt eine Paradoxie auf, dass man einerseits nur durch Attribute weiß, was überhaupt die Substanz ist, zugleich aber die Substanz schon erkannt haben müsste, um zu wissen, dass es sich um Attribute dieser Substanz handelt (vgl. Kap. 5). Das verlangt eine Neuinterpretation der involvierten Begriffe. Hier sei nur angedeutet, dass die Lösung der Paradoxie darin bestehen wird, Substanzen und Attribute anders als bei Descartes zu unterscheiden, indem man von jedem Attribut sagt, dass es die Essenz der Substanz ausdrückt, also mit der Essenz einen dritten Term einführt und diese Terme durch die Relation des Ausdrucks aufeinander bezieht. In Anlehnung an die zuvor allgemein erläuterte Methodik wird hier ebenfalls mit der Einführung zusätzlicher Strukturen und einer Erweiterung der Sprache gearbeitet. Die beteiligten Begriffe erfahren eine Bedeutungsverschiebung. Die derart in die Wege geleitete Entparadoxierung ist aber immer nur eine auf Zeit. »[Paradoxien] müssen entparadoxiert werden durch Begriffe, die sie unsichtbar machen, invisibilisieren, bis dann auch ihre Paradoxien auffallen: So geschah es schon in der Antike mit dem Begriff der Bewegung und im 19. Jahrhundert mit dem Begriff der scheinbar zeitlosen Substanz, die sich dann doch als zeitlich erwies.« 86 Greifen wir noch ein weiteres Beispiel aus der Ethica heraus. Jobani sah, wie erwähnt, einen Widerspruch darin, dass die Essenz der von Gott geschaffenen Dinge einerseits Existenz einschließe, andererseits nicht. 87 Der Hintergrund dazu ist Lehrsatz 1p25: »Gott ist nicht nur die bewirkende Ursache der Existenz von Dingen, sondern auch ihrer Essenz.« Wenn so die Essenz und die Existenz eines Einzeldinges schon von Gott bewirkt sind, dann wäre ein entsprechender Wirkungszusammenhang zwischen der Essenz und der Existenz eines EinzelRheinwald 1988, S. 8. Ebd., S. 8. 86 Stegmaier 2016, S. 10. Im Beispiel des Lügner-Paradoxes war es die Unterscheidung von Objekt-Sprache und Meta-Sprache, im Beispiel des Pfeil-Paradoxes die Unterscheidung von Zeit und Zeitlosigkeit. Auf den Nutzen und die Notwendigkeit einer Unterscheidungstechnik zur Entparadoxierung haben in jüngerer Vergangenheit vor allem Niklas Luhmann und Werner Stegmaier hingewiesen, Luhmann 1990 und Stegmaier 2011, S. 208–216. 87 Vgl. Jobani 2016, S. 64. 84 85

Unterscheidungen und Bedeutungsverschiebungen

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dings selbst hinfällig. In dieser Form besteht ein Widerspruch, den man durch eine Unterscheidung im Sinne einer Auffächerung in Hinsichten lösen kann. Dies geschieht mittels der bei Spinoza auffälligen Präposition quatenus: Wohl ist die Essenz Gottes stets Ursache der Existenz der Dinge, aber nur insofern Gott als affiziert betrachtet wird. Derartige Unterscheidungen und Umgestaltungen ganzer traditioneller Beziehungsgeflechte setzen in der Ethica eine begriffliche Dynamik in Gang. Offensichtlich gehorcht diese einer anderen Logik als die Deduktion. Es handelt sich dabei auch nicht um eine Dialektik, sondern um eine ganz eigene Form begrifflicher Prozessualität, die bisher in der Forschung kaum untersucht worden ist. Durch sie wird N. B. der mos geometricus nicht als Ganzes in Frage gestellt, sondern eine Alternative zu ihm ins Spiel gebracht, die auf einer anderen Ebene angesiedelt ist. Denn, so auch Jobani: »Spinoza's philosophy is conducted below the surface as much as it is above.« 88 Die auf deduktiver Ebene vorkommenden Terme können dann oft schon als Entparadoxierungen jener untergründigen Paradoxien verstanden werden. Dabei ist fortlaufend zu überprüfen, ob nicht auch die Deduktion selbst von Paradoxien durchzogen ist, was natürlich verheerend wäre, da viele Beweise mit Widerspruchsannahmen und dem Satz des ausgeschlossenen Dritten operieren. Mit den methodischen Überlegungen aus diesem Kapitel soll nun der Anfang der Ethica angegangen werden. Dazu werden, wie erwähnt, die Definitionen in problemgeschichtlicher Hinsicht als Antworten auf bestimmte Problemlagen gedeutet. Substanz, Attribute und Modi erscheinen so nicht bloß als Terme einer metaphysica generalis, die isoliert von vielfältigen gesellschaftlichen, ethischen und politischen Kontexten behandelt werden könnte. Vielmehr ist, so die in der Einleitung geäußerte These, die Metaphysik schon ethisch motiviert. Diese implizite Ethik soll nun explizit gemacht werden.

88

Jobani 2016, S. 3.

3 Die implizite Ethik in Spinozas Metaphysik. Eine kurze Problemgeschichte der Grundbegriffe

3.1 Causa sui und die Probleme des infiniten Regresses und der Schöpfung aus dem Nichts

Der erste problemgeschichtlich zu kontextualisierende Grundbegriff ist derjenige der causa sui. Mit diesem Begriff setzt die Ethica unvermittelt ein: »Unter Ursache seiner selbst [causa sui] verstehe ich das, dessen Essenz Existenz einschließt, anders formuliert das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.« (1def1 1) Wozu dient diese Definition? Würden wir allein die Ebene des mos geometricus betrachten, so erweist sich 1def1 als Prämisse für die späteren Lehrsätze 1p7, 1p24 und 5p35. 2 Je nach Interpretationsinteresse kommt diesen Lehrsätzen – und damit auch der causa sui – ein größerer oder geringerer Stellenwert in der Ethica zu. So meint etwa Bartuschat, dass man von der prominenten Position am Anfang des Werks nicht auf eine ausgezeichnete Rolle darin schließen dürfe. In seinem Fall ist das Erklärungsinteresse ›der Mensch‹, wozu das Konzept der causa sui nicht viel beitrage (vgl. dazu Kap. 4). In anderen Hinsichten aber könnte es durchaus aufschlussreich und relevant sein – namentlich in der hier vorgeschlagenen Lesart, die die Ethica über Probleme und Paradoxien entwickelt. Dafür ist die causa sui nämlich das initiale Moment, das eine Reihe von Paradoxien anstößt. Man kann die causa sui dadurch motivieren, dass man, gemäß dem ersten methodischen Schritt, eine Problemlage angibt, auf die sie als Gegenkonzept antwortet. Worin besteht diese Problemlage? Naheliegend ist zunächst das Problem des infiniten Regresses, das Spinoza sicher bekannt war und das zweifellos eine Gefahr für sein System darstellen würde. Denn ein infiniter Regress bedeutet, dass in einer Begründungskette kein letzter Grund angegeben werden kann. Schon in der Antike hatten die Skeptiker Agrippa und Sextus Empiricus darauf hingewiesen, dass jedes System mit Vollständigkeitsanspruch entweder an einem solchen infiniten Regress, einem Zirkelschluss, einer dogmatischen Setzung, einem Dissens oder einer Relativität scheitern muss (die sog. fünf 1 »Per causam sui intelligo id, cujus essentia involvit existentiam, sive id, cujus natura non potest concipi, nisi existens.« 2 Sie lauten: »Zur Natur [d. h. der Essenz] einer Substanz gehört es zu existieren« (1p7), »Die Essenz der von Gott hervorgebrachten Dinge schließt nicht Existenz ein« (1p24), und »Gott liebt sich selbst mit einer unendlichen geistigen Liebe« (5p35).

Die implizite Ethik in Spinozas Metaphysik

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Tropen der Skepsis). Ein infiniter Regresss würde zumindest künstlich abgebrochen, wenn an einer Stelle der Begründungskette nicht ein weiterer Grund gefordert würde, sondern dieser Grund sich selbst begründen würde. Ebendies geschieht mit der causa sui. Eine zweite Problemlage für die causa sui ist ontologischer bzw. theologischer Art. Es ist die Frage, warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts. In der jüdisch-christlichen Tradition wird der Anfang der Welt als Schöpfung aus dem Nichts, als creatio ex nihilo gedacht. Demgegenüber vertraten antike Kosmologien meist die Ansicht, dass die Welt seit Ewigkeit Bestand habe. Das Problem, ob es einen Anfang in der Zeit bzw. der Zeit gibt, kann im Prinzip ebenfalls mit der causa sui umgangen werden. Als begriffslogisches Konstrukt, in dem der Schöpfer oder das Schöpfende sich selbst verursacht, kennt es keine Zeit, die voranginge oder dazwischenläge. Das Problem der Zeit wird damit allerdings nur verschoben (vgl. Kap. 9). Im schöpfungstheologischen Kontext ist überdies interessant, dass die causa sui ein immanentes Konzept ist. Die Verursachung erfolgt nicht ›von außen her‹ wie durch einen transzendenten Gott, sondern ›von innen heraus‹. Die causa sui ist daher das Paradigma für ein immanentes Denken, das Spinozas Philosophie ingesamt auszeichnet, und auch deshalb wichtig für die Ethica. 3 Das Problem der Schöpfung stellt sich aber nicht nur in temporaler, sondern auch in modaler Hinsicht. Die christliche Tradition verband mit der Schöpfung die Idee der Kontingenz. Blumenberg hat diesen Zusammenhang wie folgt beschrieben: »Das Mittelalter fand im Begriff der Kontingenz erst die radikale Auslegung des Schöpfungsgedankens, jenem Begriff, der zu den wenigen genuinen Prägungen spezifisch christlicher Herkunft in der Geschichte der Metaphysik gehört, obwohl er aus der Latinisierung der aristotelischen Logik hervorgegangen war. Kontingenz bestimmt die Verfassung einer aus dem Nichts geschaffenen und zum Vergehen bestimmten, nur durch göttlichen Willen in ihrer Existenz gehaltenen Welt.« 4 Gerade diese Vorstellung eines göttlichen Willens, der willkürlich in die Welt eingreift, wird Spinoza problematisieren (Scholium 1p17s: »Andere meinen, Gott sei deshalb freie Ursache, weil er, wie sie glauben, bewirken kann, daß das, wovon ich sagte, daß es aus seiner Natur folgt, [. . .] nicht geschehe.«) und scharf ablehnen (Korollar 1p32c1: »[Es folgt], daß Gott nicht aus Freiheit des Willens etwas bewirkt.«). 5 Seine ganze Metaphysik ist ein Gegenentwurf zu creatio ex nihilo und Kontingenz, in dem Vgl. auch die in Kap. 6 thematisierte ›immanent causation‹. Blumenberg 1970, S. 21. 5 Nach einem durch die christliche Auffassung geprägten Verständnis manifestiert sich Kontingenz auch in menschlichen Handlungen. Für Spinoza aber beruht sie bloß auf einem Erkenntnisdefizit und ist eine epistemische, keine metaphysische Kategorie. Vgl. Perler 2006, S. 60. 3 4

Causa sui und die Probleme des infiniten Regresses

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die Dinge in einem unzeitlichen Netz von notwendigen begrifflichen Zusammenhängen angelegt sind. Sub specie aeternitatis ist eine zeitliche Perspektive zunächst ausgeblendet. Man wird hier einwenden, dass die Zeit für endliche Wesen, wie es Menschen sind, unhintergehbar sei und dass auch das denkende Erschließen dieser Zusammenhänge ›Zeit brauche‹. Dieser Einwand ist berechtigt und weist auf weitere Spannungen und Risse im Bau der Ethica hin, die ab Kap. 9 thematisiert werden. Spinoza selbst sieht weitgehend davon ab. In der hier vorgeschlagenen Lesart kann jedoch eine zeitliche Dimension durch die wiederholte Auflösung von Paradoxien in das System eingetragen werden. N. B. ist für Spinoza Ewigkeit auch nicht primär eine temporale, sondern eine modale Kategorie. Dies macht die achte Definition des ersten Teils deutlich: »Unter Ewigkeit verstehe ich die Existenz selbst, insofern sie als etwas begriffen wird, das aus der bloßen Definition eines ewigen Dinges notwendigerweise folgt.« (1def8 6) ›Folgen‹ ist hier nicht zeitlich, sondern logisch zu verstehen, wie auch andere Verwendungen von sequi, z. B. in 1p16, zeigen. Man kann diese modale Betrachtung noch weiterführen. In modaler Hinsicht ist die Schöpfung ein Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit. Ein solcher Übergang ist sprunghaft und diskontinuierlich, wie Deleuze bemerkt hat: »Immer wenn wir das Problem in den Begriffen des Möglichen und des Realen stellen, werden wir genötigt, die Existenz als pures Auftauchen, reinen Akt und Sprung zu begreifen, der stets hinter unserem Rücken geschieht.« 7 Hinter unserem Rücken heißt hier bildlich: in einer Transzendenz, die stets einen unerklärlichen Rest einbehält. 8 Wir halten also fest, dass in einer problemgeschichtlichen Lesart die causa sui Spinozas Antwort auf die Probleme des infiniten Regresses und der Schöpfung in temporaler und modaler Hinsicht ist. Auf die Definition der causa sui folgt unmittelbar diejenige der endlichen bzw. beschränkten Dinge: »Dasjenige Ding heißt in seiner Gattung endlich, das von einem anderen derselben Natur begrenzt werden kann. Z. B. heißt ein Körper endlich, weil wir stets einen anderen begreifen, der größer ist. So wird ein Gedanke von einem anderen Gedanken begrenzt. Dagegen wird ein Körper nicht von einem Gedanken begrenzt, noch ein Gedanke von einem Körper.« (1def2 9) Wie bei der causa sui ist auch die funktionale Leistung der res finita für spätere Beweise und damit »Per aeternitatem intelligo ipsam existentiam, quatenus ex sola rei aeternae definitione necessario sequi concipitur.« 7 Deleuze 2007, S. 267. 8 Noch für Heidegger, der eine solche Metaphysik überwunden haben will, ist Dasein primär eine Seinsmöglichkeit, und zwar diejenige, die es in Wirklichkeit je ist. »Dasein ist je seine Möglichkeit und es »hat« sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes.« Heidegger 1957, § 9, S. 42. 9 »Ea res dicitur in suo genere finita, quae alia ejusdem naturae terminari potest.« 6

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die Erklärungskraft nur gering (namentlich sind es 1p8, 1p21 und 1p22). 10 Im Gesamtzusammenhang der Ethica scheint aber die Rolle dieses Konzepts zu sein, die Reichweite der causa sui einzuschränken und eine Unterscheidung zwischen Dingen, die causa sui sind und die es nicht sind, zu ermöglichen. 11 Menschen sind nur partielle causae sui, oder in scholastischer Terminologie gesprochen causae partiales im Gegensatz zur Substanz als causa totalis. Diese Beschränktheit macht ihre conditio humana aus.

3.2 Substanzbegriff und das Problem der Selbständigkeit

Als nächster Grundbegriff folgt in der dritten Definition von E1 derjenige der Substanz. Substanz ist der wohl wichtigste Terminus der Metaphysik. Aristoteles versuchte damit eine Beständigkeit im Wandel zu denken und diese auf der Ebene der Sprache (λόγος) zu fassen. In seiner Kategorienschrift bestimmt er Substanz (οὐσία) als dasjenige, was nicht von einem anderen ausgesagt werden kann, sondern über das selbst etwas ausgesagt wird. Dabei unterscheidet er zwischen ›erster Substanz‹, d. h. Einzeldingen wie dieser Mensch, und ›zweiter Substanz‹, d. h. der Wesenheit dieser Einzeldinge wie die Menschheit. Diese Wesenheit kann dann von einer ersten Substanz prädiziert werden, die im entsprechenden Satz als grammatisches und logisches Subjekt auftritt. Wenn man also sagt: »Sokrates ist ein Mensch«, wird damit eine de subjecto-Prädikation gemacht. Dagegen kann eine erste Substanz nicht de subjecto ausgesagt werden, denn ›Peter ist Sokrates‹ ist keine sinnvolle Zuschreibung (zumindest nicht ohne zusätzlichen Kontext). 12 Aristotelische Substanzen sind Träger von Akzidentien, mit denen das Wandelbare konzeptionalisiert wird, während Substanzen unveränderlich bleiben. 13 Akzidentien inhärieren in einem Subjekt und werden deshalb in subjecto ausgesagt, entweder als universelle Akzidentien wie ›Sokrates ist groß‹ oder als individuelle Akzidentien wie ›Sokrates ist 1,60 m groß‹. In subjecto heißt hier, daß etwas in etwas anderem ist, ohne das es nicht existieren kann, allerdings nicht im Sinne eines Teils dieses anderen. 14 Die vier Möglichkei1p8 besagt, dass jede Substanz notwendigerweise unendlich ist, 1p21 und 1p22 stehen im Zusammenhang mit den unendlichen Modi. 11 Als einzige causa sui wird sich in der Ethica die Substanz herausstellen. In den CM unterteilt Spinoza noch dasjenige Seiende, dessen Essenz lediglich mögliche Existenz einschließt, in Substanz und Modus. (CM, Teil 1, Kap. 1, S. 135) 12 Aristoteles 1997, Kap. 5, S. 11, 2a11 ff. 13 Diese Unterscheidung verläuft parallel zu derjenigen von Ewigkeit und Zeitlichkeit, die interessanterweise auch bei Aristoteles ein Paradox darstellte (vgl. dazu Kap. 4). 14 Aristoteles 1997, Kap. 2, S. 9. 1a20 ff. 10

Substanzbegriff und das Problem der Selbständigkeit

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ten de subjecto, in subjecto, universell, individuell können in einem ontologischen Quadrat dargestellt werden. Im Blick auf Spinoza ist wichtig, dass Aristoteles mit seinem Substanzbegriff eine Einzeldingontologie vertritt, nach der viele Dinge als Substanzen gelten können, während es bei Spinoza nur eine einzige umfassende Substanz gibt. Auch in der Scholastik schrieb man vielen und verschiedenartigen Dingen substanziellen Charakter zu: materiellen, immatriellen, endlichen, unendlichen, geschaffenen, ungeschaffenen, wobei Immatrialität, Unendlichkeit und Ungeschaffenheit i. A. höher gewertet wurden. Diese Asymmetrie ist geradezu ein Kennzeichen traditioneller Metaphysik. Diese Fülle von Substanzarten reduziert Descartes nun auf drei: unendliche, denkende und ausgedehnte Substanz. Die unendliche Substanz ist Gott, die beiden anderen sind von ihm geschaffen. »Die von Gott geschaffene Welt besteht aus genau zwei Arten von Substanzen, nämlich erstens aus körperlichen Substanzen, die Ausdehnung als wesentliches Attribut haben, und zweitens aus geistigen Substanzen, die Denken als wesentliches Attribut haben. Diese beiden Arten von Substanzen sind real und nicht etwa nur begrifflich voneinander verschieden. Sie können aber miteinander verknüpft sein, wie das Beispiel des Menschen zeigt; denn ein Mensch ist nichts anderes als eine Verbindung aus einer körperlichen und einer geistigen Substanz.« 15 Anders als bei Aristoteles ist die ausgedehnte Substanz (res extensa) ein Masse- oder Körperkontinuum, in dem es nicht mehr im Sinne einer Einzeldingontologie verschiedene Substanzen (oder atomistische Teile) gibt. Dadurch stellt sich aber das Problem, wie Dinge individuiert werden können – bei Descartes genauso wie später bei Spinoza. Gleich wie bei Aristoteles ist die Idee, dass in einer Substanz Akzidentien inhärieren. Gemäß dem Appendix der Zweiten Erwiderungen wird Substanz »jedes Ding genannt, an dem irgendetwas unmittelbar wie an einem Subjekt anhaftet, bzw. durch das irgendetwas existiert, was wir erfassen, das heißt irgendeine Eigenschaft oder irgendeine Qualität oder irgendein Attribut, deren bzw. dessen Idee in uns ist«. 16 In den Principia Philosophiae dagegen wird Substanz primär durch Selbständigkeit und Unabhängigkeit charakterisiert. »Unter Substanz können wir nichts anderes verstehen als ein Ding, das so existiert, daß es keines anderen Dinges bedarf, um zu existieren.« 17 Ebenso in den Vierten Erwiderungen: Dort gilt für den »Grundbegriff Substanz, daß Perler 1998, S. 169. »Omnis res cui inest immediate, ut in subjecto, sive per quam existit aliquid quod percipimus, hoc est aliqua proprietas, sive qualitas, sive attributum, cujus realis idea in nobis est, vocatur Substantia.« Descartes 2009, S. 170 bzw. Descartes 1996b, AT VII, S. 161. 17 »Per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum.« Descartes 2005, I/51, S. 56 f. 15 16

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sie durch sich selbst, das heißt ohne die Hilfe irgendeiner anderen Substanz existieren kann«. 18 An dieser Stelle findet eine entscheidende Neuerung im Substanzbegriff statt, die auch Spinoza – auf seine Weise – aufgreifen wird. Weder bei Aristoteles noch in der Scholastik müssen Substanzen selbständig sein. Descartes hingegen verleiht ihnen eine prinzipielle Unabhängigkeit, allerdings auch nicht mit letzter Konsequenz. Dazu müssen wir fragen, was Selbständigkeit bzw. Unabhängigkeit eigentlich heißt. Yitzhak Melamed hat beobachtet, dass Descartes' Substanzbegriff vom aristotelischen dadurch abweicht, dass primär die kausale Unabhängigkeit von anderen Dingen im Blick ist: »Where Descartes diverges from Aristotle is the way he cashed out this independence. Whereas for Aristote, the independence of (primary) substance is defined solely in terms of predication, Descartes stipulates that substance in the full sense of the word must also be causally independent.« 19 Wenn aber res cogitans und res extensa, wie Descartes behauptet, von Gott geschaffen sind und wenn weiter Geist und Körper des Menschen in Wechselwirkung stehen, so kann man kaum im strengen Sinn sagen, dass hier unabhängige Substanzen vorliegen. In den Principia Philosophiae räumt Descartes denn auch ein, dass sein Substanzbegriff nicht univok sei und dass beispielsweise »diese Bezeichnung Gott und dem Geschaffenen nicht in derselben Bedeutung zukommt«. 20

Selbständigkeit

Man kann dieses Problem der Selbständigkeit von Substanz als problemgeschichtlichen Hintergrund für Spinozas Definition nehmen: »Unter Substanz verstehe ich das, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, d. h. das, dessen Begriff nicht des Begriffs eines anderen Dinges bedarf, von dem her er gebildet werden müßte.« (1def3 21) Kondylis beschreibt den Übergang von Descartes zu Spinoza wie folgt: »Descartes definiert die Substanz sowohl als das Selbständige und Unabhängige (im Gegensatz zum Unselbständigen und Abhängigen) als auch (traditionell) als Substratum, d. h. als Träger von Akzidenzien und Qualitäten, und er nahm eine Identität der beiden Definitionen an. Im Gegensatz dazu behält Spinoza nur das Kennzeichen der Selbständigkeit »haec ipsa est notio substantiae, quod per se, hoc est absque ope ullius alterius substantiae possit existere« Descartes 2009 bzw. Descartes 1996b, AT VII, S. 226. 19 Melamed 2013, S. 15. 20 »istum nomen Deo & creaturis non conveniat univoce.« Descartes 2005, I/51, S. 56 f. 21 »Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur; hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat.« 18

Substanzbegriff und das Problem der Selbständigkeit

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und verwirft die traditionelle Auffassung von der Substanz als übersinnlichem Subjekt bzw. Substratum oder als Träger von sinnlichen Eigenschaften.« 22 Mit den Wendungen »in se est« und »per se concipitur« der Substanzdefinition (1def3) wird diese Selbständigkeit konsequent eingeführt. Bemerkenswert ist auch, dass der Begriff res hier nicht mehr auftaucht. Hieß es bei Descartes noch »rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum«, ist es bei Spinoza nun »id, quod in se est et per se concipitur«. Durch diesen Verzicht auf den Terminus res wendet sich Spinoza von jeglicher verdinglichten Vorstellung von Substanz ab und konzipiert diese als selbstreferentielle Struktur. 23 Genau besehen wird in Definition 1def3 aber nicht deutlich, was eigentlich Definiendum und was Definiens ist, weil die Termini in se esse und per se concipere ihrerseits nicht bestimmt sind (sondern, wie in Kap. 2 angedeutet, der Tradition entnommen werden müssen). Zachary Gartenberg hat deshalb die Existenz der Substanz als brute fact betrachtet, als grundlegende Realität, aufgrund derer Relationen wie in se esse überhaupt Relationen von etwas sein können. »[T]hose features or relations are already dependent on the conception of a being, the very embodyment of metaphysical necessity, whose nature can be conceived only insofar as it is expressed.« 24

Probleme der Unterscheidung und der Individuation von Substanzen bei Descartes

Zur Vorbereitung von Spinozas Weise, Substanz, Attribute und Modi aufeinander zu beziehen, ist es lohnend, sich eine Übersicht über die Problemlage zu verschaffen, die mit Descartes' Verwendung dieser Begriffe einhergeht. Für Descartes gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen Substanzen, den er in scholastischer Terminologie als distinctio realis bezeichnet. Eine Realunterscheidung hat ihren Grund in der Sache, im Unterschied zu einer Verstandesunterscheidung, einer distinctio rationis (wie etwa links / rechts oder oben / unten). In den Principia Philosophiae sagt er: »Die reale Unterscheidung findet eigentlich nur zwischen zwei oder mehreren Substanzen statt«, 25 d. h. zwischen der unendlichen, der ausgedehnten und der denkenden Substanz. Wie aber lässt sich dies erkennen? Descartes führt weiter aus: »Wir erfassen zwei SubKondylis 1990, S. 224. Kaufmann hat dazu weitergehend bemerkt: Spinoza’s substance is »not an inert mass subsisting at the bottom of change, but a powerful essence as well as an essential power.« Kaufmann 1940, S. 86. 24 Gartenberg 2017, S. 3. 25 Descartes 2005, I/60, S. 65/67. 22 23

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stanzen dadurch als real unterschieden, daß wir die eine unabhängig von der anderen klar und deutlich einsehen können.« 26 Dies ist die Funktion der beiden Attribute ›Denken‹ und ›Ausdehnung‹, mit denen eine distinctio rationis vorgenommen wird. Diese fällt aber hier mit der distinctio realis zusammen. Bei Descartes gilt, »dass diese beiden Attribute nicht ein- und derselben Substanz zukommen können, und dass Substanzen immer genau nur ein Attribut haben.« 27 Wenn nun die denkende Substanz (d. h. die Substanz mit dem Attribut Denken) und die ausgedehnte Substanz (d. h. die Substanz mit dem Attribut Ausdehnung) ›Masseterme‹ sind im Sinne von Gedanken- und Körperkontinua, wie können dann einzelne Gedanken oder Körper unterschieden werden? Dass eine solche Individuation möglich sein muss, legen z. B. die Meditationen nahe. (Wie sollte man sonst vom cogito sprechen können?) Würde man wiederum die scholastische Unterscheidungstechnik heranziehen, so kämen hier die distinctio modalis und die distinctio numerica in Frage. Mehrere denkende Substanzen (also ›geistige Menschen‹) wären dann modal oder numerisch zu unterscheiden. Allerdings müssten sie, da sie ja substanziellen Charakter haben, auch real unterscheidbar sein. 28 All diese scholastischen Termini scheinen bei Descartes zu kollabieren und daher auch nicht richtig zu passen. Wie er selbst schreibt, überlappen sich auch die distinctio rationis und die distinctio modalis: »Wir verstehen hier nämlich unter Zustand (Modus) schlicht dasselbe wie in anderen Zusammenhängen unter Attribut (Wesensmerkmal) oder Qualität (Eigenschaft). Wenn wir nämlich die Substanz unter der Hinsicht betrachten, daß sie sich von dem, woran wir sie erkennen, als erregt oder verändert zeigt, bezeichnen wir das als Zustand; insofern sie aufgrund dieser Veränderung Ebd., I/60, S. 65/67. Unter einer distinctio realis versteht Descartes, so Dominik Perler, »nicht eine reale Getrenntheit, so wie etwa ein Tisch und ein Stuhl real voneinander getrennt sind. Seiner Ansicht nach ist ein Ding x auch dann von einem Ding y real verschieden, wenn x ohne y und y ohne x existieren kann [. . .]; nur Trennbarkeit, nicht Getrenntheit ist erforderlich.« Perler 1998, S. 175. Ebenso beschreibt Deleuze die Realunterscheidung nach Descartes: »Zwei Dinge sind dann real unterschieden, sobald man eines klar und deutlich begreifen kann, während man all das ausschließt, was zum Begriff des anderen gehört.« Deleuze 1993b, S. 32. Oder: »[Z]wei Dinge sind real unterschiedlich, sobald sie als solche begriffen sind, d. h. ›das eine ohne Bezug auf das andere‹, so daß man das eine begreift und zugleich alles verneint, was zum Begriff des anderen gehört.« Deleuze 1993b, S. 35. 27 Schnepf, Studienbuch zu Spinoza, in Erscheinung, S. 133. 28 Für die ausgedehnte Substanz hängen solche Schwierigkeiten der Individuation mit dem Wegfall der aristotelischen primären Materie (ὕλη) zusammen, wie Rozemond bemerkt hat: »Since Descartes eliminates prime matter from the hylemorphic conception of corporeal substance, the result in Aristotelian terms is that a substance just consists in a substantial form. In Descartes’ own terms, the result is that the substance just consists in a principal attribute.« Zitiert nach Della Rocca 2008, S. 38. 26

Attributbegriff und das Problem der Erkennbarkeit Gottes

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als auf eine bestimmte Weise beschaffen bezeichnet wird, bezeichnen wir sie als Qualitäten; und wenn wir schließlich nur generell berücksichtigen, daß sie einer Substanz zugehören, bezeichnen wir sie als Attribute.« 29 Die hier gezeichnete Ausgangslage hat Deleuze, wie wir in Kap. 5 sehen werden, als Hintergrund für Spinozas Kritik an Descartes genommen. Das Hauptproblem, so Deleuze, bestünde in der Verwechslung von realer und numerischer Unterscheidung, die sich auch auf die Attribute übertrage, wodurch die Möglichkeit einer qualitativen, nicht bloß quantitativen Teilung des Seienden verschenkt werde. Die Tragweite dieser Kritik kann zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht nachvollzogen werden. Vieles scheint hier bloß technische und abstrakte Begriffsspielerei. Das Fehlschlagen der genannten Unterscheidungen bei Descartes wird jedoch in eine gänzliche Umdeutung und Umfunktionierung der Konzepte von Substanz, Attribute und Modi bei Spinoza münden. Dinge sind dann Modi in folgendem Sinne: »Unter Modus verstehe ich die Affektionen einer Substanz, anders formuliert das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird.« (1def5 30) Das Kennzeichen eines Modus ist seine Abhängigkeit im Gegensatz zur Selbständigkeit der Substanz, was durch die Wendung in alio esse im Gegensatz zu in se esse angezeigt wird (ausführlicher zu dieser Relation dann Kap. 6). Auch hier vermeidet Spinoza den Terminus res und spricht stattdessen von Affektionen oder andernorts auch von Modifikationen der Substanz. Auch Modi sind rein relational konzipiert: Sie sind Relationen eines Relationengefüges. Die Substanz ist der relationale Grund der Modi. Diese besondere Verbindung wird durch den Ausdruck konzeptionalisiert werden. In unserer problemgeschichtlichen Betrachtung der Grundbegriffe sind als nächstes die Attribute an der Reihe.

3.3 Attributbegriff und das Problem der Erkennbarkeit Gottes

Im vorigen Abschnitt wurde der Begriff Attribut im Zuge der Kennzeichnung der geschaffenen Substanzen eher nebenher eingeführt. Hier soll nun der Fokus auf das Problem der Erkennbarkeit dieser Substanzen gerichtet und dadurch der Attributbegriff bei Spinoza näher bestimmt werden. In den Vierten Erwiderungen erklärte Descartes: »wir erkennen die Substanzen nicht unmittelbar [. . .], sondern nur dadurch, daß wir bestimmte Formen oder Attribute erfas29 30

pitur.«

Descartes 2005, I/56, S. 61. »Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam conci-

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sen, die an einem Ding sein müssen, um zu existieren. Das Ding, an dem sie sind, nennen wir Substanz.« 31 Attribute sind also Weisen, wie uns Substanzen ›zugänglich‹ werden. Doch ist auch der Attributbegriff bei Descartes nicht einheitlich. Er kann sowohl allgemeine Qualitäten als auch charakteristische Eigenschaften bedeuten. In den Principia Philosophiae führt er aus: »Jeder dieser Substanzen kommt ein charakteristisches Attribut zu, wie das Denken dem Geist und die Ausdehnung dem Körper.« 32 Denken und Ausdehnung sind also prinzipielle, vorrangige oder ausgezeichnete Attribute. Die mehrdeutige Verwendung des Attributbegriffs lässt sich u. a. auf eine Vermengung von metaphysischen und theologischen Aspekten zurückführen. Noch in der Frühen Neuzeit galten Attribute auch als Eigenschaften Gottes, gerade auch in der Ethica, wo Gott und Substanz identifiziert werden. Umso vorsichtiger muss Spinoza also vorgehen. Im Nachklang an die hebräische Tradition waren Attribute insbesondere Namen Gottes, wie Spinoza im TTP anhand von Exodus 6,3 erläutert, wo Gott Moses kundtut: »Ich habe mich Abraham, Isaak und Jakob als der Gott Schaddai offenbart, unter meinem Namen Jehova bin ich ihnen aber nicht bekannt geworden« und kommentiert: »Für ein besseres Verständnis ist zu bemerken, daß El Schaddai im Hebräischen den Gott bezeichnet, der genügt, weil er jedem gibt, was ihm genügt.« Dagegen bezeichne der Name Jehova »Gott in seiner unbedingten Essenz, also ohne Beziehung auf die geschaffenen Dinge«. Die anderen Namen sind »Attribute, die Gott zukommen, insofern er in Beziehung auf die geschaffenen Dinge betrachtet wird«. So bedeutet ›El‹ der Mächtige im Gegensatz zu Dingen und Menschen (TTP, Kap. 13, [5], S. 210). Wolfson nimmt diese Gleichsetzung von Attributen mit göttlichen Namen als problemgeschichtlichen Hintergrund, der in der christlichen Scholastik noch stark präsent war: »[The] character and personality of God was determined, in the Middle Ages, by a set of descriptive terms [. . .] known by the name of divine attributes.« 33 Auch Kaufmann nimmt auf diese Tradition Bezug: »In Jewish philosophy the discussion of God's attributes is almost equivalent to that of his names: name understood not as a conventional symbol, but as the expression of his very being.« 34 Hier erscheinen die Attribute zusätzlich im Zusammenhang mit dem Ausdruck, der »Neque enim substantias immediate cognoscimus [. . .], sed tantum ex eo quod percipiamus quasdam formas sive attributa, quae cum alicui rei debeant inesse ut existant, rem illam cui insunt vocamus Substantiam.« Descartes 2009, S. 230 bzw. Descartes 1996b, AT VII, S. 222. 32 »Cujusque substantiae unum esse praecipuum attributum, ut mens cogitatio, corporis extensio«, Descartes 2005, I/53, S. 58 f. 33 Wolfson 1983, S. 143. 34 Kaufmann 1940, S. 90. »It is only natural that this revelation, being a progressive one, begins with the disclosure of God’s relation to his creatures – as the Mighty (El), who suffices for everybody’s needs (Sadai), etc. The revelation of his proper name in an emphatic sense – the 31

Attributbegriff und das Problem der Erkennbarkeit Gottes

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uns in diesem Abschnitt ebenfalls beschäftigen wird und mit dem sich Spinoza in der Ethica auch von dem offenbarungsreligiösen Hintergrund lösen will. In der mittelalterlichen Theologie wurden in Bezug auf das Problem der Erkennbarkeit Gottes drei Wege verfolgt: via negativa, via eminentiae und via affirmativa. Nach der via negativa ist Gott unerkennbar und nur indirekt oder negativ beschreibbar. Sein Begriff wird eingekreist, indem ihm unzutreffende Eigenschaften abgesprochen werden. Bei der via eminentiae werden Aussagen über Gott in Analogie gemacht und so bekannte Eigenschaften übersteigert. Bei der via affirmativa schließlich sind direkte Zuschreibungen zulässig. Für Deleuze verfolgt Spinoza letzteren Weg: Die positive Unendlichkeit von Spinozas Substanz stünde der negativen Unendlichkeit der negativen Theologie gegenüber, denn Gott könne »allein negativ definiert werden, unter Regeln der Transzendenz, wo man nacheinander zunächst die entferntesten Namen leugnet, dann die nächsten«. 35 Die Immanenzphilosophie stehe in der Nachfolge der via affirmativa. Gleichzeitig sei es wichtig, nicht in einen metaphysischen oder theologischen Reflex zu verfallen und Gott bzw. die Substanz als etwas ›hinter‹ den Attributen zu vermuten, sondern sie ›in‹ den Attributen zu sehen. Des weiteren ›haften‹ Spinozas Attribute nicht an etwas Bestehendem an (Descartes' »Ding, an dem sie sind«, vgl. oben), wie man sich bei gewöhnlichen Eigenschaften von Dingen vorstellt. Damit sind einige problemgeschichtliche Vorgaben und Rahmenbedingungen für Spinozas Attibutbegriff in der Ethica genannt: keine Mehrdeutigkeiten, keine theologischen Vermischungen, keine geheimnisvollen Hinterwelten, keine gewöhnlichen Dinglichkeiten, sondern ein nüchterner, affirmativer Zugang. Dazu denkt Spinoza – wie bei der Substanz – die traditionelle Begrifflichkeit konsequent durch und unterscheidet Attribute streng von gewöhnlichen Eigenschaften. In der Kurzen Abhandlung bemängelt er, dass die Philosophen den Unterschied zwischen den Charakteristika Gottes, die nur Propria sind, und solchen, die eigentliche Attribute sind, verwischt und so sein Wesen falsch bestimmt haben: »Zunächst sehen wir nicht, daß sie uns hier überhaupt Attribute liefern, durch die das Ding (Gott) in dem erkannt wird, was es ist; es sind lediglich bestimmte Eigenschaften, die zwar zu einem Ding gehören, aber niemals erklären, was es ist.« (KV, Teil I, Kap. 7, [6], S. 44) Solche Eigenschaften oder Propria sind Unendlichkeit, Ungeschaffenheit oder Vollkommenheit, die für Spinoza nicht zu Gottes Wesen gehören, sondern vieltetragrammaton (Jehovah) – is the final documentation, the self-assertion and giving away, of God’s intrinsic nature: of his being the Being he is (Eheje ascher eheje)«. 35 Deleuze 1993b, S. 49. Er folgert deshalb: »Die Philosophie Spinozas ist eine Philosophie der reinen Bejahung. Die Bejahung ist das spekulative Prinzip, auf dem die ganze Ethik beruht.« Ebd., S. 55.

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mehr aus ihm hergeleitet werden müssen. Damit stellt er sich gegen Descartes, für den die Idee, die wir von Gott haben, vollkommen ist, also ein Proprium darstellt. 36 Vollkommenheit kann bei Spinoza aber nicht am Anfang der Überlegungen stehen, denn damit würde man »das menschliche Bewußtsein als unbefragte Ausgangstatsache in Anspruch« nehmen. 37 Propria sind nur äußerliche Zeichen, die man nach Deleuze in drei Gruppen unterteilen kann: Die erste enthält allgemeine Eigenschaften wie unendlich, vollkommen, unbeweglich oder ewig. Die zweite »betrifft Gott als Ursache, insofern er tätig ist oder hervorbringt«, also Zuschreibungen wie »Ursache aller Dinge, Prädestination, Vorsehung«. Die dritte Gruppe besteht aus Propria wie »Gott als höchstes Gut, als Barmherziger, als Gerechter und Liebender«. 38 So ist das Wesen Gottes nie richtig bestimmt worden, weil man es fälschlicherweise in den Propria gesucht hat. 39 Wie aber bestimmt man es dann richtig? Bei dieser Frage handelt es sich nicht bloß um eine scholastische Spitzfindigkeit, sondern um eine Problematik, die, wie wir im nächsten Abschnitt deutlicher sehen werden, mit konkreten gesellschaftlichen Folgen und politischen Machtansprüchen verbunden ist. Für die Bestimmung des Wesen Gottes muss man nach Spinoza vordringlich von einer wahren bzw. sich bewahrheitenden Definition ausgehen. Schon im TIE hält er fest: »Damit eine Definition vollkommen genannt werden kann, wird sie die innerste Essenz eines Dinges ausdrücken [explicare] und sicherstellen müssen, daß wir nicht gewisse Eigentümlichkeiten [propria] an deren Stelle setzen.« (TIE V, [95], S. 85) Eine solche Definition von Gott werden wir im nächsten Abschnitt betrachten und begründen. Hier geben wir nur die Definition desjenigen Konzeptes an, über welches das Wesen erkennbar sein soll: das der Attribute. »Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmachend erkennt.« (1def4 40) Diese Definition erscheint schlicht und dürfte auch für die meisten annehmbar sein. Was in ihr aber ungesagt ist bzw. implizit schon verarbeitet, mitgedacht oder umgekehrt ausgeschlossen ist, wurde im vorangegangenen problemgeschichtlichen Aufriss zu erläutern versucht. Beispielsweise bestehen in 1def4 keine Mehrdeutigkeiten mehr, und mit der prominenten Rolle des Verstandes (intellectus) wird auch von relgiösen Mustern, wie es die Namen waren, Abstand genommen. HingeDies ist ein wichtiger Schritt in Descartes’ Gottesbeweis in den Meditationen. Rölli 2018, S. 33, mit Verweis auf 1app, wo Spinoza kritisiert, dass »das gewöhnliche (religiöse, scholastische) Gottesverständnis anthropomorphe Züge trägt.« 38 Vgl. Deleuze 1993b, S. 46 f. 39 Vgl. ebd., S. 51. 40 »Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit tanquam ejusdem essentiam constituens.« 36

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gen stellen sich neue Fragen, etwa nach dem involvierten Subjekt des Verstandes, die dann in Kap. 5 behandelt werden. Je nachdem, wie die Entscheidung über diese Frage ausfällt, sind die Attribute eher aktive oder passive Erkenntnisformen. Für Gueroult etwa besitzen sie als aktive Formen die Fähigkeit, sowohl sich selbst als auch die Modi hervorzubringen: »l'étendue n'étant pas pour lui une masse inerte recevant comme du dehors le mouvement qui la divise, mais un attribut ayant en lui la puissance de produire ses modes comme il a celle de se produire lui-même.« 41 Auch für Bartuschat werden sie »anders als die Modi, nicht von der Substanz hervorgebracht; sie sind nicht deren Produkte, sondern die Weisen, in denen sie produktiv ist«. 42 Ähnlich auch Wolfson und Kaufmann: »attributes [. . .] cannot be interpreted as accidental qualities but may be interpreted as actions.« 43 »[T]he attribute shows substance not in a sterile and, therefore, impossible state of keeping to itself, but in the proper state of exposition, of actual potency.« 44 Der Ausdruck kommt hier noch nicht vor, sondern wird erst zusammen mit 1def6, der eigentlichen Definition Gottes, ins Spiel gebracht. Mit dieser Definition wird dann festgelegt, dass die Attribute das Wesen Gottes ausdrücken. Rekapitulieren wir und blicken gleichzeitig voraus: Ausgehend von einer cartesischen Problemlage sind wir zu Spinozas Attributbegriff gelangt. Spinoza stimmt mit Descartes und Teilen der Tradition darin überein, dass wir Substanz nicht unmittelbar erkennen. »Spinoza has adopted the traditional term ›attribute‹, and makes use of it as a description of the manner in which substance, unknowable in itself, manifests itself to the human mind.« 45 Er weicht aber von ihm darin ab, dass der Attributbegriff seine Mehrdeutigkeit verliert und nur noch in Bezug auf Gott oder die Substanz, nicht mehr auf Geschaffenes, Anwendung findet. Dazu muss aber erst gezeigt werden, dass Gott oder die Substanz einzig sind, es folglich keine anderen Substanzen geben kann, und so die Attribute auch nicht mehr die Funktion haben können, Substanzen zu unterscheiden. Mit der weiteren Identifikation von Gott oder Substanz mit der Natur wird, durch die Attribute als aktive Formen, die Natur selbst schöpferisch, während sie bei Descartes noch passiv war und durch einen Gott erhalten werden musste. Indem dann Menschen als natürliche Wesen gesehen werden, fließt diese Aktivität in ihre Handlungen ein, und zwar in univoker Weise (Kap. 8). Der Ausdruck von göttlicher Essenz oder Macht wird zur Grundlage für die Handlungstheorie und für die Ethik im engeren Sinne (Kap. 11 und 12). 41 42 43 44 45

Gueroult 1974, S. 189. Bartuschat 2006, S. 70. Wolfson 1983, S. 147. Kaufmann 1940, S. 89. Wolfson 1983, S. 145.

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Als nächster Grundbegriff wird derjenige Gottes problemgeschichtlich diskutiert, insbesondere vor dem Hintergrund des Problems des Anthropomorphismus und der Transzendenz.

3.4 Gottesbegriff und die Probleme des Anthropomorphismus und der Transzendenz

In allen Werken Spinozas kommt dem Gottesbegriff eine ausgezeichnete Rolle zu. Das liegt nicht nur daran, dass er ein Autor der Frühen Neuzeit ist. Bei Descartes zum Beispiel gibt es eine Reihe von Schriften, in denen Gott nur am Rand oder gar nicht thematisiert wird. Bei Spinoza hingegen weisen sogar die Titel eigens daraufhin wie Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, Theologisch-politischer Traktat oder, in der Ethica selbst, die Überschrift von E1: De Deo. 46 Was aber ist hier mit Gott gemeint? Was ist dessen Funktion für die Philosophie und die Ethik? Wir beschränken uns hier auf die Ethica und den Theologisch-politischen Traktat, wobei wir letzteren als Hintergrund für diese Fragen nehmen. Dass die beiden Hauptwerke Spinozas nicht getrennt zu lesen sind, darauf hat auch Sangiacomo hingewiesen: »The standard interpretation of Spinoza's philosophy tends to view Spinoza's Ethics in isolation from his political writings. However, several scholars [. . .] suggest that reversing this attitude by reading the Ethics within the broader context of Spinoza's political interest leads to dismissing the ›rationalistic‹ reading by re-evaluating the connection between rationality and emotions.« 47 Diese These wird auch dadurch gestützt, dass es werkgeschichtliche Verflechtungen gibt: Spinoza hat seine um 1662 begonnene und sich über vierzehn Jahre ziehende Arbeit an der Ethica in den Jahren 1665–1670 für den TTP unterbrochen, wohl weil er sich gedrängt sah, auf die politischen Umstände zu reagieren. Mit der Hypothese, dass der TTP einen relevanten problemgeschichtlichen Hintergrund für die Ethica bildet, wird nun auch in diesem Buch die Untersuchung des Gottesbegriffs angegangen. Der Horizont ist, dass die Revision des Gottesbegriffs auf eine Revision des Moralverständnisses der Gesellschaft abzielt. Die Problematik eines anthropomorphen Gottesbegriffs lässt sich anhand des Scholiums 2p3s einführen: »Unter Gottes Macht versteht das gewöhnliche Volk Gottes freien Willen und sein Recht auf alle Dinge, die es gibt und die deshalb gewöhnlich als zufällig angesehen werden, sagt man doch, Gott Man kann sogar mutmaßen, dass selbst in Spinozas entlegenster und einziger auch inhaltlich mathematischen Schrift, der Algebraischen Berechnung des Regenbogens, Gott zumindest sublim vorkommt, sofern der Regenbogen als Symbol für das göttliche Licht verstanden wird. 47 Sangiacomo 2014, S. 20. 46

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habe die Gewalt, alle Dinge zu zerstören und auf nichts herunterzubringen. Sehr oft vergleicht man auch Gottes Macht mit der Macht von Königen. [. . .] Wäre es angebracht, dies weiter zu verfolgen, könnte ich hier noch zeigen, daß jene Macht, die das gewöhnliche Volk Gott andichtet, nicht nur eine menschliche ist (was zeigt, daß das gewöhnliche Volk Gott als Menschen oder als menschenähnlich versteht), sondern sogar Ohnmacht einschließt. [. . .] Denn niemand wird das, was ich meine, richtig auffassen können, wenn er sich nicht sehr davor hütet, Gottes Macht und die menschliche Macht von Königen, die ein Recht ist [humana regum potentia vel jure], durcheinanderzubringen. [Hvg. Vf.]« »Spinoza spielt hier auf eine Gottesvorstellung an, die nicht nur im gewöhnlichen Volk, sondern auch bei einigen mittelalterlichen Theologen, die auf der uneingeschränkten Allmacht insistierten, und bei Descartes anzutreffen ist.« 48 Was bei einer solchen anthropomorphen Gottesvorstellung alles schiefläuft, lässt sich aus verschiedenen Einfallswinkeln betrachten: aus einem theologischen, einem politischen, einem epistemologischen und schließlich einem ethischen. Betrachten wir die theologisch-politische Komponenten zuerst.

Gehorsam und Glauben

Im TTP beschäftigt sich Spinoza kritisch mit den gesellschaftlichen Zuständen und Herrschaftsverhältnissen in den damaligen Niederlanden, die von theologischer Dogmatik und religiöser Anmaßung geprägt waren. Der TTP hebt an mit Einwänden gegen traditionelle Glaubensmuster und lässt diese, in Auseinandersetzung mit Hobbes' Leviathan und Maimonides' Führer der Unschlüssigen, in einen der ersten Entwürfe für eine demokratische Gesellschaft münden. Im Visier dieser Kritik ist das Bild von Gott als König oder Richter, der Gesetze erlässt. Spinoza fragt, wozu überhaupt solche Gesetze nötig waren. Er schildert den Umstand, dass es galt, einen stabilen Staat der Hebräer zu errichten. Weil der damit betraute Moses die ihm aufgegebenen Dinge »nicht als ewige Wahrheiten verstand, sondern als Vorschriften und Anweisungen, hat er sie als Gesetze Gottes vorgeschrieben. So ist es gekommen, daß man sich Gott als Regenten, Gesetzgeber, König, als mitleidig, gerecht usw. vorstellte, während alle diese Merkmale doch nur der menschlichen Natur zukommen und von der göttlichen ganz fernzuhalten sind«. (TTP, Kap. 4, [9], S. 75, Hvg. Vf.) Die Vorstellung von Gott als König folgt also dem Bedürfnis, Ordnung und Macht zu installieren sowie Gehorsam fordern zu können. »Ziel der Bibel ist es, 48

Perler 2006, S. 62.

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uns Lebensformen zu unterwerfen, uns gehorchen zu machen.« 49 So wird ein Verhältnis von einem Befehlenden (Gott) und einem Gehorchenden (das Volk) von einem Menschen (Moses) für andere Menschen etabliert. Damit die Befehle eingängiger sind, wird Gott nach den kognitiven Bedürfnissen des Volkes zurechtgemacht. 50 »Nur im Hinblick auf die Fassungskraft des Volkes und dessen mangelhafte Erkenntnis wird Gott als Gesetzgeber oder Fürst geschildert und gerecht, barmherzig usw. genannt. Der Sache nach handelt Gott aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur.« (TTP, Kap. 4, [10], S. 77, vgl. 1p17) Die Aufklärung Spinozas besteht hier darin – so könnte man avant la lettre sagen–, eine angeblich ewige Konstellation zu historisieren und deren Machtdispositiv als Narrativ bloßzustellen. Genau dies sind die Züge dessen, was später bei Nietzsche und Foucault ›Genealogie‹ heißen wird. Unterwerfung, Zwang und blinder Gehorsam können aber für Spinoza keine Grundlage für wirkliche Glaubenssätze sein, etwa für Nächstenliebe. Denn ein Glaube, der nur auf Autorität beruht, wird unglaubwürdig, wenn er den Menschen schadet. Spinoza hat den Hass gegen jene, die das Gesetz nicht bedingungslos befolgen, am eigenen Leib erfahren. Die jüdische Gemeinde Amsterdams exkommunizierte ihn unter Berufung auf einen angeblichen Willen Gottes. Im Bannschreiben, das am 27. Juli 1656 vor der Synagoge in der Houtgracht verlesen wurde, heißt es: »By decree of the angels and by the command of the holy men, we excommunicate, expel, curse and damn Baruch de Espinoza, with the consent of God, Blessed be He, and with the consent of the entire holy congregation. [. . .] The Lord will not spare him, but then the anger of the Lord and his jealousy shall smoke against that man, and all the curses that are written in this book shall lie upon him.« 51 Diese Erfahrung muss auch für Spinozas Philosophie prägend gewesen sein, so Michael Hampe: »The problems Spinoza experienced with the religion he was born into and his enthusiasm for the modern sciences are probably the main roots for his kind of rationalistic philosophical therapy, which make him a unique figure in the landscape of modern thought.« 52 Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, für wie gefährlich Spinoza es halten musste, eine Legitimationsinstanz in eine unzugängliche Transzendenz zu entrücken. Und so wird auch plausibel, dass sich sein Immanenzdenken gegen »jede theologische Idee einer Einsetzung politischer Gewalten durch eine gesellschaftstranszendente Instanz« richtet. 53 Deleuze 1993b, S. 52. Siehe zu Gehorsam und Erkenntnis Walther 2018a. Hier wäre auch das Problem des Ebenbildes zu verorten. Das entsprechende Wort in der Torah ist ‫[ ְבּ ַצ ְלמוֹ‬b’zalmo], wobei ‫[ ֶצלֶם‬zäläm] Bild bedeutet. 51 Zitiert nach Nadler 1999, S. 120. Das Bannschreiben war ursprünglich auf Hebräisch verfasst. 52 Hampe 2010, S. 37. 53 Saar 2013, S. 21. 49 50

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Denn wie soll der angebliche Wille Gottes erkannt werden? Nach der Torah sind es die Propheten, die Zeichen und Wunder deuten: »Prophetie oder Offenbarung ist die sichere Erkenntnis einer den Menschen von Gott offenbarten Sache.« (TTP, Kap. 1, [1], S. 14) Mit ihrer Vorstellungskraft (imaginatio) produzieren die Propheten aus den empfangenen Zeichen Bilder und Visionen (TTP, Kap. 1, [27], S. 29). Propheten unterscheiden sich dabei vom gewöhnlichen Volk nur durch eine lebhaftere Vorstellungsgabe (TTP, Kap. 2, [1], S. 31). Für Spinoza ist ihre Deutungstätigkeit nicht grundsätzlich falsch oder verwerflich, aber mit mehreren Problemen behaftet, die er auf einer erkenntnistheoretischen Ebene nüchtern aufzeigt. Erstens: Weil sich aus Zeichen viel mehr Vorstellungen als wahre Ideen bilden lassen, gehen die prophetischen Offenbarungen über den Verstand hinaus. Zweitens sind diese Vorstellungen durch die individuelle Disposition des Propheten gefärbt und können deshalb keinen übergeordneten Wahrheitsstatus beanspruchen. Drittens billigt Spinoza zwar, dass prophetische Erkenntnisse einen hohen Grad an Gewissheit haben können, jedoch nur an moralischer Gewissheit, d. h. in Bezug auf Gehorsam und Glauben. So »bleibt die Prophetie also hinter der natürlichen Erkenntnis zurück, die keines Zeichens bedarf, sondern ihrer Natur nach Gewissheit in sich schließt. Und in der Tat war die prophetische Gewissheit nicht mathematisch, sondern nur moralisch.« (TTP, Kap. 2, [3], S. 32 54) So ist ingesamt »die Funktion dessen, was der biblische Text überliefert, eine soziale und moralische: ihre Zuhörer an den Gottesbund zu erinnern und zur rechten Lebensweise zu ermahnen«. 55 Harscher als mit den Propheten verfährt Spinoza nun mit dem Klerus. Hier geht es nicht um Probleme der Erkenntnis, sondern des Missbrauchs. Denn der Klerus repräsentiert den institutionellen Rahmen, der die Deutungshoheit über die Prophezeiungen an sich reißt und gegenüber dem Volk vertritt. Er bildet, neben dem anthropomorph vorgestellten Gott und den Propheten, das dritte Element der religiösen Dogmatik. Theologen und Priester oder, was oft auf dasselbe hinauslief, politische Agitatoren »geben ihre Hirngespinste für das Wort Gottes aus und sind einzig darauf bedacht, die anderen unter dem Vorwand der Religion zu nötigen, mit ihnen einer Meinung zu sein. Wir sehen, sage ich, daß die Theologen sich meistens darum gekümmert haben, wie sich die eigenen Erfindungen und Einfälle möglichst gut aus den heiligen Büchern Man könnte über Spinoza hinausgehend verschiedene Formen der imaginatio unterscheiden, wie etwa bei arabischen Autoren, beispielsweise Avicenna, zwischen prophetischer Imagination, reflexiver Imagination, Phantasie, Gedächtnis etc. Auch wäre eine Unterscheidung zwischen der Tätigkeit des Verkündens (wie der Hebräische Name für Prophet, ‫ָביא‬ ִ ‫[ נ‬navi], nahelegt), und der Tätigkeit des Sehens (‫[ ראה‬raa]) zu treffen. Beatrice Ulrike La Sala, mündliche Mitteilung. 55 Saar 2013, S. 25. 54

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herauspressen und mit Hilfe der göttlichen Autorität unanfechtbar machen lassen« (TTP, Kap. 7, [1], S. 119). Gegen dieses willkürliche ›Herauspressen‹ bringt Spinoza im TTP eine Bibelhermeneutik in Anschlag, durch die eine aufgeklärte Gesellschaft befördert werden soll, in der ein zeichengebundener Offenbarungsglaube durch eine allen zugängliche natürliche Gotteserkenntnis ergänzt wird. Damit bezieht er eine »kritische Stellung gegenüber Transzendenzbehauptungen, besonders natürlich gegenüber den Autoritätsbehauptungen der Theologie«. 56 Das vierte Element schließlich bildet die Schar der Gläubigen oder das Volk. Mit seinen Ängsten, Nöten und Begierden lässt sich gut spielen, denn »nichts regiert die Menge wirksamer als der Aberglaube.« (TTP, Vorrede, [5], S. 5.) Als moraldurchtränkte Rohlinge sind Menschen form- und manipulierbar in den Händen derer, die es auszunutzen wissen. So beginnt Spinoza den TTP mit der Feststellung: »[Weil Menschen] oft in solche Bedrängnisse geraten, daß sie keinen Plan ergreifen können und in ihrem maßlosen Verlangen nach ungewissen Glücksgütern meistens kläglich zwischen Hoffnung und Furcht schwanken, ist ihr Sinn in der Regel geneigt, alles Beliebige zu glauben.« (TTP, Vorrede, [1], S. 3)

Richtigstellung des Gottesbegriffs: Von Figur zur Struktur

Vor dem hier gezeichneten Hintergrund lässt sich nun Spinozas Einsatz, zunächst im TTP, dann auch in der Ethica, besser verstehen. Man muss dazu in der Reihenfolge der genannten Instanzen zurückgehen und bei der Quelle ansetzen: dem falschen Gottesbegriff, der allem Übel zugrundeliegt, und diesen richtigstellen. Dabei darf die normativ aufgeladene Rede von ›richtig‹ und ›falsch‹ nicht ihrerseits zu einem blinden Dogmatismus führen, sondern muss in einem Erkenntnisprozess Schritt für Schritt plausibel gemacht werden. ›Falsch‹ ist zunächst die Vorstellung eines transzendenten und anthropomorphen Gottes, die der Klerus missbraucht und die das Volk billig hinnimmt. Spinoza spart hier nicht mit Vorwürfen: »Was maßt sich die Dummheit des Volkes nicht alles an, das weder von Gott noch von der Natur einen richtigen Begriff hat, das göttliche Beschlüsse mit menschlichen vermengt« (TTP, Kap. 6, [1], S. 99). Wir kommen damit zu den epistemologischen Aspekten, nachdem die theologischen und politischen anhand des TTP behandelt wurden. 57 Aus epistemologischer Ebd., S. 10. Im Rahmen des TTP könnte man das ›falsche‹ Gottesbild bzw. dessen Widersprüche mit Leo Strauss damit rechtfertigen, dass Spinoza hier nur ad captum vulgi sprechen, also die eigentliche 56 57

Gottesbegriff und die Probleme des Anthropomorphismus und der Transzendenz

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Perspektive ist ein Brief von Spinoza an Hugo Boxel aufschlußreich, in dem eine Unterscheidung zwischen einer Vorstellung Gottes und einer Idee Gottes gemacht wird. Spinoza antwortet auf die Frage, »ob ich von Gott eine so klare Idee habe wie vom Dreieck, [. . .]: ja. Fragen Sie mich aber, ob ich von Gott eine so klare Vorstellung habe wie vom Dreieck, so antworte ich: nein. Denn Gott können wir nicht vorstellen, wohl aber erkennen.« (Ep. 56) Der Unterschied zwischen imagines und adäquaten ideae entspricht in der Ethica der ersten und zweiten Erkenntnisart. Ideen sind Begriffe, die der Geist bildet (2def3), Vorstellungen dagegen Zeichen, Eindrücke oder Spuren, die sich infolge von Affektionen als körperliche Muster niederschlagen. Sie korrespondieren mit inadäquaten Ideen, weil sie nicht die Dinge als solche repräsentieren, sondern eine Mischung zwischen affizierendem und affiziertem Körper (2p16). Das lässt sich dann auch von der Vorstellung Gottes sagen, die stets mit gewissen Dispositionen des Vorstellenden durchsetzt ist, wie oben im Falle der Propheten. Die imaginatio projiziert an menschlichen Bedürfnissen orientierte Wunsch- und Zweckvorstellungen auf einen anthropomorphen Gott. Die Ethica geht nun zur Richtigstellung des Gottesbegriffes von folgender Definition aus: »Unter Gott verstehe ich ein unbedingt unendliches Seiendes, d. h. eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt.« (1def6 58) Diese Definition scheint prima facie gar nichts mit den vorangegangenen Überlegungen, d. h. einem religiösen oder politischen Hintergrund zu tun zu haben. Aber auch hier gibt es, wie bei der Attributdefinition, vieles, das implizit eingearbeitet, mitgedacht oder ausgeschlossen wird und das eben durch einen problemgeschichtlichen Zugang offengelegt werden soll. Würde man die Definition 1def6 zum bloßen Nennwert nehmen, blieben diese Aspekte verborgen. Natürlich kann man hier z. B. mit der Kritik von Schnepf gegen Wolfson einwenden, dass die Rekonstruktion impliziter Probleme textlich nicht hinreichend abgestützt sei, oder mit Gueroult, dass die Ethica ein geschlossenes System überhistorischer Wahrheiten sei und deshalb der Beizug des historisierenden TTP unzulässig. Doch letztlich ist es eine Illusion, zu glauben, man verstünde irgendetwas von 1def6 oder anderen Definitionen ohne solche Kontexte. Die Aufgabe ist deshalb Wahrheit dem Volk aus Vorsichtsgründen vorenthalten würde. Dagegen hat sich Chantal Jaquet verwehrt: »Selon Leo Strauss, la règle d’adaptation des paroles à la compréhension du vulgaire est l’expression de la prudence nécessaire au philosophe dans son commerce avec les non-philosophes. [. . .Par contre:] L’art de parler et d’écrire ad captum vulgi consiste à s’adapter autant que possible à la manière de penser des hommes non pas pour leur voiler, mais pour leur dévoiler la vérité. Il repose davantage sur une mise en scène du vrai que sur le culte du secret.« Jaquet 2005, S. 18 u. 20. 58 »Per Deum intelligo ens absolute infinitum, hoc est substantiam constantem infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit.«

Die implizite Ethik in Spinozas Metaphysik

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nicht, sie auszublenden, sondern sie so offensichtlich und plausibel wie möglich zu machen. Betrachten wir einige auffällige Punkte an der Gottesdefinition: i) Erstens wird Gott mit Substanz identifiziert. Damit wird das Schicksal einer theologischen Frage, ›Was ist Gott?‹, mit dem einer metaphysischen Frage, ›Was ist Substanz?‹, verbunden. Und damit fließen Charakteristika wie Selbständigkeit und Selbstreferentialität auf Gott über. Auch jede der sukzessiven Bestimmungen des Substanzbegriffs in E1 wird den Gottesbegriff näher bestimmen und umgekehrt. ii) Zweitens ist 1def6 gemäß Deleuze eine Realdefinition im Unterschied zu den vorangehenden Nominaldefinitionen. Bei einer Realdefinition wird eine Aussage über das Wesen eines Dinges gemacht, das an ihm zu finden ist und verifizierbar sein muss, während bei einer Nominaldefinition lediglich die Bedeutung eines Namens durch andere als bekannt vorausgesetzte Begriffe festgelegt wird. 59 iii) Drittens kommen in dieser Definition keine Eigenschaften oder Propria Gottes vor. Auch dies wurde erst durch die Kontextualisierung des Attributbegriffs im vorangehenden Abschnitt deutlicher. Es heißt nicht etwa, dass Gott vollkommen wäre oder der Schöpfer aller Dinge oder barmherzig (vgl. die drei Gruppen von Propria). Es fehlt jeder anthropomorphe Zug. Genannt wird lediglich eine Struktur aus unendlich vielen Attributen. Aus dem Lateinischen »substantiam constantem infinitis attributis« lässt sich nicht entscheiden, ob die Attribute quantitativ oder qualitativ unendlich sind. Die Übersetzungen von Bartuschat im Deutschen oder Curley im Englischen treffen hier eine Entscheidung zugunsten einer unendlichen numerischen Vielheit. Man kann dies mit Ep. 2 an Oldenburg rechtfertigen, wo Spinoza schreibt: Ich definiere Gott »als ein Wesen, das aus unendlichen Attributen besteht, von denen jedes unendlich ist«. Wäre mit dem ersten »unendlich« nicht eine Anzahl gemeint, wäre das zweite »unendlich« im Relativsatz bloß eine Wiederholung oder eine Tautologie. 60 iv) Viertens tritt hier nun der Terminus »ausdrücken« auf. Der Ausdruck wird sich als Gegenmodell zur Offenbarung herausstellen, d. h. als Weise, wie sich Spinozas neu verstandener Gott ›zeigt‹, wenn nicht durch Zeichen und Wunder (vgl. Kap. 7). 61 »Damit eine Definition real sei, genügt es, die Möglichkeit des Gegenstands, soweit er definiert ist, zu beweisen.« Deleuze 1993b, S. 68. 60 Vgl. dazu auch Rice: »The phrase ›infinita attributa‹ here must refer to the number of attributes [. . .], and not to those attributes being individually infinte (as every attribute is via E1Def4).« Rice 2013, S. 44. 61 Die Expression als rationaler und säkularer Gegenbegriff zur Offenbarung haben v. a. Kaufmann 1940 und Deleuze 1993b betont. 59

Moralkritik und revisionäre Ethik

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Die Problematisierung von Gehorsam und Glauben und die hier diskutierten Punkte sprechen dafür, die Definition 1def6 als Antwort auf die Unzulänglichkeiten, Unhaltbarkeiten und mithin Bedrohungen eines transzendenten und anthropomorphen Gottesbildes aufzufassen. Sie richtet sich gegen das jüdisch-christliche (vulgarisierte) Verständnis von Gott als König oder Richter, der durch Willkürakte in die Welt eingreift. Als Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, über die noch nichts Näheres bekannt ist, kann man Gott zunächst als Struktur auffassen. Was hier beginnt und sich im Laufe von E1 vollzieht, ist die Transformation von Gott als einer Figur zu einer Struktur. Damit beginnt sich eine ganz bestimmte Möglichkeit der Kritik an Denkfiguren, Paradigmen und Hierarchien abzuzeichnen, die auf einer solchen Figur beruhen. Als Struktur steht Gott nicht mehr der Welt gegenüber und greift nicht mehr absichtsvoll in sie ein, sondern drückt sich, wie wir sehen werden, in ihr aus. Katrin Wille formuliert dies so: »Spinoza offers an ontology which on the one hand allows for a maximal general perspective on all areas of reality but on the other resists the temptations of transcendence, namely ultimate justifications, categorical distinctions or even seeking after supernatural authorities. Spinoza develops an ontology of immanence which can describe, explain and analyze, with the most general terms, a small number of constitutional processes and regularities of beings.« 62 Bei alledem behält er den Terminus Gott in der Ethica bei, anstatt ihn, was er ja auch hätte tun können, durch Substanz zu ersetzen. Dies mag daran liegen, dass er den Begriff in seiner neuen Bedeutung stark machen und beibehalten möchte, damit er nicht auf unkontrollierbare Art und Weise wieder mit dogmatischen Inhalten gefüllt wird.

3.5 Moralkritik und revisionäre Ethik

Der letzte hier zu diskutierende Aspekt des Problems eines transzendenten und anthropomorphen Gottes ist ethischer Art. Und damit kommen wir auch zu dem angekündigten Horizont der Revision des Gottesbegriffs, der eine Revision des Moralverständnisses ist. Eine Verbindung zwischen Gottesbegriff und Moralverständnis wurde schon aufgezeigt. Sie verläuft über Gott, Propheten, Klerus und Volk. Das von den Propheten verkündete und vom Klerus vertretene Bild eines Gottes, der als Herrscher belohnend und bestrafend in die Welt eingreift und die Geschicke von Menschen und Völkern lenkt, ist die Grundlage für das Selbstverständnis einer ganzen religiösen Gemeinschaft und ihrer Lebensform, sofern sie ihre Moral durch Berufung auf Gott begründet. Deshalb 62

Wille 2020, S. 193.

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Die implizite Ethik in Spinozas Metaphysik

muss eine Kritik den Hebel nicht an einzelnen Gesetzen, Vorschriften oder Normen ansetzen, sondern dort, wo alle Stränge zusammenlaufen: am Gottesbild. Mit dem TTP als Hintergrund wird deutlich, dass der Gegner Spinozas zunächst der religiöse Fanatismus und der damit einhergehende normative Dogmatismus ist. Dessen Politik der Einschüchterung, dessen Missionseifer, dessen Verhängung normativer Ansprüche, die gar nicht erfüllbar sind, hat Spinoza als große gesellschaftliche Gefahr erkannt. Im Visier ist nicht nur ein Gott der Philosophen (wie ihn Anselm oder Scotus dachten), sondern ein missbrauchter Gott der Religionen. Der TTP und die Ethica sind deshalb auch Projekte der Befreiung von der Illusion eines belohnenden und bestrafenden Gottes und damit einer Befreiung von entsprechenden moralischen Zwängen. Was passiert, wenn man diesen traditionellen Ankerpunkt der Gesetze ausreißt, hat Nietzsche in einem Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft eindrücklich beschrieben: »Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?« (FW 125) Geschildert wird hier ein Orientierungsverlust durch Wegfall einer Verankerung, die das ganze Wertesystem wie ein Zentralgestirn seine Planeten auf geschlossenen und geordneten Bahnen zusammenhielt. Was hier als astronomisches Taumeln inszeniert wird, zielt auf das Wegbrechen einer Großerzählung, die sich in den vergangenen Jahrtausenden in den tiefsten Schichten unserer Charaktere sedimentiert hat und sich in unseren alltäglichen Denkund Handlungsweisen ausdrückt. Nietzsche hat auch immer wieder auf den Zusammenhang zum Moralverständnis aufmerksam gemacht, nämlich »was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral«. (FW 343) Bei Spinoza wird dieser Zusammenhang mit weniger Pathos vorgetragen. Die Richtung der Ethica ist aber gerade dadurch vorgezeichnet. Im Laufe der Deduktion werden dann weitere Linien zwischen Gottesbegriff und Moralverständnis gezogen, nun aber zwischen einem anderen Gottesbegriff und folglich einer anderen Moral, die wir zur Unterscheidung als Ethik bezeichnen. Deshalb beginnt Spinoza mit De Deo, führt den Gottesbegriff in die Metaphysik über und lässt auch keine Spielräume, wie später Kant, für einen angeblich wahren Glauben. »Spinoza's revision of religion ranks among the most comprehensive and thorough projects of modern philosophy. At the core of this project is Spinoza's attempt to revise the theological concept of God through

Moralkritik und revisionäre Ethik

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philosophical criticism.« 63 Die Antwort auf die Frage, was die Funktion von Gott nunmehr ist, ist nicht mehr ein Ankerpunkt zu sein, sondern eine Mannigfaltigkeit, innerhalb derer ein anderer Handlungsbegriff und ein anderer Freiheitsbegriff sinnvoll werden (vgl. Kap. 11 und Kap. 12). Im Fokus von E1 steht zunächst die Gewinnung eines richtigen Begriffs von Gott und damit auch richtiggestellter Bezüge zwischen Substanz, Attributen und Modi, für die das Konzept des Ausdrucks oder der Expression stehen wird. Bei der damit einhergehenden Revision eines religiösen Paradigmas geht es aber nicht nur um Glaubensartikel im engeren Sinne, sondern auch um deren Abkömmlinge, d. h. um Muster und Figuren, die scheinbar nicht religiös sind, aber mit religiöser Herkunft, der gegenüber sie sich verselbständigt haben. Als Beispiele könnte man Max Webers Protestantismusthese für die Entstehung und den Antrieb des Kapitalismus nennen oder das, was Nietzsche allgemein als Schatten Gottes bezeichnet. In solchen Formen liegen die Glieder des einstigen Glaubens noch überall verstreut herum. Mit den in der Ethica gezogenen Linien wird also eine Großerzählung revidiert, die die Herkunft und Begründung von moralischen Normen betrifft, was ganze Fragekomplexe wie die Rechtfertigung des Daseins (Luther), die Wiedergutmachung der Sünde, die Abzahlung der Schuld, das schlechte Gewissen hinfällig macht; Fragekomplexe, die die Gesellschaft bis heute in ihren feinsten Adern und Äderchen strukturieren. Spinoza hat, könnte man sagen, den moralischen Gott getötet und sich aller Wunschvorstellungen, die man in ihn hineingeheimnisst hat, entledigt. »Es ist folglich kein persönlicher Gott, der ein zu erreichendes Ziel haben könnte, etwa das Wohlergehen der Menschen. Nicht als Potentialität, sondern als sich erfüllende Macht konzipiert, ist seine Natur von dem Akt des Hervorbringens der Dinge nicht verschieden und folglich keine den Dingen transzendente Ursache.« 64 Umgekehrt ergeben sich nun neue Fragekomplexe und Perspektiven. 65 Wir werden diese in Kap. 8 anhand eines Beispiels diskutieren, das drei biblische Figuren einschließt und deren Handlungen entsprechend umdeutet bzw. umJobani 2016, S. 1. Bartuschat 2006, S. 67. Der Wegfall einer transzendenten Autorität ist auch für ein neues Verständnis des Politischen relevant: »Die Orientierung an Spinoza eröffnet für die Gegenwart die Perspektive einer politischen Theorie, welche die Politik weniger von den stabilen Ordnungen, absoluten Rechten und eindeutigen Identitäten als vielmehr von den vielen Kräften und Mächten, vom vielfachen Werden und von den pluralen Möglichkeiten zu sein her begreift.« Saar 2013, S. 11. 65 Nietzsche sprach dann von »neuen Horizonten«. In der Genealogie der Moral erwähnt er anerkennend Spinoza, »der Gut und Böse unter die menschlichen Einbildungen verwiesen und mit Ingrimm die Ehre seines ›freien‹ Gottes gegen jene Lästerer vertheidigt hatte, deren Behauptung dahin gieng, Gott wirke Alles sub ratione boni (›das aber hiesse Gott dem Schicksale unterwerfen und wäre fürwahr die grösste aller Ungereimtheiten‹ –). Die Welt war für Spinoza wieder in jene Unschuld zurückgetreten, in der sie vor der Erfindung des schlechten Gewissens dalag« (GM II, 15). 63 64

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Die implizite Ethik in Spinozas Metaphysik

wertet. Nach Spinozas neuer Gotteskonzeption sind Adam, Abraham und Hiob nicht Menschen, die unter den Geboten eines Herrschers stehen, die sie befolgen oder missachten können. Vielmehr ist der ›sündigende‹ Adam, der seinen Sohn ›opfernde‹ Abraham oder der ›vom Schicksal geschlagene‹ Hiob je eine Weise, wie Gott ist. In dieser neuen Perspektive ist es sinnlos zu fragen, ob Adam auch nicht hätte sündigen können, ob Abraham grausam sei oder ob Hiobs Leiden gerechtfertigt sind. Der ganze Fragekomplex von Schuld, Fehl, Missachtung und dergleichen stellt sich nicht mehr. Auch die Frage ›Was soll ich tun?‹, so drängend sie praktisch sein mag und so oft wir sie stellen, ist in einer solchen Konzeption nicht mehr am Platz. Es geht nicht mehr um die Beurteilung und Bewertung von Handlungsalternativen, vor die der Mensch gestellt ist, vielmehr sind Menschen, ihre Handlungen und Affekte als Weisen (Modi) Gottes je Ausdruck Gottes. 66 Dieser Einsatz wird, wie angetönt, zwei Jahrhunderte später von Nietzsche in einer radikalisierten Form wiederholt. Auch er macht immer wieder auf den Zusammenhang zwischen dem jüdisch-christlichen Gottesbild und der damaligen (leider auch heutigen) Moral aufmerksam. Bei Nietzsche ist es noch deutlicher, dass sein Werk ein ebenso mächtiger wie verzweifelter Befreiungsschlag aus einer gesellschaftlichen, sozialen und familiären Umklammerung ist, ein Projekt, das auch deshalb den Titel der »Umwerthung aller Werthe« trägt, weil es nach dem Wert der Werte fragt, d. h. warum es überhaupt ›gut‹ sein soll, zwischen ›gut‹ und ›böse‹ zu unterscheiden. Und wie Spinoza wird auch Nietzsche sagen, dass nicht die Befolgung bestimmter Verhaltensnormen zu Glück und Stärke führt, sondern Stärke sich in bestimmten Verhaltensweisen manifestiert. All dies bekräftigt weiter die in Kap. 1 und 2 geäußerte These, dass E1 nicht eine neutrale metaphysische Untersuchung ist, sondern schon von einem revisionären moralkritischen Impetus getragen ist. Wenn Wolfson den Anfang der Ethica als allgemeine Kritik an der Tradition betrachtet, so wird dies hier in einer ethischen Hinsicht zugespitzt. Wenn man unter Moralphilosophie das Projekt einer rationalen Begründung von Handlungsnormen versteht, die dem Handelnden äußerlich sind, ihm vorgesetzt und vorgeschrieben werden, unter Ethik aber eine aus innerer Einsicht und Transformation gewachsene Lebensform, dann wird man Spinozas Projekt sinnvollerweise eine Ethik nennen. Und dies wiederum zeichnet sich schon im TTP ab, wo Spinoza sagt: »Was jeder tun muß, um Gott zu gehorchen, lehrt die Schrift an vielen Stellen aufs klarste, besteht doch das ganze Gesetz in dem einen Gebot: der Liebe zum Nächsten.« 66 Das Beispiel von Adam geht auf Leibniz zurück. Abraham wird von Kant, Hiob von Kierkegaard thematisiert.

Moralkritik und revisionäre Ethik

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(TTP, Kap. 14, [3], S. 217 f.) Nächstenliebe ist aber nicht Folge eines blinden Gehorsams. Sie wird im Leben eines Menschen wirksam »nicht aus Furcht vor Strafe noch wegen der Liebe zu etwas anderem wie Vergnügungen, Ansehen usw., sondern allein deshalb, weil er Gott kennt und somit weiß, daß die Erkenntnis und Liebe Gottes das höchste Gut ist.« (TTP, Kap. 4, [5], S. 71) In diesem dritten Kapitel wurden, als Rückblick gesagt, die Eingangsdefinitionen und damit auch Grundbegriffe der Ethica (causa sui, res finita, substantia, attributum, modus, deus) in problemgeschichtlicher Hinsicht erörtert, mit Ausnahme der Definition des Freiheitsbegriffs (1def7), die erst in Kap. 12 untersucht wird. Die Axiome von E1 werden, wo nötig, zu gegebener Zeit eingeführt. Sie enthalten keine Grundbegriffe, sondern vor allem epistemologische Grundsätze, die natürlich ebenfalls nicht frei von einer bestimmten Weltsicht, von einer bestimmten Wertung sind.

4 Causa sui oder ein Anfangsparadox mit Folgen

4.1 Paradox und Entparadoxierung des causa-sui-Begriffs. Paradox’s revenge

Betrachten wir von den diskutierten Grundbegriffen nun die causa sui näher. Nachdem ihr Auftreten in der Ethica problemgeschichtlich, d. h. gemäß dem ersten methodischen Schritt motiviert wurde, sehen wir nun zu, wie sich dieses Konzept mit Hilfe des zweiten und dritten Schritts weiter verstehen und verwenden lässt. Der zweite Schritt besteht im Auffinden eines mit dem Konzept assoziierten Paradoxes, der dritte Schritt in dessen Auflösung durch Einführung einer Unterscheidung. Dabei wird sich auch zeigen, wie die Zeit in Spinozas System ein- und ausgeschlossen wird und wie es, aufgrund dieses Ausschlusses, zu einer Wiederholung des Paradoxes in anderer Gestalt kommen kann. Wörtlich bedeutet causa sui ›Ursache ihrer selbst‹. Doch wie sollte etwas sich selbst verursachen bzw. bewirken können? Eine Wirkung resultiert, so scheint es, immer aus etwas anderem. Die Irritation liegt darin, dass wir den Terminus causa zunächst im gewohnten Kontext der Kausalität verstehen (sei dies im heutigen Sinn von Ursache-Wirkung, im frühneuzeitlichen Sinn von causa efficiens und causa finalis oder im aristotelischen Sinn von causa efficiens, causa finalis, causa formalis und causa materialis). Wir stellen uns dabei vor, dass zwischen dem Verursachenden und dem Bewirkten ein zeitlicher Abstand liegt, aber genau dies wird durch die Selbstverursachung ausgeschlossen bzw. kurzgeschlossen. Die im Begriff causa sui implizierte Zirkularität scheint also einerseits Zeit vorauszusetzen, andererseits Zeit auszuschließen. Was im Begriff mitbehauptet ist, wird durch ihn selbst negiert. Oder nochmals anders gesagt entzieht die Behauptung ihre eigene Grundlage: ein Paradox. 1 Ein Paradox verlangt eine Auflösung und diese wird durch die Erklärung seiner Entstehung in die Wege geleitet. Eine solche Erklärung ist die erwähnte Verwendung der Begriffe im gewohnten kausalen Kontext. Auf den sich daraus ergebenden ›Kurzschluss‹ hat auch Kondylis hingewiesen: Es gibt am Anfang der Ethica »zwischen Ursache und Wirkung [. . .] nur ein Verhältnis von notwendiger Aufeinanderfolge, welche aber gleichzeitig als Vorgang begriffen werden muß, der sich im zeitlosen Rahmen der Einen Substanz vollzieht«. 2 1 2

Auf dieses Paradox hat bereits Stegmaier 2011 hingewiesen. Kondylis 1990, S. 226.

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Causa sui oder ein Anfangsparadox mit Folgen

Nun führt aber Spinoza den Begriff causa sui auf andere Weise ein, nämlich wie folgt: »Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Essenz Existenz einschließt, anders formuliert das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.« 3 Hier kommen, anders als zunächst vermutet, Termini wie ›causa‹ oder ›effectus‹ gar nicht vor. Die Definition besteht aus zwei Teilen, verbunden mit der Konjunktion sive. Der erste Teil enthält die Wendung ›Essenz involviert Existenz‹. Damit wird eine logische Folgerungsbeziehung zwischen den Begriffen Essenz und Existenz hergestellt. Der zweite Teil präzisiert nun diese Beziehung: Die Natur oder Essenz ist derart, dass man sie nicht anders als existierend begreifen kann. Beide, involvieren und begreifen (involvere und concipere), sind begriffslogische, also unzeitliche Relationen. Spinoza setzt deren Verständnis hier stillschweigend voraus. 4 Weil in einer (begriffs)logischen Relation die Zeit ausgeschlossen ist, besteht in 1def1 kein Paradox. Dennoch ist es instruktiv, die causa sui zunächst als ein solches aufzufassen und dann die Termini Essenz und Existenz als alternative Unterscheidung zu causa und effectus einzuführen, die das Paradox aufhebt. In traditioneller Lesart gehören Essenz und Existenz zum scholastischen Vokabular, das in der Frühen Neuzeit ebenfalls als bekannt vorausgesetzt werden kann. In der hier vorgeschlagenen Lesart aber haben sie eine neue Funktion. Die zeitliche Aufeinanderfolge beim Begriffspaar Ursache-Wirkung wird durch eine logische Folge bei Essenz-Existenz substituiert. Damit werden die Zeit und ihre paradoxalen Komplikationen ausgeschlossen, ebenso die Zirkularität unter den Begriffen. Das Paradox, das in einer ›natürlichen Sprache‹ auftrat, wird in einer formalisierten Sprache entparadoxiert bzw. gar nicht erst sichtbar gemacht, also invisibilisiert. Zur Rolle von Zeit in Paradoxien hat Werner Stegmaier bemerkt: »Die Zeit war seit den frühgriechischen Philosophen die Quelle aller Paradoxien: Dachte man das Sein und das Denken als zeitlos, schloss also die Zeit aus ihnen aus, konnte man das Sein der Zeit selbst nicht denken – und dennoch nicht leugnen, dass es die Zeit ist, in der sich das Denken vollzieht, in 3 »Per causam sui intelligo id, cujus essentia involvit existentiam, sive id, cujus natura non potest concipi, nisi existens.« 4 Begreifen (concipere) ist ein Begreifen durch die Vernunft (intellectus) im Gegensatz zu einem Vorstellen durch die imaginatio. Spinoza wird diesen Unterschied in 1p15s hervorheben und in 2p40s2 mit der zweiten bzw. ersten Erkenntnisart verbinden. In 1p15s heißt es beispielsweise zur Teilbarkeit von Substanz, dass »Quantität auf zweifache Weise von uns begriffen wird, einmal abstrakt oder äußerlich, so nämlich, wie man sich dieselbe sinnlich vorstellt, und dann als Substanz, was vom Verstand allein geschieht.« Von allen Dingen kann man sich vorstellen, dass sie existieren oder nicht existieren, weil sie die imaginatio nur als mögliche erwägt statt als notwendige erfasst. Vgl. dazu auch Schmid: »dieser begriffliche Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung [wird] ganz ähnlich wie bei Thomas von Aquin in den Essenzen der Dinge begründet [. . .] (und nicht etwa in den Naturgesetzen [. . .]).« Schmid 2011, S. 235, Fussnote 8.

Substanz als causa sui. Übertragung von Paradoxien

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der es immer wieder beginnt und endet. Bestimmt man die Zeit als das bloße Jetzt und dies als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, so ist das Jetzt nach Aristoteles immer dasselbe und zugleich immer ein anderes und damit wieder paradox. Die Paradoxie der Zeit ist in der Zeit nicht zu beseitigen, nur zu verschieben.« 5 Eine solche Verschiebung werden wir auch in der Ethica beobachten. Durch die Unterscheidung Essenz-Existenz anstelle von Ursache-Wirkung wird eine Paradoxie im Grunde nur unsichtbar gemacht. Trotzdem oder gerade deswegen kann sie später wieder auftauchen, dann aber in anderer Gestalt und Verkleidung. In der Paradoxien-Forschung bezeichnet man dieses Phänomen als paradox's revenge (vgl. Kap. 2). Ein anfängliches Paradox wiederholt sich und muss wiederum aufgelöst werden, wiederholt sich abermals und so fort. Es gibt keine festen Regeln, die diesen Vorgang determinieren würden. Man kann nur sagen, dass eine zeitweilige Entparadoxierung um den Preis eines späteren Paradoxes erkauft wird und dass gerade durch den Ausschluss der Zeit so ein zeitlicher Ablauf generiert wird. Mit diesem Mechanismus wird eine begriffliche Dynamik jenseits des deduktiven Ablaufs denkbar.

4.2 Substanz als causa sui. Übertragung von Paradoxien

Auch im deduktiven Ablauf selbst gibt es natürlich eine Entwicklung. Beispielsweise wird der in 1def3 definierte Substanzbegriff weiter spezifiziert, indem von ›Substanz‹ bestimmte Eigenschaften prädiziert werden. Im Zusammenhang mit dem vorangehenden Abschnitt zu ›Paradox und Entparadoxierung des causa-sui-Begriffs‹ ist hier insbesondere interessant, dass in den ersten sieben Lehrsätzen von E1 hergeleitet wird, dass eine Substanz causa sui ist: »Zur Natur einer Substanz gehört es zu existieren.« (1p7 6) Dieser Satz ist eine unmittelbare Folge aus dem vorangehenden 1p6, wonach eine Substanz nicht von einer anderen Substanz hervorgebracht werden kann, also sich selbst hervorgebracht haben muss, folglich causa sui ist. Dagegen waren Descartes' res extensa und res cogitans zwar Substanzen, aber nicht causae sui. Aus ihrem Wesen, der Ausgedehntheit bzw. dem Denken, folgt nicht ihre Existenz, sondern sie erhalten diese nur von der unendlichen Substanz, Gott. Wenn nun Spinoza zeigt, dass Substanz causa sui ist, so ist anzunehmen, dass sich die oben konstatierte Paradoxie irgendwie auf sie überträgt. Tatsächlich – Stegmaier 2016, S. 10. Vgl. auch Stegmaier 2011. »Ad naturam substantiae pertinet existere.« Wolfson verortet Spinoza auch damit in scholastischer Tradition: »that like the philosophic God of the mediaevals substance has no distinction of essence and existence (Prop. VII).« Wolfson 1983, S. 120. 5 6

Causa sui oder ein Anfangsparadox mit Folgen

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und dies wird Inhalt der nächsten Kap. 5 und 6 sein – ist sein Substanzbegriff sowohl in seinem Verhältnis zu den Attributen als auch zu den Modi paradox. Nach der Hypothese der ›Rache des Paradoxes‹ taucht es in jeweils anderen Formen wieder auf. Die genaue Form ist dabei nicht absehbar, bloß das Faktum, dass es sich wiederholt, scheint unabweisbar. Paradoxerweise ist es gerade die Kohärenz der Deduktion, die jene Übertragung befördert. Denn sie stellt einen nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen causa sui und Substanz her, der hier im Detail rekapituliert werden soll. Rückwärts betrachtet beruft sich der Beweis 1p7dem auf 1p6: »Eine Substanz kann nicht von einer anderen Substanz hervorgebracht werden.« Der Beweis 1p6dem lässt sich seinerseits wie folgt rekonstruieren: i) Es gibt nicht zwei Substanzen S und S' im selben Attribut (1p5). ii) Wenn es dennoch S und S' gäbe und S S' hervorbringen würde, hätten sie verschiedene Attribute. iii) Dann aber hätten S und S' nichts gemeinsam (1p2). iv) Also kann es keine Verursachung zwischen S und S' geben (1p3). In dieser Kette werden alle vorangehenden Lehrsätze benutzt. In 1p5 geht der noch nicht angeführte Satz 1p4 ein, wonach sich Substanzen entweder durch Attribute oder Modi unterscheiden, wobei letzteres wegen 1p1 entfällt, also nur die Unterscheidung durch Attribute bleibt und damit die Behauptung, dass es nicht mehrere Substanzen desselben Attributs gibt. 7 Aufgrund dieser lückenlosen Kette lässt sich nun in 1p7dem schließen: i) Eine Substanz kann nicht von einer anderen Substanz hervorgebracht werden (1p6). ii) Eine Substanz muss sich also selbst hervorbringen. iii) Eine Substanz ist damit causa sui, d. h., ihre Essenz schließt ihre Existenz ein. So wird nachvollziehbar, dass auch der Substanzbegriff mit dem zuvor invisibilisierten Paradox behaftet ist. 8 Lehrsatz 1p7 – Substanz als causa sui – ist zugleich eine erste Zäsur in E1. Von da an werden weitere Eigenschaften von ›Substanz‹ – ›Substanz‹ imEine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann, ist, ob an losen Enden der Deduktion Paradoxien ›entschlüpfen‹ können, also Inkonsistenzen diesbezüglich entlastend wirken. 8 N. B. kann man auch die einzelnen genannten Lehrsätze als Antworten auf jeweilige Problemlagen betrachten. Mit 1p6 etwa wendet sich Spinoza gegen den cartesischen Dualismus, insbesondere gegen die Hervorbringung von res extensa und res cogitans durch die göttliche Substanz. Weitergehend kann man 1p6 auch in Abhebung von Aristoteles lesen, der in seiner Schrift Vom Werden und Vergehen eine Umwandlung von Substanzen ineinander denkt. Der griechische Titel ist περὶ γενέσεως καὶ φθορᾶς. In der dortigen Einzeldingontologie wird das Werden von Substanzen aufgrund des Vergehens anderer Substanzen gedacht. Zunächst wird die Möglichkeit des Werdens als Veränderung (ἀλλοίωσις) an einem Zugrundeliegenden (ὑποκείµενον) oder als Zusammenschluss und Trennung von Elementen verworfen, Aristoteles 2011, 314a, S. 3 und 317a, S. 19. Das schlechthinnige Werden (ἁπλῆ γένεσις) von einem substanziell Seienden geschieht nicht über Akzientien, sondern auf Kosten einer anderen Substanz. Das Vergehen der einen ist das Werden der anderen und umgekehrt, Aristoteles 2011, 318a, S. 27. Der Aristoteles-Übersetzer Thomas Buchheim verweist dabei auf 1p6: »Prominent wie kaum ein anderer leugnete Spinoza rundweg jede Möglichkeit eines Entstehens von Substanz.« 7

Herleitung der Ausdrucksrelation aus dem Begriff der causa sui

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mer noch unbestimmt in der Anzahl – hergeleitet: Unendlichkeit oder Unbeschränktheit (1p8), Unteilbarkeit (1p12, 13), Einzigkeit (1p14) und Immanenz (1p18), die in den folgenden Kapiteln dieses Buches behandelt werden. 9 Vorausschauend sei bemerkt, dass 1p7 noch kein ontologischer Gottesbeweis ist. Erst mit 1p11dem1 wird auch die faktische Existenz Gottes aufgewiesen. Dazu dient 1p7 als Prämisse, aufgrund derer man mit einer reductio ad absurdum folgern kann, dass wenn Gott nicht existierte, sein Wesen seine Existenz nicht einschlösse, was eben im Widerspruch zu 1p7 stünde.

4.3 Herleitung der Ausdrucksrelation aus dem Begriff der causa sui

Die hier postulierte Auflösung des Anfangs-Paradoxes der Ethica durch die Unterscheidung von essentia und existentia birgt nun eine überraschende Möglichkeit in sich. Betrachten wir dazu nochmals den ersten Teil der Definition 1def1: essentia involvit existentiam. Was genau bedeutet die Relation involvere, die gewöhnlich mit ›einschließen‹ oder ›implizieren‹ übersetzt wird? Eine einschlägige Auskunft gibt 2p49dem: »es ist dasselbe zu sagen, daß A den Begriff von B in sich schließen muß, wie zu sagen, daß A ohne B nicht begriffen werden kann.« Durch diese Äquivalenz von involvere und concipere wird auch der Zusammenhang zwischen den beiden Teilen von 1def1 deutlicher – der zweite lautete: causa sui ist »das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann«. Es gilt also: Essenz schließt Existenz ein, d. h. Essenz kann ohne Existenz nicht begriffen werden. Formalisiert lässt sich dies so darstellen: 10 ›x involviert y ↔ x kann ohne y nicht begriffen werden‹ oder alternativ: ›x involviert y ↔ y ist notwendig, um x zu begreifen‹.

Den Beweis von 1p8 führt Spinoza über eine Disjunktion: Eine Substanz ist entweder beschränkt oder unbeschränkt. Im ersten Fall muss sie durch etwas von derselben Natur begrenzt sein (1def2), und dies kann nur eine andere Substanz sein. Diese andere Substanz existiert als Substanz notwendig (1p7), d. h., es gäbe zwei Substanzen im selben Attribut, was nach (1p5) ausgeschlossen ist. Also ist das andere Glied der Disjunktion wahr. Für die Lehrsätze bis 1p14 (dem Substanzmonismus) hat 1p8 keine relevante Beweisfunktion. Der Satz wird lediglich in 1p12dem aufgerufen, jedoch ohne dass die Schlüssigkeit des Beweises davon abhinge. Im Scholium 1p8s1 weist Spinoza ferner daraufhin, dass Begrenztheit eine partielle Verneinung darstellen würde, Unbegrenztheit aber »die unbedingte Bejahung der Existenz irgendeiner Natur«. 10 Siehe auch Gartenberg 2017, S. 2: »for x to ›involve‹ y means for x to be ›conceived through‹ y «, der hierzu auf 2p1dem verweist. 9

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Causa sui oder ein Anfangsparadox mit Folgen

Wenn nun y notwendig ist, um x zu begreifen, und gesetzt den Fall, dass x begriffen ist, dann wurde auch y begriffen. In diesem Fall wäre x eine hinreichende Bedingung: ›x involviert y ↔ x ist hinreichend, um y zu begreifen‹. In einer detaillierten Untersuchung hat Zachary Gartenberg gezeigt, dass die Formulierung ›x ist hinreichend, um y zu begreifen‹ bei Spinoza gerade auf den Term exprimere zutrifft. Seine These lautet: 11 ›x drückt y aus ↔ x ist hinreichend, um y zu begreifen‹. Vergleicht man die beiden letzten Formeln, ergibt sich die Äquivalenz, ›x involviert y ↔ x drückt y aus‹. Diese Äquivalenz kann mit einer Reihe von Stellen aus der Ethica plausibilisiert werden (für die vollständige Untersuchung sei auf den Artikel von Gartenberg verwiesen): »Die wahre Definition eines jeden Dinges schließt nichts anderes ein als die Natur des definierten Dinges, noch drückt sie etwas anderes aus [veram uniuscujusque rei definitionem nihil involvere, neque exprimere praeter rei definitae naturam]« (1p8s2). »Sodann ist unter Gottes Attributen das zu verstehen, was [. . .] eine Essenz der göttlichen Substanz ausdrückt, [. . .]; genau das, sage ich, müssen die Attribute in sich schließen« (1p19dem). »Modi, die Gottes Natur, insofern er ein denkendes Ding ist, in einer bestimmten Weise ausdrücken, mithin [. . .] den Begriff keines anderen göttlichen Attributs in sich schließen« (2p5dem). »Mithin drückt [. . .] die Idee dieser Idee nicht adäquat die Natur des menschlichen Geistes aus, schließt also dessen adäquate Erkenntnis nicht in sich.« (2p29dem) Weitere Stellen mit exprimere finden sich in den Briefen und im TTP. In Ep. 36 heißt es: »etwas, dessen Definition die Existenz einschließt oder (was dasselbe ist) die Existenz ausdrückt«, und im TTP, Kap. 4, [4], S. 70: »weil ohne Gott nichts sein noch begriffen werden kann, ist gewiß, daß alles, was in der Natur existiert, den Begriff Gottes, entsprechend der eigenen Essenz und Vollkommenheit, in sich schließt und ausdrückt.« Die damit hergeleitete Äquivalenz ist kein Gemeinplatz in der Philosophie. Eine derart terminologische und systematisch weitreichende Verwendung von exprimere findet sich beinahe exklusiv in der Ethica. Deshalb ist auch ein Vergleich mit den gebräuchlicheren Relationen concipere, causare und inesse aufschlussreich (vgl. dazu Kap. 7). Die Ausdrucksrelation findet sich in der Ethica nur in der Verbalform exprimere. Sie ist, so die vierte Hauptthese von Kap. 1, die eigentliche Grundrelation 11 Gartenbergs Formulierung ist strengenommen modal, was hier mitgedacht werden muss: »Necessarily, x expresses y if and only if x is sufficient for conceiving of y .« Gartenberg 2017, S. 2.

Causa sui und Folgeparadoxien

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der Immanenz. Während dies schon von Deleuze herausgestellt wurde, wird der Ausdruck hier zusätzlich auch textimmanent hergeleitet, eben aus dem Begriff der causa sui und der Auflösung des damit einhergehenden Paradoxes. Auf diese Weise können auch eine kontinentale (Deleuze) und eine analytische (Gartenberg) Strömung zusammenfließen. 12 Wir halten also als Resultat fest, dass die Wendung essentia involvit existentiam in 1def1 durch essentia exprimit existentiam substituiert werden kann bzw. dass involvere und exprimere koextensiv sind. Wir werden für den handlicheren Gebrauch sagen, dass eine Essenz sich als Existenz ausdrückt. Bei endlichen Modi heißt das exemplarisch, dass eine individuelle Essenz, z. B. diejenige Pauls, sich in der bestimmten Existenzweise Pauls ausdrückt. Durch den Ausdruck wird etwas von seinem Wesen manifest, indem es sich in einer bestimmten Form präsentiert oder darstellt. Anders als bei der causa sui kann aber die Essenz Pauls auch als nicht in dieser Form existierend begriffen werden, weil die jeweilige Existenz durch andere Modi mitbestimmt ist (vgl. die spätere Diskussion von 1p28 und 2p16). Wenn Paul causa sui wäre, so wäre seine Existenz in allen Hinsichten notwendig. Im strengen Sinne erfüllt dies jedoch nur die Substanz.

4.4 Causa sui und Folgeparadoxien

Wie lässt sich nach diesen Beobachtungen und Ausführungen die Rolle der causa sui für die Ethica beurteilen? Erinnern wir uns daran, dass Bartuschat ihr keine besondere Bedeutung hat beimessen wollen (vgl. Kap. 3): »Die 1. Definition des 1. Teils der Ethica ist die der causa sui; und diese prominente Stelle hat viele Spinoza-Interpreten, auch Konrad Cramer, verführt, ihr im System des Spinoza eine besondere Bedeutung zuzusprechen. Ein Blick auf die Ethica im Ganzen zeigt, daß dem nicht so ist. Spinoza macht von diesem Begriff, obwohl er eine wesentliche Eigenschaft Gottes benennt, die keinem Modus, wie beschaffen er auch sein mag, zugesprochen werden kann, im Verlauf seiner Darlegung wenig Gebrauch, weil ihm eine nur geringe Erklärungskraft zukommt.« 13 In Bartuschats Lesart ist dies dadurch begründet, dass er die Ethica als Erklärungsprojekt auffasst: »Was erklärt werden soll und worum es in der Ethica in erster Linie geht, ist die Welt der Modi; und im Hinblick darauf erklärt der Begriff der causa sui wenig.« 14 12 Deleuze selbst sieht das erste Auftreten von exprimere erst in der sechsten Definition: »Unter Gott verstehe ich ein unbedingt unendliches Seiendes, d. h. eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes ewige und unendliches Essenz ausdrückt.« 1def6, Hvg. Vf. 13 Bartuschat 2017g, S. 132 f. 14 Ebd., S. 133.

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Causa sui oder ein Anfangsparadox mit Folgen

Man könnte jedoch eine andere Perspektive einnehmen und als Horizont eher ein ethisches Transformationsprojekt für Individuen veranschlagen. Man könnte so den Erklärungsbemühungen durch die Deduktion eine Entwicklung neuer begrifflicher Unterscheidungen und Optionen nebenher oder sogar voranstellen. Denn Transformationen geschehen gerade durch eine Restrukturierung der Begriffe. Bei dieser Restrukturierung und Dynamisierung kommt den Paradoxien eine entscheidende Rolle zu. Wir werden in den folgenden Kapiteln auf Paradoxien im Verhältnis von Substanz und Attributen (Kap. 5) sowie von Substanz und Modi (Kap. 6) stoßen. Paradox zu denken ist auch die Individuation im conatus (Kap. 9). Für das gewöhnliche Verständnis paradox ist ebenso ein Wille, der nichts ›will‹ (Kap. 10), eine Handlung, die keine Handlungsfolge beabsichtigt (Kap. 11), und eine Freiheit, die nur als Notwendigkeit zu denken ist (Kap. 12). All diese Paradoxien hängen mit derjenigen der causa sui zusammen. Zum Teil ergeben sie sich allein schon durch die Strukturähnlichkeit, so beim Handlungsbegriff (3def2) und beim Freiheitsbegriff (1def7). Die in der Ethica auftretenden Paradoxien sind, wie sich im Laufe dieser Untersuchung zeigen soll, symptomatisch dafür, dass in Spinozas Immanenzdenken und Monismus traditionelle Unterscheidungen wie Sein / Werden, Zeit / Ewigkeit, Ursache / Wirkung, Allgemeines / Besonderes, Freiheit / Notwendigkeit kollabieren. Dafür werden andere und neue Unterscheidungen gemacht und mithilfe der Ausdrucksrelation aufeinander bezogen. All dies vollzieht sich kaum merkbar. Gemäß dem Scholium 2p17s will Spinoza sogar, »die gebräuchlichen Worte« beibehalten. Tatsächlich betreffen seine Innovationen zunächst nicht die Ebene der Signifikanten. Auch die Gott zugesprochenen Eigenschaften Unendlichkeit, Unteilbarkeit, Einzigkeit sind an der Oberfläche mit dem Monotheismus verträglich. Unverdächtig sind schließlich auch die meisten Grundbegriffe und Prämissen. Die Anbahnung einer neuen Metaphysik und Ethik geschieht ›untergründig‹ auf der Ebene der Signifikate und der Paradoxien. Die tektonischen Verschiebungen zwischen diesen Ebenen führen dann aber über kurz oder lang zum unvermeidlichen Bruch mit einer mächtigen theologischen und philosophischen Tradition. Zur Erklärung der Diskrepanz zwischen traditioneller Terminologie und inhaltlicher Neuorientierung könnte man (ohne dabei auf Strauss zu rekurrieren) vermuten, dass sich Spinoza aus Vorsicht gegenüber politischen und kirchlichen Autoritäten zurückhielt – sein Motto lautete caute! –, und das mit guten Grund: Jedem aufmerksamen Leser musste bald klar werden, was hier auf dem Spiel stand. Die Empörungen von Bayle und Jacobi sind exemplarisch für viele Reaktionen von Rezipienten. Man könnte auch spekulieren, dass Spinoza nicht voreilig und mutwillig mit der Tradition brechen wollte, sondern zunächst deren Spielräume auslotete, dann aber radikal die Konsequenzen

Causa sui und Folgeparadoxien

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zog. Indem er die aristotelisch-scholastische Begrifflichkeit auf seine Weise durchdenkt, wird sie auf eine Spitze getrieben, an der sie zugleich zerbricht. Eine in diese Richtung gehende Lesart hat auch Kondylis vorgeschlagen. Die »Abschaffung der Unterscheidungen zwischen Diesseits und Jenseits, Gott und Natur, Geist und Körper« erfolge gerade »durch den Gebrauch der begrifflichen Mittel traditioneller Metaphysik, die wiederum gemäß den Geboten der jungen mathematischen Naturwissenschaft radikal umgedeutet werden. In der Geistesgeschichte ist es alles andere als selten, daß ein Begriff gerade an der Schwelle zu seinem Untergang besonders hervorgehoben oder radikalisiert wird, wobei er seine früheren traditionellen Merkmale verliert, indem er infolge von Modernisierungsversuchen mit neuem Gehalt versehen wird.« 15

15

Kondylis 1990, S. 222 f.

5 Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

5.1 Das Problem mehrerer Substanzen gleichen Attributs

Untersuchen wir nun das erste Folgeparadox der causa sui, das sich im Zuge von Spinozas Auseinandersetzung mit dem problematischen Substanz- und Attributbegriff bei Descartes ergibt. Wiederum wird zuerst das Problem, dann die Paradoxie, dann deren Auflösung aufgezeigt. Einige der Schwierigkeiten bei Descartes wurden bereits in Kap. 3 erörtert. So finden sich bei ihm unterschiedliche Substanzdefinitionen und unterschiedliche Rollen der Attribute. Grundsätzlich scheint Descartes Substanzen, wie in der Tradition üblich, durch Attribute zu kennzeichnen und dadurch auch zu unterscheiden: »Jeder dieser Substanzen kommt ein charakteristisches Attribut [praecipuum attributum] zu, wie das Denken dem Geist und die Ausdehnung dem Körper.« 1 Es ist aber möglich, dass einer Substanz auch weitere Attribute mit untergeordneter Bedeutung zugeschrieben werden. In den Fünften Erwiderungen etwa heißt es: »Was mich betrifft, so habe ich immer gemeint, daß nichts anderes erforderlich ist, um eine Substanz zu manifestieren, als ihre vielfältigen Attribute, so daß wir desto vollkommener die Natur einer Substanz einsehen, je mehr ihrer Attribute wir erkennen.« 2 Als Beispiel nimmt Descartes ein Stück Wachs und als Attribute nennt er dessen Eigenschaften wie Farbe und Härte. So werden mit dem Attributbegriff sowohl Unterscheidungen von Substanzen innerhalb der res extensa als auch zwischen den Substanzen res extensa und res cogitans getroffen. Andererseits werden einzelne Substanzen bei Descartes auch modal unterschieden. Auf solche Doppelungen und Überlappungen im Attribut- und Modusbegriff wurde schon in Kap. 3 hingewiesen. Sie sind Teil der problemgeschichtlichen Ausgangslage für Spinoza. Dass die Anwendung scholastischer Unterscheidungsmittel bei Descartes nicht mehr recht funktioniert, hat auch Deleuze moniert. Beispielsweise würde man eine numerische Unterscheidung und eine reale Unterscheidung verwechseln, wenn man gleichzeitig eine Vielzahl von Substanzen und Substanzielles überhaupt in den Blick nimmt: »der CharakDescartes 2005, I/53, S. 59. Vgl. den Abschnitt über Attribute in Kap. 3. »sed quantum ad me, nihil unquam aliud requiri putavi ad manifestandam substantiam, praeter varia ejus attributa, adeo ut, quo plura alicujus substantiae attributa cognoscamus, eo perfectius ejus naturam intelligamus.« Descartes 2009, S. 365 bzw. Descartes 1996b, AT VII, S. 360. 1

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Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

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ter der numerischen Unterscheidung schließt allerdings die Möglichkeit aus, daraus eine reale oder substantielle Unterscheidung zu machen.« 3 Denn um Substanzen, die grundlegendsten metaphysischen Entitäten, zu unterscheiden, brauche es eine stärkere Form, die reale Unterscheidung, während die numerische Unterscheidung auf gleicher Stufe stehe wie die modale. Spinoza handhabt diese Problemstellung wie folgt: Er verzichtet nicht eigentlich auf die scholastischen Unterscheidungsmittel, obwohl er diese kaum mehr explizit so benennt, sondern er überdenkt die Konzepte von Substanz und Attributen und deren funktionales Verhältnis neu. Auch hier muss daher erst etwas Implizites explizit gemacht werden. Bevor wir dies im Detail untersuchen, sei, um die geöffnete Klammer von Deleuze zu schließen, seine These dargelegt: »Wir können also die These von Spinoza so zusammenfassen: [. . .] Sobald wir mehrere Substanzen desselben Attributs setzen, machen wir eine numerische Unterscheidung zu einer realen Unterscheidung, setzen jedoch die reale mit der modalen gleich, und wir behandeln die Modi wie Substanzen.« 4 Wie wendet nun Spinoza die Gefahr der erwähnten Doppelungen und Überlappungen ab? In Lehrsatz 1p5 hält er fest: »In der Natur der Dinge kann es nicht zwei oder mehrere Substanzen von gleicher Beschaffenheit [natura] oder von gleichem Attribut geben.« Der Beweis benutzt den vorangehenden Lehrsatz 1p4, nach dem eine Unterscheidung von Substanzen entweder durch Attribute oder durch Modi erfolgen muss. Die Idee ist einfach: Wenn es mehrere Substanzen in einem Attribut gäbe, wie könnte man sie dann unterscheiden (z. B. mehrere Wachsstücke in der res extensa oder mehrere denkende Menschen in der res cogitans)? Die traditionelle Weise, Substanzen durch Attribute zu unterscheiden, entfällt, da qua Annahme nur ein Attribut betrachtet wird. So bleiben zur Unterscheidung nur modale Charakteristika (distinctio modalis), diese aber sind nicht ›stark‹ genug. Letzteres folgt aus Lehrsatz 1p1: »Eine Substanz geht ihrer Natur nach ihren Affektionen voraus.« Das heißt, man kann den Begriff Modus ohne Substanz nicht verstehen, denn ein Modus ist »in einem anderen« (1def5) und nur die Substanz ist »in sich«. 5 Curley umschreibt den hier skizzierten Beweis von 1p5 so: »If a distinction between two bodies cannot be based on their modes, because the modes are too peripheral, or on their attributes, because they have the same attribute, and if two extended substances, to be two distinct substances, must be distinguishable either by their Deleuze 1993b, S. 33. Ebd., S. 37. 5 Vgl. dazu auch Macherey 1992, S. 62: »Il est clair en effet que la substance, en raison de son infinité, n’est d’aucun temps, et son existence ne peut donc être mesurée en termes de succession. Si les modes viennent « après » la substance, c’est donc bien au sens d’un ordre de dépendance, celui précisément qui lie la cause à ses effets.« 3 4

Das Problem mehrerer Substanzen gleichen Attributs

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modes or their attributes, then we cannot conceive of two substances which share the attribute of extension. If there is any extended substance at all, there is only one.« 6 Damit ist als Zwischenresultat erreicht, dass pro Attribut nur eine Substanz in Frage kommt. Die Mehrdeutigkeit, wie innerhalb eines Attributs mehrere Substanzen zu unterscheiden wären, wurde so eliminiert. Das lässt aber offen, ob es insgesamt mehrere Substanzen geben kann und ob diese Substanzen ihrerseits mehrere Attribute haben. Ersteres auszuschließen und letzteres dahingehend zu bejahen, dass es sogar unendlich viele Attribute gibt, ist Aufgabe der Lehrsätze 1p6-14. Auch für sie wird 1p5 eine wichtige Rolle spielen. Deleuze hat, an obige Überlegungen anknüpfend, diese zweite Etappe in E1 so motiviert: Wenn Spinoza bei 1p5 stehenbliebe, also bei der Behauptung, dass es nur eine Substanz pro Attribut gäbe, so wären damit noch ebensoviele Substanzen wie Attribute möglich. Er formuliert deshalb die Aufgabe von 1p6-14 wie folgt: »Sobald wir so viele Substanzen setzen, wie es Attribute gibt, machen wir die reale Unterscheidung zu einer numerischen Unterscheidung, wir setzen die reale Unterscheidung nicht allein mit einer modalen, sondern zudem noch mit einer rationalen Unterscheidung gleich.« 7 Erst nach beiden Etappen, 1p1-1p5 und 1p6-1p14, kann man sagen: »Die numerische Unterscheidung ist niemals real; umgekehrt ist die reale Unterscheidung niemals eine numerische.« 8 Auch Deleuze begründet das Vorgehen Spinozas mit einer konsequent zu Ende gedachten Unterscheidungstechnik, d. h. mit Unterscheidungen, die auch zu eindeutig unterschiedenen Bereichen führen. Die zweite Behauptung Spinozas, dass die Substanz unendlich viele Attribute hat, ergibt sich aus der Kombination von 1def6: »[Gott ist] eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht«, und 1p14: »Außer Gott kann es keine Substanz geben.« Zusätzlich motiviert wird diese Behauptung durch 1p9: »Je mehr Realität oder Sein ein jedes Ding hat, umso mehr Attribute kommen ihm zu.« Die höchste Realität kann aber nur Gott haben. 9 Weiter führt das Scholium 1p10s aus: »Weit entfernt, daß es widersinnig wäre, ein und derselben Substanz mehrere Attribute zuzuschreiben, ist im Gegenteil der Sache nach nichts klarer, als daß jedes Seiende unter irgendeinem Attribut begriffen werden muß und daß, je mehr es Sein oder Realität hat, es umso Curley 1988, S. 18. Deleuze 1993b, S. 37. 8 Ebd., S. 35. Dieser Schluß wird im folgenden zu präzisieren sein. 9 Der Beweis von 1p9 appelliert lediglich an 1def4: »Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmachend versteht.« Auffällig ist, dass das semantische Äquivalent von ›Realität‹ und ›Sein‹ nicht mit der sonst üblichen Wendung sive formuliert wird, sondern mit aut. 1p9 wird später in der Ethica nicht mehr verwendet, stellt also ein loses Ende dar. 6

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mehr Attribute hat [vgl. 1p9], die sowohl Notwendigkeit, also Ewigkeit, als auch Unendlichkeit ausdrücken. Folglich ist auch nichts klarer, als daß ein unbedingt unendliches Seiendes zwingend als ein Seiendes zu definieren ist (wie wir es in Definition 6 getan haben), das aus unendlich vielen Attributen besteht.« Hier wird die Definition im Nachhinein gerechtfertigt, was man im Zusammenhang mit Deleuzes Beobachtung sehen kann, dass sich eine Realdefinition inhaltlich ausweisen muss. Diese beiden Errungenschaften – nur eine Substanz pro Attribut und unendlich viele Attribute der letztlich einen Substanz – sind Spinozas Antwort auf die eingangs anhand des Wachsstücks geschilderte cartesische Problemlage. In einer etwas freieren Terminologie könnte man eine solche Substanz als Mannigfaltigkeit mit einer unendlich vielfältigen inneren Struktur beschreiben. Sie umfasst als Einheit eine größtmögliche Vielheit. »[G]erade die Selbständigkeit der Substanz gestattet ihr, Attribute zu haben, die ganz verschieden voneinander sind oder gar im Gegensatz zueinander stehen; diese Möglichkeit kam für die traditionelle Substanz nicht in Frage, die z. B. nicht gleichzeitig rote und grüne Akzidentien haben konnte. Die Selbständigkeit von Spinozas Substanz wird somit zur Voraussetzung ihres inneren Reichtums, ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit und ihrer Multidimensionalität.« 10

Kondylis 1990, S. 227. Hier erwähnt sei auch eine Konsistenzbedingung des Substanzmonismus und der Immanenz, die sich aus dem Scholium 1p8s2 ergibt: »Von hier aus können wir noch in anderer Weise folgern, daß es nur eine einzige [Substanz] derselben Natur [d. h. desselben Attributs] gibt. [. . .] 1. Die wahre Definition eines jeden Dinges schließt nichts anderes ein als die Natur des definierten Dinges, noch drückt sie etwas anderes aus. Daraus folgt: 2. Keine Definition schließt eine bestimmte Anzahl von Individuen ein, noch drückt sie sie aus, weil sie eben nichts anderes ausdrückt als die Natur des definierten Dinges. [. . .] 3. Es ist hervorzuheben, daß es für jedes existierende Ding eine bestimmte Ursache geben muß, derentwegen es existiert. 4. Schließlich ist hervorzuheben, daß diese Ursache, derentwegen ein Ding existiert, entweder in der Natur selbst des existierenden Dinges enthalten sein muß [. . .], oder daß sie außerhalb von ihr liegen muß.« Nehmen wir für dieses Ding nun die Substanz, so besagt das Scholium, dass sich aus deren Definition (1def3) nichts über eine Anzahl folgern lässt (1. und 2.). Gäbe es aber mehrere Substanzen, müsste ein Grund dafür angegeben werden (3.), und dieser Grund müsste außerhalb der Substanz liegen (4.). »Deshalb ist uneingeschränkt zu folgern, daß jedes Ding, dessen Natur so beschaffen ist, daß mehrere Individuen [dieser Natur] existieren können, zwangsläufig eine äußere Ursache seines Existierens haben muß.« (1p8s2) Eine numerische Unterscheidung verweist mit anderen Worten auf einen externen Ursprung: »Zwei oder mehrere numerisch unterschiedliche Dinge setzen also mehr voraus als ihren Begriff. Aus diesem Grund könnten die Substanzen numerisch unterschiedlich sein, nur indem sie auf eine äußere Kausalität verweisen, die sie hervorzubringen vermag.« Deleuze 1993b, S. 33. In einer immanenten Konzeption gibt es aber keine solche äußere Kausalität, es kann folglich auch nicht mehrere Substanzen geben. 10

Leibniz’ Einwand und die Unabhängigkeit der Attribute

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5.2 Leibniz’ Einwand und die Unabhängigkeit der Attribute

Wie unverbrüchlich ist aber die These von 1p5, dass es pro Attribut nur eine Substanz geben kann? Ihr Bestehen ist wichtig, denn sie ist nicht nur ein Pfeiler in der eben genannten Beweisführung, sondern wird explizit auch im Beweis von 1p14 zum Substanzmonismus verwendet. Die Frage stellt sich auch aufgrund eines Einwands von Leibniz, der in diesem Abschnitt untersucht werden soll. Stellen wir uns eine Substanz S1 mit Attributen A1 , A2 und eine Substanz S2 mit Attributen A2 , A3 vor. Diese Substanzen hätten also ein gemeinsames Attribut A2 und könnten gleichzeitig durch die nicht gemeinsamen Attribute A1 und A3 auseinandergehalten werden. Damit ist man berechtigt, von zwei Substanzen zu sprechen, und diese zwei Substanzen hätten dennoch, entgegen der Behauptung von 1p5, ein geteiltes Attribut. 11 Wie kann man auf diesen Einwand reagieren? Nach dem Leibniz'schen Szenario genügt das Attribut A2 nicht, um die jeweilige Substanz vollständig zu bestimmen, denn sonst bräuchte es nicht noch A1 und A3 . Wenn man nun zeigen könnte, dass jede Substanz schon durch ein einzelnes Attribut restlos bestimmt ist, wären A1 und A3 überflüssig und die Voraussetzung für den Einwand entfiele. Es wären immer noch mehrere Attribute (selbst unendlich viele) möglich, aber jedes einzelne würde schon hinreichen. Genau diesen Fall scheint Spinoza in 1p10s vor Augen zu haben, wenn er sagt: »jedes einzelne [Attribut] drückt vielmehr die Realität oder das Sein von Substanz aus.« Eine solche Lesart wird auch von Bartuschat unterstützt, demzufolge die Substanz »sich in jedem von ihnen [den Attributen] ungeteilt und folglich unverkürzt manifestiert.« 12 Dagegen hat sich Kondylis ausgesprochen: »Jedes einzelne Attribut drückt nun nicht die ganze Substanz aus, die nur in der Unendlichkeit ihrer Attribute als solche existieren kann, und deshalb meint Spinoza, menschlicher Intellekt sei nicht imstande, diese ganze Unendlichkeit zu erfassen, und daher erfasse er auch nicht die Substanz an sich und als solche, sondern als dieses oder jenes Attribut.« 13 Für letzteres spricht, dass es beispielsweise unklar ist, wie sich an einem einzelnen Attribut zeigen soll, dass es unendlich viele Attribute gibt, was ja das Wesen der Substanz ist. Eine Variante der ersten Lesart schlägt Gartenberg vor: »an attribute is 11 Leibniz formuliert dies wie folgt: »I reply that there seems to be a concealed fallacy here. For two substances can be distinguished by their attributes and still have some common attribute, provided they also have others peculiar to themselves in addition. For example, A may have the attributes c and d, and B the attributes d and e.« Leibniz 1969, S. 198 f., »On the Ethics of Benedict de Spinoza« (1678). 12 Bartuschat 2006, S. 70. Ebenso Della Rocca: »each attribute constitutes the essence of substance.« Della Rocca 2008, S. 49. 13 Kondylis 1990, S. 227.

Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

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sufficient to identify (as opposed to characterize) substance, [. . .] by exhibiting or expressing its ›necessity‹, ›eternity‹, ›infinity‹, ›being‹, and ›reality‹.« 14 Wie lässt sich diese Debatte entscheiden?

Paradox und Ausdruck

Die hier vorgeschlagene Lösung wird auf eine Paradoxie im Verhältnis von Substanz und Attributen führen. Sie besteht darin, die Situation, dass ein einziges Attribut enthält, was es eigentlich nicht enthalten kann, zunächst anzunehmen, dann aber mithilfe der Ausdrucksrelation eine Verbindung zwischen Substanz und Attributen herzustellen, die dies plausibel macht. Dazu werden wir die Paradoxie in ihren verschiedenen Aspekten genauer ausbuchstabieren. Eine einfache Lösung gäbe es, wenn alle Attribute auf ein einzelnes reduzierbar wären. Dadurch würde Leibniz' Einwand ebenfalls entkräftet, weil dann A1 und A3 nicht mehr eigenständig wären und folglich nicht zwei Substanzen darstellen könnten. Dies schließt Spinoza jedoch mit Lehrsatz 1p10 aus: »Jedes Attribut ein und derselben Substanz muß durch sich selbst begriffen werden.« 15 Warum dies so ist, wird durch den Beweis 1p10dem nur zum Teil einsichtig. Er besagt, dass i) eine Substanz in sich ist und durch sich begriffen wird (1def3). Da die Teile einer logischen Konjunktion je für sich wahr sind, muss auch gelten, dass ii) eine Substanz durch sich begriffen wird. (Dieser Schritt ist als Enthymem zu ergänzen.) Weil nun iii) ein Attribut ein Wesenszug der Substanz ist (1def4), muss es ebenfalls durch sich begriffen werden. Plausibler wird die wechselseitige Unabhängigkeit der Attribute durch ein Argument von Della Rocca. Er nimmt im Sinne eines Widerspruchsbeweises an, dass die Attribute aufeinander reduzibel sind. Verlangt man nun gemäß dem PSR, dass die Substanz begreifbar ist, und konzipiert man diese Begreifbarkeit durch Attribute, dann muss es mindestens ein ›selbsterklärendes‹ Attribut geben. Denn würden sich Attribute nur durch andere Attribute erklären lassen, gäbe es einen infiniten Regress. Weil das hypothetische selbsterklärende Attribut aber nicht irgendwie ausgezeichnet ist, muss man eine konzeptionelle Geschlossenheit von jedem Attribut annehmen. 16 Jedes Attribut ist unabhängig von jedem anderen zu begreifen, wie 1p10 behauptet. Dies belegt auch eine Stelle in Ep. 2 an Oldenburg: »Dabei ist zu bemerken, daß ich unter Attribut alles das verstehe, was durch sich und in sich begriffen wird, so daß sein Begriff nicht den Begriff 14 15 16

Gartenberg 2017, S. 11. »Unumquodque unius substantiae attributum per se concipi debet.« Della Rocca 2006, S. 21 u. 17.

Leibniz’ Einwand und die Unabhängigkeit der Attribute

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eines anderen Dinges in sich schließt. So wird z. B. die Ausdehnung durch sich und in sich begriffen; dagegen die Bewegung nicht, denn sie wird in einem anderen begriffen und ihr Begriff schließt die Ausdehnung in sich.« Jedes Attribut ist in diesem Sinne ein Letztbegriff, dass andere Begriffe, die zu diesem Attribut ›gehören‹, durch es erklärt werden müssen. Folgt diese Unabhängigkeit aber nicht schon daraus, dass Spinoza in 1p2&3 behauptet, dass Dinge mit verschiedenen Attributen kausal unabhängig sind? Lehrsatz 1p2 lautet: »Zwei Substanzen, die verschiedene Attribute haben, haben nichts miteinander gemein«, und 1p3: »Von Dingen, die nichts miteinander gemein haben, kann das eine nicht die Ursache des anderen sein.« Eine kausale Interaktion unter Attributen ist somit ausgeschlossen: Ein Gedanke kann nicht einen Körperzustand beeinflussen (in heutigen Debatten ›mental causation‹) und ein Körperzustand kann nicht einen Gedanken hervorrufen. Dieses Kausalverbot ist gemäß Della Rocca aber nicht hinreichend für die begriffliche Unabhängigkeit der Attribute. »Conceptual connections are clearly, for Spinoza, more fundamental than causal connections«. 17 Nach all dem scheint also das Argument der begrifflichen Unabhängigkeit gegen den Leibniz'schen Einwand zu greifen und 1p5 wieder ins Recht gesetzt. Dadurch aber drängt sich das o. g. Paradox auf. Bevor wir diese Spur weiterverfolgen, sei erwähnt, dass mittels 1p10 die cartesische Philosophie nochmals konsequent weiterführt wird. Denn wenn Spinoza Substanz als das schlechthin Unabhängige denkt, werden res cogitans und res extensa als Substanzen neben der göttlichen Substanz überflüssig. Stattdessen wird ihnen eine neue Rolle als reine Attribute zugewiesen. Attribute, die bei Descartes die Funktion hatten, Substanzen zu unterscheiden, werden nun gleichsam in die eine Substanz eingezogen. 18 Die mögliche Irritation von Cartesianern dabei nimmt Spinoza in 1p10s vorweg: »Wenn jetzt jemand fragt, an welchem Merkmal wir dann noch die Verschiedenheit von Substanzen [signum diversitatis substantiarum] erkennen könnten, so möge er die folgenden Lehrsätze lesen, die zeigen, daß in der Natur nur eine einzige Substanz existiert.« 19 Wenn nur sie im Vollsinne Substanz sein kann, weil nur sie sich, anders als die cartesischen Substanzen, selbst ins Sein bringt, dann zwingt dies also zur Trans17 Ebd., S. 44. Die Untersuchung über die logischen Verhältnisse von ›begreifen‹ und ›verursachen‹ in Kap. 7 wird dies erweisen. 18 Noch in der KV galten sie dagegen als Substanzen: »Was die Attribute betrifft, aus denen Gott besteht, sie sind nichts weiter als unendliche Substanzen, deren jede unendlich vollkommen sein muß.« (KV, Teil I, Kap. 7, [1], S. 43, Fussnote 14) 19 Die Behauptung, »zwei real distinkte Attribute könnten einer Substanz gemeinsam zukommen, ohne von einer komplexen Substanz zu reden, mußte einem Cartesianer befremdlich erscheinen.« Schnepf 1996, S. 252.

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Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

formation von res cogitans und res extensa in Attribute jener einen Substanz, die dann nur Ausdrücke des Selben sein können, also keine ontologischen, sondern nurmehr expressive Dualismen bilden. Während es bei Descartes noch kausale Interaktionen zwischen res cogitans und res extensa gab, übertragen sich diese aber nicht auf Spinozas Attribute. Und stärker noch verlangt er auch eine konzeptionelle Unabhängigkeit unter diesen Attributen. 20

5.3 Das Problem von Einheit und Vielheit in der Substanz

Wenn nun die Attribute in Spinozas Konzeption sowohl kausal als auch konzeptionell unabhängig sind, gleichzeitig aber wesentliche Eigenschaften der Substanz bezeichnen, stellt sich zunächst ein Problem hinsichtlich ihrer Einheit oder Vielheit. Da Spinozas Substanzbegriff mit dem Gottesbegriff zusammenfällt, lässt sich dieses Problem u. a. in theologischer Perspektive beleuchten. Debatten über die Einheit und Vielheit Gottes, seiner Wesenszüge und ihrer Manifestationen wurden insbesondere in der Scholastik lebhaft geführt. Denn Vielheit galt als Unvollkommenheit und bei all ihrem Anschein in der Welt musste doch die Einheit und Einfachheit Gottes aufrecht erhalten werden. In Thomas von Aquins Summa contra gentiles etwa finden wir: »Alles Zusammengesetzte ist, insofern es zusammengesetzt ist, der Potenz nach auflösbar, [. . .]. Was aber auflösbar ist, ist in Potenz zum Nichtsein. Das aber kommt Gott nicht zu, denn er ist durch sich seinsnotwendig.« 21 Ein weiteres Argument von Thomas lautet: »Wenn nun Gott zusammengesetzt wäre, gäbe es also für ihn jemanden, der ihn zusammengesetzt hätte. Er könnte sich nämlich nicht selbst zusammensetzen, da ja nichts Ursache seiner selbst ist. Es wäre dann ja früher als es selbst, was unmöglich ist.« 22 Wolfson liest den Anfang der Ethica gerade 20 »Despite insisting that attributes be conceptually independent, Descartes allows for causal interactions that cross the boundary between two attributes.« Della Rocca 2008, S. 40. Vgl. auch: »unlike Descartes, Spinoza also does not allow any causal relations between thought and extension. For Spinoza, it is precisely because thought and extension are conceptually separate (one can conceive of one without conceiving of the other) that thought and extension cannot causally interact.« Ebd., S. 43. 21 »Omne compositio est potentia dissolubile, quantum est ex ratione compositionis: [. . .]. Quod autem est dissolubile, est in potentia ad non esse. Quod Deo non competit: cum sit per se necesse esse.« Aquin 2001, Kap. 18, S. 68/69. 22 »Si igitur compositus esset Deus, haberet componentem: non enim ipse seipsum componere posset, quia nihil est causa sui ipsius; esset enim prius seipso, quod est impossibile.« Ebd., Kap. 18, S. 70/71. Bemerkenswert mit Blick auf Spinoza ist, dass Gott hier nicht als causa sui erscheint. Für die Einheit Gottes argumentieren auch andere Autoren wie Averroes: »It is of the nature of essential attributes that they do not introduce any plurality into the subject which supports them actually. If they do import into them some kind of plurality, it is only in the same sense that the parts of a

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vor einem solchen scholastisch-theologischen Hintergrund: »Had the Ethics been written more scholastico rabbinicoque Spinoza would have prefaced these propositions with the following words: We shall now proceed to show that just as substance is like God in its numerical unity (Props. II-VI), so it is also like God in its absolute simplicity (Props. VII-XIII).« 23 Was lässt sich daraus für die Ethica gewinnen? Was kann man mit scholastischen Konzepten spezifisch zum Problem von Einheit und Vielheit der Substanz auch außerhalb eines theologischen Kontextes sagen? Ziel dieses Abschnittes ist, das »für die Substanzontologie zentrale Problem des Verhältnisses des Einen zu dem Vielen, das Spinoza als ein internes Verhältnis der Substanz zu entwickeln sucht«, 24 zu bestimmen und dabei zu berücksichtigen, »daß die Substanz nicht eine den Attributen vorangehende Einheit ist, sondern eine Einheit in ihnen.« 25 Spinoza selbst äußert sich kaum zu dieser Frage. Eine maßgebliche Stelle findet sich zwar ebenfalls im Scholium 1p10s: »Hieraus ist offensichtlich, daß, wenn auch zwei Attribute als real unterschiedlich begriffen werden [realiter distincta concipiantur], also das eine ohne Hilfe des anderen [begreifbar ist], wir daraus gleichwohl nicht schließen können, daß sie zwei Entitäten oder zwei verschiedene Substanzen ausmachen.« Wie aber ist dies zu verstehen?

Scholastische Unterscheidungstechnik

Spinoza macht hier von einer scholastischen Unterscheidung Gebrauch, die wir schon in Kap. 3 eingeführt hatten. Eine distinctio realis nannten wir dort eine Unterscheidung, die ihren Anhalt in der Sache hat, während eine distinctio rationis durch den Verstand vorgenommen wird. In 1p10s scheint eine Kombination vorzuliegen. Weder sind die Attribute ausschließlich real verschieden noch rational verschieden, sondern werden als real verschieden begriffen. In seiner Interpretation hat Deleuze diese Formulierung dennoch mit einer realen Unterscheidung gleichgesetzt und sich damit von schwächeren Differenzierungen wie rationalen, modalen oder numerischen Unterscheidungen absetzen wollen. definition may be said to import some kind of plurality into the object defined, and that what is called by philosophers an intellectual plurality in contradistinction to an actual plurality.« Averroes, Tahafut al-Tahafut (The incoherence of the incoherence) zitiert nach Wolfson 1983, Vol. 1, S. 150, oder Suárez: Es »manifestiert sich dieselbe quidditas etwa in Werken Gottes, die sich unter dem Begriff der Gerechtigkeit verstehen lassen, als auch unter anderen Werken, die unter dem Begriff Barmherzigkeit begriffen werden.« Schnepf, Studienbuch zu Spinoza, in Erscheinung, S. 152. 23 Wolfson 1983, S. 120. 24 Bartuschat 2006, S. 69. 25 Ebd., S. 70.

Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

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Dennoch sei dadurch die Einheit der Substanz gewährleistet. »[Da] die reale Unterscheidung keine numerische ist, bilden die unterschiedlichen Attribute oder qualifizierten Substanzen eine einzige und selbe Substanz.« 26 Ein solcher Schritt sei aber, wie Perler bemerkt, voreilig: »Wenn ich meinen Geist klar und deutlich ohne meinen Körper erfasse, heißt dies nicht, daß ich ein Ding erfasse, das real von einem anderen Ding verschieden ist. Vielleicht erfasse ich nur einen geistigen Aspekt, der zusammen mit dem körperlichen Aspekt in einem einzigen Ding existiert. Was sich getrennt voneinander auffassen läßt, ist nicht unbedingt real [. . .] verschieden.« 27 Auch Schnepf hat eingewendet, dass der von Deleuze zur Stützung seiner Behauptung »angeführte Scotustext [nur] besagt, daß eine Identität der realitas keine numerische Identität garantiert – anders gesprochen, daß es mehrere Exemplare derselben Quiddität geben kann. Daraus folgt nicht, daß Realitäten selbst nicht auch gezählt und in diesem Sinn mehrere sein können«. 28 Man muss also das Argument von Deleuze dahingehend präzisieren, dass die reale Unterscheidung keine ausschließlich numerische sein soll. Denn nur eine ausschließlich numerische Unterscheidung würde die Einheit der Substanz wirklich bedrohen. Zudem lässt sich ja nicht bestreiten, dass die Attribute auch zählbar sind. Allerdings ist das noch nicht das ganze Argument von Deleuze. Er bringt nämlich einen weiteren Typ ins Spiel: die formale Unterscheidung (distinctio formalis). Sie wurde v. a. durch Duns Scotus prominent, um Washeiten (quidditates) an einem Ding zu unterscheiden. (Ein einfaches Beispiel ist die Unterscheidung zwischen zwei weißen Quadraten und einem schwarzen plus einem weißen Quadrat.) Wenn es sich dabei um wesentliche Eigenschaften handelt, wäre dieser Typus auch ein Kandidat für Spinozas Attribute. So behauptet Deleuze: »Die Attribute unterscheiden sich also der ›Quiddität‹ nach, ›formal‹.« 29 Die formale Unterscheidung setzt er nun aber der realen gleich: »Die formale Unterscheidung ist nämlich eine reale Unterscheidung, weil sie die verschiedenen Realitätsschichten ausdrückt, die ein Sein bilden.« 30 Spezifisch bei Spinoza gelte »der neue Status der realen Unterscheidung: als rein qualitative, quidditive oder formale schließt die reale Unterscheidung alle Teilung Deleuze 1993b, S. 68. Vgl. auch: »Nach Spinoza kann man eine Teilung nur dann als Entsprechung einer realen Unterscheidung auffassen, wenn man diese zu einer wenigstens möglichen numerischen Unterscheidung macht, also nur, wenn man sie bereits mit der modalen Unterscheidung gleichsetzt.« Ebd., S. 35. 27 Perler 1998, S. 175 f. Für Descartes reiche es jedoch aus, ein Ding klar und deutlich zu begreifen, um dessen reale Verschiedenheit von anderen Dingen behaupten zu können. Ebd., S. 176. 28 Schnepf 1996, S. 74, Fussnote 79. 29 Deleuze 1993b, S. 60. 30 Ebd., S. 58. 26

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aus«. 31 Mit diesem Schritt scheint er jedoch über sein Ziel hinauszuschießen, die Attribute nicht bloß numerisch gegeneinander abzugrenzen, und handelt sich die genannten Schwierigkeiten ein, wo die formale Unterscheidung allein genügt hätte. Es ist erwähnenswert, dass Scotus selbst die distinctio formalis als distinctio realis minor bezeichnet hat. Der Zusatz minor kennzeichnet eine Verfeinerung und Abstufung, die sowohl dem Aspekt der Sachhaltigkeit als auch dem des Verstandes Rechnung trägt. 32 Insgesamt scheint es, dass die distinctio formalis Spinozas Wendung »wenn auch zwei Attribute als real unterschiedlich begriffen werden« in 1p10s am nächsten kommt. Mit ihr lässt sich eine qualitative Vielheit in einer Einheit denken, ohne diese Einheit in Frage zu stellen. Wenn man davon ausgeht, dass die Attribute je für sich begriffen werden (1p10) und man nach einem Unterschied zwischen ihnen sucht, der auch 1p10s berücksichtigt, und wenn dieser Unterschied qualitativer und nicht bloß numerischer Art sein soll, wird dies durch die distinctio formalis gut erfüllt. Und so schließt im Prinzip auch Deleuze: »Die formale Unterscheidung erst gibt einen absolut kohärenten Begriff der Einheit der Substanz und der Pluralität der Attribute«. 33

Subjektive und objektive Auffassung der Attribute

In der Nachfolge von Kant und Hegel trat eine andere Unterscheidung in den Vordergrund: diejenige zwischen ›subjektiv‹ und ›objektiv‹. Mit ihr kann man nochmals und aus anderem Einfallswinkel auf das Problem von Einheit und Vielheit zurückkommen. Bis zu einem gewissen Grad verläuft sie sogar parallel zur obigen Unterscheidung von distinctio rationis und distinctio realis. Als subjektiv oder objektiv kann eine Auffassung der Attribute je nach Beteiligung eines Erkenntnissubjekts oder eines Erkenntnisobjekts genannt werden (in letzterem Fall die ›Substanz an sich‹.) Für die erste Option hat sich Wolfson ausgesprochen mit Berufung auf 1def4: »Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand [intellectus] an einer Substanz als als deren Essenz ausmachend erkennt.« Auch 1p4dem legt nahe, dass Attribute nicht außerhalb des VerstanEbd., S. 38. »Real und dennoch nicht numerisch, das ist der Status der formalen Unterscheidung.« Ebd., S. 59. 32 Die Abstufungen variieren in der Scholastik von Autor zu Autor. Gerade umgekehrt ist beispielsweise für Suárez die distinctio formalis ein Typ der distinctio rationis, nämlich eine distinctio rationis ratiocinatae. Vgl. Schnepf, Studienbuch zu Spinoza, in Erscheinung. 33 Deleuze 1993b, S. 60. Dass Spinoza selbst die distinctio formalis nicht namentlich erwähnt, kann damit zu tun haben, dass er gewisse Traditionslinien nicht aufnehmen wollte, um die mit ihnen einhergehenden Debatten nicht wieder heraufzubeschwören. Dasselbe versucht er auf methodischer Ebene durch den mos geometricus anstelle einer syllogistischen Darstellung. 31

Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

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des existieren, denn »außerhalb des Verstandes gibt es nichts als Substanzen und deren Affektionen.« Eine Deutung von Attributen als bloßen Verstandesleistungen ist allerdings nicht ohne Schwierigkeiten, wie Rice bemerkt hat: »The suggestion that mind or intellect ›confers‹ specific forms or structures on an otherwise (or at least partially) unstructured manifold has a kantian ring, and the overall structure of Spinoza's treatment of cognition in general suggests that he would have rejected it outright.« 34 Auf der anderen Seite steht deshalb eine objektive Auffassung der Attribute, beispielsweise von Kondylis: »Es muß indes bemerkt werden, daß die Attribute keineswegs die subjektiven Betrachtungsweisen einer Substanz darstellen, die an sich keine attributiven Bestimmungen kennt – sie sind also keine kantischen Kategorien, denen gegenüber ein rätselhaftes Ding an sich steht, sondern sie konstituieren objektiv die Substanz selbst.« 35 Ebenso meint Kaufmann: »There is here no ingredient of subjective invention.« 36 »[T]here are not the substance and its manifestations on the one hand, and an additional understanding by a subject on the other. There is nothing outside the substance.« 37 Auch Deleuze vertritt eine objektive Auffassung mit seinem Beharren auf der realen Unterscheidung, Attribute und ihre Differenz als wirklich anzusehen: »Es gibt in der Substanz eine Einheit des Verschiedenen, in den Attributen eine wirkliche Verschiedenheit des Einen: die reale Unterscheidung.« 38 In Bezug auf das Problem von Einheit und Vielheit bietet die subjektive Auffassung den Vorteil, dass sie eine Einheit in der Substanz eher bestehen lässt, denn Vielheit liegt dann bloß an der Betrachtungsweise. So schließt Wolfson: »this infinity of attributes does not imply that substance is in any sense divisible.« 39 »Simplicity in this sense, as a denial of any kind of internal plurality, physical as well as metaphysical and logical, is maintained by Spinoza with regard to substance.« 40 Der Vorteil der Bewahrung der Einheit wird aber durch Rice 2013, S. 39 f. Kondylis 1990, S. 227. 36 Kaufmann 1940, S. 94. 37 Ebd., S. 91. Allerdings scheint dies im Widerspruch mit einer späteren Stelle seines Aufsatzes zu stehen, wo er von einer Verstandesunterscheidung spricht: »One attribute is differentiated from the other in the same way as it is from substance, viz., by reason – non nisi ratione distinguitur.« Ebd., S. 94. Historisch gesehen hat eine objektive Auffassung auch Trendelenburg vertreten und sie mit der Notwendigkeit und Ewigkeit der Attribute begründet. Vgl. Trendelenburg 1850, S. 10. Neben den erwähnten Autoren hält auch Bennett die Unterscheidung für objektiv: »I say that Nature really has extension and thought, which really are distinct from one another, but that they are not really fundamental properties, although they must be perceived as such by any intellect.« Bennett 1984, S. 147. 38 Deleuze 1993b, S. 72. 39 Wolfson 1983, S. 121. 40 Ebd., S. 115. 34 35

Das Paradox von Substanz und Attributen

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den Nachteil erkauft, dass die Attribute dann weniger das ›Ansich‹ der Substanz ausdrücken. Umgekehrt vermag die objektive Interpretation dem Ansich besser Rechnung zu tragen, riskiert aber die Einheit der Substanz. Freilich stammen weder die Termini subjektiv noch objektiv von Spinoza, sie sind aber in der modernen Rezeption gebräuchlich. Spinozas Formulierung »wenn auch zwei Attribute als real unterschiedlich begriffen werden« in 1p10s scheint gerade einen Zwischenweg einzuschlagen, der die Einheit ebenfalls wahrt, so Schnepf: »Wenn zwei Attributsbegriffe jeweils per-se begriffen werden können und sie wegen dieser wechselseitigen Unabhängigkeit als realiter distincta zu begreifen sind, so sagt das daher nichts darüber aus, ob der substantielle Kern, dessen Attribute sie sind, seinerseits in zwei distinkte Teile zerfällt oder aber als ein einheitlicher anzusehen ist. Die Identität des mitbedeuteten, aber im Attributsbegriff nicht eigens enthaltenen, gemeinsamen Fundaments der Attribute kann also unbeschadet dessen, daß sie als separate Attribut-Substanz-Einheiten thematisiert und als real distinkt angesehen werden können, bestehen.« 41 Die Diskussion um die verschiedenen Unterscheidungsmöglichkeiten hier zeigt, dass mit der Alternative subjektiv / objektiv nicht unbedingt ein Fortschritt erzielt wird, sondern man sich eher von Spinoza entfernt. An dieser Stelle ist nun die Spur des Paradoxes von Substanz und Attributen wieder aufzunehmen, das sich nach der Abwehr des Leibniz'schen Einwands aufdrängte.

5.4 Das Paradox von Substanz und Attributen

Paradox erschien – in vorläufiger Formulierung –, dass ein einziges Attribut die ganze Substanz ausdrücken muss, wenn Leibniz' Einwand und die konzeptionelle Unabhängigkeit in 1p10 ernstgenommen wird. Versuchen wir nun, dies genauer zu artikulieren. i) Nach 1p10 wird jedes Attribut im strengen Sinne durch sich selbst begriffen. Nach 1def4 ist ein Attribut dasjenige, was für den Verstand die Essenz der Substanz ausmacht. Zu dieser Essenz gehört nach 1def6, dass die Substanz aus unendlich vielen Attributen besteht (denn eine Definition beinhaltet nichts anderes als die Essenz des definierten Dinges 42). Also muss jedes einzelne Schnepf 1996, S. 257. Den Begriff Essenz definiert Spinoza in 2def2: »Zur Essenz irgendeines Dinges gehört meinem Verständnis nach das, mit dessen Gegebensein das Ding notwendigerweise gesetzt und mit dessen Aufhebung das Ding notwendigerweise aufgehoben wird; anders formuliert dasjenige, ohne das das Ding weder sein noch begriffen werden kann, und das seinerseits ohne das Ding weder sein noch begriffen werden kann.« 41 42

Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

102

Attribut auch ein Wissen von dieser Unendlichkeit in sich schließen, obwohl es ja für sich begriffen werden sollte. ii) Wie kann man wissen, dass verschiedene Attribute (wie Denken und Ausdehnung) unter einen gemeinsamen Attributbegriff fallen, wenn sie für sich begriffen werden? (Wie kann man wissen, dass Blau und Rot beides Farben sind?) Ein konträrer Gegensatz unter den Attributen kann nicht auf der Ebene der Attribute zustandekommen, zumal es unter ihnen keine konzeptionelle und kausale Relation gibt. Um aber sagen zu können, dass Denken und Ausdehnung beides Attribute sind, muss man ihnen wenigstens eine Gemeinsamkeit zuschreiben bzw. ein tertium comparationis. So muss man von jedem Attribut annehmen, dass es ein Attribut der Substanz ist, und dazu wiederum schon wissen, was die Substanz ist oder wie sie sich manifestiert. Dies aber weiß man nur durch die Attribute. iii) Man kann diesen Punkt noch stärker als Identitätsparadox formulieren. Jedes Attribut ist ein Attribut derselben Substanz, was auch wieder nur erschließbar ist, wenn man das Wesen der Substanz kennt. 43 Der erste Schritt im Umgang mit Paradoxien ist, gemäß Kap. 2, die Kontexte und impliziten Prämissen zu erörtern, die hier hineinspielen. Eine erste Prämisse ist, dass wir hier von getrennten Dingen ausgehen und diese im Nachhinein aufeinander beziehen. Die Ethica geht jedoch gerade umgekehrt vor und schält gewissermaßen einzelne Schichten aus einem gegebenen Ganzen heraus. Kondylis geht sogar soweit zu behaupten: »Substanz und Attribute sind gleichzeitig da und bedingen sich gegenseitig in ihrer Existenz: wie die Substanz die ganze Unendlichkeit ihrer Attribute benötigt, um selbst unendlich zu sein, so sind auch die Attribute selbst nur kraft der Unendlichkeit der Substanz unendlich.« 44 Während unbestritten ist, dass die Substanz nicht ohne Attribute begriffen werden kann, ist die These, dass die Substanz durch Attribute bedingt ist, kontrovers. »Eine erste Folge von Spinozas radikaler Erneuerung des Substanzbegriffes ist die ganz neue Erfassung des Begriffes vom Attribut. Wenn die Theologen oder Descartes die Vollkommenheiten Gottes aufzählten, drückten die ihm zugeschriebenen Attribute Eigenschaften oder Qualitäten aus, die an sich keine Substanzen konstituieren konnten. Im Gegenteil haben Spinozas Attribute einen rein ontologischen Charakter, so daß die Substanz mit ihren Attributen identisch ist bzw. aus ihnen besteht. Das heißt freilich nicht, daß die Attribute noch vor der Substanz da sind, gleichsam als verfügbare Teile, aus deren Summierung das Ganze entsteht; aber auch die Substanz existiert Ähnlich hat auch Gartenberg gefragt: »How can each attribute be conceived through itself while being identical to substance, which in turn is conceived through itself?« Gartenberg 2017, S. 8. 44 Kondylis 1990, S. 227. 43

Das Paradox von Substanz und Attributen

103

nicht vor ihren Attributen und unabhängig von ihnen.« 45 Auch Curley sieht eine Übereinstimmung, weil die Attribute die volle Substanzdefinition erfüllen würden: »they exist in themselves and are conceived through themselves.« 46 Zwei Stellen in der Ethica, die dies nahelegen, sind 1p29s: Es ergibt sich, »daß wir unter ›Natura naturans‹ zu verstehen haben, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, also solche Attribute von Substanz, die eine ewige und unendliche Essenz ausdrücken« [Hvg. Vf.], und zweitens 1p4dem (wie schon zugunsten der objektiven Auffassung im vorigen Abschnitt angeführt): »Also gibt es außerhalb des Verstandes nichts, wodurch mehrere Dinge sich voneinander unterscheiden können, außer Substanzen bzw. deren Attribute (was nach Definition 4 dasselbe ist) und Affektionen von Substanzen.« (Hvg. Vf.) Dieses Zusammenfallen mildert im Prinzip die unter i)-iii) aufgezählten Schwierigkeiten; wir müssen aber zusehen, wie dann Substanz und Attribute auch unterschieden bzw. auseinanderdividiert werden können. Eine zweite implizite Prämisse ist die Annahme, dass etwas vorhanden ist – nämlich Substanz –, was überhaupt erkennbar wäre. Diese Prämisse verweist auf das Problem, dass etwas zu Erkennendes nur in einer jeweiligen Erkenntnis gegeben ist. Kant hat hierzu eine Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung getroffen und die möglichen Gegenstände der Erfahrung in die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung überführt. Aus kantischer Perspektive wäre es unzulässig, die spinozistische Substanz wie ein gewöhnliches Objekt der Erkenntnis zu behandeln und unkritische Aussagen über sie zu machen. Auch wenn man hier keine simple Rückprojektion vornehmen darf, so ist dieser Aspekt ebenfalls für die Lösung des Paradoxes im Auge zu behalten. Tatsächlich wird die Ausdrucksrelation gerade ein solches erkenntniskritisches Element beinhalten. In seiner Interpretation hat dagegen Gartenberg die Existenz der Substanz schlicht gesetzt, um eine erkenntnistheoretische Zirkularität zu vermeiden: »Thus, on pain of circularity, we cannot regard a substance's attributes as distinct beings or substances in their own right.« 47 Die Identität der Substanz sei ein brute fact (N. B. gegen das PSR von Della Rocca): »a substance's identity is not accounted for by any independently specifiable feature of its attributes: neither the attributes nor any relations among them bring it about that the substance is what it is.« 48 »Thus the unity of substance, for Spinoza, is basic and is not further explained by any relations between its attributes.« 49 Ebd., S. 226 f. Hvg. Vf. Curley 1988, S. 29. 47 Gartenberg 2017, S. 8. 48 Ebd., S. 3. Er stellt deshalb seinen Aufsatz Spinozistic Expression mit Anspielung auf Ex 3,14 unter das Motto »ego sum qui sum«. 49 Ebd., S. 8 f. 45 46

Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

104

Auf dieses erkenntnistheoretische Problem verweist auch Macherey: »Se faire connaître soi-même par soi-même, c'est précisément éliminer tout intermédiaire.« 50 »Si la connaissance de Dieu est immédiate, absolument première, c'est aussi parce qu'elle n'est pas à proprement parler « une » connaissance, la connaissance d'« une » chose qui serait Dieu, mais la connaissance elle-même, conçue comme l'élément dans lequel se déploie toute la vie de l'âme.« 51 Wie kann man nun vor dem Hintergrund der beiden genannten Prämissen eine Lösung des Paradoxes versuchen? Man muss dazu als erstes eine Unterscheidung zwischen Substanz und Attributen sowie zwischen Attributen untereinander einführen, mit der man spezifisch auf die Punkte i)-iii) eingehen kann. Die ›offiziellen‹ Definitionen von Substanz (1def3) und Attribut (1def4) sind dazu nur bedingt geeignet, weil sie das Problem von Einheit und Vielheit nicht berühren, das mitangesprochen ist, wenn es um mehrere Attribute derselben Substanz geht. Weiterführend könnten einige der o. g. scholastischen Unterscheidungen sein. Spinoza selbst sagt in den Cogitata Metaphysica, »daß unter Bestimmungen des Dinges gewisse Attribute zu verstehen sind, unter denen man das Wesen oder Dasein eines Dinges auffaßt, die aber doch nur dem Gesichtspunkt des Denkens nach von ihm unterschieden werden.« 52 Dies gilt auch, wenn das Ding eine Substanz ist: »das Ding als solches und für sich allein, als Substanz, affiziert uns nicht; deshalb muß es durch ein Attribut erklärt werden, von dem es selbst indessen nur dem Gesichtspunkt des Denkens nach verschieden ist.« 53 (CM, Teil 1, Kap. 3, S. 140, Hvg. Vf.) Das sind offenkundig cartesische Anleihen. 54 Auch in den Principa Philosophiae bezeichnet Descartes die Unterscheidung zwischen Substanzen und Attributen sowie diejenige zwischen Attributen als rational: »Die Unterscheidung aus Vernunft [distinctio rationis] schließlich findet entweder zwischen einer Substanz und irgendeinem von denjenigen ihrer Attribute statt, ohne das sie nicht eingesehen werden kann; oder zwischen zwei solchen Attributen derselben beliebigen Substanz.« 55 In Ep. 9 an Simon de Vries nennt Spinoza dann Substanz und Attribute: »dieselbe Sache durch zwei Namen bezeichnet«, und führt als Beispiel Jakob und Macherey 1992, S. 43. Hier noch mit Bezug auf die KV. Ebd., S. 44. 52 »dicimusque Entis affectiones esse, quaedam attributa, sub quibus uniuscujusque essentiam vel existentiam intelligimus, a qua tamen non nisi ratione distinguntur.« Hvg. Vf. 53 »ens, quatenus ens est, per se solum, ut substantia, nos non afficit, quare per aliquod attributum explicandum est, a quo tamen non, nisi ratione, distinguitur.« 54 Wir erinnern an die Aussage in den Vierten Erwiderungen in Kap. 3: »wir erkennen die Substanzen nicht unmittelbar [. . .], sondern nur dadurch, daß wir bestimmte Formen oder Attribute erfassen, die an einem Ding sein müssen, um zu existieren. Das Ding, an dem sie sind, nennen wir Substanz.« Descartes 2009, S. 230 bzw. Descartes 1996b, AT VII, S. 222. 55 Descartes 2005, I/62, S. 69. 50 51

Das Paradox von Substanz und Attributen

105

Israel an, also dieselbe Person in verschiedenen gesellschaftlichen Rollenzuteilungen. 56 Im Unterschied zu Jakob und Israel oder dem Frege'schen Beispiel von Morgenstern und Abendstern, kann im Falle der Attribute der gemeinsame Referent, die Substanz, allerdings nur durch ebendiese Attribute erkannt werden und nicht durch irgendwelche unabhängigen Eigenschaften. In der Ethica wird nun die rationale Unterscheidung zwischen den Attributen gemäß Deleuze zu einer formalen Unterscheidung. »So ist die Mannigfaltigkeit der Attribute der Einheit der Substanz strikt gleich«, aber »diese strikte Gleichheit müssen wir so verstehen, daß die Attribute formal das sind, was die Substanz ontologisch ist. Im Namen dieser Gleichheit führen die Attributsformen keinerlei numerische Unterscheidung zwischen Substanzen ein; im Gegenteil ist ihre eigene formale Unterscheidung der ganzen ontologischen Differenz der einzigen Substanz gleich.« 57 Mit der formalen Unterscheidung wird wie gesagt plausibler, wie mehrere Attribute auf dieselbe Substanz bezogen sein können, sofern jedes Attribut dann nur ein ›qualitativer Aspekt‹ der Substanz ist. Freilich sind solche Aspekte auch zählbar, aber es ist vorstellbar, dass sie nicht gleichzeitig in den Vordergrund treten – dazu sogleich unten. Die derart unterschiedenen Entitäten müssen nun aufeinander bezogen werden und ebendies geschieht vermittels des Ausdrucks. Diesen Schritt macht auch Deleuze, der damit zwar nicht eine Entparadoxierung im Blick hat, aber die an unserem Paradox beteiligten Terme in einer Weise aufeinander bezieht, die gerade dies leistet. Dabei kommt das Wesen, die Natur oder die Essenz der Substanz ins Spiel, denn eine Ausdrucksbeziehung vermittelt stets zwischen einer Essenz und einer Existenz (vgl. Kap. 4). »Wir müssen Substanz, Attribute und das Wesen unterscheiden. Die Substanz drückt sich aus, die Attribute sind Ausdrücke, das Wesen ist ausgedrückt. Solange man nur zwei Teile in der Beziehung erkennt, welche der Ausdruck darstellt, bleibt seine Idee unverständlich. Wir setzen Substanz und Attribut, Attribut und Wesen, Wesen und Substanz gleich, solange wir nicht Anwesenheit und Zwischenstellung des jeweils Dritten in Rechnung stellen.« 58 Das Charakteristikum der Ausdrucksrelation ist, dass das in ihr Ausgedrückte nicht anders als im Ausdruck präsent ist. »So zeigt sich die Originalität des Begriffs ›Ausdruck‹: das Wesen, insofern es existiert, 56 Zuerst als Betrüger, dann als Kämpfer für Gott und Begründer der zwölf Stämme. Spinoza gibt in diesem Brief auch Definitionen von Substanz und Attribut, die denen in der Ethica ähneln: »Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, d. h. dessen Begriff nicht den Begriff eines anderen Dinges in sich schließt. Dasselbe verstehe ich unter Attribut, außer daß es Attribut genannt wird in Ansehung des Verstandes, der der Substanz eine solche bestimmte Natur zuerkennt.« 57 Deleuze 1993b, S. 294. 58 Deleuze 1993b, S. 29.

Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

106

existiert nicht außerhalb des [. . .] ausdrückenden Attributs.« Mit dieser erkenntniskritischen Wendung lässt sich sowohl der ersten als auch der zweiten Prämisse des Paradoxes begegnen: Substanz und Attribute werden nicht im Nachhinein aufeinander bezogen, und es gibt kein erkennbares Ansich. Folglich ist auch kein Abgleich des Erkannten mit einer Substanz möglich, wie es die Punkte ii) und iii) fordern. »Die Substanz und die Attribute unterscheiden sich, jedoch nur, weil jedes Attribut ein bestimmtes Wesen ausdrückt.« 59 Damit wird, so Marc Rölli: »ein negationsloser, nicht-numerischer Begriff der Differenz [denkbar], um die Substanz nicht von etwas anderem, sondern in sich selbst zu unterscheiden. Diese Differenzierung vollzieht sich in den Attributen, die Spinoza nicht theologisch als Propria oder Eigenschaften Gottes auffaßt, sondern als Bestimmungen, die die Natur Gottes (in ein- und derselben ontologischen Bedeutung) zum Ausdruck bringen.« 60 Man kann sich das paradoxe Verhältnis von Substanz und Attributen in Analogie zu einem Kippbild vorstellen. Wir sehen einmal eine junge Frau, einmal eine alte Frau, aber nie beide zusammen. Der Betrachter vollzieht dabei einen Gestaltwechsel, bei dem jedes Bild unabhängig vom anderen gesehen bzw. begriffen wird. Es gibt kein Ansich, das außer den Gestalten erkennbar wäre, trotzdem nehmen wir eine Selbigkeit der Bildpunkte an. »The old and young woman's images exist as distinct attributes but not as different countable ›things‹ separate from a single image, which is both.« 61 Dies lässt sich mit den Attributen bei Spinoza parallelisieren: »There is no difference of content [of the attributes] but only a difference in the way of being contained, a difference of form, between God and his intellectual representation.« 62 Attribute bzw. Kippbilder unterscheiden sich formal voneinander, und so wie jedes Kippbild alle Bildpunkte darstellt, drückt jedes Attribut die ganze Substanz aus. Mit dem Substanzbegriff geht aber noch eine weitere Paradoxie einher.

Ebd., S. 29. Rölli 2012, S. 191. Dies scheint wie eine Vorbereitung des von Deleuze dann in DW entwickelten Differenzbegriffs. Er wird dort mit folgendem Beispiel eingeführt: »Stellen wir uns aber anstatt eines Dings, das sich von einem anderen unterscheidet, etwas vor, das sich unterscheidet – und doch unterscheidet sich das, wovon es sich unterscheidet, nicht von ihm. Der Blitz zum Beispiel unterscheidet sich vom schwarzen Himmel, kann ihn aber nicht loswerden, als ob er sich von dem unterschiede, was sich selbst nicht unterscheidet.« Deleuze 2007, S. 49. Die Differenz ist nicht der Unterschied von wahrgenommenem Blitz und an sich festgestelltem Nachthimmel bzw. von erkennbarem Attribut und an sich festgestellter Substanz, also kein zweistelliges Prädikat, sondern »diese Fassung der Bestimmung als einseitiger Unterscheidung.« Ebd., S. 49. 61 Nail 2008, S. 208. 62 Kaufmann 1940, S. 94. 59 60

Das Paradox des Substanzmonismus

107

5.5 Das Paradox des Substanzmonismus

Lehrsatz 1p14, mit dem Spinoza die Einzigkeit der Substanz behauptet, lautet explizit: »Außer Gott kann es keine Substanz geben und keine begriffen werden.« 63 Betrachten wir dazu wiederum beide Ebenen, die deduktive und die problemgeschichtliche. More geometrico wird der Satz durch einen Widerspruchsbeweis gezeigt, der wie folgt rekonstruiert werden kann: i) Man nehme an, es gäbe eine zweite Substanz S 0 neben Gott S. ii) Dann müsste S 0 durch mindestens ein Attribut erklärt werden (explicari). Spinoza begründet dies damit, dass kein Attribut verneint werden kann (1def6) und Gott notwendig existiert (1p11). (Zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung sind N. B. Gott und Substanz nicht nur nominal gleichgesetzt wie in 1def6, sondern ist auch die Realität dieser Definition durch die Existenz Gottes mit 1p11 ausgewiesen. Man könnte alternativ auch mit dem PSR die Notwendigkeit einer Erklärung einfordern.) iii) Alle möglichen Attribute sind aber schon an S vergeben, weil S als Substanz unendlich viele Attribute hat. iv) Also hätten S und S 0 ein gemeinsames Attribut, was mit Lehrsatz 1p5 – der hier zentral wird – ausgeschlossen werden kann. Damit ist gezeigt, dass außer Gott keine Substanz existiert. v) Für den zweiten Teil der Behauptung, dass auch keine solche begriffen werden kann, verwendet Spinoza nochmals eine Widerspruchsannahme: Wenn die hypothetische andere Substanz begriffen werden könnte, müsste sie auch existieren, was aber nach dem gerade bewiesenen ersten Teil nicht der Fall sein kann. In problemgeschichtlicher Hinsicht richtet sich dieser Lehrsatz gegen Descartes, der neben Gott noch res cogitans und res extensa als Substanzen anerkennt. Die Relevanz von 1p14 wurde in der Literatur immer wieder hervorgehoben, u. a. von Bartuschat: »Die elementarste, das gesamte System tragende Bestimmung ist die, daß es nur eine einzige Substanz gibt, die Gott ist [. . .], und daß mit dieser Einzigkeit eine Substanz-interne unendliche Vielfalt von Attributen und Modi verknüpft ist.« 64 Für Curley ist es die »key proposition [. . .] which is at once most distinctively Spinozistic, richest in systematic connections, and most puzzling as regards its meaning and rationale«. 65 Doch ausgerechnet mit diesem Substanzmonismus 66 ist wiederum eine Paradoxie verbunden. Denn zu sagen, etwas sei einzig, setzt voraus, dass man es »Praeter Deum nulla dari neque concipi potest substantia.« Bartuschat 2006, S. 64 f. 65 Curley 1988, S. 60. 66 Mit dem Substanzmonismus scheint Spinoza N. B. im Einklang mit dem jüdisch-christlichen Monotheismus zu sein. Insbesondere ist die Einzigkeit Gottes ein zentraler Bestandteil des täglichen Gebets in der jüdischen Tradition, dem Sch’ma Israel: ;‫ֹהינוּ יְהוָה ֶא ָחד‬ ֵ ‫ִשָׂר ֵאל יְהוָה ֱאל‬ ְ ‫שׁ ַמע י‬. ְ Das letzte 63

64

108

Das Verhältnis von Substanz und Attributen. Paradox und Ausdruck

zumindest hypothetisch mit anderen Dingen derselben Art vergleichen kann. Aber genau einen solchen Vergleich schließt die behauptete Einzigkeit aus. Verdeutlichen wir dies mit folgendem Beispiel: Wenn man von einem Ding sagt, es gäbe nur eines, unterstellt man eine Zählbarkeit unter mehreren Dingen. So besteht die Menge der natürlichen Zahlen größer als 3 und kleiner als 5 aus genau einem Element, nämlich 4. Hier zu behaupten, es gäbe nur eines, ist problemlos, weil die Zahl 4 eine Zahl unter anderen ist. Im Falle der Substanz scheint dies jedoch nicht mehr zulässig. Auf diese Inkonsistenz hat auch Della Rocca hingewiesen, sie allerdings nicht als Paradox bezeichnet. Er schlägt vor, dass man nur im uneigentlichen Sinne von »oneness of substance« sprechen könne. 67 Die von ihm gemachte Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Sprechweise (proper / improper) kann aber gerade als Entparadoxierung verstanden werden. Überdies könnte man auch diese Paradoxie in die Reihe der paradox's revenges einordnen. Denn hier wird wiederum sichtbar, was in der zuvor diskutierten Paradoxie von Substanz und Attributen hinsichtlich Einheit und Vielheit invisibilisiert wurde. Bemerkenswerterweise tritt diese Paradoxie aber nicht mehr auf der problembezogenen, sondern direkt auf der deduktiven Ebene auf. Das ist irritierend und neu und stellt die Schlüssigkeit der Deduktion in Frage. Handelt es sich hier wirklich um ein Paradox im starken Sinne? Denn schließlich formuliert Spinoza 1p14 negativ: ›es gibt keine Substanz außer . . .‹. Doch im unmittelbar folgenden Korollar 1p14c1 steht positiv: »Hieraus folgt ganz klar, 1. daß Gott einzig [unicum] ist, d. h. (nach Definition 6), daß es in der Natur nur eine Substanz gibt [non nisi unam substantiam dari].« Das Paradox des Substanzmonismus kann jedenfalls nicht durch einen Wechsel von natürlicher zu formaler Sprache oder eine bloße Rekontextualisierung gelöst werden. Es ist letztlich im Zusammenhang mit der Immanenz zu sehen, auf die wir im folgenden Kapitel eingehen werden.

Résumé

Wir können dieses Kapitel wie folgt resümieren: Spinoza versucht, gewisse Uneindeutigkeiten im cartesischen Substanz- und Attributbegriff sowie gewisse Hierarchieprobleme von Substanz- und Attributarten zu beheben, indem er zeigt, dass es nicht mehrere Substanzen gleichen Attributs geben kann. Daran Wort ‫[ ֶא ָחד‬ächad] bedeutet einzig. Wörtlich: Höre Israel, Adonai [ist] unser Gott, Adonai [ist] einzig. Die Zürcher Bibel übersetzt mit »Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.« Dtn 6,4. 67 Della Rocca 2019.

Das Paradox des Substanzmonismus

109

hat Leibniz bemängelt, dass dies in bestimmten Fällen dennoch denkbar sei. Seinen Einwand galt es also zu entkräften, denn er würde eine wichtige Prämisse (1p5) zum Beweis des Substanzmonismus (1p14) zunichte machen. Der Einwand wäre dann gegenstandslos, wenn jedes einzelne Attribut schon hinreichen würde, um die ganze Substanz zu manifestieren. In der Tat finden sich gute Argumente dafür, allerdings um den Preis einer paradoxen Situation. Denn wie soll sich an einem für sich begreifbaren Attribut (1p10) zeigen, dass es ingesamt unendlich viele Attribute gibt und dass jedes von ihnen ein Attribut ein und derselben Substanz ist? Als Lösung wurde mit Deleuze vorgeschlagen, dass Attribute formal unterschiedene Aspekte des Wesens der Substanz ausdrücken, Aspekte, die in Analogie zu einem Kippbild verstanden werden können. Weiter wurde das Paradox des Substanzmonismus behandelt, das auftritt, weil die Behauptung der Einzigkeit sich selbst die Grundlage entzieht. Der hier zur Anwendung gekommene methodische Dreischrittt Problem-Paradox-Lösung wird in den folgenden Kapiteln wiederholt – als nächstes im Verhältnis von Substanz und Modi.

6 Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

6.1 Modi und das Problem endlicher Dinge

Wenn es nurmehr eine einzige Substanz gibt, was sind dann für Spinoza einzelne ›Dinge‹ wie Bücher, Bäume oder Menschen und einzelne ›Ereignisse‹ wie Wanderungen, Gespräche oder Zusammenkünfte? So verschieden diese Dinge und Ereignisse erscheinen, so einheitlich sind sie bei Spinoza konzipiert. Dabei kommt einem entgegen, dass das lateinische res, welches in der Ethica zur Bezeichnung einzelner und besonderer Dinge (res singulares, res particulares) dient, neben ›Ding‹ auch ›Sache‹ oder ›Angelegenheit‹ heißen kann. Im täglichen Gebrauch bereitet es uns erstaunlich wenig Mühe, innerhalb jener Vielheit von Erscheinungen handhabbare Einheiten zu bilden und praktische Abgrenzungen vorzunehmen. In theoretischer Hinsicht aber ist dies schwieriger, gerade bei Spinoza, der, wie in Kap. 3 gesehen, dezidiert von einer Einzeldingontologie nach aristotelischem Vorbild abgerückt ist. Wie beim Substanzund Attributbegriff greift Spinoza auch hier zunächst ein traditionelles Konzept auf – dasjenige des Modus –, denkt es aber auf seine Weise konsequent weiter. Mit dem Modusbegriff ist ein Problem der Individuation verbunden, wie es schon bei den cartesischen ›Massetermen‹ res cogitans und res extensa auftrat (vgl. Kap. 3). Bei Descartes blieb dabei unklar, ob einzelne Dinge Substanz- oder Moduscharakter haben. Bei Spinoza wird die Entscheidung dieser Frage mit einer Paradoxie verbunden sein, die wir in Kap. 9 behandeln. Widmen wir uns aber zunächst dem Modusbegriff selbst. Seine Definition lautet: »Unter Modus verstehe ich die Affektionen einer Substanz, anders formuliert das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird.« (1def5 1) Ein Charakteristikum eines Modus ist also, im Gegensatz zur Substanz, ›in einem anderen zu sein‹. In aristotelischer Terminologie würde man hier von Inhärenz sprechen. Eine solche ontologische und epistemologische Abhängigkeit spiegelt die Endlichkeit oder Begrenztheit von ›Einzeldingen‹, von denen oben Beispiele gegeben wurden. In 1def5 kommt der Terminus ›Ding‹ aber nicht vor, denn mit der Modusdefinition soll dem möglichen Vorurteil der Verdinglichung entgangen und ›Einzeldinge‹ stattdessen als Affektionen konzipiert werden. 1

tur.«

»Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipi-

Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

112

Im Laufe des mos geometricus konzentriert sich die Behandlung der Modi auf den zweiten Teil von E1, genauer auf die Lehrsätze ab 1p16. Letzterer lautet: »Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß unendlich vieles auf unendlich viele Weisen [infinitis modis] folgen (d. h. alles, was unter einen unendlichen Verstand fallen kann).« 2 Das Lateinische infinitis modis enthält eine gewollte Doppeldeutigkeit zwischen dem Modusbegriff als solchem und einer Weise, zu sein. Zu den bereits genannten Charakteristika der Inhärenz und der Affektion tritt hier dasjenige einer Seinsweise. Während Attribute beinhalten, was die göttliche Natur bzw. die Essenz der Substanz ist, sind Modi Weisen, wie diese Substanz ist. Auch das Verhältnis von Substanz und Modi wird durch die Ausdrucksrelation konzipierbar sein, diesmal durch eine bestimmte Weise des Ausdrucks. Für ein umfassenderes Verständnis der knappen und abstrakten Modusdefinition kann auch hier eine problemgeschichtliche Motivierung hilfreich sein. Auf welche Probleme antwortet Spinoza mit diesem Konzept? Ein Ansatz scheint der Übergang vom Unendlichen ins Endliche zu sein, der an dieser Stelle der Ethica ansteht. Dieses Problem hat mannigfache Facetten. In historischer und theologischer Hinsicht klingt darin u. a. das Verhältnis von Gott als Schöpfer zu seinen Geschöpfen an. Zur Illustration dieser Ausgangs- und Problemlage sei exemplarisch Duns Scotus' Ordinatio erwähnt: »In der ersten Weise wird das Geschöpf auf Gott bezogen [refertur] durch eine Beziehung, die in einem gegründet ist, nämlich in einer Beziehung der Ähnlichkeit [similitudinis], und zwar insofern das Geschöpf nach einem Vorbild hervorgebracht ist und auf Gott bezogen wird, insofern dieser Exemplarursache ist. In der zweiten Weise, nämlich in der des Vermögens [potentiae], wird das Geschöpf nur auf Gott bezogen wie ein Hervorgebrachtes [productum] auf das Hervorbringende. In der dritten Weise, nämlich der des Maßes, wird das Geschöpf auf Gott bezogen, insofern es auf ihn selbst als seine Finalursache hingeordnet [ordinata] ist.« 3 Hier kommen verschiedene Bezugsmöglichkeiten zur Sprache wie Ähnlichkeit oder Finalursächlichkeit, die noch in der Frühen Neuzeit stark präsent waren. Eine Ähnlichkeit von Schöpfer und Geschöpfen müßte Spinoza mit seiner Kritik am anthropomorphen Gottesbild zurückweisen (vgl. Kap. 3), ebenso das Bestehen von Finalursachen mit einer Kritik, die später in Kap. 11 vorgebracht wird. In seiner Ordinatio diskutiert Scotus aber auch eine für das Folgende aufschlussreiche Gegenposition zu der eigenen, die behauptet: »Gott und Geschöpf fallen vollständig und unmittelbar unter die entgegengesetzten »Ex necessitate divinae naturae infinita infinitis modis (hoc est omnia, quae sub intellectum infinitum cadere possunt) sequi debent.« 3 Ordinatio / Opus Oxoniense, Distinctio 3, Questio 2, Scotus 2000, S. 107. 2

Modi und das Problem endlicher Dinge

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Teile eines kontradiktorischen Gegensatzes: abhängig sein und nicht abhängig sein, verursacht und nicht verursacht, von einem anderen stammen und nicht von einem anderen stammen. Also ist ihnen nichts Univokes gemeinsam.« 4 Nehmen wir diese Position als Ausgangslage für einen Vorschlag von Wolfson. Wolfson fasst die ersten sechs Lehrsätze der Ethica zu einem einzigen Syllogismus zusammen, der gleich mehrere Aspekte des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpfen klären soll. 5 In diesem Syllogismus wird gezeigt, dass es entweder keine kausale Relation zwischen Schöpfer und Geschöpfen gibt oder dass sie identisch sind. Zunächst wird eine Disjunktion aufgestellt: (A) Schöpfer und Geschöpfe sind entweder verschieden oder (B) nicht verschieden. Fall (A) ist beispielsweise dann gegeben, wenn der Schöpfer immatriell-denkend und die Geschöpfe materiell-ausgedehnt sind. Dann aber sind deren Attribute verschieden, und dann haben sie, bringt man hier 1p2 ins Spiel, nichts gemeinsam, denn: »Zwei Substanzen, die verschiedene Attribute haben, haben nichts miteinander gemein.« Mit 1p3 kann man weiter folgern: »[Von] Dingen, die nichts miteinander gemein haben, kann das eine nicht die Ursache des anderen sein.« Fall (A) schließt also eine kausale Relation zwischen Schöpfer und Geschöpfen aus. Dies sei, so Wolfson, Spinozas Version zu zeigen: »that the assumption of an absolutely immaterial God is incompatible with the relation which the mediaevals assumed to obtain between God and the world, namely that of cause and effect«. 6 Fall (B) dagegen nimmt an, dass Schöpfer und Geschöpfe nicht verschieden sind. Dann aber müssen sie zusammenfallen, denn eine Verschiedenheit könnte, mit Spinoza gesprochen, nur festgestellt werden »anhand einer Verschiedenheit der Attribute der Substanzen oder anhand einer Verschiedenheit der Affektionen dieser Substanzen«. (1p4) Letzteres wäre kein hinreichend starkes Kriterium, denn eine »Substanz geht der Natur nach ihren Affektionen voran«. (1p1) Damit die Annahme (B) gilt, müssen also die Attribute übereinstimmen. Nun gibt es aber nach 1p5 »nicht zwei oder mehrere Substanzen derselben Natur, d. h. desselben Attributs«. Schöpfer und Geschöpfe sind folglich dieselbe Substanz. Beim Fall (B) kommt zudem 1p6 ins Spiel, um auszuschließen, dass eine Verschiedenheit durch Hervorbringung von Substanzen untereinander zustandekommt. Wir haben also als Resultat, dass es nach (A) keine Kausalität oder nach (B) ein Zusammenfallen von Schöpfer und Geschöpfen gibt. Fall (A) muss für Spinoza ausscheiden, denn ohne einen Ebd., Distinctio 8, Questio unica, S. 149. Vgl. Wolfson 1983, S. 85 f. 6 Ebd., S. 80. »Mediaeval dualism considers God as something essentially different from the world. God is pure form; the world is material. As a corollary of this, the world is conceived to have all the imperfections of which God as pure spirit is free.« Ebd., S. 96. 4 5

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Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

engen Bezug der Geschöpfe zu Gott hätte der erste Teil, De Deo, für die Ethica insgesamt wenig Sinn. Es bleibt also (B) als weitere Ausgangslage. Das damit behauptete Zusammenfallen muss aber nun näher spezifiziert werden. Will man nämlich die Unterscheidung Schöpfer-Geschöpfe auf die analoge Unterscheidung Gott und Natur oder Substanz und Modi übertragen, so müssen bei Spinoza auch Differenzen eingeführt werden. Die Ausgangs- und Problemlage, die zur Plausibilisierung der Modusdefinition diente, muss deshalb weiterentwickelt werden.

6.2 Das Paradox von Gott und Natur

Statt dem Begriffspaar Schöpfer-Geschöpf verwendet Spinoza die thomistische Unterscheidung von natura naturans und natura naturata. Schon in der KV konstatiert er, dass die Thomisten Gott als natura naturans gefasst haben, »doch war ihre Natura naturans ein Wesen (so nannten sie es) außerhalb aller Substanzen« (KV, Teil I, Kap. 8, S. 46 7), und deutet damit auf die Notwendigkeit einer immanenten Konzeption. Alternativ verwendet er auch das Begriffspaar Gott-Natur, deren ›Deckungsgleichheit‹ er mit der berühmten Formel deus sive natura auf den Punkt bringt. 8 Und schließlich ist es das terminologisch präzisere Paar Substanz-Modus, mit dem er vor allem die metaphysischen Aspekte jenes Verhältnisses formuliert. Dennoch ist es lohnend, zunächst die Rede von Gott und Natur in den Blick zu nehmen, da hier eine Paradoxie auftritt, die dann im Vokabular von Substanz und Modus gelöst oder zumindest invisibilisiert wird. 9 Dass sich bei Spinoza beide Seiten dieser Begriffspaare ›decken‹, hat auch Kondylis beobachtet: »Wird die Substanz aber auf Grund des Kriteriums der absoluten Selbständigkeit für eine einzige und unteilbare gehalten [. . .] so müssen Gott und Substanz, Substanz und Natur zusammenfallen.« 10 Die Natur – und mit ihr N. B. der Mensch – steht nicht Gott gegenüber, weil es nichts au-

7 Mit Thomisten sind hier die Anhänger der Lehre des Thomas von Aquin im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit gemeint. 8 Die Wendung deus sive natura taucht allerdings erst in E4 auf, und zwar in drei Varianten: Deus, seu natura (4praef), Dei, sive naturae potentia (4p4dem), Dei, seu naturae potentia (4p4dem). 9 Auf diese Paradoxie hat auch Stegmaier hingewiesen, Stegmaier 2011. 10 Kondylis 1990, S. 225. Es ist bemerkenswert, dass im Hebräischen ein solches Zusammenfallen grammatikalisch durch die Präposition ‫[ ְבּ‬be] ausgedrückt werden kann, wie etwa am Anfang der Torah: ‫אשׁית ָבָּרא ֱאל ִֹהים‬ ִ ‫בֵּר‬, ְ was gewöhnlich mit ›im Anfang schuf Gott‹ übersetzt wird.

Das Paradox von Gott und Natur

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ßerhalb und nichts anderes als Gott gibt. Im Grunde ist dies eine viel radikalere Aussage, als sie in manchen theologischen Konzeptionen vorkommt. Mit der Formel deus sive natura wird aber nicht nur behauptet, dass sich Gott und Natur ›decken‹, sondern dass Gott, indem er Natur ist, als solcher aufgehoben ist. Denn als Natur kann er nicht mehr derjenige Gott sein, als der er bisher galt. Das damit auftretende Paradox hat Strukturähnlichkeiten mit demjenigen der causa sui. Wir erinnern uns: Im noch unterminologischen Begriff der causa sui wurde causa zunächst im gewohnten Kontext von Ursache und Wirkung verstanden. Unter dieser Voraussetzung liegt zwischen dem Verursachenden und dem Bewirkten ein zeitlicher Abstand, der gleichzeitig durch Rückwendung auf sich selbst aufgehoben wird. Die Lösung dieser Paradoxie bestand darin, stattdessen ein zeitloses Ausdrucksverhältnis von Essenz und Existenz einzuführen. Bei der Paradoxie von Gott und Natur ist die Erklärung für das Auftreten, dass man ebenfalls Gott und Natur erst in den herkömmlichen Bedeutungen nimmt, d. h. insbesondere Gott als anthropomorphe und transzendente Figur. Die erforderliche Umdeutung des Gottesbegriffs ist aber kein kleiner Schritt, zumindest nicht für die Zeitgenossen Spinozas. Sie war eine Herausforderung und Überforderung, die zu diametral entgegengesetzten Deutungen führte: einerseits als Pantheismus (Gott ist nurmehr Natur), andererseits als Atheismus (Gott ist als Figur aufgehoben, vgl. den Spinozismusstreit in Kap. 1). Man könnte auch sagen, dass es unentscheidbar ist, ob es sich um einen Pantheismus oder einen Atheismus handelt. Spinoza bietet aber – und dies ist bezeichnend für seine Philosophie – eine inklusive Alternative zu dieser exklusiven Alternative an: deus sive natura heißt, dass Gott und Natur im Prinzip dasselbe sind, aber dieses Selbe unter Umständen als Gott und unter anderen Umständen als Natur angesprochen werden kann. Für bestimmte Erkenntnisinteressen und Fragen ist es nützlicher von Gott, für andere von Natur zu sprechen. Diese einschließende Alternative wird eben durch die Konjunktion sive ausgedrückt. Spinoza zeigt sich hier als Perspektivist avant la lettre. (Die verschiedenen Perspektiven haben bei ihm aber noch, anders als dann später z. B. bei Nietzsche, einen einzigen Fluchtpunkt.) Eine solche Unterscheidung in Hinsichten lässt sich auch in der Terminologie von natura naturans und natura naturata durchführen. Im Scholium 1p29s erklärt Spinoza: »Bevor ich fortfahre, will ich hier erklären oder besser darauf aufmerksam machen, was wir unter ›Natura naturans‹ und was unter ›Natura naturata‹ zu verstehen haben. Denn meines Erachtens ergibt sich bereits aus dem Vorangehenden, daß wir unter ›Natura naturans‹ zu verstehen haben [. . .] Gott, insofern [quatenus] er als freie Ursache angesehen wird. Unter ›Natura naturata‹ verstehe ich dagegen alles, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder vielmehr der Natur irgendeines seiner Attribute folgt, d. h. alle

Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

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Modi der Attribute Gottes, insofern [quatenus] sie als Dinge angesehen werden, die in Gott sind und ohne Gott weder sein noch begriffen werden können.« Entscheidend ist hier die Konjunktion quatenus, mit der verschiedene Aspekte oder Hinsichten ein- bzw. ausgeschaltet werden: einerseits Gott, insofern er freie Ursache ist, andererseits Gott, insofern er modifiziert bzw. affiziert ist. Zur natura naturans gehören N. B. auch die Attribute, weil sie selbst ungeschaffen sind, zur natura naturata die unendlichen und die endlichen Modi. Dazu kommentiert Melamed: »Spinoza developed this respects analysis into a genuine art. In numerous places, he asserts that a thing may have a certain property quatenus (insofar as) it is X, and a different (or even opposite) property quatenus it is Y .« 11 Mit Bezug auf Curley führt er weiter aus: »According to Curley, Spinoza identifies God not with nature simpliciter, but with Natura naturans, the active aspect of nature that included substance and its attributes. Natura naturata, the passive aspect of nature and the domain of modes is, according to Curley, caused by God, but is not God.« 12 Mit der Unterscheidung von Gott als natura naturans und Natur als natura naturata ließe sich das obige Paradox lösen, ebenso mit der Unterscheidung von Gott als Substanz und Natur als Modi. Dabei wird, wie bei der causa sui, die Zeit ausgeschlossen. Gott und Natur sind gleichzeitig da als verschiedene Aspekte desselben. Aufgrund der Strukturähnlichkeit kann man auch hier einen Fall von paradox's revenge annehmen. Wegen der Wichtigkeit der Unterscheidungsanalyse mittels quatenus oder vergleichbarer Konjunktionen wie quantum sei hier auf eine weitere Polemik verwiesen, diejenige von Pierre Bayle. In seinem berühmten und ein ussreichen Dictionnaire warf Bayle Spinoza vor, dass wenn Gott als Natur alles sei, es nicht mehr richtig sein könne, zu sagen, dass eine einzelne Person verneine, wolle oder bejahe, weil es im Grunde Gott sei, der hier verneine, wolle oder bejahe. 13 Ferner könnten Gott widersprüchliche Prädikate zugesprochen werden, wenn zugleich gute und böse Menschen in ihm ›aufgingen‹. Und schließlich könnte niemand mehr zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden, weil die Ursache bzw. Schuld direkt bei Gott läge. All dies nagte an den moralisch-religiösen Grundfesten der Gesellschaft. Als Entgegnung auf Bayle könnte Spinoza aber schlicht darauf verweisen, dass er eben zwischen Gott, sofern er Peter ist (und beispielsweise gut handelt), und Gott, sofern er Paul ist (und böse handelt), unterscheide. 14 Melamed 2013, S. 35. Ebd., S. 17. 13 Bayle 1740. 14 Die damit einhergehende Reflexion führt darüberhinaus zur Frage, warum und inwiefern es überhaupt ›gut‹ sein soll, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Auf diese Unterscheidung zweiter Ordnung hat Stegmaier aufmerksam gemacht, vgl. Kap. 8, Stegmaier 2016. 11 12

Einzeldinge und das Problem der Teilbarkeit von Substanz

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Die Unterscheidung von natura naturans und natura naturata kann man auch erkenntnistheoretisch wenden, so Stegmaier: Sofern wir das Ganze »als Gegenstand vor uns zu haben glauben, nennen wir es Natur, sofern wir wissen, daß es unbegreifliche Bedingung unseres Erkennens und Seins ist, Gott«. 15 Diese Bedingung steht in Lehrsatz 1p15: »Was auch immer ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden.« Gott selbst kann aber als Natur nicht begriffen werden, denn dazu müsste man sie in ihrer Totalität erschließen: »Um irgendetwas adäquat zu denken, muß das Denken es stets im Zusammenhang des für es undurchdringlich komplexen Ganzen denken, was ihm als durch seine Naturbedingungen beschränkten modus der Natur, prinzipiell nicht möglich ist. Es muß es denken und kann es nicht denken, es muß es also paradox denken. Auch diese Paradoxie macht Spinoza sogleich unsichtbar, indem er nun Perspektiven (sub specie . . .) unterscheidet, zwischen denen das Denken wechselt. Zwischen Perspektiven wechselnd, kann es Ursache und Wirkung, Gott und Natur, Sein und Nichts, Eines und Alles, Ganzes und Teil, Denken und Sein, Ewigkeit und Zeit zugleich getrennt und zusammen denken.« 16

6.3 Einzeldinge und das Problem der Teilbarkeit von Substanz

Kommen wir damit auf das eingangs dieses Kapitels gestellte Problem der Konzeption von Einzeldingen zurück und führen dieses nun in der Terminologie von Substanz und Modi konsequent zu Ende. Um Einzeldinge wie Bücher, Bäume oder Menschen zu realisieren, müsste die eine Substanz irgendwie geteilt oder unterteilt werden. Viljanen formuliert dieses Problem so: »if there really is only a single extended, ontologically independent and unified substance, how should we understand the basic nature of all the divergent physical entities we are familiar with? How to explicate the relation between physical bodies and space as a whole?« 17 Gerade gegenläufig zu dem, was wir benötigen würden, spricht Spinoza der Substanz jedoch jede Teilbarkeit ab: »Kein Attribut einer Substanz kann richtig begriffen werden, wenn aus ihm folgt, daß die Substanz geteilt werden kann.« (1p12) Der Beweis erfolgt über die Widerspruchsannahme, dass eine Substanz teilbar sei. Dann kann man eine Disjunktion aufstellen, dass ihre Teile entweder die substanzielle Natur behalten oder nicht. Im ersten Fall übernehmen sie alle 15 16 17

Stegmaier 2004, S. 12. Stegmaier 2011, S. 214. Viljanen 2007, S. 397.

Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

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Eigenschaften von Substanzen und haben insbesondere als Substanzen kein gemeinsames Attribut (1p5). So ist diesen Substanzen, einschließlich der ursprünglichen, nichts gemeinsam (1p2), und daher muss man jede unabhängig von jeder anderen begreifen. Das hieße aber auch, »das Ganze könnte (nach Definition 4 und Lehrsatz 10) ohne seine Teile sein und begriffen werden, was, niemand wird daran zweifeln können, widersinnig ist«. Darin verschachtelt findet sich ein zweites Argument, das für sich allein hinreichen würde: Nach 1p6 kann keine Substanz von einer anderen hervorgebracht werden. Der erste Fall der Disjunktion ist damit ausgeschlossen. Es bleibt der andere Fall, dass die hypothetischen Teile die substantielle Natur nicht behalten. Dann aber würde die Anfangssubstanz aufhören zu existieren, was im Widerspruch zu 1p7 stünde, wonach Existenz zur Natur einer Substanz gehört. In beiden Fällen ergeben sich also Widersprüche, weshalb die Beweisannahme falsch und die These der Unteilbarkeit wahr ist. Statt diese irgendwie zu relativieren, doppelt Lehrsatz 1p13 nach: »Eine unbedingt unendliche Substanz ist unteilbar.« 18 Der Beweis wird über dieselbe Disjunktion geführt, dass die Teile entweder die Substanznatur behalten oder nicht. Der erste Fall wird wieder mit 1p5 ausgeschlossen, der zweite nun mit 1p11, der notwendigen Existenz einer Substanz. Es würde dann nämlich die absolut unendliche Substanz aufhören zu existieren, was widersinnig wäre. Insbesondere bedeuten diese Lehrsätze, dass alles, was wir als ›Teil‹ ansprechen, keine Substanz sein kann, keine unendliche, aber auch keine endliche, weil der Begriff einer endlichen Substanz nach 1p8 widersprüchlich wäre. Eine aristotelische Einzeldingontologie ist damit ebenso ausgeschlossen wie eine cartesische ›Portionierung‹ von Substanzen. Wir müssen also andere Wege finden, eine Teilbarkeit des Unteilbaren zu konzipieren.

6.4 Das Paradox der Teilbarkeit des Unteilbaren

Eine mögliche Lösung bietet Spinoza aber im Scholium 1p15s an: »Wenn indes jemand fragt, warum wir von Natur aus so geneigt sind, Quantität zu teilen, so erwidere ich ihm, daß Quantität auf zweierlei Weise von uns aufgefaßt wird, nämlich einmal abstrakt, also oberflächlich, wie wir sie vorstellen, zum anderen als Substanz, was von dem Verstand allein geleistet wird. Wenn wir daher Quantität ins Auge fassen, wie sie in der bloßen Vorstellung ist, was häufig geschieht und uns leichter fällt, dann wird sie als endlich, teilbar und aus Teilen zusammengesetzt erfahren werden. Fassen wir sie aber ins Auge, 18

»Substantia absolute infinita est indivisibilis.«

Das Paradox der Teilbarkeit des Unteilbaren

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wie sie im Verstand ist, und begreifen wir sie, insofern sie Substanz ist, was sehr schwierig ist, dann wird sie, wie wir schon zur Genüge bewiesen haben, als unendlich, einzig und unteilbar erfahren werden. Das wird allen, die gelernt haben, zwischen Vorstellungskraft [imaginatio] und Verstand [intellectus] zu unterscheiden, hinreichend klar sein, besonders wenn noch berücksichtigt wird, daß die Materie überall dieselbe ist und Teile sich in ihr nur insofern unterscheiden lassen, als wir die Materie als in verschiedenen Weisen affiziert begreifen [diversimode affectam esse], worin ihre Teile nur modal [modaliter], nicht aber real [realiter] unterschieden sind. Beispielsweise begreifen wir, daß Wasser, insofern es Wasser ist, sich teilen läßt und daß sich seine Teile voneinander trennen lassen, nicht aber, insofern es körperliche Substanz ist; in dieser Hinsicht läßt es sich nämlich weder teilen noch trennen.« Was Spinoza hier detailliert schildert, kann als Lösungsversuch des Paradoxes der Teilbarkeit des Unteilbaren genommen werden, ein Versuch, der wiederum auf Unterscheidungen beruht, mit denen eine Teilung denkbar wird bzw. eben nicht, nämlich zwischen imaginatio und intellectus sowie zwischen distinctio modalis und distinctio realis. 19 Einzeldinge würden sich demnach modal unterscheiden und als Effekt der imaginatio auftreten. Hieße das aber nicht, dass Bücher, Bäume und Menschen bloß ›imaginär‹ wären? Imaginär ist bei Spinoza jedoch nicht mit nicht-real gleichzusetzen. Auch Modi sind real oder haben zumindest Grade an Realität. Unbefriedigend ist aber, dass Einzeldinge als solche nicht durch das Denken erfasst werden können und so für uns nicht klar und deutlich erkennbar wären. Wir müssen deshalb einen Zwischenschritt einschalten, wie eine Teilbarkeit von Substanz in gewisser Hinsicht dennoch gedacht werden kann. Dieser Schritt geschieht mit Einführung der infiniten Modi. 20 Auch Descartes hatte in den Principia Philosophiae, wie in Kap. 3 erwähnt, von der distinctio modalis Gebrauch gemacht, um zwischen solchen Zuständen zu unterscheiden: »Die modale Unterscheidung ist zweifach, nämlich zum einen zwischen einem Zustand im eigentlichen Sinne und der Substanz, deren Zustand er ist, und zum anderen zwischen zwei Zuständen derselben Substanz.« Descartes 2005, I/61, S. 67. Beispielsweise ist ein Gedanke, den Peter oder Paul hat, ein Modus ihres jeweiligen Geistes. Dazu Perler: »Ein Gedanke oder ein Schmerz ist kein geistiges Objekt, sondern ein Zustand oder eine Tätigkeit einer geistigen Substanz – in Descartes’ Terminologie: ein Modus einer Substanz.« Perler 1998, S. 169 f. 20 Auch bei Kant mündet das Problem der Teilbarkeit der Substanz in eine Antinomie, deren Thesis lautet: »Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist.« Die Antithesis dagegen ist: »Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben.« Zweiter Widerstreit der transzendentalen Ideen, Kant 1993, B 462 f., S. 478 f. Der Gegensatz in dieser Antinomie ist konträr. Er zwingt auch Kant dazu Substanz neu und anders zu verstehen, nicht als Gegenstand von Erfahrung, sondern als Kategorie, die Erfahrungen erst ermöglicht. 19

Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

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Unendliche Modi

Das Konzept der infiniten bzw. unendlichen Modi ermöglicht eine Vermittlung zwischen Unendlichem und Endlichem. Auf die Notwendigkeit dazu hat auch Bartuschat hingewiesen, weil eben endliche Dinge »nicht in der Substanz, die unteilbar ist (I, 13), als deren Teile enthalten sein [können], sondern nur als Teile eines Produktes dieser Substanz«. 21 Wir wollen die unendlichen Modi auf beiden Ebenen, der deduktiven und der problematisierenden, untersuchen. Im Hintergrund steht auch hier, wie zuvor bei Schöpfer und Geschöpfen, eine scholastische Ausgangs- und Problemlage. Spinoza erwähnt sie im Scholium 1p28s: »Da einige Dinge von Gott unmittelbar haben hervorgebracht werden müssen, nämlich diejenigen, die aus seiner unbedingten Natur notwendigerweise folgen, und vermittelt über diese ersten Dinge andere Dinge, die gleichwohl ohne Gott weder sein noch begriffen werden können, so folgt daraus erstens, daß Gott die unbedingt nächste Ursache der von ihm unmittelbar hervorgebrachten Dinge ist, nicht aber [eine nächste Ursache] in seiner Gattung, wie man sagt. [. . .] Es folgt zweitens, daß Gott nicht eigentlich die entfernte Ursache [causa remota] der Einzeldinge genannt werden kann, es sei denn vielleicht, um diese Dinge von denjenigen zu unterscheiden, die er unmittelbar hervorgebracht hat.« In dieser scholastischen Terminologie ist bei einer Kausalkette A → B → C die Größe A eine causa proxima von B und eine causa remota von C. Die causa proxima kann ihrerseits in eine causa absolute proxima und eine causa proxima unterteilt werden. Wechseln wir von der problematischen auf die deduktive Ebene, so entspricht der Unterscheidung von causa absolute proxima und causa proxima die Unterscheidung von unmittelbarem unendlichen Modus und mittelbarem unendlichen Modus. Die Terminologie immediate vel mediante taucht zuerst in 1p23dem auf. Von da kann man rückwärts schließen, dass in 1p21 unmittelbare und in 1p22 mittelbare unendlichen Modi gemeint sind. Causa remota ist Gott ausschließlich für endliche Modi. Was unmittelbar hervorgebracht wird, sind N. B. nicht die Attribute, denn Attribute sind keine Produkte Gottes, sondern wie gesehen ›Verstandesformen‹, unter denen zunächst die Substanz, dann auch deren Produkte erkannt werden. Diese Produkte, die Modi, sind Modifikationen der Attribute: »Jeder Modus, der notwendigerweise existiert und unendlich ist, hat notwendigerweise folgen müssen entweder aus der unbedingten Natur irgendeines Attributes Gottes oder aus irgendeinem Attribut, das von einer Modifikation modifiziert ist, die notwendigerweise existiert und unendlich ist.« (1p23) Was durch die absolute Natur eines Attributs hervorgeht, ist also 21

Bartuschat 2006, S. 66.

Das Paradox der Teilbarkeit des Unteilbaren

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ein unmittelbar unendlicher Modus (causa absolute proxima), was durch eine Modifikation eines Attributs hervorgeht dagegen ein mittelbarer unendlicher Modus (causa proxima). Konkret lassen sich vier Typen von unendlichen Modi angeben: i) Unmittelbarer unendlicher Modus im Attribut cogitatio. Damit identifiziert Spinoza die Idee Gottes, d. h. diejenige Idee, die Gott ursprünglich von sich bildet und die hinsichtlich ihrer objektiven Essenz die Totalität dessen enthält, was sich aus seinem Wesen an Gedanken entfaltet. Hinsichtlich ihrer formalen Essenz, d. h. als Idee an sich, heißt diese intellectus infinitus. »Den unendlichen Verstand bezeichnet Spinoza auch als die Idee Gottes [. . .], die unmittelbar aus dem göttlichen Attribut Denken folgt [. . .]. Diese Idee hat Gott und ineins damit alles, was aus ihm folgt, zum Gegenstand; nicht aber ist Gott ein Subjekt, das eine Idee hat.« 22 ii) Unmittelbarer unendlicher Modus im Attribut extensio. Dazu finden sich in der Ethica keine Belegstellen. In Ep. 64 an Schuller aber schreibt Spinoza: »Die Beispiele endlich, die Sie verlangen sind: von der ersten Art im Denken der schlechthin unendliche Verstand [vgl. oben i)], in der Ausdehnung aber Bewegung und Ruhe.« Vergleichen wir dies mit dem ›physikalischen‹ Einschub in der Ethica nach 2p13, wo bestimmte Verhältnisse von Bewegung und Ruhe als Essenzen der jeweiligen Körper gelten, so kann man die unmittelbaren unendlichen Modi der Ausdehnung mit Essenzen von Körpern identifizieren. In der KV verglich Spinoza die beiden Typen von unendlichen Modi noch mit der Trinität: »Was den Verstand im Attribut Denken angeht, auch er ist ebenso wie die Bewegung ein Sohn, ein Werk oder ein unmittelbares Geschöpf Gottes.« (KV, Teil I, Kap. 9, [3], S. 47) iii) Mittelbarer unendlicher Modus im Attribut cogitatio. Ein Beispiel dafür fehlt. iv) Mittelbarer unendlicher Modus im Attribut extensio. Im selben Brief an Schuller heißt es weiter: »von der zweiten Art aber das Angesicht des ganzen Weltalls, das zwar in unendlichen Modis sich ändert, aber immer dasselbe bleibt.« Dieser Typ trägt den Namen facies totius universi. Die meisten Kommentatoren interpretieren das als invariante Struktur, deren konkrete Bedeutung aber bleibt weitgehend im Dunkeln. Vergleichen wir diese Konkretisierung unendlicher Modi mit der scholastischen Terminologie, ist für alle vier Typen unendlicher Modi (unmittelbar-denkend, unmittelbar-ausgedehnt, mittelbar-denkend, mittelbar-ausgedehnt) Gott eine causa proxima und im Besonderen für die unmittelbaren eine causa absolute proxima, für alle endlichen Modi dagegen eine causa remota. 22

Bartuschat 2006, S. 78 f.

Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

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Teilung als Affektion der Attribute

Mit diesen abstrakten Konzepten müssen wir nun versuchen, den Übergang vom Unendlichen zum Endlichen zu bewerkstelligen und damit das Problem der Einzeldinge und die Paradoxie der Teilbarkeit zu lösen. Nach Auskunft von 1p23 folgt jeder unendliche Modus aus einer Modifikation bzw. Affektion von Attributen. Wenn beispielsweise das Attribut Ausdehnung modifiziert wird, entspricht dem eine räumliche Struktur, eben die facies totius universi, aber noch keine konkreten Körper. Die Mittelbarkeit im Unendlichen ist ein nötiges Zwischenglied zu ihnen, denn was »endlich ist und eine bestimmte Existenz hat, kann von der absoluten Natur eines göttlichen Attributs nicht abgeleitet werden [produci]«. (1p28dem) Ein Vorschlag, wie nun dieser Übergang (der kein zeitlicher, sondern ein logischer ist) ausbuchstabiert werden kann, stammt von Deleuze: »Es scheint also, als ob jedes Attribut von zwei selbst unendlichen Quantitäten affiziert wäre, die allerdings unter bestimmten Bedingungen teilbar sind, jede auf ihre Weise: eine intensive Quantität, die sich in intensive Teile oder in Grade teilt« und »eine extensive Quantität, die sich in extensive Teile teilt.« 23 Die intensiven ›Teile‹ der Attribute identifiziert Deleuze mit den Essenzen von Modi, die extensiven ›Teile‹ mit den Existenzen von Modi. Die intensive Teilung lässt sich analog zu den Intensitätsgraden einer Farbe plausibel machen. Die Farbe Weiß ist eine Qualität, die in verschiedenen Intensitätsgraden auftreten kann, d. h. leuchtender oder gedämpfter. »Intensitätsgrade sind innerliche Bestimmungen, innerliche Modi der Weiße, die univok dieselbe bleibt, unter welcher Modalität man sie auch betrachten mag.« 24 Die Qualität Weiß ist so in verschiedenen Graden angeregt oder affiziert. Überträgt man dies auf die Attribute, so wird anschaulich, wie diese ebenfalls in verschiedenen Graden affiziert sein können und in diesem Sinne verschiedene Teile haben. »[Die] modalen Wesen unterscheiden sich also vom Attribut wie die Intensität von der Qualität, und sie unterscheiden sich untereinander wie die verschiedenen Grade der Intensität.« 25 So kann man hier von einer intensiven Teilung sprechen. Jede Essenz eines Modus bzw. jedes modale Wesen ist eine intensive Quantität (nicht: Qualität). 26 Das Resultat ist also: »[Die] Hervorbringung Deleuze 1993b, S. 170. Ebd., S. 174. 25 Ebd., S. 175. 26 Dabei stellt sich ein Problem der Individuation. Als intensive Teile können Essenzen nicht äußerlich voneinander getrennt werden, und es ist anders als bei extensiven Teilen keine bloß numerische Unterscheidung möglich. Vgl. ebd., S. 179. Die Individuation erfolgt nicht über den zugehörigen existierenden Teil des Modus. Denn es gibt, so Deleuze, keinen Anlass, »für jeden extensiven Teil nach einem Wesen zu suchen. Ein Wesen ist ein Grad an Intensität. Nun entsprechen 23 24

Das Paradox von Modi als Dingen und als Eigenschaften

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der Modi rekurriert auf die quantitative Differenzierung der Substanz. Dieser quantitative Ausdruck besitzt zwei mögliche Formen: ›intensiv in den Wesen der Modi, extensiv, wenn die Modi in die Existenz übergehen.‹ « 27 Mit dieser Interpretation scheint es vermittels der unendlichen Modi also auch möglich, zu extensiven Größen zu gelangen, d. h. solchen, die quantitativ und daher auch numerisch voneinander unterschieden sind, wie man es von Körpern erwartet. Die Attribute können also gleichsam in Anregungszuständen vorkommen und verschiedene Dinge müssen dann verschiedenen Anregungszuständen entsprechen. 28 Wie aber sollen derart gedachte Körper lokalisiert werden? Schließlich scheinen Anregungszustände von Attributen, sollte dieses Bild zutreffen, ›globale‹ und nicht ›lokale‹ Phänomene zu sein. Auch das deutet darauf hin, dass Spinozas Dingbegriff sehr unkonventionell zu denken ist. Versuchen wir, uns ihm über ein letztes Paradox in diesem Kapitel zu nähern.

6.5 Das Paradox von Modi als Dingen und als Eigenschaften

Nachdem wir durch die unendlichen Modi der Lösung des Paradoxes der Teilbarkeit des Unteilbaren einen großen Schritt näher gekommen sind, müssen wir nun genauer angeben, was diese Teile sind, und sie mit dem Modusbegriff zusammenbringen. Nach der Definition 1def5 ist ein Charakteristikum eines Modus, ›in einem anderen zu sein und durch ein anderes begriffen zu werden‹. Eine solche Abhängigkeit könnte man als Inhärenz bezeichnen. Gilt also schlicht, dass Modi in der Substanz inhärieren? In aristotelischer Denkweise ist Inhärenz die Relation von Eigenschaften zu Dingen, denen sie ›anhaften‹. Aristoteles führt am Ende von Buch V seiner Metaphysik aus: »Akzidens [συµβεβηκὸς] nennt man [. . .] dasjenige, was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet.« 29 Universelle Akzidenzien können von einem Zugrundeliegenden (ὑποκείµενον) sowohl de subjecto als auch in subjecto, individuelle Akzidenzien nur in subjecto prädiziert werden (vgl. Kap. 3). Würde man dies direkt auf Spinoza übertragen, müssten Modi, sofern sie inhärieren, die extensiven Teile und die Intensitätsgrade (intensive Teile) sich keineswegs durchgängig. Jedem Intensitätsgrad, so klein er auch sein mag, entsprechen unendlich viele extensive Teile.« Ebd., S. 182. 27 Rölli 2012, S. 194. Wie schon bei der distinctio formalis im Zusammenhang mit dem Verhältnis Substanz-Attribute, versichert sich hier Deleuze bei Scotus, dem zufolge ein modus intrinsecus gleich einem gradus gleich einer intensio sei. 28 In der Physik hat man dazu die Anregungszustände von Atomen, Molekülen oder Festkörpern vor Augen. 29 Aristoteles 1989, ∆/V, 1025a, S. 247.

Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

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Akzidentien der Substanz sein. Und würde man mit Modi zugleich Dinge konzipieren, so würden Dinge und Eigenschaften zusammenfallen. Eine solche Übertragung ist aber nicht unproblematisch. Spinoza selbst wendet sich in den CM von der Unterscheidung Substanz-Akzidens ab: »Nur soviel möchte ich zu dieser Einteilung sagen, daß wir ausdrücklich gesagt haben, Seiendes werde in Substanz und Modus eingeteilt, nicht aber in Substanz und Akzidenz. Denn ein Akzidenz ist nichts weiter als eine Weise zu denken« (CM, Teil 1, Kap. 1, S. 136). Er erläutert dies am Beispiel eines bewegten Dreiecks. »Wenn ich z. B. sage, daß ein Dreieck bewegt wird, dann ist Bewegung ein Modus nicht des Dreiecks, sondern des Körpers, der bewegt wird. Daher heißt Bewegung im Hinblick auf das Dreieck ein Akzidenz [im Sinne eines zufälligen Merkmals], im Hinblick auf den Körper ist sie aber ein reales Seiendes, d. h. ein Modus: Bewegung kann nämlich nicht begriffen werden ohne Körper, wohl aber ohne Dreieck.« Hier schieben sich aristotelische und frühneuzeitliche Begrifflichkeiten übereinander, wobei versucht wird, der alten Begrifflichkeit noch einen Platz einzuräumen. In der Ethica wird sie immer mehr an den Rand gedrängt und stiftet dort eher Verwirrung. Zudem scheint auch Spinozas Substanzbegriff nicht zum traditionellen Akzientienbegriff zu passen. Denn die Wendung in se esse, mit der Spinoza in 1def3 Substanz definiert, entstammt, so Schnepf, nicht »der Kommentierungstradition zur aristotelischen Kategorienschrift [. . .], sondern der Konzeption disjunktiver Transzendentalien (also transkategorialer Bestimmungen des Seienden, insofern es Seiendes ist) im Anschluß an Avicenna etwa bei Duns Scotus«. 30 In der aristotelischen Scholastik sei der Gegenbegriff von in subjecto esse nicht in se esse, sondern per se esse. 31 Wenn also Spinoza an Aristoteles' Unterscheidung von Substanz und Akzidens anschlösse, hätte er in seiner Substanzdefinition per se esse verwenden müssen. Somit könne man sagen, »dass Substanzen nach E1D3 also nicht als Träger von Akzidentien im Sinne der Kategorienschrift definiert werden«. 32 Neben Schnepf haben auch Curley und Melamed zu diesem Problem Stellung bezogen. So hat Curley trotz der einschlägigen Wendung in alio esse bestritten, dass Modi in der Substanz inhärieren, weil mit Modi eben Dinge konzipiert würden und von Dingen keine Inhärenz ausgesagt werden könne: Vgl. Schnepf 1996, S. 87. Als disjunktive Transzendentiale wird Seiendes außerhalb der aristotelischen Kategorien erfasst. 31 Vgl. ebd., S. 16. 32 Schnepf, Studienbuch zu Spinoza, in Erscheinung S. 101. Auch können aristotelische Akzidentien sowohl von ihrer Substanz abhängen als auch eine bloße Beziehung zu etwas anderem, nicht-Substantiellem meinen, während Modi immer ihre Substanz bedeuten. Vgl. Schnepf 1996, S. 211. 30

Das Paradox von Modi als Dingen und als Eigenschaften

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»Spinoza's modes are, prima facie, of the wrong logical type to be related to substance in the same way Descartes' modes are related to substance, for they are particular things (E1p25c), not qualities. And it is difficult to know what it would mean to say that particular things inhere in substance. When qualities are said to inhere in substance, this may be viewed as a way of saying that they are predicated of it. What it would mean to say that one thing is predicated of another is a mystery that needs solving.« 33 Nach Curley liegt hier ein Kategorienfehler vor, da Inhärenz Akzidentien oder Eigenschaften vorbehalten ist. Er hat deshalb vorgeschlagen, das Verhältnis von Substanz und Modi primär als Kausalität zu interpretieren. Das wesentliche Charakteristikum eines Modus wäre dann, das er verursacht ist, und seine Abhängigkeit länge eben in diesem Verursachtwerden. Im Gegenzug hat sich Melamed dafür ausgesprochen, Inhärenz als primäre Relation anzunehmen. Im Einklang mit Aristoteles deutet er Modi als Eigenschaften, die von der Substanz prädiziert werden. In alio esse sei wie die aristotelische in-subjecto-Relation zu lesen. Dann aber können Modi nicht Dinge sein, jedenfalls nicht im Sinne von gewöhnlichen Teilen der Substanz. »Particular things are in God, but are not parts of God.« 34 »Napoleon [for instance] is neither a part of God, nor is he God entirely. Napoleon (and any other finite mode) is just a part of a property, an infinite mode, which belongs to God entirely. In the present case, Napoleon's body is part of the totality of bodies, which is an infinte mode of extension. It is this infinite mode of extension that belongs to God entirely.« 35 Die Auffassung von Modi als Eigenschaften legt überdies 1p16dem nahe: »Dieser Lehrsatz muß jedem einleuchten, der beachtet, daß der Verstand aus der gegebenen Definition eines jeden Dinges mehrere Eigenschaften [proprietates] erschließt.« Damit lässt sich an die Interpretation von Deleuze im vorigen Abschnitt anknüpfen. Infinite Modi waren dort Affektionen bzw. Modifikationen der Attribute. Der mittelbare unendliche Modus im Attribut Ausdehnung war die facies totius universi und dessen extensive Teile die tatsächlich existierenden körperlichen Modi wie hier Napoleon. »Ein Attribut teilt sich also auf modale Weise, nicht auf reale. Es hat Teile, die sich modal unterscheiden: modale, nicht reale oder substantielle Teile.« 36 Ähnlich äußert sich auch Della Rocca: »God is extended but not in such a way as to show that God is divisible or vulnerable to destruction. This is because, for Spinoza, individual bodies are not parts into

33 34 35 36

Curley 1969, S. 18. Vgl. Melamed 2013, S. 48. Ebd., S. 35 f. Deleuze 1993b, S. 169.

Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

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which God could be divided, rather they are literally ways in which the extended substance is affected.« 37 Ein Fazit aus dieser Diskussion ist, dass Dinge nicht einfach Fragmente oder Atome der Substanz sind, sondern als Affektionen bzw. ›Anregungszustände‹ gedacht werden müssen. Vor einem gewöhnlichen bzw. traditionellen Verständnishintergrund stellt sich das Paradox, dass mit Modi Dinge konzipiert werden sollen, die aufgrund der Inhärenzrelation gar nicht zuteilbar sind. Dieses Paradox spiegelt die Debatte zwischen Curley und Melamed wider. Denn neben dem Inhärenzbegriff scheint auch der Kausalitätsbegriff bei Spinoza nicht mehr richtig zu funktionieren, da das Verursachende, die Substanz, gar nicht vereinzelbar ist, wie es bei einem gewöhnlichen Ursache-Wirkungsverhältnis der Fall sein müsste. Vielmehr ist die Einzigkeit der Substanz wie gesehen ebenfalls mit einem Paradox, dem Paradox des Substanzmonismus, behaftet (Kap. 5). Aber auch Modi sind nicht so einfach vereinzelbar, sondern stellen eine Art ›delokalisierte Zustände‹ der Substanz dar. Dies hat dann Bennett in seiner feldmetaphysischen Interpretation ausbuchstabiert. 38 An der Schwierigkeit, in einer solchen Auffassung Gegenstände tatsächlich zu lokalisieren, ändert sich dadurch aber nichts, und noch mehr gilt dies für die Individuation von Gedanken. Diese Probleme werden wir in Kap. 9 im Zusammenhang mit der Einführung des conatus-Prinzips weiterverfolgen. Hier ging es nur darum – immer noch sub specie aeternitatis und noch nicht in Raum und Zeit – aufzuweisen, wie eine Teilbarkeit grundsätzlich denkmöglich ist. Nachdem so das Problem und das Paradox formuliert wurden, kann schlussendlich eine Lösung versucht werden. Diese besteht nicht darin, Spinoza auf gewisse Traditionen zurückzuführen, die nur den Hintergrund bildeten, um die Problematik zu erörtern, sondern einen Schritt vorwärts zu machen und sowohl die Begriffe mit neuen Bedeutungen zu versehen als auch die Relation zwischen ihnen neu zu konzipieren. Statt auf einem Kategorienfehler zu beharren, kann man das Paradox zum Anlass nehmen, jene Kategorien zu überschreiten. Zuerst ist die Rede von Akzidentien aufzugeben. Die Rolle von Akzidentien übernehmen nun Modi, wie auch Bartuschat festhält: »Akzidentien werden zu ›Zuständlichkeiten‹ (affectiones) der Substanz, die Spinoza ›modi‹ nennt«. 39 Sodann muss die traditionelle Unterscheidung von Dingen und Eigenschaften, die hier zusammenfallen, aufgegeben werden. Modi sind weder-noch, sondern eine neue Gestalt von Entitäten, die beides in sich vereinen und zugleich darüber hinausgehen. 37 38 39

Della Rocca 2008, S. 63. Bennett 1984. Bartuschat 2006, S. 65.

Das Paradox von Modi als Dingen und als Eigenschaften

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Um diese ungewöhnliche Art von Teilen nun in Bezug zur Substanz zu setzen, dient die Ausdrucksrelation. Gleichzeitig löst sie damit das Paradox. Im Unterschied zum Ausdruck bei Substanz und Attributen ist es bei Substanz und Modi nun ein bestimmter Ausdruck der Substanz im Endlichen. Die relevante Stelle dazu ist das Korollar 1p25c: »Besondere Dinge sind nichts als Affektionen der Attribute Gottes, anders formuliert Modi, von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden.« 40 Gartenberg formuliert dies so: »the essential role of the expression relation is to exhibit determinate things.« 41 Ein Spezialfall davon ist im zweiten Teil der Ethica Spinozas Definition von Körper: »Unter Körper verstehe ich einen Modus, der Gottes Essenz, insofern sie als ein ausgedehntes Ding angesehen wird, auf bestimmte und geregelte Weise ausdrückt.« (2def1) Mit der Ausdrucksrelation lässt sich auch zeigen, dass in jedem Modus als Teil das Ganze auf eine gewisse Weise präsent ist. »The parts of a whole themselves are not identical to the organization (the ratio of motion and rest) that makes them the parts of a whole, but they express that organization in the way that they maintain or exhibit it.« 42 Im Attribut cogitatio beispielsweise drückt ein Gedanke das Denken aus, d. h., an einem einzelnen Gedanken wird manifest, was Denken heißt. Ebenso zeigt sich an jedem Körper, was Ausdehnung ist.

»Res particulares nihil sunt nisi Dei attributorum affectiones sive modi, quibus Dei attributa certo et determinato modi exprimuntur.« 41 Gartenberg 2017, S. 4. 42 Vgl. Gartenberg 2017, S. 17, Fussnote 42. Gartenberg hat behauptet, dass ein Modus sogar hinreicht, das Wesen Gottes zu erfassen: Modes »express and are sufficient, but not necessary, for conceiving of substance.« Ebd., S. 5. »[A] given mode expresses the attribute under which it falls just in case conceiving of that mode is sufficient for conceiving of the essence of God through that attribute.« Ebd., S. 3. Er begründet dies wie folgt: »Conceiving of what it simply is to be x is not sufficient for conceiving of what it is to be a way of being x, but conceiving of a way of being x is sufficient for conceiving of what it is to be x. Hence a mode, as a way of being (modifying) the thing it expresses, must be less determinate than that thing itself.« Ebd., S. 13 f. Darüberhinaus kann man auch von Ausdrucksverhältnissen unter Modi sprechen, sofern ein bestimmter existierender Modus die Essenz eines anderen Modus ausdrückt. (Der Ausdruck spielt immer zwischen Essenz und Existenz, vgl. Kap. 4.) Das ist etwa der Fall in 2p16: »Die Idee einer jeden Weise, in der der menschliche Körper von äußeren Körpern affiziert wird, muß die Natur des menschlichen Körpers und zugleich die Natur des äußeren Körpers in sich schließen [involvere debet].« Der Ausdruck ist hier über die semantische Äquivalenz mit involvere vorhanden (vgl. ebenfalls Kap. 4). 40

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Das Verhältnis von Substanz und Modi. Paradox und bestimmter Ausdruck

Résumé

Wir sind in diesem Kapitel von der Problemstellung ausgegangen, wie Dinge mit Spinoza konzeptionalisert werden können. Wenn es nur eine allumfassende Substanz gibt, müssen Dinge in einem bestimmten Sinn als deren Teile verstanden werden. Das damit assoziierte Problem des Übergangs vom Unendlichen zum Endlichen hat verschiedene historische Vorläufer, etwa das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpfen in der Scholastik oder von Gott und Natur. Es führt hier auf verschiedene Paradoxien von Teil und Ganzem. Denn weil in Spinozas konsequenter Problembehandlung (die anhand des wolfson'schen Syllogismus aus den ersten sechs Lehrsätzen der Ethica vorgeführt wurde) Gott und Natur zusammenfallen, wird Gott paradoxerweise zugleich bejaht und verneint bzw. als Begriff beibehalten und aufgehoben. Diese Paradoxie ist strukturähnlich zu derjenigen der causa sui und wurde hier als deren Wiederholung gedeutet. Spinozas strenger Substanzbegriff verlangt weiter, dass Substanz nicht geteilt werden kann. Dann aber stellt sich die Paradoxie, dass das Unteilbare doch geteilt werden muss, um jene Dinge nicht nur zu imaginieren, sondern auch denken zu können. Die infiniten Modi, mit denen dies bewerkstelligt werden kann, wurden hier als Instrument zur Entparadoxierung gedeutet. Schließlich stellte sich eine dritte Paradoxie, indem einerseits der Inhärenzcharakter von Modi beibehalten, andererseits der Dingcharakter eingefordert wurde. Deren Lösung verlangte eine Umdeutung des Dingbegriffs und führte auf eine neue Relation zwischen Substanz und Modi, nämlich den bestimmten Ausdruck. Seine Funktion ist, zwischen Unendlichem und Endlichem zu vermitteln, noch ohne raumzeitliche Dimension, sondern bloß strukturell, wobei sich an jedem Teil das Ganze zeigt. So hat der Weg über die Paradoxien auch hier den Ausdruck motiviert. Was in diesem und im vorigen Kapitel über den bestimmten und unbestimmten Ausdruck gesagt wurde, wird nun im nächsten Kapitel systematischer untersucht und historisch kontextualisiert.

7 Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

A

n die Ausdrucksterminologie lässt sich von ganz unterschiedlichen Seiten anknüpfen. Die Wendungen ›ausdrücken‹ bzw. ›sich ausdrücken‹ wecken ein breites Assoziationsspektrum, das von sprachlicher Artikulationsfähigkeit bis zu künstlerischer Tätigkeit reicht. So ist in Literatur, Musik oder Psychotherapie von Ausdruck die Rede. Umgangssprachlich wird ›ausdrücken‹ bei der Formulierung eines Gedankens verwendet oder ›sich ausdrücken‹ auch bei der Mitteilung von etwas Persönlichem. Solche Konnotationen sind oft subjektiv und verweisen – das ist im Hinblick auf Spinoza interessant – auf ein Können desjenigen, der sich ausdrückt. In der Ethica schwingen viele solche Bedeutungen mit; was ›Ausdruck‹ heißt, wird aber gleichzeitig auch terminologisch präzise gefasst: ausgedrückt wird immer eine Essenz, und zwar entweder als eine bestimmte oder eine nicht näher bestimmte Existenz. Bemerkenswerterweise ist der Terminus ›Ausdruck‹ philosophiegeschichtlich kaum besetzt. Deshalb ist hier eine Erörterung in historischer und systematischer Hinsicht angebracht. Eine solche kann zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, soll aber orientieren und gewisse Hintergründe vermitteln, die die Bedeutung und Funktion bei Spinoza erhellen. Zunächst werden in einem historischen Exkurs, der von der Spätantike über die Scholastik zur Frühen Neuzeit führt, Vorläufer des Ausdrucksbegriffs erörtert. Danach werden in systematischer Hinsicht Abgrenzungen gegenüber dem Kausalitätsbegriff vorgenommen und schließlich Verbindungen zu analytischen Zugängen geschlagen, wie sie schon in Kap. 4 und 6 angesprochen wurden. Dabei wird sich der analytische Zugang als durchaus kompatibel mit dem kontinentalen erweisen. Ein Ziel ist weiter, zu zeigen, dass trotz dieser Vielfalt der Begriff Ausdruck bei Spinoza keine bloß vage und auch keine metaphorische Redeweise, sondern begrifflich präzise fassbar ist. Dieses Kapitel hat zusammen mit den beiden folgenden zur Univozität (Kap. 8) und zum conatus (Kap. 9) die Funktion einer Überleitung von eher metaphysischen zu eher ethischen Themen. Diese drei Kapitel bereiten zusammen Anschlüsse vor, die dann in Kap. 10–12 weiterverfolgt und ausgearbeitet werden.

Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

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7.1 Eine kurze Geschichte des Ausdrucksbegriffs

Die Geschichte des Ausdrucksbegriffs beginnt mit einer Leerstelle. Anders als bei vielen philosophischen Termini fehlt ein griechischer Vorläufer dazu. Erst im vierten nachchristlichen Jahrhundert taucht das lateinische expressio / exprimere im Kontext von Rhethorik und Stilistik auf. Dort galt die Rede als Ausdruck der Affekte. In der Philosophie aber hielt exprimere kaum Einzug. Vor Spinoza lässt sich kein regelmäßiger oder terminologischer Gebrauch ausmachen: »There is no clear precedent for the distinctively metaphysical emphasis that Spinoza gives to the term ›exprimere‹.« 1 Die verstreuten Vorkommnisse sind eher kolloquialer Art: »Aquinas uses the Latin term to denote the act of uttering or representing by means of words [. . .]. Hobbes and Descartes, two of Spinoza's most prominent influences, also use the term ›expression‹ in the verbal sense.« 2 Im deutschen Sprachraum wurde das Wort »uztruc« zuerst im Spätmittelalter von Mystikern gebraucht, um in neuplatonischer Nachfolge eine Relation zwischen Urbild und Abbild zu bezeichnen. 3 Tatsächlich scheint der Neuplatonismus ein möglicher Vorläufer für Spinoza zu sein, sofern auch dort das Hervortreten des Vielen aus dem Einen ein wichtiger Grundgedanke ist. In einer Kaskade von Seinsstufen fließt dieses Eine zunächst in die Weltvernunft, dann in die Seelen, dann in die wahrnehmbaren Dinge über, und zwar ohne dabei aufgezehrt zu werden, so wie bei Spinoza die Modi ohne Auflösung der Substanz produziert werden. Plotin, der wichtigste Vertreter des Neuplatonismus, benutze dafür den Terminus ἀπόρροια, der aber nicht durch expressio, sondern durch emanatio latinisiert wurde. Von daher rührt auch der Name Emanationslehre. Die ›ausgeflossenen‹ Produkte stehen nach platonischem Vorbild in einem Verhältnis der Teilhabe (µέθεξις) zum Einen und sind ihm als Abbilder ähnlich (ὅµοιον). 4 Hier zeichnen sich nun Unterschiede zu Spinoza ab.

Gartenberg 2017, S. 2, Fussnote 2. Ebd., S. 2, Fussnote 2. Der Übersichtsartikel zum Begriff Ausdruck im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Ritter 1971, S. 653–662, erwähnt Spinoza mit keinem Wort. Lediglich Leibniz, Shaftesbury, Kant und einige andere, bei denen der Ausdrucksbegriff aber nur unbedeutend ist, werden genannt. 3 Vgl. Ritter 1971, S. 655. 4 Plotin bekundet diese Nähe in den Enneaden, wo er nach eigener Auskunft nur ausformuliere, was bei Platon schon enthalten sei: »And [it follows] that these statements of ours are not new; they do not belong to the present time, but were made long ago, not explicitly, and what we have said in this discussion [on the three primary hypostases, Vf.] has been an interpretation of them, relying on Plato’s own writings«, Plotin 1984, V 1,8, S. 41. Siehe auch https://www.schwabeonline.ch, Artikel Emanation, abgerufen am 17.09.2018. 1

2

Eine kurze Geschichte des Ausdrucksbegriffs

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Empedokles verwendete ebenfalls den Terminus ἀπόρροια. So wird ihm die Aussage zugeschrieben, »daß von allem, was entstanden ist, Ausflüsse [ἀπορροαί] stattfinden – nicht nur von Lebewesen und Pflanzen oder von Erde und Meer, sondern auch von Steinen und Kupfer und Eisen gehen kontinuierlich zahlreiche Ströme aus«. 5 Häufiger werden jedoch die Begriffe ποιεῖν oder ὑφιστάναι gebraucht. Zu den Unterschieden zwischen solchen Emanationslehren und Spinozas Konzeption gehört auch, dass die Emanation eine Form von transzendenter Kausalität ist. Bei einer transzendenten Kausalität wird, so Schmid, »das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung als ein emanatives Verhältnis vorgestellt: als eine Form des Überfließens der Ursache in ihre Wirkung«. 6 Dieses Überfließen wird durch eine Graduierung des Seins möglich: »Damit eine Ursache in ihre Wirkung ›überfließen‹ und [sie] entsprechend hervorbringen kann, braucht sie ein gewisses Maß an Macht, Realität oder Vollkommenheit, die sie ihrer Wirkung weiter gibt, und muss sich folglich in ihrem Grad an Macht oder Vollkommenheit übertreffen.« 7 Ein zweiter möglicher Einfluss auf Spinoza ist, neben der griechisch-spätantiken Emanationslehre, die jüdisch-christliche Offenbarungslehre. 8 Offenbarung und Emanation verbinden sich in der Gnosis zum Versuch, die Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpfen zu überwinden und zur Erkenntnis eines transzendenten Wesens zu gelangen. Von der Offenbarungslehre unterscheidet sich Spinoza aber nicht nur durch die Ablehnung von Transzendenz, sondern auch von Teleologie und Eschatologie, die mit ihr verknüpft sind. In der Spinoza-Rezeption haben insbesondere Deleuze und vor ihm schon Kaufmann den Ausdruck als säkularisierten Gegenentwurf zur Offenbarung gedeutet. »Expressio as a substitute for revelation occurs in conformity with that tendency to secularize the main principles of religion which prevails throughout modern philosophy.« 9 Ebenso Deleuze: »Niemals zuvor [als bei Spinoza, Vf.] war die Anstrengung größer, Offenbarung und Ausdruck als zwei Bereiche zu unterscheiden. Oder als zwei heterogene Verhältnisse: dasjenige des Zeichens und des Bezeichneten und dasjenige des Ausdrucks und des Ausgedrückten. Das Zeichen ist immer mit einem Proprium verknüpft; es bedeutet immer ein Gebot und ist Grundlage unseres Gehorsams. Der Ausdruck

Zitiert nach Mansfeld 2007, S. 127, mit Verweis auf DK 31 B 89. Schmid 2011, S. 234. 7 Ebd., S. 234. Vgl. zur Frage der Seinsgraduierung bei Spinoza Boehm 2019. 8 Vgl. Kap. 3. In einer Offenbarung kann u. a. dem Menschen der verborgene göttliche Willen kundgetan werden. Luther übersetzt ἀποκαλύπτειν, wörtlich ›aus der Verbergung nehmen‹, mit ›offenbaren‹. 9 Kaufmann 1940, S. 84. 5

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betrifft immer ein Attribut; er drückt ein Wesen aus.« 10 Durch Spinoza werde so ein aufklärerischer Gedanke in die Welt gesetzt: »The steady philosophical enlightenment is put in the place of God's historical appearance to selected individuals or to a chosen people.« 11 Ein dritter, aber weniger offensichtlicher Vorläufer ist Nikolaus von Kues. Mit seinem Konzept der complicatio-explicatio wird ein Verhältnis vom Einen zum Vielen gedacht, das Strukturparallelen zu Spinoza aufweist, nämlich die Einfaltung der Vielheit der Welt in die Einheit Gottes bzw. umgekehrt die Entfaltung der Vielheit aus dieser Einheit. In seinem Trialogus de possest sagt Cusanus: »Da es sich also so verhält, daß Gott das absolute Möglichsein und Wirklichsein [potentia et actus] und beider Verknüpfung und somit jedes mögliche Sein wirklich ist, so ist klar, daß er eingefaltet alles ist [complicite esse omnia]. Alles nämlich, was irgendwie ist oder sein kann, ist im Ursprung selbst eingefaltet [complicantur], und alles, was geschaffen ist oder geschaffen werden wird, wird von dem entfaltet [explicantur], in dem eingefaltet es ist.« 12 Eine Übertragung dieser Konzeption auf Spinoza hat Deleuze versucht. Complicatioexplicatio, so rekapituliert er, ist »sowohl die Anwesenheit des Vielen im Einen, als auch die des Einen im Vielen [. . .]. Gott ist die ›komplizierte‹ Natur und diese Natur expliziert Gott und impliziert ihn«. 13 In Spinozas Substanz sind nun die Modi zunächst in komplizierter Form eingeschlossen. Erst wenn sie in explizierter Form vorliegen, kann man sie aber als konkrete und vereinzelbare Dinge ausmachen. »Wenn die Modi Gegenstand einer äußerlichen Setzung werden, hören sie auf, unter der komplizierten Form zu existieren, die sie haben, solange ihre Wesen allein im Attribut enthalten sind. Ihre neue Existenz ist eine Explikation: sie explizieren das Attribut, jeder Modus expliziert es ›auf gewisse und bestimmte Weise‹.« 14 Hier kommt nun der Ausdruck ins Spiel. Deleuze setzt dazu die Expression mit einer Explikation gleich: »Einerseits ist der Ausdruck eine Explikation: eine Entwicklung dessen, was sich ausdrückt, eine Darstellung des Einen im Vielen (Darstellung der Substanz in ihren Attributen, dann der Attribute in ihren Modi). Andererseits aber schließt der vielfache Ausdruck das Eine ein. Das Eine bleibt eingeschlossen in das, wodurch es ausgedrückt wird, eingeprägt in das, wodurch es entwickelt wird, immanent im Ganzen dessen, wodurch es dargestellt wird: in diesem Sinn ist der Ausdruck ein Einschließen.« 15 Diese Be10 11 12 13 14 15

Deleuze 1993b, S. 52. Vgl. zur Kritik am anthropomorph-transzendenten Gottesbild Kap. 3. Kaufmann 1940, S. 84. Cusanus 1991, S. 11. Deleuze 1993b, S. 20. Ebd., S. 188. Ebd., S. 20.

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obachtung plausibilisiert überdies die in Kap. 4 gemachte Äquivalenz zwischen involvere und exprimere (x involviert y ↔ x drückt y aus). Schließlich kann als vierter Hintergrund für den Ausdrucksbegriff die Ästhetik in verschiedenen historischen Epochen genannt werden. »Im Zeitalter der Aufklärung sind die antiken Zusammenhänge [. . .des Ausdrucks] mit Rhetorik, Physiognomik, Musik und Sprache noch präsent. Die neue, zuerst in England entwickelte Wissenschaft der Ästhetik nimmt daher konsequent in ihrem allmählichen Entstehen den Terminus ›expression‹ auf und bewirkt in der Transformation der alten wichtige Umgestaltungen seiner Bedeutung.« 16 In Deutschland spielt Spinoza dann eine wichtige Rolle für die Ästhetik bei Goethe, Schlegel, Winckelmann, Klopstock, Lessing und Herder. Im Allgemeinen steht bei solchen Rezeptionen die subjektive Seite des Ausdrucks als Gemütszustand im Vordergrund. Auch Kant hat in seiner Kritik der Urteilskraft den Begriff des Ausdrucks aufgenommen und vom Begriff der Darstellung unterschieden. 17 Er führt den Ausdrucksbegriff im Zusammenhang mit dem »Genie« ein, das sich dadurch auszeichne, zu einem gegebenen Begriff Ideen aufzufinden, was keine Wissenschaft lehren und kein Fleiss lernen könne. 18 Das Genie verfügt über »Geist« als Vermögen, ästhetische Ideen auszudrücken. Auch die Einteilung der schönen Künste erfolgt nach Kant entsprechend den Arten des Ausdrucks – nämlich Ausdruck in Worten, Gebärden und Ton im weitesten Sinne – in redende, bildende und das Spiel der Empfindungen. 19 Unter den bildenden Künsten machen Plastik und Malerei Gestalten im Raum zum Ausdruck von Ideen. 20 Im Unterschied zu den vorangehenden historischen Kontexten, der Emanation, der Offenbarung und der complicatio-explicatio kann bei Kant natürlich kein Einfluss auf Spinoza bestehen, sondern es geht umgekehrt allenfalls ein solcher von ihm aus. Darüberhinaus lassen sich von der Ästhetik weitere Interpretationslinien ziehen, etwa zu Deleuze oder Kaufmann. Letzterer hat in seinem Aufsatz Spinoza's System as Theory of Expression gerade die ästhetische Komponente hervorgehoben, indem er die Natur als »creative power« beschreibt, »[which] exists only in its manifestations. Existence, ex-sistence, means the stepping forth of this unbound power. Its expression is inevitable«. 21 Ritter 1971, S. 653. Ich danke Christian Benne, Kopenhagen, für diesen Hinweis. Im TIE verwendet Spinoza N. B. noch den Begriff Darstellung im Zusammenhang mit den Attributen, sofern sie nämlich das Wesen Gottes darstellen (ostendere). 18 Vgl. Kant 2009, § 49. 19 Vgl. ebd., § 51. 20 Vgl. ebd., § 51. 21 Kaufmann 1940, S. 85. 16 17

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Er unterscheidet den kontinuierlichen prozesshaften Aspekt des Ausdrucks vom punktuellen und insofern diskontinuierlichen ereignishaften Aspekt der Offenbarung: »Expression is not an event that happens, but a performance that is carried through.« 22

7.2 Eine kurze Systematik des Ausdrucksbegriffs

In systematischer Hinsicht ist ein Vergleich des Ausdrucks mit bekannteren und gebräuchlicheren Relationen wie Kausalität aufschlussreich, hier insbesondere vor dem Hintergrund des Gegensatzes von Transzendenz und Immanenz. Von immanenter Kausalität spricht Spinoza zum ersten Mal in 1p18: »Gott ist die immanente, nicht aber die übergehende Ursache aller Dinge.« 23 Dieser Lehrsatz kann wiederum im Rückgang auf eine scholastische Problemlage besser verstanden werden. In seiner Summa trifft Thomas von Aquin folgende Unterscheidung: »Zwischen Schaffen und Tun besteht aber ein Unterschied; denn das Schaffen ist eine Tätigkeit, die auf einen äußeren Stoff geht, wie bauen, sägen usw.; Tun aber ist eine Tätigkeit, die im Tätigen selbst verbleibt, wie sehen, wollen und dgl.« 24 Wenn also die Wirkung innerhalb der Ursache verbleibt, spricht man von actio, wenn sie veräußerlicht wird, von factio. Entsprechend steht Spinozas immanente Kausalität für einen Ursache-Wirkungszusammenhang, der im Gegensatz zu einer transzendenten Kausalität innerhalb desselben Systems verbleibt. Dieses System ist Gott, und gerade diese Immanenz ist in der causa sui angelegt. Marc Rölli hat zu 1p18 bemerkt: »Der Lehrsatz legt nahe, die substanzlogischen Erläuterungen Spinozas als immanenztheoretische Bestimmungen der causa sui zu interpretieren.« 25 Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie der Gedanke der immanenten Kausalität von der Ausdrucksrelation aufgenommen wird. Dazu müssen wir untersuchen, was Kausalität bei Spinoza eigentlich heißt. Eine einschlägige Stelle ist 1p28: »Jedes Einzelding, d. h. jedes Ding, das endlich Ebd., S. 85. »Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens.« 24 »Differt autem facere et agere quia, ut dicitur in 9 Metaphys. [lib. 8, cap. 8], factio est actus transiens in exteriorem materiam, sicut aedificare, secare, et huiusmodi; agere autem est actus permanens in ispo agente, sicut videre, velle, et huiusmodi.« Aquin 1940, quaestio 57, articulus IV, S. 152. Die Unterscheidung geht zurück auf Aristoteles’ Metaphysik, Aristoteles 2009, Θ/IX, 1050a, S. 127, wo die Wendungen ἔργον παρὰ τὴν ἐνέργειαν und ἐν αὐτοῖς ὑπάρχει ἡ ἐνέργεια sind. 25 Rölli 2018, S. 30. Vgl. zur immanenten Kausalität auch Dorothy Emmet: »Changes within a system taken as a whole are cases of immanent causation. [. . .] transeunt causation [happens] by something acting on the system from outside«. Emmet 1984, S. 77 f. Von causalitas selbst ist nur einmal in der Ethica, in 1p17s, die Rede: »Deus omnibus rebus prior est causalitate«. 22 23

Eine kurze Systematik des Ausdrucksbegriffs

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ist und eine bestimmte Existenz hat, kann weder existieren noch zu einem Wirken bestimmt werden, wenn es nicht von einer anderen Ursache zum Existieren und Wirken bestimmt wird, die ebenfalls endlich ist und eine bestimmte Existenz hat.« Dieser Lehrsatz beschreibt eine Kausalrelation zwischen endlichen Dingen, also nach Kap. 6 endlichen Modi, in den uns vertrauten Termini Ursache und Wirkung. Befremdlich ist dagegen, dass dies in einem unzeitlichen Kontext geschieht. Ursache-Wirkungs-Ketten sind hier nicht Entwicklungen in der Zeit, sondern gleichsam instantane Fügungen, in denen jeder Modus zugleich durch alle anderen Modi bestimmt ist. 26 Ein Modus wird, so Della Rocca, als Teil eines Gesamtpaketes ›produziert‹: »a finite mode cannot be produced by God's nature except as part of a package of infinitely many other finites modes (1p28).« 27 Gott wirkt dabei, so auch Bartuschat, »indem er unendlich viele endliche Modi produziert, die ihrerseits in einer innerweltlichen Kausal-Relation zueinander stehen, in der die Besonderheit eines singulären Modus allein beschreibbar ist«. 28 Insofern er in diesem Sinne affiziert ist, kann Gott als Ursache der Bestimmungen der endlichen Dinge gelten. Woher aber stammt überhaupt die ›Kraft‹, die ›Energie‹, der ›Impuls‹, den eine Ursache mit sich führen muss, um als Ursache wirksam werden zu können? Neben dem bloßen Konstatieren eines Zusammenhangs müsste auch ein Grund für dessen Dynamik angegeben werden. Bei Spinoza liegt dieser Grund in den Essenzen von Dingen oder Modi und diese Essenzen sind wiederum in Gott als absolutem Grund. Darauf hat insbesondere Bartuschat hingewiesen: »Diese Wirkungen [einzelner Dinge, Vf.] sind als besondere nicht von der einen Substanz her determiniert; sie haben aber über die Essenzen, deren Wirkungen sie sind, aus dem absoluten Grund dieser Essenzen eine Notwendigkeit, die für das Ganze aller Wirkungen gilt.« 29 Grundlage hierfür ist Lehrsatz 1p25: »Gott ist nicht nur die bewirkende Ursache [causa efficiens] der Existenz von Dingen, sondern auch ihrer Essenz.« Und nur deswegen, weil Modi Essenzen haben, können sie überhaupt eine Wirkung ausüben bzw. Ursache sein: »dieses Ursache-Sein hat ein endlicher Modus nicht aus der Wirksamkeit anderer endlicher Modi, sondern aus der Kausalität Gottes, als dessen Modifikation er eine ewige Essenz ist.« 30 Verschiedene andere Kommentatoren haben diesen Punkt ebenfalls hervorgehoben. Martin Lin spricht von einer »causation through essence«, Viljanen von einem »essentialist model of causal activity on which the system

26 27 28 29 30

In einem physikalischen Modell könnte man hier an einen Phasenübergang denken. Della Rocca 2008, S. 71. Bartuschat 2006, S. 81. Bartuschat 2017a, S. 122. Bartuschat 2006, S. 81.

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Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

is built«. 31 Dorothy Emmet charakterisiert Ursachen als »genuinely effective« und als proper hoc statt einem post hoc. 32 Nicht nur im Zusammenhang mit jeweiligen Existenzweisen, sondern auch mit jeweiligen Essenzen benutzt also Spinoza die Rede von Kausalität bzw. causa. Dies erscheint ungewöhnlich und zeigt zugleich, dass Kausalität hier umfassender verstanden werden muss als eine bloße Verknüpfung, Gesetzlichkeit oder Regelhaftigkeit. Bei Kant etwa ist Kausalität eine der Kategorien und Bedingung der Möglichkeit, Verknüpfungen zwischen Erscheinungen herzustellen. Dies »geschiehet nun dadurch, daß er [der Verstand] die Zeitordnungen auf die Erscheinungen und deren Dasein überträgt«. 33 Die Regel dazu gibt die zweite Analogie der Erfahrungen, nämlich der »Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität / Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung«. 34 Eine solche Verknüpfung kann aber bei Spinoza nicht gemeint sein. 35 Auch werden in der Ethica keine Gesetze aufgestellt, denen Körper ›unterliegen‹ oder die sie zu ›befolgen‹ hätten. Solche noch heute in den Naturwissenschaften übliche Wendungen sind vielmehr Übertragungen aus dem iuridischen oder religiösen Bereich, dem Spinoza kritisch gegenübersteht und den er zu meiden sucht. Wenn er in der Ethica dennoch vereinzelt von »jus« spricht, tut er dies, um an bestimmte Diskurse anzuknüpfen, nicht aber um damit Naturgesetze einzuführen. 36 Was oben heuristisch mit ›Kraft‹, ›Energie‹ oder ›Impuls‹ bezeichnet wurde, verweist bei Spinoza auf einen ontologischen Machtbegriff, von dem her Kausalität zu verstehen ist. Wirkungen von Einzeldingen sind letztlich Auswirkungen von Gottes Macht. Grundlage dafür ist Lehrsatz 1p34: »Gottes Macht ist genau seine Essenz«, und diese Essenz überträgt sich auf alle Dinge, wie nachfolgend in Kap. 8 erläutert wird. Damit kann man sagen: »talk about causality can be, as it were, translated into talk about power. To be able to cause effects 31 Lin 2006; Viljanen 2007, S. 395. Vgl. auch: »The idea is that efficient causation is a kind of giving. [. . .] A cause brings about a change in the affected thing by giving it the quality it previously lacked.« Lin 2006, S. 343. 32 Emmet 1984, S. 1. 33 Kant 1993, B 244 f. 34 Ebd., B 232. 35 Die Vielfältigkeit von Kausalitätsbegriffen wird schon bei Aristoteles begründet, der vier Weisen der Verursachung (αἰτίαι) unterscheidet. In latinisierter Form sind es: causa efficiens, causa finalis, causa formalis, causa materialis. Davon bestehen in der Frühen Neuzeit noch causa efficiens und causa finalis. 36 So etwa in 2p3s: »Unter Gottes Macht versteht das gewöhnliche Volk Gottes freien Willen und sein Recht [jus] auf alle Dinge«. In 4praef steht, dass jemand, der den Affekten unterworfen ist, nicht unter »seinen eigenen Gesetzen« steht (»sui juris non est«). Schließlich taucht der Gesetzesbegriff auch in 4p37s2 auf, wo gesellschaftliche und politische Fragen behandelt werden. Im Zusammenhang mit metaphysischen Fragen wird vom Begriff jus gänzlich abgesehen.

Eine kurze Systematik des Ausdrucksbegriffs

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is to be powerful.« 37 Die Macht Gottes erfüllt sich in jedem Zeitpunkt und in jedem Ding. Mit Arthur Lovejoy könnte man dies als principle of plenitude bezeichnen: »Spinoza had thus expressed the principle of plenitude in its most uncompromising form and had represented it as necessary in the strict logical sense. [. . .but] what most interested him in his own doctrine was not the consideration that everything that logically can be must and will be, but the consideration that everything that is must, by the eternal logical nature of things, have been, and have been precisely as it is.« 38 Die Machtontologie ist nicht nur für den Kausalitätsbegriff fundamental, sondern für die Ethica überhaupt. Sie wird in den folgenden Kapiteln dieses Buches expliziert: in Kap. 8 zur univoken Übertragung auf die Essenzen der Individuen, in Kap. 9 zur Vereinzelung durch den conatus, in den Kapiteln 10 - 12 zum Willens-, Handlungs- und Freiheitsbegriff. Im Handlungsbegriff wird die Fähigkeit eingetragen sein, Ursache zu sein bzw. Wirkungen hervorbringen zu können, und im Freiheitsbegriff die Fähigkeit, causa sui zu sein, – womit sich auch der Kreis der Ethica an ihren Anfang zurück schließt. Was bedeutet nun dies alles für den angestrebten Vergleich des Kausalitätsund des Ausdrucksbegriffs? Führen wir die Stränge zusammen: die immanente Kausalität in 1p18, die existenzielle Kausalität in 1p28 und die essentielle Kausalität in 1p25. Die beiden letzten hat Bartuschat zu einer doppelten Kausalität verflochten: »Somit unterliegt ein endlicher Modus, anders als der nur von Gott verursachte unendliche Modus, einer doppelten Form von Kausalität.« 39 Ebenso Della Rocca und Kondylis: »This indicates a dependence of each finite mode on God and on other finite modes: the finite mode exists only because God exists and because God causes other finite modes.« 40 »Das einzelne Naturwesen hat deshalb nicht die unendliche Substanz als seine eigene unmittelbare Ursache, sondern ein anderes Naturwesen oder eine Reihe von solchen. Die endlichen Wesen unterliegen also einer doppelten Bestimmung, d. h. sie entstehen (und verschwinden) an der Kreuzung der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Substanz mit der jeweils wirkenden besonderen Kausalkette.« 41 Die verschiedenen Aspekte der doppelten Kausalität können nun im Ausdrucksbegriff zusammengefasst werden. Der Ausdruck ist der Terminus für Spinozas immanente Kausalität, die nach dem Gesagten weit über die gewöhnliche Kausalität hinausgeht und dabei insbesondere berücksichtigt, dass und wie Essenzen sich als wirkende Machtformen manifestieren. Der Ausdruck als Grundrelation 37 38 39 40 41

Viljanen 2007, S. 395. Lovejoy 1960, S. 155. Bartuschat 2006, S. 80. Della Rocca 2008, S. 74. Kondylis 1990, S. 230.

Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

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der Immanenzphilosophie wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels weiter begründet. 42 Nach den historischen und systematischen Kontextualisierungen soll drittens der Ausdrucksbegriff in einer analytischen Perspektive an weitere Relationen wie Begreifen, Verursachen und Inhärieren angebunden und damit seine terminologische Verwendung in der Ethica weiter gefestigt werden.

7.3 Der Ausdruck im Bezug auf die Relationen begreifen, verursachen, inhärieren

Neu ins Spiel kommt hier die Relation des Begreifens, nachdem Verursachung und Inhärenz schon in Kap. 6 diskutiert wurden. Die Termini begreifen, verursachen und inhärieren stehen für lateinisch concipere, causare und inesse oder in der englischen Literatur für conceive, cause und inhere. Wir untersuchen deren mögliche Kombinationen auf ihre logischen Abhängigkeiten. Dabei werden Textstellen aus unterschiedlichen Werken und Orten in diesen Werken aufeinander bezogen, so dass hier mögliche historische Entwicklungen und Kontextualisierungen für einmal ausgeblendet werden. Eine solche analytische Perspektive stützt sich weitgehend auf Ergebnisse von Gartenberg und Lin. 43

Erwähnenswert ist noch eine andere, linguistische, Anknüpfung an den Begriff Ausdruck, die wiederum auf Deleuze zurückgeht. In Differenz und Wiederholung fasst er die Attribute auf »wie qualitativ verschiedene Bedeutungen [sens], die sich auf die Substanz als ein und dasselbe Bezeichnete beziehen« (Deleuze 2007, S. 64). So benennen die Attribute verschiedene Weisen, wie derselbe Referent gegeben sein kann, analog zur Venus als Morgenstern und als Abendstern. Ein Beispiel Spinozas ist, dass die beiden Aussagen ›Gott ist ein Feuer‹ und ›Gott ist eifersüchtig‹ ein und dasselbe bezeichneten (TTP, Kap. 7, [5], S. 124). Diese Weisen seien, so Deleuze, real und nicht bloß numerisch verschieden, da sie qualitativ unterscheidbar sind und je für sich begriffen werden können. Dennoch beziehen sie sich univok auf dasselbe Seiende. Zum einen gilt also, »daß man mehrere formal geschiedene Bedeutungen [senses] auffassen kann, die sich aber auf das Sein als ein einziges – ontologisch eines – Bezeichnetes beziehen.« (Ebd., S. 58 f.) Und zum anderen, »daß das Sein, dieses gemeinsame Bezeichnete, sofern es sich ausdrückt, seinerseits in ein und derselben Bedeutung [sens] von all den numerisch geschiedenen bezeichnenden oder ausdrückenden Elementen ausgesagt wird.« (Ebd., S. 59) Damit lässt sich eine Parallele zwischen der Ausdrucksterminologie und der strukturalistischen Terminologie von Signifikant und Signifikat ziehen, i) insofern als das Bezeichnete (le désigné), also das, was sich ausdrückt, die Substanz ist; ii) die Bedeutung (le sens, l’exprimé), also das Ausgedrückte, das Wesen der Substanz sichtbar in den Attributen ist; iii) das Bezeichnende (le désignant, les exprimants), also das Ausdrückende, die Modi sind. Ferner sei auch auf Walter Benjamin verwiesen, dessen Sprachauffassung ebenfalls auf dem Ausdruck beruht, durch den sich die Dinge in der Sprache mitteilen. Vgl. dazu Berger 2019, Kap. 9. 43 Gartenberg 2017; Lin 2006. 42

Der Ausdruck im Bezug auf die Relationen begreifen, verursachen, inhärieren

139

Ausdrücken und begreifen

Die von Gartenberg aufgestellte und in Kap. 4 bereits eingeführte Grundthese behauptet eine notwendige Äquivalenz (beiderseitige logische Implikation) zwischen ›x drückt y aus ↔ x ist hinreichend, um y zu begreifen‹. Dabei ist der Zusatz ›hinreichend‹ auf der rechten Seite wichtig. Denn es gilt: Nicht: ›x drückt y aus → x wird durch y begriffen‹, Nicht: ›x drückt y aus → y wird durch x begriffen‹. Warum diese Implikationen nicht gelten, kann man durch eine Briefstelle aus Ep. 35 plausibilisieren, wo Spinoza die Eigenschaften eines Wesens beschreibt, das notwendige Existenz in sich schließt: »Es muß einfach sein, nicht aus Teilen zusammengesetzt. Denn diese Teile, die es zusammensetzen, müßten der Natur und der Erkenntnis nach früher sein als das, was aus ihnen zusammengesetzt ist.« Wenn man nun annimmt, dass der Teil das Ganze ausdrückt (also wie oben formuliert: x drückt y aus), dann würde nach der ersten Formel der Teil durch das Ganze begriffen werden, was aber der Aussage im Brief widerspräche, dass die Kenntnis der Teile vorangehen müsse. Die zweite Formel würde umgekehrt heißen, dass das Ganze durch die Teile begriffen wird, was zwar mit der Briefstelle, dann aber nicht mehr mit der Substanzdefinition in der Ethica übereinstimmt, wenn man als das Ganze die Substanz nimmt, die nicht durch ihre Teile, die Modi, sondern durch sich allein begriffen wird (1def3). Man kann also, zumindest unter Absehung von gewissen Kontexten, dafür argumentieren, dass keine der obigen Implikationen gilt, die mit einem ›Nicht‹ versehen sind.

Ausdrücken und verursachen

Im Zusammenhang mit der Systematik des Ausdrucksbegriffs wurde die »causation through essence« angesprochen. Martin Lin hat folgende Relation zwischen ausdrücken und verursachen vermutet: 44 »if c causes e, then e expresses c's nature.« Das heißt, dass das Bewirkte bzw. die Idee des Bewirkten die Essenz der Ursache ausdrückt: »The idea of an effect expresses the nature of the effect's cause.« 45 Diese Beziehung soll für alle Attribute gelten. »Bodies express the 44 45

Lin 2006, S. 339. Ebd., S. 342.

Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

140

natures of their causes just as much as ideas do.« 46 Würde man als Beispiel den physikalischen Stoß zweier Kugeln nehmen, so könnte man sagen, dass eine gestoßene Kugel die Essenz der stoßenden Kugel ausdrückt. Deren Essenz ist ein bestimmtes Verhältnis von Bewegung und Ruhe, das sich in der Weise, wie sich die gestossene Kugel bewegt, manifestiert. Bezeichnet man diese Essenz als F -heit, kann man weiter sagen: 47 »e expresses c's F-ness just in case both e and c are F and c caused e to be F.« Die F -heit der Wirkung wird, in Übereinstimmung mit den Überlegungen im vorigen Abschnitt, kraft der F -heit der Ursache hervorgebracht. 48 Übereinstimmend mit der ersten Formel von Lin stellt Gartenberg die Verhältnisse wie folgt dar: 49 Nicht: ›x expresses y → x is caused by y‹. Jedoch: ›x causes y → y expresses x‹. Als Belegstelle in der Ethica kann man 3agdef anführen, wonach der Geist den Körper ausdrückt, genauer die Idee, »die die Form des Affekts ausmacht, einen Zustand des Körpers (oder eines seiner Teile) anzeigen oder ausdrücken [indicare vel exprimere]« muss. Eine Verursachungsrelation zwischen Geist und Körper ist N. B. nach der ersten Formel ausgeschlossen in Übereinstimmung mit 1p2&3. Die zweite Formel ist schlicht eine Reformulierung der obigen von Lin, wobei auf der rechten Seite zu ergänzen wäre: ›die Essenz von x‹ statt bloß ›x‹. Dies scheint jedoch unproblematisch, weil es stets Essenzen sind, die ausgedrückt werden. Die dritte zu diskutierende Kombination, nämlich diejenige zwischen ausdrücken und inhärieren, kann einfacher hergeleitet werden, wenn man zuvor die Relation von inhärieren und verursachen betrachtet.

Inhärieren und verursachen

Für dieses Verhältnis gibt es m. W. keine explizite Belegstelle bei Spinoza (wobei es gerade im Blick auf die erwähnte Diskussion zwischen Curley und Melamed interessant wäre). Man kann aber aus 1p18dem: »Alles, was ist, ist in Gott Ebd., S. 342, Fussnote 61. Ebd., S. 343. 48 Stephan Schmid hat dieselbe Implikation wie folgt formuliert: » ›x ist die Ursache von y‹ ↔ ›Die Essenz von x impliziert (die Existenz von) y‹.« Schmid 2011, S. 235. 49 Gartenberg 2017, S. 4. Siehe in seiner Fussnote 7 auch Hinweise auf verschiedene Positionen dazu in der Literatur. 46 47

Der Ausdruck im Bezug auf die Relationen begreifen, verursachen, inhärieren

141

und muß durch Gott begriffen werden [. . .]; mithin [adeoque] ist [. . .] Gott die Ursache der Dinge, die in ihm sind«, (mit Vorsicht) schließen: ›x inhäriert in y → x ist verursacht durch y‹. Freilich zeigt die Konjunktion adeoque keine eigentliche Implikation an, sondern bedeutet schlicht ›so weit‹, ›so sehr‹ oder ›mithin‹. 50 Damit kann man auf das Verhältnis von Ausdruck und Inhärenz zurückkommen:

Ausdrücken und inhärieren

Nach Gartenberg gilt hier: 51 Nicht: ›x drückt y aus → x inhäriert in y‹. Ein Ausdrucksverhältnis impliziert nicht ein Inhärenzverhältnis. Denn aus der rechten Seite ›x inhäriert in y‹ könnte man nach der vorigen Formel folgern: ›x ist verursacht durch y‹. Damit müsste aber auch gelten: ›x drückt y aus → x verursacht y‹, was zuvor ausgeschlossen wurde. Von den möglichen Kombinationen von ausdrücken, begreifen, verursachen und inhärieren bleiben noch zwei übrig, nämlich:

Begreifen und Verursachen

Für diese Relation ist die Textbasis wieder stabiler. Man kann sich dazu auf 1ax4 berufen: »Die Erkenntnis einer Wirkung hängt von der Erkenntnis einer Ursache ab und schließt diese ein.« Dieses Axiom gibt im Grunde die aristotelische Auffassung wieder, dass Wissen stets ein Wissen von Ursachen ist. Es kann für unsere Zwecke übersetzt werden mit: »Nur wenn die Ursache erkannt wird, wird die Wirkung erkannt« bzw. »Wenn die Wirkung erkannt wird, wird die Ursache erkannt.« Weiter kann man sagen: »Nur wenn etwas als Verursachungszusammenhang erkannt bzw. begriffen wird, ist auch eine Verursachung gegeben.« 52 Das würde dann heißen: 50 Viljanen konstatiert ein schlichtes Nebeneinander der beiden Satzteile in 1p18dem und gibt damit sowohl Curley als auch Melamed recht: »the relationship between substance and modes is not merely one of causal dependence in the sense that modes are produced by substance, but also one of inherence in the sense that modes exist in substance.« Viljanen 2007, S. 402. 51 Not: »If x expresses y , then x inheres in y .« Gartenberg 2017, S. 4. 52 Martin Lin schreibt übereinstimmend damit: »I can’t have the concept of e without also having the concept of its cause c.« Lin 2006, S. 335. So gilt: »Spinoza concludes that if modes are conceived through God, then they are caused by God in virtue of 1a4.« Lin 2006, S. 335.

Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

142

›x wird verursacht durch y → x wird begriffen durch y‹. Umgekehrt aber gilt: Nicht: ›x wird begriffen durch y → x wird verursacht durch y‹.

Inhärenz und Begreifen

Nimmt man die Formeln für inhärieren und verursachen sowie von verursachen und begreifen zusammen, so gilt transitiv: ›x inhäriert in y → x wird begriffen durch y‹. Und weil begreifen hinreichend für ausdrücken ist, gilt weiter: ›x inhäriert in y → x drückt y aus‹. Betrachten wir schließlich die letzte Relation:

Involvieren und Begreifen

Diese wurde schon in Kap. 4 aufgrund von 2p49dem hergeleitet: ›x involviert y ↔ x kann ohne y nicht begriffen werden‹, anders formuliert: ›x involviert y ↔ y ist notwendig, um x zu begreifen‹. Die wichtigsten Relationen, in die das Konzept des Ausdrucks eingeht, lauten also zusammengefasst: ›x involviert y ↔ x drückt y aus‹, ›x ist hinreichend, um y zu begreifen ↔ x drückt y aus‹, ›x verursacht y → y drückt die Natur von x aus‹, ›x inhäriert in y → x drückt y aus‹. Diese Formalisierungen legen nahe, dass der Ausdruck eine ontologisch und epistemologisch fundamentalere Relation ist, zumindest in dem Sinne, dass er stets eine notwendige Bedingung darstellt. 53 Dies bestätigt in gewissem Sinne die von Deleuze geäußerte These, es sei »der Ausdruck, der die Beziehung Bei den Propria eines Dinges kann man im Übrigen sagen, dass sie sowohl durch dieses Ding verursacht sind als auch in ihm inhärieren als auch es ausdrücken. Vgl. Gartenberg 2017, S. 21, Fussnote 52. 53

Der Ausdruck als Grundrelation der Immanenzphilosophie

143

zum Verstand begründet, und nicht umgekehrt«. 54 »Man kann den Ausdruck nicht auf eine einfache Explikation des Verstandes zurückführen [. . .]. Denn Explizieren ist alles andere als die Operation eines Verstandes, der den Dingen äußerlich bleibt; es bezeichnet zunächst die Entwicklung des Dings in sich selbst und im Leben.« 55 Somit ergibt sich in der Ausdrucksterminologie auch eine Konvergenz zwischen einer analytischen und einer kontinentalen Herangehensweise. Kehren wir nun noch einmal zum Zusammenhang von Ausdruck und Kausalität zurück, der den Schwerpunkt des systematischen Aspekts ausmachte, um das Konzept des Ausdrucks abschließend zu charakterisieren.

7.4 Der Ausdruck als Grundrelation der Immanenzphilosophie

Bei der systematischen Kontextualisierung waren verschiedene Weisen der Kausalität zur Sprache gekommen: immanente, existenzielle und essentielle. Auch in der causa sui liegt im Prinzip ein Kausalverhältnis vor: eine Ursache, die gleichzeitig ihre Wirkung ist. Somit stellt sich die Frage, ob bei all diesen Vorkommnissen im gleichen Sinne von Ursächlichkeit die Rede ist. Spinoza beantwortet diese Frage in 1p25s: »in dem Sinne, in welchem Gott die Ursache seiner selbst heißt, muß er auch die Ursache aller Dinge heißen.« Der Begriff causa wird also univok verwendet. Nun wurde die causa sui ja nicht durch das Begriffspaar causa und effectus, sondern durch essentia und existentia charakterisiert und damit entparadoxiert (vgl. Kap. 4). Dieselbe Relationsart wie zwischen Essenz und Existenz muss nach 1p25s nun auch zwischen Gott und allen Dingen gelten. Die Relation zwischen Essenz und Existenz aber ist der Ausdruck. So lässt sich weiter belegen, dass die verschiedenen Formen von Kausalität bei Spinoza auf den Ausdruck hinauslaufen. Mit ihm kann einerseits das Verhältnis von Substanz und Modi als bestimmter Ausdruck gefaßt werden (vgl. Kap. 6 und 1p25c) und andererseits das Verhältnis unter Modi als Ausdruck individueller Essenzen als Existenzen. Thomas Nail hat dies wie folgt beschrieben: »The causal relation between ›substance as self-caused‹ and ›substance as cause of the modes‹ is the same immanent causality in which all three, substance, attribute and mode are simultaneously and distinctly presupposed, or mutually ›self-caused‹ qua the expression of the essence of substance.« 56 Kaufmann legt zudem Nachdruck 54 55 56

Deleuze 1993b, S. 21. Ebd., S. 21. Nail 2008, S. 209.

Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

144

darauf, dass der Ausdruck die treffendere Relation sei als die Kausalität, Spinoza dies aber unterschlagen habe: »This expressive moment displaying the natura naturans in the natura naturata was, it is true, inadequately interpreted by Spinoza when he took it to be a series of consequences or a concatenation of causes.« 57 Schließlich trägt die Ausdrucksrelation der Intuition Rechnung, dass bei Spinoza nicht getrennte Entitäten aufeinander bezogen, sondern sukzessive auseinander herausgeschält oder differenziert werden. Ein unendlicher Modus ist eine Modifikation bzw. Affektion von Attributen. Dieser lässt sich dann in endliche Modi teilen: Essenzen von endlichen Modi sind intensive Teile, Existenzen extensive Teile. Was diese Schichten und Hinsichten zusammenhält, ist der Ausdruck. Dazu nochmals Nail: »treating each of these elements [substance, attributes, modes] as discreet numerical things has misled Spinoza scholarship throughout the ages.« 58 »Rather than beginning with three separate elements (substance, attribute, and mode) and attempting to deduce or produce them in terms of emanation, Spinoza instead begins with their expressive simultaneity (essence) and demonstrates their immanent causality or ›unity‹ of expression qua substantial self-cause.« 59 Dagegen meinte Curley noch: »If we can form no clear concept of substance in abstraction from its attributes, then there will be nothing interesting to say about the relation between substance so conceived and its modes.« 60 Darin bestand aber gerade das Paradox von Kap. 5: Es gibt kein »clear concept« von Substanz unabhängig von ihren Attributen, weil man dazu das Wesen der Substanz kennen müsste, dieses Wesen aber nur durch die Attribute ausgedrückt wird. All diese Überlegungen betreffen im Prinzip eine Metaphysik sub specie aeternitatis. Doch auch die Ausdrucksterminologie, nicht anders als die Kausalterminologie, suggeriert immer wieder eine Prozessualität oder Evolution wie auch die Rede von herausschälen oder differenzieren. Selbst der bloße Nachvollzug der Überlegungen kann nicht anders als in der Zeit geschehen. Wie steht es also mit der Zeit in der Ethica? Exemplarisch für die Versuchung, deren Metaphysik zeitlich zu denken, sei Todd May angeführt: »Evolution is like origami, the traditional Japanese art of folding paper into different figures. In origami, one does not cut the paper or introduce any outside elements into it; only the paper itself is folded and unfolded into new arrangements, with those arrangements being the modes of the paper which is origami's substance. If the paper could fold and unfold itself, we would, I think, be very close to the idea 57 58 59 60

Kaufmann 1940, S. 83. Nail 2008, S. 216. Ebd., S. 210. Curley 1988, S. 37 f.

Der Ausdruck als Grundrelation der Immanenzphilosophie

145

of evolution as Deleuze conceives it [of Spinoza, Vf.].« 61 In dieser Entfaltung treten die endlichen Dinge hervor bzw. solche Entfaltungen sind die endlichen Dinge. »Producing, [. . .], is the same thing as what Deleuze [with regard to Spinoza, Vf.] elsewhere calls ›explicating.‹ Explication is a form of evolution, an unfolding, rather than a creation. If the modes express their attributes, they do so by way of evolving them, by way of the attributes unfolding into different modal arrangements.« 62 Ebenso suggestiv ist die Formulierung von Nail: »substance is essentially expressed in the attributes, which also express the essence of substance in the same sense as they were expressed (as immanently self-posited). The attributes then [Hvg. Vf.] re-express themselves in the modes in the same sense as substance expressed the essence of the attributes. The modes then [Hvg. Vf.] express the essence of the attributes in the same sense in which the attributes express them (as immanent modifications).« 63 Bei beiden Autoren wird eine unzeitliche Konstellation prozessual ausgelegt – und dies muss letztlich so sein, wenn die Metaphysik in eine Ethik übergehen soll. 64 Das Problem des Übergangs von Ewigkeit zu Zeitlichkeit wird in Kap. 9 adressiert. In der Ethica vollzieht sich dieser Übergang gleichsam unter der Hand. Mit der in diesem Buch vorgeschlagenen Methodik, der Auflösung von Paradoxien, geht er dagegen durch deren Auflösung vor sich, und es wird eben dadurch eine zeitliche Dimension eingeführt. In diesem Sinne ist die Methodik verwandt mit einer Dialektik, die über die Aufhebung von Widersprüchen fortschreitet. Die Ausdrucksrelation ermöglicht die dazu nötigen Spielräume, indem sie über die Grenzen von Unendlichem und Endlichem, Allgemeinem und Besonderem, Nicht-Individuierbarem und Individuierbarem verläuft. So bleibt in den Einzeldingen das Nicht-Einzelne stets präsent, und zwar als von ihm Unterschiedenes, jedoch nicht Getrenntes. Wir beenden das Kapitel mit einem Kompendium aller Vorkommnisse von exprimere in der Ethica.

May 2005, S. 118 f. Ebd., S. 118. 63 Nail 2008, S. 210. 64 Deleuze schreibt schlicht: »Die Substanz drückt sich aus, die Attribute sind Ausdrücke, das Wesen ist ausgedrückt.« Deleuze 1993b, S. 30. Im französischen Original: »La substance s’exprime, les attributs sont des expressions, l’essence est exprimée.« Deleuze 1968, p. 22. 61 62

146

Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

7.5 Anhang: Die Vorkommnisse von exprimere in der Ethica E1

Typische Wendungen in E1 mit exprimere sind (in abgekürzter Form): ›Attribute drücken die Essenz der Substanz aus‹, ›Eine Definition drückt eine Natur aus‹, ›Attribute drücken die Realität oder das Sein der Substanz aus‹, ›Eine Definition drückt Realität aus‹, ›Attribute drücken die Existenz Gottes aus‹ oder ›Das Attribut Denken drückt die Essenz von Denken aus‹. Die Hauptbedeutung ist dabei, dass Attribute die Essenz der Substanz ausdrücken. In 1p25c und 1p36dem, wo von Modi die Rede ist, wird exprimere durch den Zusatz certo et determinato modo spezifiziert. Insgesamt kommt exprimere in E1 in den folgenden Wendungen vor: – substantiam constantem infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit (1def6) – quod autem absolute infinitum est, ad ejus essentiam pertinet, quicquid essentiam exprimit et negationem nullam involvit (1def6exp) – veram uniuscujusque rei definitionem nihil involvere neque exprimere praeter rei definitae naturam (1p8s2) – nullam definitionem certum aliquem numerum individuorum involvere neque exprimere, quandoquidem nihil aliud exprimit quam naturam rei definitae (1p8s2) – definitio trianguli nihil aliud exprimit quam simplicem naturam trianguli (1p8s2) – unumquodque [attributorum] realitatem sive esse substantiae exprimit (1p10s) – eo plura attributa, quae et necessitatem sive aeternitatem, et infinitatem exprimunt (1p10s) – ens, quod constat infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam certam essentiam exprimit (1p10s) – Deus sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit, necessario existit (1p11) – Deus sit ens absolute infinitum, de quo nullum attributum, quod essentiam substantiae exprimit, negari potest (1p14dem) – quo plus realitatis rei definitio exprimit (1p16dem) – infinita absolute attributa habeat [. . .], quorum etiam unumquodque infinitam essentiam in suo genere exprimit (1p16dem) – per Dei attributa intelligendum est id, quod [. . .] divinae substantiae essentiam exprimit (1p19dem)

Anhang: Die Vorkommnisse von exprimere in der Ethica

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– unumquodque ejus attributorum existentiam exprimit (1p20dem) – per aliquod Dei attributum, quatenus idem concipitur infinitatem et necessitatem existentiae sive [. . .] aeternitatem exprimere (1p23dem) – Res particulares nihil sunt nisi Dei attributorum affectiones sive modi, quibus Dei attributa certo et determinato modo exprimuntur (1p25c) – substantiae attributa, quae aeternam et infinitam essentiam exprimunt (1p29s) – per aliquod Dei attributum, quod aeternam et infinitam Cogitationis essentiam exprimit (1p31dem) – quatenus attributum habet, quod infinitam et aeternam Cogitationis essentiam exprimit (1p32dem) – Quicquid existit, Dei naturam sive essentiam certo et determinato modo exprimit (1p36dem) – quicquid existit, Dei potentiam, quae omnium rerum causa est, certo et determinato modo exprimit (1p36dem) E2

Im zweiten Teil der Ethica tritt exprimere in neuen Kombinationen auf, etwa ›ein Begriff drückt Aktivität des Geistes aus‹, ›Eine Idee drückt eine Natur nicht adäquat aus‹. Ingesamt sind es folgende: – Per corpus intelligo modum, qui Dei essentiam, quatenus ut res extensa consideratur, certo et determinato modo exprimit (2def1) – conceptus actionem mentis exprimere videtur (2def3exp) – Singulares cogitationes sive haec et illa cogitatio modi sunt, qui Dei naturam certo et determinato modo exprimunt (2p1dem) – Est igitur Cogitatio unum ex infinitis Dei attributis, quod Dei aeternam et infinitam essentiam exprimit (2p1dem) – Esse formale idearum modus est cogitandi [. . .], hoc est [. . .] modus, qui Dei naturam, quatenus est res cogitans, certo modo exprimit (2p5dem) – Sic etiam modus Extensionis et idea illius modi una eademque est res, sed duobus modis expressa (2p7s) – affectio sive modus, qui Dei naturam certo et determinato modo exprimit (2p10c) – Idea enim affectionis corporis humani [. . .] adaequatam ipsius corporis cognitionem non involvit sive ejus naturam adaequate non exprimit (2p29dem) – hujus ideae idea adaequate humanae mentis naturam non exprimit sive adaequatam ejus cognitionem non involvit (2p29dem)

148

Das Konzept des Ausdrucks in historischer und systematischer Hinsicht

– atque hoc nomine hominis exprimit hocque de infinitis singularibus praedicat (2p40s1)

E3

Hier taucht nun exprimere auch in Verbindung mit Handlungen und Affekten auf: ›Eine Vorstellung drückt eine Affektion unseres Körpers aus‹, ›Handlungen drücken Vollkommenheit aus‹, ›Die Natur eines Gegenstandes wird ausgedrückt‹, ›Eine Idee zeigt einen Zustand des Körpers an oder drückt ihn aus‹, ›Mehr oder weniger Realität wird ausgedrückt‹. In der Formulierung des zentralen conatus-Prinzips heißt es: ›Die Macht Gottes auf bestimmte Weise ausdrücken‹. – Res enim singulares modi sunt, quibus Dei attributa certo et determinato modo exprimuntur [. . .], hoc est [. . .] res, quae Dei potentiam, qua Deus est et agit, certo et determinato modo exprimunt (3p6dem) – haec imaginatio affectionem nostri corporis huic affectui similem exprimet (3p27dem) – laetitia [. . .] afficitur, et eo majore, quo actiones plus perfectionis exprimere (3p55s) – Natura igitur uniuscujusque passionis ita necessario debet explicari, ut objecti, a quo afficimur, natura exprimatur (3p56dem) – non amoris essentiam, sed ejus proprietatem exprimit (3ad6exp) – haec [idea], quae affectus formam constituit, corporis vel alicujus ejus partis constitutionem indicare vel exprimere debet (3agd exp) – Cum igitur supra dixerim mentis cogitandi potentia augeri vel minui, nihil aliud intelligere volui, quam quod mens ideam sui corporis vel alicujus ejus partis formaverit, quae plus minusve realitatis exprimit, quam de suo corpore affirmaverat (3agd exp) – cupiditatis etiam naturam exprimerem (3agd exp) E4

Im vierten Buch ist exprimere abwesend. Stattdessen findet sich an einer Stelle im Sinne eines Substituts das Verb explicare. – Potentia, qua res singulares et consequenter homo suum esse conservat, est ipsa Dei, sive Naturae potentia (per corollarium propositionis 24 partis I) non quatenus infinita est sed quatenus per humanam actualem essentiam explicari potest (per propositionem 7 partis III). Potentia itaque hominis,

Anhang: Die Vorkommnisse von exprimere in der Ethica

149

quatenus per ipsius actualem essentiam explicatur, pars est infinitae Dei, seu Naturae potentiae hoc est (per propositionem 34 partis I) essentiae, quod erat primum. (4p4dem)

E5

Im letzten Teil schließlich sind es Wendungen wie: ›Der Geist drückt die Existenz des Körpers aus‹ oder ›Eine Idee in Gott drückt die Essenz eines bestimmten Körpers aus‹. – Mens actualem sui corporis existentiam non exprimit, [. . .] nisi durante corpore (5p21dem) – In Deo tamen datur necessario idea, quae hujus et illius corporis humani essentiam sub aeternitatis specie exprimit (5p22) – In Deo datur necessario conceptus seu idea, quae corporis humani essentiam exprimit (5p23dem) – Sed menti humanae nullam durationem, [. . .], tribuimus, nisi corporis actualem existentiam, [. . .] exprimit (5p23dem) – Est, uti diximus, haec idea, quae corporis essentiam sub specie aeternitatis exprimit (5p23s)

8 Macht und Univozität

I

m Zusammenhang mit der Diskussion des Ausdrucksbegriffs sind wir auch auf den Machtbegriff gestoßen. Dabei erschien Kausalität als eine Form von Macht und Macht wiederum als ein allgemeines Wirkvermögen, ein Können oder eine Fähigkeit. Was dies genau heißt und was der Zusammenhang von göttlicher und menschlicher Macht ist, soll in diesem Kapitel geklärt werden. Dabei wird es sich als nützlich erweisen, neben der deduktiven wieder die problemgeschichtliche Ebene in den Blick zu nehmen, zumal der Machtbegriff in der Ethica nicht explizit definiert, sondern implizit vorausgesetzt wird. Das mag erstaunen, denn Macht ist ganz grundlegend für Spinozas Philosophie. In der neueren Forschung hat insbesondere Martin Saar darauf hingewiesen und dabei das Besondere an diesem Machtverständnis artikuliert: Potentia sei, selbst im Politischen, eine ontologische Wirkfähigkeit und nicht eine anthropologisch gedachte Handlungsbefugnis von Akteuren. 1 Unsere Untersuchung setzt dort an, wo auch Spinoza den Terminus Macht einführt: im Kontext der Gottesbeweise von 1p11. Alle Macht liegt ursprünglich bei Gott; dieser Gott ist aber nicht mehr eine Figur, sondern eine Struktur (vgl. Kap. 3). Somit muss Macht irgendwie in dieser Struktur ›zirkulieren‹ und sich dabei auf Individuen ›verteilen‹. Der Schlüssel zu dieser Verteilung ist das Konzept der Univozität. Univozität begründet ein anderes Verhältnis vom Einzelnen zum Ganzen als beispielsweise die Analogie und damit, so wird sich zeigen, auch ein anderes Verständnis von Ethik. Dieses Kapitel stellt somit eine Schnittstelle zwischen ›Metaphysik‹ und ›Ethik‹ dar, genauer zwischen einer Metaphysik der Macht und einer Ethik der Individualität.

8.1 Essenz, Existenz und Macht

Aufgabe der Gottesbeweise in der Ethica ist, zunächst wie in der Tradition, die Existenz Gottes zu sichern bzw. den Begriff Gottes konsistent zu denken. Spinoza verwendet dazu u. a. die Form des ontologischen Gottesbeweises, bei dem die Existenz Gottes aus seinem Wesen folgen soll. 2 Lehrsatz 1p11 lautet: Saar 2013, S. 12. Einen historisch und systematisch umfassenden Überblick über verschiedene Gottesbeweise gibt Bromand 2011, worin Spinoza aber nur kurz behandelt wird. 1 2

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Macht und Univozität

»Gott, anders formuliert eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt, existiert notwendigerweise.« 3 Diese Behauptung beweist Spinoza auf drei Arten, wobei jede einen anderen Aspekt hervorhebt: 1p11dem1 den semantischen Aspekt der Widerspruchsfreiheit im Begriff Gott, 1p11dem2 den logischen Aspekt des zureichenden Grundes und 1p11dem3 den ontologischen Aspekt der absoluten Macht. Die Formulierung von 1p11dem3, in der Macht (potentia) erstmals auftaucht und mit Existenz zusammengeführt wird, lautet konkret: »Imstande sein nicht zu existieren, ist Ohnmacht, während imstande sein zu existieren Macht ist (wie sich von selbst versteht).« 4 Alle drei Beweise stützen sich auf 1p7, wonach zur Essenz der Substanz ihre Existenz »gehört«. 1p7 wiederum beruft sich auf die Definition der causa sui, 1def1. Die Gottesbeweise Spinozas sind also letztlich eine Explikation dessen, was in der causa sui angelegt ist, nämlich dass eine Essenz sich als Existenz ausdrückt. Die Essenz Gottes besteht aus unendlich vielen Attributen (1def6), wie in 1p11 wiederholt wird. Was lässt sich daraus gewinnen? Ein Problem des ontologischen Gottesbeweises ist, zumindest für uns heutige Leser, dass ein Zusammenhang von Essenz und Existenz im Sinne einer logischen Folgerung nicht recht nachvollziehbar ist. Spinoza appelliert denn auch mit der Wendung »ut per se notum« an ein damals gängiges Verständnis. 5 In diesem Verständnis wird die Existenz Gottes eigentlich gar nicht bezweifelt, sondern implizit vorausgesetzt und nur die dazugehörigen Strukturen expliziert, die sie denkmöglich bzw. denknotwendig machen. Kaufmann schreibt dazu: »At least the two first of Spinoza's so-called proofs of God's existence – resting as they do on proposition 7 – implicitly presuppose the fact of this existence and exhibit its necessity.« 6 Dieselbe Schwierigkeit stellt sich schon bei 1p7, so Gartenberg: »Appearances notwithstandig, this proposition [1p7] is making a 3 »Deus, sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit, necessario existit.« 4 »Posse non existere impotentia est et contra posse existere potentia est (ut per se notum). Si itaque id quod jam necessario existit, non nisi entia finita sunt, sunt ergo entia finita potentiora Ente absolute infinito atque hoc (ut per se notum) absurdum est; ergo vel nihil existit vel Ens absolute infinitum necessario etiam existit. Atqui nos vel in nobis vel in alio quod necessario existit, existimus (vide axioma 1 et propositionem 7). Ergo Ens absolute infinitum hoc est (per definitionem 6) Deus necessario existit.« 5 N. B. hat Cusanus zur Bezeichnung von Gott das Kunstwort possest (Können-Ist) geprägt, mit dem der enge Zusammenhang zwischen Vermögen und Sein bezeichnet wird, Cusanus 1991. Zum Unterschied von Spinoza und Descartes hat Trendelenburg bemerkt: »Während Cartesius den Begriff des vollkommensten Wesens zum Grunde legte und daraus das Dasein als Eine unter seinen Vollkommenheiten erschloß: setzt Spinoza umgekehrt das nothwendige Dasein voraus und leitet den Begriff des vollkommensten Wesens daraus ab.« Trendelenburg 1850, S. 16. 6 Kaufmann 1940, S. 84 f.

Essenz, Existenz und Macht

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claim not about existence's being a consequence of the nature of substance, but rather about the substance's nature as existence.« 7 Dies könnte zu einem starken Punkt für die Ausdrucksrelation gemacht werden gegenüber anderen logischen Relationen, die hier mitspielen. Denn in der Ausdrucksterminologie kann man sagen, dass sich die Essenz Gottes als Existenz ausdrückt, d. h., dass diese Essenz nicht bloß abstrakt oder potentiell ist, sondern als Präsenz von Macht immer schon aktualisiert ist. In diesem manifesten Machtgefüge bezeugt die Wirksamkeit jedes einzelnen Dinges die umfassende Macht Gottes. 8 Diese Einsicht zu gewinnen, ist nicht allein Aufgabe von 1p11, sondern der Ethica als ganzer. Die dabei erreichten Grade an Einsicht entsprechen den Erkenntnisarten. Während man sich nach der ersten Erkenntnisart die mögliche Existenz Gottes nur vorstellen kann (und deshalb ebensogut das Gegenteil), wird sie nach der zweiten und dritten Erkenntnisart immer klarer und deutlicher und stellt am (hypothetischen) Ende des Erkenntnisprozesses eine Selbstverständlichkeit dar, mit der man in einem bestimmten Seinsverständnis lebt. Kehren wir damit zum Machtbegriff in 1p11dem3 zurück, der ein solches Seinsverständnis wesentlich prägt. Betrachtet man den Beweis auf der deduktiven Ebene, so kann man einwenden, dass der Machtbegriff darin gar nicht definiert ist und deshalb als Beweismittel oder explanans wenig taugt. Begibt man sich auf die problemgeschichtliche Ebene, kann man versuchen, Macht zumindest kontextuell zu verstehen. Eine einschlägige Stelle dafür (vgl. schon Kap. 3) ist das Scholium 2p3s: »Unter Gottes Macht versteht das gewöhnliche Volk Gottes freien Willen und sein Recht auf alle Dinge, die es gibt und die deshalb gewöhnlich als zufällig angesehen werden, sagt man doch, Gott habe die Gewalt, alle Dinge zu zerstören und auf nichts herunterzubringen. Sehr oft vergleicht man auch Gottes Macht mit der Macht von Königen. [. . .] Wäre es angebracht, dies weiter zu verfolgen, könnte ich hier noch zeigen, daß jene Macht, die das gewöhnliche Volk Gott andichtet, nicht nur eine menschliche ist (was zeigt, daß das gewöhnliche Volk Gott als Menschen oder als menschenähnlich versteht), sondern sogar Ohnmacht einschließt. [. . .] Denn niemand wird das, was ich meine, richtig auffassen können, wenn er sich nicht sehr davor hütet, Gottes Macht und die menschliche Macht von Königen, die ein Recht ist [humana regum potentia vel jure], durcheinanderzubringen.« Diesem anthropomorphen Machtverständnis setzt Spinoza im selben Scholium entgegen, »daß Gottes Macht nichts als Gottes sich betätigende Essenz [actuosam Gartenberg 2017, S. 27. In diesem Sinne schrieb Goethe an Jacobi: »Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht, woraus alles übrige fließt. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott.« Brief vom 9. Juni 1785. Zitiert nach Stegmaier 2008, S. 64. 7

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essentiam] ist«. Wechseln wir wieder auf die deduktive Ebene, so finden wir am Ende von E1 in 1p34: »Gottes Macht ist genau seine Essenz.« 9 Beide Stellen setzen Macht und Essenz gleich und machen den Machtbegriff an Gott fest. Auch in anderen Wendungen in E1 taucht Macht stets im Zusammenhang mit Gott auf, etwa: »Deum infinitam absolute potentiam existendi«, (1p11s) oder »Dei omnipotentia« (1p17s). Da nun aber Gott bei Spinoza keine Person oder Figur, sondern eine Struktur ist (vgl. Kap. 3), muss diese Macht eben anders als eine menschliche verstanden werden. Diesen Unterschied hat insbesondere Martin Saar betont: »Die zentrale Bedeutung, die der Begriff potentia in Spinozas Metaphysik besitzt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er keineswegs mit dem synonym ist, was heute und auf Deutsch als ›individuelle‹, ›soziale‹ oder ›politische Macht‹ bezeichnet wird. Spinozas Sprachgebrauch steht vielmehr in Zusammenhang mit den vielfältigen Vokabularen der aristotelischen, spätscholastischen und neostoizistischen Traditionen, in denen potentia ein metaphysischer Grundbegriff ist, mit dem ein ontologisches Prinzip benannt ist. Macht oder Mächtigkeit bezeichnet also nicht in erster Linie – wie im heutigen Sprachgebrauch – asymmetrische Beziehungen zwischen konkreten Personen, Gruppen oder Institutionen, in denen jemand Macht über jemand anderen hat oder ausüben kann; Macht im weiten ontologischen Sinn ist bei Spinoza eine Bestimmung oder Signatur des Seienden als solchen. Über das Sein einer Sache zu reden impliziert, von Macht zu sprechen.« 10 Um dagegen spezifisch politische und institutionelle Macht zu adressieren, verwendet Spinoza den Terminus potestas. 11 Für die Ethica maßgeblich ist jedoch potentia im Sinne einer allgemeinen Wirkfähigkeit. Eine solche kommt nun jedem Ding zu, wie der letzte Lehrsatz von E1, 1p36, besagt: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt.« 12 Auf dieser Wirkfähigkeit beruht Spinozas ganze Handlungstheorie, und insofern ist die Metaphysik der Rahmen für die Ethik, als sie »auf vielen Ebenen das Wirken und die Wirksamkeit von Kräften beschreibt, sei dies das Verstärkt- und Geschwächtwerden von Ideen, Vorstellungen und Affekten oder von einzel»Dei potentia est ipsa ipsius essentia.« Saar 2013, S. 137. 11 Manfred Walther hat darauf hingewiesen, dass es bei Staatenbildungen etwa zu einem permanenten Oszillieren zwischen potentia multitudinis, der Macht der Menge, und summa potestas, der souveränen Gewalt, kommt. Walther 2008. Eine entsprechende Unterscheidung macht auch das Italienische (potenza / potere) und das Französische (puissance / pouvoir). Nietzsche unterscheidet zwischen einem unpersönlichen Aspekt des Willens zur Macht, den er »esoterisch« nennt, und einem persönlichen Aspekt der Machtausübung, die bei ihm »exoterisch« heißt. Vgl. Nachlass 1886/87, 5[9], KSA 12.187. 12 »Nihil existit ex cujus natura aliquis effectus non sequatur.« 9

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nen Körpern, Dingen, Personen«. 13 »[Dabei] besetzt der Machtbegriff bei ihm [Spinoza] eine Stelle, die ontologisch ist und auf einer tieferen Ebene als der der Handlungstheorie liegt. Er bezeichnet mehr und etwas anderes als eine Fähigkeit von Akteuren, in Interaktionsbeziehungen mit anderen ihren Willen durchzusetzen. ›Macht‹ wird von Spinoza grundlegender verstanden, nämlich als generelle Wirkfähigkeit.« 14 Dies dann in handlungstheoretischen Termini auszubuchstabieren, wird Gegenstand von Kap. 11 sein. Dazu ist ebenfalls relevant, dass diese Macht keine bloße Potentialität ist, sondern, wie die Wendung »actuosam essentiam« in 2p3s besagt, stets aktualisiert ist. Auch damit hebt sich Spinoza von einer verbreiteten Auffassung ab, wie Rice anfügt: »It is mistaken [. . .] to take the medieval turn that it [power] is a potency (potentia: substance) which must subsequently be expressed in act (the attributes). [. . .] Power (potentia in Spinoza's sense) is necessarily expressed in action unless it is impeded by external causes.« 15 So gilt: »Im allerweitesten, kategorialen Sinn, in dem man ›Macht‹ als Namen für dynamische Beziehungen zwischen Elementen und für Wirkungs- oder Potentialitätsverhältnisse verstehen kann, ist daher Spinozas gesamte Philosophie ein Machtdenken, das heißt ein Explizieren von Wirkungen und ein Erläutern von Kräften.« 16 Wie sich diese nun auf Individuen verteilen, wird im folgenden Abschnitt untersucht.

8.2 Univozität und das Problem der Verteilung von Macht

Wenn die Essenz Gottes bzw. der Substanz derart als Macht bestimmt wurde, muss nun gleichsam nach dem Verteilschlüssel dieser Macht unter den Modi der Substanz gefragt werden. Folgt man der Interpretation von Deleuze in Kap. 6, so teilen sich die Attribute der Substanz in intensive Quantitäten, die mit den Essenzen der Modi identifiziert werden. So wird jedem Modus etwas von der substanziellen Essenz mitgegeben, und so »muß von jedem endlichen Sein gesagt werden, daß es das Absolute ausdrückt, je nach der intensiven Quantität, welche sein Wesen konstituiert, d. h. je nach seinem Grad an Vermögen.« 17 In welchem Sinne kann aber bei endlichen Modi von Macht oder Vermögen die Rede sein? In der philosophischen Tradition bieten sich die Saar 2013, S. 134. Ebd., S. 12. 15 Rice 2013, S. 43. 16 Saar 2013, S. 134. 17 Deleuze 1993b, S. 175. Vgl. auch 1p25c, wonach »Einzeldinge« Modi sind, »von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden«, d. h. also »Dinge, die die Macht Gottes, durch die Gott ist und handelt, auf bestimmte und geregelte Weise ausdrücken«. 13 14

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Möglichkeiten der analogen, äquivoken oder univoken Rede in Bezug auf eine höhere Macht oder ein übergeordnetes Seiendes. Nach Aristoteles etwa sind die Kategorien univoke Begriffe, die sich analog auf das Seiende beziehen. 18 Was von Aristoteles noch πρὸς ἕν (auf eines hinzu) genannt wurde, wurde bei Thomas von Aquin dann zur analogia entis. Diese erlaubte, mit der gebotenen Distanz, in gewisser Hinsicht gleich, eben analog von Gott und Mensch zu sprechen. Deleuze beschreibt dies so: »Die Scholastik wird hier von ›Analogie der Verhältnismäßigkeit‹ sprechen: Es gibt keinen distributiven Begriff mehr, der sich formal auf verschiedene Terme bezieht, sondern einen seriellen Begriff, der sich in formal-herausragender Weise auf einen Hauptterm und nur in geringem Maß auf andere bezieht.« 19 Vor dem Hintergrund des Problems der Machtverteilung auf die Modi hat Deleuze dann unter Benutzung der hier vorgestellten Alternativen vorgeschlagen, dass bei Spinoza vor allem die Univozität relevant sei. Die Attribute seien univoke Begriffe und als solche zugleich »Formen, die von der Substanz und von den Modi gemeinsam ausgesagt werden«. 20 In seiner Logik des Sinns hat Deleuze diese Position sogar auf die Philosophie insgesamt ausweiten wollen: »Die Philosophie fällt mit der Ontologie zusammen, die Ontologie aber mit der Univozität des Seins (die Analogie war immer eine den Formen Gottes, der Welt und des Ich angepasste theologische, keine philosophische Anschauung).« 21 Marc Rölli kommentiert: »[Die] Univozität des Seins impliziert die Univozität der Attribute, die im selben Sinn Anwendung auf Gott und die Geschöpfe finden«. 22 Wenn also die Attribute gemeinsam von der Substanz und den Modi ausgesagt werden und diese Attribute die Essenz der Substanz ausmachen, so wird diese Essenz auch im selben Sinne von der Substanz und den Modi ausgesagt. Wenn Gott ein denkendes Wesen ist, so sind auch die Individuen denkende Wesen, und zwar im selben univoken Sinne. Wenn Gott ein ausgedehntes Wesen ist, so sind auch die Individuen ausgedehnte Wesen, und zwar im selben univoken Sinne. 23

Zum Beispiel werden die Aussagen »die Gelegenheit ist gut« und »das Essen ist gut« in den verschiedenen Kategorien der Zeit und der Qualität gemacht, jedoch ›auf eines hin‹, nämlich den Begriff des Guten. Das Gute selbst ist weder ein univoker noch ein äquivoker Begriff, sondern ein πρὸς ἕν, ein gemeinsamer Fokus. Äquivozität oder Homonymie ist die Verwendung desselben Namens in verschiedenen Bedeutungen. Äquivoke Begriffe sind v. a. in Syllogismen unerwünscht, da sie in Major und Minor unterschiedliche Bedeutungen annehmen können, wodurch die Schlüssigkeit des Arguments verlorengeht. 19 Deleuze 2007, Fussnote, S. 56. 20 Deleuze 1993b, S. 54. 21 Deleuze 1993a, S. 223. 22 Rölli 2012, S. 192. Vgl. auch Nail: »God is said of His creatures in the same sense in which the creatures are said of God.« Nail 2008, S. 204. 23 Dabei sind die Attribute ihrerseits nicht etwa ›Arten der Gattung Substanz‹. Denn nur »[w]enn man die Substanz den Attributen entsprechend [numerisch, Vf.] teilte, müßte man sie als 18

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Führen wir nun diese Stränge zusammen: Essenzen der Modi als intensive Teile, univoke Rede über diese Essenzen und die Essenz Gottes, Macht als Gottes Essenz. Dann folgt, dass die göttliche potentia univok über alle Modi verteilt ist, dass also deren Macht zwar beschränkt, aber von derselben Art und Weise ist wie diejenige Gottes. Vermögen oder Fähigkeiten, die einem Modus qua Teilung dieser Macht zukommen, sind univok zu Vermögen oder Fähigkeiten Gottes. Gott oder die Substanz oder die Natur wirken überall in derselben Weise, und damit ist die Univozität auch eine Grundlage für Spinozas Naturalismus. Auch wenn er selbst den Terminus Univozität kaum verwendet, so lassen sich damit wichtige Züge seiner Philosophie benennen. Univok ist N. B. auch der Ausdruck, der zwischen der Substanz und den Attributen einerseits und den Attributen und den Modi andererseits dieselbe Relation darstellt, einmal als unbestimmter, einmal als bestimmter Ausdruck (vgl. Kap. 5&6).

8.3 Urteile und das Problem der Hierarchie

Mit der Analogie ist die logische Form des Urteils verbunden. 24 Wenn man nach Aristoteles oder Aquin Aussagen in Analogien tätigt, wird etwas Besonderes unter etwas Allgemeines subsumiert. Diese Urteilsform ist nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Juristik geläufig, etwa wenn bei einem Rechtsstreit festgestellt werden muss, ob ein vorgefallener Sachverhalt einem vordefinierten Tatbestand hinreichend ähnlich ist. Wenn ja, tritt die für diesen Tatbestand vorgesehene Rechtsnorm in Kraft. Der Sachverhalt wird dann unter diese Norm subsumiert bzw. die Norm analog angewendet. Dabei wird der besondere Fall als ein Fall des Allgemeinen, d. h. nach allgemeinen Gesichtspunkten, behandelt. Derselben Logik unterliegen auch moralische Urteile, bei denen einzelne Handlungen unter allgemeinverbindliche Normen subsumiert werden. Die Sphären des Rechts und der Moralphilosophie überschneiden sich hier, sofern es letzterer ebenfalls um Rechtfertigung, Beurteilung und Verurteilung von Handlungen geht. Was ist an einem solchen Verfahren problematisch? Zum einen wird dadurch rein strukturell eine Hierarchie angelegt, indem der allgemeine Term meist als höherwertig angesehen wird. Zum anderen sind Urteile als Beschreibungen des Besonderen meist zu grobmaschig, um ihm wirklich Rechnung Gattung behandeln, und die Attribute als spezifische Differenzen«. Deleuze 1993b, S. 36. Vgl. auch Wolfson: »God is not a species and can have non genus.« Wolfson 1983, S. 148. 24 N. B.: Kant leitete seine Kategorientafel über die möglichen Urteilsformen her.

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zu tragen. Wenn man behauptet, dass alle Raben schwarz sind und Fritz ein Rabe ist, so folgt, dass Fritz schwarz ist, aber nichts, was ihn allein auszeichnen würde. Natürlich kann man jede Zuschreibung durch weitere Urteile präzisieren, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Deleuze gibt zu bedenken: »[Die Analogie] muß das Sein wesentlich auf besonderes Existierendes beziehen, zugleich aber kann sie nicht angeben, was dessen jeweilige Individualität bildet. Sofern sie nämlich im Besonderen nur das einbehält, was mit dem Allgemeinen (Form und Materie) übereinstimmt, sucht sie das Individuationsprinzip in diesem oder jenem Element der bereits konstituierten Individuen auf.« 25 Im Folgenden ist zu zeigen, wie diesen Problemen mit Spinoza begegnet und wie sein Einsatz durch Überlegungen von Deleuze noch deutlicher konturiert werden kann. In der Ethica kritisiert Spinoza vehement den Gebrauch von Universalien und Transzendentalien, d. h. solchen Begriffen, die auch für Gattungen und Handlungsnormen grundlegend sind, die etwa in Sätzen wie »Alle Menschen haben das Recht zu . . .« auftreten. Im Scholium 2p40s1 erläutert er, dass diese Begriffe nur aufgrund mangelhafter Erkenntnis gebildet werden. »[So] will ich wenigstens noch kurz etwas zu den Ursachen hinzufügen, in denen die sogenannten ›transzendentalen Begriffe [transcendentales]‹ ihren Ursprung gehabt haben, also Termini wie ›Seiendes‹, ›Ding‹, ›Etwas‹. Termini dieser Art entspringen dem, daß der menschliche Körper, der ja beschränkt ist, nicht fähig ist, in sich mehr als eine bestimmte Anzahl von Vorstellungsbildern [imaginum] deutlich auf einmal zu bilden [. . .] Sobald sich nun die Vorstellungsbilder in dem Körper gänzlich verwirren, wird auch der Geist all jene Körper verworren und ohne jegliche Unterscheidung vorstellen und sie gewissermaßen unter einem einzigen Attribut zusammenfassen – und das sind dann Attribute wie ›Seiendes‹, ›Ding‹ usw. [. . .] Ähnlichen Ursachen sind auch diejenigen Begriffe entsprungen, die man ›allgemeine Begriffe [universales]‹ nennt, wie ›Mensch‹, ›Pferd‹, ›Hund‹ usw.« 26 Spinoza argumentiert also, indem er die körperlichen Entstehungsbedingungen und damit die Genese der Begriffe in Frage stellt. Dagegen sollen die von ihm verwendeten Begriffe nicht verworren, sondern adäquate Ideen sein. Diese gehören dann mindestens der zweiten Erkenntnisgattung an, während die durch die imaginatio gebildeten Deleuze 2007, S. 62. Er knüpft daran mit einer eigenen Konzeption des Individuationsprozesses an: »Wenn wir dagegen sagen, daß sich das univoke Sein wesentlich und unmittelbar auf individuierende Faktoren bezieht, so verstehen wir darunter nicht die in der Erfahrung konstituierten Individuen, sondern das, was in ihnen als transzendentales Prinzip, [. . .] wirksam wird, das mit dem Individuationsprozeß gleichzeitig ist.« Für eine eingehende Untersuchung der Individuation bei Spinoza, die auch Deleuze einbezieht, sei auf die Monographie von Kerstin Andermann verwiesen: Andermann 2020. 26 Spinoza verwendet hier ›Attribut‹ nicht in seinem terminologischen, sondern in einem allgemeinen Sinn. 25

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Gattungs- und Artbegriffe nur erster Art sind. Damit werden Urteile der Form »Alle Menschen sollen . . .«, »Alle Bürger des Landes sollen . . .«, »Alle Gläubigen sollen . . .« zumindest fragwürdig. Diese im Grunde nominalistische Kritik lässt sich mit Deleuze fortführen und auch auf andere klassifikatorische Schemata ausweiten, etwa den porphyr'schen Baum (arbor porphyriana), der seinerseits auf die platonische Dihairesis zurückgeht. Bei einer Dihairesis werden begriffliche Gehalte sukzessive ausdifferenziert, indem von einem zu bestimmenden Ausgangsbegriff kontradiktorische Merkmale aufgesucht werden. 27 Exemplarisch wird dies im Sophistes vorgeführt, wo nach dem Wesen des Sophisten gefragt wird. Zunächst verfügt man nur über den Namen (ὄνοµα). Zur Sache selbst (πέρι τὸ πρᾶγµα) gelangt man dann durch eine Begriffszergliederung (διὰ λόγων), die bis zu einem gewissen Grad weitergetrieben wird, den man dann als hinreichend anerkennt. 28 Obwohl man die Unterteilung von Begriffen in kontradiktorische Gegensätze im Prinzip beliebig weit fortsetzen könnte, stößt man aber auf praktische Grenzen, ebenso wie bei der Unterteilung von Gattungen in konträre Gegensätze (also Arten). Die Extension (das, was unter einen Begriff fällt) von ›Mensch‹ oder ›Hund‹ enthält immer noch unzählige verschiedene Exemplare. Das Raster der durch solche Klassifikationen gemachten Unterschiede bleibt stets zu grobmaschig, um dem einzelnen Menschen oder Hund in seinen Eigenheiten gerecht zu werden. Die Intension (das, was der Begriff beinhaltet) kann durch eine Merkmalskonjugation angegeben werden. Sie nimmt ihrerseits mit fortlaufender Unterteilung zu. Ein wirklich singuläres Ding hätte Extension 1 und Intension ∞. Wird nun die Unterteilung bzw. die Merkmalskonjugation vorzeitig abgebrochen – und hier kommt nun Deleuze ins Spiel –, ist der dadurch bestimmte Begriff »blockiert«. Wenn die Intension des Begriffs ›Mensch‹ durch nur das eine Merkmal ›Tier‹ angegeben wird, ist der Begriff auf erster Stufe blockiert. Wenn er dagegen durch ›Tier mit zwei Beinen‹ spezifiziert wird, erfolgt die Blockierung auf zweiter Stufe, wenn durch ›Tier mit zwei Beinen ohne Federn‹ auf dritter usf. 29 Solche Blockierungen treten bei der Analogie als logischer Form des Urteils unvermeidlich auf. Sie verhindert eine vollständige Differenzierung: »die Bei der Gattung-Art-Klassifikation sind die Arten nur konträre Gegensätze. »Nun also sind wir [. . .] nicht nur über den Namen einig, sondern haben auch die Erklärung über die Sache selbst zur Genüge erlangt.« Platon 1990, 218b-231c, S. 227–271, hier 221b, S. 237. 29 Der Extremfall ist ein logisch blockierter Begriff: »Künstlich oder logisch blockiert sind Begriffe, wenn ihnen ein unendlicher (allgemeiner) Inhalt verliehen wird, dem kein existierendes (besonderes) Ding entsprechen kann.« Rölli 2012, S. 183. Deleuze setzt den Begriff der Blockierung in Zusammenhang mit der Repräsentation: »Tatsächlich operiert die Repräsentation der Differenz mit der Blockierung des Begriffs, so daß die empirische Mannigfaltigkeit im Wiederholungsbegriff zum unwesentlichen Material vorab geregelter Bestimmungen degradiert.« Ebd., S. 188. 27 28

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Differenz verteilt sich nur auf die allgemeinsten bestimmbaren Begriffe (Gattungen) und auf die empirisch abgeleiteten Begriffe (Arten), wird aber nicht unmittelbar auf das Sein bezogen«. 30 Dagegen könnte durch die Univozität »die Undifferenziertheit, die in den impliziten Blockierungen der mehrdeutigen Seinsbestimmung inbegriffen war« beseitigt werden, so Rölli. 31 Nur im univoken Sein ist eine unmittelbare und kategorial entgrenzte Verteilung möglich. Deleuze hat dies mit der Chiffre des nomadischen Denkens umschrieben, die für eine Auffassung des Seienden steht, die nicht von festen Zuteilungen ausgeht, sondern Grenzen und Abgrenzungen beweglich macht. 32 Das univoke Sein spricht sich nicht mehr in mehreren Bedeutungen, in Kategorien aus, es verteilt sich nicht auf Gattungen, sondern es ist »die Zuteilung dessen, was sich verteilt, in einem unbegrenzten offenen Raum«. 33 Gegenüber der Analogie, die innerhalb der Grenzen von Gattung und Art bzw. mit Universalien und Tranzendentalien operiert, ist die Univozität deshalb eine Enthierarchisierung, die sich insbesondere gegen ein Bild des Denkens richtet, »das im Rekurs auf transzendente Grundlagen hierarchische Prinzipien etabliert«. 34 Was dies in ethischer Hinsicht bedeutet, wird im folgenden Abschnitt weiter thematisiert. 35 Ebd., S. 186. Ebd., S. 191. 32 Sie enthält die gewollte Doppeldeutigkeit des Terminus νοµος, der mit der Akzentsetzung νόµος ›Gesetz‹ bedeutet, mit der Akzentsetzung νοµός aber ›Weideland‹ (also eine Art Schibboleth). 33 Deleuze 2007, S. 60. 34 Rölli 2018, S. 32. 35 In einer weiterführenden Betrachtung wäre zu ergänzen, dass der Kontext dieser Überlegungen von Deleuze eine Kritik an einem Denken in Identitäten ist, also dem Hauptthema von Differenz und Wiederholung. Die Logik im Sinne von Aristoteles und Kant gehe, so Deleuze, von vier traditionellen Form-Möglichkeiten aus: »die Identität in der Form des unbestimmten Begriffs, die Analogie im Verhältnis zwischen letzten bestimmbaren Begriffen, der Gegensatz im Verhältnis der Bestimmungen im Innern des Begriffs, die Ähnlichkeit im bestimmten Objekt des Begriffs selbst.« Deleuze 2007, S. 51. Nach diesem traditionellen Schema werden Vorstellungen aufeinander bezogen mittels »der Identität des Begriffs, dem Gegensatz der Prädikate, der Analogie des Urteils, der Ähnlichkeit der Wahrnehmung«. Ebd., S. 58. Dabei wird die Identität der ausgesagten Entitäten immer schon vorausgesetzt als etwas Bestehendes und Festgestelltes, statt dass deren Konstitutionsprozess untersucht würde. Für Deleuze geht die Differenz der Identität voraus, und die Wiederholung ist das einzig Gleiche, aufgrund dessen Identität erst möglich wird. Deleuze beruft sich dabei auf den Gedanken der ewigen Wiederkunft, den Nietzsche im Jahr 1881 erstmals im Nachlassnotat 11[141], KSA 9.494 entwarf. Doch schon vorher, nämlich 1879, hatte Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne beobachtet, dass als Folge der Fixierung von Begriffen – denn jeder »Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen« (WL 880) – »im Bereich jener Schemata nämlich [. . .] etwas möglich [ist], was niemals unter anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen« (WL 881). 30 31

Aufwertung von Einzelwesen und Abwertung von Gattungsnormativität

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8.4 Aufwertung von Einzelwesen und Abwertung von Gattungsnormativität

Mit diesen Überlegungen zu Macht, zunächst als Essenz Gottes, dann als ontologische Grundbestimmung aller Modi, und zur Univozität als Verteilschlüssel dieser Macht, werden wichtige Weichen gestellt. Die Aufhebung der begrifflichen Blockierung und die Kritik an Universalien und Transzendentalien laufen auf einen Nominalismus hinaus, der Individuen nicht bloß als Fälle des Allgemeinen betrachtet, sondern sie in ihrer Singularität ernstnimmt. Entsprechend traut die Ethica Menschen zu, sich so zu transformieren, dass diese Singularität in ihrem Leben bzw. als ihr Leben zum Ausdruck kommt. Sie steht damit in einer Traditionslinie von u. a. Boethius, Nietzsche, Kierkegaard bis Cavell. Verschiedene Kommentatoren haben diesen Entwicklungsaspekt hervorgehoben, etwa Manfred Walther: »Ziel der Ethica ist, dem in eine zunächst übermächtige (Um-)Welt hineingestellten Menschen einen Weg aufzuzeigen, auf dem er sich aus seiner anfänglichen Stellung in der Welt, d. h. seiner Knechtschaft in seiner Unterworfenheit unter Leidenschaften, zu einem freien, also selbstbestimmten und insofern tugendhaften Leben heraus- und voranarbeiten kann.« 36 Weil dabei Individuen nicht einem allgemeinen Ideal folgen, unterscheidet sich Spinozas Entwicklungsgedanke von dem, was später die klassische deutsche Philosophie unter dem Begriff ›Bildung‹ propagiert hat. So schreibt Hegel in seiner Vorrede der Phänomenologie des Geistes: »Die Aufgabe aber, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen, war in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen, und das allgemeine Individuum, der Weltgeist, in seiner Bildung zu betrachten. – Was das Verhältnis beider betrifft, so zeigt sich in dem allgemeinen Individuum jedes Moment, wie es die konkrete Form und eigene Gestaltung gewinnt. Das besondre Individuum aber ist der unvollständige Geist.« 37 Ähnlich auch Humboldt: »Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Diess allein ist nun auch der eigentliche Massstab zur BeWalther 2006, S. 215. Auch Marcel Senn betont, dass diese Entwicklung stets unter den Randbedingungen der Endlichkeit der Macht des Menschen erfolgt: »Alleine sein Intellekt kann bzw. könnte die Zusammenhänge seines Daseins durchschauen und somit die eigene natürliche Bedingtheit auch erkennen; insoweit er die Grenzen seiner Möglichkeiten eingesehen und auch realitätsbezogen akzeptiert hat, kann er die Funktion der Selbstbestimmung übernehmen.« Senn 2017, S. 89. 37 Hegel 2006, Vorrede, S. 22. 36

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urtheilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntniss. Denn nur diejenige Bahn kann die richtige seyn, auf welcher das Auge ein unverrücktes Fortschreiten bis zu diesem letzten Ziele zu verfolgen im Stande ist.« 38 Diese beiden Positionen sind hier exemplarisch angeführt für eine Vorstellung von Allgemeinheit, Abstraktheit und Mangel, die Spinoza in dieser Form ablehnt. Die einzelnen Punkte dazu werden in Kap. 10 eingehender diskutiert. Dort wird auch untersucht, weshalb solche Entwicklungsvorstellungen fehlschlagen. Ein sich verwirklichendes Individuum ist für Spinoza gerade nicht jemand, der unter vorgegebene allgemeine Ideale subsumierbar ist, sondern der eine eigene Prägung, Haltung oder mit Cavell gesprochen eine eigene Stimme ausbildet. Diese ›Eigenheit‹ ist aber stets paradox zu denken – und um dieses Paradox dreht sich, wie wir sehen werden, auch das Ethische der Ethik. 39 Allerdings ist Spinoza kein reiner Nominalist, denn mit seinen notiones communes erhebt er Anspruch auf wahre und insofern allgemein teilbare und mitteilbare Elemente der Erkenntnis. Mit ihnen beschreitet er einen dritten Weg zwischen einem bloßen Nominalismus und einem überzogenen Universalismus, der sich statt auf das analoge Urteilen auf die graduelle Bildung adäquater Ideen als erkenntniskonstitutives Verfahren stützt (vgl. dazu weiter Kap. 12). Diese Aufwertung von Einzelwesen geht mit einer Abwertung von Gattungen und damit auch von Gattungsnormativität einher. Denn Gattungsbegriffe sind, wie erläutert, nur inadäquate Erkenntnisse. Schon in den CM schreibt Spinoza: »Aristoteles hingegen hat sich sehr geirrt, wenn er glaubte, mit Hilfe seiner Definition die Essenz des Menschen adäquat erklärt zu haben.« (CM, Teil 1, Kap. 1, S. 134) Wenn man den Menschen als animal rationale bestimmt, erfasst man gar nicht sein richtiges Wesen, das eben nicht das Wesen des Menschen ist, sondern das Wesen jedes einzelnen Menschen. Dies hat zur Folge, dass man aufgrund solcher Wesenszuschreibungen keine normative Forderungen erheben kann wie etwa die automatische Überschreibung von Verpflichtungen qua Gattungszugehörigkeit. Spinoza entzieht durch seine grundsätzliche ontologische und epistemologische Kritik einem gebräuchlichen Vorgehen in der Moralphilosophie den Grund. Und damit kommt auch der Vernunft eine andere Rolle zu. Sie ist nicht ein angeborenes oder unveräußerliches Vermögen des Menschen oder ein Distinktionsmerkmal gegenüber Tieren, sondern eine Fähigkeit zur Erkenntnis: »das Wesen der Vernunft [rationis essentia] ist nichts anderes als unser Geist, insofern er klar und deutlich erkennt« (4p26dem). Nun können nach Spinoza Menschen nicht bloß in einer vermeintlichen Gattungszugehörigkeit übereinstimmen, sondern auch in individuellen We38 39

Humboldt 1960, S. 235 f. Vgl. Hampe 2019, S. 148, wo auch Bezüge zu Cavell und Sokrates herausgearbeitet werden.

Aufwertung von Einzelwesen und Abwertung von Gattungsnormativität

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senheiten oder Zügen dieser Wesenheiten. Auf solchen Gemeinsamkeiten ist ihm zufolge eine Ethik zu bauen statt auf einer apriorischen Universalisierung und Pauschalisierung, die meist auch moralisch voreingenommen ist. Eine unreflektierte und undifferenzierte Gattungsmoral hat dann Nietzsche als »Heerden-Moral« bezeichnet – interessanterweise ebenfalls unter Verwendung des Ausdrucksbegriffs: »Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschätzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen und Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Heerde: Das, was ihr am ersten frommt – und am zweiten und dritten –, das ist auch der oberste Maassstab für den Werth aller Einzelnen. Mit der Moral wird der Einzelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben.« (FW 116 40) »Das Lob der [allgemeinen, Vf.] Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem, – das Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten Obhut über sich selber nehmen.« (FW 21) Nietzsche war neben Spinoza nicht der einzige, der auf die Gefahren einer derartigen Moral aufmerksam gemacht hat. Auch andere Philosophen, die in einer nominalistischen Tradition stehen, von den amerikanischen Transzendentalisten bis zu Wittgenstein, haben davor gewarnt, dass Moral zu einem Dogma erstarren kann. Stegmaier beschreibt dies wie folgt: »Je stärker sich eine Moral durchsetzt, desto mehr wird sie zum Problem, desto weniger aber stellt sie sich als Problem [. . .]. Sie wird dann zur ›herrschenden Moral‹ auch im philosophischen und soziologischen Denken bis dahin, dass sie mit entsprechendem begrifflichen Aufwand für unbedingt logisch notwendig erklärt wird.« 41 »Je mehr man sich ›die Begründung‹ und nicht die ›Beschreibung‹ der Moral und mit ihr auch nicht die ›Vergleichung vieler Moralen‹ zur ›Aufgabe‹ machte (JGB 186), desto weniger wurde die Unterscheidung von gut und böse selbst in Frage gestellt.« 42 Wenn bisher negativ charakterisiert wurde, was nicht Ausgangspunkt einer Ethik nach Spinoza sein kann, nämlich ein Idealismus und ein Normenuniversalismus, der Individuen übergeht, so sind umgekehrt nun positive Ansatzpunkte zu finden, die sich aus der Machtontologie und der Univozität gewinnen lassen. Zunächst bietet sich dadurch ein alternativer Begriff von ›Gleichheit‹, »Die funktionale war Nietzsches weit- und tiefgreifenste Definition der Moral.« Stegmaier 2016, S. 247. 41 Ebd., S. 239. 42 Ebd., S. 240. Auch Pethick weist auf dieses Genesis-Geltungs-Problem hin: »to confuse the particular contents of the composition [of something good happening, Vf.] with what was good about it [. . .] is precisely the kind of thing that philosophers end up doing when they disconnect values from their affective geneses and articulate them as if they ought to be applied to various situations. This is when philosophy becomes ›moral philosophy‹, or straightforwardly moralistic.« Pethick 2015, S. 149. 40

Macht und Univozität

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›Gleichverteilung‹ oder ›Enthierarchisierung‹ an, sofern nämlich im univoken Sein alle Dinge denselben ›Abstand‹ haben: »keine Seinsform ist einer anderen untergeordnet, keine einer anderen übergeordnet.« 43 Die Dinge stehen nur an unterschiedlichen Orten, nämlich »dort, wohin die Hybris sie treibt, und ob groß oder klein, niedrig oder hoch – keines von ihnen partizipiert mehr oder weniger am Sein oder erhält es durch Analogie zugesprochen«. 44 Nach Deleuze, den wir hier zitiert haben, gab es vormals »eine Hierarchie, die die Wesen nach ihren Grenzen und nach dem Grad ihrer jeweiligen Nähe oder Ferne im Verhältnis zu einem Prinzip bemißt. Ebenso aber gibt es eine Hierarchie, die die Dinge und Wesen unter dem Gesichtspunkt der Macht [puissance] berücksichtigt«. 45 Diese Macht liegt darin, die eigenen Fähigkeiten ausschöpfen zu können. »Es handelt sich nicht um absolut betrachtete Grade an Macht, sondern nur um die Frage, ob ein Wesen möglicherweise ›springt‹, d. h. seine Grenzen überschreitet, indem es bis an das Ende seiner Fähigkeit geht, was immer auch deren Grad sein mag.« 46 Hier liegt nach Deleuze die Schnittstelle zur Ethik. Aus dem univoken Sein, in dem alle Dinge koexistieren, »entspringen eine Bestimmung des Modus als Grad an Fähigkeit [puissance] und eine einzige ›Verpflichtung‹ für den Modus, nämlich seine ganze Fähigkeit oder sein Sein in der Grenze selbst zu entfalten«. 47 Deleuze hat eine solche Konzeption im Unterschied zu einer Moral als »Ethologie« bezeichnet und ihre nicht-hierarchische Ordnung paradox als »gekrönte Anarachie«: »Das univoke Sein ist nomadische Verteilung und gekrönte Anarchie zugleich.« 48 Hier sieht Deleuze auch die Rolle der Immanenz in der Ethica: »Der spinozistische Begriff der Immanenz hat keinen anderen Sinn: er drückt die doppelte Univozität der Ursache und der Attribute aus, d. h. die Einheit der Wirkursache mit der formalen Ursache, die Identität des Attributs als das, was das Wesen der Substanz konstituiert, und als das, was durch die Wesen der Geschöpfe impliziert ist.« 49 Mit der Immanenz »kündigt sich eine neue Ontologie und vielleicht eine neue Politik an. Sie steht für das Ende von Privilegien, Autoritäten, Hegemonien – nicht zuletzt im Denken«, 50 so auch Marc Rölli. Deleuze 1993b, S. 63. Deleuze 2007, S. 61. 45 Ebd., S. 60. 46 Ebd., S. 60. Im französischen Original heißt es: »dépasse ses limites, en allant jusqu’au bout de ce qu’il peut«. Es gibt also keinen speziellen Begriff für Fähigkeit oder Vermögen außer pouvoir. 47 Ebd., S. 64. 48 Ebd., S. 61. 49 Deleuze 1993b, S. 148. Rölli bemerkt weiter: »Das kritische Element, das Deleuze im Spinozismus und in der Ausdruckslehre entdeckt, befreit die Univozität von theologischen Implikationen und tendiert zu einer Seinsauffassung reiner Immanenz.« Rölli 2012, Fussnote 143, S. 196. 50 Ebd., S. 7. 43 44

Aufwertung von Einzelwesen und Abwertung von Gattungsnormativität

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Durch Machtontologie, Univozität und Immanenz wird mit Spinoza, aber auch über ihn hinausgehend, ein einheitlicher Raum konzipiert, in dem alle Wirkungen koexistieren und sich immer wieder neu konstellieren. Die Durchlässigkeit dieses Raumes wird nicht durch künstliche oder apriorische Trennungen beschränkt (dazu gehören auch begriffliche Blockierungen). Es gibt weder getrennte Reiche von Natur- und Freiheitsbegriffen wie bei Kant 51 noch getrennte mögliche Welten wie bei Leibniz. Im Vergleich zu Spinoza ist interessant, dass der Leibniz'schen Moralkonzeption eine Raumkonzeption vorangeht, bei der Gott von allen möglichen Welten die beste ausgewählt hat, wodurch das gekoppelte Prinzip von Schöpfung und Kontingenz auf eine Metaebene verschoben und die Möglichkeit einer moralischen und teleologischen Bewertung bewahrt wird, wie sie in der Immanenz nicht gegeben ist. Illustrieren wir das Gesagte mit zwei Beispielen. Als erstes lässt sich eine zu den bekannten zoologischen Gattungen und Arten alternative Ordnung denken. Nach der üblichen Taxonomie gehören ein Ackergaul und ein Rennpferd zur selben Gattung ›Pferd‹, ein Ochse aber zur Gattung ›Rind‹. Nun könnten die Gesichtspunkte der Zuordnung auch anders gewählt werden, z. B. gemäß dem affektiven Verhalten. Dann stehen sich Ackergaul und Ochse plötzlich näher, während das Rennpferd als entfernt erscheint. 52 Wenn solche Ordnungen und damit auch Bindungen hinfällig werden, ergeben sich neue und andere Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten auszuloten und auszuüben. Als zweites können wir das Beispiel von Adam, Abraham und Hiob aus Kap. 3 aufgreifen. Dort erwiesen sich deren Handlungen als Weisen, wie Gottes Macht sich in bestimmten Modifikationen ausdrückt. Und auch diese Konzeption lässt neue Optionen zu. So gibt es niemanden mehr, den man beschuldigen, und niemanden, den man anklagen könnte, außer Gott selbst. 53 Mit der Immanenz entfällt jeder jenseitige und übergeordnete Standpunkt für eine moralische Beurteilung von innerweltlichen Handlungen und Geschehnissen, mithin von gut und böse. Betrachten wir genauer, welche neuen Fragestellungen sich daraus ergeben.

Vgl. Kant 2014, § 5, S. 138. Das Beispiel stammt ebenfalls von Deleuze. Ähnlich auch Pethick: »if human beings have certain commonalities, this is not due to the kind of thing that they are, but due to the similarities of the affects.« Pethick 2015, S 63. 53 Die Figur der Verfehlung findet sich nicht nur im jüdisch-christlichen, sondern auch im griechischen Denken. Hier ist dafür der Terminus Fehl (ἁµαρτία) gebräuchlich, dort Sünde (‫)חטא‬. Adam, Abraham und Hiob werden hier nur exemplarisch behandelt, um gewisse Aspekte aufzuzeigen, was weder die theologische Komplexität noch die existenzielle Abgründigkeit ausschöpfen kann. Leibniz hat überdies darauf hingewiesen, dass die Welt, in der Adam sündigt, als ganze eine andere Welt ist als die, in der er nicht sündigt. 51 52

Macht und Univozität

166

8.5 Ein Rahmen für neue Fragestellungen: Was drücken Affekte und Handlungen aus?

Die in diesem Kapitel aufgezeigten ontologischen und epistemologischen Weichenstellungen – und hierin liegt Spinozas Brisanz damals wie heute – machen einen ganzen theologisch-moralphilosophischen Fragekomplex um Handlungsalternativen, Bewertung, Fehlverhalten, Schuld, Abzahlung von Schuld oder Rechtfertigung des Daseins hinfällig. Um aus diesem Komplex, der hier selbstredend nicht erschöpfend behandelt werden kann, nur einen exemplarischen Strang herauszuziehen, sei in diesem letzten Abschnitt die Frage ›Was soll ich tun?‹ thematisiert. Auch diese ist wiederum komplex und hat in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedliche Ausprägungen. Kant erklärte sie zur Grundfrage der praktischen Philosophie und setzte als Maßstab dafür den kategorischen Imperativ. Er vertritt damit einen Normenuniversalismus im oben problematisierten Sinn, indem dieser Imperativ »eine Regel, die durch ein Sollen, welches die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet«, die in jeder Situation und für jedes Individuum verpflichtend ist. 54 Offensichtlich verliert diese Frage in Spinozas Metaphysik aber ihren gewohnten Sinn. Denn ihre Prämissen, eine übergeordnete Normativität, an der sich Individuen ausrichten müssen, oder ein Reich der Freiheit, in dem sie Entscheidungen treffen können, sind eben fraglich, wenn nicht hinfällig geworden. Stattdessen treten nun andere Fragen in den Vordergrund. Wie sich mit Deleuze und Nietzsche verdeutlichen ließ, sind es Fragen, die die Macht, die Fähigkeiten und das Können von Individuen betreffen. »Was kann ein Körper? Welcher Affektionen, passiven oder aktiven, ist er fähig? Bis wohin reicht sein Vermögen?« 55 Wie findet man zu seiner Stärke? »Der Schwache, der Knecht ist nicht jemand, dessen Kraft, absolut genommen, vermindert ist. Der Schwache ist derjenige, der von seinem Tätigkeitsvermögen [puissance d'agir] getrennt bleibt, wie stark auch immer er ist, der in der Knechtschaft oder im Unvermögen befangen bleibt.« 56 Kant 2014, A 36 f., S. 126. »Die Imperative gelten also objektiv, und sind von Maximen, als subjektiven Grundsätzen, gänzlich unterschieden.« 55 Deleuze 1993b, S. 226. 56 Ebd., S. 238. An dieser Stelle könnte man auch eine Analogie zu Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus ziehen, der mit einer Tatsachenontologie beginnt, um damit eine bestimmte Interpretation der Sprache als Abbild jener Tatsachen zu sichern (»Wir machen uns Bilder der Tatsachen.«) Wittgenstein 1984, 2.1, S. 14. Aufgrund dieser Ontologie sind bestimmte Weisen, über die Welt zu sprechen, möglich, andere ausgeschlossen. So kann es, wie Wittgenstein dann am Ende sagt, keine Sätze der Ethik geben – und er meint damit eine Ethik im Sinne einer normativen und präskriptiven Moral. Wollte man dies mit der hier vorgeschlagenen Methodik weiter parallelisieren, 54

Ein Rahmen für neue Fragestellungen: Was drücken Affekte und Handlungen aus?

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Diese Fragen lassen sich nun gerade in der Ausdrucksterminologie sinnvoll formulieren. Weil Macht die Essenz Gottes und in univoker Weise auch die Essenz jedes Individuums ist und weil sich Gottes Essenz als umfassende Existenz und die Essenzen der Individuen als jeweilige Existenzen ausdrücken, sind nun Fragen möglich wie: »Was drückt eine Handlung von jemandem aus?«, »Was drückt ein Affekt wie Liebe, Hass, Zorn oder Neid eigentlich aus?« Solche Fragen zielen nicht auf die Erfüllung einer Norm oder eines Gesetzes, sondern sind in erster Linie reflexiv und suchen nach den Ursachen für eine Handlung oder einen Affekt. Sie sind nicht final, sondern kausal. Ebensowenig zielen sie auf Verurteilungen, Bewertungen, Schuldzuschreibungen und dergleichen, als vielmehr auf den Erwerb hinreichender Erkenntnisse, um die Handlung oder den Affekt zu erklären. Damit wird Spinozas Metaphysik auf einen Schlag praktisch und therapeutisch. Nehmen wir als Beispiel den Fall, wo ein bestimmtes Verhalten Pauls bei seinem Freund Peter ›Zorn‹ auslöst. In diesem Affekt lässt sich Peter vielleicht zu gewissen Handlungen hinreißen. Er kann dafür Paul die Schuld geben, aber er kann sich auch fragen, inwiefern diese Handlung überhaupt etwas von ihm selbst ausdrückt oder er darin bloß fremdbestimmt wurde, d. h. zugleich etwas von Pauls Essenz mitausgedrückt wurde oder überhaupt von den Essenzen aller Individuen, die ihm im Laufe seines Lebens begegnet sind und in ihm Affekte erzeugt und aufgestaut haben, die eben nicht seiner Natur entsprechen und insofern nicht seine eigenen sind. Genau dies wird mit Lehrsatz 2p16 thematisiert: »Die Idee einer jeden Weise, in der der menschliche Körper von äußeren Körpern affiziert wird, muß die Natur des menschlichen Körpers und zugleich die des äußeren Körpers in sich schließen.« (2p16 57) Auch hier kann man für »in sich schließen« wiederum »ausdrücken« substituieren. Mit solchen Erkenntnissen kann nun ein Fähigwerden einhergehen, da Erkennen und Handeln bei Spinoza parallel sind (vgl. Kap. 10). Im dritten Teil der Ethica werden vermehrt solche praktischen Aspekte betreffend Handlungsmacht, Fähigkeit und Können thematisiert, so auch ein positiver ›Rückkopplungseffekt‹: »Wenn der Geist sich selbst und seine Wirkungsmacht betrachtet, freut er sich und umso mehr, je deutlicher er sich und seine Wirkungsmacht sich vorstellt.« (3p53) Erkenntnis und Reflexion führen so zu größerer Stärke, die sich dann wiederum in gelingenden Handlungen ausdrückt: »Alle Handlungen, die aus Affekten folgen, die dem Geist zukommen, insofern er einsieht [intelligit], rechne ich zur Charakterstärke [fortitudinem], die ich in müsste man nach der impliziten Ethik in Wittgensteins Tatsachenontologie fragen, ebenso wie in Kap. 3 nach den impliziten Problemen, auf die Spinozas Konzepte antworten. 57 »Idea cujuscunque modi quo corpus humanum a corporibus externis afficitur, involvere debet naturam corporis humani et simul naturam corporis externi.«

Macht und Univozität

168

Selbstvertrauen und Edelmut einteile [in animositatem et generositatem distinguo].« (3p59s) Individuelle Entwicklungen haben, so auch Bartuschat, ihren »Grund nicht in einer Form theoretischen Erkennens, sondern praktischen Tuns, nämlich im Prozeß des Angehens gegen Affekte, in dem sich das endliche Subjekt aus der Abhängigkeit des unmittelbaren Eingenommenseins durch je bestimmte Eindrücke mehr oder minder befreit und in diesem Akt der Befreiung einen Übergang zu größerer Vollkommenheit realisiert.« 58

Résumé

Die Aufgabe dieses Kapitels war, die Rolle des Machtbegriffs im Hinblick auf die Ethik im engeren Sinne zu untersuchen. Auch dieser Machtbegriff ist in Gott verankert, und zwar als dessen Essenz. Plausibilisiert wurde dies durch die Gottesbeweise, nach denen sich Macht bzw. Essenz als Existenz ausdrückt. Diese Form von Macht als ontologische Wirksamkeit unterscheidet sich von einer anthropologischen Herrschaftsmacht. Sie wird im gleichen Sinne, univok, über alle Individuen verteilt. Während dem analogen Urteilen hierarchische Kategorisierungen zugrundeliegen, beschreibt die Univozität eine Situation der ›Gleichverteilung‹, in der es aber Unterschiede hinsichtlich individueller Fähigkeiten gibt. Individuen sind dann nicht mehr gehalten, durch ihre vermeintliche Gattungszugehörigkeit vorgeschriebene Normen zu erfüllen, sondern ihre eigene Essenz zum Ausdruck zu bringen. Durch solche ontologischen und epistemologischen Operationen werden theologische und moralphilosophische Positionen systematisch unterlaufen. Die univoke Verteilung der göttlichen Macht ist nun weiter zu konkretisieren, sofern reale Individuen in Raum und Zeit vorkommen. Bei diesem Übergang erfolgt das Heraustreten aus der Perspektive der Ewigkeit in die Perspektive der Zeitlichkeit, das wiederum mit verschiedenen Paradoxien verbunden ist. Die Vereinzelung von göttlicher potentia konzipiert Spinoza mit dem conatus.

58

Bartuschat 1990, S. 218.

9 Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

S

pinoza führt den Begriff conatus am Anfang des dritten Teils der Ethica ein. In der Frühen Neuzeit ist dieser Terminus Gemeingut. Schon Hobbes verwendete ihn ebenso wie Descartes, die niederländischen Cartesianer oder später Leibniz. Vor dem Hintergrund des ersten und zweiten Teils der Ethica aber ist das unvermittelte Auftreten dennoch irritierend. Welche Funktion sollte der Terminus an dieser Stelle haben? Er scheint im Lauf der Deduktion nicht ›natürlich‹ aufzutreten, sondern wie von Hand eingefügt zu sein, und entsprechend kursieren in der Spinoza-Forschung ganz unterschiedliche Deutungen. Die einen betrachten den conatus als Trägheitsprinzip, die anderen als Selbsterhaltungsprinzip, wieder andere als Reaktion auf die creatio continua, die von einem transzendenten Gott aufrechterhaltene Schöpfung. Solche Deutungen beleuchten ›physikalistische‹, ›vitalistische‹ oder ›theologische‹ Aspekte dieses Prinzips. Mitunter stellt sich jedoch die Frage, ob der conatus überhaupt ein Prinzip ist oder eher eine schlichte Feststellung über eine allgemeine Eigenschaft von Dingen. Was ist also sein Stellenwert und seine Funktion für die Ethica im weiteren und für die Ethik im engeren Sinne? Tom Cook nannte den conatus den »Dreh- und Angelpunkt« der Ethica, 1 durch den alle Stränge von Metaphysik zu Ethik laufen. Ein Vorblick auf die weiteren Teile der Ethica und die folgenden Kapitel 10-12 dieses Buchs lassen erahnen, warum das so ist: Es wird sich herausstellen, dass so grundlegende Begriffe der praktischen Philosophie wie Wille, Handlung oder Freiheit entweder direkt vom conatus abgeleitet oder strukturell ähnlich sind. 2 Vgl. Cook 2006, der zugleich eine einführende Übersicht gibt. Dabei ist auffällig, dass Freiheit nicht erst in E3, sondern gleich zu Beginn von E1 in einem Zug mit Substanz, Attributen, Modi, Gott und Ewigkeit definiert wird, also in einem metaphysischen, nicht ethischen oder praktischen Kontext. In E1 steht der Terminus liberum entweder im Zusammenhang mit Gott, der allein eine causa libera ist (1p17c2), oder mit dem Willen (voluntas), der keine causa libera ist (1p32). Der Wille wird in E1 zwar genannt, aber nicht eigentlich definiert; seine Bestimmung erfolgt eher nebensächlich in einem Scholium von E3. Handlung dagegen wird zu Beginn von E3 mit einer Definition eingeführt, allerdings erst in E4 verwendet. Alle diese Definitionen oder Bestimmungen sind nominal, was Spinoza mit Wendungen kennzeichnet wie: »Dasjenige Ding heißt frei . . .«, ». . .wird es Wille genannt«, »Ich sage, wir sind aktiv . . .«. Das Scholium 3p9s, in dem Wille definiert wird, wird achtmal in E3 und zweimal in E4 verwendet; 3def2, wo Handlung definiert wird, wird nur einmal in 3p1dem und dann erst wieder in E4 und E5 verwendet; 1def7 wird für 1p7dem, 1p24dem und 5p35dem verwendet. 1

2

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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Bevor wir aber dorthin gelangen, muss der conatus in der spezifischen Verwendung von Spinoza untersucht werden. Das Vorgehen dazu greift wiederum auf die frühere Methodik des Dreischritts Problem-Paradox-Unterscheidung zurück. Dabei ist erstens zu fragen, worauf Spinoza mit seinem Konzept des conatus antwortet. Dazu vorgeschlagen wird – im Anschluss an das vorangehende Kap. 8 –, dass mit dem conatus das Problem der Vereinzelung von göttlicher potentia in Raum und Zeit und damit auch der ›Übertragung‹ von Wirksamkeit an einzelne Modi gelöst werden soll. Zweitens ist zu zeigen, auf welche Paradoxien dies führt. Hier sind es Paradoxien betreffend der Individuation von Dingen, der Ewigkeit und Zeitlichkeit, der Kausalität und Finalität, die alle am Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen auftreten. Auch in diesen Paradoxien scheint die Invisibilisierung der Paradoxie der causa sui durch, die mittels Ausschluss der Zeit entparadoxiert wurde und die hier wieder eingeschlossen werden muss. Drittens sind entsprechend neue Unterscheidungen zu treffen, um mit dieser paradox's revenge umzugehen. Das erste Auftreten des conatus erfolgt in der verbalen Form »conari« in Lehrsatz 3p6: »Jedes Ding strebt, gemäß der ihm eigenen Natur in seinem Sein zu verharren.« 3 Conari ist ein Deponens (passive Form, aktive Bedeutung) und wird neben ›streben‹ auch mit ›drängen‹, ›versuchen‹, ›wagen‹ oder ›sich anstrengen‹ übersetzt. In substantivischer Form findet sich der conatus anschließend in 3p7. Einen ersten Hinweis auf seine Funktion gibt der Beweis 3p6dem, der einzelne Dinge in Verbindung mit der Essenz Gottes bringt: »Einzeldinge sind nämlich Modi, von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden«, d. h. also »Dinge, die die Macht Gottes, durch die Gott ist und handelt [agit], auf bestimmte und geregelte Weise ausdrücken«. Dafür beruft sich Spinoza auf das schon früher zitierte Korollar 1p25c (vgl. Kap. 6) und erklärt damit die Möglichkeit der Übertragung von Macht auf einzelne Dinge. In einem zweiten Schritt benutzt er Lehrsatz 3p4, nach dem jedes Ding nur von einer äußeren Ursache zerstört werden kann, und folgert umgekehrt: »kein Ding hat etwas in sich, von dem es zerstört werden könnte.« Diesen Umstand benutzt er drittens, um schlusszufolgern, dass jedes Ding mit der ihm zukommenden Macht sich allem widersetzt (opponitur), was es zerstören könnte, und auf diese Weise in seinem Sein verharrt. 4 Eine Auffälligkeit in 3p6 ist die Wendung quantum in se est, mit der eine ›Besonderung‹ jedes Dinges (unaquaeque res) vorgenommen wird. Grammatikalisch wird diese Besonderung oder Restriktion hier wie auch an anderen Stellen der Ethica mit der Konjunktion quantum angezeigt. Wörtlich bedeutet quantum 3 4

»Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.« Dieser letzte Schritt wird in Kap. 10 problematisiert.

Conatus als Trägheitsprinzip

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in se est: sofern es in sich ist. Diese Wendung ist vor dem Hintergrund der Unterscheidung in se esse, was ausschließlich für die Substanz gilt (vgl. 1def3), und in alio esse, was für Modi gilt (1def5), zu lesen. Quantum in se est hebt an einem Ding dasjenige hervor, das unabhängig von anderen Dingen besteht und in dieser Hinsicht ›substanzähnlich‹ ist. Bei den gängigen Übersetzungen von Bartuschat (»gemäß der ihm eigenen Natur«), von Stern (»soviel an ihm liegt«) und Curley (»as far as it can by its own power« 5) wird dieser Zusammenhang verdeckt, weshalb das lateinische Original hier unabdinglich ist. Kommen wir nach dieser Exposition des conatus zu einigen seiner Deutungen, wie sie auch in der Forschung kursieren.

9.1 Conatus als Trägheitsprinzip

Die erste Deutung ist, wie eingangs erwähnt, diejenige als ›Trägheitsprinzip‹. Eine Referenz dafür scheint Descartes zu sein, der in seinen Principia Philosophiae als »erstes Naturgesetz« formuliert: »Ein jedes Ding behält von sich aus denselben Zustand bei, und daher fährt ein Ding, das sich einmal in Bewegung gesetzt hat, immer fort, sich zu bewegen.« 6 In der Erläuterung zu diesem Satz fügt er an: »Das erste dieser Naturgesetze ist: Ein jedes Ding, insofern es ein einzelnes und ungeteiltes ist, verbleibt von sich aus in demselben Zustand und verändert sich niemals außer durch äußere Ursachen.« 7 Statt perseverare wie im Satz verwendet Descartes in der Erläuterung manere. In beiden Formulierung taucht allerdings conari oder conatus nicht explizit auf. Auch in den PPC, in denen ein Teil von Descartes' Principia dann more geometrico dargestellt wird, kommt Spinoza noch ohne diese Termini aus: »Ein jedes Ding, insofern es einfach und ungeteilt ist und allein in sich selbst betrachtet wird, verharrt gemäß der ihm eigenen Natur immer im selben Zustand.« (PPC, Teil 2, p14, S. 95 8) Das Gesetz von Descartes geht dann im bekannten ersten Newton'schen Gesetz auf. 9 Curley 1994, S. 159. »Prima lex naturae: quod unaquaeque res, quantum in se est, semper in eodem statu perseveret; sicque quod semel movetur, semper moveri pergat.« Descartes 2005, Teil II, Nr. 37, S. 138 f. 7 »Harum prima est, unamquamque rem, quatenus est simplex & indivisa, manere, quantum in se est, in eodem semper statu, nec unquam mutari nisi a causis externis.« 8 »Unaquaeque res, quatenus simplex, et indivisa est, et in se sola consideratur, quantum in se est, semper in eodem statu perseverat.« Vgl. Spinoza 2005 oder Spinoza 1986b, S. 201. In der Ethica wird dann der Geltungsbereich von einfachen (»simplex & indivisa«) auf zusammengesetzte Dinge ausgedehnt. 9 »Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus illud a viribus impressis cogitur statum suum mutare«. 5

6

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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Rainer Specht hat Spinozas Verwendung des conatus in diese cartesische Tradition gesetzt, nämlich als »Verallgemeinerung des damals noch neuen Trägheitsgesetzes, das bei Descartes als ›erstes Gesetz‹ der Natur erscheint. Spinoza nimmt unter deutlicher Anspielung auf das cartesianische Gesetz der Zustandserhaltung an, daß jedes Ding nach Möglichkeit im Dasein verharrt«. 10 Dabei gibt es aber auch aufschlussreiche Unterschiede. Betrachten wir dazu die sprachlichen Formulierungen genauer. Alle drei oben angeführten Varianten (Descartes' Satz, Descartes' Erläuterung, Spinozas PPC) benutzen die Wendung quantum in se est und das Substantiv status (einmal mit perseverare, einmal mit manere) und alle beanspruchen allgemeine Gültigkeit (unaquaeque res). Jedoch treten die Termini status, perseverare, moveri, pergere, manere, mutari in verschiedenen Konstellationen auf. In der Ethica wird Spinoza dann die Wendung in eodem statu perseverare bzw. in eodem statu manere durch in suo esse perseverare conari ersetzen. Darin zeigt sich nicht bloß eine Umformulierung, sondern geradezu eine Abkehr von Descartes, indem nämlich den von ihm passiv gedachten Dingen eine Aktivität zugesprochen wird. Ferner ist Descartes Formulierung, wie Della Rocca bemerkt hat, hypothetisch: »the fact that a thing strives is nothing more than the truth of a certain hypothetical claim: for a thing to strive to do x is for its current state to be such that if it is not prevented from doing x by external causes, then it will do x.« 11 Die Behauptung in 3p6 ist dagegen affirmativ. Spinoza legt damit nicht nur eine Variante des cartesischen Trägheitsprinzips vor, sondern eine eigenständige Form, deren Aktivität für die ethische Dimension des conatus entscheidend sein wird.

9.2 Conatus als Selbsterhaltungsprinzip

Eine zweite Deutung ist diejenige als Selbsterhaltungsprinzip. Auch sie wird zunächst durch Descartes' obige Formulierungen nahegelegt, nach denen sich ein jeweiliger Zustand erhalten soll. Die Frage ist jedoch, was ›Selbst‹ genau heißt und in welchen Kontexten überhaupt sinnvoll von einer ›Erhaltung des Selbst‹ die Rede sein kann. Ein solcher Kontext könnte etwa die stoische OikeiosisLehre sein, nach der sich jedes Ding aufgrund einer Zuneigung zu sich selbst erhält. 12 Darin zeigt sich, so Bartuschat, aber auch ein »Grundzug der neuzeitlichen Philosophie: die zentrale Rolle, die dem Moment der Selbstbezüglichkeit Specht 1990, S. 45. Della Rocca 2008, S. 146. 12 Griechisch οἰκεῖν bedeutet ›das Eigene verwalten‹. Wilhelm Dilthey hat bei Spinoza stoische Züge durch die Vermittlung von Telesio u. a. nachgewiesen. Vgl. dazu Blumenberg 1970, S. 13 f. Auch in der Scholastik gibt es entsprechende Varianten, etwa bei Scotus: »Quodlibet ens naturale appetit 10 11

Conatus als Selbsterhaltungsprinzip

173

des einzelnen Seienden zugesprochen wird. Selbstbezüglichkeit erscheint bei Spinoza als Tendenz zur Selbsterhaltung (conatus in suo esse perseverandi)«. 13 Dieser Aspekt des conatus hat einen resoluten Vorläufer bei Hobbes, der einen Reduktionismus auf die materiellen Grundlagen des Überlebens – und insofern der Selbsterhaltung – in einem Krieg aller gegen alle betreibt und dessen Fassung des conatus entsprechend materialistisch-korpuskulare Züge trägt (vgl. dazu Kap. 12). Saar verortet Spinoza daher zwischen Hobbes und Descartes: »Spinozas Lehre vom Streben nach Beharrung im Sein antwortet auf die zeitgenössische Debatte, auch wenn er aus systematischen Gründen den reduktiven Zug, den Hobbes durch die Betonung des rein biologischen Überlebens in sie eingebracht hatte, zugunsten einer ontologischen Fundierung unterläuft, ohne auf der anderen Seite wie Descartes die physikalische Bedeutungsschicht des Begriffs ganz zu restituieren.« 14 Für Spinoza wäre Selbsterhaltung auch nicht die primäre Grundlage, sondern eine Folge aus der umfassenden göttlichen Macht, und um ebendies zu plausibilisieren, dient der erste Teil der Ethica. 15 Auch Richard Manning hat auf eine Abweichung von Descartes hingewiesen, sofern Spinozas conatus ein umfassenderes Prinzip sei, dass die Körpermechanik als Grenzfall enthält: »Spinoza tried to develop an [. . .] account of bodies that both conformed to the mechanical principles of the Cartesian view and preserved the sense that bodies are centers of real activity.« 16 Und so auch Sangiacomo: »Descartes' principle of conservation of the state of motion or rest does not seem to imply the same dynamic element embedded in Spinoza's notion of conatus.« 17 Ein zweiter einschlägiger Kontext für die Selbsterhaltung wäre die Evolutionslehre. Natürlich ist ein Einfluss Darwins auf Spinoza chronologisch ausgeschlossen. Etliche Rezipienten haben aber den conatus vor diesem Hintergrund gedeutet. Dies zeigt etwa ein Aphorismus Nietzsches, der mahnt: »Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine seipsum permanere appetitu naturali.« Zitiert nach Wolfson 1983, S. 196. Vgl. für weitere kontextuelle Hinweise Renz 2010, S. 247 f. 13 Bartuschat 2017e, S. 53. 14 Saar 2013, S. 97. 15 So ist auch hier die richtige Ordnung des Philosophierens (»ordo philosophandi«, 2p10s2) zu beachten: »Spinoza thus turns the approach to the philosophy of action around: many contemporary and recent philosophers seek first to understand our actions and the actions of finite things and then, on that basis, such philosophers seek to understand God’s action or the action of the whole of nature«. Della Rocca, Steps Toward Eleaticism, S. 3. Draft. 16 Manning 2012, http://plato.stanford.edu/archives/spr2012/entries/spinoza-physics, abgerufen am 14.06.2017. 17 Sangiacomo 2015, S. 517.

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Principien! – wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza's – ). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss.« (JGB 13) Nietzsche spricht hier im Geiste Darwins, wonach jedes Wesen über das unmittelbar Nötige hinaus Anstrengungen unternehmen muss, um sich und seine Art zu erhalten. Er rezipiert den conatus »vor dem Hintergrund der Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts. Er identifizierte das Immanenzprinzip des conatus physiologisch mit dem Trieb zur Selbsterhaltung, den der Darwinismus zum Kampf ums Dasein vulgarisierte«. 18 Spinoza dagegen spricht in 3p6 nicht biologisch – Biologie ist eine spätere Erfindung und Disziplin – von einer besseren Positionierung in einem Kampf ums Überleben, sondern ontologisch von einem Angehen gegen Zerstörungsversuche. 19 Interessant ist diese Rezeption dennoch, weil sie zeigt, dass mit dem conatus als Selbsterhaltungsprinzip eine Teleologie einhergehen könnte, wie sie Spinoza bekanntlich ablehnt (vgl. etwa 1app). Tatsächlich scheinen sich gerade im conatus teleologische Momente zu verbergen, sofern ein Streben auch irgendwie ›zeitlich‹ und ›gerichtet‹ sein muss. Solche Fragen werden dann Gegenstand von Kap. 11 sein und Probleme für Spinozas Handlungstheorie aufwerfen. In Bezug auf Nietzsche haben Rupschus und Stegmaier den Vorwurf in JGB 13 entkräftet: Der Begriff der Selbsterhaltung schließe noch keine Teleologie ein, denn wenn Spinoza behaupte, »dass alles sich insofern selbst erhält, als es sich dem widersetzt, von anderem zerstört zu werden«, so sei das ein »analytisch wahrer Satz, nach dem mit dem conatus über die Abwehr von Abträglichem hinaus kein bestimmtes Ziel verbunden« sein müsse. 20 Die sich auch hier abzeichnenden Risse und Spannungen (vgl. Kap. 1) können in Verbindung mit der paradoxalen Methodik für die Prozesshaftigkeit der Ethica fruchtbar gemacht werden. Gawoll 2001, S. 53. Darauf hat auch Blaise Benoit hingewiesen. Vgl. Benoit 2014, S. 483. Hier liegt ferner ein Unterschied zwischen conatus und Wille zur Macht. (Zu deren Verhältnis in problemgeschichtlicher Hinsicht siehe Boehm 2017 und Literaturangaben darin.) Dass es Nietzsche bei seinem Vorwurf gar nicht um Spinoza selbst geht, zeigt sich auch darin, dass er hierfür den Terminus »Inconsequenz« verwendet, der bei ihm sonst keine Rolle spielt und den er scheinbar schlicht vom Philosophiehistoriker Trendelenburg übernommen hat, wie es ihm für seine Abhebungsversuche gegen Spinoza gerade gelegen kam. Vgl. Rupschus und Stegmaier 2009, S. 299–308. Trendelenburg hatte in einem Aufsatz von 1850 über Spinoza philosophische Systeme danach klassifiziert, ob sie dem Finalismus oder dem Mechanismus Vorrang geben. Vgl. Trendelenburg 1850. Bei Spinoza hielten sich die beiden Seiten aufgrund des Parallelismus die Waage. Der conatus dagegen enthalte ein teleologisches Moment, und so sei Spinoza gegenüber seiner Grundüberzeugung »inconsequent« geworden. 20 Rupschus und Stegmaier 2009, S. 306 f. 18 19

Conatus als creatio-continua-Prinzip

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9.3 Conatus als creatio-continua-Prinzip

Die dritte Deutungsoption bringt den conatus in Zusammenhang mit der creatio continua. Auch dafür ist Descartes ein wichtiger Ausgangspunkt, denn bei ihm finden sich noch deutliche Spuren dieser theologischen und scholastischen Konzeption, wonach die einstige Schöpfung immer wieder neu, eben kontinuierlich aufrecht erhalten werden muss. In seiner Erläuterung zum oben erwähnten ersten Naturgesetz spricht er von der »Unveränderlichkeit [immutabilitate] Gottes« bzw. in der ersten Auflage der Principia Philosophiae noch von der »Unbeweglichkeit [immobilittate] Gottes« gegenüber der Beweglichkeit und Vergänglichkeit der Welt. Zur Sicherung des Fortbestandes der creatio ex nihilo musste man sich auf einen göttlichen Sukkurs berufen, der die fragile Schöpfung durch eine beständige Neuschöpfung in ihrem Sein erhält: eben die creatio continua bzw. der concursus divinus. In einem Brief schreibt Descartes, es sei »viel gewisser« als irgendetwas, »dass kein Ding ohne den dauernden Beistand Gottes existieren kann, so wie kein Licht ohne Sonne«. 21 Mit creatio continua und concursus divinus versuchte man also zu denken, dass »die physische Existenz von Seiendem und dessen Dauer auch in jedem weiteren Zeitmoment nicht aus dem unmittelbar vorangegangenen Dasein notwendig folgt, sondern es vielmehr einer externen Ursache bedarf, die dieses auch in jedem folgenden Zeitpunkt von neuem schöpft und so in seinem Dasein erhält.« 22 Ähnlich argumentiert Descartes in den Secundae Responsiones im Zusammenhang mit dem aposteriorischen Gottesbeweis: »Wenn ich die Kraft hätte, mich selbst zu erhalten, hätte ich umso mehr auch die Kraft, mir die Vollkommenheiten zu geben, die mir fehlen [. . .]. Aber ich habe nicht die Kraft, mir diese Vollkommenheiten zu geben, denn andernfalls hätte ich sie bereits [. . .]. Also habe ich nicht die Kraft mich selbst zu erhalten.« 23 Im Zuge einer Immanentisierung der Ursachen und der Verbreitung des principium rationis sufficientis, die maßgeblich durch Spinoza bzw. Leibniz vorangetrieben wurden, war das Konzept der creatio continua nicht mehr akzeptabel. Sie wurde nun ihrerseits als nicht rational erklärbarer Eingriff in eine sonst rational gefügte Natur, das heißt als Problem gesehen. An ihrer Stelle wurde ein Prinzip der Eigenerhaltung eingeführt. »[Es stellt] in der Frühen Neuzeit das für deren Rationalität konstitutive Prinzip und zugleich den Gegenbegriff »ac multo certius est, nullam rem sine Dei concursu posse existere, quam nullum lumen Solis sine Sole.« Descartes 1996a, AT III, S. 429. Der Brief ist ohne Adressat und ohne genauere Datierung als August 1641. Übers. Vf. 22 Abel 1982, S. 368. 23 Descartes 2009, p3dem, S. 176. Die hier bewiesene dritte Proposition lautet: »Die Existenz Gottes wird auch daraus bewiesen, dass wir selbst als Besitzer seiner Idee existieren.« 21

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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zur aristotelisch-scholastischen Teleologie und dem mit dem absoluten Gottesbegriff des Spätnominalismus verbundenen Gedanken der Fremd-Erhaltung dar.« 24 Die Wendung quantum in se est drückt gerade diesen Gedanken aus, dass sich die Dinge wenigstens zu einem gewissen Grad selbst zu erhalten vermögen. Bringen wir alle drei Deutungen zusammen, so könnte man den conatus bei Spinoza – nun wieder nach der problemgeschichtlichen Methode – als Antwort auf die Probleme und Mängel physikalischer, vitalistischer und theologischer Konzeptionen verstehen. Gegen creatio continua und concursus divinus muss Spinoza einwenden, dass es Prinzipien der Transzendenz sind. Descartes »geht von einem transzendenten Gott aus, der außerhalb der res extensa steht und die Bewegungsverläufe in der ausgedehnten Welt aufgrund seiner Unveränderlichkeit [hier kommt die immutabilitas ins Spiel, Vf.] mit Hilfe der drei Naturgesetze reguliert«. 25 Sofern nicht mehr etwas für den Fortbestand von etwas anderem verantwortlich ist, sondern jedes sich selbst erhält, kann man mit Blumenberg den conatus als intransitiv und reflexiv gegenüber dem transitiven Erhaltungsgedanken der Schöpfungslehre bezeichnen. 26 Ein Anklang an die creatio continua findet sich bei Spinoza noch im Korollar zu 1p24, dem Satz, dass endliche Dinge nicht causa sui sind: »Hieraus folgt, daß Gott nicht nur Ursache dafür ist, daß Dinge zu existieren anfangen, sondern auch dafür, daß sie im Existieren verharren [perseverent]« (1p24c). Hier tritt auch (zum ersten Mal) in der Ethica das Verb perseverare auf, wobei Gott hier als immanente Ursache wirkt (1p18). Gegen die bloße Selbsterhaltung – die zweite Deutung – muss Spinoza einwenden, dass sie ein vom Ganzen Gottes oder der Natur isolierter und zudem teleologischer Ausgangspunkt wäre. Und mit einem bloßen Trägheitsprinzip – der dritten Deutung – würde lediglich eine Eigenschaft der passiven Natur beschrieben. Zwar liegt auch bei Descartes alle Macht und Kraft bei Gott, jedoch ist die Materie für ihn kraftlos. »Descartes [. . .] doesn't think that bodies have any causal powers at all and instead locates all causal power of bodies in God's continual recreation of the world.« 27 Bei Spinoza wird aus dieser Opposition eine Verschmelzung in der Formel deus sive natura, d. h. der theologischen Seite des conatus mit der physikalischen. »Beließ noch die mathematische Naturwissenschaft [von Galilei bis Newton] den Geist (Gott) außerhalb der Weltmaschine als deren Urheber und Beweger, so verschmelzen nun Gott und Welt.« 28 24 25 26 27 28

Abel 1998, S. 95. Schmid 2011, S. 262. Vgl. Blumenberg 1970, S. 5, und Abel 1982, S. 374. Lin 2006, S. 348. Kondylis 1990, S. 223.

Conatus als creatio-continua-Prinzip

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Aktivität als Prinzip

Damit kommt den Dingen im Prinzip eine Eigenaktivität zu, die entscheidend ist, weil sich aus ihr auch alle weiteren ethischen Überlegungen ergeben. So beginnt sich abzuzeichnen, inwiefern der conatus der Dreh- und Angelpunkt zwischen Metaphysik und Ethik sein kann. Bei Descartes war die Natur wie erwähnt passiv: Er spricht »den Einzeldingen die aristotelischen Kräfte ab, erklärt sie [die Natur] für passiv und überträgt das Geschäft des Bewegens der Körper dem Schöpfer der Natur«. 29 Durch Spinoza erfährt jene passive Natur eine Wiederbelebung, die sich beinahe unbemerkt anbahnt. Die Natur wird »durch bloße Umgestaltung des cartesischen Grundthesenkomplexes von neuem zur lebendigen Gebärerin. Spinoza sagt nicht mehr, daß die Natur passiv und ohnmächtig ist und daß ihr Gott (gleichsam über den trennenden Abgrund hinweg) die Bewegung mitteilt. Er vereinfacht das Begründungsargument und sagt, daß die Natur das Prinzip ihrer Bewegung in sich enthält, weil sie nichts anderes als Gott ist«. 30 Nach der Formel deus sive natura sind Gott und Natur nicht zwei gegenüberstehende, antagonistische oder sich ausschließende Prinzipien (vgl. Kap. 6). 31 »Die Bewegung in der Natur entstammt Gott oder der Natur, denn die Natur oder Gott ist Kraft. Und die Gesetze der Natur sind der Natur nicht von außen her oktroyiert«, sondern immanent. 32 Die hier angesprochene Aktivität kann in Zusammenhang mit der immanenten Kausalität, der ›causation through essence‹ oder dem Ausdruck gesehen werden, wie sie in Kap. 7 behandelt wurden. In ihrem Buch The Effectiveness of Causes schreibt Dorothy Emmet: »Where persistence is spoken of causally, this can be a weak view if all that is meant is that if something has had a certain property in the past it will probably have it in the future, especially in the very near future. It can, however, be a strong view, as a claim that something which is passing is also carrying itself forward into its next stage. This does not only mean that later stages are likely to display the same properties as earlier ones, Specht 1990, S. 39. Ebd., S. 35. 31 Im TTP führt Spinoza den Glauben an Wunder auf eine solche Trennung zurück, nämlich die irrige Annahme »Gott handle solange nicht, wie die Natur in gewohnter Ordnung wirksam ist, und die Macht der Natur mit ihren natürlichen Ursachen sei andererseits so lange außer Kraft gesetzt, wie Gott handelt. Sie stellen sich so zwei dem Rang nach verschiedene Mächte vor, die Macht Gottes und die Macht der natürlichen Dinge, die freilich von Gott in gewisser Weise bestimmt oder (wie man heute meistens sagt) geschaffen sei« (TTP, Kap. 6, [1], S. 98). 32 Specht 1990, S. 36. Vgl. auch Schmid: »Anders als Descartes unterfüttert Spinoza dieses Gesetz aber im Rahmen seiner Naturphilosophie mit Hilfe einer göttlichen Macht oder Kraft, die Einzeldinge in einem essentiellen Streben als Modi der einen Substanz ausdrücken.« Schmid 2011, S. 231. 29 30

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nor is it cause and effect in temporal succession. It means that persistence is possible because of an internal activity directed towards the future, and the product is inseparable from the activity. Spinoza spoke of a thing having a conatus in suo esse perseverandi, and this comes near to suggesting this on-going activity.« 33 Was Emmet hier beschreibt, ist nichts anderes als den Übergang von Descartes zu Spinoza. Bei diesem »strong view« kausaler Aktivität wird der Ansatzpunkt für Spinozas Handlungstheorie liegen. Demnach ist Aktivität bei Spinoza auch »die wesentliche Bestimmung des Menschen, weil, das steht im Hintergrund aller Überlegungen Spinozas, der Mensch (wie jedes andere Seiende auch) ein Modus Gottes ist, Gott aber wesentlich Macht ist (I, prop. 34) und der Mensch deshalb die Essenz Gottes, die Macht ist, nur zum Ausdruck bringt, wenn er selbst wesentlich Macht ist und darin als modifizierte potentia Dei wesentlich Aktivität«. 34 Das sich hier stellende Problem der Vereinzelung göttlicher Macht auf individuelle Aktivität ist nun zu untersuchen. Der cartesische Hintergrund macht dabei deutlich, dass Spinoza Metaphysik auf eine Weise in Ethik überführen kann, die Descartes wegen seiner Dualismen versagt bleibt.

9.4 Das Problem der Wirksamkeit in den Dingen

Dass einzelne Dinge die Macht Gottes oder der Natur übernehmen können, zeigt Spinoza im letzten Lehrsatz (1p36) des ersten Teils der Ethica. Weil Gottes Macht seine Essenz ist (1p34), diese Essenz durch unendlich viele Attribute ausgedrückt wird (1def6) und besondere Dinge Modi sind, von denen die Attribute auf bestimmte Weise ausgedrückt werden (1p25c), muss jedes besondere Ding auch etwas von jener Macht ausdrücken: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung folgt.« 35 Die Platzierung dieser Behauptung am Ende von E1 ist kein Zufall. Mit ihr wird ein Schlussstein über den metaphysischen Bau gesetzt, bevor Spinoza beginnt, immer mehr zu den endlichen, besonderen und zeitlichen Dingen überzugehen. Bartuschat hat diesen Übergang nach dem Vorbild des Deutschen Idealismus als eine Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem bzw. Absolutem und Konkretem gedeutet (vgl. Kap. 1). Die Metaphysik muss sich nach ihm als Ethik entwickeln, um zu ihrer eigentlichen Bestimmung zu gelangen. Im Unterschied zum Deutschen Idealismus betont Bartuschat bei Spinoza die positive Rolle von Einzeldingen: »Ist die absolute 33 34 35

Emmet 1984, S. 84. Bartuschat 2017b, S. 210. »Nihil existit ex cujus natura aliquis effectus non sequatur.«

Das Problem der Wirksamkeit in den Dingen

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Substanz eine sich erfüllende Kausalität, die in den Dingen (Modi) ist, dies aus der Struktur der Substanz erschlossen, und gibt es einzelne Dinge, dies aus dem Interesse des Menschen an vernünftiger Weltorientierung vorausgesetzt, dann ist die absolute Substanz im einzelnen Ding. Das heißt: es gibt im Singulären ein Essentielles, das aus der Substanz ist und das deshalb selber potentia ist.« 36 Ähnlich, wenngleich ohne Berufung auf den Deutschen Idealismus, schreibt auch Deleuze: »So muß von jedem endlichen Sein gesagt werden, daß es das Absolute ausdrückt, je nach der intensiven Quantität, welche sein Wesen konstituiert, d. h. je nach seinem Grad an Vermögen.« 37 Der Ausdruck erscheint hier aber nicht als Vermittlung und auch nicht als teleologische Relation, durch die eine Bestimmung erfüllt würde, sondern als ein Intensitätsstrom, der sich verzweigt und auf Intensitätsgrade verteilt. Jeder Modus ist so Ausdruck von substanzieller Macht, und aufgrund dieser Macht kann er seinerseits Ursache sein und Wirkungen herbeiführen, wie 1p36 besagte. Diesen Schluss zieht auch Della Rocca: »The power of a thing is simply its ability to bring about changes in itself or in other things, changes that are thus conceived through and explained in terms of that thing.« 38 Lehrsatz 1p36 ist also ein ganz zentrales Brückenelement im Problem der Verendlichung, Vereinzelung oder Verteilung substanzieller Macht. Sprachlich auffällig ist dabei, dass Spinoza nicht von Essenz, sondern von »Natur« eines Dings spricht, die hier als semantisches Äquivalent aufgefasst werden muss. Neu ist auch der Terminus »Wirkung [effectus]«, der zuvor in keinem Lehrsatz von E1 auftrat. 39 Und schließlich ist bemerkenswert, dass mit der Terminologie von Ursache und Wirkung Spinoza am Ende von E1 wieder eine zeitliche Dimension einführt, die er am Anfang der Ethica mit der Definition der causa sui ausgeschlossen hatte. 40 Die Kombination von causa und effectus findet sich explizit im Beweis 1p36dem: »was auch immer existiert, drückt Gottes Macht, die die Ursache aller Dinge ist, auf bestimmte und geregelte Weise aus; mithin muss aus ihm [aus jedem Ding, das existiert] irgendeine Wirkung erfolgen.« 36 Bartuschat 2017c, S. 34. Weitere Wendungen von Bartuschat sind: »eine potentia, die sich in den Dingen erfüllt und die deshalb jedes Ding selber essentiell potentia sein läßt.« Bartuschat 2017h, S. 181. Oder: »die Wirksamkeit und damit Aktivität eines jeden Dinges, die als je verendlichte Macht Gottes die Essenz eines einzelnen Dinges ausmacht.« Bartuschat 2006, S. 80. 37 Deleuze 1993b, S. 175. 38 Della Rocca 2008, S. 183. 39 Effectus findet sich nur in 1ax3, 1ax4, 1p17s und 1p28s. Hier dürfte vor allem 1ax3 im Hintergrund stehen: »Aus einer gegebenen bestimmten Ursache erfolgt notwendigerweise eine Wirkung«. Diese Ursache ist in 1p36 Gott. 40 Hier sei daran erinnert, dass in der Definition der causa sui Spinoza durch Verwendung von essentia und existentia an Stelle von causa und effectus die Zeit herausgehalten und damit das Paradox der zeitlichen Aufeinanderfolge invisibilisiert hatte (vgl. Kap. 4).

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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Mit dem Wiederkehren der Zeit werden aber auch die Paradoxien wiederkehren, wie in den letzten drei Abschnitten dieses Kapitels ausgeführt wird. Zunächst aber kommen wir zur Bestimmung der Hauptfunktion des conatus in der Ethica nach der hier vorgeschlagenen Lesart im Unterschied zu den drei anderen Deutungen.

Conatus als vereinzelte potentia

Die Vereinzelung göttlicher potentia erfolgt dadurch, dass Spinoza den conatus ebenfalls als Essenz bestimmt, und zwar als aktuale Essenz jedes Dings: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges.« 41 Der Beweis rekurriert gerade auf 1p36. Hieß es dort aber noch: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt«, lautet die Formulierung in 3p7dem nun positiv: »Aus der gegebenen Essenz eines jeden Dinges erfolgt notwendigerweise einiges«. Weiter führt der Beweis aus: »die Macht jedes Dinges, anders formuliert das Streben [potentia sive conatus], mit dem es, entweder allein oder zusammen mit anderen, handelt oder zu handeln strebt [agit vel agere conatur] [. . .] ist daher nichts anderes als die gegebene oder wirkliche Essenz ebendieses Dinges.« Um auf die Wendung potentia sive conatus zu kommen, werden die Identifikationen ›potentia gleich Essenz‹ und ›Essenz gleich conatus‹ kontrahiert. Der conatus ist demnach die Weise, wie die göttliche Macht als je eigenes ›Machtquantum‹ in das kausale Netz von Ursachen und Wirkungen eingespeist wird. Es ist eine sich im Singulären manifestierende potentia der Substanz, durch die etwas wirksam wird: »the conatus is the potentia through which each thing moves from power to action.« 42 Dabei wird auch deutlich, was die Leistung eines Beweises wie 3p7dem sein kann, sofern er nicht ›bloß‹ logische Schlüsse zieht, sondern einen zunächst fremden Terminus (vgl. die Einleitung dieses Kapitels) semantisch geschickt in den mos geometricus einbindet bzw. mit dem bestehenden Vokabular verwebt. So scheint es, als ob Spinoza mit dem conatus in seiner Epoche etwas vorgefunden hätte, das, entsprechend umgedeutet und zugeschnitten, gerade das passende Puzzlestück oder missing link für seine Ethica war. Und damit wird dessen Funktion klar: Der conatus ist nicht primär ein Trägheitsprinzip oder ein Selbsterhaltungsprinzip an sich, »Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam.« 42 Jobani 2016, S. 102. 41

Das Problem der Wirksamkeit in den Dingen

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sondern vielmehr zunächst eine Antwort auf die Probleme und Mängel der physikalischen, vitalistischen und theologischen Deutung und dann auf das Problem der Vereinzelung göttlicher Macht. Spinoza hätte keinen systematischen Grund, ein Trägheitsprinzip in die Ethica einzuführen, wohl aber, einen Dreh- und Angelpunkt von Metaphysik und Ethik zu schaffen. Die Bestimmung des conatus als aktuale Essenz ist auch eine Bestimmung für eine konkrete raumzeitliche Existenz. Eine aktuale Essenz drückt sich als wirkliche Existenz in Raum und Zeit aus. Ein Gegenbegriff wäre eine essentia idealis, die den Begriff eines Dinges im Verstand, unabhängig von seiner möglichen Existenz außerhalb des Verstandes, beschreibt. 43 Die aktuale Essenz ist das, »was das Wesen eines endlichen Dinges in dessen konkreter Wirklichkeit« ausmacht. 44 Das heißt insbesondere auch, dass hier keine Potentialität verwirklicht werden müsste. Spinoza grenzt sich sowohl vom aristotelischen Hylemorphismus, nach dem sich erst Form und Materie zu einer Wirklichkeit verbinden müssen, als auch von der scholastischen Unterscheidung von actus primus und actus secundus ab. So kann man sagen, dass im conatus sich die eigene Macht »nur im Streben artikuliert und nicht unabhängig davon etwas für sich darstellt«. 45 Es gibt kein Sein hinter oder außer diesem Streben. Eine Unterscheidung von esse und conari wäre nur eine distinctio rationis und nicht eine distinctio realis, wie Spinoza in den Cogitata Metaphysica ausführt: »Diejenigen, die eifrig nach einem metaphysischen Guten suchen, das ohne alle Relation zu anderem ist, geraten durch eine falsche vorgefaßte Annahme in Bedrängnis, daß sie nämlich eine Unterscheidung der Vernunft mit einer realen [in den Dingen selbst] oder modalen [in deren Affektionen] Unterscheidung durcheinander bringen. So unterscheiden sie zwischen dem Ding selbst und dem in jedem Ding enthaltenen Streben nach Selbsterhaltung, mögen sie sich auch nicht im klaren darüber sein, was sie unter ›Streben‹ verstehen. Ein Ding und sein Streben sind nämlich der Sache nach nicht verschieden, wenn sie sich auch von der Vernunft oder besser mit bloßen Worten (hier liegt der Hauptgrund des Irrtums dieser Leute) unterscheiden lassen.« 46 Deshalb richtet sich das Streben nicht auf Idealitäten, sondern setzt bestehende Realitäten fort. Bei Leibniz dagegen, der den conatus ebenfalls aufVgl. Wolfson 1983, S. 198 f. Bartuschat 2006, S. 106. 45 Ebd. 46 »Qui autem bonum aliquod Metaphysicum quaeritant, quod omni careat respectu, falso aliquo praejudicio laborant; nempe quod distinctionem rationis cum distinctione reali vel modali confundant; distinguunt enim inter rem ipsam, & conatum, qui in unaquaque re est ad suum esse conservandum, quamvis nesciant, quid per conatum intelligant. Haec enim duo, quamvis ratione seu potius verbis distinguantur, quod maxime ipsos decepit, nullo modo re ipsa inter se distinguuntur.« Spinoza 2005, 1, VI, S. 149 / Spinoza 1986b, S. 248. 43 44

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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greift, drängt eine Essenz zu einer ihr zugedachten Existenz. Durch eine solche Potentialität hält er sich einen Spielraum für Moral und Teleologie offen. In den Nouveaux Essays lässt er verlauten, »daß das Wollen die Bemühung oder Tendenz (conatus) ist, in Richtung darauf zu gehen, was man gut findet, und sich von dem zu entfernen, was man für schlecht hält«. 47 Bei Spinoza aber ist das Streben, das mit der aktualen Essenz eines Dings identifiziert wurde, die Tendenz, im jeweiligen Sein zu verharren, und das heißt zunächst: nach nichts anderem zu streben. Wenn aber nicht anderes erstrebt wird als das, was schon ist, weil dieses ›ist‹ das ganz Streben ist, so ist diese Feststellung entweder tautologisch oder paradox. Wir sind also nach unserer Methodik von einem Problem zu einem Paradox gelangt. Genauer gesagt gibt es drei Paradoxien im conatus: die Individuation im Raum, der Übergang in die Zeit und die Alternative Kausalität-Finalität. Diese drei werden nun in den letzten Abschnitten dieses Kapitels ausformuliert.

9.5 Das Paradox der Individuation von Modi

Nach Lehrsatz 3p6 wird jedem Ding (unaquaeque res) ein Streben zugeschrieben, ›sofern es in sich ist‹. 48 Mit der Wendung quantum in se est scheint also mitbehauptet zu sein, dass es in jeder res etwas gibt, das unabhängig von anderen res besteht. Man könnte dies so verstehen, dass dazu an einem Ding sämtliche äußeren Bedingungen und Einflüsse subtrahiert sind und es nur noch um den eigenen Anteil an Beharrungskraft, gleichsam einem Residuum, geht. Doch wie könnte eine solche Subtraktion unabhängig von anderen Körpern durchgeführt werden? Sind nicht beispielsweise andere Dinge immer schon vorausgesetzt, wenn es in 3p6dem heißt, dass sich ein Ding allem widersetzt, was es zerstören könnte? Darauf hat auch Bartuschat aufmerksam gemacht: »Streben, als innere Bestimmung eines Dinges gefaßt, setzt Äußeres voraus, gegen das ein Ding sich zu erhalten strebt.« 49 So ist ein Ding »gegen etwas gerichtet, das ihm äußerlich ist und das in dieser Gegensätzlichkeit dasjenige, das aus der Natur eines Dinges folgt, mitbestimmt«. 50 Dagegen hat Blumenberg noch eine rein reflexive Auffassung des conatus vertreten, die Bartuschat eben deswegen kritisiert, weil sie die Bedeutung des Außen für die Konstitution

47 48 49 50

Leibniz 1996, S. 249. »Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.« Bartuschat 2017b, S. 206. Bartuschat 2017h, S. 182.

Das Paradox der Individuation von Modi

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des Selbstseins verkenne. Nicht die bloße Beharrung, sondern die Tendenz zur Beharrung gegen ein Zerstörtwerden sei das primäre Moment im conatus. 51 Dasselbe Problem wirft auch die Wendung unaquaeque res auf: Wie können Dinge unabhängig von anderen individuiert werden? Anders als in einer Substanzontologie, die von einzelnen Dingen schon ausgeht (etwa bei Aristoteles), müssen in einer Relationsontologie (wie eben bei Spinoza) Dinge erst aus einem Ganzen ›herausgelöst‹ werden. Dasselbe Problem stellte sich auch Descartes, der innerhalb der res extensa Körper bzw. innerhalb der res cogitans Gedanken unterscheiden musste, dafür aber, wie in Kap. 5&6 gesehen, nicht über geeignete begriffliche Instrumente verfügte. In den Principia Philosophiae versuchte er deshalb mit Bewegungsgrößen zu operieren. Zunächst ist die Bewegung eines Körpers »die Translation (der Übergang) eines Stückes Materie, bzw. eines Körpers, aus der Umgebung derjenigen Körper, die unmittelbar an ihn angrenzen und die gleichsam als ruhend angesehen werden, in die Umgebung anderer Körper.« 52 Somit sind Körper genau dann individuierbar, wenn sie solche Translationen unabhängig voneinander vollziehen können, also wenn sie »einigermaßen stabile Einheiten bilden, die sich gemeinsam bewegen können«. 53 Dieses cartesische Individuationskriterium ist aber zirkulär, wie Schmid beobachtet hat, denn wenn »Ruhe und Bewegung Charakteristika von Körpern – und das heißt immer: von bestimmten Körpern – sind, dann setzen sie die Existenz bestimmter Körper voraus, und können entsprechend nicht für deren Bestimmtheit verantwortlich sein«. 54 Man kann diesen Sachverhalt auch paradox formulieren: Ein Körper muss bestimmt werden, kann aber nicht anders bestimmt werden als durch ein Kriterium, das einen Begriff von Körperlichkeit bereits enthält. Dieses cartesische Paradox wiederholt sich bei Spinoza, hier durch zwei Lemmata der nach 2p13 eingeschobenen Physik. Zum einen: »Körper unterscheiden sich voneinander aufgrund von Bewegung und Ruhe [motus et quietis] und aufgrund des Grades ihrer Geschwindigkeit und nicht im Hinblick auf Substanz.« (lem1 post 2p13) Zum anderen: »Ein bewegter oder ruhender Körper hat zu Bewegung und Ruhe von einem anderen Körper bestimmt werden müssen« (lem3 post 2p13). Auch hier setzt die Bestimmung von Körpern einen Körperbegriff voraus. Neben einfachsten Körpern (corpora simplicissima), »die sich allein aufgrund von Bewegung und Bartuschat 2017e, S. 61, Fussnote 2. Descartes 2005, II/25, S. 121. 53 Schmid 2011, S. 263. Spinoza nimmt diese Idee auf, wenn er in der eingeschobenen Physik nach 2p13 einen zusammengesetzten Körper dadurch definiert, dass die Teile durch eine bestimmte Regel verknüpft sind und der derart konstituierte Körper sich von anderen Körpern durch diese für ihn charakteristische Regel unterscheidet (def post 2p13). 54 Ebd., S. 266. 51 52

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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Ruhe und des Grades ihrer Geschwindigkeit voneinander unterscheiden« (a2 post 2p13), betrachtet Spinoza auch zusammengesetzte Körper und bezeichnet diese ebenfalls als Individuen, wenn sie »so zusammengedrängt werden, daß sie aneinanderliegen, oder [. . .] ihre Bewegungen nach einer bestimmten Regel untereinander verknüpfen [quadam ratione communicent]« (def post 2p13 55). Die Wiederholung des cartesischen Individuationsparadoxes bei Spinoza liegt letztlich daran, dass dessen Physik im cartesischen Rahmen verbleibt. Eine mögliche Lösung für dieses Paradox könnte die sogenannte ›feldmetaphysische Interpretation‹ von Jonathan Bennett bieten. Nach ihr wird die Vorstellung von Körperdingen zugunsten einer Beschreibung durch Felder aufgegeben, wie man es aus der klassischen und modernen Physik kennt. Weil nach Spinoza Dinge Modi sind, Modi aber zugleich Eigenschaften der Substanz (vgl. Kap. 6), ist es möglich, ausgedehnte Dinge als Eigenschaften des Raums aufzufassen. Viljanen beschreibt den Vorschlag Bennetts wie folgt: »The central idea is that bodily objects must be logical constructions out of strings of place-times, for Spinoza's basic ontology does not contain physical objects.« 56 Bennett selbst meint: »The field metaphysics does, in a fairly clear sense, make particular extended things adjectival on regions of space.« 57 So wäre beispielsweise ein fahrender Zug nicht eine Komposition von Wagen, sondern eine ›zugartige Ausprägung‹ der Substanz, die in kontinuierlicher Translation begriffen ist: »think of motion as intensifications filling different regions in the space-field at different times« 58; »what we would ordinarily call movement of a body is not literally speaking movement, but simply an alteration in which spatial regions have the property we conceptualize as the body.« 59 Viljanen benutzt ebenfalls die Rede von Kraftquanten: »simplest bodies are, ontologically speaking, rudimentary intensifications of spatial power, or extended power quanta, that invariably change place.« 60 Auch Schmid schließt sich dieser Interpretation an und spricht von »Ausprägungen der substantiellen Kraft oder Kraft-Quanta«. 61 Auch zusammengesetzen Dingen kann ein conatus zugeordnet werden, der dann auch die Stabilität der internen Verhältnisse von Bewegung und Ruhe bedeutet. Dagegen besitzt Gott, auch wenn man ihn als Gesamtheit aller Dinge betrachtet, keinen conatus (contra Jobani, der auch Gott einen conatus zuschreiben will, vgl. Jobani 2016, S. 102 f.). Der conatus ist explizit ein Konzept für Einzeldinge bzw. gerade dazu da, Vereinzelungen konkretisieren zu können (vgl. die Ausführungen oben). 56 Viljanen 2007, S. 399. 57 Bennett 1984, S. 95. 58 Viljanen 2007, S. 405. 59 Ebd., S. 399. 60 Ebd., S. 408. Die Rede von Kraftquanten erinnert an Nietzsches Versuch, das ›Feld‹ des Willens zur Macht zu ›quantisieren‹, im Rückgriff auf eine Konzeption von Boscovich. 61 Schmid 2011, S. 272. 55

Das Paradox der Individuation von Modi

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Eine solche Auffassung würde das Paradox zumindest mildern, sofern die Vorstellung von festen, voneinander isolierbaren Individuen aufgegeben wird. Dann aber müsste anstelle des Körpers immer noch die Idee einer ›zuartigen Ausprägung‹ individuierbar bleiben. Einigermaßen intuitiv ist die Feldmetaphysik aber nur bei der res extensa. Sodann verschiebt sich das Problem zur Frage, was es heißt, von einer Bewegung, einer Kraft oder einer Region des Feldes zu sprechen. Und schließlich ist unklar, was die Konsequenzen in ethischer Hinsicht sind, außer dass man eine vage Idee der Verbundenheit von allem mit allem hat, die große Interpretationsspielräume lässt. 62 Festhalten kann man aber, dass das Paradox der Individuation, das im Kontext der Physik auftrat, Spinoza zu einem anderen Körperbegriff führt. Dieser Körperbegriff ist dann Inhalt der ersten Definition des zweiten Teils der Ethica: »Unter Körper verstehe ich einen Modus, der Gottes Essenz, insofern sie als ein ausgedehntes Ding angesehen wird, auf bestimmte und geregelte Weise ausdrückt« (2def1). Damit wird die Aussage von 1p25c für ausgedehnte Dinge konkretisiert. Bemerkenswerterweise bedient sich Spinoza hier wiederum der Ausdrucksterminologie, wobei die Ausdrucksrelation nun von etwas Nicht-Individuierbarem zu etwas Individuierbarem reicht (vgl. Kap. 7). Ein Körper ist also schlicht das, was als so und so Ausgedrücktes erscheint. Dieser Ausdruck ist immer ein Ausdruck von etwas: »If the individuation of a thing x didn't appeal to x itself, then x could not be expressed. For any purported expression of x would then really be an expression of something else.« 63 Was dieses x aber an sich ist, kann nicht unabhängig von seinem Ausgedrücktsein bestimmt werden. Auch diese Lösung mag, ebenso wie die Feldmetaphysik, unbefriedigend erscheinen – und vielleicht muss man deshalb ganz woanders suchen gehen. Vielleicht wird man durch Spinozas paradoxe Metaphysik gehalten, gar nicht mehr Fragen nach dem ›Was der Dinge‹ zu stellen oder ›Dinge an sich‹ bestimmen zu wollen, sondern vielmehr nach ihrem Zusammenhang und -spiel. Dinge werden bei Spinoza nicht erst bestimmt und dann aufeinander bezogen, sondern treten in Relationen und Affektionen auseinander hervor – bei allen konzeptionellen Schwierigkeiten, die dies mit sich führt und die uns auch weiterhin beschäftigen werden.

62 Auf eine entsprechende ›Verhäkelung‹ hat dann Nietzsche in JGB 2 hingewiesen: »Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.« 63 Gartenberg 2017, S. 25.

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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9.6 Das Paradox von Ewigkeit und Zeitlichkeit

Im Attribut Ausdehnung ist die oben angesprochene Individuation räumlich. Endliche Modi haben aber auch eine bestimmte Existenz in der Zeit. Wie gelangt man nun von einer Perspektive der Ewigkeit zur Zeitlichkeit? Streng genommen lässt sich weder eine Entwicklung noch ein Heraustreten der Metaphysik innerhalb dieser Metaphysik denken – es sei denn als Paradox. Man kann sich zwar auf den Standpunkt stellen, dass Spinoza mit Ewigkeit nicht eine temporale Kategorie meint, sondern eine modale, wie es 1def8 nahelegt. So sollen alle Schlüsse logisch notwendig sein und jede Kontingenz vermieden werden. Dennoch muss diese ewige Metaphysik, sofern sie in eine Ethik münden will, auch als Theorie verzeitlicht werden und als Praxis für Individuen in der Zeit stattfinden. Auch dafür wird sich der conatus als Schnittstelle erweisen. Margaret Wilson hat auf folgende Unterscheidung hingewiesen: there is »a distinction – important throughout the Ethics, but often overlooked – between existence purely as essence (›existence in the attributes of God‹), and existence in time and place, or ›duration.‹ « 64 Essenz wird für endliche Dinge in Lehrsatz 3p4 (der schon oben im Beweis von 3p6 verwendet wurde) in Verbindung mit einer ›Beständigkeit von sich aus‹ gebracht, d. h.: »Kein Ding kann anders als durch eine äußere Ursache zerstört werden.« Nach Spinoza gilt dies schlicht deshalb, weil die Definition eines Dings dessen Essenz bejaht und nicht aufhebt (3p4dem). 65 Damit wird eine grundsätzliche metaphysische Identität von Dingen postuliert, die es braucht, um überhaupt von solche Entitäten sinnvoll sprechen zu können. Gewöhnlich nehmen wir das als selbstverständlich an, geradesogut aber könnten Dinge zerfallen oder gar nicht erst bestehen – und wären eben dann keine ›Dinge‹ mehr. Viljanen hat nun folgenden Doppelaspekt von Essenzen beschrieben: »Together, all the essences form a timeless order, produced according to the laws of God's nature. Second, there must be something actual that constitutes the individual in temporal reality, namely the

Wilson 1996, S. 97. Die Vorläuferversion in der KV lautet: »denn kein Ding, an sich selbst betrachtet, hat in sich das Vermögen, um sich selbst zu vernichten, wenn es existiert, oder sich selbst hervorzubringen, wenn es nicht existiert.« (KV, Teil II, Kap. 26, [7], S. 113). Lehrsatz 3p5 ist die Verallgemeinerung auf zusammengesetzte Dinge: »Dinge sind von entgegengesetzter Natur, d. h. können nicht in demselben Subjekt sein, insoweit das eine das andere zerstören kann.« In der Literatur werden mehr oder weniger ernsthafte Gegenbeispiele diskutiert wie Kerzen, Zeitbomben oder Selbstmörder. Ein wirklicher Einwand sind nur letztere. In 4p20s erklärt Spinoza die Motive des Selbstmörders so, dass »verborgene äußere Ursachen seine Vorstellungskraft so disponieren und seinen Körper so affizieren, dass dieser eine andere Natur annimmt, die der früheren entgegengesetzt ist«, und führt damit auch diese ›Zerstörung‹ auf äußere Einflüsse zurück. 64 65

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concrete power quanta of which an actual complex mode is composed.« 66 Mit ›aktual‹ ist hier noch nicht die konkrete Existenz in Raum und Zeit gemeint, aber das, was sie dazu ›konstituiert‹. Dann aber gibt es neben der ewigen auch eine zeitliche Ebene. »[There are] (1) eternal essences that specify certain spatial arrangements of intensity as individuals, and (2) actual individuals, i. e. relatively stable concrete structures of power quanta that realize these arrangements in temporality.« 67 Diese Individuen sind es nun, die (im zweiten Sinne auch bei Wilson) tatsächlich existieren. Bringen wir all dies zusammen, so gibt es: i) Essenzen ohne Bezug auf Zeitlichkeit – das ist die metaphysische Identität, ii) Essenzen mit Bezug auf Zeitlichkeit – das ist die Tendenz, diese Identität zu perpetuieren, oder der conatus: »a thing's essence in temporal reality has a conatus nature.« 68 »Die individuelle Essenz, aufgrund derer das einzelne Ding im Kontext zeitlicher Ereignisse, die nicht aus der singulären Essenz allein folgen, seinen Bestand hat, bestimmt Spinoza als conatus perseverandi.« 69 iii) Existenzen in der Zeit. Damit lässt sich auffächern, wie Spinoza auch hier in Hinsichten operiert. Kaufmann spricht platonisierend von Abbildern: »The metaphysical and eternal movement is different from, but has, nevertheless, an image in, the physical motion and rest of particular things in time and space.« 70 Diese verschiedenen Hinsichten stehen zueinander nicht in einem Verhältnis von Potentialität und Aktualität bzw. Möglichkeit und Wirklichkeit, denn als immanente Kausalität ist »die Macht (potentia) eines Dinges, die dessen Essenz ausmacht, doch kein Vermögen, das sich von den Formen seiner Verwirklichung trennen ließe. So wie Gott nur in der Realisierung seiner potentia ist, also nur ineins mit seinen Produkten, so ist auch ein endlicher Modus nur in seinen Äußerungen.« 71 In diesem Zusammenfallen besteht nun auch die Paradoxie. Es ist nicht so, dass erst eine Essenz als Potentialität da wäre und dann eine Existenz als Aktualität (und selbst bzw. gerade dann wäre der Übergang von Ewigkeit zu Zeitlichkeit ein Problem), sondern das Ewige und das Zeitliche sind gleichzeitig da und ineinander verschränkt. Dies hat wiederum Bartuschat treffend formuliert: Ein »Ding dauert in der Zeit aufgrund seines Ewigen in ihm; deshalb kann die Erstreckung in der Zeit nicht aus der Zeit erklärt werden, die nicht ewig ist. Die ewigkeitslose Zeit ist lediglich ein Hilfsmittel unseres VorstellungsViljanen 2007, S. 410. Ebd., S. 410 f. Vgl. auch Wollenberg 2015, S. 633, Fussnote 74: »first as a characteristic relation of motion and rest among component parts, and second as an intensive degree of power.« 68 Viljanen 2007, S. 413. 69 Bartuschat 2017a, S. 111 f. Hvg. Vf. 70 Kaufmann 1940, S. 95. 71 Bartuschat 2006, S. 81. 66 67

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vermögens«. 72 Oder auch: »sofern ein Ding dauert, ist dies auf dessen Essenz zurückzuführen, nämlich auf den conatus, in dem sich das Ding gegen eine Übermacht dessen erhält, das nicht aus der eigenen Essenz folgt.« 73 So ragt etwas Ewiges, der conatus, gleichzeitig in die Zeit hinein. Man kann diese Paradoxie invisibilisieren, indem man wie gesehen nach Hinsichten unterscheidet und die Verschränkung künstlich aufhebt. Sie stellt aber zugleich eine Spannung und einen Riss dar, der beim Übergang von ewiger Metaphysik in zeitliche Ethik, welcher innerhalb der Metaphysik nicht möglich scheint, unvermeidlich ist. Dabei zeigt sich auch, dass die Zeit eine mächtige Quelle von Paradoxien 74 ist. Wir erinnern uns beispielsweise an Zenons Pfeil, der in jedem Augenblick ruht und sich dennoch bewegt. Auch dieses Paradox entstand am Übergang von einer statischen zu einer dynamischen Betrachtungsweise. Es kann durch eine infinitesimale Betrachtung gelöst werden, bei der die Bewegungsgröße als infinitesimale Änderung des Ortes gegenüber der Zeit definiert wird. Interessant ist vor diesem Hintergrund Hobbes' Bestimmung des conatus in De Corpore: »Bewegungsantrieb oder Conatus ist eine Bewegung durch einen Punkt und eine Zeit hindurch, wie sie so klein nicht gegeben oder durch Zahlen bezeichnet werden können.« 75 Parmenides (Zenons Lehrer) vermied solche Paradoxien, indem er die die Bewegung zum bloßen Schein erklärte. Aristoteles löste sie, indem er zwischen einem bleibenden Wesen (ὀυσία) und Akzidentien (συµβεβηκὸτα) unterschied. Das bleibende Wesen ist das Zugrundeliegende (ὑποκείµενον) und die Akzidentien das Wechselnde. Ein fundamentales Zeit-Paradox, weil es die Frage der Identität neu stellt, ist N. B. auch Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen. Sie ist deshalb paradox, weil einerseits das Gleiche wiederkehren soll, d. h. ein Zustand, der in allen Merkmalen mit dem vorangehenden Zustand übereinstimmen muss, der aber als wiederkehrender Zustand nicht der gleiche sein kann, sondern sich mindestens in jenem einen Merkmal ›wiederkehrend‹ unterscheidet. 76

Bartuschat 2017a, S. 112. Ebd., S. 120. 74 Zu bemerken ist, dass Spinoza die Zeit erst in 3p8 explizit nennen wird: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, schließt keine endliche, sondern eine unbestimmte Zeit in sich. [Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nullum tempus finitum, sed indefinitum involvit.]« 75 Hobbes 1967, III/15, S. 123. 76 Siehe dazu Stegmaier und Boehm 2019. 72 73

Das Paradox von Kausalität und Finalität

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9.7 Das Paradox von Kausalität und Finalität

Wenn der conatus nun derart als Tendenz zur Beharrung charakterisiert wurde, so stellt sich im Zuge der Frage, ob dieses Streben jedes Dings eher auf sich selbst oder auf etwas anderes gerichtet sei, auch die Frage, ob es auf ein bestimmtes Ziel hin gerichtet sei. Blumenberg, der sich für eine Reflexivität des conatus ausgesprochen hat (vgl. oben), attestierte ihm, dass er »jede teleologische Implikation verloren« habe. 77 Dagegen hat Bennett eingewendet: »[Spinoza] attributes to organisms a drive – he calls it conatus – that in his hands becomes a principle of self-interest. But to be self-interested is to have a certain kind of goal or purpose.« 78 »No fewer than eleven propositions [in E3] imply that the conatus doctrine predicts what people will do in certain circumstances. In fact, Spinoza always speaks of what the person will try to do; and [. . .] the word ›try‹ is essentially teleological.« 79 Ebenso hat Jobani ein teleologisches oder finales Moment im conatus behauptet, denn in 3p9s werde der conatus mit einem Trieb (appetitus) identifiziert und in 4def7 dann der Trieb mit Zwecken: »Unter dem Zweck, um dessentwillen wir etwas tun, verstehe ich Trieb.« 80 Gegen Jobanis Argumentation könnte man einwenden, dass mit 4def7 gerade ein neuer Sprachgebrauch eingeführt werden soll, nach dem der Begriff Zweck auf den Begriff Streben zurückgeführt wird. Das jedenfalls läge auch das vorangehende Vorwort 4praef nahe: »Was Zweckursache genannt wird, ist nichts anderes als der menschliche Trieb [appetitum] selbst, insofern er als das Prinzip oder die wesentliche Ursache [causa primaria] von irgendwas angesehen wird. Wenn wir z. B. sagen, das Bewohnen war die Zweckursache dieses oder jenes Hauses, dann verstehen wir darunter doch wohl nichts anderes, als daß ein Mensch, weil er sich die Annehmlichkeit des häuslichen Lebens vorstellte, einen Trieb hatte, ein Haus zu bauen.« Auch bei folgender Stelle ist es fraglich, ob eine Teleologie mit im Spiel ist oder nicht: »Er, der Trieb, ist somit nichts anderes als genau die Essenz des Menschen, aus dessen Natur das, was der eigenen Erhaltung dient, notwendigerweise folgt; mithin ist der Mensch bestimmt, es zu tun.« (3p9s 81) Teleologisch wäre die Stelle, wenn mit der ›Bestimmung‹ eine Verpflichtung gemeint wäre, die Blumenberg 1970, S. 39. Bennett 1983, S. 150. 79 Ebd., S. 153. Bennett denkt dabei an Sätze wie 3p12: »Der Geist strebt, soviel er kann, sich das vorzustellen [imaginari conatur], was die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder fördert«. 80 »Per finem, cujus causa aliquid facimus, appetitum intelligo.« Vgl. Jobani 2016, S. 101. 81 »appetitus, qui proinde nihil aliud est ipsa hominis essentia ex cujus natura ea quae ipsius conservationi inserviunt, necessario sequuntur atque adeo homo ad eadem agendum determinatus est.« 77 78

Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

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zu erfüllen ist. Dagegen hat sich Bennett ausgesprochen, denn der Satz besage nicht: » ›From a man's nature there necessarily follow things that are conducive to his preservation; and so he is determined to do such things‹.« Vielmehr stelle er fest, was jemand schlicht tue: »that there necessarily follow from each person's nature ›those things which are conducive to his preservation‹.« 82 Stephan Schmid hat hier eine schwächere und eine stärkere Lesart des conatus-Prinzips unterschieden. Die schwächere besage: »Wenn [ein Subjekt] S naturgemäß nach x strebt, dann dient x der Selbsterhaltung von S.« Dies entspricht dem eben besprochenen Fall. Die stärkere aber besage: »Wenn x der Selbsterhaltung von S dient, dann strebt S naturgemäß nach x.« 83 Der zweite Fall enthält nun deutlich ein teleologisches Moment. Mit dieser Unterscheidung lässt sich auch an anderen Stellen in E3 und E4 ein Mehr oder Weniger an Teleologie bzw. an Kausalität oder Finalität ausmachen. Eine solche graduell verstandene Teleologie nimmt dann kontinuierlich zu: von 3p9s über 3p12 (»Der Geist strebt, soviel er kann, sich das vorzustellen, was die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder fördert«) bis zu 4p19 (»Ein jeder verlangt nach den Gesetzen seiner eigenen Natur notwendigerweise nach dem, was er für gut hält«). Bei letzterem wird unzweifelhaft ein Ziel verfolgt. Wir werden diese Zunahme in den drei folgenden Kapiteln 10-12 unter je anderen Aspekten nochmals beobachten können. Zum Schluss dieses Kapitels soll versucht werden, die Stelle des o. g. Risses genauer zu verorten. Den Blick dazu kann man mit einer Kritik von Bennett schärfen, der eine inkorrekte Inferenz von 3p5 zu 3p6 bemängelt hat. Während es in 3p5 noch heißt: »Dinge sind von entgegengesetzter Natur, d. h. können nicht in demselben Subjekt sein, insoweit das eine das andere zerstören kann«, 84 steht im Beweis von 3p6: »kein Ding hat etwas in sich, von dem es zerstört werden könnte oder das seine Existenz aufhöbe (nach Lehrsatz 4 dieses Teils); vielmehr steht es allem, was seine Existenz aufheben kann, entgegen.« 85 Bei diesem Übergang wird der Terminus ›entgegengesetzt (contrarius)‹ durch ›entgegenstehen (opponere)‹ ersetzt. Das Verb opponere aber habe, so Bennett, nicht mehr eine passive, sondern eine aktive Bedeutung. »[Spinoza is] confusing the sense of ›contrary‹ that operates in 3p5 with the sense of ›opposed‹ that is needed for 3p6d«. 86 Es sei eine logische Feststellung, zu sagen, Dinge Bennett 1983, S. 153. Hvg. Vf. Schmid 2011, S. 285. 84 »Res eatenus contrariae sunt naturae hoc est eatenus in eodem subjecto esse nequeunt quatenus una alteram potest destruere.« 85 »neque ulla res aliquid in se habet a quo possit destrui sive quod ejus existentiam tollat (per propositionem 4 hujus) sed contra ei omni quod ejusdem existentiam potest tollere, opponitur«. 86 Bennett 1983, S. 156. 82 83

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gegensätzlicher Natur könnten nicht in demselben Subjekt inhärieren, jedoch eine dynamische, dass sie sich anderen Dingen entgegensetzten. 87 Während Bennett Spinoza hier einen »Denkfehler« ankreidet, ist vor dem Hintergrund der Methodik der Paradoxa der begrifflich unstetige Übergang von 3p5 zu 3p6 eher eine Sollbruchstelle am Übergang von Ewigkeit zu Zeitlichkeit. Was man Spinoza allenfalls vorhalten könnte, ist nur, dass er dies, wenn es ihm überhaupt bewusst war, nicht explizit machte. An derselben Stelle kann man auch einen Umschlag von Kausalität zu Finalität festmachen, sofern ein ›Entgegensetzen, um sich zu erhalten‹ teleologisch ist. Paradoxerweise bringt also der conatus, der als anti-teleologisches Prinzip in die Ethica eingeführt wurde, selbst eine Teleologie hinein. Zur Auflösung dieses Paradoxes kann man eine Idee von Schmid heranziehen. Schmid betrachtet zwei existierende Dinge x und y mit Essenzen e(x) und e(y). Dass es eine kausale Interaktion zwischen x und y gibt, d. h. dass x kausal die Existenz von y impliziert, ist gleichbedeutend damit, dass die Essenz e(x) logisch die Existenz von y impliziert. Man kann dann, so Schmid, sagen, dass der Gegenstand y Ausdruck von e(x) ist. In diesem Fall sind die beiden Essenzen kompatibel. Ein logisches Verhältnis entspricht so einem kausalen. Wären sie dagegen inkompatibel (d. h. contrariae naturae gemäß 3p5), könnte es auch keine kausale Verursachung zwischen x und y geben. Vielmehr gilt dann, dass e(x) non-y impliziert und vice versa. »Wenn aber die Essenz von y non-x impliziert, dann impliziert umgekehrt die Essenz von x non-y. Mithin hat auch x das Vermögen, y zu zerstören, und strebt, soviel an ihm liegt, danach, sich y entgegenzusetzen, genauso wie Spinoza im Beweis seiner conatus-Doktrin (E 3p6d) ausführt.« 88 Auch hier ist es also wiederum die Ausdrucksrelation, die, indem sie zwischen der Ebene der Essenzen und der Kausalitäten vermittelt, das Paradox löst.

Vgl. auch Schmid: »Während in E 3p5 von logischer Opposition die Rede zu sein scheint (Essenzen von Dingen, die einander zerstören oder aufheben können, sind inkompatibel), geht Spinoza in E 3p6 von einer kausalen Opposition zwischen Dingen aus, die einander zerstören können (ein Ding widersetzt sich seinen Zerstörern).« Schmid 2011, S. 280. »Wenn Dinge wirklich danach streben, in ihrem aktuellen Zustand zu verharren, dann reicht es nicht, dass sie gleichsam gleichgültig in ihrem Zustand verweilen, bis sie davon abgebracht werden. [. . .] Kontrafaktisches Fortfahren allein ist noch kein Widerstand gegen externe Einwirkungen.« Ebd., S. 261. Neben dem oben beobachteten und berechtigten Einwand verliert sich Bennett allerdings in merkwürdigen psychologischen Spekulationen über Spinozas Person, um den »Denkfehler« zu erklären: »Spinoza’s mind was strong, deep, wide-ranging, tough, brave and original but not quick and not sharp.« Oder: »there is certain kind of logical incompetence that he lacked«, Bennett 1983, S. 156 u. 157. 88 Schmid 2011, S. 281. 87

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Conatus und das Problem der Vereinzelung von Macht

Résumé

In der Forschung kursierende Deutungen des conatus als Trägheits-, Selbsterhaltungs- und creatio-continua-Prinzip wurden in problemgeschichtlicher Hinsicht aufgenommen, im Gegensatz zu ihnen jedoch die These formuliert, dass die primäre Funktion des conatus in der Ethica die Vereinzelung göttlicher Macht ist. Spinoza bestimmt denn auch den conatus als aktuale Essenz jedes Dings, d. h. als sein individuelles Wesen im Kontext zeitlicher Ereignisse. Damit lässt sich eine genuine Aktivität in den Dingen denken, die sie im Sinne einer ontologischen Wirksamkeit ausüben können, und hier werden alle weiteren ethischen Stränge anknüpfen. Auch diese Lösung des Problems der Vereinzelung und der Wirksamkeit in den Dingen führt auf Paradoxien, namentlich im Übergang vom Ganzen zum Teil, von der Ewigkeit zur Zeitlichkeit und von der Kausalität zur Finalität. Im anti-teleologisch angelegten conatus liegt selbst der Kristallisationskern für die individualisierte, zeitliche und finale Entwicklung der Ethica. Dieser Bruch wird sich wie eine Verzweigungsstruktur auf einer durchstoßenen Eisfläche weiterziehen. In E4 tritt die Spannung zwischen kausaler und finaler Perspektive noch stärker zu Tage, weil eine Ethik nicht ohne normativen Ansprüchen auskommen kann, die der Faktizität des conatus widerstreiten. Aus dem conatus geht nun umittelbar ein zentraler Begriff der praktischen Philosophie hervor: der Wille.

10 Wille und das Problem von Erkennen und Handeln

A

uch Spinozas Ethik im engeren Sinne zeichnet sich durch eine Reihe von Umdeutungen aus, nun von ›praktischen‹ Begriffen wie Wille, Handlung und Freiheit. Die Rede von praktischen Begriffen hat hier keine terminologische, sondern lediglich orientierende Funktion. Denn zum einen ist die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie keine spinozanische, sondern eher eine kantische, und zum anderen wird mit praktischer Philosophie häufig auch eine Moralphilosophie assoziiert, die gerade im Gegensatz zur Ethica steht, sofern Moralphilosophie als ein Projekt verstanden wird, Handlungsnormen und -ziele durch einen rationalen Diskurs zu begründen und für allgemein verpflichtend zu erklären. Die entsprechende im einleitenden Kap. 1 aufgestellte These ist nun auszuweisen, und dazu bilden die bisherigen Kapitel den Rahmen. Insbesondere ist es das Konzept des conatus (vgl. Kap. 9), mit dem eine Umdeutung und Neufassung des Willensbegriffs vorgenommen werden kann. Methodisch geht auch das folgende Kapitel von einem bestimmten Problem aus, vor dessen Hintergrund der neue Willensbegriff motiviert wird: das Problem des Dualismus von Körper und Geist, das dann in weitere Aspekte der Vermögen des Geistes sowie der Kontingenz und Notwendigkeit aufgefächert werden kann. Spinozas Problembehandlung, die den traditionell freien Willen direkt an den natürlichen conatus anschließt, wird dann auf ein Paradox von Erkennen und Handeln führen, das eine nicht-voluntaristische Ethik charakterisiert.

10.1 Voluntarismus und das Problem des Dualismus von Körper und Geist

Der angesprochene Dualismus von Körper und Geist zieht sich wie ein roter Faden durch die Philosophiegeschichte. In Platons Dialog Phaidon wird der Leib als ein Übel beschrieben, der die Seele am Erkennen hindert. Der Tod erscheint Sokrates deshalb als Befreiung von leiblichen Fesseln. Auch Augustinus geht von einer dualistischen Konzeption aus, in der ein höheres Vermögen Herr über einen niederen Trieb werden kann. Er behandelt das Thema der Willensschwäche oder Akrasie im achten Buch seiner Confessiones: »Der neue Wille aber, der sich bereits in mir regte, dir, mein Gott, meines Herzens einzig sichere Freude, frei zu dienen und anzuhangen, war noch zu schwach, den alten und

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festgewurzelten zu überwinden. So stritten in mir zwei Willen, ein alter und ein neuer, der eine fleischlich, der andere geistig, miteinander, und ihr Hader zerriß meine Seele.« 1 Schließlich vertritt auch Descartes in den Passionen der Seele die Ansicht, dass »selbst diejenigen, die die schwächsten Seelen haben, absolute Herrschaft über alle ihre Passionen erwerben könnten, wenn man genügend Bemühung darauf verwenden würde, sie abzurichten und zu leiten«. 2 Solche Dualismen spiegeln einen allgemeinen Konflikt, den Spinoza im Anschluss an Descartes, der dabei eine Wendung Ovids übernimmt, im Scholium 3p2s wie folgt schildert: »Aber die Erfahrung lehrt genug und übergenug, daß Menschen nichts weniger in ihrer Gewalt haben als ihre Zunge und nichts weniger können als ihre Triebe beherrschen. [. . .] Und in der Tat, hätten sie nicht die Erfahrung gemacht, daß wir vieles tun, was wir nachher bereuen, und daß wir oft, wenn wir von entgegengesetzten Affekten bedrängt werden, das Bessere sehen und dem Schlechteren folgen [quando sc. contrariis affectibus conflictamur, meliora videre et deteriora sequi], würde sie nichts von dem Glauben abhalten, wir täten alles frei.« Der Einsatz Spinozas besteht nun darin, diesen Konflikt anders anzugehen als mit den Mitteln der Beherrschung, Kontrolle und Konditionierung. Um dies zu bewerkstelligen, setzt er beim Verhältnis von Körper und Geist an. Der unmittelbare Hintergrund ist hier eben die cartesische Konzeption, nach welcher der Geist über den Körper gebietet, wobei der Wille als Vermögen zum Entscheiden und der Verstand als Vermögen zum Erkennen zusammenwirken. Der Verstand legt dem Willen Erkenntnisse zur Beurteilung vor, der Wille bejaht oder verneint diese, wobei die Sachhaltigkeit der Erkenntnisse das Urteil beeinflussen kann. Weil nach Descartes der Verstand endlich, der Wille aber unendlich ist, kann er mehr bejahen, als angemessen wäre, und auch solches bejahen, was nur undeutlich wahrgenommen wird. So kommt es dann zu Irrtümern. Auch Leibniz lässt – Spinozas Einsatz gleichsam überspringend – exemplarisch in den Nouveaux Essays verlauten: »Wir finden in uns selbst die Möglichkeit, verschiedene Tätigkeiten in unserer Seele und verschiedene Bewegungen in unserem Körper anzufangen oder nicht anzufangen, fortzusetzen oder zu beenden, und zwar einfach durch einen Gedanken oder eine Wahl unseres Geistes, der sozusagen bestimmt oder befiehlt, daß eine solche besondere Handlung getan werde oder nicht getan werde. Diese Möglichkeit nennen wir Willen.« 3 Solchen und ähnlichen Auffassungen entspricht auch der heutige common sense über das Verhältnis von Körper und Geist. Und so konstatiert Spinoza in 3p2s wohl immer noch gültig, dass die meisten Menschen überzeugt 1 2 3

Augustinus 2007, Achtes Buch, Absatz 10, S. 168. Descartes 2014, Teil 1, Art. 50, S. 36. Leibniz 1996, S. 249.

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seien, »daß der Körper bloß auf Geheiß des Geistes bald sich bewegt, bald ruht und daß er sehr vieles verrichtet, was allein von dem Willen des Geistes und dessen Erfindungskunst abhängt«. Er hält dem entgegen, dass das, »was der Körper bloß nach Gesetzen der Natur, insofern diese allein als körperlich angesehen wird, verrichten kann«, noch niemand bestimmt habe. Der traditionelle Vorrang des Geistes über den Körper wird damit in Frage gestellt. Gleichzeitig wird ein hartnäckiges Vorurteil erschüttert: der Glaube an eine Kausalität, nach der ein Befehl des Geistes eine Bewegung des Körpers verursache. Zitieren wir dazu nochmals eine Stelle aus den Passionen der Seele: »Unsere Willensakte teilen sich wiederum in zwei Arten. Denn die einen sind die Aktionen der Seele, die in der Seele selbst enden, [. . .] [d]ie anderen sind Aktionen, die in unserem Körper enden, wie wenn allein daraus, daß wir einen Willen haben spazieren zu gehen, folgt, daß unsere Beine sich fortbewegen und wir laufen.« 4 Dieses Vorurteil hat neben Spinoza dann auch Nietzsche kritisiert, indem er eine viel größere Komplexität dahinter vermutet: »Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil übernommen und übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist« (JGB 19). Denn es könnte sich beim Wollen schlicht um »ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir ›Arme und Beine‹ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir ›wollen‹, sein Spiel beginnt«, handeln (JGB 19). Wollen und Bewegen wären dann eine bloße Koinzidenz, die sich gewohnheitshalber einstellt, und eine fragwürdige Phänomenologie würde so zu einem Vermögen und einer Doktrin hypostasiert. Diese Gewohnheit hat sich tatsächlich tief in unsere Sprache eingegraben. Nach Bernulf Kanitscheider sprechen wir »ja davon, wie eine körperliche Berührung eine Empfindung ausgelöst hat. Der Alltagsverstand neigt also aus historischen und sprachlichen Gründen dazu, das Problem im Sinne eines dualistischen Interaktionismus zu formulieren, und der wissenschaftliche Dualismus, versucht dann die weiterführende Frage zu beantworten, wie und wo die Wechselwirkung der beiden Entitäten vonstatten geht.« 5 Derart präsentiert sich also die Ausgangs- und Problemlage für Spinoza: In dualistischen Konzeptionen von Geist und Körper, Wille und Verstand, ErkenDescartes 2014, Teil 1, Art. 18, S. 14. Bernulf Kanitscheider, Das Leib-Seele-Problem in der analytischen Philosophie, S. 10. Typoskript. Curley etwa nennt die cartesische Konzeption im Vergleich zur spinozanischen »a commonsense view of the world«. Curley 1988, S. 8. 4 5

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nen und Handeln. Wenn man nun unter Voluntarismus die Position versteht, dass der Wille das dominante Vermögen ist, dem Entscheidungskompetenz zukommt, dann kann man sagen, dass Spinoza einen Voluntarismus problematisiert und kritisiert.

10.2 Das Problem der Vermögen und das Paradox der Allmacht Gottes

Die Frage, was der Wille ist und was er zu tun imstande ist, ist für die Ethik wie für die Moralphilosophie zentral. Denn wenn Handlungen auf eine gewisse Weise erfolgen sollen, und wenn Affekte oder Triebe gesteuert werden sollen, wird gleichsam eine Instanz benötigt, die diese Steuerungsfunktion übernimmt. Als diese Instanz wird üblicherweise der Wille im Sinne eines geistigen Vermögens eingesetzt. Weitere Vermögen sind bei Descartes, wie gesehen, der Verstand oder bei Kant das Erkenntnisvermögen, das Begehrungsvermögen und das Urteilsvermögen. Für die Moralphilosophie ist dabei grundlegend, dass der Wille im Prinzip frei ist, damit er sich überhaupt für gewisse Handlungen entscheiden kann, eher als für andere. Ein Aspekt dieses Entscheidungsproblems wird bei Descartes unter dem Begriff ›Indifferenz‹ thematisiert. In einem Brief an Mersenne führt er aus, Indifferenz meine einmal im negativen Sinne jenen unbestimmten Zustand, »in dem der Wille sich befindet, wenn er nicht aus der Kenntnis dessen heraus, was wahr oder was gut ist, geneigt ist, eher für das eine als für das andere Partei zu ergreifen«, und einmal im positiven Sinne, »sich für den einen oder anderen von zwei Gegensätzen zu entscheiden«. 6 Dem Willen kommt nun die Aufgabe zu, jenen entscheidungslosen Zustand zu beenden. »Nun ist es aber gewiß, daß der Wille, in seinen Handlungen betrachtet, bevor diese ausgeführt werden, die Indifferenz mit sich fortnimmt, aufgefaßt im zweiten Sinne, [. . .] wir entscheiden immer in der Absicht, uns diesem Zustand zu entziehen.« 7 Spinoza thematisiert Indifferenz dann im Scholium 1p17s, wo er von den Verfechtern eines freien göttlichen Willens sagt: »so nehmen sie lieber einen Gott an, der gegen alles indifferent ist und nur solches erschafft, das er nach irgendeinem unbedingten Willen zu erschaffen beschlossen hat.« 8 Indifferenz Descartes 1949, S. 237. Ebd., S. 238. 8 Auch Nietzsche bedient sich noch des Terminus Indifferenz und beschreibt sie in der GM so: »Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein 6 7

Das Problem der Vermögen und das Paradox der Allmacht Gottes

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ist eine wichtige Voraussetzung für die Hypothese des freien Willens. Und so ist auch für Descartes der Wille (sowohl Gottes als auch des Menschen) »von seiner Natur her solchermaßen frei, daß er niemals gezwungen werden kann«. 9 Treten wir einen Schritt zurück und beobachten die Problemlage aus größerer Distanz. Wenn der Wille, wie oben geschehen, als Instanz gedacht wird, liegt es nahe, dass dies nach dem juridischen Paradigma eines Richters mit Entscheidungsbefugnis und Urteilsmacht erfolgt. Wir erinnern uns dabei an Spinozas Kritik an der Vorstellung von einem Gott als König und Richter (Kap. 3) sowie an dem Urteilen in Analogien (Kap. 8). Aus dieser Distanz sieht man, wie sehr die Moralphilosophie noch an der Vorstellung eines transzendenten und anthropomorphen Gottes hängt. Eine Immoralität der Moral kann dann sein, dass unter Berufung auf einen göttlichen Willen Missbrauch betrieben und eine zweifelhafte Moral gerechtfertigt wird, die bloß zur Festigung eigener Machansprüche dient (vgl. Kap. 3.) 10 Von einem göttlichen Willen als vermeintlichem Zeichen der Macht schließt man analog auf den menschlichen freien Willen, dem man dann die Erfüllung normativer Forderungen anlasten kann, oder man projiziert umgekehrt die angenommene menschliche Willensfreiheit auf Gott. Spinozas Gegenstrategie ist, auch bei diesem Problem den Hebel konsequent bei Gott anzusetzen – gleich wie bei Ontologie und Erkenntnistheorie – und zu fragen, wie es in Wahrheit mit dem göttlichen Willen steht. Nach einer in der Scholastik verbreiteten Auffassung, die auch Descartes übernimmt, sind Wille (voluntas) und Verstand (intellectus) Vermögen Gottes. »Descartes (und vor ihm schon Duns Scotus und die Mehrzahl mittelalterlicher Autoren) geht davon aus, daß Gott als ein personales Wesen zu verstehen ist, das über zwei Grundvermögen verfügt: Verstand und Wille. Die beiden kooperieren miteinander, um Sachverhalte in der Welt hervorzubringen, aber der Wille ist im Prinzip ein autonomes Vermögen, das auch abweichend von einmal getroffenen Entscheidungen bestimmte Sachverhalte bewirken kann.« 11 Gottes freier Wille ist in dieser Auffassung die letzte Verfügungsinstanz, auch für Gottes ›Handlungen‹ selbst. »God's creative act is free because it is caused by an antecedent act of will that selects from a range of alternatives represented by ideas in the divine mind. Before God creates the world, on that view, he con›Sein‹ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ›der Thäter‹ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles.« (GM I, § 13) 9 Descartes 2014, Art. 27, S. 27. 10 Vgl. dazu auch Stegmaier 2016, S. 242. Mit einer Moral werden oft idiosynkratische Lebensbedingungen zu einem Guten an sich hochgeneralisiert. Dies beginnt mit simplen Ausschlüssen aus dem vermeintlich zwangsfreien Diskurs: »Wer sich schlicht gegen die herrschende Moral stellt, wird als unmoralisch aus dem Moraldiskurs ausgeschlossen und gar nicht mehr angehört.« Ebd., S. 236. 11 Perler 2006, S. 64.

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siders all the different ways he might create it. These different possibilities are contained in the divine mind as ideas. God selects from the things represented by his ideas and creates them through an act of will.« 12

Das Paradox der Allmacht Gottes

Wenn nun in diesem Sinne Handlungsoptionen vorliegen, die man als solche erkennt, aber noch nicht realisiert hat, dann stellt sich das Problem, dass Erkennen und Handeln divergieren können. Beim Menschen kann dies, wie eingangs erwähnt, zum Konflikt führen, dass das Bessere erkannt, aber das Schlechtere getan wird. In Bezug auf Gott schildert Spinoza das Problem in Ep. 56 an Hugo Boxel wie folgt: »Wenn wir behaupten, Gott habe eine Sache nicht wollen können und sie nicht erkennen können, dann schreiben wir Gott verschiedenartige Funktionen zu, eine notwendige und eine indifferente, und demzufolge würden wir den Willen Gottes als von seinem Wesen und seinem Verstand verschieden begreifen und demgemäß von einer Widersinnigkeit in die andere verfallen.« Eine dieser Widersinnigkeiten ist das Paradox der Allmacht, das Spinoza im Scholium 1p17s wie folgt formuliert: »Andere meinen, Gott sei eine freie Ursache [causam liberam], weil er, so meinen sie, zuwege bringen kann, daß das, was uns zufolge aus seiner Natur folgt, d. h. was in seiner Gewalt [potestate] steht, nicht geschieht, also von ihm nicht hervorgebracht wird.« Das heißt auch, dass eine Erkenntnis nicht notwendig eine entsprechende Handlung nach sich zieht. Paradoxerweise vermag dann aber Gott, obwohl allmächtig, zuwenig. Denn würde er nicht schaffen, was er erkannt hat, wäre er zumindest in dieser Hinsicht unvermögend; würde er aber restlos alles schaffen, was er erkannt hat, so könnte er darüberhinaus nichts mehr schaffen und wäre so ebenfalls unvermögend. 13 Dieses Paradox kann man auflösen, indem man seine Prämissen überdenkt (vgl. Kap. 2). Die hier relevanten Prämissen sind die Potentialiät und die Kontingenz der Handlungen. Gehen wir zuerst auf die Frage der Potentialität ein, die mit den Vermögen Gottes zusammenhängt. Im angeführten Scholium 1p17s stellt Spinoza klar, »daß weder Verstand [intellectum] noch Wille [voLin 2006, S. 323 f. Spinoza braucht dafür in 1p17s die Wendungen, wenn Gott »alle Dinge, die in seinem Verstand sind, geschaffen«, dann hätte er nichts darüber hinaus schaffen können und »daß Gott unendlich vieles erkennt, das sich erschaffen läßt, er aber niemals wird erschaffen können«. Dazu Nail 2008, S. 209: »if there were something God did not produce but understood He would be finite, and this would be absurd.« Paradoxa der Allmacht wie die Frage, ob Gott einen Stein so schwer machen kann, dass er ihn nicht heben kann, wurden schon von Averroes und Aquinas diskutiert. 12 13

Das Problem der Vermögen und das Paradox der Allmacht Gottes

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luntatem] zu Gottes Natur gehören«. Somit haben sie nicht den Status von Attributen, sondern höchstens von infiniten Modi. Weiter gilt: »Der wirkliche Verstand [Intellectus actu], mag er endlich oder unendlich sein, wie auch der Wille [voluntas], die Begierde, die Liebe und dergleichen, müssen zur Natura naturata, nicht aber zur Natura naturans gerechnet werden.« (1p31) Das erscheint zunächst nur wie eine geringfügige Verschiebung, hat aber enorme Konsequenzen. Denn die vermeintlich hervorbringenden Vermögen Wille und Verstand werden nun zu hervorgebrachten Modi. Auch wenn diese unendlich sind und »zur Natur Gottes sich verhalten wie Bewegung und Ruhe« (1p32c), so sind sie eben damit abhängig. Indem dem Willen ein anderer ontologischer Status zuerkannt wird, ändert sich auch dessen Funktion, die nun nicht mehr darin besteht, Erkanntes in Handlungen umzusetzen. »Das Wesen Gottes besteht nicht in Intellekt und Willen, die ihm eine Entscheidungsfreiheit möglich machen (daß er wählt, welche Welt er erschaffen möchte), sondern in seiner Macht (potentia), die alles verwirklicht, was sie vermag.« 14 Und weil Modi als geschaffene von anderem abhängig sind, wird eine unbedingte Willensfreiheit hinfällig: »der Wille bedarf, wie alles übrige, einer Ursache, von der er bestimmt wird, in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken.« (1p32c2) Damit zielt Spinoza nicht nur auf eine theoretische Willensfreiheit, sondern auch auf eine moralische und politische Vereinnahmung des göttlichen Willens zu Steuerungs- und Strafzwecken und schließt damit einen Raum des ideologischen Missbrauchs, einen »Zufluchtsort der Unwissenheit«, aus. 15 Sein Vorgehen dabei ist subtil und gleicht einer partisanischen Technik des Infiltrierens und Untergrabens. So behält er alle traditionellen Termini (Gott, Wille und Verstand) bei, gibt ihnen aber eine neue Bedeutung und Funktion. Perler konstatiert: »Zwar kann man in gewisser Weise nach wie vor von einem göttlichen Willen sprechen, aber damit kann nicht mehr als die Kette von Modi des Denkens gemeint sein, die der Kette von Modi der Ausdehnung zugeordnet ist.« 16 Denn »Gott ist ja nichts anderes als die Welt bzw. das Netz aller Sachverhalte, und in diesem Netz ist der Ort jedes einzelnen Sachverhalts genau festgelegt. Die Rede von einem göttlichen Wollen oder Beschließen ergibt in diesem Bild keinen Sinn.« 17 Man kann diese Neubestimmung auch als einen Schritt zur Auflösung des Paradoxes der Allmacht begreifen, indem eben gewisse Prämissen abgeändert werden. Es bedarf jedoch noch weiterer Schritte. Der nächste betrifft die Menge der fraglichen Erkenntnisse und Handlungen insgesamt. Man könnte z. B. versucht 14 15 16 17

Liske 2000, S. 118. Die Wendung stammt aus 1app: »ad Dei voluntatem, hoc est ignorantiae asylum, confugeris«. Perler 2006, S. 66. Ebd., S. 68.

Wille und das Problem von Erkennen und Handeln

200

sein, die Menge der Erkenntnisse gegen die Menge der Handlungen abzählen zu wollen. Da dies vor dem Hintergrund der Allmacht Gottes geschieht, ist davon auszugehen, dass diese Mengen unendlich sind. Im Prinzip muss Gott unendlich vieles erkennen und unendlich vieles bewirken können. Welche Schwierigkeiten das Zählen unendlicher Mengen bereitet, hat allerdings erst die Mathematik im 19. Jahrhundert herausgefunden. Georg Cantor gelangte mit seinem Diagonalverfahren zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass jeder rationalen Zahl genau eine natürliche Zahl zugeordnet werden kann, obwohl es scheinbar ›viel mehr‹ rationale Zahlen gibt. Eine solche Eins-zu-Eins-Zuordnung heißt in mathematischer Terminologie eine Bijektion und die Verallgemeinerung der Anzahl auf unendliche Mengen deren Mächtigkeit. Auf das obige Paradox der Allmacht angewendet bedeutet dies, dass man nicht naiv Erkenntnisse und Handlungen Gottes gegeneinander abzählen kann. Spinozas Metaphysik zeigt vielmehr, dass Gott eine Allmacht zukommt, bei der er genauso viel schafft, wie er erkennt, wobei ›genauso viel‹ im mathematischen Sinne ›gleichmächtig‹ heißt. So fallen in Gott tatsächlich Erkennen und Handeln zusammen, eine Potentialität lässt sich nicht aufrechterhalten und ein weiterer Knoten des Paradoxes löst sich. 18

10.3 Das Problem der Kontingenz und der freie Wille

Behandeln wir als nächstes die zweite Prämisse des Paradoxes der Allmacht Gottes, diejenige der Kontingenz. Rekapitulieren wir dazu, was Spinoza unter Notwendigkeit versteht: »Ein Ding heißt notwendig [necessaria] entweder in bezug auf sein Wesen oder in bezug auf seine Ursache. Denn die Existenz eines Dinges folgt notwendig entweder aus seinem Wesen und aus seiner Definition oder aus einer gegebenen wirkenden Ursache.« (Dies sind N. B. die beiden in Kap. 7 genannten Aspekte der immanenten Kausalität oder des Ausdrucks: die causation through essence und die gewöhnliche effiziente Kausalität unter existierenden Modi.) Spinoza fährt fort mit: »Dies sind auch die Gründe, weshalb eine Sache unmöglich [impossibilis] heißt, weil nämlich entweder ihr Wesen oder ihre Definition einen Widerspruch in sich schließt oder weil keine äußere Ursache gegeben ist, die bestimmt wäre, ein solches Ding hervorzubringen. Mit einem solchen positiven und umfassenden Begriff von Unendlichkeit könnten auch andere Probleme seiner Philosophie gewinnbringend beleuchten werden, etwa das Problem des Parallelismus. Das Problem des Parallelismus besteht darin, daß es nach dem epistemischen Parallelismus zu jedem Ding eine Idee geben muss (2p7) und, weil Ideen auch Dinge sind, es viel mehr Ideen gibt, während der ontologische Parallelismus von einer gleichen Anzahl in allen Attributen ausgeht. Vgl. dazu Boehm 2019. 18

Das Problem der Kontingenz und der freie Wille

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Zufällig [contingens] aber wird ein Ding aus keinem anderen Grund genannt als wegen unserer mangelhaften Erkenntnis. [. . .] darum nennen wir es entweder zufällig oder möglich [possibilem].« (1p33s1) Mit contingens ist hier kein absoluter Zufall im Sinne einer Abwesenheit jeglicher Regelhaftigkeit gemeint, sondern nur, dass je nach Umständen eine Wirkung erfolgen kann oder auch nicht. 19 Im Rahmen des mos geometricus etabliert nun Spinoza in der Lehrsatzgruppe 1p26-29 für alle Dinge bzw. Modi einen metaphysischen Nezessitarismus, der jegliche Kontingenz ausschließt. Sein Geltungsanspruch reicht bis in die ›praktische Philosophie‹, weil nach dem vorangehenden Abschnitt auch der Wille und der Verstand für Spinoza Modi sind. Der Nezessitarismus betrifft also auch alle Vorgänge in Geist und Körper, Wille und Verstand, Erkennen und Handeln. Konkret lauten die Lehrsätze: »Ein Ding, das dazu bestimmt ist, irgendetwas zu bewirken, ist von Gott notwendigerweise so bestimmt worden; und ein Ding, das von Gott nicht bestimmt ist, kann sich nicht selbst dazu bestimmen, etwas zu bewirken.« (1p26) Umgekehrt kann ein von Gott bestimmtes Ding »sich nicht selbst zu einem unbestimmten machen«. (1p27) Und wie schon in Kap. 6 ausgeführt, kann ein Einzelding, d. h. ein »Ding, das endlich ist und eine bestimmte Existenz hat, [. . .] weder existieren noch zu einem Wirken bestimmt werden, wenn es nicht von einer anderen Ursache zum Existieren und Wirken bestimmt wird, die ebenfalls endlich ist und eine bestimmte Existenz hat« (1p28). Damit schließt Spinoza: »In der Natur gibt es nichts Zufälliges [contingens], sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken [ad certo modo existendum et operandum].« (1p29 20) Damit wird neben der Potentialität auch die zweite Prämisse des Paradoxes der Allmacht, die Kontingenz, hinfällig. Dieses Netz von gegenseitig und durchgängig bestimmten Existenz- und Wirkverhältnissen wird sub specie aeternitatis dargelegt. Wie in Kap. 7 erörtert, erfolgt dabei die Bestimmung jedes Modus im Verbund mit allen anderen Modi als »co-temporal correlation of variables«. 21 Dabei ist Gott Ursache, nicht aber sofern er von außen eingreifen würde, sondern indem er selbst dieses Netz ist, Vgl. zu verschiedenen Zufallsbegriffen Hampe 2006a. In all diesen Lehrsätzen wird der Terminus ad operandum determinatum verwendet im Sinne einer ontologischen Bestimmung von Wirkverhältnissen, und nicht etwa agere für ›handeln‹, das erst in 3def2 auftreten wird. Jene Terminologie hat wiederum scholastische Vorläufer. Scotus etwa schreibt in seiner Ordinatio: »Wenn das Bestimmende kontingent und vermeidlich zu einem von ihnen so bestimmt [determinat], daß es zu einem anderen bestimmen könnte, so kann ein solches Bestimmendes nur der Wille sein, weil jede natürliche aktive Ursache auf eine einzige Wirkung festgelegt ist.« Ordinatio / Opus Oxoniense, Distinctio 25, Questio unica, Scotus 2000, S. 197. 21 Emmet 1984, S. 77. 19 20

Wille und das Problem von Erkennen und Handeln

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in dem sich alle Wirkungen vollziehen. Man kann dann sagen, dass Wirkungen aus Gott folgen, sofern er affiziert ist. Della Rocca hat dies so formuliert: »to say that a mode follows non-absolutely from God is not to say that it follows only partly from God. For Spinoza, to say that a mode follows non-absolutely from God is to say that it follows from God only as part of a package.« 22 Ähnlich auch Viljanen: »Spinoza claims that finite modes can become actual only through the effects of other actual finite modes (E1p28). This means that the beginning of the actual being of a mode depends on the infinite totality of modes.« 23 Dabei ist auf die absolute Notwendigkeit dieses Settings hinzuweisen. Während ein Determinismus lediglich verlangt, dass bei gegebenen Anfangsbedingungen alle Folgen festgelegt sind, diese Bedingungen selbst aber variieren können, sind im Nezessitarismus auch sie gänzlich bestimmt. Man kann dies am Unterschied von Leibniz und Spinoza sehen. Leibniz' Gott erwägt mehrere mögliche Welten und entscheidet sich dann zur Schaffung von einer – der moralisch besten –, in der alles weitere festgelegt ist. Spinoza dagegen konzipiert eine Natur, die als causa sui in sich geschlossen ist und so auch nicht durch moralische Kriterien eines Außenstehenden beurteilt werden könnte. Sein Nezessitarismus steht im Einklang mit dem Monismus und der Immanenz. 24 Im Rahmen der Problemgeschichte können nun für diesen Nezessitarismus in Anlehnung an Perler folgende Motive ausgemacht werden: 25 i) eine anti-voluntaristische Kritik an der Vorstellung, dass Gott willkürlich in die Welt eingreife. ii) Eine anti-anthropomorphe Kritik, dass Ereignisse in der Welt Wirkungen eines personenhaften Wesens statt Verknüpfungen in einem kausalen Netz seien. 26 iii) Eine Manifestation von Spinozas Monismus, zumal der Nezessitarismus, anders als der Determinismus, nur eine einzige Welt mit einer einzigen Gesetzlichkeit zulässt. iv) Eine Abwehr gegen die Teleologie; denn wenn sich alles mit kausaler Notwendigkeit ereignet, ist die Ausrichtung an Zielen hinfällig (dazu differenzierter in Kap. 11). Mit Berufung auf einen solchen Nezessitarismus kann Spinoza nun entschieden die Freiheit des Willens bestreiten: »Der Wille kann nicht freie Ursache genannt werden, sondern allein eine notwendige.« (1p32) Dies trifft sowohl Della Rocca 2008, S. 70 u. 71. Viljanen 2007, S. 396. 24 Eine Konsequenz davon ist auch, dass man sich keine Position außerhalb des notwendigen Geschehens zuweisen kann, die frei zu beurteilen wäre, inwiefern der Nezessitarismus selbst richtig oder falsch ist. »There is no context outside of necessity itself for adjudicating whether a thing exists necessarily or not.« Gartenberg 2017, S. 29. 25 Perler 2006, S. 61–70. 26 Alle Ereignisse sind in jenem Netz zu verstehen und zu verorten. Dass beispielsweise »auf das Herunterfallen des Steins das Auftreffen auf den Boden folgt, heißt nichts anderes, als daß hier zwei Knoten im Netz unmittelbar benachbart sind.« Perler 2006, S. 68. 22 23

Der menschliche Wille als conatus

203

auf Gott zu (»Hieraus folgt [. . .], daß Gott nicht aus Freiheit des Willens etwas bewirkt«, 1p32c1) als auch auf Menschen. Jeder Wille, unendlich oder endlich, ist in diesem ontologischen Kontext schlicht eine Modifikation der Substanz. Wie aber kommt man dann zur Illusion eines freien Willens? Spinoza erklärt dies auf der problematisierenden Ebene in 1app dadurch, dass »alle Menschen in Unkenntnis der Ursachen von Dingen zur Welt kommen und [. . .] alle darauf aus sind, ihren eigenen Vorteil zu suchen, worum sie auch wissen. Daraus folgt nämlich erstens, daß Menschen sich für frei halten, weil sie sich ihres Triebes und dessen, daß sie mit ihm manches wollen, bewußt sind und an die Ursachen, von denen sie veranlaßt werden, etwas zu begehren, nicht einmal im Traum denken, weil sie sie nicht kennen.« Man kann diese Erklärung als genealogisch avant la lettre bezeichnen. Sie zeigt nicht nur, wie ein Trugschluss entsteht, sondern lenkt auch den Blick darauf, dass es einer Ethik nach Spinoza um die Erkenntnis von Ursachen gehen muss. Damit wird der Freiheitsbegriff, sollte er beibehalten werden, ebenfalls mit einer anderen Bedeutung zu versehen sein, die, wie es nun nicht anders sein kann, paradox ist (vgl. Kap. 12).

10.4 Der menschliche Wille als conatus

Nun aber gilt es, Spinozas Willensbegriff in Bezug auf den Menschen zu bestimmen. Die bisherigen Ausführungen galten ja allgemein für ›einen Willen‹, unendlich oder endlich, göttlich oder menschlich. Und was kann ein solcher ›notwendiger Wille‹ noch sein? Ein Bezug von göttlichem zu menschlichem Willen wird in 1p17s hergestellt: »Gottes Verstand ist aber die Ursache sowohl der Essenz wie der Existenz unseres Verstandes; also ist Gottes Verstand, begriffen als etwas, das die göttliche Essenz ausmacht, sowohl seiner Essenz wie seiner Existenz nach von unserem Verstand verschieden und kann höchstens im Namen mit ihm übereinkommen, wie wir behaupteten. Für den Willen läuft der Beweis genauso.« 27 Mit der in Kap. 8 verwendeten Terminologie kann man sagen, dass es höchstens eine Aquivozität, nicht aber eine Univozität unter diesen Begriffen gibt – anders N. B. als beim Machtbegriff. Denn wenn der Wille oder Verstand Gottes als unendlicher Modus von Gott geschaffen wird, und wenn der menschliche Wille oder Verstand als endlicher Modus aus dem göttlichen folgt, dann besteht zwischen ihnen eine Differenz: »Ist demnach Gottes Verstand die einzige Ursache der Dinge und zwar (wie gesagt) ihrer Essenz wie ihrer Existenz, dann muß er sowohl seiner Essenz wie seiner Existenz nach 27 »[. . .] a nostro intellectu tam ratione essentiae quam ratione existentiae differt nec in ulla re praeterquam in nomine cum eo convernire potest [. . .]«

204

Wille und das Problem von Erkennen und Handeln

unausweichlich von ihnen verschieden sein [differre]. Denn was verursacht ist, unterscheidet sich von seiner Ursache genau in dem, was es von der Ursache hat.« (1p17s) So konzipiert Spinoza den menschlichen Willen nicht über eine Analogie, sondern über den Machtbegriff, der univok vereinzelt werden kann. Eben dafür bietet sich der conatus an. Im Scholium 3p9s ›definiert‹ Spinoza also: »Bezieht sich dieses Streben [conatus] allein auf den Geist, wird es Wille [voluntas] genannt, bezieht es sich aber auf den Geist und zugleich auf den Körper, Trieb [appetitus]. Er, der Trieb, ist somit nichts anderes als genau die Essenz des Menschen, aus dessen Natur das, was der eigenen Erhaltung dient, notwendig folgt.« Diese Bestimmung zeigt, dass auch der menschliche Willensbegriff grundsätzlich ontologisch und nicht anthropologisch gedacht ist. Das anthropologische Zugeständnis sind hier nur die dem Menschen bekannten Attribute cogitatio und extensio, in die der nicht-attributspezifische conatus aufgefächert wird. Über den conatus gelangt der Ausdruck auch in die ›praktischen Philosophie‹: Der Wille ist wie der conatus eine aktuale Essenz und drückt substanzielle Macht oder göttliche potentia aus. Er ist nicht ein Vermögen, das aufgrund von Erkenntnissen und im Hinblick auf Ziele Entscheidungen treffen und Handlungen initiieren würde, sondern eine Tendenz zur Persistenz des Geistes. Weil jeder modus cogitandi, und so auch der menschliche Wille, durch seine Stelle im Netz aller Modi bestimmt ist (vgl. die oben diskutierten Lehrsätze 1p26-29), kann es keine isolierten Einzelwillen geben; vielmehr ist ein einzelner Wille als geistige Essenz von Gott im Zusammenhang aller Essenzen gegeben und drückt sich in deren Wirkungen aus. Auf diese Weise erbt Spinozas Willensbegriff aber auch alle Paradoxien des conatus-Begriffs: das Paradox der Individuation, das Paradox von Ewigkeit und Zeitlichkeit und das Paradox von Kausalität und Finalität (vgl. Kap. 9), eben wegen Spinozas konsequenter Behandlung der Probleme des Dualismus von Körper und Geist, der Vermögen, der Kontingenz und des freien Willens. Betrachten wir dazu, wie sich für diesen Willensbegriff ein weiteres Paradox formulieren lässt, mit dem der Bogen zum Problem des Erkennens und Handelns geschlagen werden kann. 28 28 Interessanterweise ist bei Freud der Trieb ein Grenzbegriff zwischen dem Somatischen und dem Psychischen und damit auch zwischen dem Kausalen und dem Finalen. »Unter der Quelle des Triebes versteht man jenen somatischen Vorgang in einem Organ oder Körperteil, dessen Reiz im Seelenleben durch den Trieb repräsentiert ist. [. . .] Das Studium der Triebquellen gehört der Psychologie nicht mehr an; obwohl die Herkunft aus der somatischen Quelle das schlechtweg Entscheidende für den Trieb ist, wird er uns im Seelenleben doch nicht anders als durch seine Ziele bekannt.« Freud 1999, S. 215 f. Vgl. auch das Vokabular der Psychoanalyse: »Von der somatischen Seite her gesehen hat der Trieb tatsächlich seine Quelle in organischen Phänomenen, die die inneren

Das Paradox von Erkennen und Handeln

205

10.5 Das Paradox von Erkennen und Handeln

Geist und Körper, Wille und Verstand, Erkennen und Handeln sind bei Spinoza Begriffspaare, die auf gewisse Weise zusammenfallen, ähnlich wie schon bei Ursache und Wirkung in der causa sui, Substanz und Attributen, Substanz und Modi. Dieses Zusammenfallen ist eine Signatur des Monismus und der Immanenz im Gegensatz zum Dualismus und der Transzendenz. Denn ein Geist und ein Körper sind dieselbe Modifikation der Substanz, einmal unter dem Attribut des Denkens, einmal unter dem Attribut der Ausdehnung begriffen. Erkennen und Handeln sind dieselbe Tätigkeit, einmal unter dem Attribut des Denkens, einmal unter dem Attribut der Ausdehnung begriffen. Auch diese Parallelität leitet Spinoza von Gott her: »Hieraus folgt, daß Gottes Macht zu denken [cogitandi potentia] seiner wirklichen Macht zu handeln [agendi potentia] gleich ist.« (2p7c). Schließlich konstatiert er: »Der Wille und der Verstand sind ein und dasselbe.« (2p49c 29) Das Problem der Vermögen wird also dahingehend gelöst, dass gar keine getrennten Vermögen vorliegen, was sich auf modaler Ebene so ausbuchstabieren lässt, dass es nur einzelne Volitionen gibt und diese Volitionen mit Ideen zusammenfallen: »Im Geist gibt es keinen Akt des Wollens [volitio], anders formuliert keine Bejahung und Verneinung außer der, die die Idee in sich schließt, insofern sie eine Idee ist.« (2p49 30) Spinoza paradoxiert damit auch das gewöhnliche Verhältnis von Erkennen und Handeln, nach dem eine Handlung Erkenntnis voraussetzt und wiederum zu neuer Erkenntnis führt. Wenn beide zusammenfallen, kann es aber gar keine Aktionen geben, die darin bestünden, dass mit Handlungen auf eine veränderte Erkenntnislage reagiert wird. Spannungen [. . .] verursachen. Aber durch das Ziel, das er anstrebt, und die Objekte, an die er sich heftet, hat der Trieb ein vor allem psychisches ›Schicksal‹.« Laplanche und Pontalis 1973, S. 441 f. Laplanche und Pontalis umschreiben den Freud’schen Triebbegriff wie folgt: »Dynamischer, in einem Drang bestehender Prozeß (energetische Ladung, motorisches Moment), der den Organismus auf ein Ziel hinstreben läßt. Nach Freud ist die Quelle eines Triebes ein körperlicher Reiz (Spannungszustand); sein Ziel ist die Aufhebung des an der Triebquelle herrschenden Spannungszustandes«. Laplanche und Pontalis 1973, S. 525. Auch bei Hobbes scheint der auf dem conatus beruhende Triebbegriff ein Grenzbegriff zu sein: »Wenn diese Bestrebung [endeavour] auf etwas gerichtet ist, das sie verursacht, nennt man sie Trieb [appetite] oder Verlangen [desire]«. Hobbes betrachtet Triebe als innere Anfänge der willentlichen Bewegungen. Vgl. Hobbes 1996, Kap. 6, S. 41. Dieses Kapitel des Leviathan enthält ähnlich wie Spinozas Definition der Affekte am Ende von E3 eine Auflistung einer ganzen Reihe von »Redeformen«, mit denen »Gemütsbewegungen« ausgedrückt werden. 29 »Voluntas et intellectus unum et idem sunt.« 30 Im Rahmen der ›Theorie des Geistes‹ in E2 lautet dann die These des Ausschlusses des freien Willens: »Im Geist gibt es keinen unbedingten oder freien Willen, sondern der Geist wird von einer Ursache bestimmt, dieses oder jenes zu wollen, die ebenfalls von einer anderen bestimmt ist und diese wiederum von einer anderen und so weiter ins Unendliche.« (2p48)

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Wille und das Problem von Erkennen und Handeln

Die Lösung dieses Paradoxes beruht auf einem neuen Verständnis von Aktivität und Passivität. Im Scholium 3p2s greift Spinoza auch das Vorurteil auf, »daß der Körper inaktiv [iners] wäre, wenn der menschliche Geist nicht zum Planen und Erfinden [ad excogitandum] fähig wäre«. Nach diesem Vorurteil gibt es eine umgekehrte Proportionalität: Wenn der Geist aktiv ist, ist der Körper passiv, und wenn der Körper aktiv ist, ist der Geist passiv. So hat es auch Descartes in den Passionen der Seele gesehen. Er verortet die Aktivität grundsätzlich beim Geist bzw. der Seele und konzipiert die Wechselwirkung mit dem Körper über die Zirbeldrüse. 31 Die Passionen der Seele sind dann alle Wahrnehmungen, die vom Körper hervorgerufen werden: »was in ihr [der Seele] eine Passion ist, ist in ihm [dem Körper] eine Aktion.« 32 Dagegen fragt Spinoza, »ob die Erfahrung nicht auch lehrt, daß, wenn andererseits der Körper inaktiv ist, zugleich der Geist unfähig zum Denken ist« (3p2s). Er parallelisiert somit die Passivität und Aktivität von Geist und Körper. Diese Operation vollzieht sich in mehreren Schritten. Zuerst wird die hypothetische Verbindung von Körper und Geist in der Zirbeldrüse durchtrennt: »Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgendetwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt).« (3p2 33) Sodann werden Geist und Körper neu zusammengenäht, indem sich Aktivität und Passivität nicht mehr auf verschiedene Dinge (wie Körper und Geist), sondern auf ein und dasselbe Ding beziehen. Man kann nun vom Geist für sich betrachtet sagen, dass er aktiv oder passiv ist, und ebenso vom Körper. 34 Beide wachsen dann auch zusammen weiter: »Was auch immer die Wirkungsmacht unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee 31 »Die gesamte Aktion der Seele besteht darin, daß sie allein dadurch, daß sie etwas will, veranlaßt, daß die kleine Drüse, mit der sie eng verbunden ist, sich in der Weise bewegt, die erforderlich ist, um die Wirkung zu produzieren, die sich auf diesen Willen bezieht.« Descartes 2014, Art. 41, S. 28. 32 Ebd., Art. 2, S. 4. Genau genommen wären bei Descartes Wahrnehmungen von Willensakten ebenfalls Passionen; sie werden aber als Aktionen bezeichnet, weil sie mit dem Willen assoziiert sind. Vgl. ebd., Art. 19, S. 15. 33 Ähnlich auch Nietzsche: »›Wille‹ kann natürlich nur auf ›Wille‹ wirken – und nicht auf ›Stoffe‹ (nicht auf ›Nerven‹ zum Beispiel – )« (JGB 36), oder in dieser Hinsicht auch Leibniz: »Ich behaupte meinerseits, daß die Seelen weder an der Kraft noch an der Richtung der Körper überhaupt etwas ändern. Das eine wäre so unbegreiflich und so unvernünftig wie das andere, und man muß sich der prästabilierten Harmonie bedienen, um die Vereinigung von Seele und Körper zu erklären.« Leibniz 1996, S. 381. In der heutige Debatte wäre dies ein Statement gegen mental causation. 34 Dagegen bezogen sich Aristoteles’ Kategorien ποίειν und πάσχειν immer auf zwei verschiedene Dinge. Feuer ist aktiv, während Holz verbrannt wird und also passiv ist. Die latinisierten Termini sind agere und pati bzw. actio und passio. Ab der Spätscholastik findet sich neben passio zunehmend auch reactio, ein Terminus, der uns heute vor allem durch das dritte Newtonsche Gesetz geläufig ist: »corporum duorum actiones in se mutuo esse aequales & in partes contrarias dirigi«. Eine umfangreiche Geschichte des Begriffspaares aktiv-passiv findet sich bei Starobinski 1999.

Das Paradox von Erkennen und Handeln

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vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt unseres Geistes Macht des Denkens.« (3p11) So löst also die beschriebene Umdeutung des gewöhnlichen Verständnisses von Aktivität und Passivität das Paradox. Die ›vertikale‹ Unterscheidung von Erkennen und Handeln wird nun zu einer ›horizontalen‹ Unterscheidung unter Graden des Erkennens bzw. unter Graden des Handelns. Dabei bleiben Erkennen und Handeln stets parallel. Für Spinoza ist die Frage also nicht mehr, inwiefern das Erkennen das Handeln besser anleiten oder das Handeln dem Erkennen besser gehorchen kann, sondern wieviel der Geist erkennt und wie aktiv er damit sein kann bzw. wie viel der Körper handelt und wie aktiv er seinerseits damit sein kann. 35

Résumé

Gemäß dem methodischen Dreischritt wurden auch in diesem Kapitel zunächst verschiedene Probleme ausgemacht: der Dualismus von Körper und Geist (und die damit einhergehende Akrasie und das Vorurteil der Beherrschung des Körpers durch den Geist), das Problem der Auffassung von Wille und Verstand als Vermögen sowie das Problem der Kontingenz und des freien Willens. Der Parallelismus der Attribute kann als Vorbedingung zu einer Antwort Spinozas gerade auf diese Probleme verstanden werden und übersetzt sich hier in die Parallelisierung von Geist und Körper, Wille und Verstand, Erkennen und Handeln. Anders als in weiten Teilen der Tradition konzipiert Spinoza den menschlichen Willen dann nicht in Analogie zum göttlichen Willen, sondern über den Machtbegriff, der durch den conatus univok vereinzelt werden kann. Der menschliche Wille ist die geistige Seite des conatus, damit notwendig unfrei, aber Ausdruck von Macht im Zusammenspiel mit anderen Willen. Das paradoxe Zusammenfallen von Erkennen und Handeln wurde dadurch gelöst, dass die Begriffe Aktivität und Passivität nun beide dem Geist und dem Körper zukommen. Die vertikale Achse, wonach der Geist über den Körper gebietet und das Erkennen das Handeln anleitet, wird in die Horizontale ›gekippt‹, wo beide Seiten jeweils denselben Vorgang ausdrücken. Die Konsequenzen für die Handlungstheorie werden im folgenden Kapitel untersucht.

Darüber hinaus gilt dies auch für den traditionellen Gegensatz von Vernunft und Leidenschaften: »Mit den Begriffen der Aktivität und Passivität löst sich Spinoza aus der rationalistischen Tradition statischer Definitionen vernunftwidriger Leidenschaften.« Rölli 2018, S. 116. 35

11 Handlung und das Problem der Teleologie

A

uch beim Handlungsbegriff Spinozas kommen metaphysische Themen wie Kausalität, epistemologische wie Erkenntnis und ethische wie Freiheit zur Verschmelzung. Das ist an sich nicht untypisch, wie auch heutige Handlungstheorien zeigen, von denen wir hier zwei Beispiele zum Vergleich heranziehen werden. Im 20. Jahrhundert hat sich insbesondere der Pragmatismus um eine Engführung von Erkenntnis und Handlung bemüht. 1 Im Unterschied dazu ist Spinozas Auffassung aber keineswegs ›alltäglich‹, ›gewöhnlich‹ oder ›common sensical‹, sofern nämlich nicht Ziele und Zwecke eine Handlung bestimmen oder überhaupt charakterisieren, sondern allein Ursachen. 2 Als erstes Beispiel einer zeitgenössischen Handlungstheorie sei diejenige von G. E. M. Anscombe erwähnt. Für Anscombe ist das wesentliche Kennzeichen einer Handlung sowohl eine Intentionalität als auch eine intrinsische Aktivität der handelnden Person, die dafür Gründe angeben kann. Eben dadurch würden sich Handlungen von ›Nicht-Handlungen‹ wie kausal-mechanischen Verursachungen unterscheiden. 3 Als zweites Beispiel sei Donald Davidson erwähnt, nach dessen Auffassung Handlungen und bloße Kausalität insofern vereinbar sind, als beides Ereignisse sind, die aber in gesonderten Kausalketten vorkommen. Genauer sind Handlungen Ereignisse, die von der Vernunft auf bestimmte Weise verursacht sind. Nach diesen exemplarischen Positionen ist die Unterscheidung von Handlungen und Nicht-Handlungen einmal eine intrinsische (Anscombe), einmal eine extrinsische (Davidson) und einmal verbunden mit Finalität (Anscombe), einmal mit Kausalität (Davidson). 4 Die verschiedenen Kombinationen dienen hier als Kontrastfolien, mit denen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu Spinoza sichtbar werden, wie die folgenden Ausführungen weiter zeigen sollen. Die Aufgabe dieses Kapitels ist also, Spinozas Handlungsbegriff in seinen vielfältigen Facetten zu erörtern. Wenn nicht primär Zwecke und Ziele im FoVgl. Hampe 2006b. Vgl. dazu auch die Beobachtung von Lin: »Folk-psychological explanations of human actions are teleological because they explain action in terms of, among other things, goals or desires.« Lin 2006, S. 327. 3 Anscombe 2000. 4 Davidson 2001. Anscombe und Davidson werden exemplarisch auch von Della Rocca: Steps toward Elaticism in Spinoza’s Theory of Action, forthcoming, genannt. 1

2

Handlung und das Problem der Teleologie

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kus sind, dann muss die dahinterstehende Kritik an teleologischen Denkweisen genauer untersucht werden. Diese Kritik gilt es hier auf problemgeschichtliche Weise zu entfalten und zu differenzieren. Auch der Handlungsbegriff wird sich dabei als paradox herausstellen. Seine Grundlage ist eine Aktivität, wie sie schon im Zusammenhang mit dem conatus in Kap. 9 und dem Willen in Kap. 10 eingeführt wurde. So definiert Spinoza: »Ich sage, wir sind aktiv [agere], wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d. h. [. . .] wenn aus unserer Natur etwas in uns oder außer uns folgt, das durch sie allein klar und deutlich eingesehen werden kann [intelligi]. Dagegen sage ich, erleiden wir etwas [pati], wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur eine partiale Ursache sind.« (3def2) Diese Bestimmung findet sich, anders als beim conatus, der in einem Lehrsatz, und anders als beim Willen, der in einem Scholium eingeführt wurde, nun in einer ›offiziellen‹ Definition. Sie enthält die Elemente ›adäquate Ursache‹ (Kausalität), ›klare und deutliche Einsicht‹ (Erkenntnis) und ›eigene Natur‹ (Freiheit) aus den eingangs erwähnten unterschiedlichen Gebieten, die hier zusammenfließen. Die Übersetzung Bartuschats von ›agere‹ mit ›aktiv sein‹ ist N. B. treffend, weil sie gewisse Vorurteile, die zumindest im deutschen Sprachraum mit ›handeln‹ einhergehen, vermeidet.

11.1 Formen von Teleologie

An verschiedenen Stellen dieses Buches kam schon Spinozas Ablehnung des teleologischen Denkens zur Sprache. Um ein differenzierteres Bild davon zu zeichnen, sind zunächst verschiedene Formen von Teleologie zu unterscheiden, die sich in der Ethica nachweisen lassen. Eine erste Form steht im Zusammenhang mit Spinozas Kritik an religiösen Heilsvorstellungen, die von einem Verfallsnarrativ ausgehen und den Sinn der Geschichte in der Wiedererlangung eines Heilszustands sehen. 5 Diese Form der Teleologie wird dann zu einem Problem, wenn sie zu Machtmissbräuchen eingesetzt wird (vgl. Kap. 3). 6 Die In der Torah steht siebenmal ‫טוב‬Ê‫י‬ ֹ ‫[ ִכּ‬ki tov], um das Gelingen der ursprünglichen Schöpfung zu bekräftigen. 6 Nietzsche hat dies dann so beschrieben: »Alle Moralprediger, wie auch alle Theologen, haben eine gemeinsame Unart: alle suchen den Menschen aufzureden, sie befänden sich sehr schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth. Und weil die Menschen insgesammt jenen Lehren ihr Ohr zu eifrig und ganze Jahrhunderte lang hingehalten haben, ist zuletzt wirklich Etwas von jenem Aberglauben, dass es ihnen sehr schlecht gehe, auf sie übergegangen: sodass sie jetzt gar zu gerne einmal bereit sind, zu seufzen und Nichts mehr am Leben zu finden und miteinander betrübte Mienen zu machen, wie als ob es doch gar schwer auszuhalten sei. In Wahrheit sind sie unbändig ihres Lebens sicher und in dasselbe verliebt und voller unsäglicher Listen und Feinheiten, um das 5

Formen von Teleologie

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zweite Form ist eine metaphysische Teleologie nach dem Vorbild einer naturphilosophischen Entelechie, bei der ein Stoff (ὕλη) durch Zusammenführung mit einer Form (ἐῖδος, µορφή) von der Möglichkeit (δύναµις) in die Wirklichkeit (ἐνέργεια) überführt wird. Diese Wirklichkeit ist das Ziel des Prozesses. Eine dritte Form von Teleologie kann bei Handlungen ausgemacht werden, sofern man diese ebenfalls als zielgerichtet auffasst. Paradigmatisch dafür ist wiederum Aristoteles, der in seiner Nikomachischen Ethik die Glückseligkeit (εὐδαιµονία) als höchstes durch Handeln erreichbares und daher anzustrebendes Gut (τἀγαθόν) betrachtet. Dieses Gute treffe man besser, wenn man wie Bogenschützen das Ziel (τέλος) vor Augen habe. In jeder Disziplin sei es ein anderes: »Ziel der Medizin ist die Gesundheit, der Schiffbaukunst das Schiff, der Strategik der Sieg, der Ökonomik der Reichtum.« 7 Diese Form von Teleologie findet man auch in den eingangs vorgestellten Handlungstheorien. Im Appendix des ersten Teils der Ethica (1app), der als locus classicus für eine philosophische Teleologiekritik gilt, nimmt Spinoza gleich alle drei Formen ins Visier: religiöse Teleologie, Naturteleologie und Handlungsteleologie. Sie alle beruhten auf einer anthropozentrischen Deutung der Lebensgrundlagen und der Zusammenhänge in der Natur. Zur Aufklärung jener Vorurteile stellt Spinoza fest, dass erstens »Menschen alles um eines Zweckes willen tun, nämlich um ihres Vorteils willen, auf den sie aus sind«. Sie halten sich in dieser Tätigkeit für frei, weil sie »in Unkenntnis der Ursachen von Dingen zur Welt kommen« und sich so nur ihres Triebs, nicht aber dessen Ursachen bewusst sind. Eine solche Zweckorientierung ist ein Beispiel für Handlungsteleologie, die wegen der damit einhergehenden Unkenntnis aber stets einer Illusion unterliegt. In Wahrheit ist es nicht der Zweck, sondern der Trieb, der die Handlung anleitet. Spinoza fährt zweitens fort mit der Beobachtung: »Weil sie [die Menschen] ferner in sich und außer sich eine Menge Mittel entdecken, die zur Erreichung ihres Vorteils nicht wenig beitragen, [. . .] ist es gekommen, daß sie alle natürlichen Dinge als Mittel zum eigenen Nutzen ansehen.« Hier erscheint die Natur als Reservoir zur Erfüllung eigener Bedürfnisse und die Vorgänge in ihr werden unter einem Zweck-Mittel-Schema vorgestellt, wie es bei der Naturteleologie der Fall ist. Drittens bemerken die Menschen, »daß sie diese Mittel nur vorgefunden, nicht aber sich selbst verschafft haben«, und schließen deswegen auf einen äußeren Urheber, nämlich auf Gott. So wird in 1app (in Unangenehme zu brechen und dem Schmerze und Unglücke seinen Dorn auszuziehen. Es will mir scheinen, dass vom Schmerze und Unglücke immer übertrieben geredet werde, wie als ob es eine Sache der guten Lebensart sei, hier zu übertreiben.« (FW 326) 7 Aristoteles 2001, 1094a, S. 9.

Handlung und das Problem der Teleologie

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umgekehrter Reihenfolge) auf kürzestem Raum ein Bogen von menschlicher zu natürlicher zu göttlicher Teleologie geschlagen. 8 Spinozas Kritik betrifft nicht alle drei Formen gleich stark. Nach Schmid richtet sie sich »im Anhang zum ersten Teil der Ethik [. . .] lediglich gegen ein teleologisches Verständnis der Tätigkeiten Gottes und nicht gegen die teleologische Konzeption der Tätigkeiten endlicher Dinge wie Menschen«. 9 Für Garret ist Spinoza immer noch einer allgemeinen Naturteleologie verpflichtet: »Although the Ethics does not use the terms ›end‹ and ›final cause‹ in application to subhuman nature, we have seen that Spinoza is committed by the conatus doctrine of E 3p6 to allow a pervasive teleology in nature.« 10 Nach Lin schließlich gibt es sowohl eine Handlungsteleologie als auch eine »unthoughtful teleology« (womit eine Naturteleologie gemeint ist). 11 Schauen wir nun, wie es sich mit diesen Gewichtungen in der Ethica verhält.

11.2 Funktionen des Naturalismus

Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Naturteleologie und Handlungsteleologie stellt sich die Frage, inwiefern hier nicht nur von zwei Formen, sondern auch von zwei getrennten Gegenstandsbereichen die Rede sein kann. Den stärksten Kontrast zu Spinoza bildet dabei Kant, der Natur- und Freiheitsbegriffe strikt geschieden hat. Im Reich der Freiheit oder dem Übersinnlichen ist die Vernunft gesetzgebend und bestimmt den Willen, während im Reich der Natur oder des Sinnlichen der Verstand begriffsbildend ist und die Vernunft nur regulative Funktion hat: »so muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität [. . .] gedacht werden.« 12 Die kantische Unterscheidung betrifft sowohl die Begriffe als auch deren konstitutive Verfahren. Dagegen versucht Das hier vorgeführte Narrativ entspricht in moderner Terminologie einer Genealogie. Darauf hat auch Schmid hingewiesen: »Spinozas erster Schritt besteht also in der Genealogie dieses menschlichen Vorurteils. Er will zeigen, warum wir zu der Ansicht neigen, alles geschehe um eines Zwecks willen. Der zweite Schritt besteht in der Widerlegung dieses Vorurteils, woraus Spinoza in einem dritten Schritt auf Folgen dieses Vorurteils hinweisen möchte.« Schmid 2011, S. 232. 9 Schmid 2011, S. 295. 10 Garrett 1999, S. 330. 11 Lin 2006, S. 318. Bennett behauptet: »Spinoza’s basic objection to teleology can be stated [. . .] as an objection to explaining an item with help from the concept of a possible effect of that item.« Bennett 1983, S. 15. Auch Descartes stellt N. B. die Teleologie nicht grundsätzlich in Frage, sondern nur ihre Anwendbarkeit und Nützlichkeit in der Physik. Für die Physik fordert er: »Nicht die Endursachen der geschaffenen Dinge, sondern die Wirkursachen müssen untersucht werden.« Descartes 2005, I/28, S. 37. 12 Kant 2014, § 5, S. 138. 8

Funktionen des Naturalismus

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Spinoza eine Kontinuität und Homogenität sowohl zwischen den Bereichen als auch den Begriffen herzustellen. Er erläutert dies im Vorwort des dritten Teils der Ethica so: »Die meisten, die über die Affekte und über die Lebensweise der Menschen geschrieben haben, behandeln, so sieht es aus, nicht natürliche Dinge, die den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen, sondern Dinge, die außerhalb der Natur liegen; eher scheinen sie den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staat zu verstehen. Denn sie glauben, daß der Mensch die Ordnung der Natur mehr stört als befolgt und daß er über seine Handlungen eine unbedingte Macht hat und von nichts anderem als von sich selbst bestimmt wird. Und die Ursache menschlicher Ohnmacht und Unbeständigkeit schreiben sie nicht der allgemeinen Macht der Natur zu, sondern ich weiß nicht welchem Fehler der menschlichen Natur« (3praef). Das Vorwort schließt mit den den Zeilen: »Die Natur und die Kräfte der Affekte [E3 und E4] und die Macht des Geistes über sie [E5] werde ich deshalb nach derselben Methode behandeln, nach der ich in den vorigen Teilen von Gott [E1] und dem Geist [E2] gehandelt habe, und ich werde menschliche Handlungen und Triebe geradeso betrachten, als ginge es um Linien, Flächen oder Körper.« 13 Die Wendung ›als ob‹ bezieht sich auf die Übernahme der euklidischen Methode zur Durchführung dieses Programms. Dieses Programm wird in der Forschung und Rezeption meist als ›Naturalismus‹ bezeichnet. Eine ›naturalistische Ethik‹ aber gilt manchen als Oxymoron und steht fast naturgemäß unter Beschuss, z. B. aus dem kantischen Lager. Ein gängiger Vorwurf der Moralphilosophie lautet, dass ein Naturalismus auf einen physikalischen oder materialistischen Reduktionismus hinauslaufe. Ist dieser Vorwurf bei Spinoza haltbar? Della Rocca hat den Terminus zunächst wie folgt umschrieben: » ›naturalism‹ can mean many different things, but by ›Spinoza's naturalism‹ I mean the thesis that everything in the world plays by the same rules.« 14 Er motiviert seine Lesart mit dem ›principle of sufficient reason‹ (PSR). Spinozas »commitment to the PSR generates his commitment to naturalism«. 15 Denn wenn es Bereiche mit unterschiedlichen Regeln oder Gesetzen gäbe, wäre eine durchgängige Erklärbarkeit nicht mehr gewährleistet. Nur in einem einheitlichen Bereich kann ein solcher Anspruch überhaupt erhoben und aufrechterhalten werden. 16 Andernfalls bestehe zudem die Möglichkeit von ›brute facts‹, d. h. von Ereignissen, die außerhalb eines bestimmten Erklärungszusammenhangs stehen, oder von ›deviant causal chains‹, d. h. Ereignisverläufen, in denen eine Handlung zwar das intendierte Resultat her»appetitus considerabo perinde, ac si Quaestio de lineis, planis, aut de corporibus esset.« Della Rocca 2008, S. 5. 15 Ebd., S. 30. 16 Durch diesen Anspruch unterscheide sich Spinoza auch von Descartes, dessen System, trotz seines Rationalismus voll von Bifurkationen und Dualismen sei. Vgl. ebd., S. 23. 13

14

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vorbringt, aber nicht auf dem dafür vorgesehenen Weg. Mit einem derartigen Naturalismus könnte man N. B. gegen Davidson argumentieren, dass Handlungen und Ereignisse nicht in unabhängigen Kausalketten vorkommen können. Bei Spinoza ist die Sachlage allerdings nochmals anders, weil diese Kausalketten in Form der Attribute cogitatio und extensio ohnehin parallel aufeinander bezogen sind. Insofern findet auch kein physikalischer oder materialistischer Reduktionismus statt. Erklärbarkeit ist nur eine mögliche Funktion des Naturalismus. Vor dem problemgeschichtlichen Hintergrund, dass die Ethica auch eine Religions- und Moralkritik ist, bietet sich noch eine weitere Funktion an. Auf sie weist ein Brief von Oldenburg hin (Ep. 74), wo dieser benennt, »was eigentlich den Lesern in erster Linie anstößig gewesen ist. Es scheint, daß Sie an einer Schicksalsnotwendigkeit aller Dinge und Handlungen festhalten; nun meint man aber, sobald das zugegeben und angenommen wäre, würde der Nerv aller Gesetze, aller Tugend und Religion durchschnitten und alle Belohnungen und Strafen wären gegenstandslos. Alles was zwingt oder Notwendigkeit in sich trägt, glaubt man, entschuldige und darum wäre nach jener Meinung niemand vor Gottes Angesicht unentschuldbar.« In theologischer und moralischer Hinsicht »begreift man eben nicht, wo da noch Raum für Schuld und Strafe wäre«. Dass diese Bedenken Oldenburgs nicht gegenstandslos waren, zeigt das Schicksal von Christian Wolff, der vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. von seinem Lehrstuhl in Halle verbannt wurde, weil der König befürchtete, dass Wolffs angeblich deterministische Lehre die Bestrafung von Deserteuren verunmögliche. 17 Es ist also die Notwendigkeit, die hier entscheidend ist, die sich bei Spinoza nicht nur auf die Natur im kantischen Sinne, sondern auf die Natur im Ganzen erstreckt, d. h. einschließlich der menschlichen Handlungen, wie das vorangehenden Kap. 10 zum Nezessitarismus gezeigt hat. Wegen dieser Umfassendheit kann es keine andersgesetzlichen Bereiche geben, nun aber nicht, um eine allgemeine Erklärbarkeit zu sichern, sondern um spezielle Gesetze der Moral auszuschließen. Weil nun die notwendige Ordnung in diesem einheitlichen natürlichen Bereich nach Spinoza eine kausale und nicht eine finale ist, wird mit dem Naturalismus auch eine Front gegen die Teleologie errichtet. Neben der Handlungs- und Naturteleologie, von denen wir in diesem Abschnitt ausgegangen »[T]he emperor, Frederick William I, issued an order removing Wolff from his teaching post at Halle [. . .] and ordering him to leave Prussia within forty-eight hours after receipt of the decree on pain of death. Apparently the emperor was persuaded that Wolff was teaching a determinism such that it would not be justified to punish a soldier who deserted from the army.« Einleitung, S. 11, zu Wolff 1983. So floh Wolff am 13. November 1723 von Halle nach Marburg, wo ihm eine Ersatzprofessur angeboten wurde. 17

Funktionen des Naturalismus

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sind, muss das auch für die Religionsteleologie gelten, die sich ebenfalls bzw. in noch stärkerem Maße auf andersgesetzliche Bereiche beruft, nämlich auf ein künftiges und transzendentes Reich Gottes, in dem Erlösung und Heil versprochen wird. Spinoza hatte allen Grund, dagegen misstrauisch zu sein, da er statt Erlösungen im Jenseits stets nur Bestrafungen im Diesseits vorfand. Die Konsequenzen eines solchen Naturalismus hat dann Nietzsche in seiner Morgenröthe treffend formuliert: »In dem Maasse, in welchem der Sinn der Causalität zunimmt, nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab: denn jedesmal, wenn man die nothwendigen Wirkungen begriffen hat und gesondert von allen Zufällen, allem gelegentlichen Nachher (post hoc) zu denken versteht, hat man eine Unzahl phantastischer Causalitäten, an welche als Grundlagen von Sitten bisher geglaubt wurde, zerstört« (M 10, KSA 3.24). Auch was Spinoza unter Ethik versteht, bedarf keines Rekurses auf eine transzendente Instanz, die in ferner Zukunft über Individuen richten würde, sondern wächst aus der Festigung innerer Einsicht in die realen Zusammenhänge und erzeugt dabei eine Resonanz in Form wachsender eigener Handlungsmacht. Deshalb ist ihm an der von Oldenburg geschilderten Durchtrennung des Nervs, der die sittliche Weltordnung alimentiert, gelegen, auch wenn dies schmerzhaft ist und heute noch Phantomschmerzen bereitet. 18 Akzeptiert man diesen Naturalismus, erhalten Begriffe wie Schuld und Strafe, will man sie beibehalten, eine andere Bedeutung: »Punishment and reward, like all other actions, can be justified only by virtue of the way in which these actions would enhance the power of the agents who perform them. The degree of freedom of the punished or rewarded agent is not relevant to the justification of the punishment or reward.« 19 Ebenso ziehen diese Überlegungen eine Umdeutung von Leid nach sich. Leid ist nicht mehr als Strafe für Verfehlungen interpretierbar; und damit werden Individuen frei, die ursächlichen Affektzusammenhänge verstehen zu lernen, statt sie moralisierend zu bewerten, zu beurteilen und zu verurteilen. 20 Wie steht es nach der Religionsteleologie nun mit der Naturteleologie und der Handlungsteleologie? Zur Naturteleologie führt Spinoza in 1app aus, »daß diese Lehre vom Zweck [de fine doctrinam] die Natur gänzlich auf den Kopf Am Ende seiner Ethica wird Spinoza konstatieren, dass dies in jedem Fall der schwierigere und anstrengendere Weg ist: »Wenn auch der dahin führende Weg, den ich aufgezeigt habe, sehr schwer zu sein scheint, gefunden werden kann er doch. Und natürlich muss das, was so selten gefunden wird, schwer sein. Wenn das Heil einfach daläge und ohne große Anstrengung gefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich, daß fast jeder es fahren läßt? Aber alles, was vortrefflich ist, ist ebenso schwierig wie selten.« (5p42s) 19 Della Rocca 2008, S. 192. 20 »Humanae deinde impotentiae et inconstantiae [. . .] naturae humanae vitio tribuunt, quam propterea flent, rident, contemnunt vel, quod plerumque fit, detestantur.« (3praef) 18

Handlung und das Problem der Teleologie

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stellt. Denn was in Wirklichkeit eine Ursache [revera causa] ist, sieht sie als Wirkung an und umgekehrt [. . .]. Sodann macht sie das, was der Natur nach vorangeht, zu etwas später Kommendem.« In 4praef verweist er auf den »Anhang zum 1. Teil«, wo er gezeigt habe, »daß die Natur nicht um eines Zweckes willen handelt«, und führt das in Kap. 9 erwähnte Beispiel des Baus eines Hauses an. Bemerkenswerterweise bedient sich auch Kant in seiner Kritik der Urteilskraft dieses Beispiels, behauptet aber im Gegenteil, dass die Form eines Hauses nicht allein durch die reale Ursache (nexus effectivus) erkennbar sei, nämlich den Vorgang des Bauens, sondern nur indem auch eine ideale Ursache (nexus finalis) hinzugedacht werde, nämlich der Verwendungszweck des Hauses. 21 Für Spinoza ist jedoch die finale oder teleologische Perspektive nur eine imaginative Verkehrung der realen Verhältnisse. Dies gilt dann auch für die Handlungsteleologie und deshalb bemüht er sich, unsere diesbezügliche »teleologische Rede in Begriffen eines natürlichen Strebens nach Selbsterhaltung zu rekonstruieren.« 22 In 4def7 legt er fest, was ›Zweck‹ bedeutet: »Unter dem Zweck [Per finem], um dessentwillen wir etwas tun, verstehe ich Trieb.« 23 Insgesamt scheinen für Spinoza die Naturteleologie und die Handlungsteleologie ein geringeres Problem darzustellen als die religiöse Teleologie. Bei der Handlungsteleologie muss es sinnvollerweise auch gewisse Spielräume geben, denn bei dem, was wir eine Handlung nennen, scheint nur schwer abweisbar, Kant 2009, § 64, S. 274–277. Der Paragraph trägt den Titel »Von dem eigentümlichen Charakter der Dinge als Naturzwecke«. Einen Naturzweck nennt Kant ein Ding, das von sich selbst Ursache und Wirkung ist, womit er die Plastizität von Lebewesen erklärt, § 65. 22 Schmid 2011, S. 231. 23 In diesem Zusammenhang ist der schon erwähnte Aufsatz von Adolf Trendelenburg Über Spinoza’s Grundgedanke und dessen Erfolg erhellend. Trendelenburg teilt darin die philosophischen Systeme in teleologische und mechanische ein, je nachdem ob dem »bewußten Gedanken« oder »blinden Kräften« ein Vorrang zukommt. Bei Spinoza hielten sich beide exakt die Waage, was in der Übereinstimmung der Attribute, also des Körperlichen und des Geistigen, als dem »Grundgedanken« des Systems angelegt sei. Trendelenburg 1850, S. 3 f. Davon leitet Trendelenburg dann die Unmöglichkeit von Zwecken ab: »Indem das Denken nicht auf die Ausdehnung wirkt, kann es den Begriff nicht geben, der voraussetzt, daß ein Gedanke, eine Idee, die Gestalten der Ausdehnung in ihrem Wesen bestimme. Der Zweck ist daher nach dieser Ansicht nur eine menschliche Erfindung.« Ebd., S. 6. Denn Zweckmäßigkeit würde einen Vorrang des Geistigen über den Körper als dessen Organisationsprinzip bedeuten. »Spinoza umgeht in Übereinstimmung mit seinem Grundgedanken und mit seiner ausdrücklichen Lehre auf jede Weise den Zweck. Der Leib z. B. wird nicht als ein Organismus bestimmt, als ein Körper, der für die Zwecke des Lebens Werkzeuge hätte, sondern nur als ein vielfach zusammengesetzter, der mit anderen Körpern eine vielseitige Gemeinschaft hat«. Ebd., S. 38. Anders gewendet wird Nietzsche ebenfalls Zweckursachen kritisieren, nun als Symptome eines zugrundeliegenden Geschehens: »warum könnte nicht ›ein Zweck‹ eine Begleiterscheinung sein, in der Reihe von Veränderungen wirkender Kräfte, welche die zweckmäßige Handlung hervorrufen – ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientirung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen, nicht als dessen Ursache?« (Nachlass 1885– 1887, 7[1], KSA 12.248.) 21

Die Wirksamkeit von Finalursachen

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dass Ziele und Zwecke darin eingehen und für sie ausschlaggebend sind – und sei es nur als Illusion. Das wirft erstens die Frage auf, ob und wenn ja, wie, Spinoza einer solchen Finalität Rechnung tragen kann und zweitens, was sein Handlungbegriff dann genau beinhaltet. Diese Fragen werden in den nächsten beiden Abschnitten diskutiert.

11.3 Die Wirksamkeit von Finalursachen

Aufschlussreich dazu ist eine Debatte pro und contra Finalursachen bei Spinoza. Mit ihr lässt sich ein Hintergrund zeichnen, vor dem der Handlungsbegriff von 3def2 als Reaktion auf ein Problem der Teleologie verstanden werden kann. Steigen wir in diese Debatte ein mit einem Beispiel von Bennett: Wenn jemand die Hand hebt, um einen Gegenstand abzuwehren, von dem er getroffen zu werden droht, scheint eine Folge (die mögliche Verletzung) Ursache für eine Handlung (das Handheben) zu sein. Bei diesem Zusammenhang gäbe es eine Finalursache bzw. ein teleologisches Moment. Dagegen könnte man einwenden, dass es nicht das Auftreffen des Gegenstands an sich sei, sondern die Idee des möglichen Auftreffens, die hier ursächlich ist. Diese Idee würde dem Heben des Arms vorausgehen. In Wahrheit wäre sie causa efficiens, aber man könnte die Aktion dennoch final beschreiben. »Since the thought that represents this future event precedes the action, it can act as an efficient cause. In this way, teleological explanations of human actions are compatible with universal efficient-cause determinism. We need not postulate any obscure pull on the part of the future.« 24 Diese Lösung ist jedoch in Spinozas Konzeption ausgeschlossen, denn wenn ein Gedanke eine Bewegung auslösen sollte, müsste eine Interaktion zwischen den Attributen cogitatio und extensio stattfinden. Betrachten wir deshalb den Vorgang nach Attributen gesondert: »(1) physical correlate of thought of deflection → Raise« und »(2) thought of deflection → mental correlate of Raise.« 25 Dann würde tatsächlich eine Idee nur eine andere Idee verursachen, nicht aber eine körperliche Bewegung. Dazu wiederum müßte jedoch die Idee »thought of deflection« eine kausale Wirksamkeit in sich tragen, aufgrund derer sie die Idee »mental correlate of Raise« herbeizuführen vermag. Diese Wirksamkeit müsste ihr Kraft ihres Inhalts, also der vorgestellten Verletzungsfolge zukommen. Diesen Ausweg hat nun Bennett bestritten. Ihm zufolge können Ideen nicht durch ihre Inhalte wirksam sein, ebenso wenig wie es bei einem Gesang nicht 24 25

Lin 2006, S. 327, der hier Bennetts Artikel, Bennett 1983, kommentiert. Bennett 1983, S. 145.

Handlung und das Problem der Teleologie

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die Bedeutung des klingenden Wortes sei, die ein Glas zum bersten bringe, sondern die Frequenz des Tons, also eine physische Eigenschaft oder, spinozanisch gesprochen, eine Eigenschaft im Attribut extensio. 26 Auch für Curley kann ein »Willensakt nicht kraft seines repräsentationalen Gehalts, d. h. dem Handlungszweck dieser Person, kausal wirksam [sein], sondern nur kraft seines ausgedehnten Korrelats, das keinen repräsentationalen Gehalt aufweist«. 27 Eine kausale Wirksamkeit könne, so Bennett, nur an den intrinsischen Eigenschaften einer Idee liegen. Weil die Idee eines aufprallenden Gegenstandes aber ein äußeres Ding repräsentiert und damit eine extrinsische Eigenschaft, erfülle sie die Voraussetzungen dazu nicht. Ein »thought of deflection« führe demnach nicht zu einem »mental correlate of Raise« und damit sei eine Zweckverursachung ausgeschlossen. Spinoza »would say that those deflection-involving features [of the cause] are entirely causally impotent: They do not contribute to any of the causal powers of the items that have them.« 28 Nach Bennett müssen also Finalursachen als Erklärungen abgelehnt werden. Demgegenüber hat Martin Lin, Bennetts Untersuchung aufgreifend, behauptet, dass sich extrinsische Bestimmung und kausale Wirksamkeit nicht prinzipiell ausschließen müssen. Er zeigt dies am Beispiel passiver Affekte. Diese sind deshalb passiv, weil sie durch äußerliche Affektionen hervorgerufen werden. In Spinozas Konzeption entsprechen ihnen inadäquate Ideen, die nach 2p16 sowohl Anteile des affizierten als auch des affizierenden Körpers enthalten und damit extrinsisch mitbestimmt sind. Im obigen Beispiel repräsentiert die Idee des auftreffenden Gegenstandes zugleich den Gegenstand und die Folgen am eigenen Körper. Qua eigenem bzw. intrinsischem Anteil – damit würde auch Bennett übereinstimmen – ist eine kausale Wirksamkeit möglich. Weil nun, so Lin, diese Anteile gar nicht trennbar sind (eben deshalb ist es eine inadäquate Idee), muss aber auch dem passiven Affekt eine Wirksamkeit zugesprochen werden: »the causal powers of passive affects are at least partially individuated by extrinsic properties of those affects.« 29 Letztlich hängt eine mögliche Wirksamkeit von einer ganzen kausalen Geschichte ab: »if two affects result from being affected by two different external causes with different natures, then the causal powers of the affects must differ since they express Bennett bezieht sich dabei auf ein Beispiel von Fred Dretske. So in der Rekonstruktion von Schmid 2011, S. 242. Schmid diskutiert auch weitere Autoren wie Garrett und Manning, die im Gegenteil »dafür argumentieren, dass der repräsentationale Gehalt von Ideen eine intrinsische Eigenschaft sei.« Ebd., S. 244. 28 Bennett 1983, S. 146. In der Rekonstruktion von Lin: »since representational content depends on extrinsic features (causal history), the causal powers of an idea do not depend on their representational content.« Lin 2006, S. 329. 29 Lin 2006, S. 337. 26 27

Die Struktur des Handlungsbegriffs

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the natures of their different external causes.« 30 Damit schließt Lin: »I have argued that pace Bennett, neither Spinoza's denial of divine providence nor his account of mental content and causation precludes teleological explanations of human action.« 31 Vielmehr gäbe es auch bei Spinoza einen Raum für legitime teleologische Erklärungen und nicht nur Beschreibungen: »Spinoza can allow that mental content is causally efficacious and hence teleological explanations of human actions are legitimate.« 32

11.4 Die Struktur des Handlungsbegriffs

Nachdem es also auch in der Ethica Spielräume für eine Teleologie, zumindest in Bezug auf menschliche Handlungen, zu geben scheint, Spinoza also insofern finalen Aspekten Rechnung tragen kann, ist nun die zweite der oben aufgeworfenen Fragen – diejenige nach dem Handlungsbegriff selbst – zu klären. Ein wichtiges Element dabei kam noch nicht zur Sprache, das gerade mit dem Problem der Inadäquatheit zu tun hat. Es wird sich herausstellen, dass ›wirkliche Handlungen‹ für Spinoza auf adäquater, das heißt u. a. wahrer Erkenntnis beruhen müssen und auf diese Weise Teleologie ausgeschlossen ist. Was adäquate Erkenntnisse bzw. adäquate Ideen sind, definiert Spinoza in 2def4: »Unter adäquater Idee verstehe ich eine Idee, die, insofern sie in sich selbst ohne Beziehung auf einen Gegenstand betrachtet wird, alle Eigenschaften oder inneren Merkmale einer wahren Idee hat.« 33 Damit lehnt er insbesondere eine Korrespondenztheorie der Wahrheit ab und verortet Wahrheit eher im Sinne einer Kohärenztheorie auf der Ebene der Ideen, genauer deren Zusammenhang. Ziehen wir dazu auch das Korollar 2p11c heran: »wenn wir sagen, Gott hat diese oder jene Idee, nicht insofern er nur die Natur des menschlichen Geistes ausmacht, sondern insofern er zusammen mit dem menschlichen Geist auch die Idee eines anderen Dinges hat, dann sagen wir, daß der menschliche Geist das

Ebd., S. 339 f. Ebd., S. 353. 32 Ebd., S. 343. »Human action is goal directed because it is motivated and guided by thoughts about the future in virtue of their contents.« Ebd., S. 350. In seiner Rekapitulation dieser Debatte findet auch Schmid: »So ließ sich in Bezug auf Spinozas Handlungstheorie zeigen, dass Jonathan Bennetts allgemeines Argument gegen die kausale Wirksamkeit des Gehalts von Ideen nicht (uneingeschränkt) haltbar ist: Anders als Bennett behauptet, geht Spinoza davon aus, dass die kausale Kraft inadäquater Ideen – genau wie ihr Gehalt – extrinsisch festgelegt ist.« Schmid 2011, S. 295. 33 »Per ideam adaequatam intelligo ideam quae quatenus in se sine relatione ad objectum consideratur, omnes verae ideae proprietates sive denominationes intrinsecas habet.« 30 31

Handlung und das Problem der Teleologie

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Ding nur zum Teil, anders formuliert inadäquat, wahrnimmt.« 34 Gott erscheint hier als Gesamtzusammenhang der Ideen, die darin auf verschiedene Weisen vorkommen bzw. betrachtet werden können. Wenn es eindeutig ist, was eine Idee enthält, und dies nicht durch die ›Interferenz‹ anderer Ideen ›gestört‹ oder ›getrübt‹ wird, spricht man von einer adäquaten Idee. In einer solchen ist nichts vermischt, sondern was in ihr an Einflüssen und Ursachen zusammenkommt, lässt sich klar und deutlich auseinanderhalten (vielleicht wie bei der Darstellung der Strukturformel eines Moleküls). So ist Adäquatheit ein gradueller und relativer Begriff. Die inneren Merkmale einer Idee können mehr oder weniger deutlich gesondert sein. Und diese Deutlichkeit ist immer relativ zu dem die Idee enthaltenden Geist. Je umfassender dieser Geist ist, desto mehr andere Ideen (›Informationen‹) enthält er, die in sie eingehen und die sie zu erklären helfen. Daher ist in Gott jede Idee adäquat. Spinozas Auffassung von Wahrheit in Form von Adäquatheit erscheint als Perspektivismus avant la lettre. Auch hier kann die Ausdrucksterminologie nützlich sein: Eine adäquate Idee zeichnet sich dadurch aus, dass klar und deutlich ist, was sie ›eigentlich‹ ausdrückt. Dies lässt sich nun in die Handlungstheorie übertragen. Spinozas Intuition dabei ist, dass auch eine Handlung, allgemein verstanden als Wirkung, durch ihre Ursachen erklärbar sein muss. Nur dann ist die Bezeichnung als Handlung überhaupt gerechtfertigt. Wiederholen wir die eingangs gegebene Definition 3def2: »Ich sage, wir sind aktiv [agere], wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache [causa] wir sind, d. h. [. . .] wenn aus unserer Natur etwas in uns oder außer uns folgt, das durch sie allein klar und deutlich eingesehen werden kann [intelligi]. Dagegen sage ich, erleiden wir etwas [pati], wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur eine partiale Ursache sind.« In dieser Definition lassen sich drei Elemente ausmachen, die mit den Stichworten agere, causa und intelligi angezeigt werden und die die Aspekte Akteure, Verursachung und Einsicht betreffen. Beginnen wir mit den Akteuren. In zeitgenössischen Debatten zur Handlungstheorie wird oft zwischen Ereigniskausalität und Akteurskausalität unterschieden. Bei der Akteurskausalität (vertreten etwa durch Chisholm) wird ein Ereignis direkt durch eine handelnde Person verursacht und nicht durch ein anderes Ereignis. In 3def2 stehen stellvertretend für Akteure die Pronomina nos, in nobis und nostra. Dies lässt offen, wie sie genau beschaffen sind, ob ›personenhaft‹, ›subjekthaft‹, ›vernünftig‹ oder nichts von alledem. Das eigentliche ›Subjekt‹ der Handlung ist »unsere Natur«. Diese Natur aber ist nichts anderes »cum dicimus Deum hanc vel illam ideam habere non tantum quatenus naturam humanae mentis constituit sed quatenus simul cum mente humana alterius rei etiam habet ideam, tum dicimus mentem humanam rem ex parte sive inadaequate percipere.« 34

Die Struktur des Handlungsbegriffs

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als die jeweilige individuelle Essenz, die in Kap. 9 mit dem conatus identifiziert wurde. Deshalb drückt sich in einer Handlung, via diese Natur, auch immer die göttliche Natur und Macht aus. Ein solcher Handlungsbegriff steht einer allgemeinen ontologischen Wirksamkeit folglich näher als einer anthropologischen, d. h. spezifisch menschlich gedachten Tätigkeit. 35 Er lässt sich direkt an den in Kap. 8 und 9 behandelten Lehrsatz 1p36 anschließen: »Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt« bzw.: »Was auch immer existiert, drückt Gottes Natur oder Essenz auf bestimmte und geregelte Weise aus« (1p36dem). Mit dem Konzept der eigenen Natur lassen sich umfassendere Wirkungen, Einflüsse und Schichten in ›Aktionen‹ mitbedenken, als durch die etwas eindimensionale Unterscheidung von Ereignis- und Akteurskausalität suggeriert wird. Saar charakterisiert den Zusammenhang von Handlungsbegriff und Machtbegriff bei Spinoza dadurch, dass Macht »schon viel früher auf der Ebene der Frage nach der Konstitution, das heißt der Beschaffenheit und den Konstituierungsprozessen der Akteure« ins Spiel kommt. 36 »Macht in diesem ganz umfassenden Sinn ist also weder auf ein konkretes Handeln im Sinne der Machtausübung durch fest definierbare Akteure reduzierbar, über deren Identität man auch ohne Rekurs auf ihre Macht gehaltvolle Aussagen treffen könnte.« 37 Vielmehr zeige Spinoza umgekehrt, »wie sich über Macht anders reden lässt als in der individualistischen und intentionalistischen Sprache der Handlungstheorie, in der die Macht des einen die Handlung eines anderen beeinflusst«. 38 Im Rückgriff auf die Ausdrucksterminologie kann man also sagen, dass sich in einer Handlung auf eine bestimmte Weise Macht ausdrückt. Als nächstes ist, anschließend an die Überlegungen zur Teleologie, das Element der Verursachung in 3def2 genauer zu untersuchen. Hier kommt nun der oben erläuterte Adäquatheitsbegriff zum Zug. In der vorangehenden Definition 3def1 bezieht Spinoza Adäquatheit auf Ursachen: »Adäquat nenne ich diejenige Ursache, deren Wirkung durch sie klar und deutlich wahrgenommen werden kann. Inadäquat oder partial nenne ich dagegen diejenige, deren Wirkung nicht durch sie allein eingesehen werden kann.« 39 Damit lässt sich konzipieren, dass eine Handlung durch ihre Ursachen erklärbar sein muss. Wie eingangs bemerkt, übersetzt Bartuschat agere mit ›aktiv sein‹, Stern aber mit ›handeln‹, Curley mit ›act‹. Das englische ›act‹ ist hier dem Lateinischen ebenfalls näher und neutraler, während das deutsche ›handeln‹ über die ›Hand‹ eine Metonymie zu einem Täter schafft. 36 Saar 2013, S. 140. 37 Ebd., S. 140. 38 Ebd., S. 139. 39 Mit der Terminologie von causa partialis macht Spinoza eine Anleihe an scholastischem Vokabular. »[It is] a distinction which may be traced to the distinction between causa totalis and causa partialis in Duns Scotus and Heereboord«. Wolfson 1983, S. 188. Beispielsweise findet sich in Scotus’ Ordinatio: »Wenn einer sagte, daß das Objekt den Willen wirkursächlich [effective] bewegt, 35

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Handlung und das Problem der Teleologie

Dieser Handlungsbegriff ist nicht attributspezifisch formuliert. Handlung als Aktivität kann sowohl in geistiger als auch in körperlicher Hinsicht stattfinden. Den geistigen Vorgang beschreibt Lehrsatz 3p1: »Unser Geist bringt einiges aktiv hervor [quaedam agit], anderes erleidet er jedoch; insofern er nämlich adäquate Ideen hat, bringt er notwendigerweise einiges aktiv hervor, und insofern er inadäquate Ideen hat, erleidet er notwendigerweise anderes.« Dies ist möglich, weil Ideen durch ihr formales Sein (esse formale) Ursache anderer Ideen sein können. Wie bei der Auflösung des Paradoxes von Erkennen und Handeln in Kap. 10 ist Aktivität auch hier ein Vorgang innerhalb des Attributs cogitatio und wirkt nicht wie bei einem vermeintlichen Befehl des Geistes an den Körper in die extensio hinüber, die ihrerseits bzw. parallel aktiv ist. Damit wird einem Aspekt von Handlungen Rechnung getragen, den auch Anscombe eingefordert hatte: dass ihnen eine intrinsische Aktivität zukommt. Diese rührt bei Spinoza allerdings nicht von Intentionen, Zielen oder Absichten eines Akteurs her, weil Finalursachen wie gesehen keine genuine Wirksamkeit haben und Akteure eine zu voraussetzungsreiche Annahme sind. Spinozas Handlungsbegriff vereint also auf sinnvolle Weise Aspekte beider moderner Handlungstheorien, von Anscombe den Aspekt der Aktivität, von Davidson den Aspekt der Kausalität, und ist damit im Prinzip nicht teleologisch. Als drittes Element fügt sich nun noch die Einsicht (intelligere) zur Struktur von 3def2. Einsicht zu haben oder vielmehr zu erzeugen, ist gerade ein solcher aktiver Vorgang, weil er der Bildung adäquater Ideen entspricht: »Die Aktivitäten des Geistes entspringen allein adäquaten Ideen, während die Formen des Erleidens allein auf inadäquaten Ideen beruhen.« (3p3 40) Damit führt Spinoza ein reflexives Moment ein, das ebenfalls zum Charakter einer Handlung gehört. Darauf hat auch Bartuschat insistiert, weil die durch die Substanz verbürgte potentia allein noch nicht etwas für das Individuum sei. »Dies zu sein, ist die Voraussetzung dafür, daß ein Individuum von sich aus tätig ist«. 41 Auch Emmet hebt diesen reflexiven Aspekt hervor, der in bloßen Ereignisreihen nicht vorkäme: »There is not something in us [such as a neural event in the brain, Vf.] causing something else in us [such as rising an arm, Vf.], but something that we ourselves are doing with ourselves. If this is to be specified as a basic action, it might be expressed through an internal accusative – like doing a deed, fighting a fight. An internal accusative is of course merely a linguisic device, aber nicht im Sinne einer vollständigen Ursache [ut totalis causa] [. . .]«. Das meint hier, dass es zusätzlich zum Objekt noch etwas anderes geben muss, das den Willen bewegt. Ordinatio / Opus Oxoniense, Distinctio 25, Quaestio unica, Scotus 2000, S. 197. 40 ›Form‹ hat hier keine terminologische Bedeutung. Im Lateinischen steht lediglich »passionis autem a solis inadaequatis pendent«. 41 Bartuschat 2017c, S. 46.

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but behind it lurks a suggestion of internal causation.« 42 Damit verweist für sie die Form einer Handlung, wie das Medium in der griechischen Sprache, zugleich auf das Objekt und auf das Subjekt, die eigene Natur. Indem immer besser verstanden wird, was diese Natur ist, wird das Subjekt iterativ auch zum Objekt. Dabei kann der ganze Vorgang stets kausal bleiben: »For Spinoza, to act is simply to cause, an action is simply a causing, and to act for a reason or with an intention is, again, fundamentally just to cause something.« 43 Und deshalb ist auch unter Hinzunahme des dritten Elements, der Einsicht, Spinozas Handlungsbegriff im Prinzip nicht teleologisch. Einsicht als adäquate Erkenntnis ist immer die Erkenntnis von Essenzen oder von effizienten Ursachen. Der letzte Grund dieses Erkennens ist Gott: »Von den Ereignissen in uns, die sich auf diesen letzten Grund beziehen lassen, sagen wir, daß sie unsere Handlungen sind. Als Ereignisse gründen sie in der Notwendigkeit der göttlichen Kausalität, resultierend aus der Natur Gottes, nicht aber in einem freien Willen des Menschen. Sofern der Mensch aber diese Ereignisse in ihrer Notwendigkeit erkennt, nämlich aus dem Wesen Gottes, sind sie seine Handlungen, denn sie gründen nunmehr in ihm, nämlich in dem Prinzip, durch das er sich bestimmt weiß.« 44 Auf diese Weise fügen sich also die Elemente Akteure, Verursachung und Einsehen zu einem Handlungsbegriff, in den auch die zuvor diskutierten Themen Naturalismus, Nezessitarismus und Kausalität eingehen, und in dem sich die Gebiete praktische Philosophie, Ontologie und Epistemologie überschneiden. Wie die Diskussion gezeigt hat, nimmt dieser Handlungsbegriff gewisse Aspekte moderner Handlungstheorien vorweg, setzt sich aber auch entschieden gegen den Mainstream der Moralphilosophie ab, sofern Spinoza Handlungen nicht moralisch bewertet. Es gibt keine universellen Normen oder Gesetze, gegenüber denen Handlungen gerechtfertigt werden müssten, und deshalb in Übereinstimmung mit der Anti-Teleologie auch nichts, was absolut erreicht werden müsste. Vielmehr geht es darum, sich in einer Handlung als Wirkenden zu erkennen und den jeweiligen ›Stand‹, auf dem sich das eigene Wesen befindet, zum Ausdruck zu bringen. Deshalb ist auch der Handlungsbegriff graduell und auf die Entwicklung von Individuen angelegt. 45 Intelligere heißt bei Spinoza nicht Beibringen von starren Gründen, sondern Klärung und DurchEmmet 1984, S. 47 f. Diese »internal causation« ist eine Weise der in Kap. 7 mit Emmet diskutierten »immanent causation«. 43 Della Rocca, Steps Toward Eleaticism. Draft. 44 Bartuschat 2017e, S. 100. 45 Hier könnte man einwenden, dass die Rede von ›anlegen‹ teleologisch ist. Diese paradoxe Situation kann aber durch die Unterscheidung zweier Sprechebenen, wie in Kap. 2 gezeigt, behoben werden. 42

Handlung und das Problem der Teleologie

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dringung wechselnder Verstrickungen, Konflikte, Konditionierungen und Begehren in einem Prozess fortlaufender Bewältigung von Komplexität. 46

11.5 Das Paradox von Handlung und Nicht-Handlung

Wenn für den common sense Handlungen in erster Linie durch menschliche Absichten gekennzeichnet sind und im Blick auf Normen erfolgen, für Spinoza dagegen durch wirksame Ursachen und den Ausdruck der Natur des Handelnden, dann sind für ihn Handlungen gerade das, was üblicherweise Nicht-Handlungen sind und umgekehrt. Auch Katrin Wille hat diese Differenz zu geläufigen Auffassungen von Subjekten und Handlungen betont: »Humans are not actors who recognize and operate and stand in interactive relationships and enforce their wills; instead, they are the expression of general effective relations which apply equally to the human and non-human. Accomplishing this is exactly a fundamental concern of the Ethics.« 47 Ebenso Martin Saar: »Wenn Macht ein Wirken im oder des Seienden ist, das sich in Formen des verändernden Handelns realisiert, aber nicht darauf reduziert werden kann, stellen sich andere und mehr Fragen als nur die danach, wer mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck und mit welchem Recht Macht über jemand anderen ausübt. Die Rückbindung der menschlichen Macht an die Seinsweise eines Menschen verankert das menschliche Können und Vermögen ganz grundsätzlich in den menschlichen Wesen selbst und nicht erst in von ihnen zusätzlich erworbenen Mitteln oder Instrumenten der Macht.« 48 Wenn Handlungen derart als Nicht-Handlungen erscheinen, sind wir zwar nicht mit einem Paradox im starken Sinne konfrontiert, aber dennoch gefordert, nach einer Auflösung zu suchen. Dazu können wir nun auf die Gradualität der verschiedenen Elemente in Spinozas Handlungsbegriff zurückgreifen, insbesondere auf diejenige der Einsicht bzw. Adäquatheit. Nach Spinoza ist etwas je mehr eine Handlung, desto mehr sie mit Einsicht erfolgt, desto mehr also die in ihr wirksamen Ursachen erkannt werden. So ist, anders gesagt, etwas je mehr eine Handlung, desto mehr Kausalanteile in ihr offenbar werden und desto mehr sich die Finalität als illusorisch erweist. Und so sind »Leiden und Handeln« »nicht der Art, sondern nur dem Grade nach unterschieden. Jedes Gartenberg formuliert dies in Bezug auf das in Kap. 8 erwähnte Beispiel von Adam wie folgt: »Thus, to say that Adam is a way of existing necessarily (and that this in fact is all there is to the matter) is not to give an independent reason why Adam exists necessarily, whether located in the notion of ›Adam‹ or outside it.« Gartenberg 2017, S. 29. 47 Wille 2020, S. 193. 48 Saar 2013, S. 139. 46

Das Paradox von Handlung und Nicht-Handlung

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Ding handelt, indem es naturgemäß wirkt; es leidet, indem es in seinem Handeln beschränkt wird: Leiden ist beschränktes Handeln, wie die Imagination beschränktes Denken und Ruhe gehemmte Bewegung ist.« 49 Damit lassen sich Handlungen von Nicht-Handlungen nicht kategorisch, sondern nur graduell unterscheiden. Spinozas Handlungsbegriff schließt zunächst bis zu einem gewissen Grad auch Nicht-Handlungen ein. Es gelingt ihm so, wie Schmid bemerkt, »zumindest in Bezug auf inadäquate Ideen die kausale Standardrekonstruktion der Handlungsteleologie: Sofern sich Menschen mit inadäquaten Ideen auf zukünftige Zwecke beziehen, lassen sich die Handlungen dieser Menschen auch tatsächlich als Bewegungen beschreiben, die durch Zwecke repräsentierende Ideen verursacht worden sind.« 50 Dieser Kompromiss ist durchaus praxistauglich, denn im Prozess der Gewinnung adäquater Ideen können selbst inadäquate Ideen nützlich sein, wie das Beispiel des aufprallenden Gegenstandes zeigt. Auch wenn Spinoza in 1app sagt, »daß alle Zweckursachen [causas finales] nichts als menschliche Einbildungen [figmenta] sind«, ist er sich ihrer praktischen Relevanz bewusst, wie Ep. 56 an Hugo Boxel zeigt: »Daß wir in der Welt vieles auf Grund von Vermutungen tun, ist richtig, aber daß wir unsere Gedanken nur aus Vermutungen hätten, ist falsch. Im Alltagsleben müssen wir dem Wahrscheinlichsten, in der Speculation aber der Wahrheit folgen. Der Mensch würde verhungern und verdursten, wollte er nicht eher essen und trinken, bis er den vollkommenen Beweis erhalten hätte, daß Speise und Trank ihm von Nutzen sein werden.«

Résumé

Die Aufgabe dieses Kapitels war, Spinozas Handlungsbegriff zunächst vor dem Hintergrund der von ihm kritisierten Teleologie zu motivieren. Dabei wurden drei Formen von Teleologie unterschieden: religiöse, natürliche und handlungsbezogene, von denen sich Spinoza unterschiedlich stark distanziert. Während er durchwegs ablehnend zu einer heilsgeschichtlichen Teleologie steht, die das größte Unheil gestiftet hat, kann er zumindest illusorisch Finalität in menschlichen Handlungen zulassen. Diese Illusion hängt mit der Wirkungslosigkeit von Finalursachen zusammen. Als Bollwerk gegen die Teleologie dient So beschreibt es der Philosophiehistoriker Kuno Fischer, Fischer 1898, S. 524. Schmid 2011, S. 245. Schmid fügt hinzu: »Dass Tätigkeiten nur dann teleologisch erklärbar sind, wenn sie von inadäquaten Ideen ausgehen, ist als handlungstheoretische These für Spinozas gesamte Theoriebildung sowohl hinreichend als auch notwendig.« Ebd., S. 296. Man könnte auch sagen, dass Spinoza Zweckerklärungen im strengen Sinn zurückweist, aber Zweckbeschreibungen zulässt. Vgl. ebd., S. 240. 49 50

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Handlung und das Problem der Teleologie

ihm der Naturalismus, nach dem es keine andersgesetzlichen Bereiche gibt als eben die Natur. In dieser Natur müssen die notwendigen und kausalen Zusammenhänge verstanden werden. Im Unterschied zu vielen moralphilosophischen Positionen damals wie heute bewertet Spinoza Handlungen nicht moralisch und gibt keine universellen Normen oder Gesetze vor, gegenüber denen man sein Handeln rechtfertigen müsste. Vielmehr soll sich ein handelndes Individuum in seinen Wirkungen ausdrücken und erkennen, was es dabei ausdrückt. Das als Konsequenz von Spinozas Problembehandlung der Teleologie auftretende Paradox, dass kausale Handlungen im gewöhnlichen Verständnis Nicht-Handlungen sind, ließ sich mit Verweis auf die Gradualität des Handlungsbegriffs und einer damit eingehenden Umdeutung des Handlungsverständnisses lösen. Der Kern dieses Paradoxes ist der Term ›eigenen Natur‹, die das Subjekt von agere ist und mit der sich zugleich der gesamte Wirkungszusammenhang der Natur vermittelt. Als dritten und letzten praktischen Begriff, nach dem Willen und der Handlung, ist nun die Freiheit zu untersuchen.

12 Freiheit und das Problem von Normativität

M

it diesem zwölften Kapitel soll nun der Bogen von der Metaphysik zur Ethik vollendet werden. Spinozas metaphysische Grundbegriffe, causa sui, Substanz, Attribute und Modi (Kap. 4-6), wurden im Laufe dieses Buches durch zwei Zwischenkapitel zu Ausdruck und Macht (Kap. 7-8) und durch das Konzept des conatus (Kap. 9) mit den praktischen bzw. ethischen (und ebenfalls paradoxen) Begriffen Wille und Handlung verbunden (Kap. 10-11) und gehen nun gemeinsam mit ihnen in den Freiheitsbegriff ein. Diese Bewegung ist zugleich eine Fokussierung auf eine Ethik im engeren Sinne und ein Wiedereinholen der Metaphysik mit ihrem ›organisierenden‹ Grundbegriff der causa sui. Es wird hier bewusst darauf verzichtet zu versuchen, Spinozas Ethik mit den gängigen meta-ethischen Termini zu klassifizieren, weil diese auf Vorentscheidungen beruhen (etwa Realismus, Anti-Realismus, Idealismus), die der Ethica äußerlich und fremd sind und die die Sicht auf sie eher verstellen als Aufschluss bieten. Hilfreich als Kontraste sind aber Aristoteles und Kant, auf die hier kurz eingegangen wird, um zu sehen, wie Ziele, Zwecke und Absichten von Handlungen mit Bewertungen versehen werden können. Wenn beispielsweise in der Nikomachischen Ethik als Ziel der Medizin die Gesundheit, als Ziel der Schiffbaukunst das Schiff und als Ziel der Ökonomie der Wohlstand genannt wird, so bedarf es noch einer axiologischen Perspektive, die diese auch als erstrebenswerte Güter auszeichnet. 1 Aristoteles' Einsatz bestand zunächst darin zu sagen, dass, obwohl hier ganz unterschiedliche Güter vorliegen, der Begriff ›gut‹ in einem ihnen gemeinsamen Sinn, Fokus oder πρὸς ἕν verwendet wird. 2 Unter allen Gütern, die durch Handeln erreichbar sind, so zeigt Aristoteles weiter, ist das höchste die Glückseligkeit (εὐδαιµονία), weil sie nicht bloß Mittel zum Zweck ist, sondern sich selbst genügt. Der Selbstbezug gibt somit ein Maß für die Bewertung. 3 Während eine Tugendethik wie diejenige von Aristoteles in erster Linie handelnde Akteure in den Blick nimmt, sind es in einer Moralphilosophie wie derjenigen von Kant die Handlungen an sich, die als gut oder böse beurteilt Vgl. Aristoteles 2001, 1094a, S. 9. Ebd., 1094a, S. 9. Das Gute wird somit weder univok noch äquivok (ὁµώνυµος) ausgesagt. 3 Für Aristoteles sind die Gegenstände der Ethik τὰ ἠθικά. Die Bedeutungen von ἦθος umfassen Gewohnheit, Brauch, Sitte, Charakter, Denkweise, Sinnesart; die Bedeutungen von ἔθος, das von derselben Wurzel abstammt, sind gewohnter Zustand, Gewohnheit, Sitte, Brauch, Lebensführung. 1 2

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Freiheit und das Problem von Normativität

werden. Und während bei Aristoteles die Verbindung von persönlichen Haltungen (ἕξεις) und Glück im Vordergrund steht, ist es bei Kant die Konformität mit moralischen Gesetzen. Die Bewertungsgrundsätze sind hier ganz andere. Nicht mehr die selbstgenügsame Eudaimonie zählt als höchstes Gut, sondern die Würdigkeit, glücklich zu sein, also die Rechtmäßigkeit eines Anspruchs. 4 Das Maß für die Bewertung ist hier das Sittengesetz, das seinerseits nicht weiter begründet werden kann: »Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze, oder, welches einerlei ist, das der Freiheit möglich sei, läßt sich nicht weiter erklären, nur die Zulässigkeit derselben in der theoretischen Kritik gar wohl verteidigen.« 5 In den heutigen daran anschließenden moralphilosophischen Debatten liegt das Gewicht auf der Untersuchung von rationalen Verfahren, die moralische Sätze dennoch einsehbar und verbindlich machen wollen. Der Standpunkt der Moralität gilt dabei meist nicht als menschengemacht, ergibt sich also nicht aus subjektiven Einschätzungen und Bewertungen. Entsprechend ist eine solche Normativität nicht zeitlich, sondern ist umgekehrt das Zeitliche dasjenige, was von der Norm her begriffen und beurteilt wird. Die Vernunft wird als beste Möglichkeit angesehen, diesen Standpunkt zu konstruieren. Beiden, Aristoteles und Kant, ist gemeinsam, dass sowohl die Tugendethik als auch die Gerechtigkeitsethik auf je ihre Weise teleologisch und normativ sind. Die entsprechenden Ziele und Normen, die letztlich nicht begründbar sind, müssen in ihrer Absolutheit Individuen als etwas uneinholbar Fernes und Fremdes erscheinen. Genau hier liegt das Problem, das man nun mit Spinoza thematisieren kann.

12.1 Umkehrfiguren und das Problem des Normenfolgens

Einige Aspekte dieses Problems wurden schon in den Kapiteln 8-10 genannt. Es sind: i) ein überzogener Idealismus, der materielle, physiologische und triebhafte Aspekte ausblendet, ii) ein Universalismus, der die Individualität und Lebensrealität einzelner Individuen übergeht, und iii) ein Abstraktionsgrad normativer Forderungen, der vom Standpunkt einzelner Bedürfnisse nicht nachvollziehbar ist. Auf diese Punkte wurde auch in der Spinoza-Forschung mehrfach hingewiesen: »Le savoir de la loi est abstrait«, schreibt Pierre Mache4 »Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen.« Kant 2014, A 234, S. 261. 5 Ebd., A 80, S. 160. Das moralische Gesetz ist die ratio cognoscendi der Freiheit, d. h. die Weise, wie man Freiheit überhaupt einsehen kann, und umgekehrt ist Freiheit die ratio essendi des moralischen Gesetzes, d. h. die Weise, wie sich Freiheit zeigt.

Umkehrfiguren und das Problem des Normenfolgens

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rey, »parce qu'il présente la loi comme une réalité en soi distincte du contenu auquel elle s'applique. On pourrait voir là une préfiguration du principe : video meliora proboque deterioraque sequor, qui manifeste l'insoluble contraction entre une théorie et une pratique définitivement disjointes parce qu'elles ont été développées sur des terrains séparés.« 6 »Règles et normes ne sont pas des choses en soi, mais elles expriment des relations entre choses qui n'existent elles-mêmes que les unes par rapport aux autres, donc relativement : c'est pourquoi ces formes sont, non pas des conditions ou des causes, mais des effets, des résultats.« 7 Auch Katrin Wille hat darauf aufmerksam gemacht, dass die ratio, indem sie vergleicht, nur Gemeinsamkeiten von Dingen erfasst und somit auf einem hohen Abstraktionsniveau verbleibt, und postuliert: »The core of the provocation lies within Spinoza's radical critique of abstraction.« 8 (Vgl. Punkt iii). Mit Blick auf den Universalismus (Punkt ii) hat Michael Hampe gegen die Vorstellung einer allgemeinen Normierbarkeit die Relevanz individueller Entwicklungsmöglichkeiten bei Spinoza hervorgehoben: »The development of a human being towards the status of an individual leading a happy life therefore consists not in the transformation or perfection of a person in accordance with a specific ideal but rather in the realisation of the possibilities that are inherent in a being by virtue of its nature, in which realisation, however, is hindered by external circumstances.« 9 In der Praxis orientiert man sich denn auch in unterschiedlichen Situationen und Entwicklungsphasen an unterschiedlichen Normen und nicht an gleichbleibenden universellen Idealen. Und bezüglich des triebhaften Begehrens (Punkt i) konstatiert Bartuschat: »Der Hinblick auf eine Idee von Vernunft überspringt die Wirklichkeit menschlichen Begehrens.« 10 Ebenso Della Rocca: »there can be no desire that is totally divorced from a concern with our self-interest. In particular, there can be no desire to do something simply because it is the right thing to do, irrespective of any connection the action may have to our own joy or preservation.« 11 All diese Kommentatoren üben mehr oder minder unverhohlen Kritik an moralphilosophischen Paradigmen und legen den Finger auf deren wunden Punkt: das Problem, die vorgegebenen Normen überhaupt befolgen zu können. Bartuschat artikuliert dies folgendermaßen: »Die Theorie der Willensfreiheit nimmt einen Willen an, der seinen Äußerungen vorangeht, zu denen er sich als ein Vermögen eigens entschließt. Die Theorie der Teleologie nimmt ein Ziel 6 7 8 9 10 11

Macherey 1992, S. 54. Ebd., S. 56. Wille 2020, S. 191. Hampe 2010, S. 40. Bartuschat 2017c, S. 48. Della Rocca 2008, S. 159.

Freiheit und das Problem von Normativität

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an, das von den Handlungsäußerungen verschieden ist und dem Handeln eine Richtung gibt. Die Theorie der Normativität nimmt ein Sollen an, das eine handlungsbestimmende Kraft hat, und beruft sich hierfür gegen die Natur des handelnden Subjekts auf etwas, das das Subjekt in seiner Faktizität nicht ist.« 12 Die in Kap. 10 und 11 untersuchten Probleme der Vermögen und der Teleologie werden hier angesprochen und zu einem grundsätzlichen Problem der Normativität (vgl. nun Kap. 12) verdichtet: »Das anti-teleologische Konzept menschlichen Strebens schließt es aus, daß der Mensch etwas in der Orientierung an einem seinem Streben vorangehenden Guten erstrebte. Das Streben eines Individuums ist seiner Natur nach auf sich selbst gerichtet.« 13 Moralphilosophische Paradigmen gehen demnach von falschen Annahmen über Strebevorgänge aus, was wiederum zu falschen Erwartungen über die Möglichkeit des Normenfolgens führt. Sie haben »in Spinozas Augen keine Wirklichkeit« und sind irrig, »weil sie die Struktur des menschlichen conatus verkennen«. 14 Dies gibt das Stichwort, worauf eine Ethik nach Spinoza bauen muss: auf dem conatus. Weil dieser aus einem naturalistischen und nezessitaristischen Kontext stammt, wird eine solche Ethik für das gewöhnliche Verständnis, das auf der Annahme von Freiheit beruht, paradox sein.

Umkehrfiguren bei Spinoza, Hobbes und Nietzsche

In der Ethica wird das conatus-Prinzip, wie eingehend beschrieben, in den Lehrsätzen 3p6&7 eingeführt (vgl. Kap. 9). Kurz darauf, im Scholium 3p9s, sagt dann Spinoza: »Aus all dem steht also fest, daß wir etwas weder erstreben noch wollen, weder nach ihm verlangen noch es begehren, weil wir es für gut halten; im Gegenteil, wir halten etwas für gut, weil wir es erstreben, es wollen, nach ihm verlangen und es begehren.« 15 Dieser Satz ist erstaunlich, denn sowohl mit Aristoteles als auch mit Kant würden wir die andere, von Spinoza eben bestrittene Reihenfolge erwarten. Dieselbe Umkehr findet sich aber auch bei anderen Autoren, die als moralkritisch gelten, etwa in Hobbes' Leviathan: »was immer das Objekt von jemandes Trieb oder Verlangen ist, das nennt er für sein Teil gut und das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung schlecht und das seiner Geringschätzung niedrig und belanglos. Denn diese Worte gut, Bartuschat 2006, S. 108. Bartuschat 2017b, S. 204. 14 Bartuschat 2006, S. 108. 15 »Constat itaque ex his omnibus, nihil nos conari, velle, appetere neque cupere, quia id bonum esse judicamus; sed contra, nos propterea aliquid bonum esse judicare, quia id conamur, volumus, appetimus atque cupimus.« 12 13

Umkehrfiguren und das Problem des Normenfolgens

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schlecht und verächtlich werden stets mit Beziehung auf die Person benutzt, die sie gebraucht; nichts ist nämlich einfach und absolut so, und es kann auch keine allgemeine Regel von Gut und Schlecht aus der Natur der Objekte selbst abgeleitet werden.« 16 In dieselbe Kerbe schlägt Nietzsche: »Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heisst: ›Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich! Im andern Falle . . .‹ Jede Moral, jede Religion ist dieser Imperativ [. . .]. In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre Umkehrung – erstes Beispiel meiner ›Umwerthung aller Werthe‹: ein wohlgerathener Mensch, ein ›Glücklicher‹, muss gewisse Handlungen thun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen, er trägt die Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu Menschen und Dingen hinein. In Formel: seine Tugend ist die Folge seines Glücks . . .« (GD, Die vier grossen Irrthümer 2, KSA 6.89). Auch wenn die historischen Umstände jeweils andere sind – Hobbes schreibt vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs, Nietzsche vor dem Hintergrund damaliger physiologischer und psychologischer Theorien –, zielen sie in problemgeschichtlicher Hinsicht gegen denselben Gegner: eine idealistische, universalistische und abstrakte Moral. In systematischer Hinsicht bemängeln Spinoza, Hobbes und Nietzsche eine Verkehrung von Ursache und Wirkung. Die folgende Bemerkung Nietzsches, aus demselben Kapitel der Götzen-Dämmerung, inszeniert dies ironisch: »Jedermann kennt das Buch des berühmten Cornaro, in dem er seine schmale Diät als Recept zu einem langen und glücklichen Leben – auch tugendhaften – anräth. Wenige Bücher sind so viel gelesen worden, noch jetzt wird es in England jährlich in vielen Tausenden von Exemplaren gedruckt. Ich zweifle nicht daran, dass kaum ein Buch (die Bibel, wie billig, ausgenommen) so viel Unheil gestiftet, so viele Leben verkürzt hat wie dies so wohlgemeinte Curiosum. Grund dafür: die Verwechslung der Folge mit der Ursache. Der biedere Italiäner sah in seiner Diät die Ursache seines langen Lebens: während die Vorbedingung zum langen Leben, die ausserordentliche Langsamkeit des Stoffwechsels, der geringe Verbrauch, die Ursache seiner schmalen Diät war. Es stand ihm nicht frei, wenig oder viel zu essen, seine Frugalität war nicht ein ›freier Wille‹: er wurde krank, wenn er mehr ass.« (GD, Die vier grossen Irrthümer 1, KSA 6.88) Eine solche Umkehrfigur beinhaltet eben auch die zitierte Passage in 3p9s. Sie wird sich von da an weiter durch die Ethica ziehen und im Schlusssatz kulminieren: »Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern genau die Tugend [ipsa virtus]; noch haben wir eine innere Freude an ihr [beatitudo], weil wir unsere sinnlichen Lüste [libidines] hemmen; sondern umgekehrt, weil wir an ihr eine innere Freude haben, können wir unsere sinnlichen Lüste hemmen.« 16

Hobbes 1996, Kap. 6, S. 42.

Freiheit und das Problem von Normativität

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(5p42) Freude und Glück sind also nicht Ziele, sondern innere Dispositionen, während die gewöhnliche, ›moralische‹ Reihenfolge wäre, dass man erst die Lüste hemmt und deshalb glücklich wird. 17 Was bedeutet diese Umkehrung nun für eine Theorie der Normativität?

12.2 Das Paradox einer Theorie der Normativität

Im Scholium 3p9s wird ein Begriff des Guten auf das menschliche Streben, d. h. auf den conatus zurückgeführt. Genauer gilt nach Schmid: »Wenn nun ein Ding aufgrund seiner Essenz als Ausdruck der göttlichen Macht nach dem strebt, wozu es durch seine Essenz bestimmt wird, dann strebt es damit genau danach, was seiner Natur nach auch gut für es ist – und das ist seine Selbsterhaltung.« 18 Das natürliche Streben erscheint hier als eine Ausgangsnorm für das Gute. Natur und Norm werden somit gleichgesetzt. Kann es in einer Ethik dabei bleiben? Ein nochmaliger Blick auf die Lehrsätze 3p6&7 (vgl. Kap. 9) scheint zunächst folgenden Widerspruch zu Tage zu fördern: Entweder verharrt ein Ding in seinem jeweiligen Zustand und dann ist ein Streben überflüssig; oder aber ein Ding ist im Streben begriffen und verlässt eben dadurch seinen Zustand. Die Grammatik der Formulierung »in suo esse perseverare conatur« in 3p6 legt indes nahe, dass das Streben in erster Linie das Verharren betrifft und der genannte Zustand, das Sein, nur eine Ergänzung ist. Dies wiederum impliziert ein äußeres Umfeld, das das jeweilige Sein bedrängen oder zerstören könnte (vgl. auch 3p4 und die Diskussion dazu). Auch hier stellt sich die Frage, inwiefern der conatus selbstbezüglich, fremdbezüglich oder medial beides zusammen ist, die als Paradox der Individuation schon in Kap. 9 zur Sprache kam. Jetzt stellt sich dieses Paradox erneut in der Form, dass das Streben sich an etwas außerhalb ausrichten müsste – was dann zugleich eine Art Norm wäre –, obwohl es auf sich selbst bezogen ist – was eine Art Natur und eigene Norm wäre – und sich gar nicht in Distanz zum jeweiligen Strebezustand bringen kann. Diese komplexe Verzweigungsstruktur scheint schon in der Grammatik von 3p6 angelegt zu sein. 19 Michael Hampe sieht in diesem Lehrsatz auch einen Unterschied zwischen einer technischen und einer praktischen Bewältigung des Lebens, sofern ein Techniker den Fokus auf die Mittel zur Erreichung eines Ziels, ein Praktiker auf den Vollzug selbst legt. Vgl. Hampe 2010, S. 39. Im TTP sagt Spinoza ferner: »Was nur gut ist auf Grund von Anordnungen und Satzung oder als Veranschaulichung irgendeines Gutes [im Blick sind hier religiöse Zeremonien, Vf.], kann unseren Verstand nicht vervollkommnen; es ist nichts als ein bloßer Schatten« (TTP, Kap. 4, [6], S. 73). 18 Schmid 2011, S. 290. 19 Etwas experimenteller könnte man formulieren: Wie kann ein Ding sich gleichsam ›aus sich heraus wenden bzw. winden‹, eine Bewegung, die N. B. in der causa sui angelegt ist. 17

Das Paradox einer Theorie der Normativität

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Die Risse und Spannungen im Zusammenhang mit dieser Paradoxie ziehen sich durch den ganzen dritten und vierten Teil der Ethica. Sie zeigen sich u. a. zwischen der Perspektive, in der ein Individuum nach seinem Guten strebt, und der Perspektive, in der die Ethica als Ganzes geschrieben ist. Bartuschat konstatiert, »daß derjenige, der die Affekte beschreibt, etwas anderes im Blick hat als derjenige, aus dessen Begehren sie resultieren. Das ist die Konsequenz einer theoretischen Einstellung, die, der Rationalität verpflichtet, einen Zusammenhang begreift, den der Begehrende, der Gegenstand dieser Theorie ist, in dieser Form nicht begreift.« 20 Man kann deshalb das Paradox auch so formulieren, dass für eine Theorie der Normativität etwas angestrebt werden muss, dass gerade gemäß den Grundlagen dieser Theorie nicht angestrebt werden kann. Denn es ist, nochmals Bartuschat, eine »Theorie des Guten [. . .] in Wahrheit normativ, sie enthält eine Vorschrift, im Hinblick auf die eine Orientierung an ihr als gut für den, der sich so orientiert, bestimmt wird. Doch gerade in einem solchen normativen Anspruch kann die Theorie nicht wahr sein, weil sie einer ontologischen Grundbestimmung widerstreitet, nämlich der Struktur des individuellen conatus. [. . .] Denn dieses Ziel [individueller Selbsterhaltung] läßt sich nicht trennen von einer Realisierung, die nichts anderes als der als Aktivität verstandene Vollzug der je eigenen potentia ist, die nur dann eine Aktivität ist, wenn sie sich nicht von einem ihr vorgegebenen Ziel leiten läßt.« 21 Untersuchen wir in E3 und E4 die Verwendungen der normativen Termini ›gut‹ und ›schlecht‹ genauer, so stellen wir tatsächlich erhebliche Bedeutungsverschiebungen fest. Es finden sich sogar Stellen, die sich beinahe wie die oben kritisierten moralphilosophischen Positionen lesen, etwa die »rationis praecepta« und die »rationis dictamina« (4p18s) oder das tugendethische Ziel im Vorwort 4praef, dass »wir eine Idee des Menschen bilden möchten, gleichsam als ein Musterbild [exemplar] der menschlichen Natur, auf das wir hinschauen sollten«. Martin Benson hat beobachtet, dass die verschiedenen Bedeutungen von ›gut‹ in E3 und E4 alle eine Nützlichkeit bezeichnen. Was eigentlich variiere, sei, wie diese Nützlichkeit dann verstanden werde. 22 In den Eingangsdefinitionen von E4 legt Spinoza fest: »Unter gut werde ich das verstehen, wovon wir mit Sicherheit wissen, daß es uns nützlich ist.« (4def1 23) Und entsprechend: »Unter schlecht dagegen werde ich das verstehen, wovon wir mit Sicherheit wissen, daß es uns im Wege steht, in den Besitz von etwas Gutem zu gelangen.« (4def2) Der Aspekt des Wissens wird dann in 4p27 noch stärker betont und Bartuschat 2006, S. 113. Bartuschat 2017b, S. 216. 22 Martin Benson, The role of the body in the varying conceptions of the good in Spinoza’s Ethics, in print. 23 »Per bonum id intelligam quod certo scimus nobis esse utile.« 20 21

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die Nützlichkeit als Erkenntnis selbst qualifiziert: »Nur von dem wissen wir, daß es unbestreitbar gut oder schlecht ist, was wirklich dem Einsehen dient oder uns daran hindern kann einzusehen.« Der Bedeutungswandel von ›gut‹ und ›schlecht‹ geht also mit einem Erkenntniszuwachs einher und kulminiert in Lehrsätzen wie: »Das höchste Gut des Geistes [Summum mentis bonum] ist die Erkenntnis Gottes und die höchste Tugend des Geistes, Gott zu erkennen.« (4p28) Von der anfänglichen Bedeutung von ›gut‹ und ›schlecht‹ aus der Perspektive des Individuums (3p9s) hat sich Spinoza inzwischen deutlich distanziert und eine Perspektive der Allgemeinheit eingenommen, für die das Gute nicht ohne Absehen von unmittelbaren Wünschen realisierbar ist: »Das höchste Gut derer, die den Weg der Tugend gehen, ist allen gemeinsam, und an ihm können sich alle gleichermaßen innerlich erfreuen.« (4p36) Eine solche Bedeutungsverschiebung ist erstaunlich und nach Spinozas eigener Auskunft zunächst gar nicht vorgesehen. In 4praef sagt er im Anschluss an die oben zitierte Stelle zum Musterbild: So »wird es für uns von Vorteil sein, an diesen Wörtern [gut und schlecht] in der genannten Bedeutung festzuhalten [sensu retinere]. Unter gut werde ich daher im folgenden das verstehen, wovon wir mit Sicherheit wissen, daß es ein Mittel ist, dem Musterbild der menschlichen Natur, das wir uns selbst vor Augen halten, näher und näher zu kommen.« Man kann nun die Notwendigkeit zu einer semantischen Verschiebung in E3 und E4 gerade mit der Auflösung der o. g. Paradoxie motivieren. Ausgehend vom conatus-Begriff, der in sich schon eine natürliche Normativität enthält, der aber zugleich auf eine mögliche äußere und weitere Normativität verweist, verändern sich suzkessive die Bedeutungen von ›gut‹ und ›schlecht‹, so dass sie zu den anfänglichen Bedeutungen nicht mehr in Widerspruch stehen. Unterschieden werden dabei auch die jeweiligen Perspektiven derjenigen, die zu früheren oder späteren Entwicklungsständen über ›gut‹ und ›schlecht‹ sprechen. Unterscheidung und Bedeutungsverschiebung sind also auch hier gemäß Kap. 2 die Mittel zur Entparadoxierung. Dieses Vorgehen weist nun auch der Vernunft eine andere Funktion zu, als moralische Normen zu begründen, die hier als zu idealistisch, zu universell und zu abstrakt verworfen wurden. Spinoza selbst deutet den Begriff Vernunft um: »Die Vernunft fordert nichts gegen die Natur; sie fordert deshalb, daß jedermann sich selbst liebt, seinen eigenen Vorteil sucht, also dasjenige, was wirklich nützlich für ihn ist, und nach all dem verlangt, was einen Menschen wirklich zu größerer Vollkommenheit führt.« (4p18s) Ebenso 4p26: »Wonach auch immer wir aus Vernunft streben, ist nichts anderes als einzusehen; und der Geist urteilt, sofern er Vernunft gebraucht, daß nichts anderes für ihn nützlich ist, als was dem Einsehen dient.« Insbesondere lehnt Spinoza ab, so Rölli, wie sich in der Tradition über die Vernunft das »moralisch Gute [. . .] mit einem

Konstruktionen von Normativität

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Transzendenzbezug [konstituierte], sofern Geist und Seele von dem Körperlich-Materiellen abgesondert und in eine exklusive Beziehung zum Göttlichen gesetzt werden«. 24 Durch die Metaphysik – und dies ist eine ihrer Rahmenfunktionen – sind transzendente Bezüge ausgeschlossen und ist das Göttliche auf andere Weise in Spinozas Ethik präsent: in der Handlungsmacht und Wirkfähigkeit jedes einzelnen Individuums, das damit ausgestattet in Kooperation und Koordination mit anderen Individuen treten kann. Wie eine entsprechende Konstruktion gemeinschaftlicher Normativität durchgeführt werden kann, wird im nächsten Abschnitt eruiert.

12.3 Konstruktionen von Normativität: von den notiones communes zum iterativen Tracing-Verfahren

Spinozas Weise, um zwischen individueller und allgemeiner Perspektive zu vermitteln, sind die Gemeinbegriffe (notiones communes). Ein Gemeinbegriff ist beispielsweise das Attribut extensio für zwei Körper oder das Attribut cogitatio für zwei Gedanken oder der conatus für zwei Dinge. Überhaupt sind alle in der Deduktion verwendeten Termini Gemeinbegriffe, d. h., auch Gott, Substanz, Modi usw., und sie sind zugleich adäquate Ideen (vgl. Kap. 11). Dieser Zusammenhang wird in Lehrsatz 2p38 dargelegt: »Merkmale, die allen Dingen gemeinsam sind und die gleichermaßen im Teil wie im Ganzen sind, können nur adäquat begriffen werden.« 25 Diese Formulierung lässt offen, was Teil und Ganzes jeweils sind. Gemeinbegriffe können entsprechend mehr oder weniger umfassend sein und auf verschiedenen Skalen bzw. in verschiedenen Hinsichten gleiche Aspekte von Individuen benennen. Anders als Universalien und Transzendentalien (die das ebenfalls vermöchten) sind sie aber adäquat. Diese Gradualität von Gemeinbegriffen kann nun gleichsam zum Bau von Brücken zwischen Individuen genutzt werden. 26 Sangiacomo formuliert dies so: »Insofar as we are determined by what is common [. . .], we cannot produce Rölli 2018, S. 35. Diese Äquivalenz wird ferner durch den Kontext in 2p40s2 nahegelegt, aus dem hervorgeht, »daß wir Gemeinbegriffe und adäquate Ideen der Eigenschaften von Dingen« haben. Das Konzept der notiones communes kann man auf die stoischen κοινὴ ἕννοια zurückführen, die allen Menschen gemeinsame Vorstellungen bezeichnen. Cicero übersetzt dann κοινὴ ἕννοια mit notiones communes. Bei Cicero sind es vor aller Wahrnehmung gebildete Begriffe, die durch Definitionen geklärt werden können. Sie umfassen aber auch Dinge wie Eigentumsrecht oder Blutsverwandschaft. Vgl. www.schwabeonline.ch, Eintrag ›notiones communes‹, abgerufen am 03.01.2019. 26 Die notiones communes sind die einzigen nicht-nominalistischen Elemente in Spinozas Philosophie. Mit ihnen vertrete Spinoza aber, so Michael Hampe, einen anthropologischen Essentialismus, den es heute schwerfällt zu akzeptieren, Hampe 2010, S. 47. 24 25

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anything different from what would follow from our own nature alone or that could not be understood through it.« 27 Mit Spinoza kann man einen solchen Prozess auch als fähiger oder geschickter werden bezeichnen: »Hieraus folgt, daß der Geist um so fähiger [aptior] ist, vieles adäquat zu erfassen, je mehr sein Körper mit anderen Körpern gemein [communia] hat.« (2p39c) Ein Beispiel dafür ist die im vorigen Abschnitt erläuterte ›Verallgemeinerung‹ der Begriffe gut und schlecht von der Ausgangsnorm eines individuellen conatus hin zum »höchsten Gut« (4p28), das für jedermann im Prinzip erkennbar und insofern ›gemein‹ sein muss. Erst dieser spätere bzw. erworbene Begriff von ›gut‹ ist eine notio communis. 28 Dies legt nahe, dass ›gut‹ und ›schlecht‹ zunächst nominalistische Zuschreibungen sind, wie auch Spinoza in 4praef andeutet: »Was gut und schlecht betrifft, so zeigen auch diese Ausdrücke nichts Positives in Dingen an [in rebus . . .indicant], wenigstens wenn diese in sich selbst betrachtet werden; sie sind nichts anderes als Modi des Denkens, d. h. Begriffe, die wir bilden, weil wir Dinge miteinander vergleichen.« 29 Dann aber sagen sie nichts über eine Qualität eines Dinges an sich. Und so entstehen auch Wertschätzungen von Dingen nur in Bezug auf sie gebrauchende Menschen (1app): »Nachdem Menschen sich eingeredet hatten, dass alles, was geschieht, ihretwegen geschieht, mussten sie in jedem Ding das für das Vorzüglichste halten, was ihnen am nützlichsten ist, und all die Dinge als die wertvollsten einschätzen, von denen sie in erfreulichster Weise affiziert wurden. Daher mussten sie diese Begriffe bilden, mit denen sie die Natur von Dingen erklärten: gut, schlecht, Ordnung, Verwirrung, warm, kalt, Schönheit und Hässlichkeit.« Ganz im Sinne dessen, was später ›Genealogie‹ heißen wird (vgl. dazu auch Kap. 3 und 11), werden also wertende, mithin auch moralische Begriffe auf Interessen der Selbsterhaltung und Machtentfaltung zurückgeführt, sofern sie stets in Relation zu einem Streben stehen oder, wie gesehen, aus einer bedürfnisorientierten Perspektive von Sangiacomo 2015, S. 537. Mit dem Konzept der notiones communes steht Spinoza zwischen Hobbes und Leibniz. Während Leibniz von einer prästabilierten Harmonie ausgeht, stellt Hobbes ein prinzipielles Einvernehmen unter Individuen in Abrede. Zwischen diesen Extremen sucht Spinoza durch die notiones communes Brücken zu schlagen, wobei auch das weitergehende soziale und politische Problem der Macht nicht durch Repression, sondern durch Koordination und Kooperation angegangen wird. 29 Eine ähnliche Feststellung trifft er schon im TIE: »Nachdem die Erfahrung mich gelehrt hat, [. . .] daß alles, vor dem ich mich fürchtete und das ich fürchtete, nicht etwas Gutes oder Schlechtes in sich selbst enthielt, sondern nur insofern, als das Gemüt davon bewegt wurde, so beschloß ich endlich zu erforschen, ob es irgendetwas gäbe, das ein wahre Gut sei«. (TIE I, [1], S. 7) Formal kann man die Relativität wie folgt darstellen: »In general, therefore, it can be claimed that X is good, if and only if, there exists a Y whose conatus is increased because of X. Therefore, for Spinoza, the claim that X is good does not connote in X in and of itself but rather its relation to Y, i. e., X being the cause for the increase of Y’s conatus.« Jobani 2016, S. 109. 27 28

Konstruktionen von Normativität

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Individuen herausprojiziert werden. 30 Damit soll nur ein weiteres Mal verdeutlicht werden, dass ethische Normen bei Spinoza nichts mit universalistischen, idealistischen und abstrakten Gesetzen der Moralphilosphie zu tun haben, also auch nicht ›top-down‹ dekretiert werden können, sondern ›bottom-up‹ konstruiert werden müssen. Eine weitere Möglichkeit der Konstruktion von Normativität hat Martin Lenz vorgeschlagen, der dazu das Zusammenspiel von zwei nicht-normativen Reihen betrachtet und daraus eine »natürliche Normativität« ableitet. »As parts of nature, human beings underlie the mechanistic laws of nature, while their mental and physical behaviour is explicable in terms of their individual law, namely the conatus.« 31 Zum einen gibt es eine Ordnung der Dinge in der Natur, zum anderen eine Ordnung im menschlichen Geist bzw. Körper, die zwar ebenfalls natürlich und kausal ist, deren Verknüpfungsmuster sich aber nicht mit der Ordnung der Dinge decken müssen. »Taken in themselves, both kinds of laws, that is: the mechanical and individual law of the conatus, are necessary, so neither carries normative force. It is when these laws are looked at in conjunction that normative pressure arises. There is nothing normative about living in a mechanistic universe as such. But if I actually want to survive in that universe, then there are things that I ought or have to do.« 32 Normativität kann also durch das Zusammentreffen zweier nicht-normativer Ordnungen entstehen. »The natural normativity of ideas is established by the fact that they can cohere or fail to cohere in accordance with our essence as it is located within the order of nature.« 33

Dabei erstrebt der Mensch geleitet von der Vorstellung »dasjenige, von dem er bloß meint, daß es der Selbsterhaltung dienlich sei.« Bartuschat 2006, S. 111. 31 Lenz 2013, S. 40. Lenz bezieht sich dabei auf TP II 8. 32 Ebd., S. 40. 33 Ebd., S. 48. Mit diesem Vorschlag nimmt Lenz auch Spinoza gegen Brandom in Schutz, der bemängelt hatte, dass bei Spinoza ein plausibles Konzept von Normativität fehle. Wie Lenz zeigt, ist Normativität bei Spinoza wohl möglich, aber nicht als primär soziale, sondern eben als natürliche. Auf einen ähnlichen Unterschied zwischen Ordnungen weist Spinoza N. B. im TTP hin: »Der Ausdruck Gesetz, in absoluter Bedeutung betrachtet, bezeichnet das, dem gemäß jedes Individuum (sei es jedes überhaupt oder nur eine bestimmte Anzahl derselben Art) auf ein und dieselbe wohlbestimmte Weise handelt, die entweder von der Notwendigkeit der Natur oder von der Entscheidung der Menschen abhängt. Das Gesetz, das von der Notwendigkeit der Natur abhängt, ist dasjenige, das aus der Natur der Sache selbst, d. h. aus ihrer Definition, notwendigerweise folgt; das Gesetz, das von der Entscheidung der Menschen abhängt und zutreffender Rechtsgesetz heißt, ist dasjenige, das die Menschen zur größeren Sicherheit und Bequemlichkeit des Lebens oder auch aus anderen Gründen sich und anderen vorschreiben.« (TTP, Kap. 4, [1], S. 67, Hvg. Vf.) 30

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Iteratives Tracing-Verfahren

Schließlich soll ein eigener Vorschlag in die Diskussion eingebracht werden. Er beruht auf einem Orientierungsverfahren, das Descartes in seinem Discours de la Méthode schildert: Wanderer, die sich in einem Wald verirrt haben, fänden den Ausweg am besten, indem sie »weder umherirren und sich mal in die eine Richtung und mal in eine andere drehen, noch an einem Platz stehenbleiben dürfen, sondern immer ganz geradeaus in dieselbe Richtung voranschreiten müssen, soweit sie es können, und diese Richtung keineswegs aus schwachen Gründen ändern dürfen, obgleich es zu Beginn vielleicht nur der bloße Zufall gewesen ist, der sie hatte entscheiden lassen, ihn zu erwählen.« 34 Übertragen wir dieses Verfahren auf unser Problem, Normativität graduell zu konstruieren. Die Analogie dabei ist, dass eine feste Norm als Ziel unbekannt ist und man sich erst schrittweise einen Weg bahnen muss. Brechen wir dazu das cartesische Verfahren auf viele kleine Teilstücke dieses Wegs herunter. Es sei durch den conatus ein Anfangszustand und eine Anfangsrichtung gegeben. Von dieser Vorgabe kann ein Individuum geringfügig abweichen, indem seine imaginatio einen leicht veränderten Zustand vorstellt. Mit diesem neuen Zustand gehen zwar zunächst inadäquate Ideen einher, die aber dennoch eine gewisse Wirksamkeit auf andere Ideen haben können (vgl. Kap. 11). Je weiter der vorgestellte Zustand vom tatsächlichen bzw. aktualen entfernt ist, desto ›kraftloser‹ sind diese Ideen. Dennoch hat man sich in diesem Bild dadurch ein Stück weit neben die eigene Trajektorie versetzt und kann sich dort einen neuen Ausgangspunkt verschaffen, von dem aus der ganze Vorgang iteriert wird. Stets ist man dabei getrieben durch den jeweiligen conatus, nie aber gezogen durch eine ferne, vorgegebene Norm. Ein derartiges ›iteratives Tracing-Verfahren‹ ist seinerseits paradox, da der conatus ja gerade die Tendenz ist, im einmal eingenommenen Zustand zu verharren, und sich die imaginatio nicht beliebig lösen kann. Man ist immer wieder vor das Paradox gestellt, wie man sich ›versetzen‹ kann, ohne sich eigentlich versetzen zu können bzw. handlungstheoretisch gesprochen, wie man etwas an seiner Situation ändern kann, ohne sie ändern zu können, oder nochmals anders: Wie man handelt durch Nicht-Handeln. 35 Eine Auflösung des Paradoxes wäre eine infinitesimale Bewegung (wie bei Zenos Pfeil). Jedenfalls scheint dieses Gedankenexperiment eine lebenspraktische Bestätigung zu haben, wie die eigene Anfangs-Norm sukzessive verschoben werden und sich dabei auch derjenigen anderer Individuen annähern kann. Descartes 2011, Dritter Abschnitt, S. 43 u. 45. Letztere Formulierung ist ein bekanntes buddhistisches Paradox. In der Physik würde man hier von einer ›virtuellen Verrückung‹ sprechen, wie sie etwa im d’Alembert’schen Prinzip zur Anwendung kommt, wenn die ›Zwangskräfte‹ keine ›virtuelle Arbeit‹ leisten. 34 35

Konstruktionen von Normativität

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Normativität als Diagnostik?

Die hier diskutierten Möglichkeiten, Normativität in ihrer Entstehung zu verstehen, werfen ein anderes Licht auf den Begriff der Norm, der wie in der kantischen Gerechtigkeitsethik oft als überzeitlich und absolut genommen wird. Und vielleicht haben Normen bei Spinoza noch eine ganz andere Funktion, als Handlungen irgendwie anzuleiten. Dahingehend hat sie Michael LeBuffe gedeutet. Le Buffe unterscheidet drei Typen von normativer Rede in der Ethica: »Universal Prescriptions for Resisting Passion«, »Norms for Agents Insofar as They Are Rational« und »Norms for Agents Insofar as They Are Irrational«. 36 Entgegen dem Anschein seien diese Normen nicht Handlungsanweisungen, sondern Diagnosen. Sie zeigten Individuen, wo sie stehen bzw. wie es um sie steht. »In order to use norms for the rational and norms for the irrational as guidelines for action, then, agents must understand a number of facts about themselves and their circumstances that can be difficult to discover. [. . .] The free man propositions, I shall argue, address just this problem. Together with many other propositions of Part IV of the Ethics, Spinoza's account of the free man is primarily diagnostic rather than normative. That is, rather than standing itself as a guideline for action, it helps agents to understand when they are not free and so to know also which norms to follow.« 37 Ähnlich hat Katrin Wille die Frage betrachtet: »The insights that can be gained by way of the ratio are nonetheless not only of an explanatory and diagnostic type. General guidelines for improvement can also be attained via this comprehension (dictamina, E IV, P62; praecepta, E IV, P18S), for example general life rules (E IV, P46), which are treated in the fifth book: hate is ›to be conquered by love, or nobility; not by repaying it with hate in return‹ (E V, P10S). Such guidelines are abstract as they are not intrinsically effective: they are followed sometimes and at other times not.« 38 Sowohl Le Buffe als auch Wille zeigen, dass es verschiedene Arten von Normen und verschiedene Adressaten gibt und Spinoza auch deshalb keinen Werteuniversalismus vertritt. Die Normen in der Ethica werden einerseits auf paradoxe Weise aus metaphysischen Grundbegriffen wie dem conatus konstruiert – und sind damit zeitgebunden – und andererseits sind diese metaphysischen Grundbegriffe Antworten auf wiederum ethische Problemlagen im weitesten Sinne – und sind damit ihrerseits zeitgebunden.

36 37 38

LeBuffe 2007, S. 373. Ebd., S. 374. Hvg. Vf. Wille 2020, S. 201.

Freiheit und das Problem von Normativität

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12.4 Das Paradox von Freiheit und Notwendigkeit

Was bedeutet diese paradoxe Ausgangslage nun für einen der wichtigsten Begriffe der Ethik: Freiheit? Freiheit ist sowohl in praktischer Hinsicht ein erstrebenswertes Gut als auch in theoretischer Hinsicht eine Voraussetzung, um überhaupt normative Forderungen erheben zu können. Denn wenn jemand unfrei ist, eine Kausalkette zu beginnen (wie es Kant formuliert hat), scheint es auch nicht sinnvoll zu sein, einen moralischen Anspruch zu stellen. Dies wurde oft deterministischen oder nezessitaristischen Positionen vorgehalten und in den meta-ethischen Debatten des 20. Jahrhunderts als Problem des Kompatibilismus diskutiert. Der Kompatibilismus hält Notwendigkeit und Freiheit für vereinbar, sofern die Freiheitsfrage nicht an der Unterscheidung von Determinismus und Indeterminismus hänge: Auch in einer deterministischen Welt ließe sich sinnvoll von freien Individuen sprechen, sofern sie Dinge tun können, die anderen Individuen (z. B. aufgrund äußerer Umstände) versagt seien. Das klassische Argument gegen den Kompatibilismus ist das sogenannte Konsequenzargument: Wenn alle Ereignisse notwendige naturgesetzliche Konsequenzen des Vergangenen sind und niemand eine Wahl hat, die Vergangenheit oder die Naturgesetze zu ändern, dann sind auch alle künftigen Ereignisse vollständig bestimmt. 39 So konstatiert auch Bennett: »The strongest pressure on Spinoza to allow that at least some propositions are contingent comes simply from its being hard to do good philosophy while staying faithful to the thesis that this is the only possible world.« 40 Einen bloßen Nezessitarismus hat Kant ironisch als die »Freiheit eines Bratenwenders« bezeichnet. 41 Wenn Freiheit als Wahlfreiheit bei Spinoza nicht in Frage kommt, aber ein nackter Nezessitarismus ebenfalls unbefriedigend ist, wie können wir dann seinem Freiheitsbegriff gewisse Spielräume abgewinnen? Die Definition lautet zunächst: »Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird; notwendig oder eher gezwungen dagegen dasjenige, das von einem anderen bestimmt wird, auf bestimmte und geregelte Weise zu existieren und etwas zu

Prominent wurde das Konsequenzargument durch Peter Van Inwagen vertreten. Bennett 1984, S. 114. So wäre mitunter jede Eigenschaft an einem Ding notwendig und würde zu seiner Essenz gehören. Der Begriff Essenz wäre dann sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht nicht mehr besonders interessant. 41 »[W]enn die Freiheit unseres Willens keine andere als die letztere (etwa die psychologische und komparative, nicht transzendentale, d. i. absolute zugleich) wäre, so würde sie im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet.« Kant 2014, A 174, S. 222. 39 40

Das Paradox von Freiheit und Notwendigkeit

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bewirken.« (1def7 42) Demnach wird Freiheit als eine Form von Notwendigkeit, nämlich die Notwendigkeit der eigenen Natur, bestimmt. Fast dieselbe Formulierung verwendet Spinoza auch in Ep. 58 an Schuller: »Ich nenne also ein Ding frei, wenn es nur aus der Notwendigkeit seiner Natur existiert und handelt; gezwungen aber, wenn es von einem andren Dinge bestimmt wird, in einer gewissen bestimmten Weise zu existieren und zu handeln.« Erläuternd fügt er hinzu: »Sie sehen also, daß ich die Freiheit nicht in den freien Willen, sondern in die freie Notwendigkeit setze.« Diese Wendung hebt die Paradoxie im Freiheitsbegriff hervor, der sich damit selbst die Grundlagen zu entziehen scheint. Spinozas Ethik steht damit in der größtmöglichen Spannung, wie es Michael Hampe formuliert: »How could he [Spinoza] simultaneously regard humans as entirely part of a purposeless and deterministically perceived nature and as beings who could achieve happiness or salvation in the traditional sense by means of philosophical examination [. . .]?« 43 Untersuchen wir also die gegebene Freiheitsdefinition genauer. Wie oben angeführt, beginnt sie mit: »Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert«, was gerade der paradoxen (aber entparadoxierbaren) causa sui entspricht. Ein solcher Freiheitsbegriff kann im strengen Sinn nur auf Gott zutreffen, und so sagt Spinoza auch in 1p17c2, »daß allein Gott eine freie Ursache ist. Allein Gott existiert nämlich aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur (nach Lehrsatz 11 und Folgesatz 1 zu Lehrsatz 14) [. . .]. Mithin ist (nach Definition 7) allein er eine freie Ursache.« Die Definition 1def7 wird fortgesetzt mit: ». . .und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird.« Hier tritt nun das Verb agere auf, das u. a. in 3def2 für den Handlungsbegriff verwendet wurde. Und auch der Handlungsbegriff war ja paradox, konnte aber durch die Gradualität von Aktivität und Einsicht entparadoxiert werden (vgl. Kap. 11). Diese Gradualität soll uns auch hier weiterhelfen. Denn für Menschen, die endliche Wesen sind, kann ein Freiheitsbegriff im Sinne der causa sui nicht zutreffen. Darauf hat auch Sangiacomo hingewiesen: »Should we assume a strict definition of activity by pretending that ›acting as determined by one's own nature alone‹ excludes any intervention of external determinations, we would not be able to find any respect in which things are properly active.« 44 Neben der positiven Charakterisierung von Freiheit durch causa-sui-Sein und agere gibt der zweite Teil von 1def7 eine negative: ». . .notwendig oder eher »Ea res libera dicitur, quae ex sola suae naturae necessitate existit et a se sola ad agendum determinatur; necessaria autem vel potius coacta, quae ab alio determinatur ad existendum et operandum certa ac determinata ratione.« Der Terminus liberum kommt in E1 eher selten vor, nämlich in 1p17c2, 1p17s, 1p32, 1p32c1&2, 1p29s und 1p33s2, meist im Zusammenhang mit voluntas. 43 Hampe 2010, S. 37 f. 44 Sangiacomo 2015, S. 516 f. 42

Freiheit und das Problem von Normativität

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gezwungen [heißt] dagegen dasjenige, das von einem anderen bestimmt wird, auf bestimmte und geregelte Weise zu existieren und etwas zu bewirken [ad . . .operandum].« Für diesen negativen Aspekt verwendet Spinoza nicht agere, sondern operari, wie in den allgemeinen metaphysischen Lehrsätzen 1p26-29 für Modi auch. Wie kann man nun mit dem Paradox von Freiheit und Notwendigkeit umgehen, das sich mit 1def7 stellt? Eine Möglichkeit wäre, wie zuvor bei der Theorie der Normativität mit verschiedenen Perspektiven zu arbeiten. So hat Bartuschat vorgeschlagen, zwischen einer Perspektive ›an sich‹ und einer Perspektive ›für uns‹ zu unterscheiden. ›Für uns‹ ist die gesamte Kausalität, in die wir als Modi eingebunden sind, nicht zu erschließen, und so erscheint »die Weise des Erleidens nicht notwendig, und deshalb ist das Ding nicht nur Teil eines Ganzen, durch das es schon mit Notwendigkeit bestimmt wäre. Denn die Wirkungen der singulären Essenz sind Wirkungen in der Zeit und stehen somit in einem Zusammenhang, der nicht einer Notwendigkeit unterliegt, die aus dem Absoluten resultiert.« 45 Damit würde Kontingenz ›für uns‹ erklärbar, verschwände aber ›an sich‹. Und solange wir die wirklichen Verhältnisse nicht kennen, können wir uns für frei halten. Eine solche Lösung hätte aber etwas Unbefriedigendes, wie Perler bemerkt: »Wenn an sich schon feststeht, welche Ereignisse eintreffen werden, und wenn Kontingenz nur eine epistemische Kategorie ist, wie Spinoza unmißverständlich betont, können wir uns noch so viele Handlungsszenarien überlegen, dies wird keinen Einfluß darauf haben, wie die Welt sich verhalten wird.« 46 Statt verschiedene Perspektiven könnte man hier die Gradualität der Ausdrucksbeziehung in Anschlag bringen, die ja aus der causa sui hervorgegangen war (vgl. Kap. 4). Freisein läuft für Individuen dann darauf hinaus, dass die jeweilige Existenz die eigene Essenz ausdrückt. Vollumfänglich ist dies nur bei Gott der Fall, bei Individuen kann aber ein solcher Ausdruck zumindest partiell gelingen. Eingeschränkt ist er, sofern in einem bestimmten Affekt oder einer bestimmten Handlung auch andere Essenzen mitausgedrückt werden. Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Parallelität von Freiheitsund Handlungsbegriff. Nach 3def2 handeln wir dann, »wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind«. Somit ist Freiheit auch bei Spinoza ein wesentliches Charakteristikum von Handlungen. Das liegt daran, dass er gegenüber Positionen, die eine Wahlfreiheit vertreBartuschat 2017a, S. 117. Perler 2006, S. 76. Auch Schmid meint, »dass es aufgrund von Spinozas Nezessitarismus keine metaphysischen, sondern lediglich epistemische Möglichkeiten gibt (die sich daraus ergeben, dass wir von gewissen bestimmenden Ursachen abstrahieren oder diese nicht kennen; [. . .])«. Schmid 2011, S. 297, Fussnote 114. 45 46

Das Paradox von Freiheit und Notwendigkeit

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ten und Handlungen als absichtsvoll ansehen, sowohl den Freiheits- als auch den Handlungsbegriff ›umgepolt‹ hat. 47 Und ebenso wie Handlungen graduell sind und je mehr etwas eine Handlung ist, desto mehr sie aus der eigenen Natur und mit Einsicht erfolgt, so muss auch ein entsprechender Freiheitsbegriff graduell sein. Diese Gradualität löst das Paradox von Freiheit und Notwendigkeit also zumindest teilweise. Freiheit dient jedenfalls bei Spinoza nicht dazu – und damit schließt sich der Bogen zum Anfang dieses Abschnitts –, über die Möglichkeit zu verfügen, normativen Ansprüchen gerecht zu werden, sondern um etwas von sich ausdrücken zu können. Dass dies, entgegen dem ersten Anschein, kein egoistisches oder solipsistisches Verhalten ist, sondern in Übereinstimmung mit anderen Individuen geschehen kann und auch insofern ›ethisch‹ ist, soll der nächste Punkt zeigen.

Potentia agendi

In einer ›essentialistischen‹ Lesart der Ethica würde man die Essenz oder Natur eines Individuums als etwas Eigentliches auffassen, dessen vollständiger Ausdruck dann das Ziel sein müsste. Dass die Verhältnisse jedoch komplizierter liegen, zeigten schon die Paradoxien im Zusammenhang mit dem conatus, der ja diese Essenz ist (vgl. 3p7 und Kap. 9). Von diesen Paradoxien ist hier insbesondere diejenige der Individuation wichtig, nach der ein Körper nicht unabhängig von anderen Körpern bestimmt werden kann. In der essentialistischen Lesart stünden der Eigenheit eines Dings nun andere Dinge vor allem als Bedrohungen gegenüber. Die Tendenz zur Verharrung im jeweiligen Sein gälte dann v. a. der Abwehr möglicher Zerstörungen durch äußere Einflüsse. Gerade umgekehrt aber könnten andere Dinge auch die eigene Wirkfähigkeit befördern. Darauf hat mit Nachdruck Sangiacomo hingewiesen: »I argue that Spinoza does not conceive of external determinations as a threat to the causal activity of finite things, but rather as what specifies how and to what extent each thing brings about its own effects.« 48 Entsprechend deutet er auch 1p28, den Lehrsatz über die kausale Vernetztheit aller Dinge, nicht als Beschränkung, sondern als Möglichkeit zur Beförderung: »E1p28, far from denying the thing's So markiert »die handlungsteleologische Rede nicht den Unterschied zwischen freien und nicht-freien Handlungen«. Schmid 2011, S. 231. Schmid beschreibt dies so, dass die Intension des gewöhnlichen und des spinozanischen Handlungsbegriffes (welche Art von Aktionen damit gemeint ist, nämlich solche, die aus der eigenen Natur folgen) dieselbe ist, dass aber die Extension (die Dinge, die als frei bezeichnet werden) verschieden ist. Vgl. Schmid 2011, S. 250. 48 Sangiacomo 2015, S. 516. 47

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activity, provides a general ontological basis for the fact that external determination can increase the thing's power of acting.« 49 Power of acting oder potentia agendi ist ein weiteres wichtiges Konzept in der Ethica, das direkt im Zusammenhang mit der Machtonotologie steht (vgl. Kap. 8) und im Deutschen mit ›Wirkungsmacht‹ oder ›Handlungsfähigkeit‹ übersetzt wird. Der conatus stellt zunächst eine intrinsische Größe dar, die jedem Ding eigen ist: »the thing's conatus«, so Sangiacomo, »does not depend on external causes and is defined only on the basis of the constitutive features of the thing itself.« 50 Folglich muss jede Änderung des jeweiligen Zustands von außen herbeigeführt werden, insbesondere auch die Wirkungen, die ein Ding effektiv leistet: »Although every thing always strives to bring about those effects that follow from its own nature, the thing's capability to actually bring about these effects depends on the way in which external causes determine it.« 51 Effektive Wirkungen sind dann eine Resultante aus Eigenwirksamkeit und Fremdwirksamkeit und diese Resultante wird mit dem Konzept der potentia agendi fassbar. »While the thing's conatus expresses what the thing can do ›as far as it can by its own power‹, the ›power of acting‹ expresses the thing's conatus insofar as it is determined by external causes that aid or restrain it.« 52 Explizit hält Spinoza in 4p5 fest: »Die Kraft und das Anwachsen eines jeden Erleidens und dessen Beharrlichkeit wird nicht von der Macht her definiert, mit der wir im Existieren zu verharren streben, sondern von der Macht einer äußeren Ursache her, die mit unserer auf einer Stufe steht.« So lässt sich mit dem Konzept der potentia agendi beschreiben, wie die eigene Aktivität verstärkt und in Resonanz mit der Umgebung gebracht werden kann. Diese Überlegungen zur potentia agendi haben auch eine direkte Konsequenz für das Paradox von Freiheit und Notwendigkeit. Denn wenn der conatus als Essenz ohnehin nur in Überlagerungen mit anderen conatus erfahrbar ist, kann man auch unbeschadet von einem essentialistischen Freiheitsbegriff abrücken, bei dem es einzig um den Ausdruck der eigenen Natur geht. Vielmehr ist man auch in Bezug auf seine Freiheit auf Suchbewegungen verwiesen, wie beim iterativen Tracing-Verfahren. Individuen müssen herausfinden, welche Einflüsse und Umstände für sie förderlich sind und welche nicht. In diesem experimentellen Prozess ist die Frage, ob man prinzipiell frei oder determiniert ist, sekundär. 53 Als Theoriegebäude schwankt die Ethica so zwischen einem Ebd., S. 537. Ebd., S. 530. 51 Ebd., S. 538. 52 Ebd., S. 530. 53 Es ist aber zu betonen, dass ein solcher Entwicklungsprozess für Spinoza nicht ein behaviouristisches Trial-and-Error-Verfahren ist. Denn Erkennen und Handeln erfolgen nach Kap. 10 parallel, 49 50

Das Paradox von Freiheit und Notwendigkeit

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Essentialismus, nach dem ein ›Selbst‹ vorgegeben und nur zu finden ist, und einem Nominalismus, nach dem dieses ›Selbst‹ erst zu erfinden ist. 54

Résumé

In diesem Kapitel wurde Spinozas Ethik (nun im engeren Sinne) mit anderen Ethiken wie denjenigen von Aristoteles und Kant kontrastiert und dadurch konturiert. Spinozas grundlegende Beobachtung im Bezug auf menschliche Wertschätzungen ist, wie schon bei Hobbes und später bei Nietzsche, dass man nicht etwas begehrt, weil es gut ist, sondern etwas für gut hält, weil man es begehrt. Mit dieser Umkehrfigur bringt Spinoza das praktische Problem des Normenfolgens auf den Tisch, d. h., dass abstrakte, idealistische und universalistische Normen kaum je befolgt werden können. Stattdessen ist eine Ethik zunächst im individuellen Streben zu verankern, also dem conatus. In einem ethischen Kontext stellt sich dabei das Paradox, wie dann eine über das einzelne Bedürfnis hinausgehende Normativität konstruiert werden kann, die ja gerade aufgrund des conatus ausgeschlossen zu sein scheint. Um mit diesem Paradox umzugehen, wurden verschiedene Wege vorgeschlagen wie die notiones communes und ein iteratives Tracing-Verfahren. Schließlich wurde Spinozas FreiHandeln ist nach Kap. 11 ein Ausdruck der eigenen Natur und Freiheit ist nach diesem Kap. 12 ebenfalls parallel zum Handeln. 54 Potentia agendi ist wie Macht einer der Begriffe, die Spinoza nicht eigens definiert, die sich also nur aus gewissen Kontexten erschließen lassen. In E1 kommt potentia agendi nie, in E2 nur in 2p7c vor: »Hinc sequitur quod Dei cogitandi potentia aequalis est ipsius actuali agendi potentiae.« Ein wichtiger Kontext dafür ist die cartesische Physik, die sich mit einem ähnlichen Problem von Eigen- und Fremdanteil bei Stößen von Körpern zu befassen hatte. Spinoza nahm Decartes’ Lösung zunächst in den PPC auf und verallgemeinerte sie dann in der Ethica für komplexe und auch lebendige Körper. Im Zuge dieser Verallgemeinerung ersetzt er die cartesischen Begriffe vis motus und vis determinationis durch conatus und potentia agendi. Sangiacomo, der diese Verbindung hergestellt hat, schreibt dazu: »The notion of ›power of acting‹ works in the same way [as formerly the notion of ›force of determination‹, Vf.] and addresses the same problem of interaction among things that are contrary only to some degree.« Vgl. Sangiacomo 2015, S. 533. Im Setting von Descartes bewegen sich im einfachsten Fall zwei Körper auf gerader Linie aufeinander zu. Von derart aufeinanderprallenden Körpern kann man sagen, dass sie einander gänzlich entgegengesetzt sind. Treffen sie hingegen in einem Einfallswinkel aufeinander auf, sind sie nur teilweise entgegengesetzt. Den beiden geometrischen Komponenten im Kräfteparallelogramm ordnet Descartes die dynamischen Bezeichnungen vis motus und vis determinationis zu. Vis motus ist die Bewegungskraft eines Körpers von sich aus und kann als Produkt von Größe und Geschwindigkeit als Vorläufer des Impulses gelten. Mit vis determinationis hingegen wird eine Relation zu anderen Körpern gedacht: »force of determination is not defined by the nature of the body alone (as force of motion is), but rather by the degree of contrariety among the motions of the impacting bodies.« Ebd., S. 527. Je größer der Einfallswinkel, desto weniger entgegengesetzt sind die Körper und desto geringer fällt der äußere Einfluss auf die eigene Bewegung aus.

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Freiheit und das Problem von Normativität

heitsbegriff untersucht, der – ebenfalls paradox – eine Form von Notwendigkeit ist. Freiheit kann aber von Menschen graduell errungen werden, indem sie in Handlungen ihr Wesen so weit wie möglich ausdrücken. Dies bedeutet keine Abkopplung von anderen Individuen oder ein Sich-Herausnehmen aus Kausal- und Ereigniszusammenhängen (wie eine Wahlfreiheit suggerieren würde), sondern vielmehr das Eingehen von Kooperationen mit anderen Individuen, die die je eigene Handlungsmacht (potentia agendi) befördern. Man wird frei, indem man handelt bzw. aktiv ist, wobei diese Aktivität letztlich immer auf die Macht Gottes zurückgeht, an der alle Individuen ›teilhaben‹. 55

55 Diese direkte Teilhabe und der Verzicht auf eine Vermittlung durch Instanzen ist vielleicht auch ein reformatorischer Aspekt in Spinozas Philosophie.

13 Affekte, Ausdruck und Symptom

13.1 Analyse von Affekten

Wenn eine Ethik derart von Individuen abhängt, dass ihre Begehren unhintergehbar sind und nicht durch moralische Idealisierungen und Universalisierungen übergangen werden können, so muss für das Gelingen dieser Ethik alles auf das Verständnis jener Begehren ankommen. Deshalb räumt Spinoza der Behandlung von Affekten in der Ethica so viel Platz ein. Nicht weniger als 44 Lehrsätze des dritten Teils befassen sich auf die eine oder andere Art mit Affekten oder Mechanismen der Affektbildung. Viele dieser Affekte sind Kombinationen des conatus mit bestimmten Vorstellungen (imaginatio) und damit spezifische Weisen, wie sich ein Begehren oder ein Streben ›emotional‹ manifestiert. Am Ende von E3 werden die von Spinoza thematisierten Affekte unter dem Titel »Definitionen der Affekte« noch einmal mit Kurzcharakterisierungen versehen und aufgelistet. Diese Liste stimmt im Großen und Ganzen mit derjenigen von Descartes in seinen Passions de l'âme überein. Obwohl bei dieser Übersicht eine Typisierung von Affekten erfolgt, steht Spinoza auch in dieser Hinsicht einem Nominalismus nahe: Genau besehen gibt es für ihn nicht ›die Freude‹, ›die Trauer‹ oder ›den Hass‹, sondern nur Abstufungen von Freude, Trauer und Hass, wie er in 4p33dem expliziert: »Das macht es, daß es von jedem Affekt so viele Arten gibt, wie es Arten von Gegenständen gibt, von denen wir affiziert werden.« Was aber ist überhaupt ein Affekt? »Unter Affekt verstehe ich Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen.« (3def3 1) Damit sind Affekte für Spinoza nicht nur ›Emotionen‹, ›Gefühle‹ oder ›Stimmungen‹, wie der heutige Sprachgebrauch nahelegt, sondern ebenso wie die zuvor diskutierten Termini Wille, Handlung und Freiheit ontologische Größen bzw. Entitäten, die direkt vom Machtbegriff her gedacht sind, wie auch die Anbindung an die potentia agendi unmissverständlich klar macht. So sind Affekte als Affektionen im Grunde Modifikationen der Substanz. Dieser »Per affectum intelligo corporis affectiones quibus ipsius corporis agendi potentia augetur vel minuitur, juvatur vel coercetur et simul harum affectionum ideas.«) Dabei verwendet Spinoza einen Term als definiens, eben potentia agendi, der selbst gar nicht definiert ist. Vgl. dazu die alternative Plausibilisierung in Kap. 12. 1

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Affekte, Ausdruck und Symptom

Doppelcharakter, substanzielle Herkunft und phänomenologische Plausibilität, macht gerade eine Verbindung von Metaphysik und Ethik möglich. Zudem sind Affekte sowohl geistige als auch körperliche Vorgänge und fügen sich damit in den Parallelismus von Erkennen und Handeln. Anschließend an die o. g. Liste der Affekte gibt Spinoza noch eine alternative »Allgemeine Definition der Affekte«: »Ein Affekt, der eine Leidenschaft des Gemüts genannt wird, ist eine verworrene Idee, mit der der Geist von seinem Körper oder irgendeinem seiner Teile eine größere oder geringere Kraft des Existierens [existendi vim] als vorher bejaht.« Auch hier stehen Affekte in unmittelbarem Zusammenhang mit Macht oder Kraft (vis existendi), deren Änderungen sie anzeigen. Beide Bestimmungen legen nun nahe, Affekte gleichsam als Sensorium für die eigene Befindlichkeit in einem ›Machtfeld‹ aufzufassen. Passive Affekte wie Geringschätzung, Hass oder Verzweiflung zeigen beispielsweise an, dass jemand in seinen Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten im jeweiligen Umfeld beschränkt ist. Aktive Affekte dagegen wie Freude oder Liebe weisen daraufhin, dass man sich in einer günstigen Umgebung befindet, in der die eigenen Fähigkeiten entfaltet werden können. So verstanden sind Affekte eine Art ›Wegweiser zum eigenen Wesen‹ (vgl. das iterative Tracing-Verfahren in Kap. 12), das nicht an sich bekannt ist, sondern sich nur auf bestimmte Weisen ausdrückt oder manifestiert. 2 Dieser paradoxe Suchprozess findet sich auch in vielen östlichen und westlichen Weisheitslehren. Pindars berühmter Imperativ: ›Werde, der du bist!‹, der dann von Nietzsche in Ecce homo aufgenommen wurde, ist ebenfalls eine paradoxe Wendung, denn man kann nicht werden, was man schon ist. Das Paradoxe liegt hier wiederum am Einschluss der Zeit. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass Affekte als wertvolle Erkenntnisinstrumente zu analysieren und nicht zu pathologisieren oder zu unterdrücken sind. Besonders beachtenswert sind dabei folgende Punkte: i) Als erstes ist zu beobachten, dass Affekte selbst bzw. Begriffe von Affekten nicht im mos geometricus auftauchen, und zwar deshalb nicht, weil sie inadäquaten Ideen entsprechen. Die Deduktion muss aber ausschließlich mit adäquaten Ideen verfahren. Die in Kap. 2 getroffene Unterscheidung zwischen einer geometrischen und einer problematisierenden Textebene ist auch hier hilfreich: Auf der Ebene des mos geometricus werden nur Relationen unter Affekten behandelt, etwa ›Assoziationsmechanismen‹ wie 3p14-18 oder ›Imitationsmechanismen‹ wie 3p18-32. 3 Die Affekte selbst treten nur in Scholien 2 Le Buffe formuliert einen ähnlichen Gedanken so: »The free man propositions indicate particular kinds of actions, such as honesty and thankfulness, that are rare, reliable marks of virtue and help us to understand ourselves.« LeBuffe 2007, S. 390. Hvg. Vf. 3 Als Beispiele angeführt seien 3p16: »Wir werden ein Ding allein aus dem Grund lieben oder hassen, daß wir es uns als etwas vorstellen, das mit einem Gegenstand, der den Geist gewöhnlich

Analyse von Affekten

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auf, also auf der zweiten Textebene. So wird einer der fundamentalsten Affekte, Begierde (cupiditas, 3ad1), beispielsweise im Scholium 3p9s eingeführt: »Zwischen Trieb und Begierde besteht kein Unterschied, bloß daß der Ausdruck ›Begierde‹ gewöhnlich dann gebraucht wird, wenn Menschen sich ihres Triebes bewußt sind; deshalb kann Begierde definiert werden als Trieb mit dem Bewußtsein des Triebes.« Ebenso fallen die anderen Affekte im Laufe der Deduktion gleichsam an und werden in den Scholien ›aufgefangen‹: Freude und Trauer (3ad3&4) in 3p11s, Liebe und Hass (3ad6&7) in 3p13s. Entsprechend der Reihenfolge dieses Auftretens werden (zumindest die ersten Affekte) dann auch in den »Definitionen der Affekte« wiedergegeben. Die Unterscheidung zwischen einer geometrischen und einer problematisierenden Textebene löst überdies ein weiteres Paradox, das von Tom Cook eingebracht wurde: 4 Wenn Affekte verstanden werden sollen, sie aber inadäquate Ideen sind und ein Verständnis nur durch adäquate Ideen erfolgen kann, stellt sich die Frage, wie es überhaupt adäquate Ideen von inadäquaten Ideen geben kann. 5 Mit der Unterscheidung zwischen zwei Textebenen können jedoch die inadäquaten Affekte und die adäquaten Erkenntnisse über diese Affekte getrennt werden. ii) Als weitere wichtige Charakteristik sind Affekte nach Spinoza keine Zustände, sondern Übergänge. Beispielsweise sagt er von Freude und Trauer: »Wir sehen also, daß der Geist große Veränderungen erleiden und bald zu einer größeren, bald zu einer geringeren Vollkommenheit übergehen kann [jam ad majorem, jam autem ad minorem perfectionem transire]; diese beiden Formen des Erleidens erklären uns die Affekte der Freude und Trauer [laetitiae et tristitiae]. Unter Freude will ich demnach im folgenden diejenige Leidenschaft verstehen, in der der Geist zu einer größeren Vollkommenheit übergeht; unter Trauer hingegen diejenige, in der er zu einer geringeren Vollkommenheit übergeht.« (3p11s) Auch dieser Befund ist phänomenologisch plausibel: Ein

mit Freude oder Trauer affiziert, irgendeine Ähnlichkeit hat, selbst dann, wenn dasjenige, worin das Ding dem Gegenstand ähnlich ist, nicht die bewirkende Ursache dieser Affekte ist.« Sowie 3p19: »Wer sich vorstellt, daß das, was er liebt, zerstört wird, wird traurig sein; stellt er sich aber vor, dass es erhalten wird, wird er sich freuen.« Diese Formulierung zeigen auch, dass stets die imaginatio involviert ist. 4 Vgl. J. Thomas Cook, »Adequate Understanding of Inadequate Ideas: Power and Paradox in Spinoza’s Cognitive Therapy«, unpublished presentation at the 1993 Jerusalem Conference on Part IV of the Ethics. 5 Vgl. dazu 2p33: »In den Ideen ist nichts Positives, dessentwegen sie falsch genannt werden«, und 2p35: »Falschheit besteht in dem Mangel an Erkenntnis, den inadäquate, also verstümmelte und verworrene Ideen in sich schließen«, sowie das berühmte Beispiel über die wahre und scheinbare Distanz der Sonne in 2p35s.

Affekte, Ausdruck und Symptom

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bloß gleichbleibender Gemütszustand wird uns kaum eine dauerhafte Freude bescheren. Vielmehr scheint dazu ein Kontrast bzw. eine Veränderung nötig. iii) Drittens ist zu bemerken, dass für Spinoza Affekte auch dasjenige sind, was Aristoteles noch zu den Tugenden gezählt hat. In den »Definitionen der Affekte« finden wir etwa Kühnheit (3ad40), Menschenfreundlichkeit (3ad43), Trunksucht (3ad46) und Lüsternheit (3ad48). Die aristotelische Unterscheidung von Tugenden und Affekten beruht darauf, dass Tugenden mit einer Wahl verbunden sind. Tugend ist eine wählbare Haltung (ἕξις προαιρετική) aufgrund einer Willensleistung (βούλησις), für die man gelobt oder getadelt werden kann. 6 Dagegen sind bei Spinoza sowohl Affekte als auch Tugenden kausal notwendige Erscheinungen und direkt mit dem Machtbegriff verbunden: »Unter Tugend und Macht verstehe ich dasselbe; d. h. (nach Lehrsatz 7 des 3. Teils): Tugend, bezogen auf den Menschen, ist genau des Menschen Essenz oder Natur, insofern es in seiner Gewalt steht, etwas zuwege zu bringen, das durch die Gesetze seiner Natur allein eingesehen werden kann.« (4def8 7) Die aristotelische Unterscheidung fällt durch diese Identifikation bei Spinoza weg. 8 iv) Die erwähnte Liste der Affekte unterscheidet sich oberflächlich kaum von derjenigen bei Descartes. Während Descartes Affekte aber vor allem beschreibt, interessiert sich Spinoza für deren genetische und systematische Herleitung. »Descartes' sechs ursprüngliche Affekte (Les Passions de l'Ame, 2. Teil) sind hier unter Weglassung der Verwunderung (admiration [sic!]), die für Spinoza überhaupt kein Affekt ist, in ein Gefüge gebracht, in dem sie über die cartesische Aufzählung (dénombrement, art. 52) hinaus durch ihre genetische Herleitung aus dem conatus des menschlichen Geistes miteinander verknüpft sind.« 9 Zentral für die Analyse der Affekte ist also, wie sie »durch ihre ersten Ursachen« verstanden werden können, wie Spinoza im Vorwort zum dritten Teil der Ethica ausführt. Ein Affekt entsteht grundsätzlich durch die Kombination von conatus und imaginatio und diese muss nun aufgeschlüsselt werden. Liebe etwa ist – nüchtern analysiert – zunächst »Freude unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache« (3ad6). Das Problem bei diesen Kombinationen ist, so Bartuschat, dass der Mensch »sein Begehren im imaginari nur von den äußeren Objekten her begreift, gegen die er sich zu erhalten sucht. Deren Verflechtung untereinander ist ihm nur in perspektivischer Verkürzung präsent, und er folgt inadäquaten Vorstellungen, in denen er, äußeren Zwängen Vgl. Aristoteles 2001. »Per virtutem et potentiam idem intelligo, hoc est (per prop. 7 p. 3), virtus quatenus ad hominem refertur, est ipsa hominis essentia seu natura, quatenus potestatem habet quaedam efficiendi, quae per solas ipsius natuae leges possunt intelligi.« 8 Vgl. auch Wolfson 1983, S. 182. 9 Bartuschat 2006, S. 111. 6

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Analyse von Affekten

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erliegend, fremdbestimmt ist. Das ist die Konsequenz seiner Verfassung, idea corporis actu existentis zu sein und sich nicht anders zu wissen als im Wissen der Vorstellungen des wirklich existierenden Körpers, der Teil einer Verschränkung von corpora ist, die dem endlichen Menschen gar nicht adäquat präsent sein kann.« 10 Bei einem Affekt als inadäquater Idee ist zunächst unklar und undeutlich, wofür er ›eigentlich‹ steht, und welche Einflüsse in ihn eingehen. Ziel ist deshalb, Affekte adäquat zu erkennen, d. h. ihre inneren Merkmale genau zu artikulieren und den Komplex dadurch transparent zu machen. 11 Dabei wandelt sich der Affekt, eben weil er nichts anderes ist als eine Idee. Trauer, Hass oder Niedergeschlagenheit bleiben nicht dieselben Gefühlszustände – so Spinozas therapeutische Devise –, sondern ändern sich mit der Erkenntnis: »Ein Affekt, der eine Leidenschaft ist, hört auf, eine Leidenschaft zu sein, sobald wir von ihm eine klare und deutliche Idee bilden.« (5p3) Dabei ist es, in Übereinstimmung mit der Diskussion in Kap. 10, nicht die Erkenntnis, die der Änderung vorangehen würde, sondern Erkennen und Handeln laufen parallel. Dies ist auch eine Kritik Spinozas an voluntaristischen Vorstellungen (wie sie Descartes und dem common sense vorschweben), der Wille könne aufgrund einer einmal erlangten Erkenntnis eine zielführende Handlung einleiten. Spinozas Vorstellung ist vielmehr, dass das Netz inadäquater Ideen dauernd ausgebessert werden und der Geist sozusagen wie Theseus' Schiff während der Fahrt umgebaut werden muss – eine intellectus emendatio ohne tabula rasa oder Reset-Möglichkeit. v) Diese Analyse von Affekten versucht sie zu verstehen, ohne im Vorhinein zu bewerten. Weder sollen dabei Furcht, Ängstlichkeit oder Zorn abgewehrt noch andere Affekte wie Mitleid, Demut oder Reue besonders gepflegt werden. Worauf es ankommt, ist vielmehr die Unterscheidung von aktiven und passiven Affekten, und hier ist eine Verlagerung von möglichst vielen passiven zu möglichst vielen aktiven Affekten angestrebt. Denn passive Affekte sind Anzeichen, dass sich ein Individuum unfrei fühlt, weil es von anderen Individuen eingenommen, beherrscht oder missbraucht wird. Es macht sich dabei zum Ausdruck fremder Leidensgeschichten, wie Handwerker Küchenhoff betont hat: »Leiden heisst also, selbst zum Ausdruck des stärkeren Vermögens eines Anderen zu werden, sozusagen von ihm ihn Besitz genommen zu werden. Es liegt also nicht allein an der Natur des Einzelnen, ob er eine leidhafte Erfahrung machen muss, sondern immer an den Verhältnissen, in die ihn sein Schicksal führt. Auch in diesem Aspekt der Verursachung von Leid ist Spinoza weit Bartuschat 2017c, S. 39. Vgl. die Definition von Adäquatheit in Kap. 11: »Unter adäquater Idee verstehe ich eine Idee, die, insofern sie in sich selbst und ohne Beziehung auf einen Gegenstand betrachtet wird, alle Eigenschaften oder inneren Merkmale einer wahren Idee hat.« (2def4) 10 11

Affekte, Ausdruck und Symptom

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entfernt von einer moralischen Bewertung.« 12 Ein solches Verständnis hängt letztlich von einem anderen ontologischen ›framing‹ ab: der Abkehr von einer transzendenten Orientierung. »Mit Spinoza wird man sagen«, so Marc Rölli, »dass die theologischen und moralischen Vorstellungen, die mit einer Missachtung der immanenten Bestimmung der Handlungen, Leidenschaften und Affekte zusammenhängen, ganz entscheidend dafür verantwortlich sind, dass die Menschen ein Leben in Knechtschaft führen.« 13 vi) Statt von ›Ausdruck‹ könnte man an vielen Stellen auch von ›Symptom‹ sprechen. Denn was sich an der Oberfläche manifestiert und auf eine unbekannte tiefere Ursache hindeutet, ist in medizinischer oder therapeutischer Terminologie ein Symptom. In diesem drückt sich jene Ursache aus, jedoch unvollständig, verstellt oder eben inadäquat. Damit eröffnet sich eine Perspektive, das spinozanische Konzept des Ausdrucks mit dem psychoanalytischen Konzept des Symptoms zusammenzudenken. Nach der Theorie der Psychoanalyse treten ungelöste innere Konflikte als verschiedene Formen von Neurotizität auf. Der Begriff ›Symptombildung‹ bei Freud »bezeichnet die Tatsache, daß das psychoneurotische Symptom das Ergebnis eines besonderen Vorgangs ist, einer psychischen Bearbeitung«. 14 Im Falle eines vollständig gelingenden Ausdrucks, so könnte man dann sagen, würden die neurotischen Symptome verschwinden. 15 Eine weitere Affinität zur Psychoanalyse ist Spinozas Auffassung, dass ›gut‹ und ›schlecht‹ nichts in den Dingen an sich bezeichnen, sondern Zuschreibungen sind bzw., wie wir in psychoanalytischem Jargon sagen könnten, Besetzungen. 16 Die Affektmechanismen in E3 zeigen dann, wie diese Besetzungen oder Besetzungsentziehungen aufgrund von Affekten im Detail erfolgen. Beispielsweise sagt Spinoza in 3p39s: »Deshalb beurteilt oder erachtet ein jeder von seinem je eigenen Affekt her, was gut ist und was schlecht, [. . .]. So hält der Habgierige einen Haufen Geld für das Beste und Geldmangel für das Schlechteste.« Handwerker Küchenhoff 2006, S. 167. Rölli 2018, S. 48 f. 14 Laplanche und Pontalis 1973, S. 490. Stellvertretend für die umfangreiche Literatur zu Spinoza und der Psychoanalyse siehe Handwerker Küchenhoff 2006 und Referenzen darin. 15 Eine eigene Untersuchung wäre der Zusammenhang zu Nietzsches Symptombegriff. So stellt er die Moral als »Zeichensprache der Affekte« dar (JGB 187). Sie ist »bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie« (GD, Die Verbesserer der Menschheit 1). Denn es »giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen. . .« (JGB 108) »Leben ist Wille zur Macht. [...] das moralische Werthschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretiren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände, [...]. Wer legt aus? – Unsere Affekte.« (Nachlass 1885–1887, 2[190], KSA 12.161) 16 Wir erinnern an Kap. 12 und 4praef: »Was gut und schlecht betrifft, so zeigen auch diese Ausdrücke nichts Positives in Dingen an, wenigstens wenn diese in sich selbst betrachtet werden; sie sind nichts anderes als Modi des Denkens, d. h. Begriffe, die wir bilden, weil wir Dinge miteinander vergleichen.« 12 13

Umkehrfiguren: Können statt Sollen

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(3p39s 17) Und schließlich könnte man das, was Spinoza unter ›individueller Essenz‹ versteht, in eine heutige Sprache mit ›Triebschicksal‹ übersetzen. Natürlich bestehen historische und systematische Unterschiede, insbesondere ist bei Spinoza das zentralste psychoanalytische Konzept, das Unbewusste, noch abwesend, aus dem sich dann eine Vielfalt weiterer ›Affektmechanismen‹ wie Verdichtung, Verschiebung, Reaktionsbildung, Kompromissbildung oder Ersatzbildung ergeben.

13.2 Umkehrfiguren: Können statt Sollen

Ebenso wie im vorigen Abschnitt auf einige besonders erwähnenswerte, da ungewöhnliche Aspekte des Affektbegriffs fokussiert wurde, soll nun im Rückblick auf das ganze Buch ein besonderes Thema nochmals aufgegriffen werden, das ebenfalls ungewöhnlich für eine Ethik ist und mit dem die eigentliche Weichenstellung erfolgt. Dieses Thema ist die in Kap. 12 diskutierte Umkehrung am Anfang von E3, die wir hier nochmals zitieren: »Aus all dem steht also fest, daß wir etwas weder erstreben noch wollen, weder nach ihm verlangen noch es begehren, weil wir es für gut halten; im Gegenteil, wir halten etwas für gut, weil wir es erstreben, es wollen, nach ihm verlangen und es begehren.« (3p9s) Mit dieser Umkehrfigur beginnt auch – sozusagen – Spinozas ›Umwertung der Werte‹. Damit soll kein Kurzschluss zwischen Spinoza und Nietzsche gemacht werden, zumal die Wertesemantik erst im 19. Jahrhundert im Gefolge des Neukantianismus so recht aufkam und deshalb in den früheren Kapiteln dieses Buches auch eher der allgemeine Terminus ›Norm‹ gebraucht wurde. Die Hinzunahme von Nietzsche soll vielmehr eine gewisse ethische Grundhaltung in den Blick bringen. Auch bei Spinoza erweisen sich im Allgemeinen als ›gut‹ geltende Werte wie Mitleid, Demut und Reue als trügerisch: »Mitleid in einem Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, ist an sich schlecht und nutzlos.« (4p50) »Demut ist keine Tugend, anders formuliert, sie entspringt nicht der Vernunft.« (4p53) Auch Einstellungen wie Altruismus, Selbstaufopferung, Mäßigung und Sich-Zurücknehmen sind für Spinoza keine Grundlagen für ein gelingendes Zusammenleben, da in ihnen alle ungelösten Konflikte weiter schwelen und sie eine prosperierende Entwicklung, u. a. durch rationale Hilfestellung, hemmen oder gar blockieren. 18 Und auch bei Spinoza ist alles von einem Machtbegriff Avaritia ist der 47. der am Ende des dritten Teils der Ethica aufgelisteten Affekte. In der Terminologie von Nietzsche steht dafür das Konzept des Reaktiven zur Verfügung. Jedes Verhalten ist schlecht, das bloß als Reaktion auf etwas anderes und nicht aktiv aus sich heraus erfolgt. So sind beispielsweise Höflichkeit um der bloßen Anerkennung willen oder Beschwichtigung als Unterdrückung von Aggressionstrieben geradezu schädlich. Bei Nietzsche hatten wir auch die 17

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Affekte, Ausdruck und Symptom

her gedacht, der sich freilich von demjenigen Nietzsches unterscheidet, für den aber Macht ebenfalls nicht à forfait als verwerflich gilt. So ist potentia, wie in Kap. 8 diskutiert, nicht Unterdrückungsgewalt, also primär Verhinderung, sondern Grundlage für Wirksamkeit, Fähigkeit und Können. Diese entscheidende Umkehr wirft auch ein anderes Licht auf den Vernunftbegriff, wobei Spinoza oft pauschal in eine Reihe mit ›Rationalisten‹ wie Descartes, Wolff oder Leibniz gestellt wird. Diese aber vertreten andere ethische Positionen und weisen der Vernunft andere Funktionen zu. Für Spinoza heißt etwa ›nach der Leitung der Vernunft zu leben‹ (ex ductu rationis vivere, E4 passim) nicht, auf eine Vermögens-Instanz zu hören, sondern die Bildung adäquater Ideen zu betreiben, womit ursächliche Zusammenhänge erschlossen werden. Eine solche Vernunft postuliert nicht Normen und Ziele, die gänzlich außer Reichweite liegen, sondern holt Menschen dort ab, wo sie stehen, und führt sie auf paradoxen Wegen zum Ziel, welches der Ausdruck der eigenen Fähigkeiten in Handlungen und Affekten ist. Treibende Kraft ist dabei ein Können, nicht ein Sollen.

13.3 Paradoxien

Nach diesen Bemerkungen zu einzelnen inhaltlichen Schwerpunkten soll nun auch ein Rückblick auf die Methodik in diesem Buch erfolgen. Zunächst wurde die Zirkularität von Metaphysik und Ethik dadurch hervorgehoben, dass Spinozas Konzepte als Antworten auf bestimmte Probleme verstanden wurden. Diese Antworten führten dann im Rahmen des Monismus und der Immanenz auf eine Reihe von Paradoxien. Paradoxien ergeben sich grundsätzlich durch eine Selbstbezüglichkeit von Termen und durch den Einschluß von Zeit. 19 Paradigmatisch dafür war die erste Paradoxie in der Ethica, diejenige der causa sui (Kap. 4). Sie konnte zwar durch Ausschluss der Zeit entparadoxiert werden, das derart invisibilisierte Paradox zog sich aber weiter und wiederholte sich im Sinne einer ›paradox's revenge‹. Die Wiederholung liegt, paradoxerprägnante Formulierung angetroffen: »Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heisst: ›Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich! Im andern Falle . . .‹ Jede Moral, jede Religion ist dieser Imperativ [. . .]. In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre Umkehrung – erstes Beispiel meiner ›Umwerthung aller Werthe‹: ein wohlgerathener Mensch, ein ›Glücklicher‹, muss gewisse Handlungen thun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen, er trägt die Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu Menschen und Dingen hinein. In Formel: seine Tugend ist die Folge seines Glücks . . .« (GD, KSA 6.89) 19 Sie entstehen, indem »eine zweiwertige Unterscheidung, deren Werte einander negieren, auf sich selbst bezogen und dabei ihr negativer Wert auf sie angewendet wird«. Stegmaier 2008, S. 9.

Paradoxien

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weise, gerade an der Kohärenz des Systems. Wenn nämlich nach Spinoza die Substanz eine causa sui ist, ist anzunehmen, dass sich die Paradoxie auf den Substanzbegriff überträgt. Wie genau sich das Paradox dann ausnimmt, hängt vom weiteren Kontext ab. Charakteristisch für diesen Kontext ist die Abkehr vom cartesischen Dualismus von res cogitans und res extensa, die bei Spinoza zu Attributen werden. Dann aber wird auch (wie in Kap. 5 gezeigt) das Verhältnis von Substanz und Attributen paradox: Man muss die Substanz schon identifiziert haben, um von deren Attributen sprechen zu können, gerade diese Identifikation ist aber nur durch Attribute möglich. Ein zweites Paradox im Substanzbegriff ist, dass die Behauptung, es gäbe nur eine einzige Substanz, sich ihre Grundlage entzieht, nämlich die Vergleichsmöglichkeit mit anderen Entitäten derselben Art. So ist auch der Substanzmonismus paradox (vgl. ebenfalls Kap. 5). Der Verzicht auf den Dualismus schlägt sich dann auch im Verhältnis von Substanz und Modi nieder, zunächst im Paradox von Gott und Natur. Als Natur wird Gott zugleich gesetzt und aufgehoben: aufgehoben in seiner traditionellen Bedeutung als personenhaftes Wesen, gesetzt als allumfassende Struktur. Stegmaier hat diesen Zusammenhang wie folgt artikuliert: »wenn Gott zugleich Ursache und Wirkung ist, kann nichts zwischen ihnen liegen, kein Handeln und keine Zeit, und dann ist er auch nicht als Schaffender vom Geschaffenen, als Schöpfer von der von ihm geschaffenen Natur zu unterscheiden (deus sive natura).« 20 So kann die Umdeutung von Gott als Figur zu Gott als Struktur durch die Notwendigkeit der Auflösung einer Paradoxie rekonstruiert werden. Sodann tritt ein weiteres Paradox zwischen Substanz und Modi auf, das gerade an dem von Spinoza neu konzipierten Verhältnis liegt: Um endliche Dinge hervorbringen zu können, muss die Substanz geteilt werden, kann dies aber nicht als Substanz. Auch dieser Befund nötigt zu einer begrifflichen Weiterentwicklung und führt auf das Konzept der infiniten Modi, die gleichsam als Zwischenstücke dienen. Damit lässt sich dann wie gewünscht eine Teilbarkeit denken, jedoch fallen die Teile als Dinge paradoxerweise mit ihren Eigenschaften zusammen (Kap. 6). Dies wiederum verlangt eine neue Auffassung dessen, was ein ›Ding‹ überhaupt sein könnte, wenn nicht eine Substanz mit abtrennbaren Akzidentien. Diese metaphysischen Paradoxien ziehen sich dann als ethische Paradoxien weiter. Zunächst ist der Begriff des conatus als vereinzelte Macht Gottes bzw. Essenz der Substanz mit einem Paradox der Individuation behaftet. In einem nicht-substanziellen Kontext lassen sich Körper nur durch Bewegungen voneinander unterscheiden, diese aber sind immer Bewegungen von Körpern. Als zweites und drittes treten Paradoxien auf, indem nun die Zeit wieder einge20

Stegmaier 2008, S. 65.

Affekte, Ausdruck und Symptom

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schlossen wird: das Paradox von Ewigkeit und Zeitlichkeit und das Paradox von Kausalität und Finalität (Kap. 9). Diese manifestieren sich schließlich als Paradox von Erkennen und Handeln (Kap. 10), von Handlung und Nicht-Handlung (Kap. 11) und von Freiheit und Notwendigkeit (Kap. 12). 21 Wenn so ein Zusammenhang unter den Paradoxien, die die Ethica durchziehen, etabliert wurde, stellt sich die Frage, ob alle gleichberechtigt sind oder hierarchisch geordnet. Nach der hier gegebenen Darstellung liegt es nahe, die causa sui als Ursprungsparadoxie und die übrigen als Folgeparadoxien zu nehmen. Doch ist zu bedenken, dass, wenn Metaphysik und Ethik zirkulär sind, es bis zu einem gewisse Grad auch die Paradoxien sein müssen. Dass es eine Paradoxie von Freiheit und Notwendigkeit gibt, liegt auch an einer bestimmten Auffassung der Möglichkeiten des Menschen in der Natur, die umgekehrt hier vorangehende Paradoxien begründen könnte, etwa das Verhältnis von Erkennen und Handeln. So scheint es, dass auch die Paradoxien in nicht zu unterbindenden Wiederholungen durch die Ethica zirkulieren. Obwohl gewisse Zusammenhänge unter den Paradoxien konsequent scheinen, bleibt immer auch ein überraschender Rest, wo und wann eine invisibilisierte Paradoxie in einem System wieder sichtbar wird. Denn schon die Probleme, aus deren Behandlung die Paradoxien überhaupt entsprangen, waren sehr heterogen, so dass sich ›Para-doxien‹ auch von verschiedenen δόξαι abhängig machen. Dabei wird durch die Kohärenz des Systems – paradoxerweise – die Übertragung von Paradoxien befördert. Ein erkenntnistheoretischer Mehrwert dieser Methode dürfte sein, dass sie eine systemimmanente begriffliche Dynamik motiviert, nämlich die Notwendigkeit für Unterscheidungen und Bedeutungsverschiebungen zur Auflösung von Paradoxien. Würde man dagegen nur dem mos geometricus folgen, bliebe unklar, wieso und wann welcher Gedanke in welche Richtung weiterentwickelt wird. Zudem kann gezeigt werden, welche Funktion verschiedene Betrachtungs- und Beschreibungsebenen in der Ethica haben, etwa die deduktive und die problematisierende Textebene, und weshalb sich gewisse Termini (wie oben anhand der Affekte erläutert) nur auf der einen und nicht auf der anderen finden. Spinozas Philosophie erscheint so als ein multiperspektivisches System avant la lettre, indem sich eine grundlegende Einheit Auf die Verwendung von Paradoxien als Denkmittel haben v. a. Luhmann und Stegmaier hingewiesen. Luhmann habe »die durch Paradoxien ausgelösten Oszillationen und Blockierungen des Denkens als Mittel des Denkens begriffen: Eben weil Paradoxien das Denken blockieren, kann es nicht mehr ›hinter sie zurückgehen‹, und so können gerade sie zu ›letzten‹ und ›festen‹ Anfängen oder Ursprüngen des Denkens werden.« Stegmaier 2008, S. 10. »Selbstbezügliche, mit dem Selbstbezug ihrer ursprünglichen Unterscheidungen anfangende Systeme des Denkens, die beide Alternativen [des Unterschiedenen] offenhalten, können so an die Stelle traditioneller Letztbegründungen treten, die als Begründungen, doch immer weiter nach ihren Gründen befragt werden können.« Ebd., S. 11. 21

Ein Schlusswort zum Ausdruck

257

in verschiedene Hinsichten auffächern lässt. In der Moderne fällt dann diese Einheit weg und es bleiben nur die interagierenden Perspektiven. 22

13.4 Ein Schlusswort zum Ausdruck

Spinozas Ethik wurde hier vor allem mit Moralphilosophien kontrastiert, deren Ziel das Auffinden und Rechtfertigen von Handlungsgeboten ist. Dagegen müssen für Spinoza normative Verbindlichkeiten stets an das eigene Begehren rückgekoppelt sein bzw. aus diesem heraus entwickelt werden. Die dem Individuum hier gestellte Aufgabe ist nicht das Beibringen von Gründen, das sokratische λόγον διδόναι, sondern die Analyse der uns umgebenden Komplexität sowie der eigenen Komplexe darin. Dadurch können sich Individuen in ein anderes Verhältnis sowohl zu anderen als auch zu sich selbst setzen und sich eben dadurch transformieren. Aus diesem transformierten Selbstverhältnis und Selbstverständnis entspringen andere Handlungen. Katrin Wille beschreibt diesen Prozess wie folgt: »in order to achieve change, it is not necessary to develop goals with specific contents that should be realized or achieved and nor is it necessary to control affects through reason, in order to conquer them. Instead, the conditions of the affective dynamics must be analyzed and modified.« 23 Eine solche Ethik kann man als Selbstanalyse bezeichnen, die immer auch über eine Analyse des Ganzen erfolgt. Wollte man Spinozas Philosophie weiter kontrastieren, so kann man sagen, dass er weder eine Glücks- oder Tugendethik im aristotelischen Sinne, noch eine Gerechtigkeitsethik im kantischen Sinne, noch ein Utilitarismus oder Konsequentialismus, aber auch keinen bloßen Individualismus oder Egoismus vertritt. Denn selbst wenn die Vernunft »fordert, daß jedermann sich selbst liebt, [und] seinen eigenen Vorteil sucht, also dasjenige, was wirklich nützlich für ihn ist«, sind dabei stets und paradoxerweise auch die anderen und das Ganze im Blick, ohne aber sich selbst zu leugnen. In diesem Sinne lauteten die beiden Mottos, unter die dieses Buch gestellt wurde: »ἐδιζησάµην ἐµεωυτόν (ich durchforschte mich selbst)«, und »Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr, – sie taugt am wenigsten zur Philosophie. Die »Selbstlosigkeit« hat keinen Werth im Himmel und auf Erden; die grossen Probleme verlangen alle 22 Nicht unähnlich ist der Versuch Hegels, die Notwendigkeit eines begrifflichen Fortschreitens dialektisch zu denken. Auch bei den Paradoxien sind stets Widersprüche im Spiel, aber diese ergeben sich nicht dadurch, dass ein Begriff ›aus sich heraustritt‹. Und wie bei Hegel werden hier Notwendigkeit und Zeitlichkeit zusammengedacht. 23 Wille 2020, S. 203.

Affekte, Ausdruck und Symptom

258

die grosse Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen.« Dieses paradox klingende Resultat ist nur der Widerhall der insgesamt paradoxen Ethica. Und dieser Befund mag – wie ganz zu Beginn in der Einleitung angetönt – erstaunen. Ausgerechnet dieses erzrationalistische, in mathematische Form gekleidete und an Systematizität kaum zu überbietende Werk ist von Paradoxien unterwandert, die sich an der Oberfläche als Spannungen und Risse abzeichnen. Ihnen nachzugehen war das Ziel dieses Buches. Dabei stellte sich heraus, dass die traditionellen Dualismen von Ursache-Wirkung, Allgemeinem-Besonderem, Ewigem-Zeitlichem, Geistigem-Körperlichem zunächst im Rahmen des Monismus und der Immanenz kollabierten, dann aber in neuer Bedeutung aufeinander bezogen werden können, und zwar durch die Relation des Ausdrucks. Ursache und Wirkung in der causa sui stehen in einem Verhältnis des Ausdrucks von Essenz und Existenz. Allgemeines und Besonderes stehen ebenfalls in einem Verhältnis des Ausdrucks: »Besondere Dinge sind nichts als Affektionen der Attribute Gottes, anders formuliert Modi, von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden.« (1p25c) Der Ausdruck kann sowohl mit ontologischen als auch mit psychologischen Konnotationen gelesen werden. Mit ihm kommen neue und andere Fragen in den Horizont. Wenn ein Affekt, eine Handlung oder ein Urteil als Ausdruck von etwas aufgefasst wird, stellt sich die Frage nicht mehr primär, ob diese richtig oder falsch, gut oder böse sind. Durch die Ausdrucksperspektive wird der Fokus vom Urteil auf das Verstehen verlegt. Nicht mehr die Norm, die verfehlt wurde, steht im Mittelpunkt, sondern die treibenden Motive. Statt den Fragen ›Was ist eine moralisch richtige Handlung?‹ oder ›Wie kann man einen Geltungsanspruch rechtfertigen?‹ lässt sich nun fragen ›Was drücken die eigenen Handlungen und Affekte aus und wovon sind sie symptomatisch?‹ Dies weist auch der Philosophie eine neue Rolle zu, worauf Stuart Pethick hinweist: »Firstly, philosophy must resist its tendency to moralise about how it would like the world to be. This does not mean surrendering to immediacy, but rather being ›untimely‹ without pretending to be timeless; it must engage with the world as it is and answer the demands placed upon the present via tracing their affective, historical genesis. Secondly, this in turn poses the challenge of composing provocative concepts that call forth new translations, perspectives and affective relations to repeat the joy we inherit; in other words, the provocation of yet-to-be-determined bodies.« 24 Das Staunen war der Anfang der Philosophie – und ist zugleich das, was sie hinaustreibt nach neuen Meeren. 24

Pethick 2015, S. 159.

Siglen

Werke von Spinoza

E

Ethica / Die Ethik

PPC

Renati Des Cartes Principiorum Philosophiae Pars I et II, More geometrico demonstratae / Descartes' Prinzipien der Philosophie in geometrischer Weise dargestellt

CM

Cogitata Metaphysica / Gedanken zur Metaphysik (Anhang der PPC)

KV

Korte Verhandeling / Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück

TIE

Tractatus de intellectus emendatione / Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes

TTP

Tractatus theologico-politicus / Theologisch-politischer Traktat

TP

Tractatus politicus / Politischer Traktat

Ep

Epistolae / Briefwechsel

Werke von Nietzsche

FW

Die fröhliche Wissenschaft

JGB

Jenseits von Gut und Böse

GM

Zur Genealogie der Moral

EH

Ecce homo

Die genauen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis.

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Dank

Danken möchte ich ganz herzlich folgenden Personen, die auf unterschiedliche Weise den Entstehungsprozess dieses Buches begleitet oder überhaupt ermöglicht haben: in erster Line meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Hampe (Zürich), der mich auf umsichtige Weise zu Spinoza geführt und dazu angeregt hat, eine eigene Stimme in der Philosophie zu entwickeln, sowie den Ko-Referenten Prof. Dr. Marc Rölli (Leipzig) und Prof. Dr. Martin Saar (Frankfurt) für ihre Kommentare; weiter Prof. em. Dr. Werner Stegmaier (Greifswald) für die Ermutigung zum Denken in Paradoxien, Prof. Dr. Ursula Renz (Graz) für die Zusammenarbeit im Vorstand der Spinoza Gesellschaft, Dr. Dr. med. Daniel Strassberg (Zürich) für die Erfahrung der Psychoanalyse, Dr. Demian Berger (Luzern) für die gemeinsame Lektüre und Diskussion, Prof. Dr. Michael Della Rocca (Yale) und Prof. Dr. Daniel Garber (Princeton) für die Klärung spezifischer Fragen; ferner Dr. Davide Monaco (Manchester) und den Kollegen an der ETH Zürich, insbesondere Dr. Olivier Del Fabbro, Prof. Dr. Norman Sieroka und Victoria Laszlo. Ein besonders herzlicher Dank gebührt meiner Frau, Andrea von Birgelen, der, zusammen mit unserer Tochter Anna-Sophia, dieses Buch gewidmet ist. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner dem Meiner Verlag für die Aufnahme dieser Schrift in die Reihe ›Paradeigmata‹, namentlich Herrn Marcel SimonGadhof und Frau Ulla Hansen für das Lektorat. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Spinoza Gesellschaft e. V. und der Kulturförderung Kanton Graubünden / SWISSLOS.