Ortstermine Politisches Lernen an historischen Orten, Band 1 [1, 1. ed.] 3879200882, 9783756600779


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort des Herausgebers der Reihe
Vorwort
Siegfried Grillmeyer: „Ortstermine“Rahmenbedingungen eines Konzeptes
Peter Wirtz: Ikonologie der Architektur und politische Bildung
Axel Hof: „Tempel der Gewissheit“
Thomas Brehm: Zur Rolle von Museen in der politischen Bildung
Bernd Buchner: „Den schönen Schein brechen“
Markus Köster: Mythos der Nation. Das Hermannsdenkmal
Josef Matzerath: Dresdner Häuser – Dresdner Parlamente
Parlamentariertypen, Fassaden und Sitzordnungen
Martin Kaiser: Das Rheinland als Brückenlandschaft.
Historisches Lernen an Orten kulturellen Austauschs
Harald Stockert: „…ein unausgesetztes Gehen und Kommen“*
Tobias Nahlik: Berlin, Hauptstadt der DDR. Chancen und Grenzen der Begegnung mit Spurendes ostdeutschen Staates
Ingmar Reither/Gudrun Dietzfelbinger: Das Berliner Olympiastadion als Lernort. Ein eintägiges Seminar am Schauplatz des WM-Endspiels 2006
Paul Ciupke: Industriekultur im Ruhrgebiet. Aufsuchende Bildungsarbeit zur Geschichte der Region,der Arbeit und zu den Problemen des Strukturwandels
Autorin und Autoren
Bildnachweis für die Beiträge
Backmatter
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Ortstermine Politisches Lernen an historischen Orten, Band 1 [1, 1. ed.]
 3879200882, 9783756600779

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Veröffentlichungen der CPH Jugendakademie Band 6

Siegfried Grillmeyer, Peter Wirtz (Hrsg.)

Ortstermine Politisches Lernen an historischen Orten Band 1

Herausgegeben im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB)

WOCHEN SCHAU VERLAG © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

CPH Jugendakademie Königstraße 64 90402 Nürnberg www.cph-nuernberg.de Diese Publikation wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.

©

by WOCHENSCHAU Verlag, Schwalbach/Ts. 2006

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© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Inhalt

Siegfried Grillmeyer Vorwort zur Reihe ...........................................................................................5 Siegfried Grillmeyer und Peter Wirtz Vorwort zum Buch ..........................................................................................7 Siegfried Grillmeyer „Ortstermine“ Rahmenbedingungen eines Konzeptes ..........................................9 Peter Wirtz Ikonologie der Architektur und politische Bildung ........................................23 Axel Hof „Tempel der Gewissheit“ Über Wert und Sinn didaktischer Konzepte politischen Lernens an historischen Gedenkstätten .............................................35 Thomas Brehm Zur Rolle von Museen in der politischen Bildung Anstöße zum Nachdenken am Beispiel des Germanischen Nationalmuseums und des Nürnberger Stadtmuseums Fembohaus.................................................59 Bernd Buchner „Den schönen Schein brechen“ Überlegungen zum geplanten NS-Dokumentationszentrum Königsplatz in München .....................................73 Markus Köster Mythos der Nation Das Hermannsdenkmal ....................................................96 Josef Matzerath Dresdner Häuser – Dresdner Parlamente Parlamentariertypen, Fassaden und Sitzordnungen .........................................113 Martin Kaiser Das Rheinland als Brückenlandschaft Historisches Lernen an Orten kulturellen Austauschs .......................................127 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Inhalt

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Harald Stockert „...ein unausgesetztes Gehen und Kommen“ Migration als Erinnerungsort in der deutschen Geschichte? Ein Plädoyer am Beispiel der Stadt Mannheim ...............................................140 Tobias Nahlik Berlin, Hauptstadt der DDR Chancen und Grenzen der Begegnung mit Spuren des ostdeutschen Staates .......158 Ingmar Reither/Gudrun Dietzfelbinger Das Berliner Olympiastadion als Lernort Ein eintägiges Seminar am Schauplatz des WM-Endspiels 2006 ......................173 Paul Ciupke Industriekultur im Ruhrgebiet Aufsuchende Bildungsarbeit zur Geschichte der Region, der Arbeit und zu den Problemen des Strukturwandels....................................185 Autorin und Autoren...................................................................................195 Bildnachweis ...............................................................................................198

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Vorwort zur Reihe

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Vorwort des Herausgebers der Reihe

Historisch-politische Bildung in guter Tradition Die „Veröffentlichungen der CPH-Jugendakademie“ dokumentieren und begleiten aktuelle Entwicklungen in der außerschulischen Jugendbildung. Die Reihe verfolgt zum einen das Ziel, Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen auszuloten. Zum anderen gilt es, den Transfer zwischen Theorie und Praxis am Beispiel verschiedener Themenbereiche und Aufgabenfelder aufzuzeigen. Die Gesamtreihe wie auch ihre einzelnen Bände verbinden daher auf sinnvolle Weise theoretische Diskussionen, konkrete Erfahrungsberichte, Seminarkonzepte und praktische Handreichungen miteinander. Ein thematischer Schwerpunkt der Reihe ist die politische (Jugend)bildung. Die Überschneidungen mit den angrenzenden Feldern der historischen und kulturellen Bildung sowie der Vermittlung von sozialer Kompetenz bzw. von Schlüsselqualifikationen werden berücksichtigt, die Wechselwirkungen für die Thematik fruchtbar gemacht. Ein besonderes Augenmerk gilt zudem den Ansätzen der interkulturellen und religiösen Bildung. In der Ausrichtung der Buchreihe spiegelt sich somit das Arbeitsfeld der namengebenden Institution wieder: Die Jugendakademie C.-Pirckheimer-Haus in Nürnberg veranstaltet ein- bis mehrtägige Seminare im Bereich der gesellschaftspolitischen Bildung, organisiert Jugendaustausch und multilaterale Begegnungsmaßnahmen, stellt für 15- bis 25-Jährige persönlichkeitsbildende Angebote in Halbjahresprogrammen zusammen und bietet religiös orientierte Besinnungstage an. Im Rahmen ihres Bildungsauftrages arbeitet die Akademie CPH mit zahlreichen anderen Bildungsträgern auf regionaler und bundesweiter Ebene zusammen. Sie ist dabei eingebettet in ein tragfähiges Netzwerk: In der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB) finden bundesweit mehr als 60 Institutionen zusammen, um unter anderem gemeinsam Seminarmodelle zu entwickeln, zu evaluieren und immer wieder auf den Prüfstand der fachwissenschaftlichen Diskussion zu heben. Dieser Austausch zur politischen Bildungsarbeit über regionale Grenzen hinweg hat sich stets als fruchtbringend auch für die tägliche Arbeit im Caritas-Pirckheimer-Haus Nürnberg erwiesen. Daher ist es uns eine besondere Freude, dass diese gute Tradition der Zusammenarbeit sich im vorliegenden Band widerspiegelt. Die auf zwei Bände angelegten „Ortstermine“ entstand im Rahmen von langjährigen Projekten bzw. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Vorwort zur Reihe

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Arbeitsschwerpunkten der AKSB, wie die beiden Herausgeber des Bandes im Vorwort näher beschreiben. Im Rahmen der „Veröffentlichungen der CPH Jugendakademie“ wird durch die Aufnahme dieser Publikation eine Lücke in verschiedener Hinsicht geschlossen: Zum einen hat sich der Themenbereich historisch-politisches Lernen als besonderer Zweig des politischen Lernens nunmehr unter einem spezifischen Blickwinkel erfassen lassen, der bereits in Band 1 der Reihe (Lernen für die Zukunft) und Band 4 (Geschichte zwischen den Zeilen) angegangen wurde. Zum anderen ist die fachwissenschaftliche wie auch didaktisch-methodische Erschließung spezifischer Orte, die sich im Rahmen von Seminaren in der außerschulischen und außeruniversitären Bildungsarbeit heranziehen lassen, um politische Strukturen und Prozesse erklären zu können, bisher ein Desiderat. Auch wenn es sich um eine gute alte Tradition im Rahmen der AKSB handelt, an verschiedenen Orten dieser Republik Seminare unter Heranziehung exemplarischer historischer Orte zum politischen Lernen zu konzipieren, vorzutragen und gemeinsam zu evaluieren, hat dies bisher noch keinen publizistischen Niederschlag gefunden. So kann man nur hoffen, dass dieser Band von einer breiten Fachöffentlichkeit, nicht nur von den politischen Jugend- und Erwachsenenbildnern zur Kenntnis genommen wird. Und bereits jetzt dürfen wir uns freuen, in Kürze auch den Folgeband dazu vorstellen zu dürfen. Kritik und Anregungen zu diesem Band sowie zur Gesamtreihe sind uns stets willkommen und können direkt an die CPH Jugendakademie, Königstraße 64 in 90402 Nürnberg, gerichtet werden. Siegfried Grillmeyer

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Vorwort

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Vorwort Dem „Lernen vor Ort“, dem Besuch historisch und politisch bedeutender Stätten, kommt in der außerschulischen politischen Bildung seit jeher große Bedeutung zu. Die direkte Begegnung mit wie auch immer gearteten „authentischen“ Orten kann nicht nur Interesse wecken und den Lernprozess durch Methodenwechsel anregen, sie kann auch subjektiv persönliche Bezüge zu historisch-politischen Themen herstellen. Große Tradition besitzt dies vor allem im Hinblick auf Stätten aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der Besuch von Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus gehört seit Jahrzehnten zur Angebotspalette politischer Bildungseinrichtungen und wurde im Laufe der 80er Jahre auch pädagogisch strukturiert aufgearbeitet. Die „Gedenkstättenpädagogik“ erstreckt sich seit einigen Jahren auch auf Orte, in denen an die Opfer des Stalinismus und der politischen Willkür aus der Zeit der DDR erinnert wird. Zwischenzeitlich hat sich die Diskussion um Lernorte mit ihren didaktisch-methodischen Möglichkeiten jedoch in mannigfacher Weise geweitet: Die kulturwissenschaftlich angeregte Diskussion um die so genannten Erinnerungsorte hat den Blick auf andere Epochen (außerhalb der Zeit des Totalitarismus) und andere Vermittlungsstrategien gelenkt. Zwischen 1999 und 2004 beteiligten sich zahlreiche Mitgliedseinrichtungen der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB) am bundesweiten Arbeitsschwerpunkt „Geeintes Deutschland auf dem Weg ins geeinte Europa“. Im Zentrum der Arbeit standen die Konzeptentwicklung und Evaluation von Bildungsveranstaltungen, die sich mit Fragen der deutschen Identität befassten. Die Auseinandersetzung mit Identitäten setzt aber immer auch Kenntnisse jener geschichtlichen Prozesse voraus, in denen sich Identitäten bilden. Deshalb bildete die Aufarbeitung historischer Zusammenhänge und ihrer Bedeutung für die politische Gegenwart einen wichtigen Aspekt der gemeinsamen Arbeit. In diesem Kontext wurden zahlreiche Tagungen durchgeführt, die Exkursionen zu historisch bedeutenden Orten enthielten. Hieraus entstand die Idee einer Publikation, in der Stätten vorgestellt werden, die sich als Lernorte politische Bildung eignen und entweder in der Ausbildung einer deutschen nationalen Identität oder für die Entwicklung des demokratischen Bewusstseins in Deutschland von Bedeutung waren. Das hier vorgelegte Buch vereinigt theoretische Arbeiten zu den Themen politische Bildung, Geschichte und Architektur, Darstellungen historischer Stätten sowie Konzepte und Erfahrungsberichte aus Bildungsveranstaltungen. Ein zweiter Band ist für 2006 in Vorbereitung. Im Folgeband sind u.a. folgende historisch-politische © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Vorwort

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Lernorte vertreten: Nürnberg, die Münchener Residenz, der Immerwährende Reichstag in Regensburg, Wackersdorf, Adelssitze, der Jüdische Friedhof, die Gedenkstätte Bautzen, das Hambacher Schloss, Dachau, der Reichstag in Berlin, die Italienische Eisdiele, der Dom zu Aachen, das Bonner Haus der Geschichte, die Walhalla. Auch die theoretische Diskussion um das Konzept des Lernortes wird u.a. durch eine Erwiderung auf den Beitrag Axel Hofs, der sich in diesem Band 1 befindet, fortgesetzt. Die Bände erscheinen in der Reihe „Veröffentlichungen der CPH-Jugendakademie“, die es sich u.a. zur Aufgabe gemacht hat, den Transfer zwischen Theorie und Praxis politischer Bildung anzuregen. Unser besonderer Dank gilt allen, die zum Gelingen des Projektes und zur Erstellung dieser Publikation beigetragen haben, insbesondere der Autorin und den Autoren dieses Bandes. Wir danken auch dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, ohne dessen Förderung die Veranstaltungen des Arbeitsschwerpunktes und die Publikation des Bandes nicht möglich gewesen wären. Siegfried Grillmeyer und Peter Wirtz

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Siegfried Grillmeyer

„Ortstermine“ Rahmenbedingungen eines Konzeptes

Eine Begegnung vor Ort: Die Matthäuskirche in Frankfurt am Main Wer vom Frankfurter Hauptbahnhof die Friedrich-Ebert-Anlage in Richtung Messe entlangschlendert, entdeckt überraschenderweise zwischen zahlreichen Hochhäusern eine Kirche. Der Turm scheint in der Nachbarschaft des nur hundert Meter entfernt liegenden Messetowers zu schrumpfen und die gleichmäßige Stadtansicht Frankfurts mit ihren Wolkenkratzern fast zu stören. An der Längsseite fordert ebenso überraschend ein gewaltiges Transparent auf, sich gegen den Abriss des Gebäudes zu wehren. Es handelt sich um die 1905 erbaute Matthäuskirche, die im Rahmen des Gesamtensembles an die bekannte Ansicht aus New York erinnert, wo die kleine St. Patrick’s Cathedral – von den Bürotürmen des Industriezeitalters umzingelt – wie ein Fossil aus vergangenen Zeiten anmutet.

Matthäuskirche in Frankfurt/M. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Nimmt man sich die Zeit, um die Informationen zur Geschichte der Kirche im Eingangsbereich zu lesen und später ein wenig im Internet zu recherchieren, ergeben sich interessante Einblicke: Die Kirche entstand zu einer Zeit, als die Frankfurter Bevölkerung und mit ihr die Zahl der Kirchenmitglieder immens zunahmen. Die Einwohnerzahl stieg von 180.000 im Jahr 1890 auf 414.000 im Jahre 1910. Die Frankfurter Landeskirche, erst 1899 durch die „Kirchengemeinde- und Synodalordnung des Konsistorialbezirks Frankfurt a. M.“ begründet, sah es daher als dringlichste Aufgabe, neue Gottesdienststätten zu schaffen.1 Knapp hundert Jahre später zeichnet sich ein anderes Bild ab: In den letzten zehn Jahren sind über vier Millionen Menschen aus den beiden Volkskirchen in Deutschland ausgetreten. Allein in Frankfurt a. M. bieten derzeit die evangelischen Gemeinden in ihren Kirchen Platz für insgesamt 400.000 Christen, verzeichnen aber nur noch 145.000 Mitglieder, von denen viele ihre Gotteshäuser nur selten von innen sehen. Die Frage drängt sich auf, was man mit den immer weniger genutzten Kirchenräumen anfangen soll. Selten gehen aber die Überlegungen dahin, Kirchen abzureißen oder ihre Nutzung zu verändern, auch wenn es einzelne Beispiele dafür gibt: Im brandenburgischen Milow befindet sich nun im früheren Altarbereich der profanisierten Kirche, in der die örtliche Sparkasse eingezogen ist, ein Geldautomat, und an zahlreichen anderen Orten wurden in Kirchenräumen Museen eingerichtet bzw. vormals sakrale Räume einer Mehrfachnutzung zugeführt. In Frankfurt a. M. diskutiert man allerdings direkt den Abriss der Matthäuskirche, was sich gut auf einem Internetforum dokumentiert findet.2 Auch wenn hier einige Hochhausbegeisterte für den Abriss der Kirche zu Gunsten postmoderner Architektur plädieren, so mischen sich auch andere Stimmen in die Diskussion. Und auch wenn angeführt wird, dass sich die Funktion dieser Kirche als Gotteshaus erschöpft habe, da laut einem Bericht des Magazins Focus in den 600 Gläubige fassenden Kirchenraum nur noch etwa 30 Leute in den jeweiligen Gottesdienst kommen3, so werfen andere die grundsätzliche Frage nach der Identitätsstiftung durch sakrale Denkmäler auf: „Aber sind es nicht solche Gebäude wie Kirchen, Schlösser und andere historische Gebäude, die aus Deutschland erst Deutschland oder aus Frankfurt erst Frankfurt machen? Solche Kirchen sind Zeugen unserer eigenen Entwicklung, die uns von anderen Ländern/Städten abhebt und erst Identifikationspunkte schafft.“4

Die Matthäuskirche als „Ortstermin“ Wie auch immer die Diskussion um den Abriss der Matthäuskirche ausgehen wird, sie führt uns zur zentralen Fragestellung der in diesem Band darzustellenden Möglichkeiten des Lernens vor Ort.5 Die reale Begegnung mit einem authentischen Ort wie hier die eindrückliche Umzingelung einer Kirche durch die Hochhäuser lässt gesellschaftliche Entwicklungsprozesse anschaulich werden. Es geht dabei nicht nur © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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um die Geschichte eines Frankfurter Stadtteils, sondern um die zugrundeliegende und am Einzelfall erklärbare Veränderung kirchlichen Lebens in der Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts. Wie die Matthäuskirche für sich, ist Kirche an sich Symbol für einen verdichteten „Erinnerungsort“ unserer Gesellschaft. Exemplarisch lässt sich ablesen, welche wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Interessen die Entscheidung über die Zukunft der (konkreten) Kirche treffen und über ihre Symbolhaftigkeit und Bedeutungsmächtigkeit bestimmen.6 So zeigt das Beispiel der Matthäuskirche, dass dieser Ort, dieses Denkmal, dieses Ensemble – um einige der in der fachwissenschaftlichen Sprachverwirrung gepflegten Begriffe zu verwenden7 – erst durch Informationen, zugrundeliegende Diskurse und damit der Vor- und Nachbereitung einer sogenannten Ortsbegehung, Erkundung, oder Exkursion8 für politisches Lernen am historischen Ort fruchtbar gemacht wird, also als Lernort oder Erinnerungsort erst erschlossen werden muss. Lernen kann nicht aus der reinen Anschauung, der reinen Begegnung mit authentischen Orten gelingen. Dies gilt nicht nur für Orte wie die Matthäuskirche in Frankfurt a. M., sondern auch für Orte wie das Brandenburger Tor, das Hermannsdenkmal und ebenso für die Gedenkstätten der (nationalsozialistischen) Terrorherrschaft.9 Somit geht es zuvorderst – aber eben nicht nur – um ein Nachforschen, wie man Orte „zum Sprechen bringen“ kann. Zweifellos darf der Betrachter dabei nicht nur in positivistischer Manier Dinge zu unzähligen Orten zusammentragen, die mitteilungswürdig sind. Im weitesten Sinne des Wortes muss deswegen „vor Ort“ geklärt werden, was erfahrbar und vermittelbar ist und damit Lernpotential bietet. Bei jedem einzelnen Ort gilt es zu prüfen, was hier Lernen vor Ort bedeuten kann, welche Möglichkeiten und Grenzen es kennt, wie es fruchtbar im Rahmen von Lernprozessen genutzt werden kann. Im folgenden Beitrag wird daher in einem ersten Schritt analysiert, was einen Ort als Lernort auszeichnet. Durch die nähere Bestimmung einiger einschlägiger Begriffe soll dabei der fachwissenschaftlichen Sprachverwirrung ein wenig entgegengesteuert werden. Dabei wird das für diesen Band zugrundeliegende Verständnis von historisch-politischer Bildung in den Blick genommen. Hierbei kann es – wie bei der im zweiten Schritt vorgelegten Konzeption der „Ortstermine“ – nicht um eine Definition dessen gehen, was historische und politische Bildung ausmacht, verbindet und auch unterscheidet, sondern nur um eine Arbeitsbeschreibung. In diesem Zusammenhang gilt es auch, auf die Arbeit einiger Träger politischer Jugend- und Erwachsenenbildung einzugehen. In einem dritten Schritt schließen sich didaktische und methodische Überlegungen zu einer Nutzung historischer Orte für politisches Lernen an. Bereits hier sei nicht verschwiegen, dass der Artikel mit einem Plädoyer für die Nutzung von Ortsterminen nach den skizzierten Bedingungen endet.

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Lernen geschieht immer an einem Ort Der Begriff des Ortes hat im Zusammenhang mit Lernen eine Konjunktur erfahren.10 Daher soll eingangs pointiert festgehalten werden, dass Lernen immer an einem Ort geschieht. Das Kompositum „Lernort“ beschreibt daher im weitesten Sinne nichts anderes als einen Ort, an dem organisierte Lernprozesse stattfinden (können). Seit jeher haben Klassiker der Pädagogik die Forderung erhoben, neben der Lernvermittlung in geschlossenen Räumen (wie denen von Schulen oder von Universitäten) auch reale Begegnungen mit Orten und Menschen zu ermöglichen und damit durch das Hinaustreten in offene Räume und an konkrete Orte Lernprozesse ganzheitlich anzuregen bzw. zu ergänzen.11 In diesem weiteren Sinne werden alle Institutionen der (Aus-)Bildung mitsamt der außerschulischen bzw. außeruniversitären Bildungsmöglichkeiten als Lernorte bezeichnet, wie beispielsweise Jugend- und Erwachsenenbildungsstätten, aber auch Betriebe und informelle Begegnungszentren.12 Didaktiker wie Klaus I. Rogge sehen daher als besonderes Kennzeichen des „Lernens vor Ort“ an erster Stelle den Alltagsbezug der Lernenden im lokalen Kontext an.13 Gerade auch die Diskussionen um die Frage, ob und wie sich die schulischen/universitären und die außerschulischen/ außeruniversitären Bildungsangebote komplementär ergänzen können und sollen, haben den besonderen Stellenwert von spezifischen Lernarrangements außerhalb der verankerten Lerninstitutionen hervorgehoben.14 Daher verwundert es nicht, dass gerade auch im Rahmen der Diskussion um schülerorientierte Lehrplanerneuerung die Aufforderungen nach der stärkeren Einbindung spezifischer Lernorte in der schulischen wie auch außerschulischen Bildung in den letzten Jahren zugenommen haben.15 Hier wurden als konkrete Ergänzung zum Lernen im Klassenzimmer

Ausstellungstafel im Rahmen einer Projektarbeit zum ehemaligen Reichssparteitagsgelände in Nürnberg; siehe dazu www.erinnerungsparlament.de © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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eine große Zahl von Exkursionsratgebern zusammengestellt. Im Bereich des Sozialkundeunterrichtes werden dabei Orte wie Medien und Rundfunkstationen, Gerichtsgebäude, Betriebe, Landtage und Landeshauptstädte empfohlen.16 Für den Geschichtsunterricht werden Lernorte wie das Archiv, das Museum, die Grabung, das Denkmal, das Ensemble und die Befragung genannt.17 Bei allem Reiz, „Weltgeschichte zum Lokaltermin“ werden zu lassen, wie es Erich Kästner im Fliegenden Klassenzimmer versprach, da jede Ortsbegehung sowohl Jugendlichen wie Erwachsenen als Abwechslung zum sonst üblichen Lernalltag entgegenkommt, stellt sich gerade in der Schnittmenge zwischen historischem und politischem Lernen die Frage, was einen Ort zum „historischen Lernort“ werden lässt.

Was bedeutet historisch-politische Bildung? Die Interdependenzen zwischen historischer und politischer Bildung sind mittlerweile auf breiter Basis (zumindest der Didaktiker beider Disziplinen) anerkannt, wodurch weder historische Bildung nur als Voraussetzung oder Propädeutik der politischen Bildung, noch die politische Bildung nur als systematisch-institutionelle Gegenwartsbeschreibung, die allein auf der Geschichte fußt, gesehen werden.18 Gerade im Rahmen der politischen Bildung ist es mittlerweile kein strittiger Punkt mehr, dass man der historisch-politischen Bildung ihren eigenen Stellenwert zuspricht, da sich eben „Politik nicht ohne Geschichte, Geschichte nicht ohne Politik verstehen läßt“19. Vorbehalte gegen diesen Konsens liegen darin begründet, dass Geschichte immer noch als Geschichtskunde missverstanden wird, die Fakten des historisch Erfolgreichen (ohne Alternativen und Gegenprozesse) aneinanderreiht, somit dem Primat der ereignisgeschichtlichen und nicht strukturgeschichtlichen Ausrichtung folgt und damit ein verbindliches Geschichtsbild vermittelt, das nicht auf seinen Geltungsanspruch hinterfragt wird. Historisch-politisches Lernen nutzt hingegen die Interdependenzen zwischen den historischen Sachverhalten und den oftmals damit konkurrierenden Bedeutungszuschreibungen, die sowohl durch die handelnden, zeitgenössischen Akteure als auch durch nachfolgende Generationen erfolgen können, die sich „ihre Geschichte“ als Individuum und Teil einer Gesellschaft aneignen. Geschichte (und ihre Rezeption in der Geschichtswissenschaft bzw. Geschichtsschreibung) wird also in der individuellen und kollektiven Erinnerung immer wieder neu gestaltet und beschrieben. Damit soll, um Missverständnisse auszuschließen, keinesfalls dem postmodernistischen Ansatz der Geschichte als ausschließlich literarischer Gattung das Wort geredet werden, wohl aber darauf verwiesen werden, dass die Geschichte sowohl Fakten als auch Fiktionen bieten kann.20

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Was ist ein historisch-politischer (Lern-)Ort und was ist ein Erinnerungsort? Wer Geschichte als Beschreibung und Zuwendung zu allen Bereichen gestalteten menschlichen Handelns versteht und nicht nur den Fokus auf im engeren Sinne politische Geschichte und Staatsakte legt, dem werden mannigfache Orte zu Lernorten, da sie exemplarisch Ausschnitte gesellschaftlich-kultureller, wirtschaftlichsozialer und politisch-herrschaftlicher Wirkungszusammenhänge verdeutlichen. Darauf hat zusammenfassend aus geschichtsdidaktischer Sicht Siegfried Münchenbach durch eine Aufstellung von Exkursionsmöglichkeiten von der Steinzeit bis zur Gegenwart hingewiesen.21 In der historisch-politischen Bildung fanden dementsprechend nach einer Auseinandersetzung mit den „Wallfahrtsstätten der Nation“ (wie Hermannsdenkmal, Bavaria, Deutsches Eck, Völkerschlachtdenkmal, Walhalla, Porta Westfalica, Befreiungshalle, Niederwalddenkmal)22 und Nationaldenkmäler23 auch Orte des Alltags wie Werkstatt, Wohnzimmer, Küche, Rathaus, Gefängnis ihre Berechtigung als Lernorte. 24 Dieser alltagsgeschichtliche Zugang wurde ergänzt durch Orte gemeinsamer Geschichte von unterschiedlichen Nationen und von unterschiedlichen Regionen.25 Im Rahmen der Entdeckung dieser Lernorte wurde auch der kulturwissenschaftliche Diskurs um die (deutsche) Erinnerungskultur von Historikern genutzt, um in Anlehnung an ein französisches Unterfangen eine Topographie des Erinnerns für den deutschsprachigen Raum zusammenzustellen.26 Nach einem von Pierre Nora entlehnten Konzepts wurden mehr als hundert materielle wie immaterielle „Orte“ dieser Erinnerungslandschaft zusammengetragen, die „Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“ darstellen.27 Diese Erinnerungsorte, die eben nicht vordergründig real-räumlich zu verstehen sind, bilden in der breiten Öffentlichkeit als präsente Bezugspunkte gemeinsamer Vergangenheit den Bezugsrahmen des eigenen Selbstverständnisses. Da (kollektive) Erinnerung metaphorisch bzw. symbolisch als eine Topographie angesehen wird, bilden diese Bezugspunkte der historischen Erinnerung konkrete Orte, eben gemeinsame Erinnerungsorte einer mentalen Landschaft. So werden beispielsweise das Wirtschaftswunder, Goethe und Luther, Achtundsechzig und die Dolchstoßlegende, das Wunder von Bern und das Weihnachtsfest, der Holocaust und die Vertreibung ebenso zu (soziokulturellen) Erinnerungsorten wie Weimar, Nürnberg und der Führerbunker, die einen realen Ortsbezug aufweisen.

Ortstermine – Umschreibung eines Arbeitsbegriffes historisch-politischen Lernens In unserem Zusammenhang geht es um einen real-räumlichen Bezug, der allerdings in Verbindung mit der metaphorischen und soziokulturellen Komponente der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Erinnerungsorte steht. Es geht also wie im Beispiel der Frankfurter Matthäuskirche einerseits um den realen Ort der Kirche, dessen anschaulicher Eindruck durch eine Exkursion eingefangen werden kann, andererseits aber um den gesellschaftlichen Erinnerungsort Kirche, auf den die Hintergründe und Bedeutungen mit ihrem Symbolcharakter verweisen, also um den Bezugspunkt abendländisch-christlicher Kulturtradition. Diese Verbindung zwischen real-räumlicher Verortung mit der metaphorischen bzw. soziokulturellen Komponente zeigt sich an vielen Beispielen, die in diesem und dem Folgeband ihren Niederschlag finden. Es sei nicht verschwiegen, dass dieser Zugang vor allem auch eine reale Anschauung mit ihren spezifischen didaktisch-methodischen Möglichkeiten im Lernprozess und damit die Vorteile der attraktiven Ortsbegehung bzw. Geländebegehung aufgreift und nutzt, gleichzeitig aber auch stets den Blick auf die Hintergründe, die Erinnerungsfunktionen einbezieht und ihre Wahrnehmung und Indienstnahme der Gegenwart thematisiert.

Exemplarische Ortstermine Zur Gliederung der Beiträge dieser Veröffentlichung Der Konzeption von Ortsterminen entspricht das Spektrum der hier vorgestellten Orte: Weit über die zeitgeschichtliche Beschränkung auf Gedenkstätten der jüngeren Vergangenheit und die vordergründig identitätsstiftenden Monumente und Orte der deutschen Geschichte hinaus sollen in den Beiträgen die Facetten der deutschen Geschichte und Kultur ausgelotet werden. Ihr Verbindungsglied ist dabei stets das Anliegen, politische Bildung zu vermitteln. In allgemeiner Weise wird in den ersten Beiträgen auf das Handwerkszeug zur Erschließung von Ortsterminen in inhaltlicher, wie aber auch weiterführend didaktisch-methodischer Hinsicht eingegangen, konkret also auf die Ikonologie der Architektur (Peter Wirtz) und auf die fachwissenschaftliche Standortbestimmung in der Diskussion über den Nutzen dieses spezifischen Gestaltungsprinzips von Lernprozessen (Axel Hof ). Daran schließen sich zwei Beiträge, die nach Möglichkeiten des politischen Lernens in, durch und an Museen (Thomas Brehm) und im Rahmen von Dokumentationszentren (Bernd Buchner) grundsätzlich fragen, auch wenn hier bereits als Beispiele konkrete Institutionen beschrieben werden. In den weiteren Beiträgen, die sich auf diesen wie den geplanten Nachfolgeband aufteilen, werden zwar ebenso die grundlegenden Fragen nach der Qualifizierung eines Ortes als Lernort behandelt, auf die Möglichkeiten der Nutzung als Ortstermin im größeren Seminarzusammenhang verwiesen und eine entsprechende Sachanalyse geleistet, aber dies geschieht jeweils auf einen Ort hin bezogen, der bei aller Beispielhaftigkeit dennoch auch der Einzigartigkeit der vorzustellenden Orte Rechnung trägt. Stets möchten die Beiträge jedoch dazu einladen, auch andere © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Orte mit den erprobten Instrumentarien fachwissenschaftlicher wie didaktischmethodischer Art zu erschließen und ggf. auch den vorgestellten einzigartigen Ort im Rahmen von Seminaren heranzuziehen. Auch wenn das Spektrum, wie eine kurze Aufzählung leicht belegen kann, weit reicht – vom Dom zu Aachen, dem Rheinland, dem Ruhrgebiet über die Eisdiele, das Fußballstadium, jüdische Friedhöfe, Migration in Mannheim, Parlamente in Dresden, Wackersdorf, Walhalla, Hermannsdenkmal, Immerwährende Reichstag in Regensburg bis zu Nürnberg, Berlin, Dachau und Adelssitze im Osten der Republik –, so kann sich schnell die Frage einstellen, warum nicht dieser oder jener Ort als prädestinierter Ortstermin Aufnahme gefunden hat. Diese Frage ist allerdings leicht zu klären, da das Konzept der Ortstermine an sich schon eine erschöpfende Abhandlung ausschließt und gerade eine Ermunterung sein will, nach entsprechenden Orten Ausschau zu halten.

Historisch-politische Angebote in der Jugendund Erwachsenenbildung Die Einbeziehung von Ortsterminen im Rahmen von Lernarrangements zu Themen der politischen Bildung fordert von der Leitung ein hohes Maß an Engagement in der Vor- und Nachbereitung, entsprechende Zeitressourcen zur Durchführung und eine adäquate Lernumgebung. Auch wenn sich dieses Konzept ebenso im Rahmen der schulischen Bildung einsetzen lässt (und dieser Band auch nachdrücklich dazu ermuntern möchte), so bieten hier Träger der außerschulischen/außeruniversitären Bildung optimale Voraussetzungen.28 Sie gewährleisten einen kontinuierlichen Arbeitszusammenhang über die 45-Minuten-Taktung zwischen 8.00 und 13.00 Uhr hinaus, stellen die erforderliche Infrastruktur in den Jugend- und Erwachsenenbildungsstätten zur Verfügung und vermögen dadurch enge Fachgrenzen zu überwinden und eine intensive Form der Begegnung zu ermöglichen. Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass die hier versammelten Beispiele aus der Praxis von ReferentInnen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung und ihrer Kooperationspartner entstammen. In der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB) arbeiten bundesweit mehr als 60 Bildungsträger zusammen, und dieser Verbund bot zwischen 1999 und 2004 die Plattform, das Konzept der „Ortstermine“ im kollegialen Austausch zu prüfen. Die Entwicklung und Durchführung der lokalen Seminarveranstaltung oblag natürlich den einzelnen BildungsferentInnen, die Evaluation und Weiterentwicklung der Seminare und ihrer einzelnen methodisch-didaktischen Bausteine fand hingegen im Rahmen von regelmäßigen Arbeitstreffen statt. Das Konzept der „Ortstermine“ wurde dabei nicht nur in Seminaren mit dezidiert historischer Thematik wie „Das nationalsozialistische Erbe“, sondern auch in Angeboten wie © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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„Deutschland in Kunst, Literatur und Film“ und Jugendaustauschprogrammen eingesetzt. Die im Folgenden streiflichtartig zusammengestellten didaktisch-methodischen Überlegungen und Anregungen sind daher aus dem Blickwinkel dieses Arbeitskreises geschrieben und wollen zur Reflexion und Diskussion einladen, ohne dieses Feld auch nur annähernd systematisch zu erschließen.

Didaktisch-methodische Überlegungen Das Konzept der „Ortstermine“ ist eingebettet in eine spezifische Lernkultur, die sich durch einen ganzheitlichen Ansatz auszeichnet. Kognitive Wissensbestände, emotional-affektive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand und soziale Lernprozesse durch gemeinsames Erschließen von Deutungszusammenhängen greifen hier sinnvoll ineinander: Der lebensweltliche Bezug wird durch die Primärerfahrung eines (exemplarischen) Lerngegenstandes sichergestellt. Die üblicherweise ortsnahe Realitätserfahrung bietet mit Fertigkeiten und Fähigkeiten der Reflexion somit Orientierungswissen, das weit über die Auseinandersetzung mit dem konkreten Ort hinausreicht. Individuelle wie kollektive Selbstvergewisserung geschieht nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit den vor Ort ablesbaren identitätsstiftenden Momenten unserer Alltagskultur. Ob nun in Aneignung oder Ablehnung werden prägende und an realen Orten erfahrbare Momente unserer Kulturlandschaft in Verbindung zur eigenen Lebenswirklichkeit gebracht. In geschichtsdidaktischer Sicht wurde auch von der Begegnung mit vier verschiedenen „Formkreisen“ dieser Kulturlandschaft gesprochen.29 Die vielfach zu recht beschworene Authentizität des Ortes vertieft dabei in besonderer Weise die Möglichkeit, ganzheitliches Lernen zu ermöglichen, es durch die sinnlich erfahrbare und zu reflektierende Wirkung mit den Wissensbeständen zu ergänzen.30 Die Erschließung von „Ortsterminen“ erfüllt die didaktischen Ansprüche einer ernstgenommenen Teilnehmer- und Handlungsorientierung. Die Fragen an den Ort sind von den Lernenden selbst zu finden, die nötigen Materialien dazu selbst aufzusuchen, die Methoden der Informationsbeschaffung und -aufbereitung selbst zu bestimmen, ohne sie dabei zu überfordern. So werden multiple Fähigkeiten durch aufsuchendes Lernen gefördert, die gemeinhin als Schlüsselkompetenzen beschrieben werden – von Teamarbeit und Kommunikationsfähigkeit bis hin zu praktischen Fähigkeiten der Datenerhebung und deren Aufbereitung durch Zeichnung, Ton- und Bildbearbeitung und Präsentation, 31 wobei die Einübung analytischer und abstrakter Kategorien natürlich nicht zu kurz kommen sollte. Im Rahmen der allgemeinen Exkursionsdidaktik wurde in Übersichts- und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Exkursion einer internationalen Gruppe zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg

Arbeitsexkursion unterschieden.32 Diese Begrifflichkeit lenkt in unserem Zusammenhang den Blick darauf, dass es sich weniger um ergänzende Informationen im Rahmen von mehr oder minder gelenkten Ortsbegehungen handeln soll – so sinnvoll diese klassischen Vermittlungsformen auch sind33, sondern um den Arbeitszusammenhang der eigenen Erschließung im Sinne einer Projektarbeit, wie sie gerade in mehrtägigen Seminaren der außerschulischen (Jugend-)Bildung gewährleistet wird. Welche konkreten methodischen Zugänge auch immer gewählt werden – die Erschließung und Vertiefung durch Experten- und Zeitzeugeninterviews, durch Gegenüberstellung mit „anderen Orten“, durch die Arbeit mit Text- und Bildmaterialien, die den Ort erschließen, durch konkrete Arbeitsaufträge –, im Mittelpunkt steht bei einer nachhaltigen historisch-politischen Bildung die Rückbindung der „Ortstermine“ an den Gesamtzusammenhang des Seminars, oder allgemein des Lernprozesses. So banal die Feststellung auch anmutet, dass eine Seminareinheit eine vertiefte Vor- und Nachbereitung benötigt, so wichtig ist sie, um das Lernpotential auszuschöpfen.34 Die erkenntnisleitenden Interessen an den spezifischen Ort lassen sich nicht vor Ort finden, sondern müssen durch das übergeordnete Lernziel bestimmt werden. Ansonsten verkümmern Ortstermine unter dem Imperativ vermeintlicher Attraktivität des Lernens „außer Haus“ zu methodischen Platzhaltern ohne thematische Füllung. Zahlreiche Wandertage, die gutgemeint, aber ohne Lernzielbestimmung zu historischen Stätten führen, legen immer wieder beredt Zeugnis davon ab. Im Rahmen der politischen Bildung sei die zentrale Fragestellung kursorisch zusammengefasst: Politisches Lernen bedeutet, den Bedingungen, Strukturen und Wirkungszusammenhängen eines demokratischen Zusammenlebens und damit der „Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Herrschaftsform“ (Gerhard Himmelmann) nachzugehen. Ortstermine können dazu in vielfältiger Weise Spiegelbild, Kaleidoskop und Brennglas sein.

Die Matthäuskirche Wer in Frankfurt a.M. die Matthäuskirche in den Blick nimmt, dem wird ein gesellschaftlicher Spiegel vorgehalten: Abendländisch-christliche Kulturtraditionen stehen im Wechselspiel mit gegenwärtigen Strömungen, eben nicht nur architektonisch gesehen. Im Kaleidoskop der Argumente tauchen die zentralen Begriffe gegenwärtiger Diskurse auf: Identifikation und Identität, Verteidigung kultureller Tradition gegen neoliberale Globalisierung, Primat der Ökonomie und Verlust spirituell und sozial verankerter Wertebindung.35 Und wie im Brennglas spiegelt sich die veränderte Situation der Kirche als (gesellschafts)politische Kraft wider, wie sich allein aus dem zitierten Internetbeitrag ablesen läßt: „Ich gehe zwar auch nicht oft in die Kirche, aber ich will nicht sehen, dass unsere Kultur innerhalb von einem oder zwei Jahrzehnten einfach weggerissen wird. Na ja, in diesem Einzelfall ist´s halt dumm gelaufen, aber die Leute sollten bei der nächsten Abrissdiskussion auch an den Erhalt der Kulturlandschaft denken…“. Und über diesen Zusammenhang lässt sich vieles lesen, lehren und lernen – am besten aber, man ergänzt dies mit einem Ortstermin und lässt den Anblick der kleinen Kirche vor dem Hochhauspanorama auf sich wirken!

Anmerkungen 1 In kürzester Zeit entstanden die erwähnte Matthäuskirche (1905), die Neue Nicolaikirche (1909), die Martinuskirche (1911), die Markuskirche (1912), die Lukaskirche und die Apostelkirche (1913) sowie die Erlöserkirche (1914). Hinzu kamen noch 1928 die Friedenskirche, sowie die Gustav-Adolf-Kirche und die Philippuskirche. 2 Die Diskussion um den Abriss der Kirche entspannte sich auf der Website www.skyscrapercity.com/showthread.php?threadid=9778. Eine komprimierte Zusammenfassung leistete der Beitrag von Andreas Mertin: Break-Down. Ein Diskussionsprotokoll zum Abriss der Matthäuskirche in Frankfurt. In: Magazin für Theologie und Ästhetik 20 (2002), einsehbar im Internet unter www.theomag.de/20/am69.htm. 3 Vgl. dazu Focus Nr. 45/2002, 62; zitiert nach dem oben genannten Internetforum. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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4 Aufgrund der Argumentationsdichte sei hier der Eintrag im Internetforum vom 06.11.02 ausführlich zitiert: „Aber sind es nicht solche Gebäude wie Kirchen, Schlösser und andere historische Gebäude, die aus Deutschland erst Deutschland oder aus Frankfurt erst Frankfurt machen? Solche Kirchen sind Zeugen unserer eigenen Entwicklung, die uns von anderen Ländern/Städten abhebt und erst Identifikationspunkte schafft. Denn Hochhäuser sind zwar auch toll, schaffen aber nie die Identifikation mit Frankfurt wie der Römer mit Frankfurt. Oder was unterscheidet zwei Städte mit je vielen Hochhäusern? Antwort: Nicht viel, denn Klischees und Vorurteile entstehen durch andere Gebäude! Hochhäuser sind internationale, kapitalistische, überall vorkommende Gebäude, die sich im Vergleich zu historischen Gebäuden kaum voneinander abheben. Und Kirchen gehören nun einmal zu unserer Kultur, genauso wie Deutschland auch seine christliche Identität nicht verlieren sollte. Ich gehe zwar auch nicht oft in die Kirche, aber ich will nicht sehen, dass unsere Kultur innerhalb von einem oder zwei Jahrzehnten einfach weggerissen wird. Na ja, in diesem Einzelfall ist´s halt dumm gelaufen, aber die Leute sollten bei der nächsten Abrissdiskussion auch an den Erhalt der Kulturlandschaft denken...“ 5 An dieser Stelle sei nochmals allen Kolleginnen und Kollegen herzlich gedankt, die meine Auseinandersetzung mit dem Konzept des „Lernens vor Ort“ durch Hinweise aus der Praxis vertieft, durch zahlreiche Literaturhinweise und Diskussionen erweitert und meine Überlegungen stets anregend und bereichernd diskutiert haben, namentlich Axel Hof, Thomas Barth und Zeno Ackermann. 6 Vgl. dazu auch den Essay von Hanno Rauterberg: Von allen guten Geistern verlassen. Jede dritte Kirche ist von Schließung, Verkauf oder Abriss bedroht. In: Die Zeit 11/2004. 7 Vgl. die hilfreichen Definitionsversuche im Sammelband von Wilfried Lipp: Denkmal – Werte – Gesellschaft. Zur Pluralität des Denkmalbegriffs. Frankfurt a.M./New York 1993; hier vor allem Tilmann Breuer: Ensemble – Konzeption und Problematik eines Begriffs des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes, 170-202, sowie Willibald Sauerländer: Erweiterung des Denkmalbegriffs? 120-149. 8 Auch hier lohnt eine klare Abgrenzung der unterschiedlichen Begrifflichkeiten nicht, da im Folgenden das Konzept der „Ortstermine“ im Zusammenhang der politischen Bildung vorgestellt wird. 9 Vgl. Helmut Rook: „Der Ort allein wirkt nicht – Erfahrungen aus der Gedenkstättenpraxis“. In: Klaus Ahlheim (Hrsg.): Gedenkstättenfahrten. Schwalbach/Ts. 2004, 110-114. 10 Die Literatur dazu ist mittlerweile fast unüberschaubar geworden. Eine Bibliographie zum Themenbereich „Lernen vor Ort“ soll zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung gestellt werden. 11 Vgl. dazu den einführenden Überblick mit dem Verweis auf Commenius, Rousseau, Pestalozzi u.a. bei Paul Ackermann: „Außerschulische Lernorte – ausgewählte Motive und Kategorien aus der Geschichte der Pädagogik. In: Ders. (Hrsg.): Politisches Lernen vor Ort. Außerschulische Lernorte im Politikunterricht. Stuttgart 1988, hier 10 ff. Die ältere Literatur bei Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München (Hrsg.): Handreichungen zur Exkursionsdidaktik. Donauwörth 1995. 12 Vgl. dazu bspw. Friedel Schier/Britta Reitz: Qualifizierungsbausteine: neue Bildungswege – neue Lernorte. In: JBG (Jugend. Beruf. Gesellschaft. Zeitschrift für Jugendsozialarbeit) 4 (2004), 239-244 sowie Peter Leibenguth-Nordmann: Abschied vom Haus? Zur Krise © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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des Lernorts Bildungsstätte. In: AB (Außerschulische Bildung) 1 (2004), 29-36; sowie das Themenheft: Den Lernort Bildungsstätte neu begründen (= AB 2 (2005). Vgl. Klaus I. Rogge: Lernen vor Ort. Gemeinwesen orientierte Bildungsarbeit zwischen Kultur- und Sozialarbeit. In: U. Klemm u.a. (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven regionaler Erwachsenenbildung. Frankfurt a. M. 1997, 15-24. Vgl. Claus Zernetschky: Kooperation von Schule und außerschulischen Einrichtungen – Harmonisierung von Lehrplänen und Seminarprojekten. In: Siegfried Grillmeyer, Zeno Ackermann (Hrsg.): Erinnern für die Zukunft. Die nationalsozialistische Vergangenheit als Lernfeld der politischen Jugendbildung. Schwalbach/Ts. 2002, 40-59. Vgl. dazu die einschlägigen Veröffentlichungen mit dem Plädoyer für Lernorte, bspw. Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung (Hrsg.): Historische Exkursionen in Franken und in der Oberpfalz. Dillingen 1999; Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München (Hrsg.): Geschichte vor Ort. Anregungen für den Unterricht an außerschulischen Lernorten. Donauwörth 1999; sowie Paul Ackermann: a. a. O. In dem Band von Paul Ackermann, Politisches Lernen vor Ort, wurden bspw. außerdem „Bereiche der Naherkundung“, die „Zeitung als Lernort“, „Bundeswehrkaserne und Zivildienstarbeitsplätze“ sowie Klassenfahrten erwähnt. Vgl. bspw. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München (Hrsg.): Geschichte vor Ort. Donauwörth 1999. Zum bayerischen Kontext vgl. Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung (Hrsg.): a. a. O. Eine Abgrenzung zwischen historischer und politischer Bildung wurde in einem anderen Beitrag geleistet. Vgl. daher ausführlicher Siegfried Grillmeyer: Identität als Kategorie. Zum Schwerpunkt „Geeintes Deutschland auf dem Weg ins geeinte Europa“. In: Peter Wirtz (Hrsg.): Konzepte, Strukturen und Inhalte außerschulischer politischer Bildung. Erscheinen in Vorbereitung. Vgl. dazu auch die grundlegende Arbeit von Dirk Lange: Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen Lernens. Schwalbach/Ts. 2004, 5. Aus Sicht der Praxis ergänzend dazu Paul Ciupke: Historisch-politisches Lernen in der politischen Erwachsenenbildung. Ein Überblick von 1945 bis heute. In: Praxis Politische Bildung (PPB) 3 (1999), 245-255. Vgl. etwa Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt/M. u. a. 1998. Siegfried Münchenbach: Geschichte vor Ort – Exkursion und Museum. In: H. Parigger (Hrsg.): Die Fundgrube für den Geschichtsunterricht. Berlin 1996, 315-325. Vgl die kritischen Essays zu den genannten Orten in: Hans Jürgen Koch (Lektorat): Wallfahrtsstätten der Nation. Vom Völkerschlachtdenkmal zur Bavaria. Frankfurt a. M. 1971. Vgl. hierzu weiterhin den grundlegenden Aufsatz von Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal im 19. Jahrhundert. In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, 133-173. Auf die Verortung derartiger Denkmäler durch Vereine und Feste hat ausführlich am Beispiel des Kultes um den Gallier Vercingetorix und den Germanen Hermann hingewiesen Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Göttingen 1995. Vgl. in europäischer Perspektive Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte. München 1994. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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25 Vgl. Horst Möller; Jacques Morizet (Hrsg.): Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte. München 1996; sowie die einschlägigen Hinweise in Ursula A. J. Becher, Wlodzimierz Borodziej, Robert Maier (Hrsg.): Deutschland und Polen im zwanzigsten Jahrhundert. Analysen – Quellen – Didaktische Hinweise, Hannover 2001; und den Sammelband Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Ausstellungskatalog. DHM Berlin 1998. 26 Zum frz Vorbild der Erinnerungsorte vgl. die einleitenden Hinweise bei Harald Stockert und Axel Hof in diesem Band, ergänzend dazu auch Etienne Francois; Hagen Schulze: Das emotionale Fundament der Nationen. In: Monika Flacke (Hrsg.): ebd. 27 Etienne Francois; Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2000 f., 18. 28 Vgl. hierzu Anmerkung 14. 29 M. Schwind unterscheidet vier Formkreise: In der Gegenwart geschaffene Formen, in der Vergangenheit geschaffene, aber gegenwärtig noch lebendige Formen, in der Vergangenheit geschaffene, aber heute nicht mehr lebendige Formen und in der Vergangenheit geschaffene, heute aber noch durch Spuren feststellbare Formen. Zitiert nach Bernd Hey: Die historische Exkursion. Zur Didaktik und Methodik des Besuchs historischer Stätten, Museen und Archive (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung 19). Stuttgart 1978, 85. 30 Vgl. dazu das einführende Kapitel in: Ralf Kaulfuss et al.: Geschichte vor Ort. Anregungen für den Unterricht an außerschulischen Lernorten. Donauwörth 1999, 9-26, dort auch die ältere geschichtsdidaktische Literatur. 31 Die einschlägigen Exkursionsratgeber wie auch die allgemeine Exkursionsdidaktik weisen auf die Möglichkeiten und Grenzen entsprechender Präsentationsformen hin, wie Bericht, Fotomontagen, Wandzeitungen, Ausstellungen, Internetauftritte sowie aus dem Seminar/projekt entwickelten Folgeveranstaltungen wie Podiumsdiskussion etc. Vgl. exemplarisch auch die Ergebnissicherung der Projektarbeit in: Körberstiftung (Hrsg.): Jugendliche forschen vor Ort. Kommentiertes Verzeichnis der preisgekrönten Arbeiten zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten seit 1974. CD-ROM, Version 2.0, Hamburg 2003. 32 Vgl. dazu ausführlicher S. Münchenbach; a. a. O. 320. 33 Vgl. hierzu ebd. und das Plädoyer für Stadtrundgänge am Beispiel der nationalsozialistischen Epoche Alexander Schmidt: „Sind Sie der Führer?“ – Nationalsozialismus als Thema von Stadtrundgängen. In: S. Grillmeyer, Z. Ackermann (Hrsg.): Erinnern für die Zukunft. Schwalbach/Ts. 2002, 99-111. 34 Vgl. hierzu auch die detaillierte Auflistung der Arbeitsschritte zur Vor- und Nachbereitung bei Johan von Soeren: Zur Didaktik und Methodik historischer Exkursionen. In: Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung (Hrsg.): Historische Exkursionen in Franken und in der Oberpfalz, Dillingen 1999, 7-22; dort auch vertiefende Literatur. 35 Vgl. dazu die Verweise in Anm. 4, dort auch das folgende Zitat.

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Ikonologie der Architektur und politische Bildung Seit Menschen damit begonnen haben, ihre Umwelt bewusst zu gestalten, verfolgen sie mit dieser Tätigkeit nicht nur pragmatische Ziele. War das Bedürfnis nach Schutz des Körpers, der durch die Unbilden der Natur, feindliche Angriffe wilder Tiere oder Aggressionen eigener Artgenossen bedroht wurde, zunächst Anlass für die Absicherung von Höhlen, die Errichtung von Hütten oder das Einfrieden von Siedlungen, so entsprach es immer dem menschlichen Bedürfnis, über die Funktionalität hinaus seine Umwelt auch ästhetisch zu gestalten. Jedoch würde es zu kurz greifen, die Ausschmückung durch Malerei, die Einbindung von Plastiken oder die Verwendung architektonischer Formen einzig dem Bedürfnis nach Verschönerung zuzuordnen. Die ästhetische Gestaltung von Bauten hat häufig genug eher ihre Ursachen in magischen, psychologischen oder ideologischen Motiven. Fragen der Inhalte und der Bedeutung von Kunstwerken – seien es Malerei, Plastik oder Architektur – zu klären ist Aufgabe der Ikonographie und Ikonologie. Im Gegensatz zur Formen- und Stilgeschichte steht bei diesen Disziplinen nicht die ästhetische Dimension des Kunstwerks im Mittelpunkt, sondern ihre inhaltliche. Sie fragt damit auch nach außerhalb der Kunst liegenden Motiven für die Herstellung von Kunstwerken.

Ehemaliges Kurhaus, heutiges Spielcasino Aachen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Ikonographie und Ikonologie Die Kunstwissenschaften widmen sich die Fragestellung nach der Bedeutung von Bauten erst seit gut 50 Jahren. Die Geschichte der Ikonographie und der Ikonologie ist – folgt man den zeitgenössischen Definitionen dieser Begriffe – insgesamt recht jung. So setzt die inhaltliche Entschlüsselung von Kunstwerken erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Zwar liegen die Ansätze der Ikonographie wesentlich weiter zurück, doch eine systematische wissenschaftliche Forschung ist nicht viel älter als 150 Jahre. Der Begriff „Ikonographie“ meint zunächst nichts anderes als „Bildbeschreibung“. Weit in die Zeit der Renaissance geht beispielsweise das Bemühen zurück, die auf antiken Münzen abgebildeten Personen zu identifizieren. Dass Mitte des 19. Jahrhunderts die Verwissenschaftlichung des Fachs beginnt, liegt unter anderem darin begründet, dass Kenntnisse der Themen von Kunstwerken dem Wissensgut des Volkes immer weniger präsent sind. Verfügte der Mensch der Neuzeit noch über erhebliche Kenntnisse sowohl der antiken Mythologie wie auch des Alten und Neuen Testaments – die beiden zentralen Themenfelder der Kunst bis ins 18. Jahrhundert – so können Kenntnisse hierüber in späteren Zeiten immer weniger vorausgesetzt werden. Ein Bild, das einen Menschen in einer Grube in friedlicher Gemeinschaft mit Löwen zeigt oder einen Mann darstellt, der sich mit seinem wallenden Haupthaar in einem Dornengestrüpp verfangen hat, ist für Menschen ohne Bibelkenntnis nicht mehr entschlüsselbar. Aus diesem Grunde wurden in den letzten Jahrhunderten zahlreiche Handbücher und Lexika verfasst, die dem Bibel- und Mythologieunkundigen alle wesentlichen Kenntnisse zur Entschlüsselung von Bildern und Skulpturen vermitteln. Die Ikonographie unterscheidet drei Schritte zur Interpretation von Kunstwerken1: 1. Die Beschreibung des Kunstwerkes. In dieser Phase wird lediglich beschrieben, was äußerlich zu sehen ist; bei einem Gemälde z.B. die erkennbaren Gegenstände (Landschaft, Personen, Dinge), bei einer Skulptur die Figur einschließlich ihrer Kleidung und Gestik, bei einem Gebäude die Anlage der einzelnen Teile, der Fenster, Türme und des äußeren Schmucks. 2. Die Identifikation des Themas. Im Falle der Malerei und Plastik bedeutet dies, die außerhalb der Kunst liegenden inhaltlichen Vorgaben zu identifizieren, also nach der Frage „Was ist zu sehen?“ die Frage „Was stellt es dar?“ zu beantworten. Sehen wir auf einem Bild einen Jüngling, der drei nackten Frauengestalten gegenübersteht und einen Apfel in der Hand hält, so können wir ihn als Paris und die drei Frauen als Hera, Athena und Aphrodite identifizieren und wissen, dass hier eine Szene bildlich umgesetzt wurde, die der griechischen Sagenwelt entstammt und den Ursprung des Trojanischen Krieges bildet. In der Archi© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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tektur bedeutet dies, ein Gebäude in einen bestimmten außerarchitektonischen Funktionszusammenhang einzuordnen, z.B. einen Säulengang als Rest einer griechischen Kultstätte zu erkennen oder einen mittelalterlichen Rundbau als Taufkapelle. 3. Die Interpretation der Künstlerabsicht. Ist das Kunstwerk beschrieben und ist erkannt worden, in welcher inhaltlichen Tradition es zu verorten ist, muss noch der Frage nachgegangen werden, welche Intentionen der Künstler mit der von ihm gewählten individuellen Gestaltungsweise verfolgte. Während in der zweiten Phase darauf geachtet wurde, welche Gemeinsamkeiten das Kunstwerk mit Werken ähnlichen Aussehens verbindet und wie es damit einer bestimmten inhaltlichen Kategorie zuweisbar wird, werden in der dritten Phase die Auffälligkeiten untersucht, die es von anderen Kunstwerken unterscheidet. Nehmen wir nur an, sowohl der Paris auf unserem Gemälde wie auch die drei Göttinnen trügen die identifizierbaren Gesichtszüge uns bekannter Personen, so würden wir davon ausgehen können, dass der Künstler hiermit eine jenseits des ästhetischen Horizontes anzusiedelnde Absicht verfolgt. Ein berühmtes Beispiel aus der Kunstgeschichte ist das Altarbild der Sixtinischen Kapelle, das das Jüngste Gericht darstellt. Es wird berichtet, Michelangelo habe den Gesichtern der durch Jesus Verdammten das Aussehen seiner Gegner verliehen. Hier geht der Maler also über den eigentlichen künstlerischen Auftrag hinaus und legt noch eine besondere Botschaft in seine Ausführung, nämlich die Mitteilung, dass er seine Gegner als mit dem Teufel im Bunde sieht. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Einfügung von Symbolen; so wäre es denkbar, aus dem Apfel, den Paris der aus seiner Sicht schönsten Göttin überreichen muss, einen kleinen Wurm kriechen zu lassen, also ein in der Kunstgeschichte bekanntes Mementomori-Symbol hinzuzufügen und damit das Schicksalhafte der gesamten Szene in einem bestimmten Sinn zu interpretieren. Auch in der Architektur finden wir oft über die allgemeine Zuordnung eines Bauwerkes hinausgehende Hinweise auf bestimmte, individuelle Aussageabsichten. So kann etwa die Grundrissgestaltung einer Kirche etwas über konfessionelle Positionen der Bauherren aussagen. Wer zum Beispiel den Kampf zwischen Christopher Wren und dem Londoner Magistrat bei der Errichtung der St. Paul’s Kathedrale anhand der verschiedenen Entwürfe verfolgt, merkt schnell, wie hier unterschiedliche konfessionelle Positionen mittels architektonischer Pläne ausgetragen wurden. Allerdings sollte man im Fall der Architektur stets beachten, dass nicht der Künstler allein, also der Architekt, eine zentrale Rolle spielt, sondern nicht minder der Bauherr. Wenn diese drei Phasen der Ikonographie durchlaufen worden sind, muss ein weiterer Schritt gegangen werden, der gewöhnlich mit dem Begriff „Ikonologie“ bezeichnet wird. Die Ikonologie sieht das Kunstwerk nicht nur als individuelle © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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oder kollektive Leistung von Künstlern, sondern versucht es als Ausdruck seiner Epoche zu verstehen. Sie fragt also nicht primär danach, was der Künstler mit dem Werk ausdrücken wollte, sondern inwieweit sich politische, historische, soziale, religiöse und gesamtkulturelle Aspekte in einem Kunstwerk offenbaren. Denn jeder Künstler ist ein Kind seiner Zeit, und Kunstwerke erzählen etwas über die Epoche, in der sie entstanden sind. Es sind häufig keine bewussten Botschaften, sondern dem Künstler unbewusste Informationen, die sein Werk dem aufmerksamen Beobachter mitteilt. Damit interpretiert die Ikonologie ein Kunstwerk vor seinem gesellschaftlichen Hintergrund und fördert nicht nur Erkenntnisse über das Werk, sondern auch über die Zeit, in der es entstanden ist, zutage.

Ikonologie und Architektur Eine breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ikonologischen Aspekten der Architektur beginnt erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Bis zu diesem Zeitpunkt stehen die formal-ästhetischen Fragen im Zentrum der Forschung. Bahnbrechend sind vor allem die Arbeiten von Günter Bandmann2 und Ernst Sedlmayr3 über die sakrale Baukunst des Mittelalters, die das Bewusstsein für die ikonologische Interpretierbarkeit von Bauwerken eröffnen. Sedlmayr interpretierte die mittelalterliche Kathedrale als Versuch, das himmlische Jerusalem der Apokalypse des Johannes architektonisch zu gestalten. Er belegt dies mit dem Nachweis zeitgenössischer Texte, die das Vorhandensein entsprechender architektonischer Theorien im Mittelalter belegen4. Auf die Bedeutung politischer Ideen beim Sakralbau hatte bereits 1941 Franz Unterkircher hingewiesen, der gezeigt hatte, dass die Doppelchörigkeit ottonischer Kirchen als Symbol für das Gegenüber von weltlicher und geistlicher Gewalt zu sehen ist5. Aus den jeweiligen Ausführungen lässt sich das Selbstverständnis der betreffenden Bauherren ablesen. Die Entwicklung einer ikonologischen Architekturtheorie blieb nicht ohne Widerspruch. Ihre Gegner vertreten die Auffassung, dass alle Versuche, Bauwerken einen Sinn zuzuordnen, erst im nachhinein erfolgen und insofern für den Schaffensprozess selbst ohne Bedeutung sind. Einziges Kriterium zur Beurteilung von Bauwerken sei ihre ästhetische Ordnung und die menschliche Empfindung. Jeder Verweis auf eine außerhalb des Kunstwerkes gelegene Sinnebene wird als irrelevant für den Entstehungsprozess gesehen. Tatsache ist, dass die uns erhalten gebliebenen Bauurkunden früherer Jahrhunderte vornehmlich die äußeren Fakten benennen, jedoch keine Erklärungen zu einem die Gestaltung beeinflussenden Sinnhorizont anbieten. Demgegenüber stehen jedoch zeitgenössische Baubeschreibungen, die dokumentieren, dass bereits unmittelbar nach der Entstehung eines Bauwerkes der Zusammenhang von Form und Sinngebung benannt wird, man also davon aus© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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gehen darf, dass dem zeitgenössischen Betrachter diese Zusammenhänge bewusst waren und mit Sicherheit im Bauprozess eine Rolle spielten. Deutliche Indizien hierfür sind Inschriften, die nicht nur den Bauherrn benennen, sondern ihn auch in eine bestimmte, das Bauwerk betreffende Position stellen6. Hans Sedlmayr hat die Position einer rein auf ästhetische Kategorien beschränkten Kunstkritik dadurch erklärt, dass jede Idee von einer Sinnhaftigkeit des Weltganzen verlorengegangen sei7. Neben Bandmann und Sedlmayr gehört Fritz Saxl zu den ersten, die sich mit der politischen Ikonologie der Architektur auseinandersetzen. In einem erstmals 1938 gehaltenen Vortrag „The Capitol during the Renaissance – A Symbol of the Imperial Idea“ beschreibt er mit dem römischen Kapitol nicht ein bestimmtes Gebäude, sondern einen bestimmten Ort und seine zahlreichen architektonischen Gestaltungsversuche. Saxl weist nach, dass von der Antike an das Kapitol für jede neue Epoche und Dynastie als symbolischer Ort für Herrschaft galt. Insbesondere seine Neugestaltung während der Renaissance, an der auch Michelangelo beteiligt war, verdeutlichen, dass schon der Ort und die Lage der Gebäude Ideen folgen, die außerhalb der rein formalen Ebene der Architektur lagen. So wurden die neu errichteten Gebäude nicht nach den Überresten der Antike ausgerichtet, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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sondern an der Position des Petersdoms orientiert. Auch die Inschrift des auf dem Kapitol wiedererrichteten Reiterstandbilds Marc Aurels verweist auf die politische Absicht, „das neue Kapitol wieder als caput mundi, als Haupt der Welt“8 sichtbar zu machen. Die Bedeutung gerade auch sakraler Architektur als „ausgezeichnete politische Propaganda“9 hat Otto von Simson in seinem 1956 erstmals veröffentlichten Buch „Die gotische Kathedrale“ aufgezeigt. Am Beispiel der Kathedrale von Chartres zeigt er die unterschiedlichen politischen Interesse, die mit dem Bau der Kathedrale verbunden waren und sich auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild widerspiegeln. In den siebziger Jahren sind es die Arbeiten von Stanislaus von Moos10, Adolf Reinle11 und Martin Warnke12, die je eigene Aspekte einer politischen Ikonologie der Architektur erschließen. Immer größer wird dabei das Interesse für nicht sakrale Bauten. Gleichzeitig rücken jüngere Gebäude in das Interesse der Forschung. Denn spätestens mit Beginn der Neuzeit waren Profanbauten als repräsentative Kunstwerke neben den Sakralbau getreten. Hierzu gehören keinesfalls nur „Herrschaftsbauten“ im eigentlichen Sinne, also Paläste und Schlösser, sondern zunehmend auch die bürgerliche Architektur. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Bürgertums und seiner politisch-ökonomischen Organisationen wie Zünften und Gilden hatte auch eine reiche Bautätigkeit begonnen und damit der Bestreben eingesetzt, ökonomische Macht sichtbar zu machen. Wichtige Impulse geben seit Anna Teuts Publikation zur Architektur im Dritten Reich aus dem Jahr 1967 Untersuchungen zur Bautätigkeit des Nationalsozialismus.13 Hierbei tritt nicht nur die Analyse einzelner Bauwerke, sondern auch die der Stadtplanung insgesamt ins Interesse der Wissenschaft.14 Geradezu exemplarisch kann hier gezeigt werden, wie ein ideologischer Überbau Prinzipien des Bauens beeinflusst und sich in der Wahl bestimmter Formen äußert. Der Nachweis einer unmittelbaren Gestaltungsabsicht wird hier weitaus deutlicher als bei der mittelalterlichen oder neuzeitlichen Architektur, da theoretische Schriften wie die Albert Speers den Zusammenhang von politischer Zielsetzung und architektonischer Gestaltung belegen.15 Gleichzeitig wächst auch das Interesse an psychologischen Aspekten, die in der mittelalterlichen Baukunst aufgrund völlig anderer ästhetischer Grundsätze eine geringe Rolle spielten. Martin Damus zeigte in seinem 1981 veröffentlichten Buch zur faschistischen und sozialistischen Baukunst, wie durch Architektur „Inhalte und Werte direkter vermittelt, die Herrschaft und ihre Normen direkt zur Anschauung gebracht“16 wurden. Dem Machthabern totalitärer Systeme – und hier darf man bereits in der frühen Menschheitsgeschichte ansetzen – war zu allen Zeiten bewusst, wie sehr Macht durch Architektur sichtbar gemacht werden kann. Ebenfalls in den 70er Jahren wächst das Interesse der Kunstwissenschaft an © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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industrieller Architektur.17 Günter Drebusch zeigt 1976 am Beispiel klassizistischer Bauplanungen des 18. Jahrhunderts18, wie die herkömmlichen Prinzipien künstlerischer Architektur an den Anforderungen industrieller Nützlichkeit scheitern. Gleichzeitig macht er deutlich, dass die hergebrachten ästhetischen Kategorien der Kunstwissenschaften nicht mehr ausreichen, um moderne Architektur angemessen zu bewerten, sondern regt an, statt dessen „bei der Beurteilung der Industriearchitektur deren vermeintlichen Kunstwert vorderhand auszuklammern, um sich allein auf die Betrachtung der Gestalt industrieller Bauwerke und der Widerspiegelung gesellschaftlicher Bedingungen in dieser Gestalt zu beschränken“19. Die zeitgenössische Kunstgeschichte sieht sich einer Vielzahl architektonischer Formen und vor allem auch Anlässe gegenüber. Die staatliche Bautätigkeit bildet heute eher die Ausnahme, Bauherrn sind im 20. Jahrhundert vielfach Wirtschaftsunternehmen. Außerhalb der Architektur und reinen Formgebung liegende Gestaltungsprinzipien zu leugnen ist angesichts dieser Sachlage unmöglich geworden. So dienen architektonische Formen heute dazu, „den täglichen Einkauf im Supermarkt zum quasi-dramatischen Erlebnis“ zu steigern, damit „die anspruchsvollen Kunden angelockt werden“20. In der Kunstgeschichte steht die ikonologische Interpretation von Bauten deshalb nicht länger konkurrierend neben der formgeschichtlichen, sondern nur im Zusammenspiel beider lässt sich Baukunst sinnvoll beschreiben und erklären.

Abbildende, symbolische und „reine“ Architektur In der ikonologischen Analyse erweist es sich als hilfreich, zwischen drei Arten der Architektur zu unterscheiden: der reinen, der symbolischen und der abbildenden. Als reine Formen der Architektur lassen sich solche Bauwerke bezeichnen, deren Form sich an ihrer primären Funktion oder rein architektonischen Vorbildern orientiert. Solch reine Formen der Architektur wird man beispielsweise bei den meisten Kirchen, deren Funktion ausschließlich darin besteht, dem gottesdienstlichen Gebrauch zu dienen, feststellen. Viele Kirchen nehmen Stilelemente bedeutender Vorbilder auf, jedoch ohne der Funktion wesensfremde Elemente einzufügen. Sie sollen der Gemeinde einen angemessenen Raum zur religiösen Versammlung geben. Ähnlich „reine“ Architektur findet man bei einem großen Teil der bürgerlichen Wohnbauten. Die Häuser einer modernen Reihenhaussiedlung dienen vornehmlich funktionalen Zwecken. Sie entsprechen dem menschlichen Bedürfnis nach einem angenehm gestalteten Wohnraum. Jedoch lässt sich aus der Art und Weise, wie der zur Verfügung stehende umbaute Raum aufgeteilt und gestaltet wird, etwas über die aktuellen Bedürfnisse und das soziale Selbstverständnis der Bauherrn © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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aussagen. Ob ein Großteil des Raumes durch ein großzügig angelegtes repräsentatives Wohnzimmer belegt ist und nur noch wenig Raum für die Schlafstätten bleibt, oder ob der Raum dafür verwendet wird, möglichst viele kleinere Räume zu erhalten, kann etwas darüber aussagen, welchen Wert der Bauherr auf Familie und Kinder legt. Auch die Konzentration auf das Funktionale lässt sich unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten interpretieren. Von dieser „reinen“ Architektur zu unterscheiden sind die Formen der abbildenden und der symbolischen Bauweise. Unter einer abbildenden Architektur verstehen wir eine solche, die eine außerarchitektonische Ordnung unmittelbar durch Raumaufteilung und Raumgestaltung widerspiegelt. Die Prototypen dieser Bauform finden sich in den frühen Hochkulturen. Die ägyptischen, sumerischen, babylonischen und chinesischen Baumeister versuchten, bei der Errichtung von Tempeln ein Gesamtbild ihres Kosmos nachzuzeichnen. So bezeichnen die sieben verschieden gefärbten stufenförmig angelegten Terrassen der babylonischen Tempelanlagen die sieben Himmelsschichten, auf deren oberster, dem „siebten Himmel“, der Tempel der Gottheit steht.21 Formen der abbildenden Architektur finden sich aber keinesfalls nur in Sakralbauten, sondern können auch die Gestaltung profaner Machtbauten prägen. Die strahlenförmig angelegten Parkanlagen des Absolutismus, in deren Zentrum das Schloss des Herrschers stand, bilden den Aufbau der Gesellschaft ab, die auf das eine Zentrum, den Monarchen, ausgerichtet ist. Abbildende Architektur bemüht sich, die Ordnung des Kosmos oder der Gesellschaft räumlich nachzuvollziehen und dadurch nicht nur sichtbar, sondern erfahrbar zu machen. Sie finden sich häufig dort, wo a priori von einer bestimmten, natur- oder gottgegebenen Ordnung ausgegangen wird, die durch das Bauwerk unmittelbar gespiegelt werden soll. Von der abbildenden Architektur zu trennen ist schließlich die symbolische. Das Symbol zeichnet sich dadurch aus, dass das Bild selbst und das durch das Bild Bezeichnete auf verschiedenen Ebenen liegen. Ein typisches Beispiel für eine symbolische Bauweise finden wir in der Doppelchörigkeit ottonischer Kirchen. Westbau und Ostbau symbolisieren das Gegenüber von weltlicher und sakraler Herrschaft, aber sie bilden nicht die Gesamtordnung der Gesellschaft ab. Während die abbildende Architektur immer ein in sich geschlossenes Weltbild voraussetzt, bezieht sich die symbolische auf bestimme Beziehungen eines in sich offenen Weltverständnisses. Abbildende Architektur findet sich deshalb seit der Aufklärung immer seltener, weil ein gesamtgesellschaftlich verbindliches kosmisches Denken durch offene, miteinander konkurrierende Konzepte von Welt ersetzt wurde. Erst die neuen „Absolutismen“ des 20. Jahrhunderts, Faschismus und Kommunismus, nehmen für sich in Anspruch, Welt umfassend und endgültig zu interpretieren, so dass erst hier wieder Versuche abbildender Architektur nachweisbar sind.

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Ikonologie der Architektur und politische Bildung

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Architekturikonologie und politische Bildung Aufgabe politischer Bildung ist es, Menschen zu befähigen, sich an den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen der demokratisch organisierten Gesellschaft kompetent zu beteiligen. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass sie Herrschaftsverhältnisse analysieren lernen und die Strukturen von Staat und Gesellschaft durchschauen. Die Methoden der Architekturikonologie lassen sich nutzen, um im Kontext politischer Bildung zu einem vertieften Verständnis gesellschaftlicher Strukturen und politischer Machtverhältnissen zu gelangen. Dies kann einerseits durch ein historisches, exemplarisches Lernen geschehen wie auch durch die Analyse der sich heute in zeitgenössischer Architektur widerspiegelnden Herrschaftsverhältnisse und politischen Intentionen. Dabei sind jedoch mehrere Ebenen zu unterscheiden.

1. Bewusste Demonstration Bauten können gezielt das Selbstverständnis des Bauherrn aufzeigen. Am deutlichsten wird dies immer, wo Macht demonstriert werden soll. Die Paläste, die von Banken und Versicherungen errichtet werden, dienen dazu, die wirtschaftliche Potenz ihrer Bauherrn zu verdeutlichen. Wirtschaftsunternehmen sind in besonderer Weise darauf angewiesen, dass die Kundschaft ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit Vertrauen entgegenbringt. Die bewusste Zurschaustellung ökonomischer Macht besitzt somit Werbewirksamkeit und trägt zur Stabilisierung der Geschäftsverhältnisse bei. Ähnliches gilt für Ministerien und manche Verwaltungsgebäude. Sie sollen das Gefühl von Macht und Überlegenheit vermitteln. Vergleicht man die neu errichteten Bauten der Bundesregierung in Berlin mit denen des ehemaligen Regierungssitzes Bonn, so zeigt sich in ihnen ein verändertes Selbstverständnis deutscher Regierungen. Während die Bonner Bauten eher zurückhaltend waren und damit der Vorsicht deutscher Nachkriegspolitik gerecht wurden, die jeden Eindruck vermeiden wollte, Herrschaftsansprüche offen auszudrücken, um nicht mit ihren Vorgängern, dem Deutschen Reich oder dem Nationalsozialismus identifiziert zu werden, zeigen sich die Berliner Bauten als Ausdruck des nach der deutschen Wiedervereinigung neu gewachsenen Selbstbewusstseins. Das Funktionale der Bonner Republik wurde durch das Repräsentative der Berliner ersetzt. Aber nicht nur Machtansprüche, sondern das ganze Spektrum der Selbstsicht des Auftraggebers lässt sich durch Bauwerke ausdrücken. Bewusst hatte man beim Neubau des Deutschen Bundestags in Bonn, der Anfang der 90er Jahre vollendet wurde, viele Wände durch Glasflächen ersetzt. Der Blick auf den in unmittelbarer Nähe des Gebäudes vorbei fließenden Rhein war freigelassen worden. Die Absicht des Bauherrn bestand darin, die Transparenz der Demokratie zu verdeutlichen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Ein in sich geschlossenes, weitgehend vom Tageslicht (und den Einblicken der Bevölkerung) abgeschottetes Gebäude, wie dies frühere Plenarbauten waren, wäre dem Selbstverständnis des Parlaments zuwider gelaufen. Die meisten der bewusst umgesetzten Intentionen öffentlicher Gebäude lassen sich relativ leicht entschlüsseln. Häufig veröffentlichen Architekten oder Bauherrn Erklärungen zur architektonischen Form, die den Betrachter über die Bauabsichten unterrichten sollen. Der deutlichste Fall einer bewussten intentionalen Bautätigkeit ist das Denkmal oder die Gedenkstätte in ihrer „vorbewussten“22 Form, d.h. als von ihrem Erbauer intendiertes Artefakt der Erinnerungsarchitektur. Denkmäler verweisen auf die Vergangenheit, aber nicht um des bloßen Gedenkens willen, sondern um gegenwärtiges Bewusstsein zu prägen. Wer ein Denkmal aufstellt, möchte sich in der Regel in ein Verhältnis zum Dargestellten setzen. Durch Verweis auf die Vergangenheit soll Gegenwart gerechtfertigt werden. Die Blütezeit der Denkmäler war zweifellos die Epoche des Nationalismus. Die Erinnerung an große Vorbilder, seien es Personen oder Ereignisse, sollte die Einheit des Volkes begründen und Ansporn sein für Gegenwart und Zukunft. Während sich die Monarchien des Gottesgnadentums aus ihrem Transzendenzverweis begründeten und die nicht national gesinnte Demokratie aus der Gegenwart, nämlich dem Konsens der Bürgerinnen und Bürger, begründet sich der Nationalstaat aus seiner Vergangenheit. Die mittelalterlichen Monarchien demonstrierten ihre Machtansprüche deshalb häufig durch Sakralbauten, in denen sie den direkten Bezug des Herrscherhauses zum göttlichen Willen darstellen ließen. Moderne Demokratien bedienen sich dagegen oft einer Bauweise, die Ausdruck technischen Könnens ist und auf Modernität (und damit in gewisser Weise Zukunft) verweist. Der Nationalstaat dagegen begründet sich aus der Vergangenheit, und seine Bauten bemühen sich, ein postuliertes Kontinuum zu veranschaulichen. Die Analyse der Bauintentionen dient somit einem besseren Verständnis von Herrschaftsanliegen und -selbstverständnis.

2. Latente Befindlichkeit Neben der bewussten Bauikonographie sind Gebäude aber auch Ausdruck der unbewussten Haltungen des Bauherrn, deren Vermittlung nicht intendiert war. Dies kann beispielsweise über die Funktionalität eines Gebäudes geschehen. Die Burgen des Mittelalters sind nicht nur Ausdruck von Macht und Wohlstand – denn das Errichten von Steinbauten war über Jahrhunderte ein Luxus, den sich nur Mächtige leisten konnten –, sie sind gleichzeitig ein Ausdruck von Unsicherheit und Frucht. Der Herrscher, der sich in eine Burg zurückziehen muss, demonstriert damit auch seine Sorge, im eigenen Land nicht sicher zu sein. Wer sich hinter Mauern und Zinnen verschanzen muss, lebt in ständiger Furcht vor Angriffen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Umgekehrt sind die Schlösser des Barock und Rokoko Ausdruck herrschaftlicher Selbstsicherheit. Nur wer in stabilen Herrschaftsverhältnissen zu leben glaubt, kann auf Befestigungen verzichten. Gebäude drücken somit nicht nur das bewusste Selbstverständnis ihrer Bauherren aus, sie entlarven auch seine verdeckten Befindlichkeiten. Beides sind verschiedene Ebenen, die sich in ein und demselben Bauwerk ausdrücken können. So offenbart die Demonstration ökonomischer Macht im Hochhaus eines Konzerns nicht nur die bewusste Absicht, finanzielle Möglichkeiten zur Schau zu stellen, sondern auch die unbewusste des Konkurrenzdenkens. Die Vorstellung, dass die Höhe eines Gebäudes Macht demonstriert, ist so alt wie der Turmbau zu Babel. Aus diesem Grunde gab es in vielen Städten das Verbot, bestimmte Gebäude in der Höhe zu übertreffen. Der Wettlauf moderner Unternehmen, das höchste Gebäude am Ort zu besitzen, signalisiert dem wachen Betrachter aber auch die Geisteshaltung des Bauherrn und lässt Rückschlüsse auf seine Wertehierarchie zu. Bauten sind somit Ausdruck der unbewussten Befindlichkeit einer Gesellschaft und ihrer führenden Schichten.

3. Soziale Strukturen Nicht zuletzt lassen sich aus Gebäuden Rückschlüsse auf soziale Strukturen ziehen. Dies gilt in besonderer Weise für städtische Gebäudeensembles, da hier nicht der einzelne Bau für sich steht, sondern im Verhältnis zu den Bauten seiner Umgebung betrachtet werden kann. Nicht nur wie jemand baut, sondern gerade auch wo er baut, lässt Rückschlüsse auf die soziale Zugehörigkeit zu. Das bekannteste Beispiel zur Offenlegung von Sozialstrukturen sind die nach der Windrichtung ausgerichteten Stadtviertel. In den westeuropäischen Städten, in denen der Wind häufig von Westen her weht, sind die Ostviertel die der sozial schwächeren Bevölkerung, da dort die durch die Verschmutzung des Stadtbetriebs weniger saubere Luft weht. Ebenso finden sich in vielen Städten Räume der Machtkonzentration, in der Regel der Marktplatz. An ihm bauten in der Vergangenheit die Zünfte und Gilden, mithin die sesshaften Wirtschaftenden, während in späterer Zeit die Bahnhofsviertel mit ihrer hohen Fluktuation Zentren der Vergnügungsgewerbe wurden. Allein anhand der Analyse eines Stadtplans und der Beschreibung der in den unterschiedlichen Vierteln vorhandenen Häuser ließe sich ein städtisches Soziogramm erstellen. Die Analyse menschlicher Bauten eröffnet der politischen Bildung ein breites und vielversprechendes Lern- und Demonstrationsfeld. Der Rückgriff auf die Interpretation historischer Bauten lässt ein exemplarisches Lernen zu, an dem demonstriert werden kann, auf welche Weise Bauten vom Selbstverständnis ihrer Bauherrn, aber auch von der sozialen Situation der Zeit erzählen können. Die Analyse zeitgenössischer Bauten dient dem Verständnis der politischen und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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sozialen Wirklichkeit der Gegenwart. Beides kann dazu dienen, Menschen bei der Entschlüsselung ihrer politischen und sozialen Verhältnisse Hilfestellungen zu geben.

Anmerkungen 1 In der Kunstgeschichte finden sich unterschiedliche Begriffsbestimmungen von Ikonographie und Ikonologie. Ich folge hier der Sichtweise von Roelof van Straten: Einführung in die Ikonographie. Berlin 21997, 16 ff. 2 Günter Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. Berlin 1985 [zuerst 1951]. 3 Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale. Freiburg im Breisgau 31993 [zuerst 1948]. 4 Ebd. 96. 5 Franz Unterkircher: Vom Sinn der deutschen Doppelchöre. Diss. Wien 1941. 6 Inschriften, die die Bauabsicht des Bauherrn herausstellen, sind bereits seit dem ägyptischen Reich bekannt und durchziehen die Architekturgeschichte bis ins 20. Jahrhundert. 7 Vgl. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Salzburg 1948. 8 Fritz Saxl: Das Kapitol im Zeitalter der Renaissance – Ein Symbol der Idee des Imperiums. In: Martin Warnke (Hrsg.): Politische Architektur in Europa. Vom Mittelalter bis heute. Köln 1984, 100. 9 Otto von Simson: Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung. Darmstadt 1968, 254. 10 Stanislaus von Moos: Turm und Bollwerk. Beiträge zu einer politischen Ikonographie der italienischen Renaissancearchitektur. Zürich 1974. 11 Adolf Reinle: Zeichensprache der Architektur. Symbol, Darstellung und Brauch in der Baukunst des Mittelalters und der Neuzeit. Zürich/München 1976. 12 Martin Warnke: Bau und Überbau. Frankfurt/M. 1976. 13 Vgl. Anna Teut: Architektur im Dritten Reich 1933-1945. Frankfurt/M. 1967. 14 Vgl. Joachim Petsch: Baukunst und Stadtplanung im Dritten Reich. München-Wien 1976. 15 Vgl. Albert Speer: Architektur. Arbeiten 1933-1942. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1978. 16 Martin Damus: Sozialistischer Realismus und Kunst im Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1981, 121. 17 Vgl. u.a. Sebastian Müller: Kunst und Industrie. Ideologie und Organisation des Funktionalismus in der Architektur. München 1974; ebenso Rainer Slotta: Technische Denkmäler in der Bundesrepublik Deutschland. Bochum 1975 f. 18 Hier besonders Claude-Nicolas Ledouxs Gewehrfabrik aus dem Jahr 1780. 19 Günter Drebusch: Industriearchitektur. München 1976, 24. 20 Jürgen Tietz: Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts. Köln 1998, 103. 21 Vgl. Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale. A. a. O. 98 f. 22 Vgl. Helmut Scharf: Kleine Kunstgeschichte des deutschen Denkmals. Darmstadt 1984, 11. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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„Tempel der Gewissheit“ Über Wert und Sinn didaktischer Konzepte politischen Lernens an historischen Gedenkstätten

Der Faszination des ‚Lernens vor Ort‘ hat in den letzten Jahren eher zu- als abgenommen. Die Erinnerungs- und Gedenkstättenforschung ist heute in Geschichts- und Sozialwissenschaft(en) sowohl als heuristisches Instrument als auch als didaktisches Mittel so sehr anerkannt, dass bereits die Frage, weshalb noch weitere Anstrengungen zur Erforschung von Genese, Theoriedesign und methodischem Wert des Lernortbegriffes unternommen werden sollten, zum Topos zu werden droht. Der folgende Essay widmet sich deshalb einem kleinen Teilbereich innerhalb des so intensiv genutzten Forschungs- und Objektbereichs ‚Lernen vor Ort‘. Er diskutiert die bereits in der Einleitung der Herausgeber aufgeworfene Frage, welchen Beitrag die exemplarische Analyse von historischen Orten zum Verständnis politischer Zusammenhänge in der Gegenwart (und hier speziell bei Jugendlichen) leisten kann. Welche Potenziale politische Bildung am historischen Ort besitzt bzw. ob und inwiefern sie sich von historischer Bildung unterscheidet – all dies soll im Folgenden unter Berücksichtigung der zentralen Antworten der einschlägigen (neueren) Literatur zum historischen Lernen vor Ort erörtert werden. Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass trotz der Vielzahl der genannten Titel kein umfassender Literaturbericht angestrebt wird, sondern entsprechend der bidisziplinär ausgerichteten Fragestellung vielmehr bedeutsam erscheinende Probleme der Begriffs- und Theoriebildung in den Vordergrund gerückt werden sollen. Diese kritische Perspektive mag verwundern, abschrecken sollte sie indes nicht, denn jede Wissenschaft wird mit und gegen deren Bestand getrieben.1 Im Folgenden wird deshalb die These vertreten, dass letzte Gewissheit über die Bedeutung von historischen Gedenkstätten nicht möglich ist; historische Lernorte bilden mental-diskursive bzw. mediale Verweisungszusammenhänge ab, historisches oder gar politisches Bewusstsein von ihnen kann deshalb nicht anders als bloß vorübergehend erworben werden. Als nicht frei wählbare Repräsentanten historischer Vorstellungen bleiben sie „mikroprozessiv und sofort wieder verlöschend“2 und sollten deshalb nicht als unverbrüchliche Zeichen, die von vergangenen Paradigmen oder Zeiten künden könnten, im Alltag trivialisiert werden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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1 „King’s Cross Station“ oder von der politischen Aktualität historischer Lernorte nach dem 7. Juli 2005 Was ein historischer Ort ist, scheint auf den ersten Blick keiner näheren Begründung zu bedürfen, liegt er ja scheinbar vor Augen, sobald man sich seinen Namen in Erinnerung ruft: Von Aachen über Berlin, Bern und Bonn bis Weimar und von Auschwitz und Buchenwald über Dachau und Sobibor bis Ravensbrück – der topographischen Orientierung sollte die kollektive Erinnerung der wechselvollen deutschen Vergangenheit auf das historisch Bedeutsame dieser Ortsnamen keinerlei Problem bereiten. Viele weitere öffentliche Orte, auch internationaler Provenienz, ließen sich auf der Grundlage der erworbenen historischen Bildung bzw. unter Zuhilfenahme entsprechender Kartenwerke oder Lexika auflisten, doch was haben diese historischen Stichworte mit Politik zu tun? In der „New York Times“ fand ich kurz nach den Terroranschlägen in London, inmitten meines medialen Ennui an der nicht mehr enden wollenden Berichterstattung vom Leiden, Töten und Zerstören, erste Antworten auf diese Frage. Zu sehen waren zwei Fotografien von der U-Bahn-Haltestelle King’s Cross Station, einmal entstanden am 10. September 1973, kurz nachdem eine IRA-Bombe sechs Menschen schwer verletzte, das andere Mal aufgenommen am 7. Juli 2005, kurz nach der Zündung einer Rucksackbombe durch islamistische Fanatiker. Zwei Bilder als Schlüsselszenen für die Innenansicht de britischen und mit ihr der westlichen Gesellschaft und die Art, wie wir uns (und ihrer Gegner) auf sie beziehen. Bilder als Erklärungsersatz: Eine U-Bahnstation als politischer Schauplatz, das ist für die Medien die Art, wie unsere Gesellschaft strukturiert ist, und das heißt in diesem Fall, wie sie bereits beim Anschlag vom 10. September 1973 bestand. Dieses 32 Jahre alte Bild in den Zeitungen vom Juli 2005 zurückkehren zu sehen – beinhaltet dieser Vorgang nun eine passable Annäherung oder eine unzulässige Verdrehung der Geschichte? Ist die Vorstellung von der Singularität der Geschichte mit der Wiederkehr des Ortes King’s Cross fraglich und die abermalige Wiederkehr des Bildes im Zeitalter der sprachlos machenden Selbstmordattentate wahrscheinlicher geworden? Trennt oder verbindet die zeitliche Distanz von 32 Jahren die beiden Ereignisse an diesem Schauplatz? Und welches der beiden Ereignisse ist das historisch bedeutsame, ist dasjenige, das es verdient, untrennbar mit dem Orts- bzw. Stationsnamen in quasi ewiger Abfolge als historischer Sachverhalt zusammengebracht zu werden? Trug der Ort King’s Cross Station bereits vor dem 7. Juli 2003 seine historische Prädestination als potentieller Lernort in sich? Waren damit die historisch kategorialen Wesensmerkmale des Begriffs „King’s Cross Station“ bereits unverrückbar besetzt? Oder gibt es zwei simultane historische Orte, erkennbar nur am Datumskürzel, das den Namen des Ortes (immer und „ewig“?) unvermeidlich ergänzt? Zentral für den in dieser Art zu fragen implizierten heuristischen Ansatz, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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zentral für diese erste und einfachste Art der Gewinnung eines Begriffs von historischen Stätten, an denen man etwas über die Geschichte lernen könnte, ist die Bedeutungsableitung aus der Geschichte selbst. Die Brüchigkeit der Geschichte als Syntheseleistung aus den Geschäften der Vergangenheit3 ist dieser naiv-unkritischen Tradierung von Sinn fremd. Geschichte ist als Lebensrezept Teil einer persönlichen Lebenswirklichkeit4: „Vergangenes historisch zu artikulieren, heißt nicht, zu erkennen, ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen […]. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung zu entfachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ 5 Erinnern meint demgegenüber, so notierte bereits in den 1930er Jahren L. Wittgenstein, „ein Sehen in die Vergangenheit. Träumen könnte man so nennen, wenn es uns Vergangenes vorführt. Nicht aber Erinnern; denn auch wenn es uns Szenen mit halluzinatorischer Klarheit zeigte, so lehrt es uns doch erst, dass dies das Vergangene sei.“6 Im Dämmerlicht unserer TV-Geräte erfahren wir täglich zweierlei: Einerseits vom Leiden, Töten und Zerstören, andererseits was westliche Wissenschaft herausgefunden hat über den Menschen und seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; die Nation übt im medialen Geschichtsleistungskurs. In der sprachlos machenden Bilderflut des zuerst genannten Phänomens erkennen wir zugleich aber auch die rhetorische Komponente historischer Einbildungskraft: Geschichte wird gegenwärtig unter drei Dimensionen betrieben: Analytisch, memorial-aktu© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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alisierend und rhetorisch7. Die Streitfrage dabei ist aber nicht mehr allein, ob die Geschichtswissenschaft de facto bloße Rhetorik sei8, vielmehr zeichnet sich heute die Mehrzahl der historischen Diskurse über Vergangenheit durch eine neuartige Disziplinarsituation aus: Mit dem Tod vieler Zeitzeugen bzw. dem Niedergang des Gebrauchswerts des in der Regel schematisch erworbenen historischen Wissens tritt die (massen-)mediale Inszenierung des Wissens als Bestandteil einer sozialen Rolle gegenüber der individuellen Identitätsbildung durch Wissen in den Vordergrund.9 Dieser Funktionswandel ist häufig textuell dadurch charakterisiert, dass in einem Mix aus seriell fabrizierten Vibrationen von leicht goutierbaren Überresten, Zeitzeugen und Bildmaterial sowie den immer gleichen ausgehöhlten Begriffen metaphorische Gemeinplätze von dem in der Vergangenheit Bedeutsamen produziert werden, um sich kollektiv vermeintlich zu erinnern. Immer häufiger wird aus der Erinnerung an die Vergangenheit, die es dabei zu rekonstruieren gilt, ein Ritual, in dem Gedächtnis als aktuelle Handlung begegnet.10 Da es seit der Infragestellung dieser biographisch legitimierten Evidenz von Geschichte weder in den Bahnen der kritischen noch in denen der genetischen Geschichtsschreibung eine allgemein anerkannte inhaltliche Synthese der Vergangenheit gibt, klaffen die Eigenständigkeit des aktuell gültigen Gedächtnisses und der Nutzen der Rekonstruktion einer als eigenmächtig verstandenen Vergangenheit auseinander, da die persönlich erfahrenen Lebenszusammenhänge sich weder auf das eine noch das andere Paradigma reduzieren lassen. Wir alle haben sowohl am öffentlichen Gedenken11 wie an der „Biographisierung“ der Vergangenheit12 teil. Die genannten Schwierigkeiten kulminieren in dem einen Grundproblem, dass absolute Evidenzen (oder gar „Werte“) sich aus der Geschichte nie ziehen lassen. Das Relativismusproblem der Geschichte verschärft sich, wenn systematisch an historischen Gedenkstätten ein vermeintlich objektiver Gehalt des historischen Prozesses im Raum erfahrbar werden soll, wie er sich noch in der jüngeren historischen Denkmals- und Gedenkstättenpädagogik ungebrochen wieder findet, wenn es heißt, die historische Bedeutung des Lernorts solle „zum Sprechen gebracht werden“13. Prägend für die Vorstellung, man könne, das rechte Wort vorausgesetzt, durch die mephistophelische „sichre Pforte zum Tempel (historischer) Gewissheit eingehen“14, war indes bereits der Verwendungskontext der Begriffe Raum und Ort durch die Geschichtswissenschaft im Zeitalter ihrer Verwissenschaftlichung, weshalb deren Begriffsbildung kurz skizziert wird, ehe ich mich den Interpretamenten der Exkursions- bzw. Gedenkstättendidaktik näher zuwende.

1.1 Raumkonstrukte in der Geschichtswissenschaft Der Begriff des historischen Lernorts entstand nicht durch das begriffliche und methodologische Instrumentarium der Geschichtswissenschaft, sondern ist eine recht frühe Begriffsprägung der Geschichtsdidaktik. Um aber zu verstehen, wie © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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es überhaupt dazu kam, dass Anstrengungen unternommen wurden, an politisch funktionslos gewordenen (weil zeitlich gebundenen) Orten zeitlos nach historischen Antworten zu suchen, muss auf Substitutionsleistungen hingewiesen werden, die weit früher, im Prozess der Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung stattfanden und bis in unsere Tage den begrifflichen Horizont in der Geschichtswissenschaft weithin prägen. Spätaufklärung und Frühhistorismus des 19. Jh. sind verantwortlich für die Verankerung des Bewusstseins von der Geschichtlichkeit des Menschen. Auf dem Weg von der Naturgeschichte über die historia naturalis zur Geschichte als Reflexion der eigenen Perspektivität auf die Vergangenheit15 entstand für die Geschichtsschreibung das Problem, wie aus „Geschäften Geschichte“ wird: Wenn der Historiker nicht, so notierte J. G. Droysen stellvertretend für die Ansichten in der historischen Zunft seiner Zeit, von der „Gewöhnung seines Wahrnehmens und Denkens“ abweichen würde, was er aber schon durch Themenwahl und Generalisierung der Begriffe tut, entstände nicht Geschichte, sondern „erfüllten wir uns die Nacht der Vergangenheiten mit schematischen Bildern […] und nennen dies Geschichte“16. Natürlich ignorierte dieses deskriptive Theoriekonzept im Wissen um den Schematismus der historischen Rekonstruktionsleistung nicht einfach das Problem der Vermischung von Objekt- und Metasprache, sondern sah vielmehr in der Identität von Quellen- und Darstellungssprache eine lösbare Aufgabe, die Droysen zu einem interessanten Analogieschluss veranlasste, in dem sich die enge Nähe der geschichtstheoretischen Methodik zur Kameralistik bzw. zur machtpolitisch orientierten Staatenkunde zeigt17. Hatte die historische Erforschung

Reaktion Jugendlicher in der Ausstellung „Faszination und Gewalt“ in Nürnberg © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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von Imperien und Großreichen praktische Zwecke für die geostrategisch orientierte Methodenlehre der Erd- und Völkerkunde, so ließen sich die heuristischen Probleme bei der Niederschrift der historisch relevanten Wissenselemente aus der unerfassbaren Vergangenheitsdichte scheinbar ein für alle Mal lösen, wenn man auf die methodischen Praktiken der Kartographen zurückgriff.18 Das starke Bedürfnis, die historiographische Produktion auf wissenschaftlich überprüfbare Fundamente zu stellen, (ver)führte die Historiker zu einer „kartographischen Wende“, die eigentlich ungeeignet ist, zeitlose Wissensmodi zu erzeugen. So verglich bereits Droysen 1857 die Aufgabe des Geschichtsschreibers damit, „die Karten der Länder in ein kartographisches Netz und mit den konventionellen Zeichen für Berge, Städte usw. [zu] zeichn[nen], nur dass der [in die Vergangenheit; A. H.] Reisende nicht den Anspruch macht, etwa den Äquator leibhaftig zu sehen oder eine Ähnlichkeit zwischen dem wirklichen Montblanc und seiner karthographischen Schraffierung zu finden.“19. Zur Trennung von bloß Vergangenem und Geschichtsmächtigem kleidete der Historiker Droysen seine heuristische Konzeption in eine konzeptuelle Kategorie, die aus dem Methodenfundus der geographischen Statistik bzw. dem Kontext der Kameralwissenschaften abgeleitet und nach heutigem Kenntnisstand widersinnig ist. Raum erschien Droysen im Horizont der deutschsprachigen Geographie als „Realobjekt und nicht bloß als Konstrukt des erkennenden Subjekts“20. Die Folgen dieser Weichenstellung lassen sich bis in die Gegenwart hinein verfolgen. Das allegorische Junktim von vermeintlich zeitlosem Raum und bewahrenswerten Geschäften der Vergangenheit findet sich beispielsweise bei der Diskussion um Epochengrenzen. Scheint eine historische Epoche zeitlich nur bedingt eindeutig datierbar, wird der Raum anfangs zum deskriptiven, später häufiger zum metaphorischen Fluchtpunkt in der Geschichte (bzw. zu den „Grenzpfählen“ im Niemandsland der Datenmengen der bloßen Vergangenheit21). Es stellt sich indes die Frage, inwieweit diese hier nur exemplarisch skizzierte handlungswirksame Orientierung eines Historikers tatsächlich Ausdruck einer mentalen Orientierung größerer Kollektive darstellt. War der als zeitlos dargestellte Raum bzw. dessen scheinbar objektives Beschreibungsinventar in einer keineswegs homogenen Industriegesellschaft massenwirksam verankert oder handelte es sich nur um eine Begriffsbildung im universitären Diskurs der Disziplinen um die interne Rangfolge der Geisteswissenschaften? Gewiss kommt es auch hier darauf an, welche sozialen Akteure betrachtet werden: Wem gelang es, sich in einer spezifischen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungssituation zum Interpreten der historischen Überlieferung zu stilisieren?22 Als Werkstatt zur Erzeugung sozio-kultureller Prägungen von Geschichte rückt dabei das Untersuchungsfeld Exkursionsdidaktik im Allgemeinen und die Gedenkstättenpädagogik im Besonderen als Plattform der diskursiven Auseinandersetzung ins Blickfeld.

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1.2 Der Diskurs über historische Lernorte in der Geschichtsdidaktik Zur Erinnerung: Didaktik unterscheidet sich von Forschung durch einen grundsätzlich anderen Zugang zur Kontingenzfrage. Während erstere sich dieser als heuristischem Instrument der Analyse versichert, dient der Didaktik die Dialektik zur Demonstration des bereits Bekannten. Grundsätzlich lassen sich vor diesem Hintergrund zwei idealtypische Positionen zum Lernen vor Ort unterscheiden: 1. eine abbildtheoretische Linie, die in der positivistischen Tradition des Umgangs mit Geschichte steht, und 2. eine linguistische Linie, die in der Folge der sprachpragmatischen Wende, des sog. „linguistic turn“, an Bedeutung gewann. 23 Beide Positionen verhalten sich im Diskurs komplementär zueinander. Während die abbildtheoretische Fraktion der Didaktiker dem Aufsuchen historischer Stätten eine besondere Legitimität im Rahmen eines wertkonservativen Welt- und Geschichtsverständnisses zuweist, bemühten sich jüngere Didaktiker eher um die Analyse der kollektiven Erkenntnisprozesse bei derartigen Exkursionen. Aus dieser Beschäftigung entwickelte sich die Kritik an der Verklärung der historischen Orts-Erkundungen aber ebenfalls zu immer anschlussfähigen Unternehmungen im Dienste des Geschichtslernens. Beide Modelle, Legitimierungs- und Delegitimierungsposition, sollen im Folgenden näher zu Wort kommen. Zur abbildtheoretischen Position Der historische Ort galt in der Didaktik lange Zeit als Möglichkeit und Bedingung unmittelbarer Anschauung von Vergangenheit. Dabei soll hier außer Betracht bleiben, inwiefern sich in dieser Argumentation ältere Erinnerungsmuster wiederfinden, die in der Geschichte entweder die Lehrmeisterin für das eigene Leben24 oder gar in der Erinnerung die unmittelbare Existenz Gottes scholastisch beweisbar machen wollten25. Die besondere Relevanz dieses didaktischen Prinzips ergibt sich nach Ansicht der einschlägigen Literatur nicht nur aus den in den Fachlehrplänen institutionell normierten Zielen und Inhalten, sondern daraus, wie diese Ziele und Inhalte im Einzelfall anhand von Quellen exemplarisch aufeinander bezogen werden.26 Gerade für die Hinwendung zu konkreten Themen schien der Lokaltermin gute Dienste zu leisten, da seine regionalgeschichtlichen Bestände ihren historischen Situationsbezug viel anschaulicher ausweisen als universelle Schulbuchquellen. Kennzeichnend für diese Überzeugung ist das Schlagwort der „erlebnishaften Begegnung“27, mit der im Anschluss an Heidegger28 der geschichtlichen Zeit der Gesellschaft die existentiell begründete Zeitlichkeit des persönlichen Lebenszusammenhangs entgegensetzt wird. Der Geschichtslehrer setzt im Unterricht in der Regel (bzw. in der Mehrzahl der Stunden) immer noch universell einsetzbare Medien ein: Darstellungsteile und Quellentexte von Schul© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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büchern sind zumeist gekürzt und der heutigen Schriftsprache angeglichen, der Schüler hat es zudem – von Ausnahmen einmal abgesehen – nicht vorrangig mit originalen Zeugnissen aus seiner Region29 zu tun, da er – zum Zweck historischer Allgemeinbildung – sich vorrangig mit der nationalen bzw. europäisch-atlantisch zentrierten Vergangenheit auseinander setzen soll. Das Heranziehen von lokalen oder regionalen Überresten ist dabei erwünscht, in der schulischen Praxis aber sowohl aus methodischen als auch aus inhaltlichen Erwägungen sinnvoll, denn zu gering ist der Lerngewinn (im Verhältnis zum Zeit- und Organisationsaufwand), zumal dann, wenn man als Lehrkraft nur auf die Inhaltsseite schielt (was man selbstredend unterlassen sollte, aber aufgrund der Schwierigkeiten, operationale oder affektive Lernziele zu überprüfen, immer implizit versucht ist zu tun, um rudimentäre Sachinformationen über die Vergangenheit bei den „nachwachsenden Generationen“ zu bewahren). Aber auch die Gedenkstättenpädagogik besinnt sich gegenwärtig eines neuen Zugangs zu den Gedenkstätten als „authentischen Orten“, die aufgrund des Ablebens der letzten Zeitzeugen des Holocausts mittlerweile als lokale „Zeugen nach den Zeugen“ präsentiert werden.30 Anders als die Menschen scheinen diese „Zeugen“ immer verfügbar zu sein. Der historische Ort dient als mehr oder minder zeitloser Behälter für politische, soziale oder kulturelle Prozesse, der allenfalls der Natur(geschichte) unterworfen ist.31 Aus der Diskrepanz von Zeiterfahrung und historischem Schulwissen, das der Orientierungsfunktion entbehrt, da dieses Wissen im Alltag aufgrund seines Schematismus im Regelfall keine lebensfüllende Funktion erlangt, entsteht der Wunsch nach individuell nutzbaren Impulsen aus der alltäglichen Vergangenheit. „In den Rausch des Begreifens“, so lässt sich mit einem heideggernden Sartre dieser funktionalistische Standpunkt gegenüber historischen Lernorten zusammenfassen, „mischt sich stets die Freude darüber, uns für die Wahrheiten, die wir entdecken, verantwortlich zu fühlen.“32 Wertorientierung will die Gedenkstättenpädagogik in der Regel also durch die Fiktion der Authentizität des historischen Erlebnisses stiften. Gegenwärtiges Erleben und historische Rekonstruktion bilden dabei aber nicht den einzigen Gegensatz, es tritt der zwischen Geschichte und Gesellschaft hinzu: Als historisches Wissen bewahrt werden soll dabei paradoxerweise aber gerade das, was politisch funktionslos bzw. anachronistisch geworden ist, beispielsweise das Reichsparteitagsgelände, das mit dem Zusammenbruch des NS-Staats nie wieder als Ort für Massenaufmärsche und totalitärer Indoktrination dienen wird. Gerade Didaktiker der sog. emanzipatorischen Geschichtsdidaktik33 bestreiten deshalb nachdrücklich, dass Exkursionen diesen affektiven Zugang zur Vergangenheit ermöglichen können. Wie sollen Schüler und Schülerinnen, so gab z.B. Hans-Jürgen Pandel bereits 1979 an exponierter Stelle, im „Handbuch für Geschichtsdidaktik“, zu bedenken, denn eigentlich bei historischen Erkundungen unmittelbare Anschauung von Vergangenheit gewinnen? Die von Pandel vor al© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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lem als methodische Bereicherung begrüßte „Sozialform Exkursion“ befördere bei dieser Zielsetzung „eine neue Art kompensatorischen Unterrichts, der die ‚Auflösung gewachsener Bindungen‘ […] durch die unmittelbare Anschauung kompensieren soll“ und damit eine „Sozialform der falschen Unmittelbarkeit“ darstelle. „Die Diskussion der letzten Jahre zum Thema Sprache und Kognition hat gezeigt, „ so Pandel in seiner übrigens auch in der neuesten Auflage des Handbuchs von 1997 noch aufrechterhaltenen Begründung, „dass es eine ‚unmittelbare Anschauung‘ und eine sprachfreie Beobachtung […] nicht gibt. Sprache und in Sprache gefasste Theorie sind die sozialisatorisch vermittelten Bedingungen der Anschauung.“34 Die Exkursion führe wie alle anderen Unterrichtsverfahren zu einer sprachlich vermittelten „Auffassung“ von Geschichte. Dass Pandels Unterstellung die restlose Distanzierung von all jenen Fachkollegen und -kolleginnen impliziert, die den Nutzen von Exkursionen in der Region vor allem in der „erlebnishaften Begegnung“ sehen, versteht sich von selbst. Legt man sich die Dinge so zurecht, dass „Geschichte lernen“, wie auch W. Hug feststellt, „[…] im Unterricht primär“ bedeutet, „über Geschichte sprechen [zu] lernen“35, dann zweifelt man in der „zweiten Moderne“ (U. Beck) grundsätzlich an Erfolg und Verlässlichkeit des historischen Lernorts als Instrument außerschulischer Wissensvermittlung. Drei Fragen sind an diesem Punkt auseinander zu halten: Erstens, gibt es eine genuin historische Form des Lernens an geschichtsträchtigen Orten? Was hindert uns daran, das Jugendlichen vermittelbare Wissen, dass das Reichsparteitagsgelände bzw. das „mittelalterliche“ Nürnberg im „Dritten Reich“ als Ort der Inszenierung des schönen Scheins und der heilen Welt der „Volksgemeinschaft“ benutzt wurde, dass zugleich die Militarisierung der Gesellschaft und die Kriegsbereitschaft vorangetrieben wurde etc. etc, nicht zugleich auch als sozialkundliches Wissenselement nutzen zu können? Oder ist die Einsicht, dass das Reichstagsgelände politisch funktionslos geworden und trotzdem als historisches Zeugnis bewahrenswert ist, ein inkompatibler Schluss? Spiegelt sich hierin vielleicht nur das Verlangen nach Harmonisierung von Gegenwart und einer nicht gekannten, ganz anders bestimmten deutschen Vergangenheit? Zweitens, rechtfertigen diese Überlegungen generell die Annahme, es gebe in Raum und Zeit lokalisierbare und damit wiederaufsuchbare Punkte (Orte), die verlässlich historisch-politisches Wissen (in einer wie auch immer gearteten Gemengelage) produzieren können? Drittens: Welche Dialogmodelle müssen dazu gewählt werden, möchte man die offenbar auch sprachlich überaus komplexe Gedächtnisproduktion vor Ort den Jugendlichen ermöglichen? Wie lassen sich etwa sprachliche Praktiken der Gegenwart dazu nutzen, um über historische Themen zu sprechen und trotzdem nicht in Behauptungsstrategien zu verfallen, die häufig eher Analogieschlüsse, gezogen am Verständnishorizont der Heranwachsenden, darstellen. Wie können etwa die historischen Bedeutungsprämissen im Zeitalter der „Biographisierung“ der Gesellschaft36 vermittelt werden vor © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Ort, ohne kollektive Gedächtnisformen (wie etwa das Gedenken im öffentlichen Raum) und die immer deutlicher zu erkennende Tendenz zur Abkehr von den Formen kollektiven Gedenkens insbesondere bei vielen Jugendlichen einander bloß gegenüberzustellen? Ist es noch sinnvoll, die Vergangenheit im Medienzeitalter sprachlich als Gegenüber und Widerpart der Gegenwart zu präsentieren und darauf hinzuweisen, dass es einen von der Vergangenheit in die Gegenwart gerichteten Tradierungsprozess gibt, zu dessen Verständnis es mehr bedarf als eines rein subjektiven Zugangs zur Vergangenheit? Oder sollte man stattdessen versuchen, wie in der jüngeren Erinnerungsforschung37 geschehen, gegenwartsorientiert die Faktoren für das Zustandekommen des historischen Kollektivgedächtnisses aus dem Wechselspiel von Herrschaftsstrategien und sozio-mentalen Konstruktionsmustern und -formen zu erarbeiten? Ist Auschwitz nicht ebenso wie 09/11 und Tienanmen zum ultimativen Effekt im medialen Metaphernclash verkommen?38 Hat sich das Paradigma, unter dem Geschichte verstanden wird, nicht mit dem hohen Einfluss der Medien und der Allgegenwart historischer Dokumentation im Stile G. Knoops bzw. der Disneyfizierung der Geschichte durch Oliver Stone („JFK“, „Nixon“, „Alexander“), Oliver Storz („Brandt“-Zweiteiler) und Bernd Eichinger („Der Untergang“) nicht längst von der Rekonstruktion der Vergangenheit zur kollektiven Ko-Konstruktion (im Sinne eines gegenwartsfokussierten Erinnerungsrituals des Kollektivs) via Massenmedien verschoben?39 Ist das längst abgerissene, aber immer wieder bei jedem Fußballspiel der DFB-Kicker im Fernsehen gezeigte Wankdorfstadion des Jahres 1954 nicht ebenso wie die Reste des Obersalzbergs oder die Wettkampfstätten in Olympia eher Beiwerk eines rituellen Tele-Happenings, das sich einreiht in die Rahmenberichterstattung zu einer sehr einsamen Party der vereinigten Couch-Potatoes aller Medienregimes? Wie soll unter solchen Umständen das Aufsuchen eines Konzentrationslagers noch authentisches Erinnern bei der sog. „dritten Generation“ der Enkel vermitteln helfen, wenn doch an die Stelle des Erinnerungswunsches das kollektive Vergessen getreten ist bzw. das Zustandekommen von kontingenten Erinnerungsleistungen eher von individuellen Interessenlagen und Sozialisationsfaktoren abhängt? Die Frage nach dem Unterschied von historischem und politischen Lernen an vermeintlich ‚historischen‘ Stätten hat sich damit über die verschiedenen skizzierten Stationen verschoben hin zu der Frage, ob unsere Gesellschaft trotz ihres ständigen Bemühens um die Aktualisierung der Erinnerung40 sich nicht einreiht in die Gruppe der Gemeinwesen, die obschon zivilisiert, literat und staatlich organisiert, sich nicht mehr und mehr der Geschichte als genuiner Größe im nationalen Wissenshaushalt „kalt“ verweigert.41 Und es sind beileibe keineswegs die Jugendlichen allein, die sich der Geschichte verweigern. Auch regionaler Fremdenverkehr – insbesondere Städtereisen – funktioniert im Zeitalter des Massentourismus am besten mit historischen Zitaten, man vergleiche nur die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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einschlägigen Prospekte der Tourismusverbände42. Dasselbe gilt für den Markt der Computerspiele (beliebter denn je sind historische Schlachten) und Historienvideos: Andererseits fallen mit der Orientierung an positiven Konsumwünschen, die jeder bestimmten Gruppe ihre Erinnerung als patch-work-Erfahrungshorizont ermöglichen möchte, um sie als Kunden- bzw. Konsumentengruppe zu behalten, negative Erinnerungen entweder unter den Tisch oder behalten ihre Legitimität als politisch/sozial korrektes heterodoxes Element innerhalb des grundsätzlich positiv aufgeladenen Raums der Erinnerung an eigene Leistungen der Nachkriegs- bzw. 68er-Generation. Das gilt übrigens auch für die ministeriell genehmigten Lehrpläne und Schulbücher, die die bundesrepublikanische success story43 ebenso kategorial aufladen wie den Leichenfund im Ötztal zur archäologischen Erfolgsgeschichte um den „Ötzi“ modellieren. Gerade diese Tendenzen zur Ritualisierung des öffentlichen Gedenkens bei gleichzeitiger biographischer Diffusion und Marginalisierung der allgemein dem kollektiven Erinnerungshandeln zugrundezulegenden historischen Wissensbestände führt uns lebhaft vor Augen, dass historisch-politisches Lernen vor Ort nur dann gelingen kann, wenn die heranwachsende „vierte“ Generation, die Enkel und Urenkel der Generationen von 1914 bis 1945, die Verwertungspotenziale der im Unterricht wie in der Öffentlichkeit verwendeten historischen Kategorien reflektieren lernt, z.B. indem die Annäherung an die semantischen Gefüge vergangener Epochen nicht länger durch die einseitige Vermittlung eines den Schülern und Schülerinnen zeitlos erscheinenden, gleichwohl auswendig zu lernenden Inventars an nationalen Daten und Grundbegriffen wie „Weimar“, „Inflation“, „Ermächtigungsgesetz“, „5 Ds“, „Potsdam“, „Wirtschaftswunder“ etc. betrieben wird. Auch die unsäglich Reduzierung des „Dritten Reichs“ auf Hitler, an der gleichermaßen die massenmediale Lenkung und die engen Zeitfenster des Geschichtsunterrichts beitragen, gilt es zu überwinden. Wie aber kann dies geschehen, wenn in unseren Kinos Bruno Ganz, in unseren Wohnzimmern Harald Schmidt (in seiner Sendung „Schmidt“ am 18.02.05) gegenwärtig sind? Die Tradition der Geschichte der „großen Männer“ im Stile Rankes und Meineckes lastet wie ein Alp erneut über den deutschen Gehirnen, so als habe es eine sozialgeschichtlich orientierte Biographieforschung, die sich erstmals den Lebensläufen durchschnittlicher Menschen bzw. sozialen Kollektivakteuren widmete, ebenso wie die „Mikrohistoire“ nie gegeben.44 Dass Vergangenheit vorrangig aktualisierend und nicht rekonstruktiv betrachtet wird, d.h. von Schülern und Schülerinnen „der Zustand unserer heutigen Kulturlandschaft nicht als entwicklungsbedingt verstanden und die historische Dimension des ganzen Problems ausgeklammert wird“45, hängt sicherlich auch mit den Formen öffentlichen historischen Gedenkens zusammen, die z. T. vordergründige Aktualisierungsleistungen von historischem Wissen fördern.46 Jedoch lässt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen (und empirische Un© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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tersuchungen nähren ihn), dass auch der Geschichtsunterricht zur Verwischung historischer und aktueller Kategorien und Wissensbestände beiträgt und so die Fähigkeit, unterschiedliche sozio-kulturelle Normen und deren historische Differenzen und Inkompatibilitäten ertragen zu können, nicht mehr ausreichend schult.47 Auch der Einzug des Computers in die privaten Haushalte trägt hierzu bei.48 Die elektronischen Medien bieten ein Spektrum historisch interessanter Themen, die jedoch nicht inhaltlich aufgearbeitet, sondern nur als vage Anlässe für in ihrem Wahrheitsgehalt äußerst zweifelhafte Simulationen vereinnahmt werden. Im Geschichtsunterricht wie in der öffentlichen Geschichtskultur lässt sich infolgedessen gegenwärtig immer öfter beobachten, wie an die Stelle eines glaubwürdig abgesicherten zeitlichen Erfahrungshaushalts, der aus subjektiven Erfahrungen, der kollektiven Erinnerung sozialer Gruppen (der mémoire bei M. Halbwachs) und historischem Wissen (histoire) gleichermaßen gespeist wird, ein Fundus virtueller, z. T. aberwitziger Verwertungsleistungen von Vergangenheit tritt.49 Damit reiht sich die Rede von den Erinnerungsorten ein in das Dilemma aller Diskurse, in denen enge Wechselbeziehungen zwischen den „ausgehöhlten Metaphern“50 und den Massenmedien bei der Erkenntnisgewinnung bestehen. „Der Austausch von Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen Inhalt als eben den der Kommunikation. Die ‚Gemeinplätze‘ […] haben den Vorteil, dass jedermann sie aufnimmt und augenblicklich versteht; aufgrund ihrer Banalität sind sie dem Sender wie dem Empfänger gemeinsam. Im Gegensatz dazu ist Denken von vornherein subversiv.“51 Sind wir noch daran interessiert, eine Trennlinie zwischen der analytisch-historischen Aufarbeitung der Vergangenheit und dem kollektiven Gedächtnis als öffentlich gemachter Erinnerungspraxis zu ziehen? Lernen vor Ort als Therapie eine massenmedial verbildeten Gesellschaft? Das hieße, den didaktischen Anspruch des Lernens vor Ort auszublenden. Während der Forscher als Experte die strikte Trennung von Überlieferungen und Überresten bei der Analyse und Rekonstruktion seines Wissens zumindest anstrebt, wurde die bisherige Auseinandersetzung mit historischen Lernorten in erster Linie von didaktischen Erwägungen gespeist. Die Allianz zwischen Herrschaft und Gedächtnis schlägt um mit der Individualisierung der Erinnerung, die gleichberechtigt neben die Schemabildung der Geschichte tritt, da die persönliche Erfahrung von Zeitlichkeit nicht mehr verlässlich ist, wenn „erlebnishafte Begegnungen“ mit Geschichte vor Ort (im Sinne Heideggers bzw. seines Adepten Sartres und der älteren Geschichtsdidaktik) eine Chimäre sind.

2 Schlussfolgerungen Vor der Endgültigkeit der Geschichte kann uns also – so lässt sich das bisher Referierte zusammenfassen – nur die Geschichte als Ort der Rekonstruktion retten.52 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Bleibt zu fragen, wie der Widerstreit zwischen den skizzierten konträren Sichtweisen der Generationen sich in naher Zukunft weiterentwickeln wird. Wird die Geschichte weiter zur Bühne im Spiel der Gegenwart und ihrer Legitimationssuche verkommen? Ist der Augenblick gekommen, die Fiktion der Rekonstruierbarkeit der Geschichte im Raum zu forcieren, um den Ausnahmezustand, in den das kollektive Erinnern getreten ist, zu hintertreiben? Erfordert die Suspendierung des kollektiven Rekonstruktionsprozesses die Mystifizierung des vermeintlichen Originalschauplatzes? Oder sollte man als Mittler historisch-politischer Bildung ehrlicherweise aufklären über die Unbestimmbarkeit des Historisch-Besonderen und den Nicht-Ort betonen? Eine Antwort scheint mir darin zu liegen, von den Inhalten der Spurensuche vor Ort hin zu deren Kategorien zu gelangen. Der spezifische Wesenszug der Vergangenheit lässt sich sowohl rekonstruktiv als auch sozial- oder ko-konstruktiv interpretieren; in jedem Fall geschieht beides paradoxerweise zeitunabhängig (und ohne Ansehen der Akteure53) Die Frage nach der Geschichte kann man also auch bei höchstem Interesse an der Rekonstruktion ihrer Zusammenhänge ebenso nur zeitlos stellen wie die an der Gegenwart orientierte biographisierte Erinnerung erleben. Erst durch die Differenz und das Bewusstsein der Andersartigkeit der beiden Sinnbildungsmodi, hie Rekonstruktion, hie aktualisierende Ko-Konstruktion, wird Identitätskonstruktion als Einheit möglich.54 Akzeptiert man diese Komplexitätsreduktion als Prämisse, erscheint die Diskussion um den rechten Ort des Gedenkens ob im Kino- bzw. Fernsehsessel oder im öffentlichen Raum in neuem Licht. An die Stelle des Gegensatzes tritt die simulative Verflechtungen, die erst qua affektiver Übersteigerung identitätsstiftend wirkt. Auch der Rekonstrukteur bedarf des Wissens um eine sozial-konstruktiven Gegenpol. Ein mögliches Ziel politischen Lernens aus der Geschichte wäre also die Entpolarisierung von Geschichte und Erinnerung bzw. Geschichte und politischer Gegenwart. Um den Gegensatz zu überwinden bedürfte es einer Theorie der Nicht-Entscheidbarkeit, wie sie Agamben55 für die Rechtswissenschaft vorgelegt hat, auch für die Geschichtsaneignung. Anknüpfungspunkte finde ich z.B. bei Lyotard, der schreibt, der Konsens über die Geschichte bleibe „ein Horizont, er wird niemals erworben.“56 Eines Tages könnte die Menschheit den Gegensatz von Gedächtnis als aktuellem Phänomen und Geschichte als Repräsentation von Vergangenheit überwunden haben. Genetisch betrachtet könnte die Chance hierfür in der weiteren Schwächung der Nationalgeschichten zugunsten von Kontinentalgeschichten liegen – etwa zugunsten Europas oder des nicht mit den USA zu verwechselnden (Süd-)Amerikas.57 Die Frage nach der Funktion historischer Ortstermine als Möglichkeit politischen Lernens stellt sich somit, folgt man dieser Perspektive, nicht vorrangig auf jener Ebene des zeitlosen Objektivismus, der Droysen ebenso wie die Gedenkstättendidaktik anleitet(e), sondern stellt sich vorrangig darin zu vermitteln, dass © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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mit der Stiftung eines neuen Horizonts der Welt-Geschichte in den Schulen auch die Aufarbeitung all jener (Gründungs-)Mythen Europas anstehe; zugleich aber könnte auch das nationale „Erbe“, stärker als es bisher durch die Unesco-Richlinien geschehen, in Konkurrenz zueinander treten. Wozu sich streiten um die Frage, ob bei einer Begehung des mittelalterlichen Nürnbergs nicht eher die Rekonstruktion der Bauwerke nach 1945 zum Vorschein kommt, wenn die Erzählung von der christlichen Identität Europas dabei zu kurz kommt? Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, und deshalb sollte der Versuch unternommen werden, bewusst Erinnerungsorte zu stiften, die von globaler politischer Identität zeugen könnten, um den Streit einer prinzipiellen Gegnerschaft der Kulturen (Huntington) zu einem Szenario von rein akademischen Ausmaß herabstufen zu können. An die Stelle der Erneuerung all jener aus den verschiedenen Nationalgeschichten nur zu gut bekannten gouvermentalen Versuche, via Rekonstruktion und/oder massemedialer Ko-Konstruktion von Vergangenheit wertgebundene historische Identität(en) zu kreieren, sollte das m. E. komplexere Bemühen treten, eine medienreflexive Schulung in der Lehre der Nicht-Entscheidung zu befördern. Eine solche Identität böte weder historische Rollen an, in die man vor Ort, an der vermeintlich historischen Stätte, schlüpft, wenn man Geschichte (re-)konstruiert, noch erschöpfte sie sich, wie oben geschehen, im Aufweis wissenschaftlicher Mythologeme (von Zeit und Raum), sondern postulierte, dass erst die Existenz von Interpretationsspielräumen, die sich nicht nur im Inhalt sondern zugleich auch in den Modi und den Stilen des kollektiven Gedächtnisses spiegeln könnten, die Bewusstseinstätigkeit interkulturell nachvollziehbar werden ließen.58 „Wenn einer die Lösung des Problems des Lebens gefunden zu haben glaubt, und sich sagen wollte, jetzt ist alles ganz leicht, so brauchte er sich zu seiner Widerlegung nur zu erinnern, dass es eine Zeit gegeben hat, wo diese ‚Lösung‘ nicht gefunden war; aber auch zu der Zeit musste man leben können, und im Hinblick auf sie erscheint die .gefundene Lösung wie ein Zufall“ (Wittgenstein)59. Die Pluralität der Erkenntnisstile anzuerkennen bedeutet dann aber auch, sich von den Vereinheitlichungsobsessionen zu verabschieden, die einen Mehrwert an Legitimität für Lernen vor Ort als dem alleingültigem Verfahren zur Überwindung des Relativismusproblems ziehen wollen.60 Das wiederum impliziert, sich die internen Probleme der verschiedenen Konzeptionen gerade unter dem Blickwinkel ihrer Dialoghaftigkeit bzw. ihrer Diskursgebundenheit stärker als bisher bewusst zu machen.61 Der künstliche Charakter historischen wie politischen Lernens in der Schule wie in der außerschulischen Jugendbildung ist gerade den Schülern und Schülerinnen nicht bewusst, – selbst dann, wenn sie vermeinen, die Kunstgriffe des Lehrers bzw. der Lehrerin zu durchschauen. Das Verlassen des Schulgebäudes und des dort gebildeten sozio-hierarchischen Beziehungsgefüges und seiner Rituale führt an einen leeren Raum, der aber recht rasch eingenommen wird von den mitgebrachten Binnenbeziehungen, die sich © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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nun diskursiv im Akt des vermeintlich historischen Lernens widerspiegeln. Eine Beziehung zum Realen, d. h. zum politischen Lernen, könnte daraus erwachsen, diesen Zusammenprall der sozialisierten Zeichen bei Lehrenden und Lernenden mit dem historisch „blinden Medium“ zu thematisieren.62 Stellen wir uns in der Lerngruppe der paradoxen Herausforderung, dass wir beim Besuchen von Gedenkorten in einen Zwang geraten, kognitiv distanzlos zu werden, um zu gewährleisten, dass sich unsere Sinnproduktion „vereindeutigt“ und heterodoxe Lehren ausgeschlossen oder zumindest minimiert werden, „nur damit gewährleistet scheint, dass unsere komplizierten Vollzüge überhaupt in ein Handeln münden, [das] Voraussetzung dafür [ist], dass wir uns weiterhin als Subjekte verstehen.“63 Zukünftige Gewissheit steckt in den Köpfen bzw. Worten, nicht im Raum, den man betreten hat. Deshalb endet dieser Überblick mit einer Bitte an den geneigten Leser und die geneigte Leserin: Letztlich ist es immer die existenzielle Not, aus der man in der Multioptionsgesellschaft raum-zeitlich objektivistisch argumentiert; deshalb sollte man sich (und seine Schülerinnen und Schüler) mit dem Relativismusproblem ähnlich Mephisto den Studenten in Goethes ‚Faust‘ „nicht allzu ängstlich quälen“64. Das Modell des kritisch reflektierenden Individuums ist gegenwärtig indes mehr denn je gesellschaftlich gefordert und ist ebenfalls längst zum fossilen Topos der Moderne geworden, das in den vorherrschen sozialen Praxen kaum als tautologisch wahrgenommen wird.65 Die hier holzschnittartig skizzierte raum-zeitliche Diskrepanz wird auch an der künftigen Transzendierung subjektiver Wünsche in das Labyrinth von Raum und Zeit und Subjekt breitenwirksam nichts ändern, denn der dezidiert politische Blick, also die erforderliche Diskurs über die soziopolitischen Antinomien und Paradoxa jenseits des Agenda-Settings der TV-News, die sich seit dem Ende des Kalten Kriegs überall auf der Welt, also auch bei uns, ergeben haben, will und kann sich verstecken hinter dem ungleich harmloseren Studium des historischen Orts als seinem Gegenüber, seinem Spiegelbild, das recht eigentlich besehen, aber seine genuine Schöpfung ist, das zugleich die Flucht vor der Realität impliziert. Was Not tut: Erkennen wir uns als stumme Komplizen der Medien bei der Konstruktion so genannter objektiver Realitäten66 und vermeintlich vergangener Tage bzw. historischer Orte, wird sich die historistische Sichtweise des historischen Raums als eines eindeutig bestimmbaren Zeichens bzw. eindeutig bestimmten Maßstabs zur Sichtung der Vergangenheit nach knapp 150 Jahren als a-politische Heuristik disqualifizieren und mit der Entdeckung der grundsätzlichen Unbestimmtheit der künstliche Gegensatz von Geschichte und Politik als banal erweisen, auf dass wir (von den Medien oder den Wissenschaften?) neue Angebote erhalten, uns unserer Existenz realitätsnäher und damit nachhaltiger zu versichern. Die Rückkehr an die Orte der Geschichte darf uns dem Wunsch nach politischer Gestaltung nicht länger entfremden.67 Das Scheitern des aufklärerischen Projekts vom autonomen Subjekt in einer Welt voll affektiv beladbarer subjektivierbarer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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historischer Überreste wirkt auf mich wie eine Aufforderung an uns alle, es selbst besser zu machen. Statt uns ausschließlich immer tiefer in der Vergangenheit der anderen eindringen zu lassen, möge der Leser doch selbst versuchen, das Zwiegespräch mit seiner eigenen Zeit zu suchen. Er wird dabei das Richtige tun, denn was das Richtige sein könnte, verschwimmt, wenn man auf die Reflexion des historischen Impetus völlig verzichtet. In diesem Sinne kann und muss aus der Geschichte immer wieder aufs Neue das Paradox erlernt werden, dass man aus ihr nicht lernen kann.

Anmerkungen 1 P. Bourdieu: Leçon sur la leçon. Frankfurt/M. 21991, 50. 2 J. Baudrilard: Amerika. Paris, Berlin 1986/2004, 100. 3 J. Rüsen: Historische Vernunft. Göttingen 1983, 93f.: Jeder Versuch, der Geschichtswissenschaft den „Tatsachengehalt von Geschichten zu sichern“ birgt unter dem Gesichtspunkt seiner Darstellung „ein paradoxes Resultat: Die Geschichten, deren Tatsachengehalt durch die Forschung besonders gut gesichert werden, sind hinsichtlich dieses ihres Tatsachengehalts prinzipiell relative Geschichten. Sie würden lügen, wenn sie sich als endgültige darstellten, also gerade als das, was man erwartet, wenn die Geschichtswissenschaft einmal gesprochen hat.“ 4 Vgl. J. Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens. Frankfurt/M. 1990. 5 J. Rüsen: Lebendige Geschichte. Göttingen 1989, 13. 6 L. Wittgenstein: Zettel. Frankfurt/M. 1984, Nr. 662. 7 A. Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, 141. 8 Vgl. G. G. Iggers & E. Tortarolo: Hayden White’S Metahistory twenty years after. In: Storia della Storiografia 24 (1993), 5 ff. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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9 J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen. Wien 1982, 35ff. 10 Bejahend hierzu P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990; ablehnend D. Levy/N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. München 2001. 11 Hierzu N. Frey: Vergangenheitspolitik. München 1996. 12 Siehe zuletzt C. Wischermann. Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung. Stuttgart 2002. 13 Zum Beispiel bei K. Ahlheim, J. van Soeren und W. Ziegler. 14 J. W. v. Goethe: Faust I. V. 1992 f. 15 W. Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Frankfurt/M. 1976. 16 J. G. Droysen: Historik. Stuttgart, Bad Cannstatt 1977, 8. 17 Vgl. die Arbeiten von M. Sandl bzw. das Themenheft 2002 von „Geschichte und Gesellschaft“. 18 Vgl. D. Gugerli/ D. Speich: Topografien der Nation. Zürich 2002; sowie die Arbeiten von M. Sandl und die fünf Beiträge in Themenheft 28 „Geschichte und Gesellschaft“ 2002. 19 J. G. Droysen: A. a. O. 8. 20 H. D. Schultz: Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie.... (2002), 345. 21 Vgl. statt vieler H. Heiber: Die Republik von Weimar. München 1966, 7. 22 G. Hübinger: Geschichte als leitende Orientierungswissenschaft im 19. Jh. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), 149 ff. 23 Vgl.G. G. Iggers: Zur linguistischen Wende im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung. In: Geschichte und Gesellschaft. 21 (1995), 557-570; J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen. Wien 1982/94, 79 f. 24 Vgl. R. Koselleck: Vergangene Zukunft. Frankfurt/M. 1989. 25 M. Sandl: „Nicht Lehrer, sondern Erinnerer“. (2000). 26 Vgl. van Soeren und Ziegler. 27 S. Krimm. 28 M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 81957. 29 Zur fachwissenschaftlichen Diskussion um einen tragfähigen Regionsbegriffs s. im Literaturverzeichnis die Arbeiten von Bartos, Beilner, Flügel, Hajna, Hoock, Hinrichs, Hug, Köllmann und Werlen. 30 Vgl. zuletzt K. Ahlheim (Hrsg.): Gedenkstättenfahrten. Schwalbach/Ts. 2004. 31 Vgl. auch C. Conrad (Hrsg.): Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 339. 32 J.-P. Sartre: Die cartesianische Freiheit. Hamburg 1967 ff., 123. 33 Um A. Kuhn, K. Bergmann und J. Rüsen. 34 H.-J. Pandel: Sozialformen. In: K. Bergmann et al. (Hrsg.): Handbuch 1979, Bd. 2, 42 bzw. 51997, 397. 35 W. Hug: Geschichtsunterricht. Frankfurt/M.1977, 41. 36 C. Wischermann: Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung. Stuttgart 2002. 37 Assmann, Halbwachs, Nora, Ricoeur. 38 Zum Bedeutungswandel des Lagerbegriffs s. G. Agamben: Mittel ohne Zweck. Freiburg u.a. 2001. 39 Wie etwa Levy/Sznaider bzw. C. Wischermann annehmen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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40 Von gouvermentaler Seite namentlich an die NS-Vergangenheit, vgl. hierzu N. Frey, 1999. 41 Für Beispiele und Begrifflichkeit vgl. J. Assmann 1997/2000, 68 f. 42 Hierzu aus sozialhistorischer Perspektive P. Fowler 1992. 43 Kritisch s. A. Schildt 1999. 44 S. Scheuner, Lüdtke und die Arbeiten von Gestrich et al. 45 I. Kriesten: Überlegungen zur Umwelterziehung im Fach Geschichte an Gymnasien, 176. 46 T. Meyer: Die Transformation, 160ff.; R. Wodak: Die Sprachen der Vergangenheiten, bes. 9-38. 47 Vgl. V. Knigge: ‚Triviales‘ Geschichtsbewusstsein, bes. 9ff.; T. Grammes: Kommunikative Fachdidaktik, z. B. 319 und 425. Zur Verwendung historischer Sachverhalte in der Werbung und durch Fremdenverkehrsorte P. Fowler: The Past in Contemporary Society, bes. 122-151. 48 „Ziehen Sie in die Schlacht, die den Höhepunkt der Napoleonischen Ära bildet“ – mit diesem Paradoxon wirbt die Softwarefirma Talonsoft für ein martialisches Simulationsspiel, das PC-Benutzern die Möglichkeit bietet, per Mausklick auf den Schlachtfeldern des Russlandfeldzugs zu kämpfen. Selbst dort, wo originale Fotos und Filme eingesetzt werden, dienen sie „zum überwiegenden Teil als bloße Illustration [...]. Die Tatsache, dass eine beliebte CD-ROM zum Zweiten Weltkrieg ein Kapitel über den Vormarsch der Alliierten Truppen mit einer Filmsequenz über rollende Panzer der Wehrmacht illustriert, getreu dem Motto, Panzer sind Panzer, dürfte den unübertroffenen, bizarren Höhepunkt des Genres bedeuten.“ (G. Gersmann: Neue Medien und Geschichtswissenschaft, 246. 49 Ein besonders bestürzendes Beispiel hierfür berichtete am 27. Juli 2000 die „ZEIT“: Bei einer Protestkundgebung Schweizer Pit-Bull-Freunde gegen die aus aktuellem Anlass (Tod eines 6jährigen Hamburger Schülers) verschärften Hundeverordnungen in der BRD „hefteten etliche Halter ihren Hunden Judensterne an, schwenkten bei gutbesuchten Demonstrationen Plakate mit der Aufschrift ‚Rassenwahnsinn‘ und setzten die Tötung von Kampfhunden mit dem Holocaust gleich.“ Ähnlich sinnentstellende Verdrehungen der historischen Kategorien aus dem Geschichtsunterricht vgl. bei V. Knigge: ‚Triviales‘ Geschichtsbewusstsein und verstehender Geschichtsunterricht, 9ff.; empirisch B. von Borries: Historisches Verstehen, 134. – Zum Begriff Erfahrungshaushalt s. Koselleck (2000) und Halbwachs (1967). 50 A. Assmann, 178. 51 P. Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt/M. 1998, 39. 52 J. Rüsen: Historische Vernunft. Göttingen 1983, 93f.: Jeder Versuch, der Geschichtswissenschaft den „Tatsachengehalt von Geschichten zu sichern“ birgt unter dem Gesichtspunkt seiner Darstellung „ein paradoxes Resultat: Die Geschichten, deren Tatsachengehalt durch die Forschung besonders gut gesichert werden, sind hinsichtlich dieses ihres Tatsachengehalts prinzipiell relative Geschichten. Sie würden lügen, wenn sie sich als endgültige darstellten, also gerade als das, was man erwartet, wenn die Geschichtswissenschaft einmal gesprochen hat.“ 53 Vgl. S. J. Schmidt: Geschichten und Diskurse. Hamburg 2003, 31 ff. 54 Ebd. 96 f. 55 G. Agamben: a.a.O. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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56 J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen, 31994, 177. 57 D. Levy/N. Sznaider: a.a.O. 46ff., zuletzt Rifkin und Meyer 2004. 58 Erste Ansätze zur Vergleichbarkeit von Erinnerungskulturen z. B. bei Cornelissen und Mehnert. 59 L. Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Frankfurt/M. 1984, 455. 60 Ebd. 175 ff. 61 Zu den Unterschieden in den Begriffen grundsätzlich R. Keller, Landwehr und Flusser. 62 Zur Differenz von Wissen und Handeln unter politischen Vorzeichen s. D. Oestreich. 63 H. Winkler, 213. 64 J. W. v. Goethe: Faust I, V. 1994. 65 Systematisch zu diesem Topos hierzu siehe die fundierte Skizze von A. K. Jain: Die Spannung zwischen Subjekt und Politik, bes. 254 f. 66 So die Forderung von J. Baudrillard: Der unmögliche Tausch. 33ff. et passim. 67 Sinnbildlich für diesen konstruktiven Umgang mit Fukuyamas These vom Ende der Geschichte ist der Beitrag eines Politikers, vgl. J. Fischer: Die Rückkehr der Geschichte, bes. 248 ff.

Literatur Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 81994. Agamben, Giorgio: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg, Berlin 2001. Ders.: Ausnahmezustand. Frankfurt/M. 2003f. Ahlheim, Klaus (Hrsg.): Gedenkstättenfahrten. Schwalbach/Ts. 2004. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997/2000. Ders. & Harth, Dietrich (Hrsg.) : Revolution und Mythos. Frankfurt/M. 1992. Bartos, Josef: Methodologische und methodische Probleme der Regionalgeschichte. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 8 (1981), 7-16. Baudrillard, Jean: Amerika. Berlin, Paris 1986/2004. Ders.: Der unmögliche Tausch. Paris, Berlin 1999. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986. Beilner, Helmut: Die Bedeutung der regional- und alltagsgeschichtlichen Perspektive im Geschichtsunterricht. Die Säkularisation des Hochstifts Passau. In: Zenner, Maria (Hrsg.): Fachdidaktik zwischen Fachdisziplin und Erziehungswissenschaft. Bochum 1990 (Regensburger Beiträge zur Fachdidaktik 2), 185-212. Ders.: Heimatgeschichte als Regional- und Lokalgeschichte. In: Schreiber, Waltraud (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens, Bd. 2. Neuried 1999, 803-827. Bergmann, Klaus et al. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. Düsseldorf 11979; sowie 3., völlig überarb. und erw. Aufl. Düsseldorf 1985; sowie 5. völlig überarb. Aufl. Düsseldorf 1997. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Boldt, Werner: Subjektive Zugänge zur Geschichte. Didaktische Betrachtungen. Weinheim 1998. Borries, Bodo von: Historisches Verstehen von Schülerinnen und Schülern. In: Pandel, HansJürgen (Hrsg.): Verstehen und verständigen. Pfaffenweiler 1991, 115-136. Bourdieu, Pierre: Leçon sur la leçon. In: Ders.: Sozialer Raum und ‚Klassen‘/Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt/M. 21991. Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen. Frankfurt/M. 1998. Ders.: Sozialer Raum und Klassen. Frankfurt/M. 1985. Carcenac-Lecomte, Constanze et al. (Hrsg.): Steinbruch deutsche Erinnnerungsorte. Annäherungen an eine deutsche Gedächtnisgeschichte. Frankfurt/M. 2000. Conrad C.(Hrsg.): Geschichte und Gesellschaft 28 (2002). Cornelissen, Christoph/ Klinkhammer, Lutz/ Schwentker, Wolfgang: Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Frankfurt/M. 2003. Droysen, Johann Gustav: Historik. Historisch-kritische Ausgabe hrsgg. von Peter Leyh. Bd. 1. Stuttgart, Bad Cannstatt 1977. Fina, Kurt: Geschichtsmethodik. Die Praxis des Lehrens und Lernens. München 1973. Fischer, Joschka: Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens. Köln 2005. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004. Flusser, Vilém: Kommunikologie. Frankfurt/M. 1998. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt 1973. Ders: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1976. Fowler, Peter J.: The Past in Contemporary Society. London 1992. Francois, Etienne & Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2000f. Frey, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996. Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Frankfurt/M. 1992. Gersmann, Gudrun: Neue Medien und Geschichtswissenschaft. Ein Zwischenbericht. In: GWU 50 (1999), 239-249. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie erster Teil. Hamburger Ausgabe Bd. 3, hrsgg. von Erich Trunz. 1949/1972. Gotthard, Axel: Vormoderne Lebensräume. Annäherungsversuche an die Heimaten des frühneuzeitlichen Mitteleuropäers. In: Historische Zeitschrift 276 (2003), 37-73. Gestrich, Andreas et al. (Hrsg.): Biographie – sozialgeschichtlich. Göttingen 1988. Gradmann, Christoph: Geschichte, Fiktion und Erfahrung – Kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie. In: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der Literatur 17 (1992) Heft 2, 1-16. Ders.: Geschichte, Fiktion und Erfahrung – Kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie. In: IASL 17 (1992), H. 2, 4;: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979. Gugerli, David & Speich, Daniel: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jh. Zürich 2002. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967. Hasch, R. (Hrsg.): Landesgeschichte und Exkursion im Geschichtsunterricht. Donauwörth 1977. Heiber, Helmut: Die Republik von Weimar. München 1966. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 81957 Hesse, Horst: Auseinandersetzen mit Geschichte. Überlegungen zur Geschichte und ihrer Didaktik. Heinsberg 1996. Hey, Bernd: Die historische Exkursion. Zur Didaktik und Methodik des Besuchs historischer Stätten, Museen und Archive. Stuttgart 1978. Hug, Wolfgang: Ansätze einer Regionalgeschichte des Alltags. In: Niemetz, Gerold (Hrsg.): Vernachlässigte Fragen der Geschichtsdidaktik. Hannover 1992, 124-143. Ders.: Geschichtsunterricht in der Praxis der Sekundarstufe I. Frankfurt/M. et passim 1977. Ders.: Museum, Schule und Öffentlichkeit – Grundfragen aus geschichtsdidaktischer Sicht. In: Ders. (Hrsg.): Das historische Museum im Geschichtsunterricht. Eine didaktische Anleitung mit Unterrichtsbeispielen. Würzburg 1978, 7-23. Huhn, Jochen: Geschichtsdidaktik. Eine Einführung. Köln et passim 1994. Iggers, Georg G.: Zur linguistischen Wende im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung. In: Geschichte und Gesellschaft. 21 (1995), 557-570. Ders. & Tortarolo, Eduardo: Hayden White’S Metahistory twenty years after. In: Storia della Storiografia 24 (1993), 5-159. Jain, Anil K.: Die Spannung zwischen Subjekt und Politik und die Dialektik von Reflexion und Deflexion. In: Pieper, Marianne und Rodriguez, E. G. (Hrsg.): Gouvermentalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault. Frankfurt/M., New York 2003, 240-256. Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Schneider, Gerhard: Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler 1988, 1-24. Jung, Horst-Wilhelm & von Staehr, Gerda: Historisches Lernen. Bd. II: Methodik der Geschichte. Köln 1985. Kaulfuss, Ralf et al.: Geschichte vor Ort. Anregungen für den Unterricht an außerschulischen Lernorten. Handreichung für den Geschichtsunterricht am Gymnasium. Donauwörth 1999. Keller, Reiner: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. 2 Bde. Wiesbaden 22003f. Knoch, Peter & Leeb, Thomas: Heimat oder Region? Grundzüge einer Didaktik der Regionalgeschichte. Frankfurt/M. 1984, 69-80. Knigge, Volkhard: ‚Triviales‘ Geschichtsbewusstsein und verstehender Geschichtsunterricht. Pfaffenweiler 1988. Köllmann, Wolfgang: Zur Bedeutung der Regionalgeschichte im Rahmen struktur- und sozialgeschichtlicher Konzeptionen. In: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), 43-50. Korff, Gottfried: Kulturelle Überlieferung und mémoire collective. Bemerkungen zum Rüsenschen Konzept der ‚Geschichtskultur‘. In: Fröhlich, Klaus: (Hrsg.): Geschichtskultur. Pfaffenweiler 1992, 51-62. Koselleck, Reinhart: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze. In: Ders. (Hrsg.): Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2000, 27-77. Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1989. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Krebsbach, Kirsten; Meyer, Doris & Wirbelauer, Eckhard: Exkursion in die Geschichte. Skizze und Auswertung einer Kooperation zwischen Schule und Universität. In: GWU 50 (1999), 14-29. Krimm, Stefan: Der regionale Bezug im Lehrplan und im Unterricht für das Fach Geschichte am Gymnasium. In: Körner, Hans-Michael & Schreiber, Waltraud (Hrsg.): Region als Kategorie der Geschichtsvermittlung. Selbstverlag des Lehrstuhls für Geschichtsdidaktik an der Universität München 1997 (Münchner geschichtsdidaktisches Kolloquium H. 1), 75-94. Ladenthin, Volker: Geschichte und Bildung. Zur Kritik ihrer Vermittlung als Erfahrung. In: GWU 43 (1992), 209-219. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. Tübingen 2001. Levy, Daniel & Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Edition zweite Moderne. München 2001. Liebs, Holger: Der kollektive Wahnsinn. Erst Fußball, dann Ulle und nun Olympia. Sieben Gründe, warum der Fernsehsport das Sanatorium unserer Sehnsucht ist. In: Süddeutsche Zeitung 7./8. August 2004, Nr. 181, I. Linz, Erika: Indiskrete Semantik. Kognitive Linguistik und neurowissenschaftliche Theoriebildung. München 2002. Luedtke, Alf: Missionare im Ruderboot“. In: GuG 1982, S. X-XX. Lyotard, Jean-Francois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1982/94. Mehnert, Elke (Hrsg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt/M. 2001. Meyer; Hilbert: Unterrichtsmethoden. Berlin 1987. Meyer, Thomas: Die Identität Europas. Frankfurt/M. 2004. Ders.: Identitätspolitik. Frankfurt/M. 2003. Muenchenbach, Siegfried: Geschichte vor Ort – Exkursion und Museum. In: Parigger, H. (Hrsg.): Die Fundgrube für den Geschichtsunterricht. Das Nachschlagewerk für jeden Tag. Berlin 1996, 315-325. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990. Oestreich, Detlef: Politische Bildung von 14-Jährigen in Deutschland. Studien aus dem Projekt Civic Education. Opladen 2002. Pandel, Hans-Jürgen: Dimensionen und Struktur des Geschichtsbewusstseins. In: Süssmuth, Hans (Hrsg.): Geschichtsunterricht im vereinten Deutschland: Auf der Suche nach Neuorientierung; erweiterte Dokumentation der Tagung Geschichtsunterricht in Deutschland, 22.-25. Oktober 1990. Bonn und Düsseldorf 1991, 55-73. Ders.: Geschichtsbewusstsein. In: GWU 44 (1993), S. 725-729. Ders.: Mimesis und Apodeixis. Hagen 1990. Pocock, John G. A.: The Concept of a Language and the métier d’historien: Some Considerations on Practice. In: Pagden, Anhony (Hrsg.): The Languages of Political Theory in Early Modern Europe. Cambridge 1987, 5-48. Von Reeken, Dietmar: Wer hat Angst vor Wolfgang Klafki? Der Geschichtsunterricht und die ‚Schlüsselprobleme‘. In: GWU 50 (1999), 292-304. Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. München 1988. Ders.: La Mémoire, L’Histoire et L’Oubli. Paris 2000. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Rohlfes, Joachim: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen 1986. Rothe, Valentine: Werteerziehung und Geschichtsdidaktik. Ein Beitrag zur kritischen Werteerziehung im Geschichtsunterricht. Düsseldorf 1987. Rüsen, Jörn: Geschichtskultur als Forschungsproblem. In: Fröhlich, Klaus (Hrsg.): Geschichtskultur. Pfaffenweiler 1992, 39-50. Ders.: Geschichtskultur. In: GWU 46 (1995), 513-521. Ders.: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983. Ders.: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989. Ders.: Die vier Typen des historischen Erzählens. In: Ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Frankfurt/M. 1990, 153-230. Sandl, Marcus: „Nicht Lehrer, sondern Erinnerer“. Zum Wandel des Verhältnisses von Historie und Diskurs am Beginn der Reformation. In: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), H. 2, 179-202. Ders.: Ökonomie des Raums: Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jh. Köln et p. 1999. Sartre, Jean-Paul: Die cartesianische Freiheit. In: Ders.: Der Existenzialismus ist ein Humanismus und andere philsophische Essays, 1943-1948. (rororo-Gesammelte Werke, Philosophische Schriften 4). Hamburg 1967ff. Scheuer, H.: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979. Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der BRD. Frankfurt/M. 1999. Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Berlin 2001. Schlie, Ulrich: Die Nation erinnert sich. Die Denkmäler der Deutschen. München 2002. Schmidt, Siegfried J.: Gedächtnis – Erzählen – Identität. In: Assmann, Aleida & Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M. 1991, 363-377. Ders.: Geschichten und Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Hamburg 2003. Schneider, Gerhard: Die Arbeit mit schriftlichen Quellen. In: Ders. et al. (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach 1999, 15-44. Ders.: Gegenständliche Quellen. In: Ebd. 509-524. Schörken, Rolf: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik. Paderborn et passim 1994. Schultz, Hans-Dietrich: Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jhs. Im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 343-377. Van Soeren, Johan: Zur Didaktik und Methodik historischer Exkursionen. In: Ders./Münchenbach, Siegfried/Buntz, Herwig (Hrsg.): Historische Exkursionen in Franken und in der Oberpfalz. Dillingen 1999 (Ber. der Akad. f. Lehrerfortb. und Personalführung Bd. 323), 7-22. Thurn, Susanne: „…und was hat das mit mir zu tun?“ Geschichtsdidaktische Positionen. Pfaffenweiler 1993. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Werlen, Benno: Regionale oder kulturelle Identität? Eine Problemskizze. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 66 (1992) 1, 9-32. Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M. 2005. Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt/M. 2004. Wischermann, Clemens (Hrsg.): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung. Studien zur Geschichte des Alltags 18. Stuttgart 2002. Wittgenstein, Ludwig: Zettel. In: Ders.: Über Gewissheit. Frankfurt/M. 1984. Ders.: Vermischte Bemerkungen. In: Ders.: Über Gewissheit. Frankfurt/M. 1984. Wodak, Ruth et al.: Die Sprachen der Vergangenheiten. Öffentliches Gedenken in österreichischen und deutschen Medien. Frankfurt/M. 1994. Ziegler, W.: Die historische Exkursion. In: Hasch, Rudolf (Hrsg.): Landesgeschichte und Exkursion im Geschichtsunterricht. Donauwörth 1977, [21982], 109-126.

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Zur Rolle von Museen in der politischen Bildung Anstöße zum Nachdenken am Beispiel des Germanischen Nationalmuseums und des Nürnberger Stadtmuseums Fembohaus

Wohl kaum eine Institution in unserer vielfältigen kulturellen Landschaft ist dermaßen vage in seinen Bestimmungsfaktoren wie das Museum. Das Spektrum reicht von den großen, meist in öffentlicher Trägerschaft und unter wissenschaftlicher Leitung betriebenen Häusern bis hin zur individuellen Privatsammlung, die ihren Charme einzig und allein der Sammlerpersönlichkeit verdankt. Sogenannte Hands-on-Museen lassen ernsthafte konservatorische Überlegungen gar nicht erst aufkommen, selbst virtuelle Museen entstehen und erfreuen die wachsende Schar der Internetnutzer. Die klassischen Museumsaufgaben – sammeln, bewahren, erforschen, ausstellen und vermitteln – weichen einer allgemeinen Herleitung des Museums als des Ortes, an dem die Musen wohnen. Alles scheint möglich und garantiert – mit dem Museumsstempel versehen – für die Seriosität des Angebots.

Ehemaliger Haupteingang des Germanischen Nationalmuseums, nunmehr Personaleingang © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Die wachsende Unbestimmtheit, was denn ein Museum letztlich ausmacht und als solches definiert, korrespondiert auffällig mit dem Museumsboom der letzten Jahrzehnte. Kein Ort, der etwas auf sich hält, ist ohne ein Museum denkbar. Kann man daraus schließen, dass Museen einen hohen Stellenwert für unsere öffentliche Kultur besitzen? Sind sie Orte, ohne die wir uns kulturell ärmer fühlen würden? Haben sie spezifische Qualitäten, die wir uns nirgendwo anders erschließen können?1 Die Antworten auf diese Fragen liegen nicht zuletzt bei den Besuchern und Besucherinnen, deren Erwartungen ähnlich diffus sind und vom Zeitvertreib bei schlechtem Wetter bis zur gezielten und intensiven Beschäftigung mit ausgesuchten Themenstellungen oder Exponaten reichen. Obligatorischen Museumsbesuchen im Rahmen von Schule und Tourismus stehen gehobene Freizeitaktivitäten gegenüber. Und manche Ausstellungen werden schlicht zum gesellschaftlichen Ereignis, bei dem man dabeigewesen sein muss, wenn man im Freundes- und Bekanntenkreis mithalten will.2 Diese diffusen Erwartungen zu kanalisieren und dadurch den Museumsbesuch für die Besucher/-innen zu einem befriedigenden Ereignis zu machen, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Ausstellungsdidaktik und Museumspädagogik. „Lernort Museum“ wurde seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Schlagwort, das die Erschließung von musealen Präsentationen für ein breites Publikum, insbesondere aber auch für die schulischen Bedürfnisse beeinflusste. Heute steht eine allgemeine Besucherorientierung im Sinne der Kundenorientierung im Vordergrund, die es den Besuchern/Besucherinnen ermöglichen soll, sich die Ausstellungen und Sammlungen nach individuellen Gesichtspunkten zu erschließen. Der Erlebnischarakter des Museumsbesuchs darf dabei ebenso wenig fehlen wie eine über die reine Betrachtung hinausgehende Beschäftigung mit den gezeigten Objekten. Dadurch erhofft man sich nicht nur eine Attraktivitätssteigerung für das jeweilige Museum, sondern auf diese Weise lassen sich auch zwei Funktionen des Museums stärken, die bei aller zielgruppenspezifischen Orientierung zu kurz zu kommen scheinen. Museen, gleich welcher Art und Ausrichtung, sind ideale Orte der Kommunikation und Reflektion – über das Gezeigte ebenso wie über die dahinter liegenden Ideen. Sie bieten den Besuchern/Besucherinnen vielfältige Anregungen, über sich und die Welt nachzudenken, sich in Beziehung zu setzen mit spezifischen Fragestellungen, fremden Welten und fernen Zeiten. Damit schaffen sie Anlässe, sich der eigenen Identität zu versichern, sie auch in Frage zu stellen und weiterzuentwickeln. Am Beispiel von zwei Nürnberger Museen sollen im folgenden einige Anknüpfungspunkte erörtert werden für die Reflektion über individuelle wie kollektive Identitäten. Nur wer sich seiner eigenen Identität sicher sei, heißt es, könne sich im Wortsinne selbstbewusst mit Fremdem auseinandersetzen und entgehe den © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Gefahren totalitärer Vereinfacher. Dieser Satz macht aber auch in der Gegenrichtung Sinn: Nur wer sich auf zunächst Unbekanntes einlässt, wird auf Dauer eine eigene Identität entwickeln können.

Das Germanische Nationalmuseum Entstehung, Aufgabe und öffentliche Wirkung „Eigenthum der deutschen Nation“ steht über dem Eingang des Germanischen Nationalmuseums, das auf Initiative des Freiherrn Hans von und zu Aufseß 1852 gegründet wurde. In einer Zeit, in der der deutsche Nationalstaat in weite Ferne gerückt schien und heftige Auseinandersetzungen tobten, wie dieser Nationalstaat territorial und politisch zu definieren sei, sollte im Germanischen Nationalmuseum eine Sammlung entstehen, die die kulturellen Wurzeln dieser deutschen Nation an einem Ort sichtbar machte. Die intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit insbesondere des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sollte die nationale Frage auf ihre Weise mit beantworten helfen. Was politisch nicht erreichbar schien, sollte auf der Ebene der deutschen Kulturnation öffentliche Wirkung entfalten. Die Sammlungsaktivitäten waren breit angelegt und umfassten Objekte von herausragender künstlerischer oder historischer Bedeutung ebenso wie Gegenstände des Alltagslebens oder Abgüsse von Objekten, die im Original nicht in die Bestände aufgenommen werden konnten. Durch die Aktivitäten eines eigenen Museumsverlags, 1854 gegründet und heute der älteste Museumsverlag der Welt,

Haupteingang des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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wurden die Arbeitsergebnisse einem breiteren Publikum bekannt gemacht: sammeln, bewahren, erforschen, ausstellen und vermitteln im Dienste einer Nation, die sich ihrer kollektiven Identität erst bewusst werden sollte.3 Auf den ersten Blick mag dies für uns heute nur schwer nachvollziehbar sein, wissen wir doch seit der Wiedervereinigung ganz genau, was die deutsche Nation umfasst. Unsere Gesetzgebung regelt zweifelsfrei, wer Deutscher ist und wer nicht. Doch kulturelle Identitäten lassen sich schwer in juristische Formate passen. Und von daher gesehen bietet die Widmung „Eigenthum der deutschen Nation“ heute wie damals Stoff, sich mit diesem Begriff und seinen Inhalten auseinanderzusetzen. Bereits ein Gang durch die Sammlungen des Museums kann überprüfen, welche der ausgestellten Objekte als Teil unseres kulturellen Erbes noch bewusst wahrgenommen werden. Wo entsteht für den Betrachter/die Betrachterin ein Wir-Gefühl und wo wird er/sie mit mehr oder minder fremden Welten konfrontiert? Und bei diesem Gang lohnt es sich, auch der Frage nachzugehen, ob es für diese Nation nicht ein besonderes Spezifikum ist, Orientierungen für Fragen der Gegenwart in einer besonders intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu suchen und zu finden. Um diesen Aspekt zu vertiefen, wenden wir uns der Abteilung zum 19. Jahrhundert zu.

Die Abteilung zum 19. Jahrhundert im Germanischen Nationalmuseum Die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts entfaltet sich hier aus dem Gedankengut der Aufklärung, ihren Hoffnungen und Erwartungen an ein freies Leben selbstbewusster Menschen. Und sie verweist zugleich auf die Ambivalenz dieser Verheißungen zwischen Individualisierung und beginnender Massengesellschaft, auf die Gefährdungen des Fortschrittsglaubens, die sich im 20. Jahrhundert so fürchterlich realisierten. Zu Beginn der Ausstellungseinheit steht eine Guillotine, die wie kaum ein anderes Objekt geeignet ist, diese Ambivalenz zu versinnbildlichen. Erfunden, um die Delinquenten nicht überflüssigen Qualen auszuliefern, wurde sie zum Sinnbild rationeller Hinrichtungen, zum krassen Gegenbild von Humanität. Betrachten wir ein anderes Objekt, ein Glasgemälde, das in geradezu märchenhafter Manier die Segnungen des Gaslichts für die Menschheit feiert, bekommen wir einen Einblick, wie wenig selbstverständlich die Annehmlichkeiten unserer modernen Zeit nur wenige Generationen vor uns gesehen wurden. Dass man mit wenigen Handgriffen die Nacht zum Tag machen kann, war damals ein Wunder. Heute würde man nicht eine Sekunde Nachdenkens verschwenden über die Bedingungen dieses Wunders. Aber müssen oder sollen wir uns über solche Selbstverständlichkeiten Gedanken machen? Kann der Blick zurück mehr bieten als den moralischen Appell, sich des gesellschaftlichen Reichtums bewusst zu sein, in dem sich hierzulande leben lässt? © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Werden museale Objekte nicht nur als Quellen der Information über kulturelle, künstlerische oder historische Phänomene begriffen, sondern als Anlass zur Reflektion genutzt, können sie Denkprozesse über unsere Lebensbedingungen auslösen. Die Konfrontation mit einer anderen Wahrnehmung – beispielsweise technischer Errungenschaften – kann uns in die Lage versetzen, unsere Alltagswahrnehmung in Frage zu stellen. Dieses in Frage zu stellen und sich zugleich der eigenen Lebensumstände zu versichern führt zu einem höchst produktiven Wechselspiel zwischen Betrachter und Objekt, das einen Ausstellungsbesuch weit interessanter machen kann als zunächst angenommen. Gerade historische oder kulturhistorische Ausstellungen sind daher nicht zuletzt immer auch Orte der Selbstvergewisserung, der Betrachtung dessen, was man kennt und einordnen kann und der Konfrontation mit dem Unbekannten. Die Zielrichtung ist dabei nicht ausschließlich auf ein Verstehen der Vergangenheit gerichtet im Sinne eines Verstehens der geistigen Wurzeln unserer heutigen kollektiven Befindlichkeiten. Sich bewusst aus heutiger Sicht mit Betrachtungsweisen z.B. des 19. Jahrhunderts auseinanderzusetzten, kann uns für die Einordnung gegenwärtiger Erscheinungen den Blick schärfen. Wenden wir diese Methode auf die in der Abteilung zahlreich vorhandenen Zeugnisse der Geschichtsbegeisterung des 19. Jahrhunderts an, bieten sich Anlässe, um über den Stellenwert von Geschichte in unserer Gegenwart zu diskutieren. Das Spektrum reicht hier von der wissenschaftlichen Forschung, über die romantische, das Mittelalter verklärende Burgenbegeisterung bis hin zum Fluchtpunkt Rom der Nazarener. Zu fragen wäre, in welcher Weise die damaligen Zeitgenossen sich der Vergangenheit als geistiger Orientierung bedient haben und welche Gründe dies gehabt haben könnte. Blieb im Zeitalter der Nationalstaaten einer verspäteten Nation nur der Weg, über eine aus der Vergangenheit heraus definierte Kulturnation ihr spezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln? Welche politischen Implikationen bestimmten das nationale Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts? Und schließlich welche kolossalen gesellschaftlichen Umbrüche verbargen sich dahinter? Die Erörterung dieser Fragen kann sensibilisieren für ähnliche Fragestellungen in der gegenwärtigen Diskussionslandschaft. Auch wir befinden uns in einer Phase des Umbruchs und der Unsicherheiten. Die Herausforderungen der Globalisierung werden als drohende Zerstörung der heilen Welt der alten Bundesrepublik empfunden. Und die neuen Bundesländer werden wohl auch ein weiteres Jahrzehnt die „neuen“ bleiben. Vor diesem Hintergrund entwickeln sich „Zeitreisen“ in die gute alte Zeit zu einem Freizeitvergnügen für breite Bevölkerungsschichten. Und jeder Kommunalpolitiker kann sich der Zustimmung sicher sein, wenn er sich für den Erhalt historischer Bauwerke einsetzt, die als Gegenpol zu den Bausünden der fünfziger und sechziger Jahre dankbar angenommen werden. Der Verdacht liegt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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nahe, dass es um die Gestaltungskraft einer Gesellschaft seltsam beschaffen sein mag, die sich mit solcher Inbrunst der Vergangenheit zuwendet. Spätestens die Auseinandersetzung um den wie auch immer zu bewertenden Begriff der deutschen Leitkultur hat deutlich gemacht, wie schwer unsere eigene kulturelle Identität zu fassen ist. Für eine Zuwanderungsgesellschaft, die sich endlich als solche auch wahrzunehmen beginnt, könnte dies fatale Auswirkungen haben. Der interkulturelle Dialog, der für diese Gesellschaft überlebensnotwendig sein wird, bedarf klarer Positionen. Und zur Bestimmung dieser Positionen ist ein Blick auf die historischen Wurzeln unserer Gegenwart ebenso geeignet und wichtig wie ein struktureller Vergleich von Orientierungsmustern, ohne dabei die jeweils besonderen historischen Rahmenbedingungen zu unterschätzen oder gar zu negieren. Die Orientierungshilfen aus der Vergangenheit, die im 19 Jahrhundert zu Hilfe genommen wurden, um Wandlungsprozesse begreifbar zu machen und sie in bekannte Verständnismuster einzuordnen, lassen sich einerseits aus dem historischen Abstand von heute heraus zeitimmanent interpretieren. Anderseits bieten Vergleiche mit entsprechenden Erscheinungen der Gegenwart die Möglichkeit, sich gründlicher mit sich und seiner Umwelt auseinandersetzen zu können. Die Konfrontationen mit den authentischen Objekten eines Museums ermöglichen dabei eine viel intensivere und zu gleich anschaulichere Auseinandersetzung, als sie beispielsweise durch Fernsehen und Internet geleistet werden könnte. Die romantischen Darstellungen von Waldlandschaften, Burgen und weiten Tälern, die wir in der Abteilung zum 19. Jahrhundert betrachten können, treffen ja auch heute noch die Tiefen unserer Befindlichkeit. Die Etablierung der Grünen als neuer politischer Kraft in einem bis dahin als gefestigt angesehenen Parteiensystem wäre ohne dieses besondere Verhältnis zur Natur, insbesondere zum deutschen Wald wohl schwer umsetzbar gewesen. Und die Begeisterung für fremde Welten, für chinesisches Dekor ebenso wie für das einfache Leben im Land der deutschen Sehnsucht schlechthin – in Italien, verweist doch sehr auf unsere Ausbruchsversuche heute in dem Bestreben eben anders zu sein als deutsch.

Bestände mittelalterlicher Sakralkunst im Museum Das Museum lässt sich durch Information wie durch vergleichende Assoziationen als Ort der Reflektion nutzen. Eine weitere Möglichkeit bieten die großen Bestände mittelalterlicher Sakralkunst, die im Germanischen Nationalmuseum zu sehen sind. Hierzu zählen unter anderem bedeutende Werke der Tafelmalerei ebenso wie einzigartige Skulpturen, Glasgemälde und Zeugnisse der religiösen Buchkunst. Sie sind allesamt Relikte einer wesentlich durch Religion geprägten Gesellschaft. Religion war nicht nur die Richtschnur des individuellen Glaubens, eine geistige Lebensversicherung gegen Gefahren aller Art. Sie bedeutete wesentlich mehr, war die lebensbestimmende Kraft schlechthin, Bezugspunkt für das alltägliche Leben © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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ebenso wie für die wichtigen Entscheidungen in Staat und Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur. Dieser Stellenwert der Religion im privaten wie öffentlichen Leben ist für uns heute nur schwer zu verstehen. Zu stark sind wir von den Ideen der Aufklärung geprägt und von der individuellen Kraft des Intellekts überzeugt, als dass wir für solcherart geistige Orientierung Offenheit zeigen könnten. Gerade das wird uns aber abverlangt werden im interkulturellen Dialog mit religiös bestimmten politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen z.B. islamischer Prägung, die sich nicht den westlichen Vorstellungen von Individualität und Fortschritt anschließen wollen. Wenn dieser Dialog nicht von vorneherein ergebnisorientiert auf die Akzeptanz der westlichen Zivilisationserrungenschaften ausgerichtet sein soll, wenn er also ernsthaft zu gegenseitigem Verständnis und Erarbeitung einer gemeinsamen Basis geführt werden soll, ist das Verstehenwollen und Verstehenkönnen des zunächst Unverständlichen die eigentliche Herausforderung. Dieses Verständnis für die religiöse Prägung zu entwickeln ist mit einem Rückgriff auf die eigene abendländisch-christliche Tradition wahrscheinlich leichter zu erreichen als sich mit gänzlich Neuem anzufreunden. Für diesen Annäherungsprozess bieten die Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums vielfältige Anregungen. Die eindrucksvollen Darstellungen der Heilsgeschichte können Aufschluss geben über die zentralen Frage der christlichen Religion im Spannungsfeld zwischen der Sündhaftigkeit der menschlichen Existenz und ihrer Erlösung durch das Leiden und Sterben Jesu Christi. Skulpturen und Bilder von Heiligen und wundertätigen Handlungen zeigen die engen Verbindungen zwischen weltlichem Leben und überirdischen Instanzen, die zu diesem Leben untrennbar dazugehörten. Die architektonische Keimzelle des Museums, die Reste des ehemaligen Kartäuserklosters mit dem großen Kreuzgang und der Klosterkirche, können Ausgangspunkte sein, sich mit der spezifischen Spiritualität des Christentums auseinanderzusetzen. In einer Kombination von Museumsobjekten, ergänzenden Informationen, Quellentexten, Musik und Tanz könnten so Annäherungen an ein fundamental anderes Denken als das der aufgeklärten, säkularisierten Gesellschaft westlicher Prägung stattfinden, die zumindest ansatzweise ein Verständnis für dieses andere Denken und seine Bezugspunkte wecken könnte. Um den naheliegenden Kurzschluss Islam = Mittelalter zu vermeiden, ist allerdings eine unmissverständliche Klarstellung der Methode unerlässlich. Es geht nicht um die historischen Gegebenheiten an sich, sondern um einen Weg zum Verständnis der Gegenwart. Die Beschäftigung mit vergangenen Zeiten soll uns lediglich diesen Weg erleichtern. Man könnte dies auch in den altehrwürdigen christlichen Kirchen unternehmen, doch kontemplativer, informativer und vor allem in einem wesentlich breiteren Spektrum der Möglichkeiten bietet sich hierfür das Museum an.

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Der „Way of Human Rights“ Wenn wir die moderne Eingangshalle des Germanischen Nationalmuseums verlassen, werden wir mit einem Kunstobjekt im öffentlichen Raum konfrontiert, das den Begriff des historischen Orts in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Es handelt sich um den „Way of Human Rights“ des israelischen Künstlers Dani Karavan. Seine Entstehungsgeschichte reflektiert den historischen Ort Germanisches Nationalmuseum in einzigartiger Weise. Bei Gründung des Museums 1852 gab es für den Standort des Museums verschiedene Alternativen. Die Wartburg war ebenso im Gespräch wie die Veste Coburg. Die Entscheidung für Nürnberg verdankte die Stadt nicht zuletzt dem romantischen Reichsstadtmythos, der im 19. Jahrhundert ihr Image prägte. Ihre Vergangenheit als Metropole von europäischem Rang, die mächtige Burganlage und die verwinkelten Gassen der Altstadtviertel, wertvolle Kunstschätze und ebensolche Zeugnisse der alten Reichsherrlichkeit gaben den Ausschlag für die Wahl Nürnbergs. Die Stadt als die deutsche Stadt schlechthin, als „des deutschen Reiches Schatzkästlein“ sollte zur Heimstatt der deutschen Kulturnation werden. Wenig verwunderlich, dass sich auch die Nationalsozialisten in ihrer Suche nach historischer Legitimierung dieser Stadt bedienten. Als „Stadt der Reichsparteitage“ war sie weltweit bekannter Veranstaltungsort für die jährlichen Propagandaspektakel des NS-Regimes, in denen die unverbrüchliche Treue der „Volksgemeinschaft“ zu ihrem „Führer“ zelebriert wurde. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden 1935 die Nürnberger Gesetze beschlossen, die Kodifizierung des aggressiven Rassismus der NS-Diktatur. Und nach dem Krieg fanden in Nürnberg schließlich auch die Kriegsverbrecherprozesse statt, die neue Maßstäbe für ein humanitäres Völkerrecht setzen sollten. Es gibt wohl keine deutsche Stadt, Dachau vielleicht ausgenommen, die weltweit so sehr mit der NS-Zeit assoziativ verbunden wird wie Nürnberg. Anlässlich der Erweiterungsbauten des Germanischen Nationalmuseums fand nun Ende der achtziger Jahre ein städtebaulicher Wettbewerb statt, der u.a. zur Aufwertung der Kartäusergasse beitragen und die Verlegung des Haupteingangs gestalterisch unterstützen sollte. Es handelte sich also zunächst um ganz alltägliche Aufgaben, für die sich die Auslober des Wettbewerbs Lösungen durch eine künstlerische Gestaltung erhofften. Dani Karavan definierte angesichts des Nationalmuseums und insbesondere angesichts der Nürnberger Geschichte den Raum jedoch weiter. Sein „Way of Human Rights“ bezog sich auf die Stadt als Ganzes, für die angesichts ihrer Vergangenheit diese formale wie inhaltliche Lösung angemessen sei. Zugleich wurden auch die städtebaulichen Aufgaben des Wettbewerbs auf bemerkenswerte Weise gelöst. Wenig verwunderlich, dass Karavans Vorschlag auf große Begeisterung stieß und nach einer Phase intensiver Umsetzungsplanungen 1993 der Öffentlichkeit übergeben werden konnte. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Die Genialität seines Kunstwerks kann man aber auch noch auf andere Weise verdeutlichen, denn wohl wenige Kunstwerke im öffentlichen Raum haben eine derartige Wirkungsmächtigkeit entfaltet. Karavans Werk war Anlass, einen Internationalen Menschenrechtspreis zu stiften, dessen Reputation über die Jahre stetig wächst. Nürnberg bot mit dem „Way of Human Rights“ in seiner Auseinandersetzung mit der NS-Zeit eine in die Zukunft gerichtete Perspektive als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“. In diesem Zusammenhang war die Beschäftigung mit der NS-Zeit und insbesondere mit den baulichen Relikten auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände nicht mehr nur eine lästige, rückwärtsgewandte Pflicht, sondern unumgängliche Notwendigkeit für eine an den Menschenrechten ausgerichtete Zukunftsperspektive. Wann wird ein Kunstwerk zum Katalysator, um mentale und politische Verkrampfungen zu lösen? Und auch der Umgang der Menschen, die tagtäglich ihren Weg durch die Kartäusergasse nehmen, zeigt, wie sehr die Säulen mit den Menschenrechten die Blicke auf sich ziehen. Und somit ist das größte Objekt des Germanischen Nationalmuseums zugleich sein aktuellstes und verbindet auf sehr besondere Weise das Museum mit dem Ort, an dem es beheimatet ist. Zugleich verweist es mit den Menschenrechten auf die Vereinten Nationen und die internationale Völkergemeinschaft als einen gerade für die Zukunft wesentlichen Bezug auch für die Entwicklung der eigenen nationalen Identität.4

Das Stadtmuseum Fembohaus Verglichen mit den Möglichkeiten eines Nationalmuseums könnten die räumlichen wie inhaltlichen Beschränkungen eines Stadtmuseums auf den ersten Blick einen geringeren Reiz ausüben. Und angesichts der zahlreichen Zeugnisse aus Nürnberg in den Sammlungen des Germanischen Nationalmuseums schien das Bedürfnis nach einem eigenständigen Stadtmuseum lange Zeit nicht sehr ausgeprägt. Erst durch den Zusammenschluss der verschiedenen städtischen Museen zum Verbund der „museen der stadt nürnberg“ und der damit einhergehenden grundlegenden Umgestaltung der einzelnen Häuser wurde im Jahr 2000 das Stadtmuseum Fembohaus in einer Form geschaffen, die den Erwartungen an ein Stadtmuseum gerecht wurde. Es bietet nunmehr einen Überblick über die Nürnberger Stadtgeschichte, der durch die Ton-Bild-Schau „Noricama“ bis in die unmittelbare Gegenwart herangeführt wird. Die Darstellung der Nürnberger Stadtgeschichte verbindet sich mit der Geschichte des Fembohauses, eines Bürgerhauses aus der Spätrenaissance, auf halbem Wege zwischen Rathaus und Burg gelegen. Für eine gerade heutzutage wieder vielbeschworene Bürgergesellschaft bedarf es Orte der Identifikation. Das Viertel, in dem man lebt, kann solch ein Ort sein, die Stammkneipe, das Lieblingskino, bestimmte Plätze oder Parkanlagen, die Beispiele © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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ließen sich beliebig fortsetzen. Zusammen ergeben sie ein Bild von der Gemeinde, in der man lebt und sich mehr oder minder zu Hause fühlt. Wollen Gemeinden mehr sein als ausführende Verwaltungseinheiten, wollen sie die demokratische Lebensqualität ihrer Bürger und deren politische Verantwortungsbereitschaft stärken, brauchen sie auch Orte, die das Gemeinsame darstellen. Ein solcher Identifikationsort kann das Stadt- oder Heimatmuseum sein. Indem es mit seiner Präsentation über die gemeinsame Geschichte informiert und aufzeigt, was das Selbstverständnis des jeweiligen Orts geprägt hat und woraus seine Bürger ihre kollektiven Identifikationsmuster als Einwohner dieses Ortes beziehen, kann die Verständigung und das bürgerschaftliche Bewusstsein nachhaltig stärken. Auch hierbei geht es nicht nur um die bloße Information sondern vielmehr um Fragestellungen, die uns aus der Perspektive der Gegenwart heraus den Blick zurück sinnvoll erscheinen lassen. In seiner neuen Konzeption bietet das Stadtmuseum Fembohaus die Möglichkeit, sich anhand von Modellen und Fotografien einen Überblick über die Entwicklung des Stadtbildes zu verschaffen. Den Ausgangspunkt bildet die Tonbildschau zu einem Stadtmodell, das die alte Reichsstadt auf dem Höhepunkt ihrer internationalen Bedeutung zeigt. Im weiteren Gang durch die Ausstellung finden sich Ansichten aus dem 18. Jahrhundert, die zwar einerseits hübsch anzusehen sind, andererseits aber gerade in ihrer idyllischen Manier den Bedeutungsverlust der einstigen Metropole um so krasser zeigen. Fotografien Ferdinand Schmidts dokumentieren den Wandel zum Ende des 19. Jahrhunderts, als sich Nürnberg im Zuge der Industrialisierung zur modernen Großstadt entwickelte. Und schließlich verweisen ein weiteres Modell sowie Fotografien auf die nahezu vollständige Zerstörung des historischen Stadtkerns im Zweiten Weltkrieg, den Wiederaufbau und die weitere Modernisierung in den fünfziger und sechziger Jahren. Die Betrachtung des sich im Laufe der Jahrhunderte verändernden Stadtbildes, sinnvollerweise durch einen Gang auf die Burg ergänzt, wäre Anlass, sich nach den Wurzeln eines Nürnberger Selbstverständnisses zu fragen. Was macht diese Stadt in ihrem Wesenskern aus? Sind ihre mentalen Bezugspunkte in der reichsstädtischen Zeit zu suchen, gegebenenfalls auch in deren Ausnutzung durch die NS-Propaganda? Oder bilden die Attribute einer modernen industriell geprägten Großstadt ebenfalls solche Bezugspunkte? Und wie verhält es sich mit beidem in einer Zeit eines tiefgreifenden Strukturwandels, in dem sich die Stadt seit geraumer Zeit befindet? Wie die Erwartungen an die Zukunft auch sind, die historischen Bezüge prägen nicht unwesentlich die Vorstellungen. Sie sind zu finden in den Auseinandersetzungen über eine angemessene Architektur von Neubauten innerhalb der Stadtmauern ebenso wie in den Diskussionen um den Stellenwert unterschiedlicher öffentlicher Verkehrssysteme. Sie bestimmen nicht unwesentlich unterschiedliche Vorstellungen von einer der Stadt angemessenen Lebensqualität. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Und sie werden nicht zuletzt eine Rolle spielen bei der Weiterentwicklung eines Nürnberger Stadtprofils, das es von anderen Kommunen unterscheidet und seine spezifischen Qualitäten in den Vordergrund rückt. Doch die Beschäftigung mit dem Nürnberger Stadtbild erlaubt gerade im Stadtmuseum Fembohaus auch einen Blick auf Rahmenbedingungen, die für die Entwicklung der Stadt entscheidend waren. „Kaiser“, „Rat“, „Handwerk“ und „Handel“ thematisieren die vier Säulen der reichsstädtischen Zeit. Ihre Stärke und ihr Zusammenspiel miteinander schufen die Grundlagen für Größe und Bedeutung der Stadt. Ebenso blieben deren Schwächungen nicht ohne Auswirkungen und waren mit Ursachen für den stetigen Niedergang vor allem seit der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Der Wiederaufstieg zur Industriestadt gelang, weil nicht zuletzt eine gut ausgebildete handwerkliche Basis vorhanden war, deren Kenntnisse und Fertigkeiten für die industrielle Gründerzeit unerlässlich waren. So konnte man sich zu einem der industriellen Zentren Bayerns entwickeln, dessen Image als Arbeiterstadt bis heute mit seiner reichen kulturellen Vergangenheit konkurriert. Ein Blick auf historische Rahmenbedingungen und Entwicklungen kann hilfreich sein bei der Einordnung aktueller Fragestellungen angesichts des tiefgreifenden Strukturwandels, dem sich Nürnberg ausgesetzt sieht. Er kann helfen, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wo Möglichkeiten und vor allem auch wo die Grenzen kommunaler Handlungsfähigkeit liegen. Welche positiven Voraussetzungen bietet die Stadt, um sich in den neuen Rahmenbedingungen einer sich weltweit stetig weiter vernetzenden Wirtschaftstätigkeit erfolgreich behaupten zu können? Wo liegen die Qualitäten Nürnbergs, die weiterentwickelt werden können? Welche Defizite schränken die Zukunftsaussichten ein? Diese zunächst sehr allgemein formulierten Fragen führen rasch in ganz konkrete Diskussionen, wie etwa um Sinn oder Unsinn einer Fußballweltmeisterschaft in Nürnberg, oder auch um den Stellenwert von Messe und Flughafen. Die konkreten Anlässe ließen sich beliebig erweitern je nach Aktualität. Diese Erörterungen müssen nicht notwendigerweise mit einem Blick in die Vergangenheit verbunden sein. Aber es kann hilfreich sein, im Rückblick zu erkennen, wie Entwicklungsprozesse sich gestalten, welche Anpassungen notwendig sind und welche, wenn auch meist zunächst marginal erscheinende Gestaltungsmöglichkeiten sich ergeben können. Gerade wenn Kommunalpolitik zunehmend als pragmatische Lösung von gerade anstehenden Problemen begriffen wird, bedarf es des ergänzenden Diskurses der über den Tag hinausreichenden Perspektiven. Beschreibt das jeweilige Stadtbild abstrakt die Stadt als Ganzes, bestimmt sich der städtische Konsens aus dem Binnenverhältnis der Bürgerschaft, den sozialen wie politischen Gegebenheiten. Da dieses mit aussagekräftigen Objekten in Ausstellungen nur schwer darstellbar ist, bleibt es bei einigen, wenigen Anknüpfungspunkten. Die politische Stellung der Handwerkerschaft ließe sich sicher ebenso hinterfragen, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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wie das besondere Verhältnis der christlichen Konfessionen. Interessanter, weil für aktuelle politische Diskussionen fruchtbarer, erscheint jedoch die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft. Ihr wird eine geplante neue Abteilung gewidmet sein, die diese Geschichte als Bestandteil der Nürnberger Geschichte darstellen wird und damit über die wenigen jetzt vorhandenen Exponate und Texte weit hinausreicht. Die Darstellung dieser Geschichte, insbesondere auch die herausragenden Beispiele bürgerschaftlichen Engagements im 19. Jahrhundert, wie auch die Verfolgung und Vernichtung in der NS-Zeit sowie der Wiederbeginn der israelitischen Kulturgemeinde nach 1945 hat ihren unbestrittenen eigenen Wert. Und doch weisen gerade in einer lokalen Fokussierung manche Fragestellungen über den konkreten Zusammenhang hinaus. Wie war es um die Kenntnisse der Mehrheit bestellt hinsichtlich der religiösen Grundlagen und Praxis der Minderheit? Wie hingen soziale Stellung und gesellschaftliche Akzeptanz zusammen? Was bedeutete Integration und was bedeutete Aufgabe der eigenen Identität? Wie verhielten sich die Träger der öffentlichen Meinung und wo stand die schweigende Mehrheit? Keine Ausstellung wird diese Fragen beantworten, vielleicht nur ansatzweise thematisieren können. Aber sie bietet Anlässe, um sich mit solchen Fragen auseinander zusetzen. Hierin vor allem liegt das kommunikative Potential, das Museen und ihre Ausstellungen vor allen anderen Vermittlungsmedien auszeichnet. Um dieses Potential weiter auszubauen, erscheint es notwendig, die großen demographischen Veränderungen der letzten dreißig, vierzig Jahre ebenfalls in den Bereich der Dauerausstellung zu holen oder ihnen wenigstens Raum im Bereich der Wechselausstellungen zu geben. Die Sorge der Wissenschaftler, über relativ kurz zurückliegende Entwicklungen nur unzureichend Auskunft geben zu können, wird mehr als aufgewogen durch das Interesse, das solche Ausstellungen beim Publikum erwarten lassen dürfen. Die Vorläufigkeit der Darstellung angesichts eines zu geringen zeitlichen Abstands zur Themenstellung ließe sich kompensieren durch Lebendigkeit und Widersprüchlichkeit. Wie in aller Vorläufigkeit die Gegenwart in ihrem Übergang zur Geschichte museal verarbeitet werden kann, zeigt das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn in seiner Dauerausstellung mit Hilfe von interaktiven Infoterminals. Über die letzten Jahre, Monate, Wochen bis hin zum aktuellen Nachrichtenüberblick der dpa wird die Geschichte an die Gegenwart herangeführt. Für den Besucher ist diese rein ereignisorientierte Darstellung ausreichend, um Verbindungen zwischen heute und damals herzustellen. Darüber hinaus ist einer der Gründe für den großen Publikumserfolg des Hauses sicherlich darin zu sehen, dass nahezu jeder Besucher, der in Deutschland lebt, in der Dauerausstellung unmittelbare Bezüge zu seinem eigenen Leben herstellen kann, sei es über die einzelnen Themen oder über die Objekte, zu denen in einem zeithistorischen Museum naturgemäß auch Ton, Film und Fotografie gezählt werden müssen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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In vielen Heimat- und Stadtmuseen sind die Bezüge zwischen der heutigen Realität und der Vergangenheit viel schwieriger zu bewerkstelligen, da sie sich meist auf die klassisch-museale, wissenschaftliche Perspektive beschränken. Im Stadtmuseum Fembohaus wird die Verbindung zur Gegenwart mit der Multivisionsschau „Noricama“ versucht, die Historisches mit eindrucksvollen Bildern aus dem heutigen Nürnberg konfrontiert. Eine vertiefte Darstellung der letzten dreißig Jahre, insbesondere des Zuzugs von Bürgern nichtdeutscher Herkunft, sollte allerdings für zukünftige Umgestaltungen mitbedacht werden. Gerade die Stadt- und Heimatmuseen können einen nicht gering einzuschätzenden Beitrag zur Integration leisten, in dem sie auch die Geschichte des Zuzugs thematisieren. Er wird damit nicht nur Teil der eigenen Geschichte für die Alteingesessenen, sondern auf diese Weise schafft man auch Bezugspunkte für die Neubürger, sich als Teil der jeweiligen Kommune zu fühlen. Wer diese Bezugspunkte vermisst, wird es schwerer haben, sich als Teil der Bürgerschaft zu verstehen und sich entsprechend auch zu engagieren. Diese wenigen, skizzenhaften Beispiele sollten zeigen, welche Möglichkeiten sich in Museen bieten können, wenn sie nicht nur als Orte der historischen oder kulturhistorischen Bildung betrachtet werden. Was hier anhand zweier Nürnberger Museen skizziert wurde, läßt sich prinzipiell auch auf andere Museen in anderen Orten übertragen. Es ist lediglich eine Frage des kreativen Umgangs mit dem Vorhandenen. Museen besitzen genug Potential, das für aktuelle politische Fragestellungen genutzt werden kann. Ihre Präsentationen schaffen besondere mentale Räume, die Kommunikationsanlässe unterschiedlichster Art bieten. Sie zu nutzen, bleibt Aufgabe der Besucher. Sie bei diesem Vorhaben zu unterstützen, eine der wesentlichen Aufgaben der Museumspädagogik.

Anmerkungen 1 Allein in Bayern wurden in einer Erfassung des Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst 1.150 Einrichtungen genannt, die 2004 rund 20 Millionen Besucher zählten. Siehe www.stmwfk.bayern.de/kunst/museen/. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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2 Einen nach wie vor guten Überblick über die Besucherforschung bietet der Tagungsband: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hrsg.): Museen und ihre Besucher. Berlin 1996. 3 Siehe Irmtraud Freifrau von Andrian-Werburg: Das Germanische Nationalmuseum. Gründung und Frühzeit. Nürnberg 2002. Bernward Deneke/Rainer Kahsnitz (Hrsg.): Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852-1977. Beiträge zu seiner Geschichte. München/Berlin 1978. 4 Siehe Ulrich Schneider: Mit dem Herzen sehen. In: Gerhard Bott/Sigrid Randa (Hrsg.): Aufbruch. Der Kartäuserbau und das Museumsforum des Germanischen Nationalmuseums 1993. Nürnberg 1993, 90-111. Dani Karavan: Katalog zur Ausstellung: Straße der Menschenrechte. Nürnberg 1993. Barbara Rothe: 30 Rechte für Menschen. Bilder und Texte. Nürnberg 2000.

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„Den schönen Schein brechen“ Überlegungen zum geplanten NS-Dokumentationszentrum Königsplatz in München

Geschichte ist in Mode. In Deutschland häufen sich seit der Vereinigung von 1990 die großen historischen Debatten, in deren Mittelpunkt zumeist das Zeitalter des Nationalsozialismus steht. Auch sechs Jahrzehnte nach Kriegsende scheint klar, dass sich ein Strich unter das Geschehene so einfach nicht ziehen lässt, auch wenn das „Dritte Reich“ zunehmend historisiert wird. Zudem gewinnt die Erkenntnis Raum, dass die Aufarbeitung historischer Sachverhalte kein einmaliger Akt ist, sondern ein dauernder und generationenübergreifender Prozess.1 Gegenwärtig findet vor allem der als Vergangenheits- oder Erinnerungspolitik bezeichnete Umgang mit Geschichte im geteilten Deutschland das Interesse von Forschung

Führerbau und Ehrentempel auf dem Königsplatz (1936) © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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und Öffentlichkeit. Erst jüngst lockte die Fernsehserie „Karrieren im Zwielicht – Hitlers Eliten nach 1945“ ein Millionenpublikum vor die Bildschirme.2 Die Reihe machte deutlich, dass die Funktionseliten der NS-Zeit ihre Karrieren in der frühen Bundesrepublik weitgehend bruchlos fortsetzen konnten. Ärzte und Offiziere, Juristen und Journalisten, die ihren Aufstieg der Diktatur zu verdanken hatten, waren auch in der Demokratie gefragt. Die Stunde Null hatte es nie gegeben. Nicht nur Menschen, auch Städte haben ihre Nachkriegskarrieren. München ist vielleicht das berühmteste Beispiel dafür. Aus der Hauptstadt der Bewegung wurde binnen weniger Jahrzehnte die Weltstadt mit Herz. „München ist wieder München“, hieß es 1958 anlässlich des groß gefeierten 800-jährigen Stadtjubiläums, und heute wird die süddeutsche Metropole regelmäßig zur lebenswertesten deutschen Großstadt gekürt. Ihre Vergangenheit als Keimzelle des Nationalsozialismus schob die Stadt nach 1945 dezent und konsequent zur Seite. Nur wenig erinnerte an die dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte. Dabei hatte München, Geburtsstätte und emotionaler Bezugspunkt der NS-Bewegung, neben Berlin und Nürnberg zur Trias von Hitlers Lieblingsstädten gezählt. Die Reichshauptstadt wurde nach dem Krieg durch die Mauer zu einem schmerzhaften Symbol der Teilung Deutschlands, die Stadt der Reichsparteitage und der Rassengesetze machten die Alliierten zum Schauplatz der Kriegsverbrecherprozesse und gaben ihr einen neuen Symbolwert. Im München der Nachkriegszeit fehlten jene großen Zusammenhänge. Hier war Deutschland mit seiner Vergangenheit allein, und es wuchs jahrzehntelang Gras über die Geschichte – mancherorts im wahrsten Sinn des Wortes. Das soll sich nun ändern. Der Königsplatz im Herzen Münchens rückt wieder ins historische und politische Bewusstsein der Bevölkerung. Hier blühte einst der nationalsozialistische Kult um die „Märtyrer“ des Hitlerputsches von 1923, und in der Umgebung des Platzes war eine gigantische Schaltzentrale der Parteiorganisation angesiedelt. Die Pläne für ein NS-Dokumentationszentrum, das die „lokalhistorische Gedächtnislücke“3 füllen soll, nehmen Gestalt an. Das Zentrum könnte zugleich der politischen Jugendbildung dienen, denn die Heranführung kommender Generationen an eine aufgeklärte und demokratische Gesellschaft ist ohne historische Erziehungsarbeit nicht denkbar. Diese Arbeit steht im Hinblick auf die Geschichte des Nationalsozialismus momentan vor einer entscheidenden Zäsur, da die Erlebnisgeneration ausstirbt und in absehbarer Zeit keine Zeitzeugen mehr zur Verfügung stehen. Einen „Gezeitenwechsel der Erinnerung“ konstatiert Edgar Wolfrum und fragt: „Wie kann, wie soll Vergangenheitsdeutung vor allem mit Blick auf das ‚Dritte Reich‘ tradiert werden ohne einen unmittelbaren Erfahrungsbezug der jetzt Lebenden zu dieser Vergangenheit?“4 Um diese Deutung und ihre kulturellen Implikationen geht es an den Erinnerungsorten Münchens. Während die Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Dachau das Schicksal der Opfer des NS-Regimes thematisiert, ist der Königsplatz mit seiner © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Umgebung ein Ort der Täter und ihrer willigen Helfer. Diese Merkmale sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Erinnerung müsse bei den Orten der Täter ansetzen, heißt es folgerichtig auf einer Informationstafel, die seit einigen Jahren in der Nähe des Königsplatzes steht und bei Passanten beträchtliche Aufmerksamkeit findet. „Nur so kann das Gedenken an die Leiden der Opfer im öffentlichen Bewusstsein dauerhaft bewahrt werden.“5 Die nachstehenden Ausführungen befassen sich mit der architektonischen und politischen Geschichte des Platzes, bündeln den aktuellen Diskussionsstand um das geplante NS-Dokumentationszentrum und fragen nach den Voraussetzungen, die den Königsplatz zu einem historischen Lernfeld der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung machen könnten. Im Blickpunkt stehen zunächst die Entstehung des Königsplatzes sowie seine Bedeutung und Nutzung bis zur Weimarer Republik (I). Das Vorgehen der Nationalsozialisten, die den Platz zum Ritualort für die „Blutzeugen der Bewegung“ machten und die Umgebung zum repräsentativen Parteibezirk ausbauten, stand im Spannungsfeld von bürokratischer Apparatur und kultischer Selbstdarstellung (II). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die politische Vergangenheit des Ortes weitgehend beschwiegen. Die „Strategien des Vergessens“ (Gavriel D. Rosenfeld) stehen paradigmatisch für den deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit.6 Erst vor einigen Jahren wandten sich Fachleute und schließlich auch eine breitere Öffentlichkeit im Sinne einer städtischen Erinnerungskultur dem Königsplatz und den verbliebenen Gebäuden des Parteibezirks zu (III). Die Diskussion um das Dokumentationszentrum ist gegenwärtig in vollem Gange, noch sind Finanzierung, Standort, Trägerschaft und inhaltliche Ausrichtung nicht endgültig festgelegt (IV). Klarheit besteht indes darüber, dass der Königsplatz in München nach dem Vorbild des 2001 eröffneten NS-Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände in Nürnberg zu einem zentralen Lernfeld für die politische Jugend- und Erwachsenenbildung in Deutschland werden könnte (V).

1 Die Entstehung des Königsplatzes sowie seine Bedeutung und Nutzung bis zur Weimarer Republik Der Königsplatz liegt im Zentrum des Stadtbezirks Maxvorstadt, mit dessen Anlage zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Grenzen der mittelalterlichen Stadt erstmals planmäßig überschritten wurden. Hier lag der „Gründungsakt für das moderne München“.7 Das Quartier nordwestlich der Kernstadt wurde nach Kurfürst Maximilian IV. Joseph benannt, der 1806 als Max I. erster bayerischer König wurde. Planung und Entwurf lagen in den Händen des Hofgärtners Friedrich Ludwig von Sckell und des Architekten Karl von Fischer8, die 1808 einen Städtebauwettbewerb gewannen. Der großzügig gestaltete Stadtbezirk wurde in der Folgezeit zu einer bevorzugten Wohngegend für das gehobene Bürgertum und den Adel. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Seit 1812 wurde der Königsplatz, der seinen Namen bereits vier Jahr zuvor erhalten hatte9, durch Karl von Fischer und Leo von Klenze10 zu einem klassizistischen Prachtplatz gestaltet. Fischer sah hier das Forum der Künste als Gegenpart zum Forum der Wissenschaften an der Ludwigstraße, das ungefähr zur gleichen Zeit entstand. Das Forum am Königsplatz war Ausdruck der philhellenischen Bestrebungen von König Ludwig I. und seiner Absicht, aus München „Isar-Athen“ zu machen. Die drei um den Platz gruppierten Gebäude versinnbildlichen mit der Glyptothek die Vorbildhaftigkeit der antiken Kunst, mit den heutigen Staatlichen Antikensammlungen die Erneuerung der Kunst und ihrer Techniken in Bayern sowie mit den zuletzt vollendeten Propyläen die neue Blüte Griechenlands unter dem Wittelsbacher Otto. Als erstes Gebäude entstand 1816 bis 1830 die Glyptothek, bei der Klenze auf Pläne Fischers und weiterer Architekten sowie auf die Vorschläge bei einem vorhergegangenen Wettbewerb zurückgriff.11 Schon als Kronprinz hatte Ludwig seit 1811 Kunstsachverständige und Agenten nach Italien, Griechenland und Ägypten gesandt, um antike Skulpturen zu erwerben. Bekanntestes Werk in der Glyptothek ist der nach seinem Fundort, dem Palazzo Barberini in Rom, benannte barberinische Faun. Das gegenüberliegende Gebäude entstand 1838 bis 1848 nach Plänen von Georg Friedrich Ziebland und beherbergte ursprünglich Kunst- und Industrieausstellungen. Nach Kriegsschäden und Restauration sind dort seit 1967 die Staatlichen Antikensammlungen beheimatet.12 Als letzter und beherrschender Bau am Königsplatz entstanden zwischen 1846 und 1862 die Propyläen. Die Torhalle mit seitlichen Turmbauten geht auf Pläne Leo von Klenzes zurück. Die Giebelplastiken über dem Mittelbau verherrlichen den griechischen Freiheitskampf gegen die Türken. Otto I., seit 1832 König der Hellenen, war Sohn von Ludwig I., der den Bau der Propyläen nach seiner Abdankung aus seiner Privatschatulle finanzierte und ihn nach Abschluss der Arbeiten der Stadt München übergab.13 Als Kundgebungsort spielte der Königsplatz eine wichtige Rolle. „Der weite, nur durch die querende Straße vom Großstadtverkehr berührte Platzraum in der Nähe des Stadtzentrums“, so Hans Lehmbruch, „und die hochgestimmte, pathetische Architektur der klassizistischen Bauten als Kulisse prädestinierten ihn als eine Stätte für öffentliche Versammlungen unterschiedlichster Art.“14 Alle Trauerkondukte für die bayerischen Könige führten über den Platz, ferner begingen die Münchner hier festlich das Zentenarium von Leo von Klenze (1884) sowie Bismarcks runde Geburtstage (1885 und 1895). Nach dem Ersten Weltkrieg reiften Überlegungen, den Königsplatz zu einer Gedächtnisstätte für die Kriegstoten umzugestalten. Das Ehrenmal für die Münchner Gefallenen wurde jedoch vor dem damaligen Armeemuseum im Hofgarten verwirklicht.15 Die Veranstaltungen auf dem Königsplatz bekamen überwiegend einen politischaggressiven Charakter. Dass die Sozialdemokraten am 11. August 1922 auf dem © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Königsplatz eine Verfassungsfeier abhalten konnten, blieb eine Ausnahme.16 Bereits zwei Jahre zuvor hatten 60.000 Männer der Einwohnerwehren an gleicher Stelle gegen das „marxistische System“ in Berlin demonstriert.17 Beim Katholikentag Ende August 1922 tat sich Kardinal Michael von Faulhaber auf dem Königsplatz mit markigen antidemokratischen Worten hervor. „Die Revolution war Meineid und Hochverrat“, so der Kardinal, „und bleibt in der Geschichte erblich belastet und gezeichnet mit dem Kainsmal!“18 Der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer musste die Republik gegen diese Angriffe in Schutz nehmen. Um Schutz ganz anderer Art war es den so genannten Vaterländischen Verbänden einschließlich der Nationalsozialisten zu tun, als sie eine Kundgebung am 28. Juni 1922 zum Jahrestag der Unterzeichnung des Versailler Vertrages vorbereiteten. Auf den Einladungszetteln baten sie die Teilnehmer, Taschenfeuerzeug und Radiergummi mitzubringen – gemeint waren natürlich Pistolen und Gummiknüppel, um für den Kampf gegen die Linken gerüstet zu sein. Bei der Versammlung sprach auch ein Mann, der in den folgenden Jahren noch ganz anders von sich reden machen sollte: Adolf Hitler.

2 Der Platz im Spannungsfeld von bürokratischer Apparatur und kultischer Selbstdarstellung – die Zeit des Nationalsozialismus Der selbst ernannte Führer Adolf Hitler war nach dem Ersten Weltkrieg nach München gekommen, hatte hier die Leitung der nationalsozialistischen Partei an sich gerissen und machte die Stadt zum Schauplatz des blutigen Novemberputsches von 1923. In Mein Kampf sah Hitler München „mit dem magischen Zauber eines Mekka oder Rom“ umgeben und forderte die „Konzentration der gesamten Arbeit zunächst auf einen einzigen Ort“, um von dort aus seine Ideen zu verbreiten.19 München galt als geheiligter Boden. Auch Himmler, Göring, Frick, Frank und Röhm wohnten in den 20er Jahren in der süddeutschen Metropole. Sie blieb nach der NS-Machtübernahme, die die Bedeutung Berlins als Reichshauptstadt und Regierungszentrale stärkte, der emotionale Bezugspunkt der deutschen Nationalsozialisten. Hitler verlieh der Stadt am 2. August 1935 den Beinamen Hauptstadt der Bewegung20 und gab hier die ersten großen Bauprojekte des neuen Staates in Auftrag. Das Haus der deutschen Kunst21 sollte Münchens Ruf als Kulturmetropole untermauern, der Königsplatz zum zentralen Ort der kultischen NS-Inszenierungen umfunktioniert werden. Der Platz war Ziel des Fackelzuges, den die Münchner Nationalsozialisten am Abend der Machtübernahme Hitlers veranstalteten. Hier brannten am 6. Mai 1933 – früher als in allen anderen deutschen Städten – die Bücher politisch unliebsamer und rassisch verfolgter Schriftsteller, der Beginn von Heinrich Heines banger Prophezeiung mehr als ein Jahrhundert zuvor: „Das © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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war ein Vorspiel nur; dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“22 Bald nach der Machtergreifung begann die Umfunktionierung des Platzes als Aufmarschgelände für NS-Demonstrationen. Der Auftrag ging an den Münchner Architekten Paul Ludwig Troost, den Hitler einige Jahre zuvor im Hause des Verlegers Bruckmann am Karolinenplatz kennen gelernt hatte.23 1932 beauftragte er den Architekten mit Plänen für eine Parteizentrale an der Arcisstraße und dem Haus der Kunst an der Prinzregentenstraße. „Nächstes Jahr kommen wir an die Macht! Schaffen Sie mir einen Idealentwurf!“ schrieb er an Troost, der im neuen Zeitalter zum Ersten Baumeister des Führers aufsteigen sollte.24 Nach den Plänen Troosts sowie von Leonhard Gall25 sollte das Gelände um den Königsplatz zur Akropolis Germaniae werden. Die Vertiefung des Platzes zur Mitte hin wurde beseitigt, der Platz mit 22.000 Granitplatten belegt.26 Das hatte einen praktischen und ideologischen Zweck. Der einzelne Mensch sollte in der Masse verschwinden. „Inmitten der gähnenden Weite“, so ein Zeitgenosse, habe jeder Besucher „seine eigene Kleinheit“ empfunden.27 Der Platz bot Raum für rund 50.000 Menschen.28 Die Umgestaltung war Teil eines umfassenden Konzeptes, auf dessen Grundlage das gesamte Areal zwischen Luisen-, Türken-, Gabelsberger- und Karlstraße zum Parteibezirk ausgebaut wurde.29 Keimzelle war das Braune Haus an der Brienner Straße. Die NSDAP erwarb das frühere Palais Barlow30 schon im Juli 1930, ließ es durch Troost umgestalten und bezog die neue Parteizentrale zu Beginn des folgenden Jahres. Das Haus selbst kostete etwa 700.000 Reichsmark, der Umbau mehrere Millionen. Finanziert wurde das von dem Industriellen Fritz Thyssen sowie aus Parteispenden. Die demokratische Presse spottete über den „Palast einer Arbeiterpartei“ und über Hitlers Weg „vom Antikapitalisten zum Schlossherrn“.31 In dem Quartier, in dem bisher das gehobene Stadtbürgertum und der Adel ein beschauliches Leben geführt hatten, stießen die neuen Nachbarn auf erhebliche Vorbehalte. „Es ist ein ganz ungewöhnlicher und bisher wohl kaum in der Praxis vorhandener Fall“, schrieb ein Anwohner 1931, „dass eine politische Partei mit einem technischen Apparat von außergewöhnlicher Größe, wie hier die NationalSozialistische Partei, einer Stadtgegend einen völlig veränderten Charakter gibt. […] Ich bin heute schon außerstande, mein Anwesen zu vermieten, da niemand in nächster Nähe des braunen Hauses sein will wegen der stets dort vorherrschenden Unruhe“.32 Nach Troosts Plänen entstanden östlich des Königsplatzes weitere repräsentative, spiegelbildlich aufeinander bezogene Gebäude: der Führerbau an der Arcisstraße, in unmittelbarer Nachbarschaft des Braunen Hauses, als repräsentativer Amtssitz für Adolf Hitler und seinen Stellvertreter Rudolf Heß, sowie der Verwaltungsbau der NSDAP an der heutigen Meiserstraße. Baubeginn für den Amtssitz Hitlers © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Gerdy Troost, Hitler, Gall 1935 auf dem Königsplatz

war im September 1933, ohne dass eine Genehmigung der Behörden vorlag.33 Architektonisch ist das Gebäude alles andere als eine Glanzleistung. Seine Eingangshalle liegt quer, die große Haupttreppe führt auf eine geschlossene Wand, die Repräsentationsräume sind schlecht zugänglich. Hier zeigt sich ein typisches Merkmal der NS-Baukunst: der Vorrang der äußeren Wirkung vor dem Nutzen.34 Das 1937 in Anwesenheit von Hitler und Mussolini eingeweihte Haus war im Jahr darauf Schauplatz des Münchener Abkommens, in dem England und Frankreich das tschechische Sudentenland preisgaben. Im äußerlich baugleichen, innen gänzlich verschieden gestalteten Verwaltungsbau kontrollierten die Bürokraten die NSDAP-Finanzen und handhabten die Karteikarten der Parteimitglieder, deren Zahl im Jahr 1945 bei rund 8, 5 Millionen lag.35 Außerdem lagerte hier ein Teil des Parteiarchivs. Zahlreiche weitere NS-Organisationen fanden ihre Heimstatt in dem gigantischen Parteibezirk, der sich vom Königsplatz bis vor die Tore der Kernstadt ausdehnte. Im Jahr 1937 galten die Arbeiten, denen viele historische Bauten in der Maxvorstadt hatten weichen müssen36, als abgeschlossen. Während des Zweiten Weltkrieges gehörten der Partei in dem Bezirk fast 70 Gebäude, mehr als 6.000 Menschen waren hier beschäftigt. Es gab ein eigenes Heizwerk, eine Massenküche, eine gesonderte Poststelle sowie nicht zuletzt ein umfangreiches Bunkersystem. In den Kellern des Wittelsbacher Palais an der Ecke Türkenstraße-Brienner Straße trieb die Geheime Staatspolizei ihr Unwesen. Schon 1933 war deren Vorläuferin, die Bayerische Politische Polizei, in das Gebäude gezogen.37 Es wurde 1964 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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abgerissen. Viele Gebäude im NS-Parteibezirk wurden bereits im Krieg zerstört, darunter die gesamte Häuserzeile in der Barer Straße. Hier hatten unter anderem das Gaubüro der NSDAP, das die Enteignung verbotener Organisationen abwickelte, sowie Ernst Röhms Oberste SA-Führung ihre Residenzen.38 Nur ein paar Schritte weiter, im Palais Törring-Seefeld am Karolinenplatz, saß das Oberste Parteigericht der NSDAP, das Röhm einen Tag nach seiner Ermordung postum aus der Partei ausschloss.39 Der bürokratische Apparat war die eine Seite der nationalsozialistischen Funktionalisierung des Königsplatzes und seiner Umgebung. Die andere war die kultische Selbstdarstellung des Regimes.40 „Die klassizistischen Bauten des 19. Jahrhunderts wurden zu pittoresken Kulissen martialischer Inszenierungen reduziert“, heißt es auf der Informationstafel am Königsplatz. Von einer „Symbiose von bürokratischer Perfektion, propagandistischer Agitation und pseudoreligiösem Kult“ ist hier die Rede. Letzterer speiste sich insbesondere aus der Erinnerung an die „Blutzeugen der Bewegung“, die bei Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle von der Polizei erschossen worden waren.41 Troost entwarf die Pläne für zwei Ehrentempel zwischen Führer- und Verwaltungsbau. Bezeichnung und Funktion dieser 1935 entstandenen Tempel, die architektonisch die oberen Teile der Propyläen-Turmbauten zitierten, waren lange Zeit nicht konkretisiert. Seit 1935 war der Königsplatz Bestandteil des jährlichen Putschkultes vom 9. November und des Erinnerungsrituals für jene sechzehn Nationalsozialisten der ersten Stunde. Sie wurden dafür aus ihren ursprünglichen Gräbern exhumiert und füllten nun in Eisensärgen die Ehrentempel. Warum für das Ritual nicht der authentische Ort gewählt wurde, nämlich die Feldherrnhalle, ist unklar. Für die Organisation des Kults wurde eigens ein „Amt für den 8./9. November“ unter Leitung der SS eingerichtet. Der Ablauf war immer gleich: Am Abend des 8. November sprach Hitler im Bürgerbräukeller, wo der Umsturzversuch seinerzeit seinen Ausgang genommen hatte. Am nächsten Morgen folgte der symbolisch wiederholte Marsch zur Feldherrnhalle, danach zog man zum Königsplatz. Das dortige Ritual war als „letzter Appell“ inszeniert. Dabei wurden die Toten beim Namen gerufen, die Parteimitglieder antworteten stellvertretend mit „Hier“. Hitler „weihte“ neue Parteifahnen, legte Kränze nieder und kondolierte den Angehörigen, eine SS-Formation bezog Ehrenwache. Abschließend wurden die volljährig gewordenen Mitglieder von HJ und BDM feierlich in die Partei aufgenommen.42 Intern gab es Kritik und bissige Anmerkungen zur kultischen Selbstdarstellung des NS-Regimes, etwa durch Goebbels und Rosenberg.43 Auch hieß es, die Versteinerung habe die klassizistische Anlage zerstört und die Gebäude ihrer Maßstäbe beraubt. Die Ehrentempel galten als verunglückt.44 Dennoch blieb das Ritual bis 1944 fester Bestandteil des NS-Festkalenders. Auch Adolf Hitler selbst wollte unweit vom Königsplatz seine letzte Ruhe finden – in einem pompösen Grab an © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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der Ecke Türkenstraße-Gabelsbergerstraße.45 Das Mausoleum wurde nie gebaut. Es hätte seinen Zweck auch nicht erfüllt. Der „Führer“ richtete sich in seinem Berliner Bunker selbst, sein Leichnam wurde verbrannt. Ironie der Geschichte: Just am Todestag Hitlers rückten US-amerikanische Soldaten kampflos im Münchener Parteigelände der NSDAP ein. Der Königsplatz war in der Hand der Alliierten.

3 Nach dem Zweiten Weltkrieg Von allen deutschen Städten, die Adolf Hitler besonders am Herzen lagen, haben sich in München wohl die meisten baulichen Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus erhalten. Neben den prägnanten Erinnerungsorten wie dem Bürgerbräukeller46 und der Feldherrnhalle gehören unter anderem die Modellsiedlung Ramersdorf47 und eben der Königsplatz und seine Umgebung zum schwierigen NS-Erbe. Im Unterschied zum Nürnberger Reichsparteitagsgelände liegt dieses nicht an der Peripherie, sondern in hoher Dichte im Herzen der Innenstadt.48 Verantwortlich mit den baulichen Hinterlassenschaften der Diktatur umzugehen, war zunächst Aufgabe der amerikanischen Besatzer. Die Kontrollrats-Direktive Nr. 30 vom 13. Mai 1946 besagte, dass deutsche Denkmale nationalsozialistischen Charakters bis zum 1. Januar 1947 zu beseitigen seien. Die Maßgabe wurde allerdings nur nach Bedarf angewandt und in der Regel den Realitäten angepasst, wie sich auch an der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte des Königsplatzes ablesen lässt. Rigoros gingen die Amerikaner mit den beiden Ehrentempeln um. Die Überreste der so genannten „Märtyrer“ wurden wieder in ihre ursprünglichen Grabstätten zurückgebracht, die Sarkophage verschrottet, die Troost-Tempel im Januar 1947 gesprengt. Die Sockel blieben hingegen erhalten und fanden, dem Wildwuchs überlassen, das Interesse der Botaniker.49 Verschwunden ist das bei einem Luftangriff im Januar 1945 schwer beschädigte Braune Haus. Die Ruine wurde zwei Jahre nach Kriegsende abgetragen, obwohl das Palais Barlow nicht unter den Kontrollratsbeschluss fiel. Andere Gebäude mit eindeutig nationalsozialistischem Charakter, darunter Führer- und Verwaltungsbau, blieben dagegen erhalten, da die Raumnot in München angesichts der Kriegszerstörungen sehr groß war. Schon im Mai 1945 bezogen die Amerikaner eine Reihe der früheren NS-Parteigebäude. Im Verwaltungsbau richteten sie den „Central Collecting Point“ ein, eine Sammelstelle für Kulturgüter, die die Nationalsozialisten in ganz Europa geraubt hatten. Nach dem Abzug der Amerikaner zogen mehrere wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen in das Haus, darunter die Staatliche Graphische Sammlung. Der Führerbau beherbergte ab 1948 das „America House Munich“, das den Einheimischen die amerikanische Kultur näher zu bringen versuchte. Heute ist in dem Haus die Hochschule für Musik und Theater ansässig. Erst vor kurzem kam der Führerbau wieder in die Schlag© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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zeilen, weil Neonazis dort eine Feier zum 100. Geburtstag von Leni Riefenstahl veranstaltet hatten.50 Der Fall verweist paradigmatisch auf die Münchner Nachkriegsgeschichte, die vom Beschweigen der Vergangenheit geprägt war.51 Lange wollte man nicht wahrhaben, welche Rolle die bayerische Metropole für die nationalsozialistische Bewegung gespielt hatte. Winfried Nerdinger bezeichnete München als „Hauptstadt der Verdrängung“.52 Gerade am Königsplatz blieb die Erinnerung an die dunklen Zeiten der Diktatur viele Jahre lang unterthematisiert, obgleich man von einer Entpolitisierung nicht sprechen kann. Zwar fanden zwischen Propyläen und Arcisstraße in der Regel Autos ihren Parkplatz, doch der Ort war offen für Demonstrationen und Veranstaltungen aller Art. Bei einer Gewerkschaftskundgebung am 1. Mai 1948 demonstrierten rund 60.000 Menschen, fast doppelt so viele waren es wenige Wochen später bei einer Protestveranstaltung gegen „Preiswucher und Schiebertum“. Die Bundeswehr nutzte den Königsplatz für Zapfenstreiche und Rekrutenvereidigungen. Im Herbst 1980 musste die Polizei ein solches Gelöbnis mit einem Großaufgebot vor Gegendemonstranten schützen. Protestierende Bürger waren hier keine Seltenheit: Auch die Ostermärsche der Friedensbewegung endeten häufig auf dem Königsplatz. 1961 hielt dabei Erich Kästner, dessen Bücher fast drei Jahrzehnte zuvor an gleicher Stelle verbrannt worden waren, eine Ansprache. 1987 ließen die Stadtväter den „Plattensee“, wie die Münchner den Platz wegen des Granitbelages aus der NS-Zeit nannten, in den originalen Zustand des frühen 19. Jahrhunderts zurückversetzen.53 Der Handlungsbedarf bestand aber nicht aus erinnerungskulturellen oder denkmalpflegerischen Gründen, sondern weil die Platten schlicht brüchig geworden waren. Seitdem ist der Königsplatz ein beliebter Ort für Konzerte und andere Open-air-Veranstaltungen. Aus dem Kultort ist ein Kulturort geworden. Ergebnislos blieb dagegen im Jahr 1990 ein städtebaulicher Ideenwettbewerb für das gesamte Gelände. Keiner der Vorschläge fand die Zustimmung der Entscheidungsträger. Nach Ansicht einer kundigen Beobachterin ließ der Wettbewerb außerdem „deutlich werden, dass das allgemeine Wissen über die Vergangenheit des Viertels, gerade was die Zeit des Nationalsozialismus und die Nachkriegsjahre angeht, reichlich vage ist“.54 Doch das gescheiterte Unternehmen hatte einen positiven Effekt: Das Interesse der Öffentlichkeit an der NS-Vergangenheit des Platzes stieg an, die Menschen begannen sich wieder für das historische Erbe zu interessieren. Mit dem Aufbrechen der Platten, so scheint es, ist auch die Erinnerung wieder aufgebrochen. Entscheidenden Anteil daran hatten vier Ausstellungen. 1993 warf die von Nerdinger konzipierte Schau „Bauen im Nationalsozialismus. Bayern 1933-1945“ des Architekturmuseums der Technischen Universität München ein Schlaglicht auf die architektonischen Aktivitäten rund um den Königsplatz. Im Jahr darauf folgten die Ausstellungen „Stadt im Verbor© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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genen. Unterirdische NS-Architektur am Königsplatz in München“ sowie „Die Utopie des Designs“.55 Das Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte, selbst im ehemaligen Verwaltungsbau ansässig, publizierte 1995 eine Bestandsaufnahme zur Geschichte des Parteibezirks und veranstaltete zudem eine Fotoausstellung. Stadt München und Bezirksausschuss Maxvorstadt ließen eine Informationstafel zur Rolle des Königsplatzes in der NS-Zeit aufstellen.56 Der Bezirksausschuss veranstaltet zudem Führungen über das Gelände und hat eine eigene Dokumentation veröffentlicht.57 Auch in historischen und denkmalpflegerischen Abhandlungen wurde die Nachkriegsgeschichte des Platzes nun thematisiert.58

4 Die Diskussion um das Dokumentationszentrum Die Erinnerung an die Rolle Münchens und an die Funktion des Königsplatzes und seiner Umgebung im „Dritten Reich“ soll durch die Einrichtung eines Dokumentationszentrums gebündelt werden. Die Idee entstand in den 80er Jahren, ein erster konkreter Vorschlag kam 1996 von der für den Königsplatz zuständigen Stadtteilverwaltung. Der Bezirksausschuss Maxvorstadt beantragte nach der Fotoausstellung „Bürokratie und Kult“, eine dem Berliner Projekt „Topographie des Terrors“ vergleichbare Einrichtung in München zu schaffen.59 Bei allen Differenzen im Detail gab es in der Folgezeit parteiübergreifende Einigkeit. Das ist angesichts der heftigen wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen etwa im Historikerstreit, in der Goldhagen-Debatte und bei den Ausstellungen „Verbrechen der Wehrmacht“ durchaus bemerkenswert. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Münchner Stadtrat beantragte im September 2000, der Stadtrat solle sich mit einem möglichen Dokumentationszentrum befassen.60 Der Bezirksausschuss wiederholte wenig später sein Anliegen und gab als Ziel vor: „Die Landeshauptstadt München verhandelt mit dem Freistaat Bayern mit dem Ziel, im unmittelbaren Umfeld des Königsplatzes unter Einbeziehung vorhandener Gebäude eine Erinnerungsstätte (Dokumentationszentrum zur Entwicklung des Nationalsozialismus; Zentrale Gedenkstätte für NS-Opfer und Widerstandskämpfer) zu schaffen.“ In der Begründung des Antrags heißt es, Erinnerungsarbeit wirke am eindrucksvollsten unmittelbar am Ort des Geschehens.61 Im Oktober 2001 beschloss der Stadtrat, die Einrichtung eines solchen Zentrums voranzutreiben. Auch der Kulturausschuss des Landtages votierte im Januar 2002 für das Projekt. „Mit ihrem gemeinsamen Antrag ziehen die Landtagsfraktionen bei der Aufarbeitung der Münchner NS-Vergangenheit jetzt erstmals an einem Strang“, lobte die Bayerische Staatszeitung.62 In der Folgezeit gab es erste Gespräche zwischen Stadt und Freistaat. Die Bayerische Landeszentrale für politische Bildung, das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) und das Münchner Kulturreferat arbeiten gegenwärtig gemeinsam an einem Konzept. Die städtische Kulturbehörde veran© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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staltete in Zusammenarbeit mit Geschichtsvereinen und anderen Organisationen zwei prominent besetzte Diskussionsrunden.63 Etliche Einrichtungen boten ihre Kooperation an. So nahm die Münchner Volkshochschule im Herbst 2003 eine Geschichtswerkstatt zum Thema NS-Parteigelände ins Programm. Ob das Projekt seine aktuelle Bezeichnung, vielleicht in der topographisch präzisierten Formulierung NS-Dokumentationszentrum Königsplatz, behalten wird, scheint durchaus noch diskutabel, da es keineswegs nur um Dokumentation gehen soll. Die Einrichtungskosten wollen Bund, Freistaat und Stadt je zu einem Drittel übernehmen. Damit ist angezeigt, dass dem Projekt lokale wie nationale Bedeutung beigemessen wird. Umstritten ist noch, wer die laufenden Betriebskosten trägt. München sieht sich dazu angesichts der maroden Haushaltssituation nicht in der Lage. Der Stadtrat will die Kosten nur zu einem Drittel übernehmen. Seitens des Freistaats wird auf die Finanzverteilung im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg verwiesen.64 Das Jahr 2008, in dem München sein 850-jähriges Stadtjubiläum feiert, ist nun als Termin für die Grundsteinlegung vorgesehen.65 Unter Trägerschaft von Stadt und Freistaat werden die beiden großen Münchner Hochschulen, die Ludwig-Maximilians-Universität sowie die Technische Universität, das Projekt personell und fachlich dominieren. Über die Besetzung eines Kuratoriums ist mittlerweile entschieden worden.66 Eine der Kernfragen des geplanten NS-Dokumentationszentrums ist der geeignete Standort. Ein Neubau auf dem Gelände des nach dem Krieg abgetragenen Braunen Hauses an der Brienner Straße schien zu Beginn der Diskussion die am einfachsten zu realisierende Variante. Zwischenzeitlich nahm man jedoch davon Abstand, weil ein Neubau zu viel Zeit zu beanspruchen schien. Das Kulturreferat ist bei der Suche nach geeigneten städtischen Gebäuden in der Umgebung nicht fündig geworden. Der Bezirksausschuss schlug das ehemalige Heizwerk des NS-Parteigeländes südlich des Verwaltungsbaus vor.67 Von vielen wurde dagegen das Bauamt der Technischen Universität in der Arcisstraße 13, nur wenige Meter nördlich des ehemaligen Führerbaus, als Standort favorisiert. Auch die CSU-Landtagsfraktion äußerte sich im Juli 2002 in diese Richtung. Auf dem umliegenden Gelände in unmittelbarer Nähe der drei Pinakotheken sollen in Kürze die Filmhochschule und die Ägyptische Staatssammlung Quartier beziehen. Mittlerweile gibt es jedoch eine parteiübergreifende Mehrheit für einen Neubau auf dem Areal des Braunen Hauses. Auf diese Lösung verständigte sich im Juli 2005 das Kuratorium unter Vorsitz von Theo Waigel.68 Adäquatere Orte für ein Dokumentationszentrum wären wohl der Führer- und der Verwaltungsbau, die beiden von Paul Ludwig Troost entworfenen, repräsentativen NS-Zentralen. Über Ausweichquartiere für die Musikhochschule, die im Führerbau residiert, sowie für die im Verwaltungsbau befindlichen Einrichtungen ist bislang nicht hinreichend diskutiert worden. Auch die inhaltlichen Leitlinien des Projekts werden gegenwärtig intensiv erörtert. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Dem Kulturausschuss des Landtages lag im Januar 2002 bereits ein erster Bericht der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit vor. Das Dokumentationszentrum, heißt es darin, solle sich von den vergleichbaren Einrichtungen in Berlin, Nürnberg und auf dem Obersalzberg unterscheiden. Im Mittelpunkt sollten die „Pseudoästhetisierung des Nationalsozialismus“, die „Ikonisierung des Königsplatzes“ und die Rolle der Stadt München im Nationalsozialismus stehen.69 Einigkeit herrscht darüber, dass in der Dauerausstellung die Rolle und die historische Entwicklung des Nationalsozialismus in München aufgezeigt werden soll. Deswegen müsse die Schau zeitlich weit vor der Machtergreifung 1933 einsetzen. Bei einer der Diskussionen machte Iris Lauterbach vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte auf die dreifache Rolle des NS-Parteiviertels als architektonische Schaufassade, Kult- und Ritualplatz und zugleich Ort eines monströsen bürokratischen Apparats aufmerksam. Hans Günter Hockerts, Professor für Zeitgeschichte an der LMU München, warnte vor einem reinen Museum mit historischen Gegenständen. Das Dokumentationszentrum müsse vielmehr „den schönen Schein brechen“, den die Ästhetik des Königsplatzes ausstrahle.70 Stadt und Freistaat veranstalteten im Dezember 2002 und im Januar 2003 zwei Symposien, bei denen Fachleute eine historische Bestandsaufnahme vornahmen und über die didaktische Konzeption der Einrichtung diskutierten. Auf heftige Kritik stieß dabei ein IfZ-Gutachten, in dem einem eigenen Dokumentationszentrum als „zusätzliches Prestigeobjekt“ eine Absage erteilt und stattdessen eine kleinere Variante mit Rundgängen vorgeschlagen wurde.71

5 Der Königsplatz als zentrales Lernfeld für die politische Jugend- und Erwachsenenbildung in Deutschland Der museumspädagogische Aspekt spielt in den bisherigen Planungen und Diskussionen eine wichtige Rolle. Die Landeszentrale für politische Bildung hat in ihrem Bericht für den Landtag den Schwerpunkt auf ein geschichtsdidaktisches Konzept gelegt. „Lernen vor Ort“ erfreut sich unter Schülern und Lehrern seit Jahren großer Beliebtheit. Zeitgemäßer Geschichtsunterricht darf es nicht dabei belassen, kalendarische Gerüste aufzustellen, sondern muss das Vergangene auch sinnlich erfahrbar machen und analytische Fähigkeiten vermitteln. Geschichte ist insofern weniger ein Lernfach als ein Denkfach. Dabei ist die empirische Erkenntnis einzubeziehen, dass heutige Schüler einem belehrenden und „moralisierenden“ Unterricht kritisch gegenüberstehen und statt dessen Gedenkstätten als Erfahrungsräume betrachten, in denen sie sich ihr eigenes Urteil bilden.72 Der Königsplatz scheint als ein solcher Erfahrungsraum gut geeignet. Das Münchener Projekt könnte sich am NS-Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg orientieren, das 2001 eingeweiht wurde. Dort finden Schulen und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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andere Bildungseinrichtungen ein umfangreiches Angebot von pädagogischen Begleitprojekten, die hervorragend angenommen werden.73 Darüber hinaus sind zur Zeit in Deutschland etliche weitere Projekte geplant, bei denen das Gedenken an die NS-Zeit mit Jugend- und Erwachsenenbildung verbunden werden soll.74 In der Frage der inhaltlichen Ausrichtung des Dokumentationszentrums Königsplatz sind eine Reihe von Aspekten herauszuheben, die zugleich Bausteine eines museumspädagogischen Konzepts für die Jugend- und Erwachsenenbildung werden könnten. Über die engere Betrachtung der NS-Zeit hinaus bieten der Königsplatz und seine Umgebung die Möglichkeit, einen Bogen vom 19. ins 21. Jahrhundert zu schlagen und dabei auch Geschichte mit Vergangenheitspolitik zu verbinden. 1 Ein wichtiges Thema ist die Rolle, die die verschiedenen im Parteiviertel ansässigen NS-Einrichtungen bei den menschenverachtenden Maßnahmen des Regimes, etwa bei der „Arisierung“, gespielt haben. Das bürokratische Handeln an den Schreibtischen in der Maxvorstadt hatte fatale Folgen für unzählige Menschen. Die Frage nach individuellen Spielräumen liegt auf der Hand. Der Königsplatz und seine Umgebung sind als Täterort charakterisiert, doch der Zusammenhang mit Dachau und den Opfern ist offenkundig. Die Gestaltung eines möglichen Lerntages für Schulklassen wird das berücksichtigen. 2 Als weiteres Themenfeld bietet sich die Wirkung an, die von Symbolen und Riten ausgeht. Ist die Macht der Zeichen ohne Begeisterung für die dahinter stehende Sache denkbar? Zugleich leitet die Frage nach der Architektur des Platzes und der spezifischen Verbindung von Bayern und Griechenland75 zu dem Problem über, inwieweit die Nationalsozialisten das griechische Kunstideal für ihre Zwecke missbrauchten. Daran schließt sich die Frage nach dem hier offen auftretenden Spannungsverhältnis von Bürokratie und Kult an. Wie an keinem anderen Ort rücken die beiden Begriffe in München zusammen. 3 Die Frage nach der Zivilcourage, nach ihrer Vergangenheit und Gegenwart stellt sich auch am Königsplatz. In dem Dokumentationszentrum soll der Münchener Widerstand gegen das NS-Regime thematisiert werden, wie die Landeszentrale für politische Bildungsarbeit vorschlägt. Beispiele sind die Weiße Rose mit den Geschwistern Scholl, der Hitler-Attentäter Georg Elser sowie die Freiheitsaktion Bayern.76 4 Im Spannungsfeld von Zivilcourage und „Pflichterfüllung“ stehen die vier beim Hitlerputsch an der Feldherrnhalle getöteten Landespolizisten. An ihre Biografien und Schicksale wird erst seit einigen Jahren erinnert, da sie sozusagen quer zu bisherigen Formen der öffentlichen Gedenkkultur liegen. 5 Die vergangenheitspolitische Komponente darf unter keinen Umständen vernachlässigt werden, auch wenn die Betrachtung der Geschichtspolitik die eigentliche Geschichte nicht überlagern sollte. Die Ausstellung „Verbrechen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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der Wehrmacht“ hat sich in ihrer Neuauflage in einem hoch interessanten Schlusskapitel selbst zum Thema gemacht. Am Königsplatz ist zu fragen, warum die NS-Geschichte des Platzes und seiner Umgebung nach dem Krieg in Vergessenheit geriet, inwieweit dieses „Beschweigen“ notwendig war und warum es für neue Generationen so wichtig ist, Geschichte immer wieder neu zu entdecken und damit auch neu zu erfinden. 6 Der Königsplatz ist ein einzigartiger Erfahrungsraum. Das umfangreiche Bunkersystem, durch das die Gebäude im NS-Parteibezirk unterirdisch verbunden waren, könnte in das Projekt einbezogen werden. Das hat der Vorsitzender des Landtags-Kulturausschusses, Paul Wilhelm (CSU), angeregt. Hier ließe sich Geschichte mit all ihren dunklen und „gruseligen“ Aspekten besonders greifbar machen. Möglicherweise sind auch die Propyläen begehbar, von denen sich ein guter Überblick über das Gelände gewinnen ließe. 7 Für die pädagogische Arbeit besonders interessant ist die Frage nach Zeitgenossen. Die heutige junge Generation wird definitiv die letzte sein, die im Zuge ihrer historisch-politischen Sozialisation mit Menschen in Kontakt kommen kann, die die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur aus eigenem Erleben kennen. Die Schilderung aus eigenem Erleben hat nicht nur für Schüler/-innen eine besonders hohe Authentizität. 8 Grundsätzlich sind München und der Königsplatz für eine fächerübergreifende Behandlung der NS-Thematik geeignet. Bürokratie und Kult bieten sich für historische Lektionen an, im Kunstunterricht können das antikische München Ludwigs I. und seine Verformung im „Dritten Reich“ analysiert werden. Die Deutschstunde beschäftigt sich mit Thomas Mann und seinen Schwiegereltern, deren Haus am Königsplatz 1933 enteignet wurde, oder mit den zahlreichen literarischen Schilderungen aus dem zeitgenössischen München (Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Lion Feuchtwanger). Die Diskussion um das geplante NS-Dokumentationszentrum Königsplatz ist noch keineswegs abgeschlossen. Das Projekt bietet für München große Möglichkeiten. Wo sich die Monumentalität der wittelsbachischen Architektur und die Monströsität der nationalsozialistischen Inszenierungen einst so tragisch begegneten, könnte in einigen Jahren einer der zentralen historisch-politischen Lernorte für die Jugendund Erwachsenenbildung in Bayern und darüber hinaus entstehen. Dann würde auch in München „Unterricht zum Lokaltermin“, wie es Erich Kästner formulierte, dessen Bücher im Mai 1933 am Königsplatz verbrannt wurden.77

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Anmerkungen 1 Edgar Wolfrum: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Göttingen 2001, 104. 2 Norbert Frei: Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945. In Zusammenarbeit mit Tobias Freimüller u.a. Frankfurt/M./New York 2001. 3 Sonja Zekri: Bewegung in der Hauptstadt. In: Süddeutsche Zeitung 17.06.2002. 4 E. Wolfrum: A. a. O. 144. 5 Informationstafel an der Ecke Arcisstraße-Brienner Straße, aufgestellt 2001 von der Stadt München. 6 Gavriel D. Rosenfeld: Architektur und Gedächtnis. München und Nationalsozialismus. Strategien des Vergessens. Ebenhausen bei München 2004. 7 Hans Lehmbruch: Der Wettbewerb für die Anlage der Maxvorstadt. In: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Klassizismus in Bayern, Schwaben und Franken. Architekturzeichnungen 17751825. München 1980, 199-207, Zitat 199; Richard Bauer (Hrsg.): Geschichte der Stadt München. München 1992, 271-273. 8 Karl von Fischer (1782-1820) stammte aus Mannheim. Bereits 1802 gewann er den Wettbewerb zur Neugestaltung des Nationaltheaters. Seine wichtigsten Werke in München sind das Prinz-Karl-Palais am Rande des Englischen Gartens sowie das Törring-Palais am Karolinenplatz, heute Staatliche Lotterieverwaltung. 1808 wurde er Professor an der neu gegründeten Akademie der Bildenden Künste und stieg zum königlichen Baurat auf. 9 Die Namensgebung erfolgte analog zur Königstraße, die wenig später zur Brienner Straße umbenannt wurde. 10 Leo von Klenze wurde 1784 in Schladen bei Braunschweig geboren. Nach der Ausbildung in Berlin, Paris und Italien wurde er 1808-1813 Hofarchitekt von Jerome Bonaparte in Kassel und stand seit 1816 in Diensten von Ludwig I. 1819 erhielt er das Amt des Hofbauarchitekten. 1834 weilte Klenze in diplomatischer Mission am Hofe von Otto I. in Athen und hatte die Aufsicht über die antiken Denkmäler. Seine wichtigsten Werke in München sind der Königsplatz, die Glyptothek, die Alte Pinakothek, große Teile der Brienner Straße, Odeonsplatz, Ludwigstraße sowie Teile der Residenz. Außerhalb Münchens schuf er die Walhalla (1830-42), die Neue Eremitage St. Petersburg (1839-52) und vollendete die von Friedrich von Gärtner begonnene Befreiungshalle bei Kelheim (1842-63). Als Klassizist verband Klenze Elemente der antiken griechischen Baukunst mit der italienischen Hochrenaissance. Er starb im Januar 1864 in München. 11 Das Haus gilt als berühmtestes klassizistisches Bauwerk in Deutschland, war seinerzeit das erste öffentliche Museum für antike und zeitgenössische Plastik auf deutschem Boden und beherbergt noch heute eine der bedeutendsten Skulpturensammlungen auf dem europäischen Kontinent. Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört, auch die Ausmalung der Räumlichkeiten durch Peter von Cornelius trug erhebliche Schäden davon. Nach der Restaurierung durch Josef Wiedemann 1964-72 wurde die Glyptothek im Jahr 1972 wieder eröffnet. 12 Zu sehen sind herausragende Werke der griechischen, etruskischen und römischen Kunst (Bronzen, Schmuck, Terakotten, Kleinplastiken, Keramik). 1898 bis 1916 war hier die Galerie der Münchner Secession ansässig, seit 1919 die Neue Staatsgalerie, die später ins Haus der deutschen Kunst kam. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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13 Einen ersten Vorschlag, den Platz mit den Propyläen abzurunden, hatte Klenze bereits im Jahr 1816 unterbreitet. Der Bau weist außen die dorische, innen die ionische Ordnung auf. Nach Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurde er wieder hergestellt. Die Skulpturen in den Giebeln sind heute weitgehend Kopien, die Originale befinden sich in der U-BahnStation Königsplatz. 14 Hans Lehmbruch: Acropolis Germaniae. Der Königsplatz – Forum der NSDAP. In: Iris Lauterbach u.a. (Hrsg.): Bürokratie und Kult. Das Parteizentrum der NSDAP am Königsplatz in München. Geschichte und Rezeption. München/Berlin 1995, 17-45, hier 36. 15 Ebd. 35f. Überlegungen, den Königsplatz in eine Gedenkstätte umzuwandeln, gab es schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ulrike Grammbitter: Vom „Parteiheim“ in der Brienner Straße zu den Monumentalbauten am „Königlichen Platz“. Das Parteizentrum der NSDAP am Königsplatz in München. In: I. Lauterbach u.a.: A. a. O. 61-87, hier 67. Der Platz galt als unvollendet. Das Denkmal vor dem Armeemuseum (heute Staatskanzlei) wurde 1924 eingeweiht. Es erinnert an die 13.000 im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten aus München. Der überlebensgroße Steinsoldat von Bernhard Bleeker ist inzwischen durch einen Bronzeabguss ersetzt. Auf der Inschrift außen heißt es: „Sie werden auferstehen“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Denkmal zugleich Erinnerungsstätte für die neuen Opfer (22.000 Gefallene, 11.000 Vermisste, 6.600 Bombenopfer). 16 Zur Bedeutung des Verfassungstags (11. August) in der Weimarer Republik siehe Bernd Buchner: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik. Bonn 2001, 301-346. 17 Hierzu und zum Folgenden Benedikt Weyerer: München 1919-1933. Stadtrundgänge zur politischen Geschichte. München 1993, 122-125. 18 Zit. nach Benedikt Weyerer: München zu Fuß. 20 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart. Hamburg 1988, 200. 19 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 731933, 381f. 1925 erklärte Hitler zur Bedeutung der Stadt: „Die Bewegung ist auch schon deshalb mit München unzertrennbar verbunden, weil dort die Bewegung begründet wurde und weil dort die ersten Opfer für die Bewegung gefallen sind. Deshalb ist diese Stadt für mich und auch für die Bewegung geheiligter Boden.“ Zit. nach David Clay Large: Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung. München 1998, 260f. Hitlers privater Wohnsitz blieb bis zu seinem Tod in München. Bis zum 1. April 1920 wohnte er in der Kaserne des 2. Infanterieregiments in der Lothstraße 29 am Oberwiesenfeld. Anschließend zog er in die Thierschstraße 41 im Lehel, wo er im ersten Stock als Untermieter einer Frau Reichert ansässig war. Das Anwesen wurde 1922 von dem jüdischen Textilkaufmann Hugo Erlanger gekauft, der es 1935 an die Stadt München veräußern musste. An dem Haus befindet sich noch heute eine Gedenkinschrift für Hitler. Seit Anfang Oktober 1929 residierte er in einer Neun-Zimmer-Wohnung am Prinzregentenplatz 16 (zweiter Stock), wo sich 1931 Hitlers Nichte Geli Raubal das Leben nahm. Vermieter der repräsentativen Wohnung war der Holzkohlengroßhändler Hugo Schühle. Die Wohnung blieb bis 1945 die Privatadresse Hitlers. 20 Analog dazu wurde die Brienner Straße Straße der Bewegung genannt. B. Weyerer: München zu Fuß, 202. 21 Siehe Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit. München/Wien 1995, 65. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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22 Heinrich Heine: Almansor. Eine Tragödie [1820/21]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Bode von Petersdorf. Band 2, Augsburg o. J., Zitat 140. Die Bücherverbrennung wurde von der Deutschen Studentenschaft organisiert. Die Münchener Universität war schon in den 20er Jahren ein reaktionärer Hort. Der berühmte Soziologe Max Weber wurde laut Large (Hitlers München, 200) 1920 aus dem Hörsaal gejagt, weil er sich gegen die Begnadigung des Eisner-Mörders Graf Arco ausgesprochen hatte. Ein Gastvortrag von Albert Einstein im gleichen Jahr wurde abgesagt, weil die Universitätsverwaltung antisemitische Proteste fürchtete. Nach dem gescheiterten Hitlerputsch gibt es schwere Krawalle, die Universität muss am 13. November 1923 für mehrere Tage geschlossen werden. Ende des Jahres schätzte die Münchener Polizei den Anteil der Hitler-Sympathisanten unter den Studierenden auf 70 Prozent. Auch 1928 kam es zu schweren antisemitischen Unruhen. 1931 gab es massive Kritik an dem jüdischen Professor Nawiasky, die Universität musste für eine Woche geschlossen werden. 23 Zu Troost siehe Eva von Seckendorff: Erster Baumeister des Führers. Die NS-Karriere des Innenarchitekten Paul Ludwig Troost. In: Jan Tabor (Hrsg.): Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 19221956. Bd. 2. Baden 1994, 580-585; Werner Durth: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900-1970. Braunschweig/Wiesbaden 1986, passim. Troost wurde 1878 im rheinischen Elberfeld geboren, studierte in Darmstadt und lebte seit 1900 in München. Er galt als Spezialist für luxuriöse Interieurs. Bekannt wurde er seit 1912 durch die Ausstattung von Luxusdampfern für die Amerikalinie des Norddeutschen Lloyd in Bremen. Die erste Begegnung zwischen Hitler und Troost fällt wohl in den Herbst 1930. Das Haus von Hugo und Elsa Bruckmann am Karolinenplatz 5 war das Prinz-Georg-Palais. Vor dem Weltkrieg waren hier neben Troost, der mit dem Ehepaar seit 1905 befreundet war, unter anderem Nietzsche, Rilke und Hofmannsthal zu Gast. Am 6. Mai 1919 wurden im Keller des Hauses 21 Mitglieder des katholischen Gesellenvereins St. Joseph von Freikorps ermordet, die diese fälschlich für Spartakisten hielten. Elsa Bruckmann, eine Rumänin, führte Hitler hier in die gehobene Münchener Gesellschaft ein, brachte ihm Manieren bei und machte ihn mit Houston Stewart Chamberlain, Ludendorff, den Bechsteins und anderen bekannt. Im Haus Bruckmann knüpfte Hitler Kontakte zu Industrie und Kirche, zu den Wittelsbachern und dem spanischen Königshaus. Siehe die Schilderung bei Karl Alexander von Müller: Im Wandel einer Welt. Erinnerungen Bd. 3. 1919-1932. Hrsg. von Otto Alexander von Müller. München 1966, 301-308. 24 Zit. nach B. Weyerer: München 1919-1933, 135. Nachfolger Troosts als Staatsbaumeister wurde dessen Schüler Albert Speer. Zur Umgestaltung des Königsplatzes nach 1933 siehe Andrea Bärnreuther: Revision der Moderne unterm Hakenkreuz. Planungen für ein „neues München“. München 1993, 82-94; Klaus Vierneisel (Hrsg.): Der Königsplatz 1812-1988. Eine Bild-Dokumentation zur Geschichte des Platzes. München o.J. [1988], 42-65. 25 Troost starb am 21. Januar 1934. Danach wurde die Arbeit von seinem Büro unter Leitung von Leonhard Gall weitergeführt. Lehmbruch: Acropolis Germaniae, 17. Gall und Troosts Witwe Gerdy vollendeten auch das Haus der deutschen Kunst. 26 Die Belegung mit Platten war schon in den 20er Jahren wiederholt ins Gespräch gebracht worden, da die Rasenfläche für Versammlung äußerst nachteilig war. Der Vorschlag kam zum Beispiel von dem Architekten Oswald Bieber, der 1929 das Gebäude der Evangelischen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Landeskirche an der Südostseite des Platzes baute. Das Gebäude ersetzte ein Adelspalais, das zwischen 1812 und 1814 wahrscheinlich nach Plänen von Karl von Fischer entstand. Der berühmte Stadtatlas von Gustav Wenng aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, der als Faksimile wieder veröffentlicht werden soll, nennt als Besitzer den Grafen Oettingen Wallerstein. Inhaber 1928 war die Familie von Maffei. Die 21.545 Granitplatten vom Ausmaß 0,97 x 0,97 Meter wurden von den Vereinigten Fichtelgebirgs-Granit, -Syenit und -Marmorwerken AG (Grasyma) in Wunsiedel geliefert. Zit. nach Lehmbruch: Acropolis Germaniae. 20. Um die Namensgebung entspann sich in der Folgezeit ein recht aufschlussreicher Disput. Neben der ursprünglichen Bezeichnung tauchte häufig auch die Formulierung „königlicher Platz“ auf, zum Beispiel im Tagebuch von Joseph Goebbels. Offiziell allerdings wurde der Platz nie umbenannt. Münchens Oberbürgermeister Karl Fiehler richtete 1935 ein entsprechendes Ansinnen an Hitler, der aber lehnte ab. Siehe hierzu Lehmbruch: Acropolis Germaniae, 44f. Domarus behauptet fälschlich, der Platz sei 1935 auf Hitlers Befehl umbenannt worden. Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem Zeitgenossen. Band I: Triumph. Zweiter Halbband 1935-1938, München 1965, 556. Die doppelte Benennung scheint eine semantische Marginalie zu sein, doch könnte ein Zusammenhang mit der in Bayern nach wie vor starken monarchischen Bewegung bestehen, die dem NS-Staat nicht unkritisch gegenüberstand. Ein „König“ im Substantiv schien den Nationalsozialisten offenbar nicht opportun. Nach dem Krieg gab es Forderungen, den Platz in „Platz der Opfer des Faschismus (Nationalsozialismus)“ umzubenennen. Oberbürgermeister Sedlmayer lehnte das mit dem falschen Hinweis ab, der Platz sei bereits von den Nationalsozialisten umbenannt worden. Als „Platz der Opfer des Nationalsozialismus“ wurde seit 1946 die Fläche an der Brienner Straße auf Höhe des Maximiliansplatzes bezeichnet. „Münchens eigenartigster Platz“ (B. Weyerer: München zu Fuß, 208) reduziert das Gedenken an die Opfer im Wortsinn auf Sparflamme. In einem symbolischen Kerker brennt seit dem 9. November 1985 eine Flamme als Zeichen der Freiheit. Vor dem Krieg stand dort das Schillerdenkmal. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sich ein Gesamtplan für die Nutzung des Areals erst sehr spät entwickelte. Siehe Lehmbruch: Acropolis Germaniae. Der Königsplatz war auch nicht von vornherein eingebunden, ein räumlicher und architektonischer Zusammenhang ergab sich eher zufällig. Im Fall der Ehrentempel ist das ganz augenscheinlich, sie waren nicht ursprünglich für die Totenehrung bestimmt, sonst hätte man sie nicht an die Straßenkreuzung gestellt. Das Palais, 1828 von Jean-Baptiste Métivier errichtet, befand sich in der damaligen Brienner Straße 45 auf der nördlichen Straßenseite zwischen Königs- und Karolinenplatz. Zit. nach B. Weyerer: München zu Fuß, 205. Zur Finanzierung des Hauses siehe Grammbitter: Vom „Parteiheim“ in der Brienner Straße zu den Monumentalbauten am „Königlichen Platz“, 62. Gerhard Freiherr von Pölnitz an die Regierung von Oberbayern (27.7.1931), Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) OBB 12735. Ein Faksimile ist abgedruckt in Klaus K. Bäumler: A. a. O.: NS-Dokumentationszentrum am Königsplatz. Materialien zur aktuellen Diskussion. Hrsg. vom Bezirksausschuss Maxvorstadt, München 2002, 42-44. Pölnitz war Besitzer des 1832 errichteten Hauses an der Ecke Brienner Straße-Arcisstraße, das später dem nördlichen Ehrentempel weichen musste. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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33 Die neuen Machthaber begannen die Bauarbeiten, ohne die Pläne zuvor den Behörden vorgelegt zu haben. Die Aufforderung, die Arbeiten einzustellen, wurde nicht befolgt. Erst im Februar 1934 lag die Baugenehmigung vor. Aus diesem Grund gab es auch keine Grundsteinlegung. Einzelheiten bei Grammbitter: Vom „Parteiheim“ in der Brienner Straße zu den Monumentalbauten am „Königlichen Platz“, 70. Ein weiteres Beispiel für die Angewohnheit der Nationalsozialisten, es mit den gesetzlichen Bestimmungen nicht so genau zu nehmen, war der Bau des Parteiheims beim Braunen Haus. Siehe die bei K. Bäumler: A. a. O. nach 37 abgedruckten Dokumente. 34 Werner Durth/Winfried Nerdinger: Architektur und Städtebau der 30er/40er Jahre. Bonn o.J. [1993], 54. 35 Martin Broszat/Norbert Frei (Hrsg.): Das Dritte Reich im Überblick. Chronik – Ereignisse – Zusammenhänge. Überarbeitete Neuausgabe, München/Zürich 1989, 195. Im Mai 1933, als eine Mitgliedersperre verhängt wurde, lag die Zahl bei 2,5 Millionen, 1939 bei 5,3 Millionen. 36 Darunter befanden sich die beiden Wohnhäuser mit Pyramidendächern, die an der Stelle der späteren Ehrentempel standen. Das südliche war das Wohnhaus von Karl von Fischer, das er 1810 selbst errichtet hatte. Das identische nördliche entstand 1832. Für den Verwaltungsbau wurde eine ganze Reihe alter Stadtvillen abgerissen, darunter das Haus der Schwiegereltern von Thomas Mann, Alfred und Hedwig Pringsheim. Es lag an der früheren Arcisstraße 12. Pringsheim, Mathematikprofessor an der Universität München, hatte das Renaissance-Palais 1889 bauen lassen. Im November 1933 musste die Familie ausziehen; der Abriss begann noch im gleichen Jahr. 1939 emigrierte der inzwischen 89-Jährige mit seiner Frau nach Zürich. Alfred starb 1941, Hedwig ein Jahr später. Zu dem Haus siehe Inge Jens/Walter Jens: Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim. Reinbek bei Hamburg 2003, 22 u.ö. 37 Laut Benedikt Weyerer (München 1933-1949. München 1996, 107) erfolgte der Umzug im April 1933. Andere Quellen sprechen von Herbst. Das Gebäude wurde Ende 1944 schwer zerstört und nach dem Krieg abgerissen. Heute hat dort die Bayerische Landesbank ihr Domizil. An die Gestapo-Keller erinnert seit den 80er Jahren eine Gedenktafel. Ein Foto des zerstörten Gebäudes von 1946, das aus den Beständen des Hauses der Bayerischen Geschichte stammt, ist abgebildet in Waltraud Taschner: NS-Dokumentationszentrum für München. In: Bayerische Staatszeitung 4/25.01.2002, 8. Das eigentliche Gefängnis war ein separater Bau. Er entstand 1934/35 und wurde 1964 von der Stadt München abgebrochen. 38 Die SA wurde am 4. November 1921 in München gegründet. Röhm war seit September 1930 ihr Chef. Damals hatte die Organisation 70.000 Mitglieder, 1933 waren es bereits rund eine Million. 39 Weitere Beispiele: Im Haus an der Meiserstraße 9 war seit 1937 die Reichszentrale für die Durchführung des Vierjahresplans bei der NSDAP untergebracht. Der villenartige Bau aus der Zeit um 1870/80 wird heute von der Oberfinanzdirektion als Lager für Büromöbel und -material genutzt. Am Karolinenplatz 3 befand sich von 1933 bis 1944 das Reichsrevisionsamt, heute Amerikahaus. 40 Das Titelpaar „Bürokratie und Kult“ in einer Veröffentlichung des Münchner Zentralinstituts für Kunstgeschichte ist deshalb höchst treffend gewählt. Siehe I. Lauterbach u.a.: Bürokratie und Kult. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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41 Annette Philp spricht von 15 toten Nazis und einem Unbeteiligten. Annette Philp: Prägende Bilder. Die nationalsozialistischen Bauten am Münchner Königsplatz in Photographien von 1934-1938. In: I. Lauterbach u.a.: Bürokratie und Kult, 47-59. 42 Ebd. 49f. Zu den Feierlichkeiten am 8. und 9. November 1935 siehe Domarus: Hitler, 551-556, sowie vor allem den anschaulichen Bericht von Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt/M. usw. 1973, 700/705. Der Völkische Beobachter übte sich anlässlich der Überführung der Särge in die Ehrentempel am 9. November 1935 in pathetischer Rede: „Der Gefallenen Blut tränkte unsere Fahne. Nun war sie geweiht und heiliger uns denn je. Und aus dem Opfertod stieg auf und wuchs für uns zu unendlicher Größe die Verpflichtung. So wurde diese Stunde des Todes an der Feldherrnhalle die Geburtsstunde des neuen Reiches, so legten die Toten das Samenkorn für den Sieg von heute.“ Zit. nach B. Weyerer: München 1933-1949, 93. 43 „Abends Bürgerbräu“, schrieb Joseph Goebbels lakonisch in sein Tagebuch. „Alte Garde. Blutorden. Eine Desorganisation ohne Gleichen. Aber das ist München.“ Einen Tag später heißt es: „Es regnet in Strömen. Endloses Warten. Wir Norddeutschen stehen ganz hinten. Vorne die Münchener. Der Lokalpatriotismus tobt. Lasst sie, sie haben ja sonst nichts!“ Joseph Goebbels: Tagebücher 1924-1945. Hrsg. von Ralf Georg Reuth. Band 3: 19351939, München/Zürich 1992, 907. Alfred Rosenberg, nationalsozialistischer Vordenker und Chefideologe, fühlte sich dagegen in seinem ästhetischen Empfinden gestört. Es seien an der Feldherrnhalle sechzehn Mann gefallen, nicht zweimal acht, schrieb er. „Der Wille zur Symmetrie hatte der gesamten Anlage entscheidend geschadet.“ Zit. nach Sabine Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945 (Kölner Beiträge zur Nationsforschung. Hrsg. von Otto Dann u.a., Bd. 2). Vierow bei Greifswald 1996, 373. 44 Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden, 372f. 45 Dazu Näheres bei Bärnreuther: Revision der Moderne unterm Hakenkreuz, 211f. Der nicht sehr zuverlässige Domarus vermutet, dass Hitler auf dem Königsplatz beigesetzt werden wollte. Domarus: Hitler, 556. 46 Der abergläubische Hitler betrat den Bürgerbräukeller in der Rosenheimer Straße 29 nach dem Elser-Attentat von 1939 nie wieder. Die jährliche Putsch-Gedenkfeier am 8. November fand fortan im Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz statt. Nach dem Krieg kam es im Bürgerbräukeller zu Plünderungen, im Juli 1945 richteten die US-amerikanischen Besatzer hier eine Kantine ein. 1948 fanden die deutschen Tischtennis-Meisterschaften statt. 1979 wurde das Gebäude abgerissen. Heute haben hier die GEMA und ein Hotel ihren Sitz. Seit 1989 gibt es eine Gedenktafel vor dem GEMA-Gebäude. 47 Die Siedlung wurde 1933/34 auf Initiative von Guido Harbers errichtet. Harbers war vom NS-Oberbürgermeister Karl Fiehler zum Städtischen Wohnungs- und Siedlungsreferenten berufen worden und trat die Nachfolge von Karl Preis (SPD) an. Die Siedlung westlich der Wallfahrtskirche Maria Ramersdorf umfasst 192 Häuser, sie entsprach aber nicht den Baubestimmungen der Nationalsozialisten und wurde deshalb auch von der Partei nicht unterstützt. Das finanzielle Desaster, das der Bau verursacht hatte, wurde kaschiert. Die Straßen in der Siedlung wurden nach acht Putschisten von 1923 benannt. Siehe Durth/ Nerdinger: Architektur und Städtebau der 30er/40er Jahre, 74f; B. Weyerer: München 1933-1949, 313. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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48 Zur Nachkriegsgeschichte des Königsplatzes siehe vor allem G. D. Rosenfeld: Architektur und Gedächtnis, 144-157, 323-333, 435-457. 49 Ian Hamilton Finlay/Pia Maria Lang: Wildwachsende Blumen auf den Ehrentempeln. Königsplatz München, o.O. [München] 1993. 50 Süddeutsche Zeitung 28.08.2002. Die Initiatoren gaben vor, über den historischen Kontext der Immobilie nicht im Bilde gewesen zu sein. Tatsächlich findet sich an dem Gebäude bis heute kein Hinweis auf seine Funktion in der NS-Zeit. 51 Hermann Lübbe: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein. In: Historische Zeitschrift 236 (1983), 579-599. Lübbe vertritt die These, das allgemeine Schweigen über die Vergangenheit sei eine notwendige Bedingung für die innere Demokratisierung Deutschlands gewesen. „Diese gewisse Stille war das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland.“ (585) 52 Winfried Nerdinger: Hauptstadt der Verdrängung. In: Süddeutsche Zeitung 17.11.2001. 53 Zu diesem Anlass erschien Vierneisel: Der Königsplatz 1812-1988. 54 Lauterbach u.a.: Bürokratie und Kult, 7. 55 Reichel: Politik mit der Erinnerung, 336 Anm. 34. Siehe dazu Jochen Becker, München macht sauber. In: die tageszeitung 19.04.1994. 56 In den 80er Jahren gab es mehrmals Konflikte um Erinnerungstafeln, zum Beispiel am ehemaligen Wittelsbacher Palais und am Landwirtschaftsministerium. K. Bäumler: A. a. O.; Reichel: Politik mit der Erinnerung, 64. 57 K. Bäumler: NS-Dokumentationszentrum am Königsplatz. Die Broschüre ist ein aktualisierter Nachdruck der Publikation „Historisch-aktuelles Königsplatz-Panorama“ von 1996. Im gleichen Jahr wurde an der Ecke Brienner Straße-Arcisstraße eine erste Informationstafel aufgestellt. Ende Januar 2002 wurde sie anlässlich des Gedenktages der Opfer des Nationalsozialismus durch eine neue Tafel ersetzt. 58 Reichel: Politik mit der Erinnerung, 66-71; Norbert Huse: Unbequeme Baudenkmale. Entsorgen? Schützen? Pflegen? München 1997, 38-40. 59 K. Bäumler: A. a. O. VII. 60 Ebd. VIII. 61 Zit. nach ebd. 62 Der Beschluss war einstimmig. Siehe Taschner: NS-Dokumentationszentrum für München. Auch der Bezirksausschuss Maxvorstadt hob die Überparteilichkeit hervor: „Unser Gremium ist über diese Zusammenarbeit über Parteigrenzen von der untersten zur höchsten demokratischen Ebene sehr erfreut“, zit. nach K. Bäumler: A. a. O. X. 63 „Konzepte des Erinnerns – Königsplatz: NS-Dokumentationszentrum für München?“ am 27.11.2001 in der TU München, „NS-Dokumentationszentrum in München – Erwartungen und Perspektiven“ am 22.04.2002 in der LMU. 64 Das Nürnberger Projekt kostete rund 10,8 Millionen Euro, davon acht Millionen für den Bau und 2,8 Millionen für die Ausstellung. Bund und Land übernahmen je drei Millionen, die Stadt zusammen mit einem privaten Sponsor 4,8 Millionen. Die jährlichen Betriebskosten von rund 350.000 Euro trägt die Stadt. 65 Siehe Taschner: NS-Dokumentationszentrum für München. Süddeutsche Zeitung 30./31.07.2005. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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66 Macht und Gesellschaft. Männer und Frauen in der NS-Zeit. Eine Perspektive für ein künftiges NS-Dokumentationszentrum in München. Hrsg. vom Archiv der Münchner Arbeiterbewegung u.a. [Tagungsband], München 2004, 7. 67 Siehe K. Bäumler: A. a. O. XI. 68 Simone Dattenberger: Steinerne Zeugen sprechen. Winfried Nerdinger über das NSDokumentationszentrum. In: Münchner Merkur 4.6.2004. Süddeutsche Zeitung 30./31.07.2005. 69 Zitate bei Taschner: NS-Dokumentationszentrum für München. 70 Renate Hennecke: NS-Dokumentationszentrum soll am Königsplatz entstehen. Gut besuchte Podiumsdiskussion in der Uni. In: Münchner Lokalberichte 9/3.5.2002, 9. 71 Ein NS-Dokumentationszentrum für München. Ein Symposium in zwei Teilen. 5. bis 7.12.2002, 16. bis 17.1.2003. Tagungsband. Hg vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München und der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 2003. Siehe auch Sonja Zekri: Blamabler Plan. Ein Symposium zum Münchner NS-Dokumentationszentrum. In: Süddeutsche Zeitung 20.1.2003. 72 Martina Schuster: Das Studienforum am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. In: Siegfried Grillmeyer/Zeno Ackermann (Hrsg.): Erinnern für die Zukunft. Die nationalsozialistische Vergangenheit als Lernfeld der politischen Jugendbildung (Veröffentlichungen der CPH-Jugendakademie, Band 1), Schwalbach/Ts. 2002, 60-69, hier 61. 73 Ebd. 74 Das Holocaust-Mahnmal in Berlin, das im Mai 2005 eingeweiht wurde, hat einen unterirdischen „Ort der Information“. Zu nennen sind beispielsweise auch Projekte in Bayreuth, Hinzert und Sandbostel. Im Bayreuther Geburtshaus des Gewerkschafters und NS-Widerstandskämpfers Wilhelm Leuschner (1890-1944) ist im September 2003 ein städtisch getragenes Museum eingerichtet worden. Die pädagogische Begleitarbeit wird von einer Stiftung durchgeführt. Im ehemaligen SS-Sonderlager und KZ Hinzert im Hunsrück entstand 2005 ein Dokumentations- und Begegnungshaus. Auch das Kriegsgefangenenlager Stalag X B im niedersächsischen Sandbostel, wo kurz vor Kriegsende tausende KZ-Häftlinge nach Todesmärschen starben, soll nach langen Auseinandersetzungen zu einem Museum und „Lernort“ werden. 75 Siehe hierzu K. Bäumler: A. a. O. 20. 76 Zur lokalen Erinnerungskultur siehe ebd., passim. Für die Geschwister Scholl gibt es mehrere Gedenktafeln, darunter im Lichthof der Universität. Zur Freiheitsaktion siehe die Gedenktafel im Innenhof des Landwirtschaftsministeriums. Das Haus entstand zwischen 1937 und 1939 als „Zentralministerium“ und wurde als Amtssitz des Gauleiters genutzt. Zunächst war dies Adolf Wagner, seit 1942 Paul Giesler. Dafür wurden zwei Klenzehäuser im Neurenaissancestil, entstanden um 1820/25, abgerissen. Es gibt große Bunkeranlagen im Haus. Im Innenhof wurden am 29. April 1945 Leutnant Maximilian Roth und Major Carracciola-Delbrück, beide Mitglieder der Freiheitsaktion Bayern, erschossen. 1946 bis 1952 wurde das kriegszerstörte Gebäude stilgetreu wiederaufgebaut. Um die Gedenktafel gab es in den 80er Jahren erheblichen Streit. 77 Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer. In: ders.: Kästner für Kinder. Bd. 2, Zürich 1985, 7-118, Zitat 96. Kästner war 1933 in Berlin und sah inkognito bei der Verbrennung seiner eigenen Bücher auf dem Schlossplatz zu. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Mythos der Nation Das Hermannsdenkmal

1. „Der Hermann der edle Recke“ Zur Entstehung eines nationalen Mythos Das ist der Teutoburger Wald, Den Tacitus beschrieben, Das ist der klassische Morast, Wo Varus steckengeblieben. Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, Der Hermann, der edle Recke; Die deutsche Nationalität, Sie siegte in diesem Drecke. … Gottlob! Der Hermann gewann die Schlacht, Die Römer wurden vertrieben, Varus mit seinen Legionen erlag, Und wir sind Deutsche geblieben! O Hermann, dir verdanken wir das! Drum wird dir, wie sich gebühret, Zu Detmold ein Monument gesetzt; Hab selber subskribieret.“1 In wenigen Jahren jährt sich ein Ereignis zum 2000. Mal, das – Heines Wintermärchen zeigt es – im öffentlichen Geschichtsbewusstsein des 19. und auch noch 20. Jahrhunderts quasi als Geburtsstunde der deutschen Nation galt: Im Herbst des Jahres 9 nach Christi Geburt wurden irgendwo im Teutoburger Wald drei von Feldherr Quinctillus Varus geführte Legionen des römischen Imperiums – insgesamt an die 20.000 Soldaten – von germanischen Stämmen in einen Hinterhalt gelockt und vernichtend geschlagen. Die Germanen kämpften unter Führung eines Fürsten aus dem Stamm der Cherusker, der zuvor mehrere Jahre in römischen Militärdiensten gestanden hatte und von dem nur der lateinische Name überliefert ist: Arminius.2 Fünf Jahre nach ihrer schweren Niederlage entsandten die Römer erneut © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Hermannsdenkmal (Luftbildansicht)

ein Heer gegen den renitenten Cheruskerfürsten, doch auch diesmal traten sie schließlich nach mehreren schweren Schlachten mit wechselndem Ausgang den Rückzug aus Germanien an. Arminius überlebte diesen erneuten Triumph nicht lange: bei einem Aufstand wurde er von den eigenen Verwandten ermordet. Soweit der historische Kern. Die Geschichte des Arminius hat die deutschsprachige Literatur seit Beginn der Neuzeit enorm fasziniert. Martin Luther zum Beispiel lobte ihn mit den Worten: „Wenn ich ein Poet wer, so wolt ich den celebrieren. Ich hab ihn von hertzen lib.“3 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert avancierten die Varusschlacht und ihr Sieger dann zum Mythos des erwachenden deutschen Nationalbewusstseins. Dramatiker wie Friedrich Gottlieb Klopstock, Heinrich von Kleist, Christian Dietrich Grabbe und – wenngleich mit feiner Ironie – eben auch Heinrich Heine nahmen sich des Stoffes an.4 Sie machten aus dem abgefallenen römischen Legionär Arminius den „edlen deutschen Recken Hermann“. Noch verstärkt wurde diese Umdeutung im Kontext der sogenannten „Freiheitskriege“ gegen Napoleon: Jetzt stilisierte man © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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den Sieg über die „Besatzungsmacht Rom“ zum symbolischen Gründungsakt der germanisch-deutschen Nation und Hermann folglich zum ersten deutschen Freiheitshelden.5 „Die Gleichung: ‚römisch gleich welsch gleich französisch‘ ermöglichte den direkten Gegenwartsbezug zur Hermannsschlacht.“6 Das so konstruierte Geschichtsbild schuf gleichsam eine „nationale Vergangenheit gemäß der neuen Zukunftserwartung“ einer deutschen Einigung.7 Deutschland, so die simplifizierende Deutung, habe sich im Teutoburger Wald vor drohender römischer Fremdherrschaft und damit kultureller Überfremdung bewahrt und die ersten Schritte zu einem eigenen nationalen Weg unternommen. „Deutsche Kultur, deutsche Sprache, deutsche Geschichte und deutsche Sitten wurden durch ihn und seitdem stets von neuem gegen fremde kulturelle Einflüsse verteidigt und definierten sowohl historisch als auch territorial die deutsche Nation.“8 So dünn das historische Eis unter diesem Mythos ist, so hervorragend lässt sich an ihm das Verhältnis von nationaler Identitätsbildung und historischer Legitimation oder präziser: die Instrumentalisierung von Geschichte für nationalpolitische Zwecke beleuchten.9 Besondere Anschaulichkeit kann das Thema im Rahmen außerschulischer politischer Bildung dadurch gewinnen, dass die Funktionalisierung einer legendenhaften Biographie sich bis heute sinnlich erschließen lässt: durch eine Exkursion zum außerschulischen Lernort Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald.

2. Ein Bildhauer und sein Lebenswerk. Bandel und das Hermannsdenkmal Nicht nur der „Mythos Hermann“ selbst, sondern auch die Geschichte des Hermannsdenkmals bietet sich für eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Nationalgeschichte geradezu an.10 Denn wer sich heute mit der Geschichte dieses Monuments beschäftigt, wird auf Schritt und Tritt mit den „Irrungen und Wirrungen deutscher Nationalgeschichte konfrontiert“11. Das Denkmal, das den eingedeutschten Namen des Siegers über die Römer trägt, liegt ganz in der Nähe der ehemaligen lippischen Residenzstadt Detmold auf dem höchsten Punkt der Grotenburg, einem früher „Teut“ genannten Bergrücken mitten im Teutoburger Wald. Die Errichtung des Monuments ist untrennbar mit dem Namen Ernst von Bandels verbunden, der dies früh zu seinem Lebensziel machte und daran gegen alle Widerstände bis an sein Lebensende festhielt.12 Die politische Geisteshaltung des 1800 in Ansbach geborenen Baumeisters war entscheidend durch die Freiheitskriege der Jahre 1813 bis 1815 gegen Napoleon geprägt. Sie veranlassten schon den 19jährigen Studenten, erste Skizzen für ein Hermannsmahnmal zu fertigen, das die Deutschen zur Einigkeit aufrufen und in dem sich deutsche Größe und Eigenart symbolisieren sollte.13 Wurzel des Ban© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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delschen Denkens war die Vorstellung, dass das deutsche Wesen stets von außen bedroht werde und dieser Bedrohung nur durch einen vereinten Abwehrkampf aller Deutschen zu begegnen sei. Als Bandel 1836 erstmals durch den Teutoburger Wald reiste, erkor er umgehend den 386 Meter hohen Gipfel der Grotenburg zum Standort seiner Denkmalpläne. Ausschlaggebend für die Wahl war neben der exponierten Lage mit ihrer ausgezeichneten Fernsicht natürlich auch die vom römischen Schriftsteller Tacitus überlieferte Lokalisierung der Varusschlacht im „saltus teutoburgiensis“, obschon damals wie heute wenig darauf hinwies, dass das Schlachtfeld sich tatsächlich in unmittelbarer Nähe des Gipfels befunden haben könnte.14 Mit Unterstützung eines in Detmold gegründeten „Vereins für das Hermannsdenkmal“ begann Bandel 1838 mit den Bauarbeiten. Drei Jahre später fand unter großer Anteilnahme der Bevölkerung ein Festakt zur Schließung des Grundsteingewölbes statt. Die dabei gehaltenen Reden und vor allem das feierliche Absingen des Ernst-Moritz-Arndt-Lieds „Was ist des Deutschen Vaterland?“ betonten eindeutig den Charakter des Projekts als – so sein Erbauer – „Mahnmal auf die deutsche Einheit“15 in einer Zeit, in der Deutschland nach wie vor in eine Vielzahl von unabhängigen Staaten geteilt war. Nicht zuletzt diese politische Konstellation war dafür verantwortlich, dass sich die weitere Fertigstellung des Denkmals über viele Jahre verzögerte. Karl Marx spottete 1867 nach einem Besuch in Bandels Werkstatt in Hannover: „Das Zeug wird ebenso langsam fertig wie Deutschland“.16 Erst 1869, also mitten in den deutschen Einigungskriegen, gelang es Ernst von Bandel den preußischen König und späteren deutschen Kaiser Wilhelm für sein Vorhaben zu begeistern. Wilhelm übernahm das Patronat über das Denkmal und spendete mehrere tausend Taler aus seiner Privatschatulle.17 Zwei Jahre später brachten der deutsch-französische Krieg und die Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Januar 1871 den endgültigen Durchbruch für die rasche Vollendung des Hermannsdenkmals. Die durch die beiden Ereignisse ausgelöste Welle nationaler Begeisterung spülte große Geldmengen in die Baukasse, u.a. stellte der neu entstandene Deutsche Reichstag 10.000 Taler zur Verfügung. Eine kleine Ironie der Geschichte war dabei, dass Ernst von Bandel eigentlich eine „großdeutsche Lösung“ unter Führung Österreichs favorisiert hatte, nun aber entscheidend von der preußisch-„kleindeutschen“ Reichsgründung Bismarcks profitierte.18 Ab 1873 wurde die von Bandel selbst aus Kupferplatten geschmiedete monumentale Figur nach Detmold überführt und dort zusammengefügt und aufgestellt. Bandel, inzwischen über 70 Jahre alt und halb erblindet, wohnte während der Montage in der sogenannten Bandelhütte, die noch heute am Fuß des Denkmals zu besichtigen ist. Am 1. Mai 1875, fast 37 Jahre nach Baubeginn, wurde mit der Einlassung des 11 Zentner schweren und 6 Meter langen Schwerts das letzte schwierige Teilstück der Denkmalserrichtung abgeschlossen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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3. Kaiser Wilhelm als „neuer Hermann“ Die Denkmaleinweihung 1875 Dreieinhalb Monate später am 16. August 1875 fand die feierliche Einweihung statt. Den zahlreichen Gästen, die aus ganz Deutschland und sogar dem Ausland angereist waren, präsentierte sich das Denkmal damals genauso, wie man es auch heute, 130 Jahre später, noch besichtigen kann: Auf einem 28 Meter hohen Unterbau steht eine aus Schmiedeeisen geformte 20 Meter hohe Figur mit einem markanten Flügelhelm auf dem Kopf. Die Gesichtszüge des bärtigen Mannes sollten nach dem Willen seines Schöpfers „das Typische des norddeutschen Menschen“ wiedergeben, das Bandel in intensiven Körperstudien festgestellt haben wollte.19 Ihren linken Fuß hat die Figur als Zeichen des Sieges über die Römer auf einen Legionsadler und ein Liktorenbündel gesetzt; den linken Arm stützt sie auf ein Schild, während sie mit dem rechten Arm ein nochmals sechs Meter hohes Schwert in die Höhe reckt, das in vergoldeten Lettern die Inschrift trägt: „Deutsche Einigkeit meine Stärke, meine Stärke Deutschlands Macht“.20 Aber nicht nur als Denkmal der Reichseinigung sollte das Monument nach 1871 fungieren, sondern vor allem als Symbol des Siegs über den „Erbfeind“ Frankreich. Dies kam schon in seiner Ausrichtung zum Ausdruck: Nicht gen Süden, in Richtung Rom, erhebt Hermann sein Schwert, sondern nach Westen, gegen Frankreich. Neben der Form des Denkmals selbst wurde auch seinem Standort hohe symbolische Bedeutung zugeschrieben: Alle Berichte von der Einweihungsfeier wiesen auf die „spezifisch deutsche Symbolik des Teutoburger Waldes“ hin. Wie bei vielen anderen deutschen Nationaldenkmälern knüpfte auch hier „der Bezug zur Natur, zur Landschaft, zur Vegetation […] eine direkte Verbindung zwischen der Gegenwart und Vergangenheit der deutschen Nation, zwischen den Germanen und den Deutschen.“21 Besonderen Glanz erhielt die Einweihung durch die Anwesenheit Kaiser Wilhelms I. Er befand sich vier Jahre nach dem Sieg im deutsch-französischen Krieg und der Proklamation des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles auf dem Höhepunkt seiner Macht und nutzte die Denkmalfeier ganz bewusst, um sich „als neuer Hermann“ stilisieren zu lassen.22 So wurde in einer der Nischen des Unterbaus ein Relief des Kaisers angebracht, hergestellt aus der Bronze einer erbeuteten französischen Kanone, mit der bis heute lesbaren Inschrift: „Der lang getrennte Stämme vereint mit starker Hand, der welsche Macht und Tücke überwand. Der längst verlorene Söhne heimführt zum Deutschen Reich, Armin dem Retter ist er gleich“.23 Auch der von Bandel selbst verfasste, in Stein gemeißelte Text unter dem Relief macht deutlich, dass das ursprünglich als Mahnmal für die deutsche Einheit geschaffene Denkmal durch die Ereignisse der Jahre 1870/71 einen klaren © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Bedeutungswandel hin zum Triumphsymbol der Reichseinigung und des Sieges gegen Frankreich erfahren hatte: Er lautet: „Am 17. Juli 1870 erklärte Frankreichs Kaiser, Louis Napoleon, Preußen Krieg, da erstunden alle mit Preußen verbündeten Deutschen Volksstämme und züchtigten von August 1870 bis Januar 1871 immer siegreich französischen Übermut unter Führung König Wilhelms v. Preußen, den am 18. Januar 1871 Deutsches Volk zu seinem Kaiser erhob.“ 24 Die eindeutige Spitze gegen Frankreich, verbunden mit dem Appell zur Einigkeit, wird auch durch die Inschrift der benachbarten Nische unterstrichen, die sich auf die „Freiheitskriege“ der Jahre 1813-1815 bezieht: „Nur weil deutsches Volk verwelscht und durch Uneinigkeit machtlos geworden, konnte Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen, mit Hilfe Deutscher Deutschland unterjochen; da endlich 1813 scharten sich um das von Preußen erhobene Schwert alle deutschen Stämme, ihrem Vaterlande aus Schmach die Freiheit erkämpfend“.25 Der damit angedeutete „symbolische Dreischritt Teutoburger Wald – Leipzig – Sedan“26 machte präzise die zeitspezifische Funktionalisierung des Denkmals im Kontext von Reichseinigung und außenpolitischem Konflikt mit Frankreich deutlich.

4. Die (Be-)Deutung des Denkmals im Kaiserreich Wie populär das Denkmal schon bald nach seiner Erbauung wurde, zeigt die rasch wachsende Zahl seiner Besucher – bestiegen anfangs rund 2.000 Personen jährlich das Monument, waren es im Jahr 1915 schon 60.000. Einmal beim ‚Großen Hermann‘ gewesen zu sein galt im Kaiserreich als „etwas Besonderes“.27 So bekam das Landschaftsdenkmal geradezu den Charakter einer nationalen „Wallfahrtsstätte“. „Durch die besondere Verknüpfung von Geschichte und Natur“ wurden aus dem Besuchen des Denkmals „patriotische Bildungsspaziergänge. Man genoß den ungewohnten Blick über die Landschaft und konnte gleichzeitig […] seinen patriotischen Gefühlen Ausdruck verleihen.“28 Der Hermannsmythos hatte im Deutschen Kaiserreich aber nicht nur eine verbindende Funktion. Teile der Bevölkerung wurden mit seiner Hilfe systematisch aus der Nation ausgeschlossen und als „Reichsfeinde denunziert. Das traf, da die Einweihung des Denkmals auf dem Höhepunkt des Bismarckschen Kulturkampfs stattfand, zunächst vor allem die Katholiken. Der über die Römer siegreiche Arminius wurde zur Symbolfigur im Kampf gegen das römische Papsttum und die katholische Kirche. Bildhaft zum Ausdruck brachte dies eine anlässlich der Einweihungsfeier des Denkmals veröffentlichte Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch. Sie zeigt Hermann und Martin Luther vor der Silhouette des Petersdoms vereint im Schlachtruf „Gegen Rom.“29 Später wurde der Hermannsmythos auch mit antisozialdemokratischen sowie © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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antisemitischen Komponenten aufgeladen und mit völkischen Vorstellungen überformt.30 Deutlich zeigte sich diese Tendenz auch im Jahr 1909, als aus Anlass der 1900-Jahrfeier der Schlacht im Teutoburger Wald erneut eine überregionale Nationalfeier in Detmold stattfand. Neben studentischen Burschenschaften und der Deutschen Turnerschaft spielten diesmal auch imperialistische Interessengruppen wie der Alldeutsche Verband, der deutsche Flottenverein und die deutsche Kolonialgesellschaft eine herausgehobene Rolle. Entsprechend wurde in den Reden vor allem die „weltgeschichtliche“ Bedeutung der Schlacht als Begründung völkischer Einheit gewürdigt und Hermann selbst zum „blonden Recken“ stilisiert.31 Einer der Höhepunkte der 1900-Jahrfeier war ein „Großer Germanenzug“ durch die Straßen Detmolds: „Neunhundert als Germanen verkleidete Männer, Frauen und Kinder mit langhaarigen blonden Perücken und langen Gewändern ausgestattet, zum Teil Menschenschädel und Pferdeköpfe tragend oder mit Methörnern in der Hand, zogen zu Fuß, zu Wagen oder zu Pferd durch die Stadt. […] Der Germanenzug sollte die ‚siegreiche Heimkehr der Deutschen‘ [!] nach der erfolgreichen Hermannsschlacht darstellen, wie sie von ihren Frauen und Kindern empfangen wurden. ‚Da wurden die wackeren Helden und minniglichen Frauen des germanischen Altertums in realistischer Anschauung vor Augen geführt.‘ Knaben und Mädchen zogen den siegreichen Kämpfern entgegen, ‚sorgende Frauen‘ brachten ihren Männern Methörner entgegen und trugen die Waffen der Verwundeten, andere hatten ‚den heimkehrenden Gatten neben sich, zu dem der Knabe an des Vaters Hand stolz empor‘ blickte.“32 Insgesamt vermittelte der Festzug „ein harmonisches und verklärendes Bild der deutschen Frühgeschichte“33, das darauf zielte, das deutsche Nationalbewusstsein durch den Rückgriff auf die angeblich egalitäre germanische Volksgemeinschaft völkisch zu untermauern. Aber auch aktuelle Vergleiche fanden wieder ihren Platz: In einer Rede vor 4000 Schulkindern setzte ein Lehrer Junker Hermann anders als die Redner von 1875 nun nicht mehr mit Kaiser Wilhelm, sondern mit Otto von Bismarck in Beziehung: Junker sah in dem elf Jahre zuvor verstorbenen Reichskanzler und Architekten der Reichsgründung den „gewaltigsten Deutschen und größten deutschen Staatsmann und Helden nach Hermann“, einen Mann, „in dem der deutsche Hermannsgeist am reinsten und erfolgreichsten sich verkörpert“ habe.34

5. „Wahrzeichen deutscher Einheit und Freiheit“ Das Denkmal in der Weimarer Republik Unter gänzlich veränderten Vorzeichen stand die 50-Jahrfeier des Denkmals im Jahr 1925. Der verlorene Erste Weltkrieg und der Versailler Vertrag hatten tiefe Wunden in das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen geschlagen. Auch die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Etablierung einer parlamentarischen Demokratie anstelle der abgedankten Monarchie traf im rechten politischen Spektrum auf heftige Kritik. Hinzu kamen die großen politischen und sozioökonomischen Probleme der Weimarer Republik: Politische Unruhen, eine Vielzahl von nicht konsensfähigen Parteien, instabile Regierungen, Reparationen, Inflation und Arbeitslosigkeit. Um so eindringlicher betonten führende Politiker des Reiches 1925 in ihren Grußworten die Bedeutung des Denkmals als „Wahrzeichen deutscher Einheit und Freiheit“35. So erinnerte Reichspräsident von Hindenburg daran, dass das Monument einen Mann ehre, „dessen ganzes Sinnen und Trachten der Befreiung seines Vaterlandes galt“. Er ergänzte: „Möge es eine Mahnung sein für jeden Deutschen, seine ganze Kraft einzusetzen zum Wiederaufbau unseres schwer geprüften Vaterlandes; und möge es uns auch daran erinnern, daß wir dies Ziel nur durch Einigkeit erreichen können.“36 Der unmittelbare Zeitbezug auf die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und auf die vorgeblich heillos zerstrittene Parteiendemokratie war unüberhörbar. Noch deutlicher wurde der deutschnationale Reichstagsabgeordnete und Kapitänleutnant a.D. Treviranus, der in seinem Grußwort erklärte: „Nichts hat ein Volk höher zu achten, als die Würde und die Freiheit seines Daseins, diese bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, ist heiligste Pflicht. Feige Unterwerfung ist ein Schandfleck, der nie zu verwischen ist.“37 Und der Vorsteher der Detmolder Stadtverordnetenversammlung erklärte gar: „Wem nicht des Vaterlandes Not und Schmach in tiefster Seele brennt, der ist nicht wert, in der deutschen Volksgemeinschaft seinen Platz zu finden. Drum denk an deine Pflicht als Deutscher: sei hart gegen dich selber, treu gegen deine Volksgenossen, zu jedem Opfer bereit fürs Vaterland; vertrau auf Gott und deine Kraft, und wie einst zu Hermanns Zeiten wird aus dem finsteren Gewölk welscher Knechtschaft hervorleuchten ein neues Morgenrot deutscher Ehre und Freiheit.“38

6. Hermann und Hitler. Nationalsozialistische Instrumentalisierungen Solche Aussagen bahnten wenige Jahre später der Propaganda der Nationalsozialisten, die ein sicheres Gespür für die Verwertbarkeit nationaler Symbole besaßen, einen leichten Weg zur Instrumentalisierung des Hermannsdenkmals. Dies zeigte sich besonders im Wahlkampf zur Lippischen Landtagswahl im Januar 1933, die von Hitlers Partei zur Entscheidungsschlacht auf dem Weg zur „Machtergreifung“ stilisiert und mit bis dahin unbekanntem Propagandaaufwand betrieben wurde.39 „Eine wahre Flut von Massenveranstaltungen mit der ersten Garnitur der NSDAP ergoß sich über das kleine Land“40 von nicht einmal 120.000 wahlberechtigten Einwohnern. Hitler selbst, der in Lippe an zehn Abenden nicht weniger als 16 Wahlkampfauf© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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NSDAP-Wahlplakat: Hitler als der „neue Hermann“

tritte absolvierte und dabei immer wieder historische Dimension der Lippe-Wahl betonte, präsentierte sich auf einem Plakat vor der Silhouette des Denkmals als der „neue Hermann“, als Befreier Deutschlands von der „roten Fremdherrschaft“.41 Ein anderes Plakat verband unter der Parole „Macht frei das Hermannsland“ die Bildsymbole Hakenkreuz und Hermannsdenkmal zu einer eindeutigen historischen Analogie: Die regionale Identifikationsfigur des Cheruskerfürsten schlägt mit ihrem Schwert den Weg frei für ein nationalsozialistisches Lippe.42 Auch für die übrige NS-Parteiprominenz gehörte der Besuch des Hermannsdenkmals während des Wahlkampfs zum „inszenierten Pflichtprogramm“. Joseph Goebbels notierte in sein Tagebuch: „Nachmittags zum Hermannsdenkmal. Steht ganz im Nebel und wirkt so grandios. Massig und drohend. […] Trotzig gegen Frankreich. Das ist ja immer die Linie deutscher Politik gewesen.“43 Zwar fiel der Wahlsieg der NSDAP am Ende mit knapp 40 Prozent der gültigen Stimmen keineswegs überwältigend aus, doch die Goebbelsche Propaganda verstand es meisterhaft, das Votum von 0, 26 Prozent der deutschen Wahlbürger als „Durchbruchsschlacht zur nationalen Revolution“ zu verkaufen.44 Folglich war es nur konsequent, dass geschäftstüchtige Lokalpatrioten nach der Machtübernahme Hitlers beim Reichspropagandaministerium den Antrag stellten, das Hermanns© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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denkmal zur „nationalen Wallfahrtsstätte“ zu erklären. Das Ministerium lehnte jedoch ab mit der Begründung, „das Hermannsdenkmal sei bereits ohne besondere Erklärung eine nationale Wallfahrtsstätte“.45 Wie dies gemeint war, veranschaulicht ein Artikel, der 1937 einen direkten Bezug zwischen der Hermannsschlacht des Jahres 9 und der NS-Machtergreifung von 1933 herstellte: „Durch die Täler da unten zogen unsere Vorfahren zur festen Wallburg am Grotenburghange, […] auf den Höhen loderten die Feuer, in den Wäldern brandete der Kampf, kam den stolzen Römern das bittere Ende. Hermann, der Führer, traute seinem Volke, das Volk traute seinem Führer und folgte ihm. So gelang das schwere Werk, und die Landschaft um die Grotenburg wurde für immer zu einem leuchtenden Blatte im Buche deutscher Geschichte. Und merkwürdig: Noch einmal, 1924 Jahre später, wurde wieder dasselbe Blatt deutscher Geschichte aufgeschlagen und darauf verzeichnet, was überragende Führergröße und treue Gefolgschaft zu schaffen vermögen. Denn hier im Lipperlande […] entschied unser Führer Adolf Hitler mit seinen Getreuen den schweren Kampf um die deutsche Seele und das deutsche Schicksal. Auch dieser Kampf adelt für immer die Landschaft zu unsern Füßen.“46 Wie ernst es zumindest Teilen der NS-Führungsschicht mit dem Geschichtskult um das „Land Armins, Widukinds und des germanischen Heiligtums der Externsteine“ war, zeigen Pläne, quasi im Schatten des Hermannsdenkmals „zum ewigen Gedenken an den für Deutschland so entscheidenden Wahlsieg des Führers und der NSDAP im Lande Lippe am 15. Januar 1933“47 eine „Volkshalle“ mit einem Fassungsvermögen von 10.000 Menschen für die Feier der nationalsozialistischen Gedenk- und Festtage sowie weitere repräsentative Parteibauten zu errichten. Sie hätten Detmold auf eine Stufe mit Städten wie München, Nürnberg und Berlin gestellt. SS-Reichsführer Himmler dachte sogar über den Aufbau einer Pflegestätte für Germanenkunde und die Gründung einer „Germanischen Universität“ in Lippe nach. 48 Der Zweite Weltkrieg setzte diesen ambitiösen Plänen ein Ende.

7. Nationalistisches Relikt oder Friedensmahnmal? Das Hermannsdenkmal nach 1945 In den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 geriet der Hermann in die Schusslinie der vorrückenden Amerikaner, die die Figur zunächst als Zielscheibe und dann zwei Jahre lang als Funkstation nutzten und ihre Besteigung untersagten.49 Zur 75-Jahrfeier 1950 stand das Denkmal dem Publikumsverkehr zwar wieder offen, allerdings war es durch Nationalsozialismus und Weltkrieg stärker als in seiner materiellen Substanz in seiner ideologischen Aussagekraft beschädigt worden. Denn naturgemäß verbot sich fünf Jahre nach Kriegsende und ein Jahr nach dem Ende des alliierten Besatzungsregiments alles nationalistische Jubeln und Säbelras© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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seln. Entsprechend war das Denkmal „mehr Anlass als Mittelpunkt der Feier“.50 Dennoch fand man mit Blick auf die akute Teilung Deutschlands auch jetzt wieder aktuelle politische Bezüge. Detmolds Regierungspräsident Drake schrieb in seinem Grußwort: „Ich gebe der Zuversicht Ausdruck, dass wir Deutschen uns als einiges und zu friedvoller Arbeit entschlossenes Volk recht bald wieder zusammen finden werden.“51 Und auch die Ostvertriebenen nutzten das Jubiläum, um durch eine Großkundgebung auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen.52 Mitglieder des ostwestfälischen Friedensrings, einer regionalen Friedensinitiative, definierten das Denkmal gar zu einem Friedensmahnmal um. Am 20. August 1950 enthüllten sie in unmittelbarer Nähe einen Gedenkstein mit folgender Inschrift: „Deutsche Männer und Frauen bekennen sich anläßlich des 75jährigen Bestehens des Hermannsdenkmals einmütig zur Einigung der Völker durch den Frieden.“53 So zeitgemäß der Gedenksteintext war, so sehr fehlte ihm – genau wie der Kundgebung der Ostvertriebenen – jeder erkennbare Bezug zum Ort, an dem er enthüllt wurde. Letztlich waren beide Veranstaltungen Ausdruck der Ratlosigkeit, welche politische Botschaft sich nach der „Katastrophe des deutschen Nationalstaats“ (Friedrich Meinecke) mit dem Hermannsdenkmal künftig verbinden lasse. Die Besucher des Monuments im Teutoburger Wald focht diese Identitätskrise des Hermann offenbar nicht an: Nicht weniger als 310.000 „Besteiger“ zählte man 1950, gar 395.000 im Jahr 1968; und da die meisten anreisenden Touristen das Denkmal nicht bestiegen, sondern nur von unten besichtigten, dürfte die Gesamtzahl der Besucher sogar vier bis fünf mal so hoch gewesen sein.54 Andererseits ist es wohl mehr als ein Zufall, dass die Zahl der „Hermannspilger“ schon im Jahr nach dem Rekord von 1968 deutlich zurückging und danach nie wieder – auch nicht im Vereinigungsjahr 1990, dass noch einmal einen starken Besucheransturm brachte – die hohen Werte der 1950er und 1960er Jahre erreichte.55 Mehr als ein Zufall insofern, als der mit dem Schlagwort „1968“ umschriebene tiefgreifende Gesellschaftswandel auch für das öffentliche Geschichtsbewusstsein der Bundesrepublik einen deutlichen Bruch markierte. Mit der Reflexion der Verbrechen des „Dritten Reiches“ und der Durchsetzung des Gedankens einer in einer gemeinsamen abendländischen Tradition wurzelnden europäischen Einigung setzte auch im Hinblick auf die Varus-Schlacht ein Umdeutungsprozess ein. Der Sieg Hermanns wurde jetzt erstmals nicht mehr einhellig als positiv für die deutsche Geschichte gedeutet: Im Zuge der kritischen Frage nach den tieferen Ursachen für Nationalsozialismus und Krieg begannen viele in ihm einen „Fehlschlag der römischen Zivilisierung Europas“ zu sehen, „den Beginn eines deutschen kulturellen und politischen Sonderwegs, der bis in die Gegenwart führt“.56 So verlor der Cheruskerfürst nach und nach seinen Status als nationaler Mythos; und heute trägt auch das ihm zu Ehren errichtete Denkmal im Teutoburger Wald anachronistische Züge. Dies sehen freilich nicht alle so: So hieß es 1975 zum 100. Jubiläum des Her© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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mannsdenkmals in einem Aufsatz mit dem Titel „Leben und Bedeutung des Arminius“: „Mit dem Siege der Römer wäre unzweifelhaft auch eine Demoralisierung und die weit fortgeschrittene Dekadenz Roms in Germanien eingedrungen und hätte wertvolle Kräfte und Lebensformen zerstört und folkloristische Schöpfungen unmöglich gemacht. […] Die Erhaltung der im Volke gewachsenen Kulturwerte ist wesentlich Arminius zu verdanken, weil er durch die Vereitelung der Romanisierung die Voraussetzungen dafür geschaffen hat.“57 Bedenklicher als solche germanophilen Nachhutgefechte von Lokalhistorikern sind die bis in die Gegenwart zu beobachtenden Versuche rechtsradikaler Gruppierungen, das Hermannsdenkmal durch Kameradschaftstreffen von SSVeteranenverbänden, neonazistischen Sonnenwendfeiern oder die Darstellung in einschlägigen Publikationen als ein völkisches Monument zu definieren und zu instrumentalisieren.58 1975 stellte beispielsweise ein Flugblatt der NPD die Silhouette des Hermannsdenkmals vor eine schematische Karte des geteilten Deutschlands und beschwor die Arminius-Ideologie zur „ewigen Mahnung und Verpflichtung“.59 Und 1992 mißbrauchte die „Nationalistische Front, Bielefeld“ in einem Aufkleber einen schematisierten Hermann für die Parole: „Ausländer raus! Des Volkes Wille ist unser Auftrag“.60 Umgekehrt hat das Denkmal seine Symbolkraft offenbar auch für die radikale Linke nicht eingebüßt: Jedenfalls findet sich im Internet unter „www.trend. partisan.net“ ein Aufruf der „Jungen Linken gegen Kapital und Nation“ aus dem Jahr 2000, der unter dem Motto „Den Mythos angreifen – die Sache treffen“ die lapidare – wenn auch wohl nicht ganz ernst gemeinte – Aussage enthält: „Das Hermannsdenkmal kann, muss und wird gesprengt werden“. Hermann wird darin als der „deutscheste aller Krieger […] im deutschesten aller Wälder“ bezeichnet, sein Denkmal als Ausfluss von Nationalismus, Antisemitismus, Kapitalismus, Rassismus und Sexismus hingestellt.61

8. Zum Hermannsdenkmal als „außerschulischer Lernort“ Obwohl aus Stein oder Metall, sind Denkmäler höchst lebendig gebliebene Zeugen der wechselhaften deutschen Geschichte und deren Deutung. Sie waren und sind Kristallisationspunkte öffentlicher Geschichtskultur und manifestieren deren Wandel.62 Das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald belegt dies eindrucksvoll. Seine Historie reflektiert nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Entstehungszeit im ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern auch die der folgenden Epochen, die seinen Symbolgehalt jeweils gemäß ihren eigenen politischen Vorstellungen uminterpretierten. So überstand das Monument zu Ehren des Siegers der Varusschlacht das Kaiserreich, zwei Weltkriege, den Nationalsozialismus und auch die Deutsche Teilung. Gerade seine bis heute anhaltende Vereinnahmung © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Aufkleber der Nationalistischen Front, Bielefeld

durch rechtsradikale Gruppen und Kreise macht es zu einem lohnenden Gegenstand historisch-politischer Bildung. Dabei ist die Nutzung des Denkmals als „außerschulischer Lernort“ alles andere als neu. Generationen von Schülerinnen und Schülern aus der näheren und ferneren Region pilgerten in den letzten 125 Jahren mehr oder minder freiwillig „zum Hermann“. Dass eine solche Ex- kursion im Rahmen von Bildungsarbeit nur Sinn macht, wenn sie pädagogisch begleitet und in den methodischen Gesamtzusammenhang einer Unterrichtsreihe oder eines außerschulischen Seminars eingebettet wird, versteht sich (hoffentlich) von selbst.63 Für eine solche Einbettung bieten das Denkmal und seine Geschichte, wie dieser Aufsatz zeigen sollte, mannigfache Anknüpfungspunkte.

Methodisch bieten sich eine ganze Reihe von Zugangsweisen an: 1. Arbeit mit Text- und Bildquellen Denkbar ist z.B., die Schüler/-innen bzw. Seminarteilnehmer/-innen mit Hilfe des reichhaltig vorhandenen anschaulichen Bild- und Textmaterials die sich wandelnden Deutungsmuster des Hermannsmythos von der Grundsteinlegung des Denkmals im 19. Jahrhundert bis heute herausarbeiten zu lassen. Besonders gut geeignet dafür sind neben Fotos und Karikaturen auch die literarischen Verarbeitungen des Stoffs von Kleist bis Heine und nicht zuletzt das wohl schon um 1848 entstandene – nach der Denkmalsvollendung ergänzte – humoristische Lied „Als die Römer frech geworden“, das über 100 Jahre hinweg zu den populärsten deutschen Volksliedern zählte.“64

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2. Internetrecherche Zwar sind der Cherusker und sein Denkmal im Internet weit weniger Gegenstand unterschiedlicher Deutungen und Vereinnahmungen als beispielsweise die nahe gelegenen Externsteine. Trotzdem finden sich inzwischen auch zu Hermann eine Reihe von Links, die seine touristische Bedeutung in den Blick rücken, sich wissenschaftlich mit ihm auseinandersetzen, ihn germanenkultisch vereinnahmen oder auch – siehe das oben zitierte Beispiel der „Jungen Linken“ – als „Feindbild“ instrumentalisieren. Eine Netzrecherche kann deshalb einen unmittelbaren Eindruck der fortdauernden Gegenwartsrelevanz des Denkmals vermitteln. Unverzichtbar ist dabei natürlich, die entdeckten Seiten dokumentieren zu lassen und gemeinsam hinsichtlich ihrer Urheber, ihrer Qualität und ihrer Relevanz zu diskutieren.65 3. Denkmalserkundung vor Ort Am Denkmal selbst eröffnen sich vielfältige Ansätze für entdeckende Aufgabenstellungen. So kann man die Teilnehmenden gezielt Lage, Form, Bestandteile und Inschriften des Monuments erkunden lassen. Mögliche Fragen sind z.B.: – Was könnte Ernst von Bandel veranlasst haben, das Denkmal an dieser Stelle zu errichten, obwohl es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass hier tatsächlich die Varusschlacht stattgefunden hat? – In welche Himmelsrichtung hebt Hermann sein Schwert? Warum wohl? – Worauf tritt Hermann mit seinem linken Fuß, und was soll das symbolisieren? – Findet heraus, welche Inschrift das Schwert trägt. Wie waren diese Worte im Jahr 1875 zu verstehen? – Wie lautet und was bedeutet die Inschrift unter dem Relief des Kaisers Wilhelm I.? – Seht euch das Gesicht Hermanns genau an. Entspricht es euren Vorstellungen von einem „Germanen“ oder an wen oder was erinnert es euch sonst? – In unmittelbarer Nähe des Hermannsdenkmals befindet sich ein Gedenkstein, der 1950 enthüllt wurde. Wie lautet die Inschrift dieses Steins und was könnte die Stifter bewogen haben, ihn in diesem Jahr an dieser Stelle aufzustellen? 4. Aktuelle Befragung Angesichts der großen Bekanntheit des Hermannsdenkmals jedenfalls in der älteren Generation kann es durchaus lohnend sein, eine Umfrage auf der Straße oder unter Eltern und Bekannten durchführen zu lassen, die beispielsweise den Kenntnisstand hinsichtlich des Hermannsmythos ermittelt oder die Befragten um eine wertende Aussage zu dessen Bedeutung für die deutsche Nation bzw. den heutigen Sinn eines solchen Denkmals bittet.

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5. Ein alternatives Denkmal Ein Transfer in die Gegenwart lässt sich auch erreichen, wenn man im Anschluss an die Beschäftigung mit der Geschichte des Hermannsdenkmals zu einer aktivkreativen Auseinandersetzung mit dem Monument anregt. Beispielsweise kann man die Teilnehmer um Vorschläge für einen zeitgemäßen Neuentwurf eines deutschen Nationaldenkmals bitten, am besten in Kleingruppenarbeit, deren Ergebnisse man dann wechselseitig vorstellen lässt. So bietet der außerschulische Lernort Hermannsdenkmal alles in allem beachtliche Möglichkeiten für eine gleichermaßen gegenwarts- wie teilnehmerorientierte Auseinandersetzung mit der Geschichte deutschen Nationalbewusstseins und deutscher Identitätssuche im 19. und 20. Jahrhundert. Also auf nach Detmold …

Anmerkungen 1 Heinrich Heine: Deutschland ein Wintermärchen. 1844. 2 Hermann Kesting: Leben und Bedeutung des Arminius. In: Walter Stölting (Red.): 18751975. 100 Jahre Hermannsdenkmal. Detmold 1975, 15-32. 3 Zit. nach ebd. 32. 4 Vgl. Ernst Anemüller: Die Hermannsschlacht in der deutschen Literatur. In: R. von Wahlert (Hrsg.): 50 Jahre Hermannsdenkmal. Amtliche Festschrift. Detmold 1925, 56-59. 5 Hagen Schulze: Kleine deutsche Geschichte. München 1996, 9. 6 Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1995, 31. 7 Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbilder. Zeitdeutung und Zukunftsperspektive. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51-52, 2002. 8 Ch. Tacke: A. a. O. 35. 9 Vgl. dazu Karl Filser: „Wenn die Vergangenheit sich nicht fügt ...“ Nationale Mythen im Geschichtsunterricht. In: Jahrbuch 2001 der Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik, 23-45. 10 Vgl. dazu grundlegend Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 206 (1968), 529-585. 11 Anne Roerkohl: Das Hermannsdenkmal. Münster 1992, 5. 12 Vgl. Burkhard Meier: Das Hermannsdenkmal und Ernst von Bandel. Zum zweihundertsten Geburtstag des Erbauers. Detmold 2000. 13 Vgl. ebd. 57; Georg Nockemann (Hrsg.): Hermannsdenkmal. Lemgo ²1984, 8. 14 Vgl. B. Meier: A. a. O. 57 f. 15 A. Roerkohl, 6. 16 Zit. nach ebd. 8. 17 G. Nockemann: A. a. O. 12. 18 Vgl. B. Meier: A. a. O. 96. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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19 G. Nockemann: A. a. O. 16. 20 Ulrich von Motz: Das Hermannsdenkmal und die Schlacht im Teutoburger Wald. Detmold 121974, 4. 21 Ch. Tacke: A. a. O. 66, 219. 22 Georg Nockemann: Einweihungs- und Jubiläumsfeiern 1875, 1909, 1925 und 1950. In: W. Stölting: A. a. O. 45-65, 52. 23 Diese und alle anderen Inschriften am Hermannsdenkmal sind wiedergegeben in: W. Stölting: A. a. O. 98 f. 24 Ebd. 98. 25 Ebd., 99. 26 Ch. Tacke: A. a. O. 31 f. 27 G. Nockemann: Einweihungs- und Jubiläumsfeiern, 70. 28 A. Roerkohl: A. a. O. 6. 29 Abgedruckt in A. Roerkohl: A. a. O. 22; vgl. auch Ch. Tacke: A. a. O. 217. 30 Vgl. Ch. Tacke: A. a. O. 39 und Peter Böhning: Hermannsdenkmal. Bielefeld 1992, 52. 31 Zitiert nach Ch. Tacke: A. a. O. 231; vgl. ebd. 229-244. 32 Ch. Tacke: A. a. O. 235 f. Die Zitate im Zitat stammen aus zeitgenössischen Presseberichten. Vgl. auch A. Roerkohl: A. a. O. 26 f., und P. Böhning: A. a. O. 54-56. 33 Ch. Tacke: A. a. O. 236. 34 Junkers Rede ist abgedruckt in: P. Böhning: A. a. O. 57 f. 35 So Reichskanzler Luther. Sein Grußwort ist abgedruckt in: R. von Wahlert: A. a. O. 8. 36 Ebd. 7. 37 Ebd. 11. 38 Ebd. 15. 39 Vgl. Theodor Helmert-Corvey: Nationalsozialismus – Wahl in Lippe. Münster 1984. 40 Ebd. 8. 41 Das Plakat ist abgedruckt bei Th. Helmert-Corvey: A. a. O. 13. 42 Das Plakat ist abgedruckt ebd. 15 und bei A. Roerkohl: A. a. O. 29. 43 Zit. nach A. Roerkohl: A. a. O. 29. 44 Zit. nach Th. Helmert-Corvey: A. a. O. 5; vgl. ebd. 24-29. 45 Zit. nach G. Nockemann: Einweihungs- und Jubiläumsfeiern, 68. 46 Erschienen in der Zeitschrift „Westfalen im Bild“, Nr. 4, 1937, abgedruckt in Böhning: A. a. O. 73. 47 So Josef Bergenthal 1938, zit. bei Th. Helmert-Corvey, 53. 48 Th. Helmert-Corvey: A. a. O. 31 f. 49 Vgl. Walter Stölting: Hermannsdenkmal – überregionales Ausflugsziel, Besucherzahlen. In: W. Stölting: A. a. O. 67-73, hier 68. 50 G. Nockermann: Einweihungs- und Jubiläumsfeiern, 64. 51 Abgedruckt ebd. 13. 52 Vgl. G. Nockermann: A. a. O. Einweihungs- und Jubiläumsfeiern, 64. 53 Zit. nach Ch. Tacke: A. a. O. 203. 54 Zahlen nach W. Stölting: A. a. O. 70-72. 55 Vgl. die Zahlen ebd. und A. Roerkohl: A. a. O. 34. 56 W. Schulze: A. a. O. 9. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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H. Kesting: A. a. O. 30. Ch. Tacke: A. a. O. 203 Zit. nach A. Roerkohl: A. a. O. 30. Abgebildet in A. Roerkohl: A. a. O. 29. www.trend.partisan.net/trd0200/t070200.html. Vgl. Hans-Dieter Schmid: Den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung. Denkmäler als Quellen der Geschichtskultur. In: Praxis Geschichte 6/2003, 4-10. 63 Vgl. Siegfried Grillmeyer: Identität als Kategorie (Manuskript). 64 Das Lied endet mit der Strophe: „Und zu Ehren der Geschichten tat ein Denkmal man errichten. Deutschlands Kraft und Einigkeit verkündet es jetzt weit und breit. Mögen sie nur kommen.“ Zur Entstehung des Lieds vgl. A. Roerkohl: A. a. O. 13 f. Vollständig abgedruckt ist es in: Stölting: A. a. O. 118 f. 65 Vgl. Klaus Fieberg: Nationaldenkmäler im Netz. In: Praxis Geschichte 6/2003, 42-46.

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Dresdner Häuser – Dresdner Parlamente Parlamentariertypen, Fassaden und Sitzordnungen

Historischer Werdegang Dresden ist in Deutschland der einzige Ort, der drei Parlamentsgebäude besitzt, die von drei Landtagen unterschiedlichen Typs errichtet wurden: Das Landhaus (heutiges Stadtmuseum) errichtete im Auftrag der kursächsischen Ständeversammlung der Hofbaumeister Friedrich August Krubsacius. Dieses Gebäude im Stil des frühen Klassizismus wurde im Jahre 1775 fertiggestellt. Als es für die wachsenden Anforderungen des Parlamentsbetriebes zu klein geworden war, entstand von 1901 bis 1907 nach Plänen des Architekten Paul Wallot, der kurz zuvor den Berliner Reichstag entworfen hatte, an der Brühlschen Terrasse das Dresdner Ständehaus. Es trägt diesen Namen, weil für das konstitutionelle Parlament im Königreich Sachsen die frühneuzeitliche Bezeichnung „Ständeversammlung“ beibehalten wurde. Das Ständehaus diente dem sächsischen Landtag bis zum Ende der Weimarer Republik als Tagungsstätte. Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg während der Jahre 1946

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bis 1952 ein sächsisches Landesparlament in Dresden konstituierte, blieb dieser Landtag wegen der Zerstörungen im Stadtzentrum auf ein Ausweichquartier verwiesen. Er trat im ehemaligen Soldatenheim auf der Königsbrücker Straße, dem heutigen Gebäude des Goethe-Instituts, zusammen. Nach der deutschen Vereinigung nutzte der Sächsische Landtag von 1990 bis 1993 als Interimslösung die Dresdner Dreikönigskirche für seine Zusammenkünfte. Das Parlament hat inzwischen einen eigenen Gebäudekomplex bezogen. Der heutige Landtag besteht aus einem Altbauteil, der in den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden ist, und aus einem Neubau, der 1994 eingeweiht wurde. Die Sanierung des Altbauteils dauerte bis 1997.

Bauliche Zeugnisse als Spiegel des Wandels von Institutionen Die überraschende Situation, dass ausgerechnet die 1945 zerstörte Dresdner Altstadt drei Landtagsgebäude aufweist, die auch noch von drei Parlamenten unterschiedlichen Typs gebaut wurden, eröffnet nicht nur einzigartige Vergleichsmöglichkeiten, die etwa Berlin oder Bonn so nicht aufweisen können, sondern bietet auch die Chance, bauliche Zeugnisse mit dem historischen Wandel der Institutionen zu korrelieren. Weil Parlamente zentrale Einrichtungen einer Gesellschaft sind, besitzt die Veränderung der Landtage auch Aussagekraft für Transformationen des gesamten Sozialwesens. Repräsentative Versammlungen tragen die Charakteristika ihrer Zeit an sich und verändern diese nur langsam, und immer ist der Wandel gut dokumentiert. Als Institutionen, die ihre grundlegenden Usancen nur durch Gesetzgebung – d.h. mit hohem Konsens – ändern, eignen sie sich deshalb besonders als Indikator für einen tiefgreifenden sozialen Wandel. Brisanz erhält dieser Befund dann, wenn man zugrundelegt, dass soziale Ordnungen wesentlich durch Selbstsymbolisierung stabilisiert werden. Oder soziologisch formuliert: In den Einheiten der politischen Gesamtstruktur, in denen das kulturell geformte Selbstbildnis einer Gruppe geschaffen oder aufrechterhalten wird, finden zentrale Stabilisierungsleistungen einer Gesellschaft statt. Auch Architektur kann die Selbstbeschreibung von Personen und Organisationen verfestigen, die im Namen der Gesellschaft handeln. Die ästhetische Form eines Gebäudes dient dann dazu, historische Zufälligkeit und gesellschaftliche Komplexität auszudeuten und stabil zu halten. Auf diese Weise werden Vergemeinschaftungsprozesse visuell gespiegelt, sinnlich wahrnehmbar und instrumentalisiert, um für eine Ordnung Geltungsansprüche zu erheben. Demnach wären die Dresdner Landtagsgebäude gebaute Zeugnisse parlamentarischen Selbstverständnisses, das sich kontinuieren möchte. Soweit Parlamente den Zustand der zeitgenössischen Gesellschaft spiegeln, lassen sie sich zudem als Indikatoren für deren Selbstverständnis heranziehen. Neben den Bauten reflektieren auch die formalen parlamentarischen Abläufe und die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Positionierungen von Landtagsmitgliedern in Gebäudeteilen oder Sitzungssälen gesellschaftliches Selbstverständnis. Aus diesem Inszenierungsrepertoire, das je nach Typus eines Parlaments unterschiedlich ausfällt, werden im Folgenden die Fassaden der Landtagsgebäude, die Positionierung der Tagungsräume im Gebäude und die Sitzordnungen in den Verhandlungssälen analysiert.

Unterschiedlichen Typen von Parlamentariern Als Voraussetzung, um die Formensprache zu verstehen, müssen zunächst jedoch die unterschiedlichen Typen von Parlamentariern erläutert werden, die im Laufe der letzten drei Jahrhunderte sich zu sächsischen Landtagen konstituierten. Dies lässt sich anhand von zentralen Kriterien so umreißen. In der kursächsischen Ständeversammlung saßen diejenigen, die eine so starke gesellschaftliche Position einnahmen, dass diese ihnen ohnehin Mitherrschaft gestattet. Das waren am Ende der Frühen Neuzeit die Bürgermeister aus etwa der Hälfte der sächsischen Städte, die Spitzenvertreter der adeligen Rittergutsbesitzer und einige Prälaten und Hochadelige, die die Wettiner in ihren Machtbereich gezogen hatten. Als nach der Verfassung von 1831 der sächsische Landtag ein Zweikammerparlament wurde, legitimierte sich eine Gruppe von zwölf Parlamentariern durch Virilstimmen, d.h. sie wurden nicht gewählt, sondern erschienen in der Ersten Kammer, weil sie etwa eine hochadelige oder kirchliche Herrschaft vertraten. Alle übrigen Mitglieder des Ober- und Unterhauses wurden von unterschiedlichen Staatsbürgergruppen gewählt. Aber nicht nur die Wähler gehörten zu den gehobenen Schichten der Gesellschaft, sondern auch an die gesellschaftliche Position des Mandatsträgers stellte man Anforderungen. Die Parlamentarier mussten mit Grundeigentum im Lande ansässig sein und zur Gruppe der Hochbesteuerten gehören. Seit der Weimarer Republik und bis heute gibt es solche Einschränkungen für das aktive und passive Wahlrecht nicht mehr. Allerdings haben Politiker nur mit der Unterstützung einer politischen Partei eine realistische Chance, einen Landtagssitz zu erringen. Überschaut man die Veränderungen der letzten dreihundert Jahre, saßen zunächst die Kerngruppen der gesellschaftlichen Führungsschichten im Landtag. Seit der Verfassung von 1831 konstituierten sich die beiden Kammern aus Vertretern immer differenzierter gefasster gesellschaftlicher Gruppen, die nur z.T. durch Wahl, aber auch immer noch durch ihre soziale Stellung legitimiert waren. Die Vorauswahl der Abgeordneten durch Parteien löste im 20. Jahrhundert das bis dahin erforderliche Herkunftsprofil ab. Damit wandelte sich die Bindung der Parlamentarier an die gesellschaftlichen Gruppen. Die Landtagsmitglieder waren zunächst eine Versammlung der wesentlichen Herrschaftsträger unterhalb des Fürsten. Dann wurden sie zu einem Gremium von Männern, das verschieden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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definierte gesellschaftliche Gruppen repräsentierte und zu deren Führungsschicht die jeweiligen Deputierten selbst gehörten. Seit der Weimarer Republik wurden die Parlamentarier schließlich zu einer speziell sozialisierten Gruppe. Typischerweise sind sie heute durch ihre Parteien geformte Berufspolitiker und -politikerinnen.

Vergleich der Fassaden der drei Dresdner Parlamentsbauten Ein Blick auf die Fassaden der drei Dresdner Parlamentsbauten zeigt, dass symbolische Bezüge zwischen Institution und Bauwerk bestehen. Beim Landhaus aus dem Jahre 1775 unterscheiden sich die Stockwerke durch den Außenputz. Das Erdgeschoss und die zweite Etage sind durch Rustika als Unterbau gekennzeichnet. Hinter diesem „bäuerischen Werk“, wie man zeitgenössisch diese Fassadengestaltung nannte, befanden sich die landständische Steuerkasse und das Archiv. Das dritte und vierte Obergeschoss ist dagegen mit jonischen Pilastern verziert. Auf diesen Ebenen tagten die Gremien der frühneuzeitlichen Ständeversammlung. Diese beiden edler geschmückten Etagen unterschieden sich noch einmal erheblich in der Raumhöhe. In den höheren und damit auch besser klimatisierten Räumen des dritten Obergeschosses traten die adeligen Corpora zusammen, während die Vertreter der sächsischen Städte sich im vierten, weniger noblen Stockwerk trafen. Die Nutzung im Innern und die außen bezeichnete Würde der Bauteile entsprachen daher einander und bildeten gleichsam die soziale Hierarchie einer Ständegesellschaft ab. Das Dresdner Ständehaus vom Beginn des 20. Jahrhunderts beherbergte hinter seiner ausgeprägtesten Fassade zum Schlossplatz hin die Erste Kammer des konstitutionellen Landtages. Wie in Berlin ein Denkmal des Reichsgründers Bismarck in Uniform vor dem Haupteingang des Reichstages aufgestellt war, stand vor dem Hauptportal des Dresdner Ständehauses (bis in die 1940er Jahre) eine Reiterstatue des sächsischen Königs Albert in der Uniform des preußischen Feldmarschalls. Diese Würde hatte Albert als Kronprinz im Jahre 1870 während des Deutsch-französischen Krieges aufgrund eines Sieges bei St. Privat erlangt. In der Fassade hinter der Plastik des Heerführers und Herrschers ist der Mittelrisalit triumphbogenartig ausgebildet. Dieses Ensemble thematisiert den Mythos vom Deutschen Reich, das im Krieg gegen Frankreich erstritten wurde und symbolisiert das Aufgehen Sachsens im Kaiserreich. Eine Bestätigung dieser Deutung liefern auch die beiden Türflügel des Hauptportals. Sie sind von Eichenlaub-Gehänge gerahmt und zeigen in je vier übereinanderliegenden Füllungen Eisenreliefs, die als umkränzte Burg oder Krone und Zepter geformt sind. Im Oberlicht des Portals befindet sich ein Eisengitter, das einen Reichsadler darstellt, der das sächsische Wappen umfasst. In der zeitgenössischen Ikonographie verwiesen Eichenlaub, Mauerkrone und Reichsadler auf das © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Landhaus Dresden

Deutsche Kaiserreich. Der Haupteingang zum Landtag symbolisiert daher ebenfalls die Einbindung des Königsreiches Sachsen in das Deutsche Kaiserreich. Das Portal selbst ist seitlich jeweils von zwei toskanischen Säulen eingefasst, über denen auf dem Architrav je eine überlebensgroße Sandsteinfigur steht. Diese Figuren vor dem Piano nobile des Gebäudes stehen für die Tugenden eines guten Parlaments (von links nach rechts): Weisheit, Gesetz, Gerechtigkeit und Standhaftigkeit. Der Architrav ist in der Mitte durchbrochen von einem Bogen über der Tür, der in einem Maskenstein endet. Der Stein am Scheitelpunkt des Bogens zeigt einen Frauenkopf im Eichenlaub und deutet demnach wiederum auf die Einbindung der Saxonia ins Deutsche Reich. Über dem durchbrochenen Architrav des triumphbogenartigen Hauptportals befindet sich ein rechteckiges Fenster, dessen Sturz mit einem antikisierenden Helm und einem dahinter querliegenden Schwert verziert ist. Ein „A“ unterhalb des Helms dürfte sich auf den Feldherrn Albert von Sachsen beziehen. Auf gleicher Höhe mit dem Helm sind außerhalb des Mittelrisalits jeweils über dem mittleren Fenster jedes Gebäudeflügels links ein „A“ und rechts ein „G“ für die Könige Albert und Georg angebracht. Diese Könige befehligten als Prinzen die sächsischen Truppen im Deutsch-französischen Krieg 1870/71. Oberhalb des dritten Stockwerkes läuft der Mittelrisalit in einen Giebel aus, dessen Zentrum das Wappen des Königshauses zeigt. Es wird von zwei Löwen gehalten. Der Löwe ist nicht nur Sinnbild königlicher Macht, er war auch das © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Wappentier der Mark Meißen. Seitlich läuft der Giebel in zwei Figurengruppen aus, die auf der linken Seite die Landwirtschaft und auf der rechten die Wehrkraft versinnbildlichen. Für das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts industrialisierte Sachsen verwundert die Hervorhebung der Landwirtschaft; ebenso lässt sich die starke Betonung des Kriegerischen nicht recht mit dem Verlauf der neuzeitlichen Geschichte Sachsens vereinbaren. Allerdings hatte die sächsische Armee im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg einen Umfang erlangt, wie sie ihn vor ihrem Anschluss an Preußens Militär bei weitem nicht besaß. Dennoch, beide Figurengruppen spiegeln eher eine romantische Reminiszenz der Zeit wider als die Realität. Über dem Wappen der Wettiner tragen drei nackte Knaben die sächsische Fahne. Die Jugend steht für die Zukunft des Landes. Das Figurenprogramm der Schlossplatzfassade des Ständehauses thematisiert Sachsen, seine tatsächlichen oder ihm zugewiesenen Eigenschaften, seine Verbindung zum Herrscherhaus und seine Einbindung ins Kaiserreich. Der hier propagierte Weg aus „Blut und Eisen“, auf dem der König Albert sein Land in das Deutsche Reich führte, überdeckt, dass Sachsen 1866 nach der gemeinsam mit Österreich verlorenen Schlacht von Königgrätz dem von Preußen dominierten Norddeutschen Bund beitreten musste. Die Reichsgründung eignete sich besser zur historischen Identifikation mit dem deutsch-borussischen Kaiserreich als der nur fünf Jahre ältere Deutsch-deutsche Krieg. Auch das Figurenprogramm des Berliner Reichstages bediente sich der Glorie von 1870/71. Die Ausrichtung des Gebäudes auf die Siegessäule und der in Uniform vorangestellte Bismarck deuteten ebenso auf die Entstehung des Kaiserreiches durch den Deutsch-Französischen Krieg hin wie das Wappen des Reiches im Zentralbereich des Giebels über dem Haupteingang, das von zwei Kriegern umrahmt wurde. Schließlich lässt sich das gesamte Bildprogramm des Reichstages als Zusammenströmen der deutschen Stämme verstehen. Die Schlossplatzfassade des Dresdner Ständehauses erscheint in diesem Kontext als Teil einer Gesamtkonzeption: König Albert zieht mit seinen Sachsen über das Schlachtfeld Frankreich ins Deutsche Reich. Hinter dieser zeichenhaften Fassade befanden sich die Räume der Ersten Kammer des Sächsischen Landtages. Gleichzeitig musste sich das Unterhaus des Parlaments mit der schlichten Rückseite des Gebäudes zur Brühlschen Gasse hin begnügen. Zudem rückte an der Elbfassade der Turm als Zeichen der Würde in den Gebäudeteil, in dem sich das Oberhaus befand, während sich vor dem Bereich, der die Zweite Kammer beherbergte, lediglich ein kleiner Risalit mit sächsischem Staatswappen befand. Obwohl die beiden Häuser des konstitutionellen Parlaments nicht mehr so eindeutig gesellschaftlichen Gruppen zuzuordnen waren, wie das noch bei der frühneuzeitliche Ständeversammlung möglich war, blieb ein Unterschied der Würde erhalten, der nicht zufällig, sondern nach dem Willen der Parlamentarier mit der Pracht der Außenfassaden des Gebäudes korrespondierte. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Demgegenüber verweist das heutige Landtagsgebäude nicht mehr auf soziale Rangunterschiede. Die gläsernen Wände des Foyers und des Plenarsaales symbolisieren eine Transparenz, die auch die Institution erreichen sollte. Eine von außen sichtbare kreisrunde Sitzordnung der Parlamentarier und der Regierung verweisen auf die beabsichtigte Grundgemeinsamkeit der Bestrebungen. Der grüne Steinfußboden des Eingangs reicht bis auf den Vorplatz und zeigt damit an, dass der Besucher eingeladen ist, einzutreten. Wie die Parteien im Parlament präsentiert sich das Gebäude für möglichst alle Bürger und Bürgerinnen als offen, es zeigt sich als allgemein zugängliches Gesprächsforum für die zentralen gesellschaftlichen Debatten.

Die Sitzordnungen der unterschiedlichen Parlamentstypen Die Zeichenhaftigkeit der Dresdner Landtagsgebäude bleibt aber in allen drei Fällen gebrochen durch die ästhetischen Ausdrucksmittel der jeweiligen Zeit und durch die städtebauliche Situation, in die die Bauten eingebettet sind. Ein von derartigen Konstellationen weniger beeinflusster Bereich der Selbstsymbolisierung sind die Sitzordnungen der unterschiedlichen Parlamentstypen. Die Ständeversammlung der Frühen Neuzeit etwa unterteilte sich in drei Corpora, die jeweils die Besonderheit ihres eigenen Standes im Arrangement ihrer Platzierung zum Ausdruck brachten. Im Corpus der Prälaten, Grafen und Herren fanden sich die Hochadeligen ein, die einst nur den deutschen König als weltlichen Herrn über sich hatten und die später die Wettiner als Zwischengewalt akzeptieren mussten. Diese mediatisierten Herren und hohen Geistlichen betonten in ihrer Sitzordnung aber weiterhin ihren vormaligen Rang. Das führte zu einer Sitzordnung, in der sich noch die mittelalterliche Heerschildordnung bzw. die politische Konstellation des vorreformatorischen Sachsen erkennen lässt. Denn die Nachfolger der einstmals geistlichen Fürsten saßen vor den weltlichen Herren, und innerhalb des weltlichen Hochadels die Fürsten vor den Grafen und diese vor den Herren ohne Titel. Die Universitäten Leipzig und Wittenberg beanspruchten auch den Prälatenstatus für sich. Da die übrigen Hochadeligen sie aber an ihrer Tafel nicht zuließen, blieben die Hochschulen von der symbolische Hierarchie des Ersten Corpus eher ausgeschlossen als in sie eingegliedert. Anders als der hohe Adel platzierte sich der niedere Adel in den verschiedenen Gremien der Ritterschaft nach dem Prinzip der Gleichrangigkeit. An der Tafel der ritterschaftlichen Ausschüsse rückte der neu Aufgenommene vom Ende des Tisches immer dann weiter nach oben, wenn dort ein Sitz vakant wurde. Durch diese Sitzordnung wird die Erfahrung einer Person mit den Landtagsgeschäften in den Vordergrund gerückt. Obwohl es einen Verteilungsschlüssel für die sieben sächsischen Kreise gab, aus denen die einzelnen Ausschussmitglieder kamen, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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wurde diese räumliche Repräsentanz nicht sichtbar gemacht. Denn der Ausschuss gliederte sich nicht regional nach den Kreisen, die die Delegierten zu vertreten hatten, sondern nach Anciennität. Deshalb betont das Arrangement die persönliche Qualität des jeweiligen Adeligen als Gleicher unter Gleichen. Ein Mitglied des Engeren Ausschusses der Ritterschaft etwa erschien somit in erster Linie auf dem Landtag wegen seines Rittergutes und wegen seiner persönlichen Qualität (nämlich der Stiftsfähigkeit und des evangelisch-lutherischen Glaubens). Der städtische Deputierte hingegen blieb immer als Abgesandter seiner Stadt kenntlich. Denn er nahm ihren Platz in der Rangordnung der Städte ein. Eine Person, die ein Amt einnimmt, legitimiert sich nicht durch ihre persönliche Qualität, sondern durch ihren Auftraggeber. Ihm gegenüber hat sie sich qualifiziert. Die drei Corpora der Ständeversammlung tagten getrennt. Schon das zeigt ihre Differenz. Die Sitzordnungen der Prälaten, Grafen und Herren, der Ritterschaft und der Städte verweisen aber auch auf die jeweils andere innere Struktur der Gruppen. Die mediatisierten Standesherren beachteten die unterschiedliche hohe Ehre ihrer einstigen Position im Reich. Die Platzverteilung an der Tafel der stiftsfähigen lutherischen Rittergutsbesitzer symbolisiert die prinzipielle Gleichheit dieser Kerngruppe des niederen sächsischen Adels. Die Städte konservierten eine überkommene Rangliste ihrer Bedeutung. Die Sitzordnung des Zweikammerparlaments nahm in der Ersten Kammer noch bei zwölf Mitgliedern Rücksicht auf die tradierten Usancen seines vormodernen Vorläufers. Nach dem Kammerdirektorium rangierten an erster Stelle die volljährigen Prinzen des königlichen Hauses, die seit der Verfassung von 1831 neu in den Landtag eintraten. Ihnen folgte der Bevollmächtigte des Hochstifts Meißen, der auch schon nach der Heerschildordnung des Mittelalters als ehemals geistlicher Fürst vor den weltlichen Standesherren rangierte. Innerhalb der weltlichen Herren gingen die gefürsteten Grafen Solms Wildenfels dem Deputierten der Grafen und Herrn von Schönburg voran. Diesem Sitz, der die ehemals reichsunmittelbare Rezessherrschaft Schönburg repräsentierte, folgte die Universität Leipzig als ehemals nicht ganz anerkannter Prälat, wie sie auch vormals im Ersten Corpus der Landstände schon dem weltlichen Standesherrn nachgeordnet war. Aus dem Zweiten Corpus des Vorgängerparlaments schlossen sich die Vertreter der Standesherrschaften Königsbrück und Reibersdorf an, denen seit 1817 im Engeren Ausschuss der Ritterschaft Sitze an der Spitze der ersten Tafel reserviert worden waren. Hinter ihnen saß der evangelische Oberhofprediger, der sich als Neuling zwischen die Oberlausitzer Standesherrn und den Bevollmächtigte des Domstifts Bautzen schob. Denn dem Domdekan von St. Petri hatte im Engeren Ausschuss der Ritterschaft ein reservierter Sitz gleich nach Königsbrück und Reibersdorf zugestanden. Danach rückte wieder ein bislang unplatzierter Geistlicher ein, der Superintendent von Leipzig. Als letzter aus dem ehemaligen Engeren Ausschuss © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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der Ritterschaft folgte der Bevollmächtigte des Kollegiatstifts Wurzen. Ihm war vormals nicht die besondere Ehre konzediert worden, einen festen Platz einzunehmen, sondern er rückte wie das Gros nach der Dauer seine Zugehörigkeit an der Tafel des Gremiums von unten nach oben. Als letzter bevorzugt Positionierter der Ersten Kammer des konstitutionellen sächsischen Landtages saß ein weiterer Vertreter für die Besitzungen der Familie von Schönburg, diesmal wegen deren vier Lehnsherrschaften Penig, Remse, Rochsburg und Wechselburg. Für diesen Lehnbesitz aus der Hand der Wettiner hatten die Schönburger bis zum Jahre 1831 einen Abgesandten in den Weiteren Ausschuss der Ritterschaft entsandt. Die alte Differenz der beiden Schönburgischen Deputierten blieb daher auch weiterhin sichtbar. Insgesamt beachteten die mit Virilstimmrecht ausgestatteten Mitglieder der Ersten Kammer in ihrer Sitzordnung somit noch die Standesunterschiede der Frühen Neuzeit. Alle übrigen Abgeordneten der I. Kammer, ob sie nun Rittergüter oder Städte repräsentierten, saßen nach Losverfahren. Derselbe Verteilungsmodus galt für die Plätze der Zweiten Kammer. Hier gab es nur eine Ausnahme für das Direktorium des Hauses, das aus dem Präsidenten, seinem Vertreter und den sogenannten Sekretären bestand. Erst nach der Wahlrechtsänderung von 1868 wurde im sächsischen Unterhaus die Sitzverteilung nach Fraktionen üblich. Zuvor hatte die Platzvergabe eine Fraktionierung der Parlamentarier nach ihrer Legitimation oder nach einer Weltanschauung ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Konzepte, die im Parlament eine Vertretung der gesellschaftlich relevanten Interessen forderten, kann eine ausgeloste Sitzordnung aber offensichtlich nichts anderes versinnbildlichen als die Egalität der Vertretergruppen. Diese Gleichheit sollte jedoch nicht gesellschaftliche Unterschiede überdecken, sondern das gemeinsame Streben der differenten Parlamentarier für das Wohl der Gesamtheit symbolisieren. Der heutige Landtag gliedert sich im Sitzungssaal nach einem parteipolitischen Rechts-links-Spektrum, aus dem nur und gegen ihren Willen die PDS herausfällt. Sie ist zwischen CDU und SPD platziert. Innerhalb der Fraktionen nehmen die Vorstände und die Parlamentarischen Geschäftsführer die vorderen Reihen ein. Die CDU-Parlamentarier als größte Fraktion haben die ausgereifteste Disponierung im Raum ausgebildet. In der dritten Wahlperiode (1999-2004) z.B. saß der CDU-Fraktionsvorsitzende Fritz Hähle auf dem Mittelplatz in der ersten Reihe. Links neben ihm befand sich der Parlamentssitz des Ministerpräsidenten, rechts der des Parlamentarischen Geschäftsführers. Zu beiden Seiten schlossen sich die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden an. Auf der Seite zur Mitte hin waren die stellvertretende Landtagspräsidentin und der Landtagspräsident platziert. Auf der anderen Seite außen saß der Schatzmeister der Fraktion. In der zweiten Reihe nahmen die zwölf Arbeitskreisvorsitzenden, die zugleich politische Sprecher der Fraktion waren, ihren Platz ein. Alle übrigen Abgeordneten, die keine fraktions© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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interne Funktion innehatten, folgten ab der dritten Reihe einer Ordnung nach dem Alphabet ihrer Nachnahmen. Wenn eine solche innerfraktionelle Differenzierung auch zunächst aus praktischen Erwägungen erklärbar ist, weil die vorne Platzierten wegen ihres Amtes einen besonders hohen Anteil an den Debattenreden nehmen, so symbolisiert doch der Sitzplatz zugleich den Rang desjenigen Abgeordneten, der mit einer Funktion ausgestattetet ist. Die zeichenhafte Verteilung der Fraktionen im Plenarsaal verweist nicht nur darauf, dass die Parteien zentralen Einfluss auf das parlamentarische Geschehen nehmen und die Abgeordneten ihr Mandat nicht allein den Wählern und ihrer Persönlichkeit, sondern zugleich dem Mobilisierungsapparat der Parteien verdanken. Die Sitzordnung innerhalb der Fraktionen lässt auch deren Binnenhierarchie aufscheinen. Die vorderen Plätze sind denen vorbehalten, die sich in der internen Konkurrenz um Funktionen durchsetzen konnten. Am anderen Ende der Skala geht denen, die aus einer Fraktion ausscheiden, spätestens bei der nächsten Wahl die Anerkennung verloren, die eine Partei bei den Wählern genießt, und es fehlt ihnen, um erneut ein Mandat zu erringen, die materielle, sowie die institutionelle Schubkraft, die eine Partei im Wahlkampf einsetzen kann. Die Parteien haben sich in der politischen Konkurrenz des 19. Jahrhunderts als überlegenes Modell gegenüber den Honoratiorenpolitikern erwiesen. Sie sind auch heute besser in der Lage, ihre Deutungsmuster der Gesellschaft in den öffentlichen Diskurs einzubringen, als dies „Abweichlern“ oder etwa nicht parteigebundenen Intellektuellen möglich ist, die sich häufig mehr dem Wahrheitswert ihrer Ideen als deren Mobilisierungskraft verpflichtet sehen. Die Kritiker des Parteienparlamentarismus, wie etwa der Soziologe Pierre Bourdieu, beklagen, dass die Parteien weniger kluge Köpfe zu gewinnen trachten, als Posten an Pfründner vergeben und diese dann abhängiger von den Parteien als von den Wählern sind. Solche seit Jahrzehnten formulierten Einwände meinen, „die durchgängige Abhängigkeit des einzelnen Abgeordneten vom Parteiapparat“ bringe „oligarchische Führungsgruppen“ (Bourdieu) hervor, die mittels der Parteien dem Bürger seinen Status als Souverän entwinden. Deshalb läuft diese Argumentation letztlich auf die Behauptung hinaus, es ermangele in den Demokratien westeuropäischer Provenienz am „hinreichenden Ausdruck des Volkswillens durch die parlamentarische Repräsentation“ (Bourdieu). Derartige Analysen fokussieren allerdings so sehr die Position des einzelnen Parlamentariers und seine unmittelbare Rückkopplung an den Wähler, dass sie die Leistung des Parlaments und der Parteien zu negativ bewertet. Der Typus des Parteiparlamentariers repräsentiert nicht in erster Linie die Regionalität eines Wahlkreises, sondern die Perspektive seiner Partei auf die Gesellschaft. Die Parteien bieten in Konkurrenz zueinander flexible und änderbare Verknüpfungen von Problemlösungsangeboten. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Betrachtet man resümierend den Befund vor dem Hintergrund der sich wandelnden Partizipationschancen, dann musste sich das verschwiegene Kondominat der ohnehin Herrschenden, wie es die frühneuzeitliche Ständeversammlung praktizierte, seit dem 19. Jahrhundert, als die Gesellschaft ihre ständischen Schranken verlor, der Allgemeinheit öffnen. Als nämlich das Gros der führenden Mitglieder einer einflussreichen Sozialgruppierung nicht mehr persönlich im Parlament erschien, sondern nur noch deren Repräsentanten, musste denen, die nun zu Hause blieben, die Chance eingeräumt werden, das Agieren ihrer Repräsentanten im Zweikammerparlament zu beobachten. Aber in der konstitutionellen Monarchie stand die Vertretungskompetenz nur Mitgliedern aus Führungsschichten offen. Der Honoratiorenparlamentarismus fasziniert eben einerseits durch die Individualität der nicht parteigebundenen Landtagsmitglieder. Andererseits wird seine Einschränkung auf die Vermögenden aber darüber leicht übersehen. Zudem minderte die wachsende Vielfalt der Gesellschaft die Rückbindung der Abgeordneten an die von ihnen vertretenen Gruppen. Außerdem gelang es den einzelnen Honoratiorenpolitikern immer weniger, den zunehmend professionell organisierten Interessensvertretungen von Industrie, Kirche, Arbeiterschaft etc. standzuhalten. Eine ausdifferenzierte Gesellschaft, in der Lobbies ihren Einfluss geltend zu machen suchten, benötigte deshalb auch politische Organisationen, die Konzepte für die Gesamtheit entwarfen und durchsetzten. Dies übersteigt aber die Kräfte eines Individuums. Es verlangt politische Parteien. Entsprechend dieser skizzierten Entwicklung veränderten sich auch die Raumordungsarrangements in den Parlamentstypen von der Hierarchie der Stände über die egalitäre Individualität der konstitutionellen Kammermitglieder zum Proporz des heutigen Parteienparlaments. Der Zuschnitt der Landtage als Institutionen, die Symbolik der Sitzordnungen und die der Parlamentsgebäude entsprechen dabei einander in ihrem Wandel. Sie stehen allerdings wegen der Unterbrechungen während des Nationalsozialismus und in der DDR in Sachsen nicht in einer lückenlosen Kontinuität stetig zunehmender Pluralisierung. Zugangsvoraussetzungen zu Landtagen Legitimation durch: Ständeversammlung (1438-1831)

gesellschaftliche Stellung

Zweikammerparlament (1833-1918)

a) Wahl

heutiger Landtag (seit 1990)

a) Wahl

b) gesellschaftliche Stellung der Mandatsträger b) Nominierung der Parteien

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Didaktische Umsetzung Vorschlag für eine Exkursion: Die drei Dresdner Parlamentsgebäude können in einem Gang durch die Dresdner Innenstadt besichtigt werden. Ausgangspunkt sollte das älteste dieser Bauwerke, das frühneuzeitliche Dresdner Landhaus, sein. Hier lassen sich die beiden Fassaden an der Pirnaischen Gassse und auf der Wilsdruffer Straße besichtigen. Wenn man die Öffnungszeiten des Dresdner Stadtmuseums, das heute im Landhaus untergebracht ist, berücksichtigt, ist es zudem möglich, auch ohne Eintrittsgeld das schlossartige Treppenhaus im Innern des Gebäudes zu bestaunen. Die frühneuzeitlichen Landstände Sachsens tagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Den Zugang in den Arkanbereich ständischer Macht nahm man über eine imposante Treppe, die auch die Zeitgenossen hinter der Kanzleihausfassade zur Pirnaischen Gasse nicht vermutet hätten. Im Vergleich zur offenen Pracht fürstlicher Selbstinszenierung (Dresdner Schloss, Hofkirche, Zwinger etc.) blieb die eindrucksvolle Eleganz landständischer Architektur eher verborgen. Dieser Befund erweist sich grosso modo anschlussfähig an eine These von Herfried Münkler, wonach es unumgänglich ist, auf der Ebene der Ordnungsstiftung Visualisierungsstrategien der Macht anzuwenden, wenn die Macht auf der Ebene der Entscheidungsfindung unsichtbar bleibt. Anders formuliert: Wenn politische Entscheidungen in Arkanbereichen gefällt werden, Beschlüsse autoritär-herrschaftlichen Charakter haben und nicht vor den Augen der Öffentlichkeit sichtbar und plausibel gemacht werden, muss Ordnungsstiftung durch die Visualisierung der Repressionsmittel hergestellt werden. Der frühneuzeitliche Fürst muss daher Feste als „Staatsspektakel“ inszenieren, die Gewalt seiner Truppen zeigen oder auch imposante Architektur präsentieren. Abstrakt formuliert heißt das, er ist zu instrumenteller Visualisierung genötigt. Die sächsischen Landstände mussten dies mit ihrem Parlamentsbau offenbar nicht, da das schlossartige Treppenhaus des Dresdner Landhauses hinter einer wenig prachtvollen Fassade nicht darauf berechnet war, auf Untertanen zu wirken. – Die Öffentlichkeit und die Entscheidungsmacht der sächsischen Landtage war zu dem Zeitpunkt, als das Dresdner Ständehauses bzw. der bundesrepublikanische Landtag gebaut wurden, im Vergleich zum jeweils vorangegangen Parlamentstyp angestiegen. Deswegen erweiterten sich auch die Zugangsoptionen für die Bürgerinnen und Bürger. In der Architektur drückt sich dies besonders in den Treppenhäusern aus, die zu den Tribünen für die Parlamentsbeobachter führen. – Im Dresdner Landhaus mehr als das Treppenhaus zu besichtigen, erübrigt sich, da durch Umbauten des 20. Jahrhunderts ansonsten nicht einmal mehr die Raumstrukturen erhalten sind. Vom Landhaus aus kann der weitere Weg über den Neumarkt mit der Frauenkirche und die Brühlsche Terrasse genommen werden, an deren westlichen Ende das Ständehaus liegt. Es ist eingebettet in Architektur, die der fürstlichen Repräsentation diente, nämlich Schloss, Hofkirche, Sekundogenitur. Die Fassaden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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des Ständehauses mit ihrem Bildprogramm können besichtigt werden. Weil der Berliner Reichstag ebenfalls von Paul Wallot erbaut wurde, wären z.B. Vergleiche zum Bildprogramm dieses Parlamentsgebäudes möglich. Da das Dresdner Ständehaus heute u.a. das Oberlandesgericht beherbergt, ist an Werktagen auch der Zugang vom Schlossplatz offen, der in eine verblüffend sakrale Eingangshalle führt. Den Betrachter umfängt im Vergleich zum Landhaus ein wesentlich pathetischeres Ambiente, das zugleich herrschaftliche wie sakrale Empfindungen weckt. Es ruft die hohe Bedeutung des Landtages ins Bewusstsein. – Die Öffentlichkeit war im Parlament des konstitutionellen Königreichs Sachsen zwar zugelassen, Besucher von Plenardebatten betraten das Gebäude aber nicht über das Portal am Schlossplatz. Sie mussten über eine völlig unscheinbare Treppe hinter der schmucklosen Ostfassade an der Brühlschen Gasse ihren Weg zu den Zuhörertribünen nehmen. Dieser Zugang kann heute nicht mehr besichtigt werden. Die Raumstruktur im Innern des Dresdner Ständehauses ist mit Ausnahme des Sitzungssaales der ehemaligen Zweiten Kammer noch weithin erhalten. Allerdings ist die Inneneinrichtung beim Bombenangriff des Jahre 1945 weithin ausgebrannt. Lediglich der Repräsentationsraum des heutigen Landtagspräsidenten, der im dritten Obergeschoss der Nord-West-Ecke liegt und einen Blick auf die Elbe und auf die Hofkirche gestattet, konnte noch mit Mobiliar der ursprünglichen Einrichtung ausgestattet werden. Auf dem Gang vor dem Präsidentenzimmer befindet sich ein Erinnerungsort für die Landtagsgeschichte des Gebäudes. Dort zeigt eine Bildergalerie sämtliche sächsischen Kammer- und Landtagspräsidenten von 1833 bis 1952. Bei einer Innenbesichtigung des Dresdner Landhauses sollte man einen Blick vom Turm des Gebäudes aus nicht versäumen, der eine Aussicht weit über die Elbe und die Dresdner Neustadt gestattet. Der Weg zum heutigen Sächsischen Landtag kann zwischen Schloss und Hofkirche zum Theaterplatz (mit Semperoper, Italienischem Dörfchen, Schinkelwache) und durch den Zwinger führen. Wiederum geht man daher durch Architektur, die vorwiegend zur Repräsentation des sächsischen Herrscherhauses diente. Für den heutigen Landtag kann man ein Führung bei dessen Referat Öffentlichkeitsarbeit (Berhard-von-Lindenau-Platz 1, 01067 Dresden, Telefon: 0351/49350, E-mail: [email protected]) bestellen. Im Vergleich zu den beiden anderen Dresdner Parlamentsbauten ist beachtenswert, dass im Hauptzugang des Landtages, im sogenannten Bürgerforum, der zentrale Weg über eine Treppe zur Tribüne für die Zuhörer führt. Das Parlamentsgebäude ist somit in architektonischer Zeichenhaftigkeit vorrangig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wenn der Parlamentsbetrieb es gestattet, besteht auf Anfrage die Möglichkeit, in einem der Räume des Landtages eine Abschlussdiskussion der Exkursion durchzuführen. Material zur Geschichte der sächsischen Landtage kann kostenlos beim Sächsischen Landtag über dessen Referat Öffentlichkeitsarbeit bezogen werden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Literatur Bourdieu, Pierre: Die politische Repräsentation. In: Berliner Journal für Soziologie, 4/1991, 489515 Bredekamp, Horst: Ikonographie des Staates. Der Leviathan und seine neuesten Folgen. In: Leviathan 1/2001, 18-35. Cullen, Michael S. : Der Reichstag. Geschichte eines Monuments. Münsterschwarzach 1983. Denk, Andreas/Matzerath, Josef: Die drei Dresdner Parlamente. Die sächsischen Landtage und ihre Bauten: Indikatoren für die Entwicklung von der ständischen zur pluralisierten Gesellschaft. Wolfratshausen 2000. Döring, Herbert: Die Sitzordnung des Parlaments als Ausdruck unterschiedlicher Leitprinzipien von Demokratie. In: Andreas Dörner/Ludgera Vogt (Hrsg.): Sprache des Parlaments und Semiotik der Demokratie. Berlin 1995. Gauger, J.D./Stagl, J. (Hrsg.): Staatsrepräsentation. Berlin 1992. Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt/M. 1983. Manow, Philip: Symbolische Form und repräsentative Funktion. Eine kleine Geschichte parlamentarischer Sitzordnungen seit der französischen Revolution (zugleich eine Spekulation über das Nachleben des „politischen Körpers“ in der Moderne. http://www.mpi-fg-Koeln.mpg. de/people/pm/downloads. Stand: Juni 2004 Mergel, Thomas: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag. Düsseldorf 2003. Müller, Marion G.: Politische Liturgie der Parlamente. Zeremonialstrukturen im Vergleich: britisches Parlament, US-Kongress, Deutscher Bundestag, Assemblée Nationale und Europäisches Parlament. Hamburg 2003. Münkler, Herfried: Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung. In: Gerhard Göhler (Hrsg.): Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht. BadenBaden 1995, 213-230. Patzelt, Werner J. (Hrsg.): Parlamente und ihre Symbolik. Wiesbaden 2001. Rehberg, Karl-Siegbert: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen. In: Gerhard Göhler (Hrsg.): Die Eigenart der Institutionen. Baden-Baden 1994, 47-84. Reiche, Jürgen: Das Berliner Reichstagsgebäude: Dokumentation und ikonographische Untersuchung einer politischen Architektur. Diss. Berlin 1988. Wefing, Heinrich (Hrsg.): „Dem Deutschen Volke“. Der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude. Bonn 1999. Wefing, Heinrich: Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken. Eine Untersuchung am Beispiel des Bonner Bundeshauses. Berlin 1995.

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Das Rheinland als Brückenlandschaft Historisches Lernen an Orten kulturellen Austauschs

1. Zur Einführung: Das Rheinland – eine Standortbestimmung Was wissen ausländische Gruppen vom Rheinland? Möglicherweise haben sie eine vage Vorstellung: Beispielsweise würden amerikanische Gäste bei einer Anreise vom Frankfurter Flughafen ihre übernächtigt glänzenden Augen mühsam offenhalten und während der Bahnfahrt durch das Rheintal als erstes fragen: „Where is Loreley?“ Und vielleicht würde ein wohl gesonnener Mitreisender zurückfragen, ob sie den Felsen oder die Sagengestalt mit dem langen goldenen Haar meinten.

Deutsches Eck: Blick aus dem Kaiser Wilhelm Denkmal © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Sie lieben die Sagen, sind fasziniert von der Geschichtsträchtigkeit der Orte und geben gerne zu, falls sie noch wach genug dafür sind, daß Europa der Ort wahrer Geschichte sei – und daß sie davon fast gar nichts wüßten. Teilnehmende aus anderen Ländern haben möglicherweise andere Assoziationen und Fragen: Gästen aus Frankreich ist bewußt, daß der Rhein an einigen Stellen die Grenze zu ihrem Land bildet, an anderen Stellen früher gebildet hat – aber da wird die detaillierte Zuordnung schon schwieriger. Und sie wissen vielleicht auch noch, daß einige der Burgen von französischen Herrschern zu Ruinen gemacht wurden, wobei ihnen die französische Übersetzung des Begriffs „pfälzischer Erbfolgekrieg“ auch nicht weiterhilft. Russische Teilnehmende wirken eher etwas verwirrt, wenn ihre Geschichtskenntnisse plötzlich mit dem Hinweis konfrontiert werden, daß einer ihrer Feldherrn in der Neujahrsnacht 1813/14 in der Nähe von Koblenz mit seinen Truppen den Rhein überquert habe. Die Russen am Rhein? 1814? Ob das wohl was mit Napoleon zu tun gehabt habe? Wären sie dabei, könnten polnische Gäste dabei höchst wahrscheinlich mit detaillierteren Geschichtskenntnissen aushelfen: Sie würden mindestens einen Hinweis auf den Wiener Kongreß platzieren, bei dem Kongreß-Polen entstand und offensichtlich auch noch einige Regelungen für die Grenzsicherung zwischen Deutschland und Frankreich getroffen wurden – das Rheinland also eine Grenzlandschaft? Irgend jemand würde möglicherweise einen Hinweis auf die Römer anbringen, das hat die letzte Internet-Recherche ergeben. Ist da nicht auch die Grenze zwischen Römerreich und Germanien am Rhein verlaufen? Bei israelischen Gästen sind die Vorinformationen vielleicht eine Frage des Jahrgangs. Jüngere Teilnehmende, der deutschen Sprache selten mächtig, könnten sicherlich nicht „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ zitieren, aber vielleicht die Frage aufwerfen, ob Heinrich Heine, der Verfasser dieses Textes, nicht Jude gewesen und aus Deutschland vertrieben worden sei. Sehr wahrscheinlich stellen sie aber solche Verbindungen nicht her, sondern bewundern lediglich das Kernkraftwerk und finden nicht selten, daß es sich hervorragend in die Beckenlandschaft einpasse, ein gelungener Einklang von Technik und Natur. Inzwischen sei es längst abgeschaltet, werden sie belehrt, während eines gesamten Jahrzehnts zusammengerechnet keine fünfzehn Monate am Netz gewesen, wahrscheinlich nicht einmal zwei Jahre. Irgendwo in der Nähe, fragen englische Teilnehmende nach, müsse es hier so etwas Ähnliches wie den Hadrians-Wall geben, eine Grenzbefestigung aus den Zeiten des Römerreiches. Das ist das günstigste Stichwort für den Pädagogen und Historiker: Gleich im Wald hinter dem Gelände des Hedwig-Dransfeld-Hauses, aus dessen Seminararbeit die im folgenden beschriebenen Konzepte und Inhalte stammen, verlief der Limes. Der Verlauf läßt sich anhand der Oberflächenbeschaffenheit, der Erhöhungen und Vertiefungen an vielen Stellen noch nachvollziehen; an anderen wurden Wachtürme und Forts wieder aufgebaut. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Mit Vorerfahrungen, Assoziationen und konkreten Nachfragen wie den zuvor beschriebenen werden die Ansatzpunkte historischen Lernens geliefert. Im folgenden soll mit dem Rheinland anhand eines konkreten Beispiels entwickelt werden, wie historisches Lernen als Bestandteil von Veranstaltungen der politischen (Jugend-)Bildung konzeptionell gestaltet, praktisch durchgeführt und unter den Gesichtspunkten historischen, politischen bzw. interkulturellen Lernens evaluiert werden kann. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Bearbeitung historischer Themen im Rahmen internationaler Seminare gelegt.

2. Geschichte zum Anfassen: Methodische Vorbereitung der Exkursion Warum Geschichte? Schließlich ist die Gegenwart doch viel spannender. Und außerdem: Wie können jugendliche und ausländische Gäste für Geschichte begeistert werden, für ein Thema, daß sie sich möglicherweise als die trockene und endlose Aneinanderreihung von Zahlen und Ereignissen vorstellen. Das haben sie jedenfalls im schulischen Geschichtsunterricht häufig so erlebt. Der Fokus im Rahmen eines internationalen Jugendseminars ist ein völlig anderer: Er geht beispielsweise der Frage nach, für welche unterschiedlichen Kulturen das Rheinland im Verlauf der historischen Entwicklung als Begegnungsraum diente. Damit wird ein Aspekt aus der erfahrbaren Wirklichkeit internationaler Veranstaltungen – die Begegnung unterschiedlicher Kulturen und Nationalitäten – als Fragestellung auf die historische Entwicklung des Seminarumfeldes projiziert und somit eine inhaltliche Verbindung hergestellt, die Geschichte für die Teilnehmenden in hohem Maße aktuell erscheinen läßt. Geschichtsbetrachtung wird dabei im Spannungsfeld zwischen der Frage nach den verbindenden und trennenden Elementen in der geopolitischen Bedeutung des Rheinlandes vollzogen: Während politisches Kalkül und internationale Absprachen (z.B. beim Wiener Kongreß) das Rheintal immer wieder als Grenzlandschaft interpretierten und nutzten, führte der Historiker Ludwig Petry in seinen Werken den Begriff vom „Rheinland als Brückenlandschaft“ ein1. Bezogen auf die beiden Bundesländer Saarland und Rheinland-Pfalz führt er im Vorwort vom Sommer 1987 entsprechend aus: „Auf mittlerer Ebene, sozusagen entfaltungsfähig nach innen und unten – plebiszitär wie föderalistisch –, sehen sich beide Länder vor der Aufgabe des Brückenschlags zu drei europäischen Nachbarn und damit als Kern einer übernationalen Partnerschaft, auf welche hin die Lande an Rhein, Mosel, Saar und Unterlahn seit über 2000 Jahren dem Historiker angelegt erscheinen.“ Diese Betrachtungsweise, die die geopolitische Bedeutung des Rheinlandes eher unter verbindenden als trennenden Aspekten interpretiert, wird den Teilnehmenden zu Beginn präsentiert und durchzieht als (paradigmatischer) Betrachtungsrahmen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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den gesamten Diskurs. Gerade bei internationalen Veranstaltungen wird deutlich, daß sich am Mittelrhein möglicherweise über Jahrhunderte hinweg und in unterschiedlichen Konstellationen etwas vollzog, was auch im Rahmen internationaler Austauschprogramme angestrebt wird: die Begegnung unterschiedlicher Kulturen, der Austausch von Menschen, Ideen und Gedanken, die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Beteiligten, die selbst unterschiedliche nationale Ursprünge haben. Wenige Hinweise genügen häufig, um dies deutlich zu machen: die Römer trafen hier auf die Germanen, das Frankenreich wurde in seine unterschiedlichen Bereiche aufgeteilt, Deutschland und Frankreich führten Kriege gegeneinander, Adenauer bastelte am Konzept eines unabhängigen, westlich orientierten Rheinlandes, weil ihm andere mögliche territoriale politischen Einheiten in Deutschland geo-politisch zu weit nach Osten gingen; in den Nachkriegszeiten ab 1918 und 1945 gab es französische Besatzung im Rheinland und erste Schritte der Verständigung. Wie aktuell diese Fragestellungen sind, wird ausländischen Teilnehmenden spätestens beim Hinweis auf die 1992 in der Stadt Köln gestartete Kampagne gegen Rassismus und Neonazis bewußt. Im Dokumentationsband zu dieser Kampagne ist der Kölner Volksschauspieler Willy Millowitsch mit einem Beitrag aus Carl Zuckmeyers „Des Teufels General“ vertreten: „Es war nach dem Krieg, als ich zum ersten Mal in der Aula der Universität Carl Zuckmayers großartiges Stück ‚Des Teufels General‘ sah. Das Kölner Schauspielhaus war noch zerstört. Die Hauptrolle spielte der große René Deltgen. Gegen Ende des ersten Aktes berichtet der Fliegeroffizier Hartmann seinem Vorgesetzten, dem General Harras, betrübt, daß er von seiner Verlobten verlassen worden ist, weil sich in seiner Ahnenreihe ‚unbestimmbare‘ Glieder gezeigt hätten: ‚Eine meiner Urgroßmütter scheint vom Ausland gekommen zu sein.‘ Und dann folgt Harras‘ Monolog, in dem er den ‚Melting Pot‘ Rheinland beschreibt. Er ist mir unvergeßlich geblieben und paßt allzugut zu dem Anlaß, der uns hier zusammengeführt hat. […] Denken Sie doch – was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein – noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! […] Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursche vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler vom Elsaß, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach, was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann – und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. Prost.“2 Bei internationalen Gruppen ist es sicherlich häufig notwendig, diese Zusammenstellung sinngemäß und anschaulich zu übersetzen. Sie enthält unendlich viele Stichworte und Hinweise, die Bestandteile eines historischen Überblicks sind: Römerzeit und Grenzziehung mit dem Limes; jüdischer Einfluß, Christianisierung des Rheinlandes, Völkerwanderungszeit, Dreißigjähriger Krieg, Handelskontakte über den Rhein als Schiffahrtsweg, Wiener Kongreß, die Entfaltung des vielfältigen kulturellen Lebens mit einem Höhepunkt während der Romantik, um nur einige zu nennen. Weitere literarische Zeugnisse lassen sich leicht ergänzen: Dazu gehören nicht nur die Sagenwelt sondern auch die Gedichte und Volkslieder, die sowohl den Rhein besingen wie auch Gestalten aus der Geschichte des Rheinlandes beschreiben. Eine Reihe von Gegenständen veranschaulicht die Geschichte des Rheinlandes und bezieht die Erfahrungswelt der Teilnehmenden ein. Ausgebreitet auf dem Boden finden sich braune und grüne Weinflaschen – die einen, wie sie bald erfahren werden, stehen für das Rheintal, die anderen für Mosel, Saar und Ruwer – denn schließlich wurde Wein in dieser Gegend schon zur Römerzeit angebaut. Ein zweites Element ist der Schieferstein, dessen Eigenschaften nicht nur den Grund für den Weinanbau geben sondern auch den Anblick der Dächer in Dörfern und Städten erklären. Auch Schalen, Vasen und Teller aus Ton machen eine lange Kontinuität seit der Römerzeit deutlich: Auf den ersten Anhöhen des Westerwaldes am rechten Rheinufer war die Töpferei seit der Antike eine wichtige Erwerbsquelle, und auch heute noch sind die kleinen und großen Betriebe aus der Branche Anlaufstelle für viele Touristenbusse und ein wichtiger Zweig der lokalen Industrie. Ob Apollinaris, Gerolsteiner, Tönnissteiner oder das aus dem kleinen Ort Selters stammende Mineralwasser, dessen Herkunftsort zum Branchennamen wurde, – die Flaschen aus der Mineralwasserproduktion weisen ebenfalls auf etwas hin, das es schon zur Römerzeit gab. (Nicht ganz so alt ist das vor allem den deutschen Teilnehmer/innen bekannte Bitburger Bier.) Als weiteres Anschauungsmaterial dienen Bildbände, in denen vor allem Gemälde aus der Romantik zu sehen sind, Bücher mit Gedichten und Volksliedern sowie CDs, deren Titel deutlich machen, daß das Rheinland Musiker und Komponisten zu bedeutenden Werken inspirierte und somit zu unterschiedlichen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Epochen Inspirationsraum für kulturelle Höhepunkte war. Kohle und Brikett erinnern an die Grundlage der Industrie – Bergbau im Elsaß, im Saarland, im Ruhrgebiet, Tagebau in der Kölner Bucht – und später an die Entwicklung der Schwerindustrie. Damit werden die Frühneuzeit, die Industrielle Revolution und das 20. Jahrhundert mit seinen wirtschaftlichen Entwicklungen veranschaulicht. Polnische Teilnehmende erinnern sich unter Umständen daran, daß Gastarbeiter aus ihrem Land vor allem im Ruhrgebiet tätig waren – und manch ein Gast aus anderen Ländern hat die fremd klingenden Namen deutscher Fußballspieler in Erinnerung, deren Vorfahren von Polen kommend sich wahrscheinlich an Rhein und Ruhr angesiedelt haben. Haribo-Konfekt aus Bonn weist auf ein regionales Exportprodukt aus der neueren Zeit hin. Hinzu kommt umfangreiches Kartenmaterial, das neben der geographischen Einordnung des Rheinlandes (Westen Deutschlands, Osten Frankreichs, Nähe zu den Nachbarländern Schweiz, Luxemburg, Belgien, Niederlande) auch historische Einblicke ermöglicht: Wann gehörte es zu welchem Land, wo zogen die Römer die Grenze zwischen ihren unterschiedlichen Provinzen und zwischen ihrem eigenen Reich und den Germanen; wie sah Deutschland im Mittelalter und in der Frühneuzeit mit seinen vielen Staaten aus? Ein Blick auf die Karte, die Deutschland vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg als Puzzle unterschiedlich gefärbter kleiner (und großer) Königreiche, Herzogtümer, Fürstentümer und Stadtstaaten zeigt, macht sehr schnell deutlich, wie das Rheinland einerseits durch seine Grenz- und Brückenposition, d.h. durch seine Randlage, eine besondere Rolle einnahm, andererseits natürlich an den großen Entwicklungen der deutschen und französischen sowie der europäischen Geschichte Anteil hatte. Der Überblick über verschiedene Epochen mit einigen Daten bleibt den Teilnehmenden letztendlich nicht erspart. Aber sie erhalten diesen unter einem bestimmten thematischen Fokus, ergänzt durch umfangreiches Anschauungsmaterial und da, wo es möglich ist, mit einem Rückbezug auf ihr Herkunftsland. Und sie wissen, daß sie das, was ihnen zunächst im Seminarraum vermittelt wird, anschließend an authentischen historischen Orten werden überprüfen können. Während sich ein literarischer Text wie der Carl Zuckmayers oder ein musikalisches Element bei einer Exkursion nur sehr schlecht einbauen und mit Sicherheit nicht ausreichend würdigen sowie Karten sich nicht ausbreiten und die Abgrenzung historischer Epochen im Vergleich nur schwer differenziert erläutern läßt, bietet der Besuch einzelner Stätten im Rahmen einer Exkursion die Anschaulichkeit und Authentizität eines historischen Ortes, dessen Bedeutung aufgrund der beschriebenen Vorbereitung angemessen gewürdigt und einem Gesamtkontext zugeordnet werden kann.

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3. Ortstermin(e): Historisches Lernen konkret Was erfahren die Teilnehmenden, wenn sie historische Orte aufsuchen? Dies soll im folgenden anhand von einigen ausgewählten Beispielen veranschaulicht werden. Auf dem Weg zur Festung Ehrenbreitstein, 120 Meter über dem Rhein und genau auf der anderen Seite des Deutschen Ecks, durchqueren die Teilnehmenden zunächst einen kleinen Tunnel, bevor sie ans Tor zum Innenhof der Festung gelangen. Über der Toröffnung, deutlich und gut erhalten, sehen sie einen preußischen Adler. Nicht selten fragen sie von sich aus – je nach Vorbildung –, was dieser Adler zu bedeuten habe oder wie der preußische Einfluß ins Rheinland komme. Anlaß genug, um über den Wiener Kongreß und die „Wacht am Rhein“, d. h. über den an die Preußen erteilten Auftrag zur Grenzsicherung gegenüber Frankreich zu sprechen. Die Geschichte der Festung Ehrenbreitstein geht selbstverständlich erheblich weiter zurück. Hier läßt sich je nach Zielgruppe eine Auswahl von Fakten zusammenstellen: Bereits ab dem 15. Jahrhundert residierte der Erzbischof von Trier häufig auf dem Ehrenbreitstein. An diesem Beispiel läßt sich einerseits die für Deutschland typische Verbindung von geistlicher und weltlicher Macht erläutern, die ausländischen Gästen häufig nicht vertraut ist. Andererseits werden an der wechselvollen Geschichte der Festung die Nähe zu Frankreich und die damit verbundenen Kriegswirren nachdrücklich deutlich: Bereits im Dreißigjährigen Krieg war sie heftig umkämpft, in den napoleonischen Kriegen wurde sie über drei Jahre lang von französischen Heeren belagert und mußte schließlich übergeben werden. Nach dem Wiener Kongreß wurde sie von den Preußen zur stärksten deutschen Festung ausgebaut und ist bis heute nach Gibraltar die größte Befestigungsanlage Europas. Der Blick von der Festung auf das Rheintal und das Koblenz-Neuwieder Becken ist für die meisten Teilnehmenden äußerst beeindruckend. Hier läßt sich anschaulich die immense Bedeutung des Rheins als Wasserstraße und zentrale Verkehrsader Europas erläutern: Schon die Römer nutzten den Fluß für die Schiffahrt – und der Blick auf die zahlreichen Lastkähne zeigt, daß sich dies bis heute fortgesetzt hat. Bahnlinien und Bundesstraßen zu beiden Seiten sind ebenfalls sichtbar, die Frequenz von Zügen macht die Bedeutung der Verkehrsverbindung deutlich. Den meisten ist nicht bewußt, daß etwa zehn Kilometer vom Fluß entfernt auf beiden Seiten Autobahnen mit wichtigen Nord-Südverbindungen verlaufen. Nicht nur Amerikaner/-innen staunen, wenn sie etwas über die Nähe zu den Nachbarstaaten erfahren: Es sind nicht viel mehr als 100km Luftlinie nach Frankreich und Luxemburg, etwa 150 km nach Belgien und den Niederlanden, etwas mehr als 250 km in die Schweiz und die ehemalige deutsch-deutsche Grenze war auch nicht viel mehr als 200km entfernt. Die geopolitische Verortung des Rheinlandes läßt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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sehr viele Rückschlüsse auf seine Bedeutung in unterschiedlichen historischen Epochen zu: Die Römer nutzten die angrenzenden Höhen zur Absicherung gegenüber den Germanen, deren Länder im Osten sie niemals wirklich kontrollieren konnten; entlang des Rheins bauten sie Befestigungsanlagen und Kastelle. Fast alle großen Städte wie Köln oder Mainz gehen auf diesen Ursprung zurück. Die Römer nutzten die Wasserwege zum Handel mit den gallischen Provinzen, der Rhein verband auch Ober- und Untergermanien miteinander. Im Mittelalter entstanden die zahlreichen Burgen im Rheintal nicht nur als Befestigungsanlagen, sondern auch als eine Möglichkeit, von den Handelsschiffen Zoll für die Durchfahrt einzufordern. Im zweiten Weltkrieg waren die Eisenbahnlinien wichtig für den Nachschub an die Westfront und wurden in zahlreichen Luftangriffen systematisch bombardiert. Im Rückzug zerstörten die Deutschen alle Brücken, um den Vormarsch der Alliierten aufzuhalten. Diese und weitere Stichworte geben Aufschluß über die infrastrukturelle Bedeutung des Rheintals in unterschiedlichen historischen Epochen. Der Blick von der Festung Ehrenbreitstein schließt auch das Deutsche Eck ein. Hier ebenso wie beim direkten Besuch vor Ort läßt sich die Frage nach dem Umgang mit Denkmälern und mit der nationalen Geschichte thematisieren. Die auf einem Sockel errichtete Reiterstatue Kaiser Wilhelms I. wurde zu dessen 100. Geburtstag im Jahre 1897 fertiggestellt und somit in einer Zeit errichtet, als Denkmäler dieser Art vor allem im Rheintal einen eindeutigen deutsch-nationalen und anti-französischen Charakter hatten. Ob das Standbild in den letzten Kriegstagen oder tatsächlich nach Kriegsende durch ein von der Festung Ehrenbreitstein aus veranstaltetes amerikanisches Zielschießen zerstört wurde, ist sowohl in Quellenwie Augenzeugenberichten umstritten. Im Mai 1953, also wenige Wochen vor den Ereignissen am 17. Juni, erklärte man den verbliebenen Sockel mit dem Umfeld zu einem Denkmal für die deutsche Einheit, ohne jemals die Wiedererrichtung des Reiterstandbildes zu erwägen. Dies wurde erst Anfang der 90er Jahre von einer Initiative Koblenzer Bürger und Geschäftsleute angeregt. Die CDU-geführte Landesregierung von Rheinland-Pfalz unterstützte diese Initiative. Die SPD, die ab 1990 die Regierung übernahm, war dagegen und versuchte, unter Hinweis auf bauliche Mängel – nach Angaben des TÜV war die geplante neue Statue erheblich schwerer und der Sockel nicht geeignet, das zusätzliche Gewicht zu tragen – vergeblich, die Fertigstellung des Denkmals zu verhindern.3 Vor Ort gibt es noch erheblich mehr Bestandteile deutscher Geschichte zu erläutern und auch Formen bzw. Inhalte deutscher Geschichtsbearbeitung in unterschiedlichen Epochen zu thematisieren. Den Teilnehmenden fällt der Stil des Standbildes auf, die Aufschrift „Wilhelm dem Großen“ ist nicht zu übersehen. In der warmen Jahreszeit ist die in den Zusammenfluß von Mosel und Rhein hineinragende Landspitze eingerahmt von den Fahnen der sechzehn Bundesländer, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Deutsches Eck: eine der Gedenktafeln deutscher Landschaften und Regionen

deren Bestimmung den meisten deutschen Teilnehmenden erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Was die wenigsten Deutschen ebenfalls wissen, ist die Herkunft des Begriffs „Deutsches Eck“, die weder vom Reiterstandbild Kaiser Wilhelms noch vom Gedanken an den 17. Juni 1953 herrührt, sondern auf das unmittelbar daneben stehende Deutschherrenhaus, einem Gebäude des Deutschritterordens, zurückgeht. Spannend wird es beim Aufstieg über die Stufen in den Teil des Denkmals hinter Sockel und Reiterstandbild: Ganz im Sinne des Empfindens der unmittelbaren Nachkriegszeit sind hier den deutschen Landschaften und Regionen mit angedeuteten Säulen und Wappen kleine Denkmäler gesetzt: Schlesien wird ebenso genannt wie Ostpreußen oder das Saarland (1953 noch kein Bestandteil Westdeutschlands), nicht aber Elsaß-Lothringen, auf das nach dem Bewußtsein der damaligen Zeit offensichtlich keine Ansprüche mehr erhoben werden konnten. Die Frage, was deutsch ist und wie die Deutschen in den 50er Jahren ihre nationalen Grenzen erlebten, wie sie zu den Konsequenzen des 2. Weltkrieges standen und welche Lösungen sie für die Zukunft erhofften, läßt sich in diesem Kontext sehr anschaulich thematisieren. Deutsche Teilnehmende sind von diesem Teil des Denkmals häufig nicht weniger überrascht als beispielsweise polnische. Nur ein wenig abseits vom großen Reiterstandbild mit dem imposanten Treppenaufgang zum von Säulen getragenen Sockel steht ein etwa vier Meter langes originales Teilstück der Berliner Mauer: über drei Meter hoch, mit einer Verdickung © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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am oberen Ende, den unübersehbaren Spuren des inneren Metallgerüsts, die Graffiti sind längst nicht mehr original. Ein Denkmal zur deutschen Einheit hatte bis zum November 1989 sicherlich eine völlig andere Funktion und Bedeutung, wie die bisherigen Äußerungen und Erläuterungen deutlich machen. Vor allem bei internationalen Veranstaltungen ergeben sich vielfältige Thematisierungsmöglichkeiten im Kontext der Fragen von nationaler Identität, nationalem Bewußtseins und des Umgangs mit nationaler Geschichte. Nur ein paar Schritte weiter findet sich ein Denkmal, das einerseits Aufschluß über die napoleonische Zeit gibt, andererseits eine hervorragende Möglichkeit bietet, Geschichte mit Humor zu betrachten: Das sogenannte Brunnendenkmal war vom französischen Präfekten Doazan zur Verherrlichung des napoleonischen Rußlandfeldzuges errichtet worden: „Memorable per la campagne contre les Russes sous le Prefectura de Jules Doazan.“ In der Neujahrsnacht 1813/14 hatte eine Streitmacht unter russischer Kommandantur Koblenz zurückerobert. Anstatt das Denkmal niederzureißen, hatte der russische Kommandant nur einige Worte ergänzen lassen: „Vu et Appruvé por sous Commandant Russe de la Ville de Coblentz, Le 1er Janvier 1814.“ („Gesehen und genehmigt…“ [der Verf.]). Die wechselvolle Geschichte der Stadt Koblenz, die in dieser Zeit mehrmals ihren Landesherren wechselte, läßt sich mit diesem Beispiel anschaulich wiedergeben. Die Möglichkeiten, weitere historische Stätten in der Region in eine kombinierte theoretische Einführung und Erkundung vor Ort einzufügen, sind vielfältig: Unweit der Stadt Koblenz liegt die Marksburg, die einzige mittelalterliche Burg am Mittelrhein, die unzerstört blieb und bis heute Sitz der deutschen Burgenvereinigung ist. Für eine weitere Exkursion eignet sich die Loreley, deren kulturelle Bedeutung vor allem im angelsächsischen Raum ausländischen Teilnehmenden besonders bewußt ist. Auf dem rechten Rheinufer ist der Verlauf des Limes an vielen Stellen mit Nachbauten, Museen und Denkmälern dokumentiert. Die Eisenbahnbrücke bei Urmitz markiert recht genau den Punkt, an dem Gaius Julius Caesar den Rhein überschritten haben muß.

4. Erfahrungen und Reaktionen Wie reagieren (internationale) Gruppen auf die Behandlung der Geschichte des Rheinlandes? Bei Veranstaltungen des Hedwig-Dransfeld-Hauses wurden Einheiten wie die beschriebene in unterschiedlichen Länderkonstellationen eingesetzt. In den Reaktionen spielten so verschiedene Faktoren wie das eigene historische Vorwissen, die Einschätzung der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Herkunftsland der Teilnehmenden, die jeweilige Bewertung von Geschichtsbearbeitung sowie die eigene Vorprägung aufgrund nationaler Besonderheiten oder landesspezifischer Sensibilitäten eine Rolle. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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In der Regel waren es polnische Gäste, die aufgrund ihres Vorwissens auf die Hinweise zur deutschen Einheit und zur territorialen Zuordnung deutscher Kultur am nachhaltigsten reagieren konnten, zumal sie nicht selten über entsprechende sprachliche Kenntnisse verfügten, um die auf Deutsch beschriebenen Gebiete geographisch, politisch und historisch einordnen zu können. Auch jugendlichen Teilnehmenden, die den Zweiten Weltkrieg nur aus dem Zusammenhang des Geschichtsunterrichts und von Erzählungen der Großelterngeneration her kennen konnten, fiel die Nennung von Schlesien und Ostpreußen auf. Sie fragten danach, ob es tatsächlich noch Deutsche gebe, die aufgrund der Geschichte Gebietsansprüche ableiteten oder, angesichts der Verhandlungen über den Beitritt Polens zur EU, in Zukunft versuchen würden, weite Landstriche aufzukaufen oder wirtschaftlich zu dominieren. Diese Fragen wurden in der Regel nicht emotional gestellt, waren nicht von Angst besetzt und schon gar nicht von Ressentiments aufgrund der Flucht- und Vertreibungszusammenhänge geprägt. Französische Gäste nahmen zwar den anti-französischen Entstehungskontext des Kaiser-Wilhelm-Denkmals ebenso zur Kenntnis wie die Tatsache, daß Koblenz und die Festung Ehrenbreitstein mehrmals – und in der Regel erfolgreich – von französischen Heeren belagert worden waren. Es schien für sie auch interessant zu sein, daß das Rheinland nach beiden Weltkriegen französische Besatzungszone war. Sie zogen jedoch aus diesen Tatsachen keine besonderen Rückschlüsse auf ihr Verhältnis zu Deutschland. Lediglich einige beiläufige Bemerkungen machten deutlich, daß sie die Erbfeindschaft beider Länder tatsächlich für historisch überwunden hielten. Das größte Problem mit der monumentalen Darstellung schienen in der Regel die deutschen Teilnehmenden zu haben. Sie äußerten nicht selten unmißverständlich, daß ihrer Ansicht nach in Worten wie „Wilhelm der Große“ und „Dem Deutschen Volke“ ein Patriotismus enthalten sei, den sie grundsätzlich ablehnten. Nicht einmal die deutsche Fahne fanden einige angemessen, gegen die der deutschen Bundesländer hatte niemand etwas einzuwenden. Wenn das Team die Diskussion bewußt entwickelte, waren es eher die ausländischen Gäste, die den Deutschen einen Ausdruck von nationalem Wertgefühl oder gar Patriotismus zubilligten als die Deutschen selbst. Litauische Teilnehmende beispielsweise äußerten unmißverständlich, daß die Deutschen doch stolz auf die Vereinigung sein sollten und daß dieser Stolz sich auch im Errichten von Denkmälern und repräsentativen Inschriften ausdrücken müsse. Sie konnten nicht verstehen, daß die Gastgeber/-innen darin viel zurückhaltender waren und mit einer gewissen peinlichen Berührtheit auf andere Epochen der deutschen Geschichte hinwiesen. Mit der Proklamation eines deutschen Rechts, nationalen Stolz in Denkmälern auszudrücken, hielten sich israelische Gäste vor allem dann zurück, wenn sie jüdischer (und nicht arabischer) Herkunft waren. Sie begrüßten die peinliche © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Berührtheit der Gastgeber/-innen. Gleichzeitig hatten sie völlig andere Assoziationen: Beim Blick von der Festung Ehrenbreitstein auf das Rheintal verfolgten sie beispielsweise einen auf den Gleisen dahinrollenden Güterzug. Sie deuteten auf die Viehwaggons mit den in der Mitte angebrachten Schiebetüren und bemerkten, diese sähen noch genauso aus wie in den Geschichtsbüchern, Museen, Dokumentationen und Kriegsfilmen über den Holocaust: In solchen Waggons seien ihre Vorfahren in die Konzentrationslager transportiert worden, möglicherweise auch über diese Gleise. Das Rheintal als historische Verkehrsader erhielt damit eine völlig andere Bedeutung. Nur wenige Teilnehmende – und diese überwiegend aus Mittelosteuropa, erheblich seltener aus Westeuropa und schon gar nicht aus anderen Herkunftsländern – hätten sich die historischen Zusammenhänge der Denkmäler ohne Einführung allein aufgrund ihres Vorwissens erschließen können. Selbst so bedeutende Ereignisse wie der Dreißigjährige Krieg und der Wiener Kongreß konnten nur selten eindeutig zugeordnet werden. Dies geschah vor allem dann, wenn die Teilnehmenden eine Beziehung zum Kontext ihrer eigenen Landesgeschichte herstellen konnten. Um so interessierter zeigten sie sich, wenn diese Beziehung im Verlauf der Einführung und der Besichtigung vor Ort vermittelt wurde. Dadurch wurde es ihnen möglich, das Rheinland geopolitisch zuzuordnen und zu ihrem eigenen Geschichtsbewußtsein in Beziehung zu setzen. Von Bedeutung für das historische Lernen als Bestandteil von politischer Bildung erschienen somit mehrere Faktoren: Erstens wurde den Teilnehmenden der historische Zusammenhang eines geographischen Raumes (in diesem Falle des Rheinlandes) in Form eines Überblicks erschlossen. Zweitens konnten sie diesen geographischen Raum mit seiner Geschichte sowohl zur Entwicklung in ihrem Heimatland wie zur europäischen Geschichte in Beziehung setzen, d. h. Querverbindungen und wechselseitige Einflüsse bzw. Teilhabe an gemeinsamen Kontexten feststellen. Drittens konnten sie aufgrund der Termine vor Ort konkretes Anschauungsmaterial verarbeiten und den Fakten des Überblicks zuordnen. Viertens ergaben die internationalen Konstellationen der Seminare eine hervorragende Möglichkeit, die nationale Perspektivität von Geschichtsbetrachtung als solche zu erkennen und sich daraus ergebende, unter Umständen hoch brisante Fragestellungen zu thematisieren (wie beispielsweise die Frage von Nationalstolz bzw. nationaler Identität, vom Umgang mit Geschichte bzw. von Geschichtsbearbeitung sowie von der Wirkung der eigenen Geschichtsdarstellung auf Teilnehmende aus anderen Herkunftsländern). Gerade durch die Kombination von anschaulichem Material, theoretischer Einführung, Besichtigung vor Ort und angeleiteter Reflexion in einer internationalen Gruppenkonstellation konnte dabei ein mehrfacher sehr differenzierter Lerneffekt erzielt werden.

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Anmerkungen 1 Vgl. hierzu Ludwig Petry (Hrsg.): Handbuch der historischen Stätten Deutschlands. Fünfter Band: Rheinland-Pfalz und Saarland. Stuttgart 1988. 2 Willy Millowitsch. In: Walter Pütz u.a. (Hrsg.): Arsch huh, Zäng ussenander! Gegen Rassismus + Neonazis. Köln 1992, 80/1. Der Originaltext von Zuckmeyer entstammt Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick, Des Teufels General. Zwei Theaterstücke. Frankfurt/Main 1992, 189. 3 Der Vertrag zwischen dem Koblenzer Bürgerverein und dem Land Rheinland-Pfalz beinhaltete, daß der Bürgerverein für die Finanzierung des Reiterstandbildes, das Land Rheinland-Pfalz für die Finanzierung der Restaurierungsarbeiten am Denkmalssockel aufkommen sollte. Nach dem Regierungswechsel zahlte das Land zwar die vertraglich vereinbarten 1,5 Mio. DM für die Restaurierung des Sockels, zog sich dann aber aus der ideellen Trägerschaft des Denkmals zurück. Die Rechtsnachfolge des Landes in diesem Bereich wurde von der Stadt Koblenz übernommen.

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„…ein unausgesetztes Gehen und Kommen“* Migration als Erinnerungsort in der deutschen Geschichte? Ein Plädoyer am Beispiel der Stadt Mannheim

Als Pierre Nora in seinem 1992 abgeschlossenen, siebenbändigen Werk „Lieux de mémoire“ feststellte, Deutschland befinde sich „offensichtlich in ein[em] Zeitalter des Gedenkens“, konnte er nicht ahnen, wie sehr sich seine Einschätzung in den folgenden Jahren noch potenzieren würde. „Erinnerung“ ist eines der Hauptthemen in der Kulturszene, in den Feuilletons wie auch in der medialen Unterhaltungsszene geworden, wo gegenwärtig marketinggerecht zumeist die jüngste Vergangenheit in appetitlichen Häppchen serviert wird. Angesichts der Permanenz und auch teilweise Penetranz, mit der dies derzeit tagtäglich geschieht, macht bereits das Schlagwort von der „Erinnerungswut“ die Runde.1 Bei der Präsentation der Erinnerung dominierten lange Zeit Journalisten und Kulturwissenschaftler, während profilierte Historiker eher Abstand von diesem Geschichtsboom genommen hatten. Erst das von Etienne François und Hagen Schulze 2001 herausgegebene Werk „Deutsche Erinnerungsorte“ markierte gewissermaßen einen Befreiungsschlag, mit dem sich die Zunft eindrucksvoll zurückmeldete – und durchaus mit Erfolg, wie mehrere Neuauflagen ausweisen. Mit dem Konzept von Erinnerungsorten als „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“ suchten François und Schulze der Debatte um die Erinnerung eine fachhistorische Grundlage zu geben.2 In knapp 120 Essays wurden sowohl materielle wie auch immaterielle „Erinnerungsorte“ der deutschen Geschichte beschrieben. Konkret implizierte dies, dass neben realen Orten, die in der Erinnerungskultur als Chiffren für bedeutende Ereignisse der eigenen Geschichte gewertet werden (wie beispielsweise „Weimar“, „Der Führerbunker“, „Dresden“), auch mythische Orte im Sinne soziokultureller Erinnerungsformeln treten, die ebenfalls zum kollektiven Gedächtnis der Deutschen gehören (zum Beispiel „Achtundsechzig“, „Gesangverein“, „Dolchstoß-Legende“). Durch dieses breit angelegte Konzept entstand ein buntes Kaleidoskop historischer Erinnerungsversatzstücke, die zahlreiche zentrale Ereignisse und Strukturen der deutschen Geschichte abbilden, die heute als materielle oder immaterieller Ort in der breiten Öffentlichkeit präsent sind. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Stadtplan Mannheim (zur Stadtentwicklung)

Interessant scheint nun die Frage, welche „Orte“ keinen Eintrag auf der Erinnerungs-Landkarte gefunden haben, obwohl ihnen aufgrund ihrer Bedeutung zweifelsohne ein solcher zugestanden hätte. Anders gefragt: Welche zentralen Ereignisse und Strukturen aus der deutschen Geschichte haben bis heute keinen oder nur unzureichend Eingang in die deutsche Erinnerungskultur gefunden? Ein herausragendes Beispiel eines „blinden Fleckes“ hat Bundespräsidenten Johannes Rau bei seiner Eröffnungsrede auf dem Historikertag in Halle 2002 genannt, als er den „Blick auf die oft vergessene Geschichte der Migration in Deutschland“ forderte.3 Deutschland als „Einwandererland“, deutsche Geschichte als Geschichte der Migration – dieser Aspekt findet in seiner Gesamtbedeutung noch keinen Widerhall in der deutschen Erinnerungskultur. Allenfalls sind es Einzelaspekte, die im kollektiven Gedächtnis vorhanden sind: So finden sich in © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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der Aufstellung von François/Schulze zu diesem Komplex lediglich die Punkte „Flucht und Vertreibung“ sowie „Auslandsdeutsche“, die als etablierte Erinnerungsorte gelten können. Migration als gesamtgeschichtliches Phänomen blieb davon bislang unberührt. Seit etwa zehn Jahren gibt es nun verstärkt Bemühungen, die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren. Vereine, Initiativen wie auch die Hochschulen zeigen sich bemüht, hier im kulturellen wie auch historiographischen Bereich neue Schwerpunkte zu setzen. So betonte der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, jüngst „die Notwendigkeit, das deutsche Geschichtsbild um die Dimension der Migration zu erweitern“.4 Dabei hat es die Migrationsgeschichte bislang kaum geschafft, in den Blick der Öffentlichkeit zu gelangen. Verantwortlich dafür sind zunächst einmal zwei Faktoren: Einerseits wird Migration ausschließlich als aktuelles Phänomen betrachtet, das seine historische Wurzeln in der Anwerbung von ausländischen Gastarbeitern seit den späten 1950er Jahren hat. Die Tatsache, dass Migration in Deutschland bereits in den Jahrhunderten vor dem zweiten Weltkrieg statt fand, wird zumeist ausgeblendet. Dies gilt leider auch für viele der Initiativen, die sich für eine Hinwendung zur Migrationsgeschichte oder gar für den Aufbau eines eigenen Migrationsmuseums stark machen. 5 Dieser stark gegenwartsorientierte Bezug hat andererseits zur Folge, dass das Thema Migration und Migrationsgeschichte sehr stark von der aktuellen politischen Diskussion überlagert wird. Allzu leicht besteht daher die Gefahr, Versatzstücke aus der Geschichte dieses Phänomen als Rüstzeug im Kampf um Argumente zu benutzen. Migration wird je nach Standpunkt als erfreuliches oder bedrohliches, in erster Linie aber ausschließlich aktuelles Phänomen wahrgenommen, das einer „Erinnerung“ im Sinne der oben beschrieben Orte gegenwärtig gar nicht bedarf. Die enorme Bedeutung von Migration in der deutschen Geschichte an sich wird unter diesen Umständen verschüttet. So waren es bisher ausschließlich die Fachhistoriker/-innen, die sich mit diesem Thema im elitären Zirkel auseinandersetzten, wobei in diesem Forschungszweig in den letzten Jahren geradezu ein Boom einsetzte.6 Ausgehend von der Migration als Grundlage des menschlichen Lebens „wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod“7 wird dabei in erster Linie den statistischen Grundlagen der Wanderungsbewegung sowie den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen des Wanderungsverhaltens nachgegangen. Forderungen nach der verstärkten Beachtung der Migration in der Geschichtsschreibung kulminierten zuletzt in der Anregung des Züricher Historikers Rudolf von Albertini, die „Weltgeschichte als Wanderungsgeschichte darzustellen“.8 Diese Forderung steht nun freilich ganz im Gegensatz zum Stellenwert, welcher der Migration als historische Grundlage menschlichen Lebens in der kollektiven Erinnerung der Deutschen eingeräumt wird. Ein Erinnerungsort Migration ist © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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bislang nicht vorhanden; ob diese Funktion ein Migrationsmuseum einnehmen kann, wie es immer wieder gefordert wird, erscheint fraglich angesichts der Tatsache, dass Migration nicht ein punktuelles, sondern prozessuales Phänomen ist. Ziel bei der Errichtung eines immateriellen Erinnerungsortes Migration müsste sein, die Vielschichtigkeit dieses Themas am konkreten Beispiel darzustellen und es einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Hier empfiehlt es sich im Sinne des Konzepts „Lernen vor Ort“, Belege von Migration vor Ort zu suchen und auch auf ihre Spur zu kommen. Ein Versuch in diese Richtung wird im vorliegenden Beitrag am Beispiel der Stadt Mannheim unternommen. In der rund 400jährigen Geschichte der Stadt an Rhein und Neckar geht die Bedeutung des Faktors Zu- und Abwanderung weit über das übliche Maß anderer Gemeinwesen hinaus. Kriege, politische Wechsel sowie wirtschaftliche Veränderungen wirkten sich hier mit einer enormen Heftigkeit auf das Mannheimer Gemeinwesen aus, was immer wieder zu drastischen Änderungen im demographischen Aufbau führte. Epochen mit umfangreicher Zuwanderung wechselten mit Zeiten drastischen Bevölkerungsverlusts über die Jahrhunderte hinweg. Im Folgenden wird ein Überblick über die Geschichte der Stadt Mannheim, gesehen vom Standpunkt der Migration, gegeben. Dabei werden auch Anknüpfungspunkte an vergangene Migrationsepochen im heutigen Stadtbild gesucht. Hierbei kann auf Überlegungen zurückgegriffen werden, die gemacht worden sind im Zusammenhang mit dem Historischen Stadtinformationssystem, das sich derzeit unter Leitung des Stadtarchivs Mannheim in der Entwicklung befindet.

Mannheim im 17. Jahrhundert Das Werben um ausländische Zuwanderer stand unter anderem im Mittelpunkt der ersten Stadtprivilegien Mannheims von 1607. Mit weitgehenden Privilegien suchte Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz, Bürger für seine neue Stadt zu gewinnen, die neben der neuen Festung Friedrichsburg auf dem Boden des ehemaligen Dorfes Mannheim errichtet wurde. Dass er dabei über die kurpfälzischen Grenzen hinaus dachte, unterstreicht die Tatsache, dass die Privilegien gleich in vier Sprachen – deutsch, lateinisch, niederländisch und französisch – veröffentlicht wurden. Diesem Werbefeldzug um Migranten war am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges jedoch kein großer Erfolg beschieden. Schätzungsweise 1.200 Einwohner zählte die Stadt im Jahre 1618, von denen die Mehrheit von den ehemaligen Dorfbewohnern gestellt wurde9. Diese Zahl ging in den folgenden Jahren drastisch zurück. Denn statt dem erhofften Zuzug vor allem niederländischer Kaufleute erfolgte der Anmarsch bayerischer Truppen unter Tilly, die 1622 Stadt und Festung eroberten. Die Friedrichsburg war angesichts ihrer strategischen Bedeutung von nun an © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Titelbild der Privilegien der Stadt Mannheim von 1607

immer wieder Kriegsziel und wechselte während des Krieges mehrfach den Besitzer. Die Stadt wurde weitgehend zerstört, die Bevölkerung vertrieben. Von einem Gemeindeleben konnte Ende des Krieges keine Rede mehr sein10. Kurfürst Karl Ludwig, der 1649 nach seiner Rückkehr aus dem Exil die Regentschaft übernommen hatte, sah sich einer niedergebrannten Stadt gegenüber, zwar an strategischem Ort, dafür jedoch weitgehend ohne Einwohner. Nachdem die ersten Rückrufaktionen nach emigrierten ehemaligen Mannheimern nur wenig Erfolg zeitigten, griff Karl Ludwig mit der offensiven Anwerbung von Migranten auf das Mittel zurück, das bereits sein Großvater angewandt hatte. Als Köder dienten wiederum die Stadtprivilegien, die 1652 in neuer und erweiterter Form erlassen wurden. Sie waren gerichtet an alle ehrliche Leut von allen Nationen, die in deutscher, französischer und niederländischer Sprache aufgefordert wurden, sich in Mannheim niederzulassen und gemeinsam die Stadt wieder aufzubauen.11 Vor allem mit Hilfe weit reichender Steuerbefreiungen, mit unentgeltlichen Bauplätzen, billigem Baumaterial, persönlichen Freiheiten sowie der Befreiung der Handwerker vom Zunftzwang sollten Migranten in die Stadt an Rhein und Neckar gelockt werden. Die im konfessionellen Zeitalter so wichtige religiöse Frage wurde nur in wenigen Worten angeschnitten. So garantierte der calvinistische Kurfürst die offentliche Ubung der Reformierten Religion, die anderen Konfessionen hingegen wurden faktisch toleriert12. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Die Werbeaktion war ein voller Erfolg. In kurzer Zeit zog es zahlreiche Migranten nach Mannheim, vornehmlich aus den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz. 1660 wurde es schließlich auch Juden erlaubt, sich in der Stadt niederzulassen. Damit begann das „Mannheimer Experiment“, wie es jüngst von Grit Arnscheidt genannt wurde13: Nach neueren Forschungen lebten 1688 rund 4.200 Menschen in Mannheim. Nur die wenigsten kannten die Stadt noch aus der Zeit vor 1652, die allermeisten waren danach zugewandert bzw. als Kinder von Zuwanderern geboren worden14. Wie erfolgreich das Werben Karl Ludwigs gerade um ausländische Migranten war, zeigt ein Blick in ein Verzeichnis der Grundstücke und Häuserbesitzer aus dem Jahr 1663: Von den 427 darin ausgewiesenen Grundstücksbesitzern trugen 235 französische, 134 deutsche und 44 niederländische Namen15. Nicht im Grundbesitzverzeichnis genannt, wohl aber quellenmäßig fassbar sind noch Vertreter anderer Volksgruppen wie Polen, Ungarn oder Schweden. Dabei dominierte französisch – hierunter fielen vorzugsweise hugenottische Migranten aus Flandern und dem Hennegau, aus der Picardie, Brie und der Normandie, sowie vor allem aus der Schweiz (Bern, Neuchâtel)16. An der Spitze der Stadt stand zu diesem Zeitpunkt mit Heinrich Clignet ein wallonischer Kaufmann, auch ein Großteil der Ratsherren stammte aus dem französischen und dem niederländischen Sprachraum17. Als Amtssprache wurde im Rat jedoch die deutsche Sprache verwendet. Auch hinsichtlich der konfessionellen Verhältnisse herrschte eine bunte Vielfalt vor. Zwar war offiziell die refomierte Konfession Staatsreligion, jedoch wurden auch andere Glaubensrichtungen toleriert. Der kulturellen, sprachlichen wie auch konfessionellen Vielfalt ihrer Stadt waren sich die Mannheimer dabei durchaus bewusst. Stolz berichteten die Stadtoberen 1669 an den Kurfürsten über solche gute harmonia under so vielerley nationen, welche die Stadt sogar im Ausland bekannt gemacht habe18. Mannheim blieb seinem Ruf als Migrantenstadt auch in den folgenden Jahren gerecht, auch wenn in den 1680er Jahren der französisch-niederländische Zuzug langsam zurückging und demgegenüber der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung anstieg19. Anknüpfungspunkte für Migration im 17. Jahrhundert im heutigen Stadtbild Im heutigen Stadtbild gibt es keine materiellen Anknüpfungspunkte an diese Zeit des „Mannheimer Experiments“ mehr. Die Festung wie auch die Stadt selbst wurden im Pfälzischen Erbfolgekrieg im März 1689 in Schutt und Asche gelegt, die multikulturelle Bevölkerung vertrieben. Ein sich aufdrängender „Lernort“ für diese Zeit ist demnach nicht vorhanden, zumal der beschriebene multikulturelle Schwerpunkt der Mannheimer Geschichte im 17. Jahrhundert erst in jüngster Zeit stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Das „Historische Stadtinformationssystem“ bietet hier neue Möglichkeiten, Anknüpfungspunkte in diese © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Vergangenheit zu legen. So ist unter anderem vorgesehen, am Ort des ehemaligen Wohnhauses von Stadtdirektor Clignet in T 2, 14 bzw. dem des hugenottischen Predigers Jean Du Chesne in P 2, 12 eine entsprechende Hinweistafel aufzustellen, die erläuternd auf die Zeit des „Mannheimer Experiments“ zurückblickt.

Mannheim im 18. Jahrhundert Die Zerstörung Mannheims im Pfälzischen Erbfolgekrieg durch französische Truppen war total, der Wiederaufbau musste bei Null beginnen20. Die ehemaligen Einwohner der Stadt waren zum allergrößten Teil geflohen und in der Ferne sesshaft geworden. So fanden beispielsweise zahlreiche Mannheimer Hugenotten Aufnahme in Brandenburg-Preußen, wo sie sich in der Magdeburger Gegend konzentrierten. Vor diesem Hintergrund kam es in Mannheim, für das der Kurfürst Johann Wilhelm am 14. März 1698 den Wiederaufbau anordnete21, auch in demographischer Hinsicht zu einem Neubeginn. Abermals suchte der Kurfürst mit neuen Privilegien – darunter Steuererleichterungen – die Stadt für Auswärtige interessant zu machen. Allerdings stieß sein Werben um Rückkehr der geflohenen Mannheimer, vor allem der ehemals wirtschaftlich so bedeutenden Gruppe der Wallonen, auf eine geringe Resonanz, was in

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erster Linie konfessionell bedingt war: 1685 war mit dem Haus Pfalz-Neuburg eine katholische wittelsbachische Linie zur Herrschaft gelangt, die aus ihren Rekatholisierungsbestrebungen keinen Hehl machte. Diese Politik sowie die Tatsache, dass der Kurfürst sich im weit entfernten, unzerstörten Düsseldorf niederließ, waren verantwortlich dafür, dass die ersten Jahrzehnte nach der Zerstörung von 1689 von den lokalen Historiographen meist lange Zeit in dunkelsten Tönen beschrieben wurde.22. Dabei wird jedoch geflissentlich übersehen, dass bereits im Jahr 1719 inklusive der 1.000 Mann starken Garnison mehr als 5.200 Personen in der Stadt ansässig waren – und somit mehr als vor der Zerstörung.23 Dieses Ergebnis spricht freilich für sich: ungeachtet aller lokalpatriotischen Unkenrufe hatte das „Mannheimer Experiment“ eine Fortsetzung bekommen. Dieses abermalige rasante Wachstum quasi aus dem demographischen Nichts lässt sich vor allem mit dem Zugzug von Migranten erklären. Ausgehend von einer Stammbevölkerung von etwa 1000 Einwohnern, die während der 1690er Jahre in einer Hüttensiedlung nördlich des Neckars („Neu-Mannheim“) gelebt hatte24, zogen nach 1697 vor allem Personen aus ärmeren lutherischen und katholischen Territorien zu, wobei dieser Kreis von der Forschung bisher nicht weiter differenziert worden ist25. Als weitere Gruppe sind darüber hinaus auch Juden zu nennen, deren Zuzug von der kurfürstlichen Regierung gefördert wurde. Dank ihrer finanziellen Potenz spielten sie im gewerblichen Leben Mannheims eine bedeutende Rolle. Ungeachtet aller Reibereien, die sie mit den Stadtoberen hatten, ist festzustellen, dass ihnen vergleichsweise weitgehende Rechte zugebilligt wurden26. Mannheim wurde somit nach der Zerstörung erneut zum Schmelztiegel unterschiedlicher Migrantengruppen. Anders als im 17. Jahrhundert kamen die Zugezogenen nun überwiegend aus dem Reich und waren deutschsprachig27. Auch dürfte ihre Wirtschaftskraft kaum an die der Wallonen und Niederländer der Karl-Ludwig-Zeit herangereicht haben. Gleichwohl bildeten sie die Basis der Mannheimer Bevölkerung, deren Größe und Struktur in den folgenden Jahren wiederum durch äußere Ereignisse nachhaltig verändert wurde. Vor einer völlig neuen Situation stand die Stadt, als Kurfürst Karl Phillip 1720 bekannt gab, seine Residenz von Heidelberg nach Mannheim zu verlegen. Zur künftigen Unterbringung des Kurfürsten und seines Gefolges sollte ein repräsentatives Schloss dienen, mit dessen Bau in Mannheim noch 1720 begonnen wurde. Der Schlossbau wie auch der dekretierte Umzug von Hof, Regierung und Verwaltung der Kurpfalz wirkten wie ein Magnet: Es kam zu einer neuen Zuzugswelle in die Stadt an Rhein und Neckar. 1739 betrug die Zahl der Einwohner Mannheims rund 20.000. Hierunter fielen neben 4.000 Personen, die Hof und Verwaltung zuzurechnen waren, etwa 6.000 Militärangehörige. Die eigentliche Stadtbevölkerung selbst wäre demzufolge auf etwa 10.000 Einwohner zu veranschlagen. Damit hatte sich ihre Bevölkerung innerhalb von 20 Jahren wiederum mehr als verdoppelt28. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Dabei ist vor allem eine starke Zunahme katholischer Bewohner festzustellen, die bald die größte Konfession in Mannheim stellten29. Auch die Struktur des städtischen Gewerbes änderte sich durch den Zuzug des Hofes nachhaltig und zeigte sich immer stärker auf dessen Bedürfnisse zugeschrieben. Dieser Trend fand bald auch seinen Niederschlag im sozialen Aufbau der Einwohnerschaft. So gab es beispielsweise nun verstärkte Nachfrage nach Gesinde – Knechte und Mägde –, dessen Anteil an der Bevölkerung von 10 auf 20 Prozent bei rund 4500 Personen (1775) stieg30. Die Größe der Bevölkerung blieb in den folgenden Jahrzehnten weitgehend konstant. 1771 zählte die Stadt 21.340 Einwohner, 1784 waren es 21.858 Einwohner. Zwischen beiden Jahren liegt jedoch ein Ereignis, das auch heute noch bei manchem Alt-Mannheimer traumatische Gefühle weckt: Infolge des bayerischen Erbfalls sah sich Kurfürst Karl Theodor gezwungen, seine Residenz 1778 von Mannheim nach München zu verlegen. Der beschriebene Magnet verlor seine Kraft. Gleichwohl ist seine Wirkung auf die demographische Entwicklung umstritten. Zwar scheinen die Zahlen auf einen absoluten Rückgang der Bevölkerung hinzuweisen, auch kann ein Geburtendefizit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts festgestellt werden, allerdings ist in den Zahlen mit der ständig schwankenden Militärpräsenz ein Faktor enthalten, der eine eindeutige Aussage bislang nicht zulässt31. Fest steht jedoch, dass nach 1778 mit großen Teilen des Hofstaats eine besonders reiche Schicht die Stadt verließ, deren Nachfrageverhalten nicht ersetzt werden konnte. In den ersten Jahren der französischen Revolution wurde Mannheim zwar das bevorzugte Ziel französischer adliger Emigranten, doch deren Verbleib in der Stadt war nur kurzfristig. Die Indizien scheinen dafür zu sprechen, dass die Zahl der „zivilen“ Mannheimer bis in die 1790er Jahre mit ca. 19.000 Personen etwa gleich blieb32. Auf einen demographischen Tiefpunkt steuerte die Stadt nach der Belagerung und Eroberung von 1795 zu, in deren Verlauf zahlreiche Gebäude zerstört wurden. Ende des 18. Jahrhundert zählte sie inklusive der Garnison gerade einmal 18.000 Personen. Anknüpfungspunkte für Migration im 18. Jahrhundert im heutigen Stadtbild Im 18. Jahrhundert fanden mehrere Migrationsprozesse statt. Standen die ersten Jahrzehnte noch unter den Vorzeichen von Wiederaufbau und Repeuplierung, so avancierte die Stadt mit der Residenzfunktion ab 1720 zum überregional ausstrahlenden Magneten. Das herausragende bauliche Sinnbild für diese Vergangenheit ist das Mannheimer Schloss selbst, das heute noch das Stadtbild beherrscht. Für den Zuzug von Katholiken in die ehemals konfessionell reformierte Stadt stehen bzw. standen insbesondere sakrale Bauten wie die Jesuitenkirche (A 4, 1) oder das heute nicht mehr vorhandene Gebäude des Kapuzinerklosters (N 5). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Mannheim im 19. Jahrhundert In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war die Einwohnerzahl Mannheims durch die ständig wechselnde Militärpräsenz weitgehenden Schwankungen ausgesetzt. Die Zahlen pendelten dabei zwischen 18.000 und 20.000 Personen. Kontinuität kam erst ab 1820 wieder zustande. In den folgenden zwanzig Jahren stieg die Bevölkerung auf rund 23.784 (1846) an, womit Mannheim das geringste Bevölkerungswachstum der größeren badischen Städte verzeichnete33. Dabei war Mannheim in dieser Zeit durchaus das Ziel ausländischer Migranten. So ließ sich in den 1820er und 1830er Jahren vorübergehend eine rund 50 Familien umfassende britische „Kolonie“ in der Stadt nieder, die sich von der damals romantischen Sehnsucht nach der „Hauptstraße der gebildeten Welt“ – dem Rhein – hatten ziehen lassen.34 Eine erhöhte Migration gab es Mitte des 19. Jahrhunderts – dieses Mal aber zu Lasten Mannheims. Die Stadt, deren liberale und demokratische Politiker bereits in der Zeit des Vormärzes immer wieder für Aufsehen gesorgt hatten, avancierte im Revolutionsjahr 1848/49 zu einem der Zentren der politischen Bewegungen. Zahlreiche Bürger exponierten sich in den politischen Vereinen und bekannten sich öffentlich zu den Ideen der Revolution. Dies blieb nach der Niederschlagung nicht ohne Folgen. Viele revolutionäre Mannheimer sahen sich gezwungen, ihrer Heimatstadt den Rücken zu kehren und zu emigrieren.35 Einen weiteren Aderlass brachte in den folgenden Jahren die wirtschaftlich bedingte Auswanderung nach Amerika mit sich, deren Umfang zahlenmäßig bislang nicht fassbar ist36. Es waren vor allem junge arbeitssuchende Männer, aber auch gescheiterte Geschäftsleute, die ihr Glück in der Neuen Welt suchten. Dieser Abwanderungsprozess wurde jedoch überlagert von der verstärkt einsetzenden Zuwanderung als Begleiterscheinung der Industrialisierung. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts explodierte die Einwohnerzahl Mannheims geradezu. Wohnten 1861 noch 27.172 Personen in der Stadt, so waren es um 1900 bereits 141.131 Personen. Die vergleichsweise bescheidene badische Mittelstadt hatte sich in kurzer Zeit in eine prosperierende Großstadt verwandelt, in ein Stück junges Amerika im alten Deutschland, wie der Mannheimer Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank bemerkte.37 Zwar kam ein Teil des Bevölkerungsanstiegs durch Eingemeindungen zustande, der Löwenanteil lag jedoch in der starken Zuwanderung begründet38. Die einsetzende Industrialisierung hatte Mannheim wieder zum Magneten gemacht. Die Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden. Zahlreiche Firmen hatten innerhalb kurzer Zeit nationale, einige gar Weltgeltung. Ihr Hunger nach Arbeitskräften konnte dabei schon längst nicht mehr aus dem vorhandenen Potential der Stadtbevölkerung gedeckt werden. Der erhöhte Bedarf an Arbeitskräften lockte zahlreiche Migranten in die Stadt auf der Suche nach © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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einem wirtschaftlichen Auskommen. Dabei war es vor allem das strukturschwache badische Hinterland – wie der Odenwald und das Bauland –, aus dem die Zuwanderer kamen. Aber auch aus der bayerischen Pfalz, aus Südhessen, Württemberg sowie nicht zuletzt aus dem Ausland wie Österreich-Ungarn, der Schweiz oder Italien zogen Menschen nach Mannheim und bescherten der Stadt ein „so starkes bundesstaatliches Gemisch“ wie „in keiner anderen deutschen Großstadt“.39 Mannheim wurde erneut zum Schmelztiegel – mit drastischen demographischen Folgen. Um 1900 waren gerade einmal 40 Prozent der Stadtbevölkerung in Mannheim geboren, während der übrige Teil in den vorangegangenen Jahren zugezogen war. Dabei ging die Integration relativ unproblematisch vor sich, da sich die Zuwanderer schon bald in der Mehrheit befanden. Bereits 1905 war die Hälfte der ortsgebürtigen Mannheimer und Mannheimerinnen mit Zuwanderern verheiratet.40. Durch diese Bevölkerungsexplosion ging allerdings auch die Beschaulichkeit und Überschaubarkeit des Lebens unter – die boomende Großstadt brachte Anonymität, Entwurzelung und ein stärkeres soziales Gefälle mit sich, so dass sich für die Stadt und ihre Menschen neue Problemlagen auftagen. Historisch gesehen brachten das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts in Deutschland einen vollkommenen demographischen Umschwung mit sich, wobei Mannheim als Wachstumsmetropole mit seiner Heftigkeit wiederum besonders herausstach. Das „Mannheimer Experiment“ ging damit in seine dritte Phase. Anknüpfungspunkte für Migration im 19. Jahrhundert im heutigen Stadtbild Das 19. Jahrhundert besticht durch eine Vielzahl von Wanderungsphasen, für die es unterschiedliche Anknüpfungspunkte in Mannheim gibt. So erinnert beispielsweise ein Denkmal in D 5 an die Kriegstoten der Jahre 1792-1815, deren Anzahl für Mannheim bzw. für die dort stationierte Garnison weit über 1000 liegt. Die Emigration Mitte des 19. Jahrhunderts hingegen wird fassbar an den ehemaligen Wohnhäusern der Emigranten – so von den Revolutionären Friedrich Hecker in B 1, 10 und Gustav Struve in E 6, 2 oder aber vom ehemals erfolgreichen, später aber gescheiterten Geschäftsmann Lazarus Morgenthau in A 2, 4.

Mannheim im 20. und 21. Jahrhundert Das explosive Bevölkerungswachstum hielt auch nach der Jahrhundertwende an. Hatte man um 1897 die 100.000-Einwohnerschwelle erreicht, so wurde die 200.000-Marke gerade einmal 14 Jahre später, im Jahr 1911, überschritten. Dieser Zuwachs war vor allem wiederum durch Migration verursacht worden – allein im Jahr 1906 betrug der Wanderungsgewinn 11.247 Personen.41 Dieser Trend kam mit Beginn des ersten Weltkriegs zum Erliegen, er setzte sich jedoch in abgeschwächtem Maße bis Mitte der 1920er Jahre fort, als die Einwohnerzahl bis auf 250.000 stieg © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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(1925). Die Weltwirtschaftskrise bewirkte erstmals eine verstärkte Abwanderung aus Mannheim, die nicht durch Zuwanderung ausgeglichen werden konnte. Die Zahlen dieses Trends verbergen sich jedoch hinter einem Bevölkerungsanstieg, der durch weitere Eingemeindungen in diesen Jahren erzielt wurde. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zählte die Stadt 280.365 Einwohner. Zu einem dramatischen demographischen Einbruch kam es in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Augenscheinlich wird dies bereits in den ersten Kriegsjahren, als die Einziehung zahlreicher Männer zum Militär sowie die ersten Evakuierungen der Zivilbevölkerung zu einem deutlichen Bevölkerungsrückgang führten. Die permanenten Luftangriffe hatten eine Stadtflucht erheblichen Ausmaßes zur Folge – zum Kriegsende 1945 wurden 106.310 Einwohner gezählt. Neben dieser – meist vorübergehenden – Abwanderung der deutschen Zivilbevölkerung müssen noch zwei Wanderungsprozesse benannt werden, die untrennbar mit dem Terrorcharakter der NS-Diktatur verbunden sind. Bereits zu Friedenszeiten, in den 1930er Jahren sahen sich zahlreiche Verfolgte des Regimes zur Emigration gezwungen. Dies galt für die politischen Gegner der NSDAP, vor allem aber für die jüdische Bevölkerung Mannheims. Für die Zeit zwischen 1933 und 1945 konnten bisher die Namen von über 8.100 in Mannheim wohnenden Personen jüdischer Herkunft ermittelt werden.42 Hiervon gelang etwa 4.000 Menschen bis 1940 die Auswanderung bzw. Flucht zumeist ins westliche Ausland. Namentlich bekannt sind bisher über 2.100 Todesopfer, während das Schicksal der übrigen jüdischen Mannheimer größtenteils ungeklärt bleibt. Während des Kriegs kam es schließlich zur massenweisen Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte, die zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Sie kamen überwiegend aus Russland, der Ukraine und Polen, aber auch aus den Süd- und Westeuropa. Schätzungsweise wurden 25.000 Personen nach Mannheim verschleppt und zur Arbeit gezwungen. Der größte Teil von ihnen kehrte nach Kriegsende in die Heimat zurück. Die Rückkehr der evakuierten Mannheimer nach Kriegsende verlief recht schnell. Ende 1945 waren bereits wieder 185.000 Personen gemeldet – mit weiter steigender Tendenz. Neben den Heimkehrern war die Stadt in den folgenden Jahren bald auch das Ziel von Flüchtlingen und Vertriebenen, die hier ihre feste Bleibe suchten. 1950 wurden 11.643 Personen dieser Gruppe zugerechnet – vor allem Sudetendeutsche und Schlesier –, 1961 waren es bereits 34.498 Personen. Hinzu kamen bis 1961 insgesamt 21.598 Flüchtlinge aus der SBZ bzw. der DDR, die hier eine dauerhafte Bleibe suchten. Mit 18 Prozent lag der Anteil dieser Gruppen in Mannheim unter dem Durchschnittswert des Landes, was mit der starken Zerstörung der Stadt und dem fehlenden Wohnraum erklärbar ist.43 1956 erreichte Mannheim mit 285.000 Einwohnern wieder das Vorkriegsniveau, in den folgenden Jahren stieg die Zahl 1966 auf den Höchststand von 332.000. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Während der Zuzug aus diesen Ostgebieten spätestens in den 1960er Jahren verebbte, setzte zeitgleich ein neuer Wanderungsprozess ein. Mit dem Anwerben von ausländischen Arbeitskräften für die boomende Wirtschaft beginnt das jüngste Kapitel in der Migrationsgeschichte Mannheims. Wieder herrschte Arbeitskräftemangel, wieder erschallte der Ruf nach arbeitssuchenden Zuwanderern. 1960 wurden bereit 8.542 Gastarbeiter in Mannheim gezählt. Ihre Zahl stieg ungeachtet des 1973 erlassenen Anwerbestopps in den folgenden Jahren weiter kontinuierlich an. Familienzusammenführungen, eine höheren Geburtenrate der Migranten sowie weiterer Zuzug führte dazu, dass 1977 die 40.000er-Marke übersprungen wurde. Zuletzt hielt sich die Zahl der nichtdeutschen Mannheimerinnen und Mannheimer weitgehend konstant bei etwa 65.000 Personen (2002). Türkischund italienischstämmige Zuwanderer sind dabei die größten Gruppen unter den Migranten, die 2004 einen Bevölkerungsanteil von 21 Prozent hatten. Parallel mit dem Zugzug der neuen Bevölkerungsgruppe ging eine Öffnung der Stadt hin zur multikulturellen Vielfalt einher, die unter anderem in der 1993-1995 erbauten Yavus Sultan Selim Moschee am Luisenring ihren baulichen Ausdruck findet. Politisch repräsentiert wird die nichtdeutsche Bevölkerung seit 2000 vom frei gewählten Migrationsbeirat, dessen Mitglieder unter anderem im Integrationsausschuss des Gemeinderats vertreten sind. Seit 1970 stagniert die Einwohnerzahl Mannheims bei rund 325.000 Personen. Der Rückgang der deutschen Bevölkerung aufgrund deren geringer Geburtenrate konnte in den vergangen Jahrzehnten nur durch Zuwanderung ausgeglichen werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts präsentiert sich Mannheim als Stadt der multikulturellen Vielfalt, in der Menschen aus nicht weniger als 168 Nationen zusammen leben. Das „Mannheimer Experiment“ befindet sich mitten in seiner 4. Phase. Anknüpfungspunkte für Migration im 20. Jahrhundert im heutigen Stadtbild Für das 20. Jahrhundert dominieren naturgemäß die Anknüpfungspunkte für die Zeit des 3. Reiches. Insbesondere für die Verfolgung der Juden, deren Emigration, Deportation und letztliche Ermordung gibt es zahlreiche Orte, an denen eine Brücke in die Vergangenheit geschlagen werden kann. Hierunter fallen beispielsweise der Ort des letzten bestehenden jüdischen Altersheims in B 7, 2-3 oder der ehemaligen jüdischen Schule K 2, 6. Schulen dienten später auch zur Unterbringung von Zwangsarbeitern, weshalb das Historische Stadtinformationssystem eine entsprechende Tafel an der K 5 – Schule vorsieht. An die Migrationsprozesse nach dem 2. Weltkrieg kann für die Vertriebenen und Flüchtlinge am ehemaligen Amt für Lastenausgleich (C 7, 4) oder aber für die Gastarbeiter in G 7, 4 angeknüpft werden, wo sich zahlreiche Gastarbeiterfamilien niedergelassen haben.

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Zusammenfassung Migration gehört zu den Grundlagen der menschlichen Existenz. Die gesamte Menschheitsgeschichte ist geprägt von Wanderungsbewegungen, die mal stärker, mal unscheinbarer sind und auch entsprechend von der Geschichtsschreibung aufgegriffen wurden. Das Beispiel Mannheim hat die Permanenz dieses Prozesses aufgezeigt, die für nahezu alle Gemeinwesen in Mitteleuropa konstitutiv ist. Die vierhundert Jahre der Stadtgeschichte sind geprägt von einer ständigen Zuwanderung und Abwanderung von Menschen. Die Stadt an Neckar und Rhein sticht jedoch insofern heraus, als es hier in der Geschichte der Stadt neben der permanenten Migration mehrere schlagartige Migrationswellen gab, in deren Folge sich Zahl, Aufbau und Herkunft der Bevölkerung drastisch änderten, wie aus dem beiliegenden Schaubild hervorgeht. Die Phasen der verstärkten Migration finden sich mit Pfeilen gekennzeichnet. Deutlich erkennbar sind insbesondere für die Zeit vor 1800 die großen Schwankungen in der Bevölkerungsentwicklung der Stadt. Diese waren im wesentlichen durch äußere Faktoren bedingt wie Kriege, Migrationsprogramme sowie Regierungspolitik (Verlegung der Residenz und Schlossbau). Insgesamt können für Mannheim fünf dieser verstärkten Migrationsphasen hervorgehoben werden. Phase

Beginn

Ende

Jährliches Durchschnittswachstum

1. Stadtgründung 1607-1618

700

1.200

5%

2. Karl Ludwigscher Wiederaufbau 1649-1688

200

4.200

7-8 %

3. Johann Willemscher Wiederaufbau 1697-1719

1.000

5.200

7-8 %

4. Residenzwerdung und Schlossbauphase 1719-1739

5.200

20.000

7%

5. Industrialisierung 1861-1911

27.000

200.000

4%

In diesen Zeitabschnitten kam es jeweils zu einer regelrechten Bevölkerungsexplosion, in deren Verlauf sich die Zahl der Einwohner in kurzer Zeit verdoppelte. Es waren in erster Linie Zuwanderer, die dieses Wachstum bewirkten, sowie – hier in der Statistik enthalten – in Mannheim stationiertes Militär. Dabei kamen in den einzelnen verstärkten Zuwanderungsphasen jeweils völlig unterschiedliche Migrantengruppen nach Mannheim. Waren es beispielsweise nach 1648 vor © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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allem Angehörige der reformierten Konfession, zunächst hauptsächlich aus dem französischen Sprachraum, so ließen sich nach 1700 zahlreiche Katholiken und Lutheraner aus den Territorien der näheren Umgebung sowie jüdische Familien nieder. Der Schlossbau hingegen zog neben dem dominierenden Militär vor allem Adelsfamilien, Staats- und Hofbedienstete an, deren Finanzkraft wiederum zahlreiche Knechte und Mägde sowie Kleindienstleister anlockte. Die industrielle Revolution schließlich machte den Rhein-Neckar-Raum zum Anziehungspunkt für die ärmliche bäuerliche Bevölkerung der näheren und weiteren Umgebung. Mannheim wechselte dadurch mehrfach sein Konfessions- und Sozialprofil. Dies rief natürlicherweise auch Akzeptanzprobleme bei den Alteingesessen gegenüber den Hinzugekommenen hervor. Wiederholt wird Anfang des 18. Jahrhunderts von konfessionellen Streitereien zwischen der alten protestantischen und der neuen katholischen Bevölkerung berichtet. Auch die Bevölkerungsexplosion gegen Ende des 19. Jahrhunderts weckte bei manchem Altmannheimer eher bedrückende Gefühle denn Euphorie: „Die Stadt war klein; die Menschen standen sich näher als heutzutage […] Ein weiter Kreis gemeinsamer Interessen und Lebensanschauungen umspannte den größten Teil der Einwohnerschaft. Mit einem Male änderte sich das Bild: Fremde Elemente wanderten scharenweise ein und drängten die Einheimischen zurück, ohne ihrerseits eine Solidarität der Interessen zu besitzen. So drohte die Bevölkerung in gesellschaftlich zusammenhangslose Atome auseinanderzufallen.“44 Die Integration von Zuwanderern war demnach nicht immer einfach, sie war jedoch stets eine Daueraufgabe in der Mannheimer Stadtgeschichte. Integration ist auch eines der Schlagwörter der Gegenwart. Zwar nimmt sich im Vergleich zu den früheren Hochphasen der Zuwanderung die Migration seit dem Zweiten Weltkrieg quantitativ relativ bescheiden aus. Gleichwohl hat sie durch ihre starke Internationalität und Multikonfessionalität neue Strukturen geschaffen, die bei der Integration Berücksichtigung finden müssen. Sicherlich ist ein Vergleich der Gegenwart zur Situation in den früheren Jahrhunderten nur bedingt möglich. Gleichwohl ist es sicherlich lohnenswert, sich Anknüpfungspunkte in diese einerseits sehr ferne, gleichzeitig jedoch auch sehr nahe und aktuelle Vergangenheit zu erarbeiten. Ein „Erinnerungsort Migration“ kann nur durch die Verankerung des Themas im öffentlichen Bewusstsein errichtet werden. Hierfür ist umfassende Aufklärung notwendig. Die Erinnerung an die Migration in der Geschichte Mannheims ist daher auch ein Themenblock im Historischen Stadtinformationssystem des Stadtarchivs Mannheim. Verschiedene Tafeln mit Text und Bildern werden aufgestellt werden, welche Informationen zu diesem Thema bezogen auf den jeweiligen Standort bieten. Die Migration wird damit im Stadtbild verankert. Ein immaterieller Erinnerungsort Migration kann letztlich aus der Komposition dieser zahlreichen Anknüpfungspunkte gebildet werden, die in verschiedene Phasen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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der Mannheimer Geschichte zurückführen und die Vielfalt und Komplexität des Themas anschaulich machen. „Lernen vor Ort“ hieße dann, die Standorte aufzusuchen und mit deren Hilfe die zahlreichen Facetten des Themas Migration zu erarbeiten. Die mannigfaltige Konkretisierung des Themas im Stadtbild mit Hilfe dieser Anlaufstellen ist eine Möglichkeit zur Aufklärung. Es eröffnet sich damit die Chance, dass das Thema Migration wenn schon nicht auf der deutschen, so jedoch auf der Erinnerungs-Landkarte Mannheims als fester „Erinnerungsort“ eingezeichnet werden kann.

Anmerkungen * Für Hinweise zu diesem Beitrag, insbesondere zum Stadtinformationssystem, danke ich meinen Kollegen und meiner Kollegin vom Stadtarchiv Mannheim: Michael Caroli, Dr. Ulrich Nieß, Dr. Christoph Popp und Dr. Susanne Schlösser. 1 So der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Dieter Simon, beim Wissenschaftsforum der Zeitung „DIE ZEIT“ am 08.12.2003. http://www.zeit.de/wissen/foren/ erinnerung_simon (Stand 13.04.2005). 2 Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bände. München 2001, hier Bd. 1, 18. 3 Rede vom 10.09.02. http://www.bundespraesident.de/top/dokumente/Rede/ix_90565.htm (Stand 13.04.2005). 4 Dokumentation zur Fachtagung der Bundeszentrale für politische Bildung „Das historische Erbe der Einwanderer sichern. Die Bundesrepublik Deutschland braucht ein Migrationsmuseum“ vom 4. bis 6. Oktober 2002 in Brühl, http://www.domit.de/pdf/Tagung-200210-04-Dokumentation.pdf , 44 (Stand 13.04.2005). 5 Auch auf der zitierten Fachtagung der Bundeszentrale für politische Bildung (vgl. Anm. 4) dominierte diese verkürzte Sicht, weshalb einige Referenten dazu aufforderten, den historischen Blick auch auf frühere Jahrhunderte zu richten. 6 Klaus J. Bade: Einführung: Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. In: Klaus J. Bade (Hrsg.): Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. Osnabrück 2002, 7-20, hier 7. 7 Klaus J. Bade: Historische Migrationsforschung. In: Klaus J. Bade (Hrsg.): Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. Osnabrück 2002, 21-44, hier 21. 8 Zitiert ebd. 34 (Anm. 7). 9 Franz Maier: Stadt und Festung Mannheim im Dreißigjährigen Krieg. In: Mannheimer Geschichtsblätter Neue Folge 3 (1996), 175-196, hier 176. 10 Ebd. 196. 11 Warhafftige und gewisse Privilegien der Stadt in Mannheim in der Chur-Pfaltz gelegen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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26 27 28 29 30 31 32

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Heidelberg 1652, 3. Vgl. Ulrich Nieß: „Aus Mannheim ein zweites Rom machen“. Kurfürst Karl Ludwigs Wiederaufbaupläne im Spiegel seiner Privilegien für die Stadt und die Festung. In: Mannheimer Geschichtsblätter Neue Folge 9 (2002), 111-131. Ebd. 14, 16. Grit Arnscheidt: Das Mannheimer Experiment. In: Die ZEIT, 31.01.2002, 6. U. Nieß: a. a. O. 116f. Rudolf Haas/Hansjörg Probst: Die Pfalz am Rhein. 2000 Jahre Landes-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Mannheim 41984, 90. Dominique Guillemenot-Ehrmantraut: L’Église réformée de langue française de Mannheim de 1652 à 1689. Paris 2003, 114-125, 434-460. Bernhard Kirchgässner: Integrationsprobleme einer bürgerlichen Gründungsstadt. Mannheim 1660-1720. Mannheim 1992, 18. G. Arnscheid: a. a. O. 6. Dies stellte Dominique Guillemenot-Ehrmantraut, a.a.O. 97, anhand der Analyse der Heiratsbücher der reformierten Gemeinden in Mannheim fest. Roland Vetter: „Kein Stein soll auf dem andern bleiben“. Mannheims Untergang während des Pfälzischen Erbfolgekrieges im Spiegel französischer Kriegsberichte. (= Sonderveröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 28). Ubstadt-Weiher 2002, 135. Friedrich Walter: Mannheim in Vergangenheit und Gegenwart Band 1: Geschichte Mannheims von den ersten Anfängen bis zum Übergang an Baden (1802). Mannheim 1907, 352. Ebd. 382. Jürgen Freiherr von Kruedener: Die Bevölkerung Mannheims im Jahr 1719. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 116 (1968), 291-347, hier 308. Kruedener differenziert die Bevölkerung dabei in folgende Gruppen: Stammbevölkerung inklusive Juden 3720 Personen, Garnison 1000 Personen, Gesinde 500 Personen, Kapuzinermönche 20 Personen. R. Haas/H. Probst: a. a. O. 92. Friedrich Teutsch: Mannheim im 18. Jahrhundert – Grundriß, Aufriß und Bevölkerung. In: Alfried Wieczorek/Hansjörg Probst/Wieland Koenig: Lebenslust und Frömmigkeit. Kurfürst Carl Theodor (1724-1799) zwischen Barock und Aufklärung. Regensburg 1999, 201-209, hier 205. B. Kirchgässner: a. a. O. 34-38. Eine Analyse des Bevölkerungsverzeichnisses von 1719 ergab, dass von der 3720 Personen umfassenden Stammbevölkerung ca. 6 Prozent französischsprachige Namen hatten. F. Teutsch: a. a. O. 207. Helmut Friedmann: Alt-Mannheim im Wandel seiner Physiognomie, Struktur und Funktionen (1606-1965). Mannheim 1968, 34. Martin Krauß: Armenwesen und Gesundheitsfürsorge in Mannheim vor der Industrialisierung 1750-1850/60. Sigmaringen 1993, 16, Ebd. 14. Stefan Mörz: Haupt- und Residenzstadt. Carl Theodor, sein Hof und Mannheim. Mannheim 1998, 149. Hier miteinbegriffen sind jedoch auch bis Ende der kurpfälzischen Zeit rund 3.800 Angehörige der kurfürstlichen Verwaltung und des restlichen Hofes. M. Krauß: a.a.O. 17. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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34 Grit Arnscheidt: Zwei englische Mannheim-Darstellungen von 1835. Anmerkungen zur britischen Kolonie in der Quadratestadt. In: Mannheimer Geschichtsblätter 9 (2002), 203224, Zitat 206. 35 Laut M. Krauß, a. a. O. 17, ging die Bevölkerung von 1846 bis 1852 um rund 1.700 Personen auf 22.057 Personen zurück, was er auf die Emigration wie auch die Opfer der Choleraepedemie von 1849 zurückführte. Laut Friedrich Walter gab es in Mannheim 369 Opfer dieser Seuche; siehe Friedrich Walter: Mannheim in Vergangenheit und Gegenwart. Band 2: Geschichte Mannheims vom Übergang an Baden (1802) bis zur Gründung des Reiches. Mannheim 1907, 415. 36 Die Auswanderung ist bisher nur in Einzelfällen greifbar. Vgl. hierzu die umfangreiche Auswandererkartei im NL Treutlein 34/1971 im Stadtarchiv Mannheim. 37 Michael Caroli/Friedrich Teutsch: Mannheim im Aufbruch. Die Stadt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Mannheim 1999, 61. 38 Wolfgang von Hippel zufolge wanderten zwischen 1871 und 1913 rund 130.000 Menschen in den Großraum Mannheim/Ludwigshafen. Wolfgang von Hippel: Binnenwanderung und Verstädterung. Zur Herkunft der Bevölkerung von Ludwigshafen und Mannheim im Zeichen der Industrialisierung. In: Institut für Landeskunde und Regionalforschung der Universität Mannheim (Hrsg.): Der Rhein-Neckar-Raum an der Schwelle des Industriezeitalters. Mannheim 1984, 27-48, hier 30. 39 Mannheim in Vergangenheit und Gegenwart. Band 3: Mannheim seit der Gründung des Reiches. Im Auftrag dargestellt vom Statistischen Amt. Mannheim 1907, 182. 40 Anna-Maria Lindemann: Mannheim im Kaiserreich. Mannheim 21988, 47. 41 Karl Hook (Bearb.): Mannheim in Wort, Zahl und Bild. Seine Entwicklung seit 1900. Mannheim 1954, 58. 42 Friedrich Teutsch/Udo Wennemuth: Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. In: Jörg Schadt/Michael Caroli: Mannheim unter der Diktatur. Mannheim 1997, 143. 43 Die Stadt- und die Landkreise Heidelberg und Mannheim. Amtliche Kreisbeschreibung. Band 3. Karlsruhe 1970, 207. 44 Zitat bei A.-M. Lindemann: a. a. O. 47.

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Berlin, Hauptstadt der DDR Chancen und Grenzen der Begegnung mit Spuren des ostdeutschen Staates

„Berlin ist Hauptstadt – Berlin ist kulturelle Metropole – Berlin muss man kennen!“1 So leitet Martin Herden den von ihm herausgegebenen Stadtführer für junge Leute ein. Wenn auch aktuelle Politik und Kultur die wichtigsten Gründe sein mögen, diese Stadt zu besuchen, so ist sie doch auch einer der spannenden historischen Orte in Deutschland. Ein Ort zumal, an dem wie nirgendwo sonst Zeugnisse verschiedener Epochen der jüngeren deutschen Geschichte bei einander stehen oder sogar identisch sind – wo sonst wurden Gebäude im 20. Jahrhundert so oft politisch umgenutzt und umgedeutet? Damit qualifiziert sich Berlin als besonders geeignet für politische Bildung am historischen Ort. An Orte der Geschichte von 1949 bis 1989 möchte ich Sie in diesem Artikel mitnehmen. Zunächst erörtere ich einige Gründe, warum es aus meiner Sicht in der politischen Bildung lohnt, sich mit der DDR zu beschäftigen. Im zweiten Teil stelle ich einige Orte vor, die für das historisch-politische Lernen zu dieser Epoche üblicherweise genutzt werden, und schlage drittens drei Stadtrundgänge vor, die meiner Meinung nach für Jugendgruppen auf der Suche nach Spuren der DDRGeschichte geeignet sind.

1. Die Geschichte der DDR als Gegenstand der politischen Bildung Was kann die Beschäftigung mit der Geschichte der DDR Originäres bieten für die politische Bildung? Was unterscheidet sie von beliebigen anderen Geschichtsepochen? Was bringt sie im Unterschied zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus für das Verständnis des politischen Systems einer Diktatur? Wir haben es zunächst, rein zeitlich betrachtet, mit einem Geschichtsabschnitt zu tun, der abgeschlossen, aber noch nicht lange vergangen ist. Es gibt daher Möglichkeiten, auch jüngere ZeitzeugInnen hinzuzuziehen oder Menschen zu befragen, die bereits in der DDR einen späteren Lebensabschnitt erreicht hatten. Es sind noch jetzt ehemalige Funktionsträger erreichbar. Menschen aus der Opposition sind noch heute politisch aktiv. Strukturen und Erlebnisse sind noch präsenter, und auch Orte sind oft noch weniger verändert als die Zeugnisse älterer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Projekt „Palast des Zweifels“ (ehemaliger Palast der Republik)

Geschichtsabschnitte. Damit ist auch in vielen Fällen die Frage, wie man mit dem Erbe umgehen soll, noch offener. Auch der Blick auf das alltägliche Leben unter den Bedingungen einer Diktatur ist durch die zeitliche Nähe leichter – wenn auch die Gefahr größer ist, durch zu geringen Abstand Erinnerungen mit Projektionen zu verwechseln. Sodann steht die DDR für eine Diktatur, die einen relativen Wohlstand und eine gewisse Zufriedenheit der Bevölkerung ermöglichte. Sie ist, anders als der Nationalsozialismus, auch nicht mit dem Trauma des Krieges und mit den Verbrechen der Massenmorde belastet. Daher erlaubt sie eine sehr viel offenere Diskussion um ihre positiven und negativen Seiten, um alltägliche Erlebnisse, um die Normalität des Lebens unter den undemokratischen Bedingungen. Sie erlaubt ein gelasseneres Abwägen von Ansprüchen, Mitteln und Ergebnissen eines politischen Systems. Sie legt nahe, sich mit den graduellen Nuancen zwischen Diktatur und Demokratie auseinander zu setzen, weil sie nicht das „abgrundtief Böse“ repräsentiert. Die DDR hat sich selbst immer als Gegenbild zur Bundesrepublik verstanden. So bietet auch ihre Geschichte einen guten Ansatzpunkt für kritische Anfragen an unsere eigene Gesellschaft und Politik. Da jener Staat nicht nur vor, sondern auch schon gleichzeitig mit unserer jetzigen Ordnung existierte, lassen sich andere Vergleiche ziehen. Bei allem Respekt vor den Opfern und eingedenk der geschehenen Verbrechen, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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plädiere ich auch dafür, die „Fassade“ der DDR zu betrachten. Der offizielle Anspruch des Sozialismus, für Gerechtigkeit und Frieden zu sorgen, ist Teil ihrer Geschichte und fordert die Frage, wie weit er eingelöst werden konnte. Es lohnt sich, mit Jugendlichen diese Diskussion zu führen, und sie führt nach meinen Erfahrungen schnell zu aktuellen politischen Themen, zu Widersprüchen in unserer Gesellschaft – oder zu unseren Erwartungen und Hoffnungen an diese Gesellschaft. Ich halte die DDR für einen Geschichtsabschnitt, der besonders leicht zu einer diskursiven und kontroversen Geschichtsbetrachtung führt. Es gibt in Berlin viele Orte, die diese „Fassade“ exemplarisch vorstellen. Im Vergleich mit anderen Städten in der früheren DDR ist gerade in Ostberlin viel Aufwand betrieben worden, um diese Ansprüche öffentlich auszustellen. Schließlich hat die Epoche der DDR eine Region der heutigen Bundesrepublik in besonderer Weise geprägt. Insbesondere für Jugendliche aus den neuen Bundesländern wird die Diskussion von DDR-Geschichte immer auch eine Auseinandersetzung mit der Herkunftsgesellschaft ihrer eigenen Eltern, vieler ihrer LehrerInnen, PolitikerInnen und anderer Personen des öffentlichen Lebens sein. Hier kann sie eine Verständnishilfe sein für heutige gesellschaftliche Vorgänge, auch für politische Einstellungen und Debatten im Osten. Das endlose Tauziehen um Orte wie den Berliner Schlossplatz ist ein Indikator hierfür.

2. Orte des Lernens über die DDR in Berlin Fünf wichtige Gedenkstätten widmen sich in Berlin ausdrücklich der Geschichte der DDR. Zwei davon erinnern an die Berliner Mauer, die anderen an die Verbrechen der Staatssicherheit. Selbstverständlich existiert daneben eine Vielzahl von Denkmälern, Erinnerungstafeln, Ausstellungsteilen in Museen oder Galerien, die auf diese vierzig Jahre Bezug nehmen.

2.1 Mauermuseum im Haus am Checkpoint Charlie Am bekanntesten ist wohl das Mauermuseum im Haus am Checkpoint Charlie2. Von einer kleinen Ausstellung aus dem Jahre 1962 angewachsen auf eines der meist besuchten Museen Berlins, bietet es eine Fülle von Fotos und Geschichten zur Berliner Mauer. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die vielfältigen Fluchtversuche; dazu gibt es Exponate wie etwa originale Fluchtfahrzeuge zu sehen. Der Schwerpunkt ist aus der Geschichte des Hauses erklärlich, war es doch über viele Jahre hinweg ein Ort der Kommunikation für Fluchthelfer und Flüchtlinge. Großen Raum nimmt in allen Bereichen die künstlerische Auseinandersetzung mit der Mauer ein. Darüber hinaus wird in einer separaten Ausstellung an den gewaltfreien Widerstand in verschiedensten Ländern erinnert. Alle Ausstellungen sind viersprachig beschriftet. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Es geht in diesem Museum weniger um politische Hintergründe und Zusammenhänge. Es sind hier Schicksale und Geschehnisse zusammengestellt. Seine Stärke als Lernort ist die Möglichkeit, in das Thema einzusteigen: Einzelne Geschichten als Anlass zum Weiterfragen zu finden, Interpretationen von bildenden Künstlern und Aktionskünstlern, von Fotografen und Journalisten als Ausgangspunkt für spannende Diskussionen zu entdecken, Bilder und Objekte zu sehen, die sich im Kopf festsetzen und einen nicht loslassen, bis die kleinen privaten Krimis in den großen politischen Krimi eingefügt sind. Das Museum bietet Gruppen die Vermittlung von ZeitzeugInnen zum Gespräch an, nicht nur von Flüchtlingen und Fluchthelfern, sondern auch von anderen Personen, beispielsweise aus der DDR-Opposition. Es nimmt den Besuchergruppen jedoch nicht die Arbeit der Vor- und Nachbereitung solcher Begegnungen ab.

2.2 Dokumentationszentrum Berliner Mauer Jüngeren Datums ist die Ausstellung im Dokumentationszentrum Berliner Mauer an der Bernauer Straße3. Entstanden aus einer Initiative einer in West und Ost geteilten evangelischen Gemeinde, wurde es 1999 im Gemeindehaus eingerichtet und versteht sich nicht so sehr als Museum, sondern eher als Fundort für Hintergrundinformationen. So bedarf es auch einiger Geduld und Mühe, sich die angebotenen Objekte zu erschließen. Dass sie sich nicht aufdrängen, ist aber auch ein Vorteil. So muss man mit ihnen arbeiten, bloßes Ansehen bringt nicht so viel. Die derzeitige Ausstellung bezieht sich vor allem auf den 13. August 1961 und auf die konkrete Situation in der Bernauer Straße. Neben einem kurzen geschichtlichen Überblick sind vor allem Tondokumente von BerlinerInnen, Fotos der Alliierten und offizielle Schriftstücke Bestandteil der Ausstellung. Eine Einordnung in geschichtliche Zusammenhänge leistet sie nicht von sich aus, kann aber dazu interessantes Material liefern. Der Ausstellungsbesuch erfordert meines Erachtens eine gute Vorbereitung. Es scheint mir nötig, mit Fragen in das Haus zu kommen, Suchaufträge mitzubringen und dann auch die Zeit zu haben, in den Dokumenten zu blättern, an den Hörstationen zu sitzen und so Detail an Detail zu fügen. Das geht sicher besser, je verbindlicher das Gesamtbild bereits ist, in das diese eingefügt werden sollen. Anstöße zur Diskussion alltagsgeschichtlicher und weltpolitischer Fragen und vor allem der Zusammenhänge zwischen diesen sind hier gut zu bekommen. Für geeignet in der politischen Jugendbildung halte ich den Ort auch deshalb, weil er sich bewusst in ein Ensemble von Außenanlagen einbindet, die ich im dritten Teil noch ausführlicher darstellen werde. Instrument zum Machterhalt der Herrschenden in der DDR war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Zwei Berliner Ausstellungen informieren über diesen Unterdrückungsapparat: © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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2.3 Haus 1 des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Im Haus 1 des ehemaligen Ministeriums ist auf Betreiben des Bürgerkomitees, das die Auflösung des MfS einleitete, ab 1990 ein Museum entstanden4. Zu sehen sind die original erhaltenen Arbeitsräume des Ministers und seiner engsten Mitarbeiter, sowie Ausstellungen über Opposition und Widerstand in der DDR und über Struktur und Arbeitsweise des MfS. In weiteren Räumen sind Traditionsgegenstände des MfS zu sehen: Fahnen, Pokale, Orden und Uniformen legen Zeugnis ab vom DDR-typischen Politik-Kult; Wandzeitungen und Poster stellen in der eigenen Sprache Aufgabe, Ideologie und Feindbild vor. Der Ort ist ein historischer und ein Lernort. Auf ersterem liegt dem Augenschein nach der Schwerpunkt. Die Ausstellung besteht aus Text-Bild-Tafeln, reich an Dokumenten und Fotos, nur sparsam kommentiert. Sie erzählt die wichtigsten Episoden aus dem politischen Widerstand in der DDR, stellt aber keine systematischen Zusammenhänge dar. Auch hier empfiehlt es sich, gut vorbereitet auf die Suche nach Selbstzeugnissen des MfS und der Opposition zu gehen. Die Bedeutung politischer Losungen aus ihrer Zeit heraus zu erschließen, könnte ein solcher Auftrag sein. Oder auch nach Aktionen des Widerstands und ihrer Bedeutung zu suchen. Warum etwa sind die Fotos von Harald Hauswald den Machthabern ein Dorn im Auge? Welche Rolle spielt Religion im politischen Widerstand? Welches ist die Kritik linker Intellektueller an der DDR-Politik? Besonders an der letzten Frage, die an den Beispielen von Havemann, Biermann und Bahro dargestellt wird, entzündet sich die Diskussion um den Unterschied zwischen Sozialismus als politischer Idee und Sozialismus als repressiver Realität. Er ist für das Verständnis von Opposition in der DDR unerlässlich, zog er sich doch bis in christlich motivierte Kreise hinein5. Schließlich ist es spannend, nach dem Blickwinkel der AusstellungsmacherInnen zu fragen. Warum etwa ist die Selbstbefreiung ihr Thema, neben dem andere Ursachen für den Umbruch (ökonomische und außenpolitische) in den Hintergrund treten? Die Ministeretage weckt als Ort die meisten Erwartungen, erfüllt sie aber nach meinen Erfahrungen kaum. Zu sehen ist eine sachliche Büroausstattung im Stil der 70er Jahre und die dazugehörige Technik. Jugendliche sind oft beeindruckt von der antiquierten Technik – wer kennt schon noch die Wählscheibe am Telefon? Wenn das Besondere der Einrichtung aber der zeitliche Abstand zur heutigen Erfahrungswelt ist, nicht die Zugehörigkeit zu einer besonderen Behörde, so führt das aus sich heraus nicht zu politischen Einsichten. Wichtiger wäre die Frage, was für Menschen hier welche Arbeit getan haben und mit welcher Selbstverständlichkeit sie dies als ihre wichtige und legitime Aufgabe empfanden. Hier scheint mir der „Originalzustand“ des Ortes eher in die Irre zu führen, da der Blick auf das Statische von den Fragen nach den Prozessen ablenkt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Neben den Ausstellungen verfügt das Haus über ein Archiv mit Originaldokumenten schriftlicher und medialer Art. Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit informiert in einer Ausstellung in Räumen des ehemaligen Innenministeriums der DDR6 nicht nur über die Arbeit der Behörde, sondern auch über Geschichte und Wirkungsweise des MfS. Es handelt sich um sehr sachlich-informative Text-Bild-Tafeln und eine Reihe Ausstellungsobjekte, die hier mehr der Illustration dienen. Ich halte die Ausstellung für gut geeignet, um sich Grundinformationen zu verschaffen, auf denen dann Besichtigungen, Diskussionen oder Zeitzeugengespräche aufbauen können. Insofern ist dies eigentlich kein historischer Lernort, sondern ein Raum der Information.

2.4 Gedenkstätte in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des MfS in Hohenschönhausen Um so mehr an den Ort gebunden ist die Gedenkstätte in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des MfS in Hohenschönhausen7. Das Gefängnis wird im Zustand seiner Nutzungszeit konserviert, soweit das noch möglich ist. Die Arbeit der Gedenkstätte ist eng mit dem Kreis der ehemaligen Häftlinge verknüpft. Ein Besuch ist auch nur im Rahmen von Führungen möglich, die ehemalige Häftlinge gestalten. So ist hier von vornherein die Information und das Gedenken mit dem persönlichen Erinnern von ZeitzeugInnen verbunden. Eine Ausstellung ist hier nicht zu finden, abgesehen von einigen Tafeln, die an ausgewählte Schicksale erinnern. Der Besuch in der Gedenkstätte besteht aus einem einführenden Film und dem Rundgang durch die Haftanstalt. Die Information über den Unterdrückungsapparat am Beispiel der Praktiken im MfS-Gefängnis und das Schicksal der/des Vortragenden stehen gleichberechtigt nebeneinander und lassen so ein ganz besonderes Bild jenes Staates entstehen.

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Dieser Lernort macht mehrere Ebenen historisch-politischer Zusammenhänge beinahe nebenbei deutlich. Zum Einen ist es in der Veranstaltungsform angelegt, die persönliche und die politische Seite von Geschichte gleichzeitig zu betrachten. Die ReferentInnen bringen ihre damaligen politischen Überzeugungen zur Sprache mit dem Konflikt, der daraus resultierte. In den meisten Fällen äußern sie aber auch Gedanken zur heutigen Politik. In der Gedenkstätte wird ebenso deutlich, dass geschichtliche Vorgänge auch innerhalb einer Epoche nicht bruchlos vonstatten gehen. Etwa wenn die Besucher zunächst die Kellerräume aus den 50er Jahren sehen, in denen körperliche Gewalt eine große Rolle spielte, und dann durch die zivilisiert anmutenden Räume des neueren Gefängnisteiles gehen, in denen nur durch den Bericht des Zeitzeugen der psychische Druck deutlich wird. An Hand der sich wandelnden Methoden der Unterdrückung wird deutlich, wie viel Veränderung in vierzig Jahren geschah, und was sich aber auch der Veränderung widersetzte. Ich halte die Gedenkstätte für einen sehr wichtigen Punkt in Programmen, die sich der DDR-Geschichte in Berlin nähern wollen. Sie macht den diktatorischen Charakter des Systems an der brutalsten Stelle sichtbar, die aber viel weniger öffentlich wahrgenommen wurde als das mörderische Grenzregime an der Berliner Mauer. Ein Besuch in der Haftanstalt bedarf der Ergänzung durch sachliche Information sowohl über das MfS als solches, als auch über die Hintergründe seiner Entstehung und die politische Rolle in der Gesellschaft der DDR. Keinesfalls kann erwartet werden, dass eine politisch-historische Analyse in der Besuchssituation selbst möglich wäre. Auf Grund des zeitlichen Umfangs und der emotionalen Schwere bietet sich ein Besuch nur an, wenn der thematische Schwerpunkt mindestens einen vollen Tag umfassen soll.

3. Vorschläge für Stadtrundgänge zur DDR-Geschichte Lernen am historischen Ort kann jedoch nicht nur an den eigens dafür eingerichteten Stellen geschehen. Stadtführungen und Stadtspiele sind pädagogische Methoden, die Objekte aus ihrem aktuellen Kontext heraus in ihre Geschichte zurück versetzen können und so eine sehr enge Bindung von Ort und Geschichte einerseits, von Vergangenheit und Gegenwart andererseits schaffen. Die drei hier beschriebenen Rundgänge wenden sich verschiedenen Aspekten der DDR zu. Im ersten Vorschlag schauen wir uns in der repräsentativen Berliner Mitte um nach bewusst gesetzten architektonischen Signalen aus der DDR-Zeit und dem heutigen Umgang mit ihnen. Der zweite Rundgang widmet sich dem Anspruch des Arbeiter-und-Bauern-Staates nach sozialer Gerechtigkeit und seiner Äußerung im Stadtbild in Form von Wohngebäuden. An dritter Stelle möchte ich auf die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Möglichkeiten der Außenanlagen an der Bernauer Straße bei der Auseinandersetzung mit der Thematik der Berliner Mauer aufmerksam machen.

3.1 Vom Haus der Ministerien zum Palast der Republik Schon die Namen in der Überschrift mit ihren Genitiv-Konstruktionen tragen die Handschrift der DDR. An der Ecke Leipziger Straße/Wilhelmstraße lassen wir uns von einem repräsentativen Gebäude von 1936 beeindrucken. Das Reichsluftfahrtministerium8 war nach dem Zweiten Weltkrieg so gut erhalten, dass die Sowjetische Militäradministration hier einzog und ab 1949 die Regierung der DDR mit einer Reihe von Ministerien. Als Anfang eines Spaziergangs eignet es sich auch deshalb, weil hier am 7. Oktober 1949 der förmliche Akt der Staatsgründung vollzogen wurde – jährlicher Nationalfeiertag bis 1989. Unter den Kolonnaden des nördlichen Eingangs findet sich ein auf Keramikfliesen gestaltetes Wandbild von 1953, das eine Reihe von Bezügen zur tragenden Ideologie der DDR aufweist und den programmatischen Titel trägt: „Die Bedeutung des Friedens für die kulturelle Entwicklung der Menschheit und die Notwendigkeit des kämpferischen Einsatzes für ihn“9. Neben den machtvollen Demonstrationen der Jugend ist es die Schaffenskraft der werktätigen Bevölkerung, die den Frieden und die Entwicklung voranbringt. Prototypen von Arbeitern, Bauern und der Intelligenz reichen sich die Hände und stellen ihren Einsatz auf dem Feld, am Hochofen und am Bau vor. Ergebnis der kulturellen Entwicklung ist eine glückliche Familie vor Häusern der Stalinallee. Hier kann sozialistische Ideologie im Gespräch entwickelt und kritisch beleuchtet werden, auch wenn die akustische Situation wegen der Hauptstraße nicht besonders günstig ist. Aber auch das Gebäude selbst lädt mit seiner Geschichte zum Nachdenken ein: Nutzte die DDR das Haus einzig aus Platzmangel oder eignete sich dieser Machtausdruck einer Diktatur auch aus anderen Gründen? Für wie gelungen halten wir die Restaurierung durch den heutigen Eigentümer10 – immerhin wurde der Zustand von 1936 äußerlich wiederhergestellt und von den Kunstobjekten allein das Wandbild erhalten. Nur ein Schritt ist es an dieser Ecke auch vom Nationalfeiertag Ost zum Nationalfeiertag West. Auf dem Vorplatz trafen am 17. Juni 1953 die protestierenden Arbeiter ein, um ihre Forderungen der Regierung der DDR vorzutragen. Hier bekamen die Sicherheitskräfte die Situation nur unzureichend in Griff und ließen sowjetische Panzer eingreifen. Diese Konfrontation war ein grundlegendes Trauma für beide Seiten, das die Geschichte der DDR prägte: Die Staatssicherheit hatte noch 1989 Angst vor einer Wiederholung des 17. Juni11, tief saß der Schock der Angreifbarkeit. Die Bevölkerung hatte hier ihren Mut und ihre Aussichtslosigkeit erlebt. An die Ereignisse erinnert ein Bodenbild im gleichen Format wie das Wandbild: ein verfremdetes Pressefoto der Demonstrationen von 195312. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Eine Ecke weiter, Wilhelmstraße/Voßstraße, ist ein anderer Umgang mit nationalsozialistischem Architekturerbe zu betrachten. Die Reichskanzlei13 Hitlers, an die auch eine Text-Bild-Tafel erinnert, wurde nämlich 1950 vollständig beseitigt. Nach vielen Jahren der Brache – das Gelände sollte zunächst ein Demonstrationsplatz werden, ist dann aber auf Grund seiner Nähe zur Sektorengrenze nicht ausgebaut worden – wurden ab 1988 Wohnblöcke14 errichtet. Nicht nur die Begründung der DDR aus dem antifaschistischen Widerstand, sondern auch ihre sozialpolitischen Ansprüche sind hier im Stadtbild zu sehen und können Gespräche über beides und vielleicht sogar über ihren Zusammenhang anregen. Mit der U-Bahn fahren wir zwei Stationen bis zum Hausvogteiplatz, nicht ohne im U-Bahnhof „Mohrenstraße“ die steinernen Reste der Marmorgalerie der Reichskanzlei zu betrachten. Wenn wir vorn aussteigen und durch die Grünanlage laufen, ist der Schlossplatz schnell erreicht. Er erinnert zunächst einmal an eine Nicht-Existenz: Das Berliner Stadtschloss15, im Krieg schwer beschädigt, wurde 1950 abgerissen zugunsten eines Aufmarschplatzes für die Demonstrationen, die fester Bestandteil der sozialistischen Staatskultur waren. Es existieren viele bekannte Fotos, die diese Veranstaltungsform illustrieren. Warum und wofür wurde da demonstriert? Zeigte der Staat seine Macht oder zeigten die BürgerInnen ihr Vertrauen zum System? Wurden die Leute zum Marschieren gezwungen oder machte es Spaß, weil mal was los war? Was waren die Forderungen auf den Transparenten, und an wen richteten sie sich? Sollten Botschaften den Westen erreichen oder handelte es sich vor allem um eine Einschwörung des eigenen Volkes? Und warum durften nur die staatlich vorformulierten Losungen verwendet werden? Solange noch kein neues Gebäude den Platz des Schlosses einnimmt, ist der Blick frei auf ein spannungsreiches Panorama des 20. Jahrhunderts. Wir sehen zum Berliner Dom16 als Zeugnis des imperialistischen Kaiserreiches, der Allianz von Thron und Altar. Nach den Kriegszerstörungen wurde erst ab 1975 mit dem Wiederaufbau begonnen, zu einer Zeit, als die Machthaber erkannt hatten, dass die Religion nicht zu zerschlagen war und das Bündnis wieder suchten. Andererseits war es die erklärte Absicht von Kirchenoberen, zur „Kirche im Sozialismus“ zu werden17, nicht nur ein Anbiedern oder Abfinden mit den Machtverhältnissen, sondern auch eine Drohung, ähnlich den Rufen der DemonstrantInnen von 1989: „Wir bleiben hier!“. Auf der anderen Seite des Platzes, etwas versteckt hinter dem Neubau des Auswärtigen Amtes, das ehemalige Reichsbankgebäude18, das mit seiner steinernen Fassade und den monumentalen Säulen auf das Architekturverständnis des Nationalsozialismus verweist, aber auch noch die Spuren der Moderne trägt, in der ornamentlosen Fensterreihung und vor allem in der technischen Ausführung als Stahlskelettbau. Nach dem Finanzministerium der DDR zog 1959 dort das Zentralkomitee der SED19 ein, die höchste Instanz der herrschenden Partei. Nicht © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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zufällig ist die Standortwahl für Staatsoberhaupt und Legislative auf benachbarten Grundstücken. Das Staatsratsgebäude20, gleich nebenan, zeigt darüber hinaus einen Bezug zur angeblichen Vorgeschichte. Als einziger Rest des Schlosses wurde das Portal IV als Eingang rekonstruiert. Der Grund ist im Jahr 1918 zu suchen. In den Wirren der Novemberrevolution sprach Karl Liebknecht von diesem Balkon und rief eine sozialistische Republik aus. Sein Rufen half nicht, der Souverän entschied damals anders. Die DDR-Regierung konnte sich aber in dieser Tradition sehen und meinte, das Vermächtnis dieses Rufens zu erfüllen. An der Ostseite schließlich der Palast der Republik21, Sitz des Parlamentes, in dem es zwar mehrere Parteien und Organisationen gab, jedoch nur eine Meinung. Daneben war das Haus Austragungsort der Parteitage der SED, aber auch wirkliches Volkshaus. Restaurants, Theater, Bowlingbahn und Veranstaltungen gab es hier und zwar in der Tat vielfach öffentlich und von der Bevölkerung angenommen. Der Palast führt uns zurück zur Frage der historischen Umnutzung. All das Für und Wider in Bezug auf Restaurierung oder Abriss des Palastes, sowie die Argumente um Notwendigkeit und Art des Wiederaufbaus des Schlosses füllen Stunden leidenschaftlicher Diskussionen. In unseren Zusammenhang gehört mindestens die Frage der Identifikation der Bevölkerung mit dem Palast als Symbol des Ostens. Die Frage, welcher Osten sich hier vor allem wiederfindet, sei auch gestattet, denn tief sind die Gräben zwischen Machtelite, schweigender Mehrheit und Unterdrückten. Die genannten Gebäude sind Ausdruck eines Machtverständnisses und einer Ideologie. Was müsste nach der Meinung der Besichtigenden die Bundesrepublik hier bauen, wenn sie ihr politisches Funktionieren architektonisch darstellen wollte? Es lohnt sich, anschließend den Palast zu umrunden und auf der anderen Seite die Herren Marx und Engels, in Bronze gegossen22, zu treffen. Sie stehen dort in aller Seelenruhe und lassen sich nicht mehr bewegen von den sie umgebenden Bildstelen mit Motiven zur Arbeiterbewegung. Fragen wir sie einmal nach ihrer Meinung zur gesellschaftlichen Entwicklung im Sozialismus und wieder von ihm weg. Und auch danach, was sie eigentlich noch hier zu suchen haben. War die Idee gut und die Verwirklichung schlecht, wie oft zu hören ist? Aber haben so nicht viele Deutsche auch nach dem Ende der Hitlerdiktatur gedacht? Ist also bereits in der marxistischen Gesellschaftsanalyse die Unfreiheit der Alternative enthalten? Und ist diese Unfreiheit wirklich schlimmer als die mörderischen Wirkungen des sich globalisierenden Kapitalismus? Politische Bildung am historischen Ort.

3.2 Vom Hinterhofmilieu zum Arbeiter-und-Bauern-Staat Der zweite Rundgang soll uns durch den Friedrichshain führen in einem etwa neunzigminütigen Spaziergang durch das 20. Jahrhundert. So königlich der Name, so proletarisch der Kiez: Ein Gang durch den Stadtbezirk Friedrichshain zeigt uns © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Arbeitergeschichte – vor, während und nach der DDR-Zeit. Beginnen wir am S-Bahnhof Warschauer Straße, einem ungemütlichen Verkehrsknoten mit Blick auf die Skyline in Richtung Alexanderplatz. Der Weg führt zunächst einmal weg vom Sozialismus. Oder doch eigentlich direkt auf ihn zu. Wir gehen durch die Marchlewskistraße, in der Wohnhäuser der preiswerteren Art, wie überall im Mietshausgürtel Berlins rings um den alten Stadtkern, zu finden sind23. Zum Teil gibt es hier immer noch unsanierte Hinterhöfe, die einen Eindruck geben von den Lebensverhältnissen der Ärmeren um 1900 – eben der Arbeiter der umliegenden Fabriken, an denen es im Friedrichshain nicht mangelt: Osram, Knorr-Bremsen, Zentralviehhof, Brauereien. Wohnungsgrundrisse, Fotos und Geschichten24 machen deutlich, wie wenig wert Leben und Gesundheit schlecht zahlender Familien im Verhältnis zu den Bodenpreisen waren, die dazu führten, dass hier so dicht wie nirgendwo sonst in Europa gebaut wurde. Zur DDR führt diese Straße aus mehreren Gründen. Die Mietskasernen als Bild des ungebändigten Kapitalismus können als Beleg für die Notwendigkeit des Gegenentwurfes gesehen werden: Arbeiterelend als ideologische Grundlage für den Aufbau eines sozialistischen Staates25. Was der Gegenentwurf sein sollte, zeigen wiederum Wohnhäuser aus den 1950er Jahren. Bevor die Marchlewskistraße an der Weberwiese auf die Rückseite der Karl-Marx-Allee stößt, steht rechts das Hochhaus an der Weberwiese26, gefeiert als das erste sozialistische Haus in Berlin. Sozialistisch an diesem Haus war nicht nur der Bauherr, sondern auch das Konzept, Komfort für die Leute aus den Hinterhöfen anzubieten. Aufzug, Zentralheizung, Bad mit Warmwasser und freie Sicht in jede Richtung waren kurz nach dem Krieg keine Selbstverständlichkeit. Die neoklassizistischen Formen unterstreichen das Anliegen: Paläste für die Arbeiter. Über der Tür ein Vers aus Bertolt Brechts „Friedenslied“ – Hinweis auf eine andere ideologische Grundlage der DDR. Frieden – wenn er denn so verstanden wurde, wie die Machthaber es wollten – war eine Kategorie, auf der sich nach diesem Krieg ein Gesellschaftsentwurf entwickeln ließ und der zu widersprechen sich selbstverständlich strengstens verbot. Frieden aber als parteiliche Lösung: „Friede in unserem Lande! Friede in unserer Stadt! Daß sie den gut behause, der sie gebauet hat!“27 Übrigens waren auch die Hinterhöfe, die wir soeben besichtigten, während der vierzig sozialistischen Jahre bewohnt. Das Scheitern des Sozialismus, auch an ökonomischen Grenzen, ist hier augenfällig. Und wer war eigentlich Marchlewski? Wie kommt es, dass die Straße noch heute den Namen eines Kommunisten28 trägt? Hat das etwas mit Identität zu tun, mit Ideologie oder mit Vergesslichkeit? Wie sind wohl die Wahlergebnisse der PDS in diesem Kiez? Und ist das ein Zeichen für kommunistische Gesinnung, für „Ostalgie“ oder für die Bürgernähe einer ehemaligen Arbeiterpartei? © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Nach diesen historischen Stolpersteinen, die uns immer wieder in die Gegenwart holen, treten wir hinaus auf die Karl-Marx-Allee. Auch Karl Marx ist also noch aktuell, nicht jedoch jener Diktator, dessen Namen die Straße in den 1950er Jahren trug: Josef Stalin. Neben allgemeinen Informationen über das Konzept der monumentalen Bebauung29 an der Stalinallee30 und über die Ereignisse vom 17. Juni 1953, die hier ihren Ausgang nahmen, betrachten wir auch einige Details wie etwa dieses: Am Haus Nr. 81 ist über der Tür eine Inschrift zu sehen, bekrönt von dem Symbol des Fünfjahrplanes. Was war diese Planwirtschaft und womit wurde sie begründet? Haben hier wirklich die Arbeiter und Bauern das Steuer in der Hand gehalten, wie es die Symbolik von Hammer und Ähren nahe legt? Und ist die Arbeit für das Volkseigentum tatsächlich die Grundlage für den Frieden, der allerdings sicherheitshalber doch bewaffnet sein muss – da lässt der Spruch nichts an Deutlichkeit vermissen31. Nach einer nicht zu kurzen Strecke entlang dieser Präsentiermeile aus den 50er Jahren begeben wir uns wieder hinter die Fassaden, diesmal auf der Nordseite, um in der Fürstenwalder Straße noch einen Eindruck vom sozialistischen Wohnungsbau der 1980er Jahre zu bekommen. Das Bauen mit Betonfertigteilen war sicher eine Reaktion auf die Erfahrung, dass es ökonomisch nicht zu schaffen sein würde, Paläste für das ganze Volk, so klein es auch war, zu errichten. Viel geschmäht, zeigt die „Platte“ dennoch ihre Stärken32, wenn wir an die Höfe der Marchlewskistraße zurückdenken: Bad, Einbauküche und Fernheizung, viel Licht durch das breite Wohnzimmerfester, begrünter Platz zwischen den Blöcken, schließlich die staatlich mitgelieferte Infrastruktur, hier in Form einer Kindereinrichtung. Auch das ist die „Vorderseite“ der DDR, ihr umfassendes Sozialsystem, hinter dem sich gewiss die zweifelhaften Züge von Pädagogik und Versorgungsmentalität nicht verstecken können. Wir gelangen an den Endpunkt unserer Besichtigung, den Platz der Vereinten Nationen. Er hieß bis 1992 Leninplatz. Dem russischen Revolutionär wurde bis in die Gegenwart hinein höhere Achtung gezollt als seinem Nachfolger, wohl weil seine Diktatur weniger Menschen das Leben kostete. Dennoch, auch dieses Denkmal33 ist inzwischen verschwunden, es hatte – 19 Meter hoch –den Platz dominiert. Um seine Entsorgung hatte es großen Streit gegeben – noch ein Ansatzpunkt für die Diskussion über den Umgang mit der Vergangenheit.

3.3 Vom Osten nicht in den Westen: Die Mauer Am Nordbahnhof steigen wir aus der S-Bahn. Statt Sonnenschein empfängt uns künstliches Licht und der Lärm eines unterirdischen Bahnhofs. Den nördlichen Ausgang „Bernauer Straße“ nutzend, vorbei an den blinden Fenstern der ehemaligen Fahrkartenschalter, streift uns eine Ahnung vom früheren „Geisterbahnhof“. Das ist gut so, denn hier beginnt ein etwa einstündiger Rundgang zur Geschichte der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Teilung der Stadt. Tafeln am Straßenrand, bebildert und zweisprachig mit Text versehen, gibt es erst draußen. So kann hier vorerst erzählt werden von den unter Ostberlin durchfahrenden S-Bahn-Zügen, mit denen man von West nach West fuhr – wenn man dies denn durfte. Schon nach wenigen Schritten laufen wir an einem Mauerrest entlang, an dem Souvenirjäger ihr Werk mit Hammer und Meißel schon reichlich getan haben. Fast nicht mehr zu unterscheiden von den Gehwegplatten ist ein Gedenkstein für ein unbekanntes Maueropfer. Dann steht es leibhaftig vor uns, ein Stück Berliner Mauer, wie aus dem Bilderbuch, grau und unversehrt. Vorderlandmauer, Hinderlandmauer und Todesstreifen zeigen sich brav eingerahmt von zwei überdimensionierten Metallwänden. Wir stehen vor einem Nachbau34 und können diesen außer für die konkrete Anschauung nutzen für Fragen wie diese: Wie geht unsere Gesellschaft mit der Geschichte um? Wie, wozu und warum gestalten wir Gedenkorte? Betrifft uns ein Ort eher originalgetreu nachgebaut oder eher in symbolischer Darstellung? Sind es die Steine, die zu uns sprechen oder die Geschichten? Die Metallwände dienen gleichzeitig als Träger einer Inschrift und als Stelle des offiziellen Gedenkens. Oft sind hier Blumen und Kränze zu finden. Einige Meter weiter steht die Kapelle der Versöhnung35, ein Rundbau aus Lehm und Holz mit Versatzstücken der 1985 gesprengten Versöhnungskirche. Die recht unterschiedlichen Erinnerungsstätten in einem Ensemble laden zu einer Diskussion über Erinnerungskultur ein. Jede einzelne bietet aber auch die Möglichkeit zu einer speziellen Herangehensweise, eine gute Möglichkeit für Gruppenarbeit. So kann man sich mit Hilfe von Zeichnungen und der eigenen Augen mit dem technischen Aufbau der Grenzanlagen beschäftigen. Eine gute Auswahl von Bildern kann Unterschiede zu Tage treten lassen, die darauf aufmerksam machen, wie unterschiedlich „die Mauer“ über die Zeit hinweg aussah und letztlich auch auf politische Entwicklungen in der DDR und in den deutsch-deutschen Beziehungen hinweisen. In der Kapelle lohnt sich die Suche nach Resten aus der alten Kirche, und es tut sich hier eine ganz andere Ebene der Erinnerung auf: Symbolisches und Religiöses kommen zur Sprache, vielleicht auch ein Ausgangspunkt zur Beschäftigung mit der Rolle der Religion in den beiden deutschen Staaten. Schließlich gibt es in der Umgebung mehrere Gedenksteine. Hier kann man sich zum Beispiel Gedanken über die Inschriften machen. Schlüsselwörter führen zu dahinter stehenden politischen Bildern und Anschauungen. Drei Arbeitsthemen sind so entstanden, die von den in der Stadt vorhandenen Objekten ausgehen und ihnen eine Bedeutung in der politischen Diskussion geben. Auf der anderen Straßenseite gibt es die im zweiten Teil beschriebene Ausstellung im Dokumentationszentrum zu besichtigen. Ein Besuch ist sicher zu empfehlen, wenn die Einbettung in ein Seminar gegeben ist. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Berlin, Hauptstadt der DDR

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Die beschriebenen Rundgänge, die Museumsbesuche und die sich daran entzündenden Fragen sind Beispiele dafür, wie ein lebendiges Bild der ehemaligen DDR aus historisch-politischer Perspektive entstehen kann und auch weiterführbar ist in höchst aktuelle Gespräche. Es bleibt mir nun, inspirierende Begegnungen zu wünschen mit den Orten, ihren Geschichten und mit Menschen, deren Geschichten es sind.

Anmerkungen 1 Berlin für junge Leute, 4. 2 Haus am Checkpoint Charlie. Friedrichstraße 43-45, 10969 Berlin-Kreuzberg. Direkt am U-Bahnhof Kochstraße. Telefon (030) 25 37 25-0. www.mauermuseum.de. 3 Dokumentationszentrum Berliner Mauer. Bernauer Straße 111, 13355 Berlin-Wedding. Nähe S-Bahnhof Nordbahnhof. Telefon: (030) 4 64 10 30. www.berliner-mauer-dokumentationszentrum.de. Ausführlicher L. Klaaßen: Dokumentationszentrum Berliner Mauer. 4 Stasimuseum. Normannenstraße 22, Haus 1, 10365 Berlin-Lichtenberg. Direkt am UBahnhof Magdalenenstraße. Telefon (030) 5 53 68 54. www.stasimuseum.de. Trägerverein ist die Antistalinistische Aktion (ASTAK). 5 Vgl. St. Wolle: Die heile Welt der Diktatur, 250. 6 Informations- und Dokumentationszentrum der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR. Mauerstraße 38, 10106 Berlin-Mitte. Nähe S-Bahnhof Unter den Linden. Telefon (030) 23 24-79 51. www.bstu.de. 7 Gedenkstätte Hohenschönhausen. Genslerstraße 66, 13055 Berlin-Hohenschönhausen. Nähe Straßenbahnhaltestelle Freienwalder Straße. Telefon (030) 98 60 82-30, -32. www.gedenkstaette-hohenschoenhausen.de. Ausführlicher R. Ide: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. 8 Ernst Sagebiel: Reichsluftfahrtministerium. 1936. 9 Max Lingner, Januar 1953. 10 Bundesministerium der Finanzen. 11 So geäußert vom Minister Erich Mielke in einer Dienstbesprechung Ende August 1989. Vgl. J. Gieseke: Die DDR-Staatssicherheit. 92. 12 Wolfgang Rüppel, 2000. 13 Neue Reichskanzlei, Albert Speer, 1938/39. 14 Wohnbebauung Wilhelmstraße 1988/89. 15 Berliner Stadtschloss, ab 1443 an dieser Stelle, zuletzt in seiner barocken Erweiterung 1699 von Andreas Schlüter und 1706-1713 von J. F. Eosander von Göthe. 16 Berliner Dom, Julius Carl Raschdorff, 1894-1905. 17 Vgl. St. Wolle: A.a.O. 250. 18 Reichsbank, Heinrich Wolff, 1940. 19 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, 1946 aus der kommunistischen und der sozialdemokratischen Partei in der sowjetischen Besatzungszone gebildet. 20 Staatsratsgebäude, Roland Korn und Kollektiv, 1962-64. 21 Palast der Republik, Heinz Graffunder/Karl-Ernst Swora und Kollektiv, 1973-76. 22 Denkmalgruppe Karl Marx und Friedrich Engels, Ludwig Engelhardt, 1986. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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23 Mietshausring um die Berliner Innenstadt, 1862-1914 nach dem Straßenplan von James Hobrecht. 24 Beispielsweise aus ASUM: Bewegte Zeiten. 25 Vgl. die Darstellung von Arbeiterelend in Schulbüchern der DDR, z.B.: Heimatkunde. Lehrbuch für Klasse 4. Berlin 1978, 82 f, 88 ff. 26 Haus an der Weberwiese, Hermann Henselmann und Kollektiv, 1951/52. 27 Bertolt Brecht: Friedenslied. Lesebuch Klasse 7. Berlin 21985, 157. 28 Julian Marchlewski (1866-1925), Mitbegründer der Polnischen Sozialistischen Partei und später der Spartakusgruppe. 29 Stalinallee, Architektenkollektive Hartmann, Henselmann, Hopp, Leucht, Paulick, Souradny, 1952-1960. 30 T. Köhler: Unser die Straße – Unser der Sieg. 31 „Lasst uns zusammen in größter Wachsamkeit unser Aufbauwerk schützen, damit Wirklichkeit wird, wie es in unserer Nationalhymne heißt: Und die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.“ 32 Vgl. Petra Gruner: P2 macht das Rennen. Wohnungsbau als sozio-kulturelles Programm. In: Alltagskultur der DDR, 96 ff. 33 Lenindenkmal, Nikolai Wassiljewitsch Tomski, 1970. Das Denkmal wurde 1991/92 unter Protesten aus der Bevölkerung abgerissen. Vgl. Heiko Schützler: 19. April 1970, Das Lenindenkmal wird enthüllt. In: Berlinische Monatsschrift 6/2001, 127. 34 Gedenkstätte Berliner Mauer, 1998. 35 Kapelle der Versöhnung, Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth, 1999.

Literatur ASUM – Arbeitsgruppe für Sozialplanung und Mieterberatung: Bewegte Zeiten. Friedrichshain zwischen 1920 und heute. Berlin 2000. Friedrich Dieckmann: Wege durch Mitte. Stadterfahrungen. Berlin 1995. Polly Feversham, Leo Schmidt: Die Berliner Mauer heute. Denkmalwert und Umgang. Berlin 1999. Thomas Flemming, Hagen Koch: Die Berliner Mauer. Grenze durch eine Stadt. Berlin 2000. Jens Gieseke: Die DDR-Staatssicherheit. Schild und Schwert der Partei. Bonn 2000. Martin Herden (Hrsg.): Berlin für junge Leute. Berlin 2000. Robert Ide: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Die Neuen Architekturführer Nr. 43. Berlin 2003. Martin Jander: Berlin (DDR). Ein politischer Stadtspaziergang. Berlin 2003. Lars Klaaßen: Dokumentationszentrum Berliner Mauer. Die Neuen Architekturführer Nr. 57. Berlin 2004. Tilo Köhler: Unser die Straße – Unser der Sieg. Die Stalinallee. Berlin 21995 Peter Maser: Die Kirchen in der DDR. Bonn 2000. Wolfgang Ribbe, Jürgen Schmädeke: Kleine Berlin-Geschichte. Berlin 31994. Stadt Eisenhüttenstadt/Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hrsg): Alltagskultur der DDR. Begleitbuch zur Ausstellung „Tempolinsen und P2“. Berlin 1996. Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989. Bonn 21999. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Das Berliner Olympiastadion als Lernort Ein eintägiges Seminar am Schauplatz des WM-Endspiels 2006

1. Fußballstadien und historisch-politisches Lernen 9.00 bis 9.30: Allgemeine Einführung im Seminarraum in der Unterkunft der Gruppe Seit einigen Jahren wird der Fußballsport als Gegenstand feuilletonistischer wie auch wissenschaftlicher Artikel nachhaltig wahrgenommen und diskutiert. Dabei fließen in den Diskurs um ein neuzeitliches Massenphänomen sowohl mentalitäts- und kulturgeschichtliche wie auch sprach- und politikwissenschaftliche oder – nicht zuletzt – philosophische Fragestellungen ein. Denn das, was gemeinhin als die ‚vielleicht schönste Nebensache der Welt‘ bezeichnet wird, ist unter anderem „mediales Event und Metapher, Kompensation der Wirklichkeit und sie selbst zugleich.“1

Blick auf das Marathontor und den Glockenturm © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Beim Fußball geht es unter anderem auch um die Herausbildung und Zurschaustellung von Identität(en)2, deren Konzeption in hohem Maße „von materiellen Anhaltspunkten“3 geprägt sein kann. Hier stellt sich unter den Vorzeichen des historisch-politischen Lernens vor Ort die Frage, welche Rolle den Schauplätzen von Fußballspektakeln beigemessen werden kann, zumal einzelne Stadien als Speicher für individuelles oder kollektives Empfinden gleichermaßen und damit als Projektionsflächen für gesellschaftliche Bedürfnisse dienen4. An einem Symbolgehalt des 1936 erbauten und mittlerweile vollständig modernisierten Berliner Olympiastadions im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland (WM) sind vor allem national wirksame Instanzen, d.h. der Deutsche Fußball-Bund (DFB) bzw. die maßgeblich an der Ausrichtung des internationalen Turniers beteiligten Funktionäre interessiert. Da in dieser Angelegenheit im unmittelbaren Vorfeld der WM stets vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung Deutschlands („Drittes Reich“, Bonner Republik, Berliner Republik) und der Erinnerung an zurückliegende Großveranstaltungen (Olympische Spiele 1936 in Berlin bzw. 1972 in München) debattiert wird, soll im Rahmen des Seminars erörtert werden, inwiefern die umgebaute Hauptstadtarena als Schauplatz des WM-Finales und gleichermaßen als Träger der politischen Identität eines Staates bzw. dessen Hauptstadt inszeniert werden kann. Mit einem Blick auf Berlin wird dabei auch zu fragen sein, wie die architektonische Zeichenhaftigkeit des modernisierten Stadions sich in die Erinnerungslandschaft der Metropole einfügt. In methodischer Hinsicht bietet es sich im Rahmen der hier skizzierten Einführung an, die grundlegenden Inhalte des bevorstehenden Seminars auf einen Vortrag des Seminarleiters zu konzentrieren, der auch das Vorwissen der Gruppe berücksichtigt. Als den Sachverhalt konkretisierende Medien sollen Abbildungen und Filmausschnitte eingesetzt werden.

2. Stationen einer symbolpolitischen Geschichte des Berliner Olympiastadions 9.30 bis 12.00: Transfer zum ehemaligen Reichssportfeld, geführter Rundgang mit moderierten Diskussionselementen über das ehemalige Reichssportfeld und durch das Berliner Olympiastadion 2.1 Ein Repräsentationsbau des NS-Regimes wird zum denkmalgeschützten „Wahrzeichen“ Westberlins (1936-1966) Das Olympiastadion wurde nicht als vereinseigene Arena errichtet, sondern fungierte als zentraler Austragungsort der Spiele von 1936 in seiner antikisierenden und monumentalen Symbolsprache als Verkörperung nationalsozialistischer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Identität. Während der Olympiade inszenierte vor allem die Regisseurin Leni Riefenstahl das Bauwerk mit den entsprechenden filmischen Mitteln im Dienste der NS-Ideologie. Das im Westen hinter dem Marathontor des Olympiastadions angrenzende Maifeld war als gigantisches Aufmarschgelände für politische Kundgebungen ein weiterer markanter Teil der Gesamtanlage Reichssportfeld. Im nahegelegenen (während der Jahre 1960 bis 1963 wieder aufgebauten) Glockenturm hing 1936 die Olympiaglocke; außerdem waren dort während der Spiele die Polizei, der Sanitätsdienst sowie Rundfunk- und Filmreporter untergebracht. Die Langemarckhalle, ebenfalls am Maifeld gelegen, widmeten die Nationalsozialisten dem Andenken der im Ersten Weltkrieg bei Langemarck gefallenen deutschen Soldaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Olympiastadion 1949 den Berliner Behörden für zivile Nutzungszwecke übergeben und dient seit der Einführung der Fußballbundesliga im Jahr 1963 dem Berliner Sportclub Hertha als Austragungsort für Heimspiele5. Das Maifeld wird gegenwärtig als Trainingsgelände genutzt. Das gesamte Reichssportfeld steht seit 1966 als eines der „prägnantesten Wahrzeichen“6 der Stadt – so die Formulierung des Landesdenkmalamtes – unter Denkmalschutz.

2.2 Nicht nur beim innerdeutschen sportlichen Kräftemessen steht das Berliner Olympiastadion im Abseits (1974) Vor dem Hintergrund der NS-Geschichte erschien das Olympiastadion im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 1974 immer noch als historisch kontaminiert – trotz der eigens für das Großereignis errichteten modernen Teilüberdachung, die sich in ihrer transparenten Gestalt von der historischen Bausubstanz abhob: „Die bemühte Erhabenheit der Säulengänge, die aufdringliche Schlichtheit, der sakrale Anspruch lassen sich nicht wegretuschieren. Die Historie ist eingebaut. Immerhin haben ihm [dem Stadion; Anm. d. Verf.] die Berliner zwei Schirmmützen in die Stirn geschoben, zwei Schutzdächer […]. Die Kappen geben dem Monument neuerdings etwas Lustiges. Es ist, als ob sich die geteilte Millionenstadt nach heiteren Spielen sehnt.“7 Mit den bereits 1967 neu hinzugekommenen vier Flutlichtmasten wurde das Stadion in der geteilten Stadt zudem als ein bauliches „Provisorium“8 wahrgenommen, in dem während der WM 1974 lediglich drei Vorrundenspiele stattfanden, darunter eine Begegnung, die das westdeutsche Team gegen Chile mit 1:0 gewann, sowie eine Partie, in der die DDR-Auswahl ebenfalls auf Chile traf (1:1). Das direkte sportliche Kräftemessen der beiden deutschen Teams fand in der Vorrunde im Hamburger Volksparkstadion statt, wo die DDR in „90 Minuten Klassenkampf“9 mit 1:0 die Oberhand behielt. Die restlichen 35 der insgesamt 38 WM-Spiele bestritten die 16 Teilnehmer in acht westdeutschen Stadien10. Frankfurt/Main – die Stadt mit den zentralen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Einrichtungen des DFB – stellte mit dem Waldstadion den Austragungsort für die Eröffnungsfeier und das Eröffnungsspiel; der Schauplatz des Endspiels zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden (2:1) war München. Das dortige Olympiastadion konnte während des gesamten Turniers mit seiner lockeren Zeltdacharchitektur und der geschmeidigen Parkanlage im direkten Umfeld – wie bereits bei den 1972 in der bayerischen Landeshauptstadt ausgetragenen Olympischen Spielen – als architektonisches Symbol identifiziert werden, das sich bewusst absetzte von der ideologischen Instrumentalisierung der Spiele von 1936, als deren bauliches Sinnbild das Berliner Stadion gilt11. Eine gegenüberstellende Betrachtung der beiden hier genannten Stadien taucht auch im Kontext der symbolpolitischen Debatte um die WM 2006 immer wieder auf (vgl. hierzu Abschnitt 2.4!) – auch wenn das Münchner Olympiastadion von 1972 für den Fußballbetrieb nicht mehr genutzt wird und die WM-Spiele in der neuerbauten Allianz-Arena vor den Toren der süddeutschen Metropole ausgetragen werden.

2.3 Bei der Fußballeuropameisterschaft wird das „Deutsche Wembley“ nicht berücksichtigt (1988) Als die Bundesrepublik Deutschland bei der Fußballeuropameisterschaft 1988 erneut Gastgeber bei einem sportlichen Großereignis war, wurden die 12 Gruppenspiele unter den acht Teilnehmern in acht westdeutschen Stadien ausgetragen12. Das Finale zwischen den Niederlanden und der Sowjetunion (2:0) fand im Münchner Olympiastadion statt. Nach Berlin vergab der Deutsche Fußball-Bund diesmal kein einziges Spiel – Westberlin war jedoch 1985 quasi als Entschädigung13 zum dauerhaften Austragungsort des Endspiels um den DFB-Vereinspokal bestimmt worden. Das Olympiastadion wurde allerdings – auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten 1990 – offiziell nicht als deutsches Nationalstadion bezeichnet. Gleichwohl bemühte man sich, mit der Begrifflichkeit „Deutsches Wembley“ eine neue Symbolwirkung an die Arena heranzutragen, wobei einer semantischen Analogie deutliche Grenzen gesetzt waren: Allenfalls das sportliche Ereignis bzw. die Atmosphäre eines nationalen Pokalfinales, nicht aber dessen architektonischer Rahmen erlaubten einen Vergleich mit dem Vorbild auf der britischen Insel. Denn insbesondere mit seinen zwei fortifikatorisch anmutenden weißen Art Deco-Türmen an der prächtigen Außenfassade war das 1923 eröffnete Londoner Wembley Stadion so etwas wie „die brausende Stimme einer ausklingenden Ära“14 und damit auch aufgrund des ursprünglichen Namens „Empire Stadium“ lange Jahre eine physisch erfahrbare architektonische Reminiszenz an das Britische Weltreich – ein Phänomen das im kollektiven Bewusstsein der Engländer positiv besetzt ist. Die Nationalsportart Fußball wurde in Wembley bis zum Abriss des Stadions im Jahr 2000 zentral verortet, denn in einem Zeitraum von mehr als sieben © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Äußerer Zugangsbereich zum Tribünenring

Jahrzehnten bot es nicht nur die Szenerie für das alljährlich stattfindende Endspiel um den Pokal des englischen Fußballverbandes, sondern diente in gleichem Maße als einziger Schauplatz für Länderspiele der Nationalmannschaft15.

2.4 Eine historische Zäsur und ein sportliches Großereignis lassen das Stadion in die Berliner Erinnerungslandschaft rücken (1989-2005) Im Zuge der politischen Ereignisse der Jahre nach 1989 entstand im Eindruck einer fundamental veränderten globalen Konstellation ein wesentlich größeres nationales bzw. internationales Interesse an der Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit, wobei der Frage nach der nationalen Identität des wiedervereinigten Deutschlands und dessen symbolpolitischer Selbstdarstellung eine zentrale Bedeutung zukam – und bis heute zukommt. Inwiefern dabei gerade im Vorfeld eines internationale Großereignisses wie der Fußballweltmeisterschaft 2006 der Umgang mit historisch relevanten Orten und Bauwerken eine gewichtige Rolle spielt, soll hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Zunächst waren der offiziellen Broschüre zur deutschen WM-Bewerbung gegen Ende der 1990er Jahre in bezug auf das Berliner Olympiastadion u.a. die folgenden Passagen zu entnehmen: „Der einzigartige Kesselcharakter des 1936 erbauten und heute denkmalgeschützten Baus soll verstärkt werden, die Modernisierung soll den Charakter des Stadions respektieren. Der markante Ausdruck des Berliner Olympiastadions mit Marathontor, Waldbühne, Maifeld und Glockenturm bleibt erhalten.“16 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Klingt dies noch vergleichsweise moderat, so erscheint eine direkt anschließende Äußerung des damals amtierenden Staatssekretärs Klaus Löhe doch weitaus problematischer: „Das Olympiastadion gehört zu Berlin wie die Siegessäule, der Funkturm und das Brandenburger Tor. Das ist deutsche Geschichte, die nicht einfach so geopfert werden darf.“17 Löhe soll hier nicht vorschnell der Hang zur Geschichtsvergessenheit unterstellt werden, aber trotzdem wirkt die Würdigung von Berliner Wahrzeichen, die in unterschiedlichen historischen Kontexten verortet werden müssen, in ihrer trotzig anmutenden Diktion wenig differenziert und somit irritierend. Mit dem Bestreben, eine stringente Verklammerung zwischen den Olympischen Spielen 1936 und 1972 sowie der Fußballweltmeisterschaft 2006 herzustellen, entwarf Gunter Gebauer, Professor für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin, demgegenüber den folgenden Gedankengang: „1936, das war eine Demonstration der Macht. 1972, das war eine Demonstration der Leichtigkeit, Wiedergutmachung für 36 – beide Olympischen Spiele waren also etwas Gewolltes, wenn man so will: Gezwungenes. Genau das könnte bei der WM 2006 anders werden […].“18 Der zentrale bauliche Kristallisationspunkt für Gebauers optimistischen Blick in die Zukunft wird das umgebaute Berliner Olympiastadion sein. Seine Leichtathletikbahn blieb erhalten und erstrahlt in der Vereinsfarbe von Hertha BSC; das Spielfeld liegt etwas tiefer, um bessere Sichtverhältnisse von den Rängen und somit ein intensiveres Live-Erlebnis bei Fußballspielen zu garantieren. Die Komfortleistungen wurden unter Berücksichtigung der Denkmalschutzbestimmungen mit einer Komplettbestuhlung bzw. Komplettüberdachung, diversen VIP-Bereichen, einer neugestalteten Ehrentribüne und einer im Katakombenbereich integrierten Tiefgarage erheblich gesteigert: „Die Laufbahn ist nun blau, die Bänke sind Sitze, keiner wird mehr vom Regen nass. Was geblieben ist, ist der Ehrgeiz, das Stadion voll zu bekommen. Und neue Bilder zu produzieren, weit entfernt von Leni Riefenstahl.“ 19 Letzteres bleibt freilich abzuwarten: Die ebenfalls neu installierte gigantische High-Tech-Beleuchtungsanlage generierte bereits im Zuge der Eröffnungsfeier nach dem Umbau Bilder, die einerseits zum mittlerweile konstitutiven Element emotionsgeladener Showveranstaltungen gehören, andererseits jedoch hartnäckige Kritiker derartiger Events an eine fragwürdige Renaissance „pseudoarchaische[r] Gemeinschaftsrituale“20 erinnern. In jedem Fall darf eingedenk der Instrumentalisierung des Ortes im Jahr 1936 mit Spannung erwartet werden, welches Maß an massenwirksamer Illuminationstechnik dem Berliner Olympiastadion bei einem sportlichen Großereignis unter völlig veränderten politischen Rahmenbedingungen zugemutet werden kann. Sicher ist, dass der Bau aber durch eine spektakuläre Überdachung besticht, die aus einer mit transluzenter Glasfasermembran bespannten Stahlkonstruktion © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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besteht. In einem zentralen Presseartikel zur feierlichen Eröffnung des Stadions im Sommer 2004 heißt es: „Denkwürdigerweise ist es den Architekten durch ihr ingeniöses, heiter-transparentes Dachkonstrukt gelungen, die einst schon beabsichtigte überwältigende Raumwirkung noch zu steigern; zugleich aber nehmen sie dem Ort das dunkle Pathos der Vergangenheit, um es in ein Staunen über die Wunder der Statik zu transformieren.“ 21 Das Dach wird im hinteren Tribünenbereich getragen von filigran wirkenden senkrechten Stahlrohren, die sich, Astgabeln ähnlich, am oberen Ende verzweigen. Mit bewusst organisch wirkenden Elementen ist folglich im Inneren ein deutlicher „Kontrast zur festen Tektonik des historischen Stadionbaues“22 gewährleistet, so dass auch den Denkmalschutzbestimmungen Rechnung getragen wird. Lediglich im Bereich des Marathontores, das baulich nicht verändert werden durfte, wurde die Dachkonstruktion des Olympiastadions ausgespart. Das Stadion bleibt daher in Richtung Langemarckhalle, Glockenturm und Maifeld geöffnet und gibt weiterhin den Blick auf NS-Architektur frei. Wenn allerdings das Maifeld während der WM 2006 als Stellfläche für Sponsorenbetreuungsbauten, TV-Übertragungswagen und Pressezentrum dient, könnten die Langemarckhalle und der Glockenturm buchstäblich „ins Abseits gestellt“23 werden. Somit kann wohl trotz aller Modernität des Olympiastadions – und das muss vor allem im Anschluss an Gerhard Matzig24 angemerkt werden – die Geschichte in Berlin nicht retuschiert werden: Das frühere Reichssportfeld wird den Besuchermassen im Jahr 2006 als „Ort eines Transits“25 erscheinen, zumal hier an zentralen Stellen durch ein Infoleitsystem über die NS-Geschichte informiert werden soll26. Insgesamt betrachtet ergibt sich daher folgendes Bild: Das Berliner Stadion verfügt über alle Vorzüge einer ökonomisch rentablen, publikumstechnisch komfortablen und baulich eindrucksvollen Spielstätte und präsentiert sich „als Stein, Stahl oder Glas gewordene Raum-Chiffre […], in der sich […] durchkommerzialisierte Raumzuschreibungen zum Begriff der modernen Arena verknoten.“ 27 Trotzdem hebt sich der Bau gerade in seiner Eigenschaft als steinerner Zeitzeuge wohltuend kontrastreich von einer Stadionlandschaft ab, in der immer mehr kompakte, architektonisch weitgehend uniforme Sportstätten des Typs „Arena“ entstehen und somit geschichtsträchtige Stadien älterer Bauart zunehmend vom Verschwinden bedroht sind. Am Beispiel des Leipziger Zentralstadions von 1956 ist dies ersichtlich: Beim Bau der gigantischen Schüssel wurden mehr als 1, 5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt verwendet, so dass das „Stadion der Hunderttausend“ – buchstäblich auferstanden aus Ruinen – in der Folgezeit nicht nur als deutlich sichtbares architektursprachliches Indiz totalitärer Gigantomanie, sondern auch als nationale Aufbauleistung des DDR-Volkes gefeiert werden konnte. Diese historischen Spuren sind in Leipzig allerdings nur noch schemenhaft vorhanden, weil © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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hier vor kurzem eine hochmoderne Arena, die 2006 auch als WM-Austragungsort dient, in die mittlerweile begrünte, renaturierte Tribünenschüssel des alten Stadions implantiert wurde28. Abschließend seien noch ein paar Hinweise zur methodischen Umsetzung des gesamten Kapitels 2 gegeben: Zentrale Einblicke zum Hauptprogrammpunkt des Seminars verschafft sich die Lerngruppe im Rahmen eines geführten Rundgangs mit moderierten Diskussionselementen über das ehemalige Reichsportfeld und durch das Berliner Olympiastadion29. Im Sinne einer Realanschauung vor Ort steht dabei insbesondere die jeweilige architektonische Wirkung der Arena in unterschiedlichen Zeitphasen seit 1936 im Mittelpunkt. Die ergänzenden Materialien umfassen einerseits kurze Textpassagen aus der Diskussion um den Symbolwert des WM-Endspielortes von 200630 und andererseits auch diverse Abbildungen, die das Berliner Olympiastadion bzw. das Reichssportfeld in den Jahren 1936 und 1974 sowie das Münchner Olympiastadion bzw. den Olympiapark im Jahr 1972 zeigen. Auch Bildmaterial zum Wembley Stadion und zum Wandel des Zentralstadions Leipzig sollte aus Gründen der visuellen Konkretion herangezogen werden.

3. Das modernisierte Olympiastadion als Bestandteil einer Berliner bzw. bundesdeutschen Erinnerungslandschaft 13.00 bis 14.30: Geführter Kurzrundgang mit moderierten Diskussionselementen durch Berlin-Mitte Nachdem in Abschnitt 2.4 bereits auf die von offizieller Seite ventilierte – jedoch wenig transparente – symbolpolitische Parallelisierung von Olympiastadion, Siegessäule, Funkturm und Brandenburger Tor hingewiesen wurde, setzt sich die Gruppe im Rahmen eines geführten Kurzrundgangs durch Berlin-Mitte31 mit zwei Bauwerken vertieft auseinander, die – dem Olympiastadion vergleichbar – vor dem Hintergrund ihrer wechselnden Indienstnahme im Zuge der historischen Entwicklung Deutschlands Kristallisationspunkte unterschiedlich intensiv geführter Debatten waren. Historisches Bildmaterial begleitet dabei die Realbegegnung mit den Bauten sowie deren rekonstruktive Deutung vor Ort und bereichert die moderierten Diskussionsphasen. Zunächst steuert die Gruppe die Kreuzung Wilhelmstraße/Leipziger Straße an: Das dort in südwestlicher Blickrichtung liegende Gebäude, in dem während der NS-Zeit auf einer Gesamtfläche von ca. 40.000 qm das Reichsluftfahrtsministerium untergebracht war, diente nach dem Zweiten Weltkrieg zu DDR-Zeiten im Ostsektor der geteilten Stadt als Haus der Ministerien und wurde mit dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin schließlich zum Sitz des Finanzministeriums. Ebenso wie das Olympiastadion entstand der riesige Komplex Mitte der 1930er Jahre als © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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deutlich sichtbarer Ausdruck nationalsozialistischer Gigantomanie und konnte – wenn auch Ende der 1990er Jahre als „historisch kontaminiert“32 klassifiziert – wie zahlreiche andere unzerstörte NS-Verwaltungsbauten auf deutschem Boden einer pragmatischen Weiternutzung zugeführt werden. Während diese architektonischen Relikte gerade in ihrer ursprünglichen symbolpolitischen Dimension allerdings letztlich eine vergleichsweise begrenzte Außenwirkung besaßen, zog das Berliner Stadion von Anfang an die Blicke der Weltöffentlichkeit auf sich: zunächst als zentraler Schauplatz der missbrauchten Spiele von 1936, später dann auch als eine von zahlreichen Touristen frequentierte Sehenswürdigkeit. Im Zuge einer pragmatischen Weiternutzung stellte sich hier die Frage nach einem angemessenen Umgang mit der historischen Kontamination meistens dann besonders dringlich, wenn das Bauwerk als möglicher Schauplatz eines internationalen Sportereignisses Verwendung finden sollte. Im weiteren Verlauf des Rundgangs begibt sich die Gruppe schließlich zum Spreeufer: Hier befindet sich das Reichstagsgebäude, das 1894 eingeweiht wurde. Durch Wilhelm II. erfuhr es unter der Bezeichnung „Schwatzbude“ zunächst Geringschätzung und war dann 1918 der Ort, an dem Philipp Scheidemann vom Balkon aus die erste deutsche Republik proklamierte. Der Reichstagsbrand von 1933 und das Hissen der Sowjetfahne 1945 auf der Ruine wurden ebenso zu zentralen Bestandteilen eines kollektiven Bildgedächtnisses wie die Verhüllungsaktion durch Christo 1995. Heute tagt der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude, dem der Architekt Sir Norman Foster eine für die Öffentlichkeit zugängliche Kuppel auf das Dach gesetzt hat, die hinsichtlich ihrer materiellen Beschaffenheit (Stahl/Glas) auf demokratische Transparenz anspielt und damit das festungsähnliche Aussehen des wilhelminischen Baus bzw. dessen wechselhafte Geschichte kontrastiert. Analog zur oben skizzierten inhaltlichen Auseinandersetzung im Berliner Olympiastadion, bietet sich der Gruppe bei einer Begehung des Reichstagsgebäudes ein diskussionswürdiges Wechselspiel zwischen historischer Bausubstanz und zentralen modernen Gestaltungselementen. An beiden Orten kann somit nach der Möglichkeit eines prinzipiellen Vergleichs der jeweils symbolpolitisch motivierten Umbaumaßnahmen gefragt werden.

4. Eine Expertendiskussion zum symbolpolitischen Gehalt des modernisierten Berliner Olympiastadions 16.00 bis 17.00: Gemeinsame Reflexion und Zusammenfassung der Seminarergebnisse an einem dafür geeigneten Ort Am Ende des Seminartages tauscht sich die Gruppe mit Experten und Expertinnen im Hinblick auf die zentrale Frage zum Symbolgehalt des modernisierten Olympiastadions im Rahmen der WM 2006 über gemeinsame Beobachtungen aus. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Als fachkundige bzw. direkt in die Geschehnisse involvierte Gesprächspartner/innen können dabei Mitarbeiter/-innen der Tourismusorganisation „StattReisen Berlin“, die Herausgeber des in Berlin beheimateten fußballkulturellen Magazins „11FREUNDE“, Vertreter des DFBs oder auch Mitglieder des Berliner Senats z.B. für eine Podiumsdiskussion eingeladen werden.

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BLZ-Report, 1. Vgl. hierzu H. Bausinger 204ff. S. Hauser. Vgl. hierzu auch H. Bausinger 208. Vgl. hierzu W. Skrentny 8. In Skrentnys Standardwerk werden insgesamt 342 Stadien behandelt. Im Jahr 2004 widmete sich außerdem die Kulturzeitschrift „du“ unter dem Titel „Neue Arenen. Bauen für den Sport“ u.a. der Arena „AufSchalke“, den Olympiastätten in Athen, dem umgebauten Berliner Olympiastadion und dem architektonisch äußerst interessanten Fußballstadion im portugiesischen Braga. Außerdem enthält das Heft Artikel über Sportstätten aus anderen Sportarten wie Autorennen, Bogenschießen, Baseball und Skispringen. Als Fachorgan für Fußballstadien soll hier schließlich auch die monatliche Zeitschrift „Stadionwelt“ erwähnt werden. Auch die Vereine Tasmania Berlin, Tennis Borussia Berlin und Blau-Weiß 90 Berlin trugen zwischenzeitlich ihre Heimspiele im Olympiastadion aus. Zitiert nach W. Skrentny 32. D. Kürten 54. U. Draesner 46. Es handelt sich hierbei um den Titel einer Publikation (1999) von Thomas Blees, die sich mit dem politischen Hintergrund der innerdeutschen Spielpaarung von 1974 auseinandersetzt. Namentlich waren dies das Dortmunder Westfalenstadion, das Düsseldorfer Rheinstadion, das Frankfurter Waldstadion, das Gelsenkirchener Parkstadion, das Hamburger Volksparkstadion, das Hannoveraner Niedersachsenstadion, das Münchner Olympiastadion und das Stuttgarter Neckarstadion. Vgl. hierzu H. Bekic 130. Die Stadien waren bis auf das neu hinzugekommene Köln-Müngersdorfer Stadion auch schon 1974 WM-Spielorte. Dafür wurde das Dortmunder Westfalenstadion diesmal aufgrund der geringen Zuschauerkapazität nicht berücksichtigt. Vgl. hierzu W. Skrentny 35. P. Nonnenmacher 1. Ergänzend muss hier angemerkt werden, dass insbesondere im Rahmen eines internationalen Turniers in Deutschland mit einem Blick auf die Geschichte des Berliner Olympiastadions gewisse symbolsprachliche Ebenen nicht beschritten werden können. Gemeint ist damit beispielsweise das fragwürdige Niveau, auf das sich die englische Boulevardpresse im Zuge der Europameisterschaft 1996 begab: Im Vorfeld der Begegnung England gegen Deutsch© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Das Berliner Olympiastadion als Lernort

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land war einmal mehr von der „Schlacht um Wembley“ die Rede, wobei die Zeitungen in der Absicht einer kruden geschichtlichen Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg aktuelle Spieler mit Stahlhelmen abbildeten. B. Mathiak/T. Quitmann/A. Schmitz 58. Die Waldbühne liegt am westlichen Rand des ehemaligen Reichssportfeldes. Sie wurde als kultische und nationale „Weihestätte“ im Stil eines griechischen Amphitheaters gebaut und steht nach 1945 u.a. für Konzertveranstaltungen zur Verfügung. Ebd. Heiter bis ulkig 62 Ph. Köster. G. Matzig 12. Vgl. hierzu auch V. Caysa 91 f. Ebd. H. Bekic 131. Ebd. Vgl. hierzu Anm. 21. U. Draesner 47. Neben der „Topografie des Terrors“ im Stadtzentrum wird Berlin 2006 somit gleichsam sinngemäß auch über eine „Topografie der instrumentalisierten Olympischen Spiele von 1936“ verfügen. G. Matzig 12. Vgl. hierzu auch V. Caysa 91 f. Vgl. hierzu R. Mucha/B. Herrmann. Rundgänge zu unterschiedlichen (stadt-)geschichtlichen Themen bietet die Tourismuseinrichtung „StattReisen Berlin“ an (www.StattReisenBerlin.de). Bei Vorabsprache können individuelle Bedürfnisse der Seminargruppe sicherlich berücksichtigt werden. Besichtigungen und Führungen im Olympiastadion werden auch von der Berliner Werbeagentur Runze & Casper angeboten (www.olympiastadion-berlin.de). Vgl. insbesondere Anmerkungen 6 bis 26. Vgl. hierzu R. Mucha/B. Herrmann. Mit dieser leitmotivischen Begrifflichkeit berichtete die Süddeutsche Zeitung im Herbst 1998 in loser Artikelfolge über historische Gebäude, die für die Bedürfnisse der Berliner Republik weitergenutzt werden.

Literatur Ahne, Petra: Wundertüten und Hüpfbälle. In: Berliner Zeitung vom 02.08.04, 18. Bausinger, Hermann: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978. Bekic, Hille: Von der Erdmulde zur Hysterieschüssel II. In: Kunstforum Bd. 169 (März-April 2004). Kunst und Sport, 126-131. Blees, Thomas: 90 Minuten Klassenkampf. Das Länderspiel BRD – DDR 1974. Frankfurt/M. 1999. BLZ-Report. Die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit berichtet (November 2003). Böttiger, Helmut: Kein Mann, kein Schuss, kein Tor. Das Drama des deutschen Fußballs. München 1997. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Ingmar Reither/Gudrun Dietzfelbinger

Caysa, Volker: Hochsterilisiert. Über Fußball als Fernsehspektakelsport. In: Hütig, Andreas/ Marx, Johannes (Hrsg.): Abseits denken. Fußball in Kultur, Philosophie und Wissenschaft. Kassel 2004, 90-96. Derring, Ingo: Olympiastadion Berlin. In: 11FREUNDE Nr. 40. Dezember/Januar 2004/05, o.S. (Beilage). Draesner, Ulrike: Neues Dach über alten Schatten. Berlin baut sein Olympiastadion um, das die Nazis hinterlassen haben. In: „du“ – Zeitschrift für Kultur Nr. 748 (2004). Neue Arenen. Bauen für den Sport, 42-47. Hartung, Klaus: Skurril: Soll der Reichstag nun Bundestag heißen? In: DIE ZEIT vom 14.07.1995, 6. Hauser, Susanne: Lokale Identitäten in der Region der Zukunft (www.newsletter.stadt2030. de). Heimsoth, Axel: Bauten der Leidenschaft. Volksparks und Kampfbahnen. In: Brüggemeier, Franz-Josef/Borsdorf, Ulrich/Steiner, Jürg (Hrsg.): Der Ball ist rund (Katalog zur Fußballausstellung im Gasometer Oberhausen im CentrO. Anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Deutschen Fußball-Bundes 12. Mai bis 15. Oktober 2000). Essen 2000, 134-141. Heiter bis ulkig. In: DIE ZEIT vom 21.11.2002, 62. Kluge, Volker: Olympiastadion Berlin. Steine beginnen zu reden. Berlin 1999. Köster, Philipp: Übermächtige Bilder. In: 11FREUNDE Nr. 40. Dezember/Januar 2004/05, o.S. Kürten, Dieter (Hrsg.): Fußballweltmeisterschaft 1974. Frankfurt/Main 1974. März, Peter: „Fußball ist unser Leben“. Beobachtungen zu einem Jahrhundert deutschen Spitzenfußballs. In: BLZ-Report. Die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit berichtet (November 2003), 5-27. Mathiak, Burkhard/Quitmann, Till/Schmitz, Andreas (Hrsg.): Willkommen im Fußball-Land. 2006 Deutschland (WM-Bewerbung). o. O. und o. J. Matzig, Gerhard: Event, Event, ein Lichtlein brennt. In: Süddeutsche Zeitung vom 31.7./1.8.2004, 12. Mucha, Robert/Herrmann, Boris: Zentralstadion Leipzig. In: 11FREUNDE Nr. 41, Januar 2005, o. S. (Beilage). Niehaus, Lars: Das Unbehagen am Verein. Ein Versuch über den Fan. In: Abseits denken. 38-44. Nonnenmacher, Peter: Das Ende einer Legende schmerzt nicht nur Fußball-Enthusiasten. Frankfurter Rundschau vom 6.10.2000 (www.geocities.com). Rürup, Reinhard (Hrsg.): 1936. Die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus. Berlin 1996. Schäche, Wolfgang/Szymanski, Norbert: Das Reichssportfeld. Architektur im Spannungsfeld von Sport und Macht. Berlin 2001. Schmidt, Christian: Kicken auf Kredit. Zur Finanzierung seines Fünfsternestadions verpfändet Schalke 04 seine künftigen Siege. In: „du“ – Zeitschrift für Kultur Nr. 748 (2004). Neue Arenen. Bauen für den Sport, 24 f. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Berlin/Walter Bau AG (Hrsg.): Olympiastadion Berlin. Panorama eines Bauwerks. Berlin 2001. Skrentny, Werner (Hrsg.): Das große Buch der deutschen Fußball-Stadien. Göttingen 22001. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Paul Ciupke

Industriekultur im Ruhrgebiet Aufsuchende Bildungsarbeit zur Geschichte der Region, der Arbeit und zu den Problemen des Strukturwandels

Die Industriekultur gilt seit einigen Jahren, spätestens seitdem die Zeche Zollverein in Essen-Katernberg zum Weltkulturerbe erhoben wurde, als neues Markenzeichen des Ruhrgebiets; sie ist eine Hülle, unter der sich nicht nur neue Kulturkonzepte und Freizeitbedürfnisse organisieren, sondern auch vielfältige Vergangenheit verborgen ist. Die industriekulturellen Orte sind als Anlass, Aufhänger und Lerngegenstand geeignet, facettenreiche Seminare mit dem Thema „Industriekultur im Ruhrgebiet“ zu entwickeln und anzubieten. 1 Dabei wird den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die zum Teil aus dem Ruhrgebiet, zum Teil aber auch aus anderen Regionen Nordrhein-Westfalens und aus weiteren Bundesländern kommen, die Möglichkeit geboten,

Eingangsbereich des Industriemuseums Zeche Zollverein © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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– die unter dem Stichwort „Industriekultur“ verborgene Geschichte und die vor sich gehende alltagsästhetische und kulturelle Erneuerung des Ruhrgebiets zu entdecken, – die historischen Tiefendimensionen des Lebens und Arbeitens im Ruhrgebiet in wirtschaftlicher, politischer und alltagsgeschichtlicher Hinsicht näher kennen zu lernen, – die sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme des seit den 1960er Jahren währenden Strukturwandels auf kommunaler und regionaler Ebene zu identifizieren, – und Strategien und Erfolge von industrieller und gewerblicher Neuansiedlung zu erkunden. Historische und gegenwartsbezogene Themenaspekte werden also gleichermaßen behandelt. Im Folgenden wird das Seminarkonzept mitsamt einschlägiger Erfahrungen skizziert. Es handelt sich hier, das muss einschränkend eingeräumt werden, nicht um einen tiefgehenden Aufriss. Jedoch scheint das Thema Industriekultur als ein Spiegel des ubiquitären Wandels von Arbeit, Technik, Milieus und Regionalkultur eine universelle und damit auch auf andere Orte und Regionen übertragbare Bedeutung zu gewinnen.

Zur Geschichte des Ruhrgebiets und zur Bedeutung der Industriekultur Das Ruhrgebiet ist eine in verschiedener Hinsicht historisch immer noch relativ unbekannte Größe, in den öffentlichen wie alltäglichen Diskursen dominieren ohnehin nach wie vor grob gezeichnete Bilder. Erst der langsame Abschied vom Zeitalter der großen Industrie, der seit Mitte der 60er Jahren in Schüben vollzogen wird, ermöglicht mit wachsendem Abstand einen sich allmählich deutlicher konturierenden Blick in die regionalen Besonderheiten; das Ruhrgebiet bildet ein Kaleidoskop der Industrie-, Technik-, Sozial-, Siedlungs-, Milieu-, Alltags-, Bewegungs-, Einwanderungs- und Herrschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – eine Geschichte, die aber längst schon wieder überlagert wird von den neuen Schichten des Informations- und Dienstleistungszeitalters, der Individualisierung von Lebenslagen und neuen sozialen Risiken, und deren sichtbare Relikte daher eine prekäre, gefährdete Existenz besitzen. Seit Mitte der 19. Jahrhunderts haben Stahlindustrie und Bergbau die örtliche Entwicklung bestimmt und eine europäische Rand- und Durchgangsregion zum bedeutendsten industriellen Zentrum Mitteleuropas wachsen lassen. Die jeweiligen Interessen der Industrie prägten dabei die Formen der räumlichen Erschließung und soziokulturellen Entfaltung: Aus der Gemengelage von alten bäuerlichen und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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kleinstädtischen Siedlungskernen und industriellen Neuansiedlungen einschließlich neuer Arbeiterquartiere, die in ihrer Gestalt fast immer an dörfliche Wohnformen anschlossen, entstand eine für den Außenstehenden unübersichtliche polyzentrische Struktur, eine Agglomeration aus aufgeblähten Industriedörfern und semiurbanen Subzentren, der bis in die 60er Jahre hinein Universitäten, überregionale Administrationen, Garnisonen und andere Oberfunktionen verwehrt wurden. Das Ruhrgebiet wurde und wird auch heute noch in großen Teilen von außen, durch die in Düsseldorf, Münster oder Arnsberg sitzenden Bezirksregierungen und Landschaftsverbände regiert und ist nach wie vor von einem urbanen und damit auch bürgerlichen Defizit gekennzeichnet. Obwohl im Gesamtgebiet mehr als 5 Millionen Menschen leben, ist die Region dennoch keine deutsche, geschweige denn europäische Metropole. Einwanderer der ersten, zweiten oder dritten Generation (aus Westfalen, Masuren, Polen, den nach 1945 verloren gegangenen deutschen Ostgebieten, Südeuropa, der Türkei) bilden das Gros der im Ruhrgebiet lebenden Menschen. Die Migrationserfahrung ist mitbestimmend für einen offenen und plebejischen Habitus in der Bevölkerung und eine entsprechende gesellschaftliche Mentalität.2 In der Weimarer Republik dominierten hier politisch das Zentrum und die KPD, erst in den 1950er Jahren zementierte sich allmählich die Hegemonie der SPD, die in einer kooperatistischen Politik zusammen mit Gewerkschaften und der Industrie die regionalen Geschicke steuerte und dabei immer mehr in einen fürsorgenden und zugleich patriarchalen Politikstil verfiel. Dieser korrespondierte mit einem speziellen Arbeitermilieu, einem sozialen Netz und mentalitätsprägenden Kosmos, der sich um Betriebe, Siedlungen, Stadtteile und Vereine herum entfaltete. Große und kleine Krisen gehören ebenfalls von Anfang an zur Geschichte dazu. Deren letzte führt seit Mitte der 1960er Jahre zu einem unaufhaltsamen Niedergang der Steinkohleproduktion, der 500.000 Arbeitsplätze auf 30.000 reduzierte, und seit Mitte der 1970er Jahre parallel in der Stahlindustrie zu massiven Rationalisierungen und Stilllegungen mit dem Ergebnis, dass heute nur noch ca. 40.000 statt 350.000 Beschäftigte in diesem Sektor zu finden sind.3 Der historische und identitätsbildende Kern industrieller Produktion und die damit verbundenen sozialen Milieus befinden sich seit 40 Jahren in einem Prozess des Verschwindens.4 Das gilt auch für die technischen, architektonischen und räumlichen Strukturmerkmale des Zeitalters der Mechanik und großen Industrie; denn Fabriken, technische Anlagen, Verkehrseinrichtungen wurden meistens einfach abgerissen, die dazugehörenden Wohnquartiere oft modernisiert, privatisiert und damit, weil in der Regel keine Gestaltungssatzungen aufgestellt wurden und auch kein Denkmalschutz herrschte, in ihrer besonderen Qualität zerstört. Erst in den 1980er Jahren wuchs langsam das Bewusstsein, dass es sich hier um schützenswerte und für die regionale Geschichtskultur und die Baugeschichte des © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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19. und 20. Jahrhunderts wichtige Baubestände und Erinnerungsmarken, also um Denkmäler handelt. Zu diesem Bewusstseinswandel trug entscheidend die Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA) bei, die zwischen 1989 und 1999 mit mehr als 100 Projekten die industrielle Erbschaft vor allem der mittleren Ruhrgebietsstädte um den Flusslauf der Emscher herum teilweise gerettet und einer neuen Funktion zugeführt hat. In alten Zechengebäuden und Metallfabriken entstanden thematisch unterschiedlich gerichtete historische und technische Museen oder Bürgerzentren. Gebläsehallen früherer Stahlwerke verwandelten sich in Bühnen, Hochöfen in Freizeitanlagen und Landschaftskunstwerke, Gasometer und Kokereien in Ausstellungsorte, Häfen und Speicheranlagen in moderne Wohn- und Kulturquartiere. Arbeitersiedlungen wurden denkmalsgerecht saniert und renoviert, neue soziale und ökologisch dimensionierte Wohnanlagen wuchsen auf Zechenbrachen, Halden wurden begrünt und mit Kunstwerken bzw. Landmarken versehen. Der Rückeroberung der Räume durch die Natur wurde gleichfalls Platz gegeben. Es entstanden aber auch neue Industrieansiedlungen auf altem Gelände, zum Teil unter Ausnutzung des alten Baubestandes, zum Teil aber auch mit neuer ambitionierter Architektur. Das Ruhrgebiet gewann als neues Markenzeichen die Industriekultur, und die Emphase für die Hinterlassenschaften des vergehenden Industriezeitalters gipfelte vor einigen Jahren in dem Vorschlag eines Nationalparks der Industriekultur.5 Der jüngste Höhepunkt: Die Ende der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre im Stil der Sachlichkeit erbaute Zeche Zollverein im Essener Norden wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Diese Beispiele markieren die neue Schokoladenseite, das neue Werbegesicht der Region; es darf aber nicht übersehen werden, dass es eine Vielzahl technischer Industriedenkmäler gibt, deren Rettung nicht gesichert und von einer weniger spektakulären künftigen Nutzung abhängig ist. Auf so manchen interessanten ehemaligen Industriearealen machen sich eher durchschnittlich hässliche Gewerbeparks breit, und viele andere Gebäudekomplexe können offenbar keiner neuen Funktion zugeführt werden.

Geschichtslernen an industriellen Orten Geschichtslernen konzentriert sich seit den 1980er Jahren vor allem auf die Genozide, Kriege und Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Zwar gab es im Repertoire der politischen Erwachsenenbildung immer auch die Heimatgeschichte – häufig in einer unkritischen Version –, und sicher wurde die Geschichte der Arbeiterbewegung, in den 70er Jahren vor allem, auch in lokalen und alltagsbezogenen Präzisierungen, oft aber in einer identifizierenden Form der Rezeption gepflegt. Bildungsangebote zur Geschichte der Arbeit und der industriellen Produktion sind dennoch bis heute © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Im Wissenschaftspark Rheinelbe, Gelsenkirchen

nachrangig, obwohl in diesen Institutionen – mehr als anderswo – grundsätzlich bedeutsame strukturelle Gesellschaftsmerkmale enthalten sind und sich die dort gemachten Erfahrungen nachhaltig in Lebensgeschichten einschreiben und die sozialen Positionen der Menschen nach wie vor bestimmen. Unter den verschiedenen didaktischen Rahmungen und methodischen Zugängen für historische Themen in Erwachsenenbildungsveranstaltungen gehören diejenigen, die Zeitzeugenschaft berücksichtigen und das biografische Lernen fördern, inzwischen zu den prominenteren und gebräuchlicheren.6 Das berühmt gewordene Hochlarmarker Lesebuch, das – aus einem Kurs der Volkshochschule Recklinghausen entstanden – das Leben und Arbeiten der Bergarbeiter und ihrer Familien in ihrem Stadtteil beschreibt, bildete seinerzeit einen wichtigen Schritt zu einer die mündliche Überlieferung, die Geschichtsschreibung und das gemeinsame politische Lernen integrierenden Geschichtswerkstatt.7 Geschichte ist immer auch raumgebunden.8 In dem hier diskutierten Lernarrangement stehen deshalb die Orte und ihre Erschließung im Zentrum der pädagogischen Inszenierung. Man könnte meinen, diese seien banal, für die Einwohner der Region ohnehin, aber auch für andere berufstätige Seminarteilnehmende. Jedoch: erst durch den Adel der Industriekultur werden die Räume der Arbeit und der damit verbundenen Technik in ihrer Gesamtkonstellation öffentlich zugänglich. Es ist eine Eigentümlichkeit der industriellen Produktion, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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dass die Zeche, das Stahlwerk oder allgemeiner die Fabriken für die ehemaligen Belegschaftsmitglieder selbst immer nur in jeweils funktionalen, sich aus den Arbeitsaufgaben ergebenden Ausschnitten zugänglich waren (und noch sind) und für Außenstehende in der Regel eine „verbotene Stadt“ darstellten. Der Vergleich mit der nachrevolutionären Öffnung von Schlössern, Herrenhäusern und Parkanlagen für die Allgemeinheit drängt sich hier nicht zufällig auf; für Familienangehörige von Betriebsangehörigen war es in der Regel nach der Schließung des Produktionsstandortes zum ersten Mal möglich, in dieses Arkanum einzudringen und die Anlagen in Augenschein zu nehmen. Die in der Öffentlichkeit mit dem Namen Industriekultur identifizierten einschlägigen Orte wie etwa die Zeche Zollverein samt angrenzender Kokerei in Essen, die im Stile eines Gutshofes erbaute Musterzeche Zollern II/IV in Dortmund-Bövinghausen, die zum Museum der Eisen- und Stahlerzeugung ausgebaute Henrichshütte Hattingen oder der Landschaftspark Duisburg-Nord, ein weitläufiges ehemaliges Hütten- und Stahlwerk, werden in einem Basisseminar aufgesucht. Fortsetzungsseminare bieten darüber hinaus die Gelegenheit, auch solche Plätze kennen zu lernen, die man normalerweise im Rahmen der Route der Industriekultur nicht aufsucht: Industriebrachen und notdürftig vor dem Verfall gesicherte Anlagen, in Umnutzung befindliche Gelände, alte Arbeitersiedlungen und neue im Zuge der IBA entstandene Wohnprojekte, Stadtteile mit besonderen sozialen Problemen und Erneuerungsbedarf, noch arbeitende Restbetriebe, Wasserverkehrswege, Häfen, Schiffshebewerke und anderes mehr. Die Industriearchitektur des Ruhrgebiets stellt also ein aufgeschlagenes Buch der Geschichte und somit ein Ensemble von Lernorten dar. Ihre Stätten bilden nicht nur in allgemeiner Weise verschiedene Zeitschichten ab, sie sind auch Indikatoren und Lerngelegenheit für ganz unterschiedliche Dimensionen des Lebens und Arbeitens in der Region: Sie stehen für die technischen Leistungen des verblassenden mechanischen Zeitalters, dokumentieren Bewegungs-, Alltags- und Milieugeschichte eines Verdichtungsraumes, sie zeugen – trotz ihrer mittlerweile oft ästhetisch aufpolierten Oberfläche – von den disziplinierenden und körperlich beschädigenden Aspekten industrieller Arbeit, künden von der speziellen politischen Kultur der Region, beglaubigen die ökonomischen und sozialen Schwierigkeiten des Strukturwandels und sind hier und da schließlich Boten einer auf Kultur und Dienstleistung gründenden Zukunft.

Anschauung, Erkundung und Lernstile Die Methodik der Wochenseminare gründet auf den Prinzipien der Exkursion und der Eigenaktivität der Teilnehmenden, diese verhalten sich dabei wie Rechercheure in der Umwelt.9 Das Seminar versucht, die regionalen Besonderheiten und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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historischen Spuren einer Industrielandschaft zu lesen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren wir durchs Ruhrgebiet und suchen die jeweiligen Stationen auf. Die Objekte der Industriekultur werden in einem ersten Schritt unter thematischen Gesichtspunkten und mit Unterstützung von Fachleuten in Augenschein genommen und erkundet. Es gibt aber darüber hinaus Gespräche mit unterschiedlichsten Experten vor Ort, Vorträge von Wissenschaftlern, Diskussionen mit Politikern und Verwaltungsleuten verschiedener Ebenen und intensiven Austausch unter den Teilnehmenden. Museen, Ausstellungen und Texte werden als zusätzliche Auskunftsquelle genutzt. Die Erschließung eines historischen Ortes, in diesem Fall eines der Arbeit, bleibt ein sehr komplexes Handlungsfeld; die Angebote bilden ein offenes Lernarrangement, das als Wechselspiel zwischen der Anmutung des Ortes, den Lernhandlungen der Teilnehmenden und den Deutungsangeboten der Pädagogen und Referenten begriffen werden kann. Der Ort verkörpert einen Lerngegenstand, und ihm haftet die Qualität des Zeugnisses an. Er kann zu diesem Zweck spezifisch aufbereitet sein, etwa als Denkmal oder Museum, er kann sich in einem alltäglichen Normalzustand befinden oder schließlich im Stadium des Zerfalls oder der Veränderung nur noch wenige Spuren der alten Funktion zeigen. Solche Orte ermöglichen Anschauung, sie besitzen die Aura von Authentizität und vermitteln den Eindruck von Originalität. Die empirische Unterrichtsforschung hat ergeben, dass historischen Stätten oftmals von Schülern ein höheres Vertrauen als Lehrern, Zeitzeugen, Dokumenten oder Filmen entgegen gebracht wird. 10 Diese örtliche Überzeugungskraft muss man didaktisch nutzen, man sollte ihr aber gegensteuernd zugleich auch ein Stück misstrauen, denn das historische Geschehen ist abgeschlossen und nur durch weitere Interpretationsarbeit zu ergründen. Die Anschauung ermöglicht jedoch einen ersten Zugang, erweckt Erstaunen, ja oftmals auch Bewunderung; die weitere Erschließung des Ortes korrespondiert mit zusätzlichen Informationsangeboten und der Eigenaktivität der Teilnehmenden, ihrer Neugierde und ihrem Frageverhalten. Sie können sich als aktiv Suchende im Raum und in der Begegnung mit Interpreten bewegen, es sind aber auch vagere und okkasionelle Formen des Lernens möglich, die man als ein „flanierendes Nippen“ beschreiben könnte.11 Als dritter Bezugspunkt für erfolgreiches und subjektiv spannendes Lernen spielt natürlich der Input von Referenten und die Regie der Veranstaltungsleitung eine nicht zu vergessende wichtige Rolle. Als Experten kommen dabei nicht nur Historiker, Denkmalschützer, Planer, Wirtschaftsförderer oder ortsgebundene Fachleute in Frage, auch ehemalige Belegschaftsmitglieder, früher technisch für die Anlage verantwortliche Mitarbeiter, geben oft sehr originelle Einblicke in Geschichte und ehemalige Nutzungsformen. Die Aufgabe der Veranstaltungsleitung besteht vor allem in der Steuerung des Zeitregimes, in einer zurückhaltenden, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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offenen aber immer sicheren Form der Moderation und in der Eröffnung von Reflexionsphasen. Für die Teilnehmenden ermöglicht diese „Inszenierung“ eine quasi ‚multiple Identität‘ und eine erweiterte Perspektivenvielfalt: Sie sind – als Erwachsene – in ihrer Rollenwahrnehmung nicht nur auf das in der Regel aus der Schule hergebrachte, auf Rezeption reduzierte Deutungsschema des Lernens beschränkt, sondern erfahren sich auch als Flaneure, Touristen, Entdecker, Empiriker, Gesprächspartner und Experten, – beispielsweise, wenn eigene berufliche Kompetenzen zur Aufklärung technischer Betriebsabläufe oder anderer Zusammenhänge beitragen können. Teilnehmer eines auf Exkursion basierenden Seminars entwickeln deshalb einen besonders aktiven und investigativen Lernhabitus. An die in den jüngeren Diskursen der Erwachsenenbildung favorisierten neuen didaktischen Leitbegriffe wie z.B. entdeckendes Lernen, Ermöglichung, informelles Lernen oder Lernen en passant, Erlebnisorientierung oder Biographizität finden solche Arrangements deshalb leicht Anschluss. Zu diesem Lernen gehört auch der intensive informelle Paralleldiskurs in Pausen oder während der Transfers. Teilnehmende entwickeln in diesen Gesprächen oft eine immer dichtere Einschätzung des Erfahrenen. Sie verfertigen und verbreiten Erzählungen und schaffen sich in solchen Berichten ein Ergebnis, das von wachsender politischer und historischer Urteilsfähigkeit zeugt und durch die erprobte intersubjektive Anerkennung eine gewisse Reife entwickelt. Die eigene Anschauung und Beobachtungstätigkeit wird dabei immer als unverzichtbare Voraussetzung für die Attraktivität des Angebotes wie für ein vertieftes historisches Verständnis von technischer und urbaner Landschaft, Arbeit und Sozialstruktur begriffen.

Ergebnisse Die Bilder und Deutungen des Ruhrgebiets, die die Teilnehmenden in die Bildungsurlaube mitbringen, sind eher klischeehaft geprägt und oberflächlich gestaltet. Sie handeln natürlich von Kohle und Stahl, von harter körperlicher Arbeit, von Schmutz, von zerstörter Natur und Landschaft, unübersichtlicher Verstädterung und sozialen Problemlagen, die als Folgen der Strukturprobleme gelten können und dem Ruhrgebiet insgesamt ein eher problematisches Image verschaffen. Nach der Veranstaltungsteilnahme berichten die meisten von Enttypisierungserfahrungen: Achtung vor der früher geleisteten Arbeit und der Ingenieurtechnik, ein neues Empfinden für die Reize der Industriearchitektur, eine Anerkennung des grünen Charakters der Region, melancholische Gefühle des Abschieds vom alten mechanischen und industriellen Zeitalter und von den alten sozialen Milieus und schließlich ein neues Bewusstsein von der Komplexität der Probleme, den Schwierigkeiten des Strukturwandels und der Universalität der beobachteten Vorgänge. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Angesichts der vielfältigen fachlichen und historischen Bezüge und Wissensebenen (z.B. Technik, Arbeit, Industrie, Regionalidentität, Planung etc.) und ihrer biographischen Konvertibilität nehmen die Teilnehmerinnen aber durchaus sehr Unterschiedliches aus dem Seminar mit. Vor allem die lebensgeschichtliche Anschlussfähigkeit bestimmt das Interesse und damit die individuelle Verwertung des Erfahrenen. Wer aus einem technischen oder handwerklichen Beruf kommt, den interessiert vor allem die technikgeschichtliche Seite und die Arbeitsplatzbilanz des Strukturwandels am einzelnen Ort, während die unter dem Rubrum Industriekultur sich neu gebende Ästhetik eher ein entsprechendes Publikum unter soziologisch, designerisch und planerisch interessierten Leuten findet. Diese neue Oberfläche auch als einen schönen falschen Schein zu enthüllen, gehört ebenfalls zu den Aufgaben eines kritischen Seminarkonzepts. Insbesondere da, wo wie z.B. im Umfeld der Zeche Zollverein in Essen-Katernberg das Gelände mehr oder weniger historisch entkernt und vornehmlich nur einem neuen kaufkräftigen, an Design und Eventkultur interessierten Edelpublikum als Kulisse zugänglich gemacht wird, gilt es diese Form der historischen Enteignung der Menschen im Stadtteil zu kritisieren. Das Konzept der Industriekultur enthält sehr unterschiedliche Wege und Möglichkeiten einer mehr oder weniger demokratischen und für alle offenen Neuaneignung der historischen Substanz. Diese im Verlauf des Seminars freizulegen und einzuschätzen, gehört ebenfalls zu den Zielen des Seminars „Industriekultur im Ruhrgebiet“.

Anmerkungen 1 Die Seminare werden veranstaltet vom Bildungswerk der Humanistischen Union in Essen und der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, deren Sitz in Dortmund ist. Zumeist werden die Veranstaltungen als Bildungsurlaubswochen, also für die Dauer von 5 Tagen, angeboten und von Erwachsenen nachgefragt. Das Konzept ist aber veränderbar und auf andere Adressatengruppen hin spezifizierbar. 2 Vgl. dazu auch die Ergebnisse des Projektes „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960“, das in drei Bänden dokumentiert ist: Lutz Niethammer (Hrsg.): „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet. Berlin/Bonn 1983; ders.: „Hinterher merkt man, dass es richtig war, dass es schiefgegangen ist“. Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet. Berlin/Bonn 1983; ders./Alexander von Plato (Hrsg.): „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Berlin/Bonn 1985. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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3 Zur Krisengeschichte seit 1900 siehe: Goch, Stefan:siehe Stefan Goch: Eine Region im Kampf mit dem Strukturwandel. Bewältigung von Strukturwandel und Strukturpolitik im Ruhrgebiet. Essen 2002. 4 Dazu auch: Wolfgang Hindrichs/Uwe Jürgenhake/Christian Kleinschmidt u.a.: Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen 2002Jahre. Essen 2002. 5 Zur IBA vergleiche Karl Ganser: Liebe auf den zweiten Blick. Internationale Bauausstellung Emscher-Park. Dortmund 1999; zur Industriekultur als Überblick und Einführung geeignet siehe auch Höber, Andrea/Ganser, Karl (Hg.):siehe auch Andrea Höber/Karl Ganser (Hrsg.): IndustrieKultur. Mythos und Moderne im Ruhrgebiet. Essen 1999; Roland Günter: Besichtigung unseres Zeitalters: Industrie-Kultur in Nordrhein-Westfalen. Ein Handbuch für Reisen. Essen 2001. 6 Vgl. Heidi Behrens/Norbert Reichling: Biografische Kommunikation. Lebensgeschichten im Repertoire der Erwachsenenbildung. Neuwied, Kriftel, Berlin 1997. 7 Hochlarmarker Lesebuch. „Kohle war nicht alles“ – 100 Jahre Ruhrgebietsgeschichte. Oberhausen 1981. 8 Siehe dazu Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, Wien 2003Zeit. Wien 2003. 9 Vgl. dazu die ausführlicheren Überlegungen in: Ciupke, Paul:in Paul Ciupke: Reisend Lernen: Studienreise und Exkursion. In: Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts. 2005. 10 Bodo von Borries: Unterrichtsmethoden im europäischen Vergleich, in: Polis 3/2001, S.Vergleich. In: polis 3/2001, 11-14. 11 Heidi Behrens/Paul Ciupke/Norbert Reichling: Neue Lernarrangements in Kultureinrichtungen. Essen 2002, 127.

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Autorin und Autoren

Thomas Brehm 1957; Dr. phil.; Studium von Deutsch, Geschichte und Sozialkunde für das Lehramt am Gymnasium, Promotion in Neuester Geschichte; 1990/91 wiss. Mitarbeiter im Bergbau- und Industriemuseum Ostbayern, 1991-1999 wiss. Mitarbeiter im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn; seit 1999 Leiter des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg (KPZ). Bernd Buchner 1968; Dr. phil.; Studium der Geschichte und Journalistik in Gießen und Bordeaux, Zeitungsvolontariat; 2001/2002 Kulturredakteur beim Nordbayerischen Kurier in Bayreuth; seit 2003 Korrespondent der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Hamburg; Veröffentlichungen zu zeitgeschichtlichen und musikhistorischen Themen. Paul Ciupke 1953; Dr. phil. und Diplompädagoge; hauptberuflich tätig im Leitungsteam des Bildungswerks der Humanistischen Union; Veröffentlichungen zum Selbstverständnis politischer Erwachsenenbildung, zum historisch-politischen Lernen und zur Geschichte der Erwachsenenbildung. Gudrun Dietzfelbinger 1971; Studium der Kulturpädagogik, Aufbaustudium Regionalgeschichte; Gründung und Leitung der Theaterschule Auerbach e.V.; Ausbildung beim IfgL zum Montessori-Diplom; Stipendium für das Theater-Projekt „city as a stage“ der mobile academy, Berlin. Siegfried Grillmeyer 1969; Dr. phil.; Studium von Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Religion für das Lehramt an Gymnasien; Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für neuere und neueste Geschichte in Regensburg, Stipendiat am Institut für Europäische Geschichte in Mainz; freier Mitarbeiter bei Bildungsträgern in der außerschulischen politischen Jugendbildung; seit 2000 Leiter der CPH Jugendakademie in Nürnberg; Veröffentlichungen zur historischen Elitenforschung und zu didaktischen Fragen der Jugendbildung. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Autorin und Autoren

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Axel Hof 1967; unterrichtet am Helene-Lange-Gymnasium Fürth/Bay. die Fächer Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Ethik; Veröffentlichungen zur Begriffs- und Sozialgeschichte. Martin Kaiser 1960; Studium der Politikwissenschaft, Germanistik und Pädagogik in Deutschland und den USA; Referent für politische Bildung bei verschiedenen Trägern, davon 13 Jahre im Hedwig-Dransfeld-Haus, Bendorf; seit 2004 Leiter der Pfalzakademie Lambrecht; Veröffentlichungen zu Fragen der Jugendbildung, zum biographischen Lernen und zur interkulturellen Arbeit. Markus Köster 1966; Dr. phil.; Studium der Neueren Geschichte, Politikwissenschaft und Katholischen Theologie in Münster und Brighton; 1993-1998 Wiss. Volontär und Stipendiat des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte; 1998-2001 Referent für politische Bildung mit jungen Erwachsenen an der Katholisch-Sozialen Akademie Franz Hitze Haus Münster; seit 2002 Leiter des Westfälischen Landesmedienzentrums in Münster, seit 2003 Lehrauftrag am Historischen Seminar der Universität Münster; Veröffentlichungen zur Geschichte des politischen Katholizismus, zur Geschichte von Jugend und Jugendhilfe und zur westfälischer Geschichte. Josef Matzerath 1956; PD Dr. phil. habil; Studium der Geschichte und Philosophie; Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte in Dresden; Veröffentlichungen vor allem zur Adelsgeschichte und zur Parlamentsgeschichte der Frühen Neuzeit und Moderne. Tobias Nahlik 1969; Diplom-Pädagoge; beschäftigt sich seit 1995 damit, Menschen die Stadt Berlin zu zeigen, zunächst als Referent für politische Jugendbildung, später als Rundgangsleiter bei Stattreisen e.V.; verantwortlich für den Aufbau des Internationalen Freiwilligendienstes der Franziskaner. Ingmar Reither 1970; Dr. phil.; Studium der Geschichtswissenschaften und Germanistik; Mitarbeit am Haus der Bayerischen Geschichte und bei Geschichte Für Alle e.V. Nürnberg – Institut für Regionalgeschichte; seit 2002 am Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrum der Museen in Nürnberg (KPZ) zuständig für das Museum Industriekultur und das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände; Lehrtätigkeit © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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Autorin und Autoren

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an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Veröffentlichungen u. a. zur Stadtgeschichte Nürnbergs und zum historisch-politischen Lernen. Harald Stockert 1970; Dr. phil.; Studium der Geschichte, Germanistik und Mathematik in Mannheim und Amsterdam; Referendariat für den höheren Archivdienst; 2000-2001 Konzernarchivar bei der GEHE AG; seit 2001 Leiter der Abteilung „Zwischenarchiv und EDV“ beim Stadtarchiv Mannheim – Institut für Stadtgeschichte; Veröffentlichungen zur südwestdeutschen Landesgeschichte, zu archivfachlichen Themen sowie zur historischen Bildungsarbeit. Peter Wirtz 1957; Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte; 1985-1996 Jugendbildungsreferent mit dem Schwerpunkt europäische Jugendarbeit beim Jugendwerk für internationale Zusammenarbeit, Aachen; seit 1996 Referent für politische Bildung der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB), Bonn.

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Bildnachweis

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Bildnachweis für die Beiträge Siegfried Grillmeyer, „Ortstermine“ alle Fotos: Siegfried Grillmeyer; CPH Bildarchiv. Peter Wirtz, Ikonologie der Architektur und politische Bildung alle Fotos: Johannes Wirtz. Axel Hof, „Tempel der Gewissheit“ alle Fotos: Siegfried Grillmeyer; CPH Bildarchiv. Thomas Brehm, Zur Rolle von Museen in der politischen Bildung alle Fotos: Siegfried Grillmeyer. Bernd Buchner, „Den schönen Schein brechen“ Fotos: Führerbau und Ehrentempel auf dem Königsplatz 1936: Scherl/ SV-Bilderdienst; Gerdy Troost, Hitler, Gall 1935 auf dem Königsplatz: Scherl/ SV-Bilderdienst. Markus Köster, Mythos der Nation Luftbildansicht: Westfälisches Landesmedienzentrum; NSDAP-Wahlplakat: Stadtarchiv Bielefeld; Aufkleber der Nationalistischen Front, Bielefeld: Privatbesitz. Josef Matzerath, Dresdner Häuser – Dresdner Parlamente Ständehaus: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abt. Deutsche Fotothek (Neg. Nr. FD 257 517); Landhaus: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Abt. Deutsche Fotothek (Neg. Nr. FD 108 374). Martin Kaiser, Das Rheinland als Brückenlandschaft. alle Fotos: Peter Wirtz. Harald Stockert, „…ein unausgesetztes Gehen und Kommen“ Stadtplan: Stadtarchiv Mannheim; Titelbild der Privilegien der Stadt Mannheim von 1607: Stadtarchiv Mannheim. Tobias Nahlik, Berlin, Hauptstadt der DDR alle Fotos: Tobias Nahlik. Ingmar Reither/Gudrun Dietzfelbinger, Das Berliner Olympiastadion als Lernort; alle Fotos: Ingmar Reither. Paul Ciupke, Industriekultur im Ruhrgebiet alle Fotos: Paul Ciupke. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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© Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.

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WOCHEN SCHAU VERLAG

Veröffentlichungen der CPH Jugendakademie

... ein Begriff für politische Bildung

Christina Zitzmann

Alltagshelden Aktiv gegen Gewalt und Mobbing – für mehr Zivilcourage Ein realistischer Blick auf Chancen und Grenzen der pädagogischen Arbeitsgebiete jenseits von Überschätzung und Resignation

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DIN A 4-Format mit Kopiervorlagen ISBN 3-89974113-7, 240 S., € 24,80

Siegfried Grillmeyer, Zeno Ackermann (Hrsg.)

Erinnern für die Zukunft Die nationalsozialistische Vergangenheit als Lernfeld der politischen Jugendbildung ISBN 3-87920-074-2, 228 S., €14,80

Siegfried Grillmeyer, Peter Wirtz (Hrsg.)

Ingmar Reither

Ortstermine 2

Geschichte zwischen den Zeilen

Politisches Lernen an historischen Orten

Bayerisches Manifest zur politischen Bildung

Band 2 der „Ortstermine“ stellt weitere exemplarische didaktische Darstellungen von konkreten Seminargestaltungen und Exkursionen zu bedeutenden Schauplätzen der älteren und jüngeren deutschen Geschichte, sowie theoretische Beiträge zum „Lernen vor Ort“ vor. Das Konzept des politischen Lernens am historischen Ort wird mit Leben gefüllt und anschaulich vorgeführt.

ISBN 3-89974108-0, 32 S., € 4,80, ab 10 Expl. € 3,50

ISBN 3-89974237-0, ca. 200 S., ca. € 14,80

Die Nutzung fiktionaler Texte als geschichtliche Quellen ISBN 3-89974139-0, 256 S., € 14,80

Arbeitskreis politische Jugendbildung (Hrsg.)

Subskriptionspreis bis 30.6.2006: € 12,80

Bereits erschienen: Ortstermine 1 ISBN 3-87920-088-2, 200 S., €14,80

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