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German Pages [225] Year 2017
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand Band 13 Herausgegeben vom Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik: Thomas Sandkühler, Charlotte Bühl-Gramer, Anke John, Astrid Schwabe und Holger Thünemann
Uwe Danker / Astrid Schwabe (Hg.)
Die NS-Volksgemeinschaft Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen?
Mit 13 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-0544-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Inhalt
Uwe Danker / Astrid Schwabe Das Konzept der NS-Volksgemeinschaft – ein Schlüssel zum historischen Lernen? Einführung und Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Fachwissenschaftliche Diskurse Frank Bajohr Vom Herrschaftssystem zur Volksgemeinschaft. Der lange Weg zu einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . .
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Martina Steber / Bernhard Gotto Volksgemeinschaft – ein analytischer Schlüssel zur Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Astrid Schwabe Geschichtskulturelle Prozesse – Beobachtungen zum Verhältnis von historischer Fachwissenschaft und »Public History« . . . . . . . . . . . .
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II. Potenziale und Herausforderungen in geschichtsdidaktischer Perspektive Uwe Danker Horizonterweiterung der NS-Vermittlung? Das geschichtsdidaktische Potenzial des zeitgenössischen Begriffs und historischen Analysekonzepts Volksgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Detlef Schmiechen-Ackermann Gemeinschaftspolitik und Mitmach-Bereitschaft in Diktaturen als Themenfeld für eine »Didaktik der Demokratie«. Grundlegende Überlegungen und konkrete Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Axel Drecoll NS-Volksgemeinschaft ausstellen. Zur Reinszenierung einer Schreckensvision mit Verheißungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
III. Vermittlungskonkretionen im schulischen Unterricht Etienne Schinkel Die NS-Volksgemeinschaft in aktuellen Geschichtsschulbüchern? Empirische Befunde und pragmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . 125 Christian Mehr NS-Volksgemeinschaft im Geschichtsunterricht: Der Spielfilm »Napola – Elite für den Führer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Marcel Mierwald Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand im Rahmen der Wissenschaftsvermittlung im Schülerlabor. Theoretische Annahmen, empirische Einsichten und pragmatische Ausblicke . . . . . . . . . . . . 157 Dirk Strohmenger Volksgemeinschaft – ein belastetes oder belastbares Konzept für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht? Die Arbeit an der Urteilskompetenz mit Vorausurteilen und Geschichte vor Ort . . . . . . . 175 Malte Thießen Volksgemeinschaft als Lerngegenstand: Potenziale für die Kompetenzentwicklung und Perspektiven für die Unterrichtspraxis
. . . 191
IV. Kommentar Detlef Garbe Abschlusskommentar zur Tagung »Der fachdidaktische Gehalt eines wissenschaftlichen Analysekonzepts – Zum Vermittlungspotenzial der NS-Volksgemeinschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Autor_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Uwe Danker / Astrid Schwabe
Das Konzept der NS-Volksgemeinschaft – ein Schlüssel zum historischen Lernen? Einführung und Reflexionen
Ein Kollege aus der Schule berichtet uns Folgendes: Seine Schüler_innen der 7. Klasse einer schleswig-holsteinischen Gemeinschaftsschule hätten ihn interessiert nach dem Nationalsozialismus gefragt und sich gewünscht, auf jeden Fall doch jetzt schon einige Themen im Unterricht zu behandeln, auch wenn das noch gar nicht »dran sei«. Auf die Nachfrage der Lehrkraft, welche Aspekte sie denn besonders interessierten, wurden, wie er schreibt, am häufigsten genannt: 1. »Holocaust«, 2. »Hitler« und 3. »Was war positiv/gut am Nationalsozialismus?«. Diese Schilderung einer übrigens geschichtskulturell geprägten, realen Unterrichtssituation lässt viel Raum für Interpretationen, und kann – bezogen auf den dritten Aspekt – auch Anlass zur Besorgnis geben, wenn man an revisionistisches Gedankengut denkt. Die Frage lässt sich aber auch anders deuten, als unverkrampftes, durchaus berechtigtes Interesse an dem »Wie war das möglich?«, »Warum haben die Menschen (in diesem Fall wohl meist die Urgroßelterngeneration) mitgemacht?«. Akademisch ausgedrückt: Sie kann auch als Frage nach den Ursachen einer »Zustimmungsdiktatur«1 gelesen werden. Interpretieren wir sie in diesem Sinne, führt sie uns mitten hinein in den Gegenstand des vorliegenden Bandes.
1.
Das Grundanliegen
In den vergangenen Jahren hat sich in der Geschichtswissenschaft eine intensive und produktive Debatte um den Begriff der NS-Volksgemeinschaft entsponnen. Vom zeitgenössischen »Programm« transferiert zu einem historiographischen Konzept erweitert dieses trotz einiger Kritik auch von prominenter Seite (bspw.
1 Götz Aly : Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt a. M. 2005.
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Hans Mommsen2) das analytische Repertoire für das Verstehen und Erklären des Nationalsozialismus um eine wesentliche Komponente. Inzwischen kann die Nutzung des Begriffs als kanonisiert gelten, auch wenn der Gebrauch weiter als uneinheitlich zu charakterisieren ist: Das Konzept NS-Volksgemeinschaft trägt fraglos zur Horizonterweiterung für die Untersuchung von NS-Gesellschaft und NS-Herrschaft bei. Umfassend angelegte Projekte, relevante Konferenzen, zahleiche Publikationen pflastern den Weg des Konzeptes in etwa nur einem Jahrzehnt. Wir wollen die wichtigsten Wegmarken dieser fachwissenschaftlichen Debatte hier nur andeuten, da grundlege Ausführungen zu diesem Konzept und seiner Forschungsgeschichte im ersten Teil des Bandes folgen:3 Bis in die 1980er Jahre hinein gilt die NS-Volksgemeinschaft innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft lediglich als Propaganda-Begriff bzw. als Mythos. Auch wenn Detlev Peukert schon in der Studie »Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde«4 ihren quasi selbsttragenden Wirkmechanismus herausgearbeitet (und selbst nicht weiter vertieft) hat, gerät Volksgemeinschaft als Analysekategorie erst bedeutend später in den Blick. Inzwischen wird die NS-Volksgemeinschaft als gesellschaftliches Ordnungssystem begriffen, einschließlich erheblicher Potenziale für »Selbstermächtigungen der Volksgenossen«5 in der NS-Konsensdiktatur. Der Band »Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus«6 bündelt 2009 den Forschungsstand. Im gleichen Jahr nimmt das Niedersächsische Forschungskolleg »Nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort«7 seine Arbeit auf, das seine beeindruckenden Forschungsergebnisse bisher in fünf Sammelbänden präsentiert hat.8 Zuletzt spiegeln Steuwer 2013,9 Steber/ 2 Hans Mommsen: Amoklauf der »Volksgemeinschaft«? Kritische Anmerkungen zu Michael Wildts Grundkurs zur Geschichte des Nationalsozialismus. In: Neue politische Literatur 53 (2008), S. 15–20. 3 Siehe auch die Beiträge von Frank Bajohr, Martina Steber/Bernhard Gotto, Uwe Danker und Detlef Schmiechen-Ackermann in diesem Band. 4 Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde: Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982. 5 Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007. 6 Frank Bajohr/Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009. 7 https://www.foko-ns.de/ (aufgerufen am 09. 10. 2016). 8 U. a. Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg.): »Volksgemeinschaft«. Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Paderborn 2012; Jochen Oltmer (Hrsg.): Nationalsozialistisches Migrationsregime und ›Volksgemeinschaft‹. Paderborn 2012; Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hrsg.): »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013; David Reinicke u. a. (Hrsg.): Gemeinschaft als Erfahrung. Kulturelle Inszenierungen und soziale Praxis 1930–1960. Paderborn 2014.
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Gotto 201410 und ein Heft der »Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte« ebenfalls 201411 den aktuellen Diskussionsstand wider. Ob sie als reine Fiktion oder (Teil-)Realität verstanden wird, das Versprechen der Volksgemeinschaft machte, so die überwiegende Forschungsmeinung, einen erheblichen Teil der Attraktivität der NS-Herrschaft aus.12 Der Wirkmechanismus der NS-Volksgemeinschaft beinhaltete harmonische Inklusion der Einen, gewalttätige bis mörderische Exklusion der Anderen. Denn: Wir-Gefühl setzt Bilder von den Anderen, den Nicht-Dazu-Gehörenden voraus, gesellschaftliche Homogenität wird – auch – durch Ausgrenzung erzeugt. Auf den Extremfall der NS-Gesellschaft übertragen sind totale Exklusionsmaßnahmen und Inklusionsangebote in den Fokus zu rücken. Das ist das analytische Potenzial des Volksgemeinschaftsbegriffs. Im geschichtswissenschaftlichen Diskurs besteht mittlerweile folglich doch weitgehende Einigkeit darüber, dass Volksgemeinschaft als zeitgenössischer Begriff und analytische Kategorie der Historiographie ein tiefergehendes Verständnis der Gesellschaft unter dem nationalsozialistischen Regime, ihrer Praktiken und Wandlungen, ihrer integrierenden und ausgrenzenden Prozesse ermöglicht, mithin einen schärferen Blick auf die »ganz normalen Deutschen« jenseits der Haupttäter_innen erlaubt, somit auch erweiterte Möglichkeiten zur Erklärung und Diskussion individueller Handlungsmuster beinhaltet. Die Geschichtswissenschaft also verhandelt über Volksgemeinschaft als Quellenbegriff und Analyseinstrument für eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Wenn man beachtet, dass historisches Verstehen und Erklären den Weg zum – wie auch immer definierten – historischen Lernen ebnen, also auf die Domäne der Geschichtsdidaktik verweisen, folgt daraus der Schluss, dieses vertiefte Verständnis in die Geschichtsvermittlung zu transferieren, die Stärken des Konzepts auch in diesem Bereich nutzbar zu machen. Doch hier lässt sich ein auffälliges und durchaus überraschendes Defizit erkennen: In der Geschichtsdidaktik spielt die Debatte um das Konzept der NS-Volksgemeinschaft bisher keine wahrnehmbare Rolle. Jedenfalls auf theoretisch-konzeptioneller Ebene wurden bislang der fachdidaktische Gehalt dieses wissenschaftlichen Konzepts und seine 9 Janosch Steuwer : Was meint und nützt das Sprechen von der »Volksgemeinschaft«? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. In: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487–534. 10 Martina Steber/Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives. Oxford 2014. 11 Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 62 (2014), H. 3; hier u. a. Martina Steber/Bernhard Gotto: Volksgemeinschaft im NS-Regime. Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens, S. 433–445. 12 Vgl. Norbert Frei: »Volksgemeinschaft«. Erfahrungsgeschichte und Lebenswirklichkeit der Hitler-Zeit. In: Ders.: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2005, S. 107–128.
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Implikationen für historische Lernprozesse zu Nationalsozialismus und Holocaust noch kaum diskutiert. Im großen, oben angesprochenen niedersächsischen Forschungsverbund fand dieser vermittlungszentrierte Ansatz des Forschungsantrags keine Förderung. Wenn in der geschichtskulturellen Praxis Bezüge zum Begriff der Volksgemeinschaft erscheinen, sind oft problematische Implikationen zu erkennen.13 Damit sind wir bei unserer Motivation und dem Ziel dieses Bandes, der auf die Beiträge einer Fachtagung zurückgeht, die unter dem Titel »NS-Volksgemeinschaft – Der fachdidaktische Gehalt eines wissenschaftlichen Analysekonzepts« im Mai 2015 an der Europa-Universität Flensburg stattfand: Wir wollen eine fachdidaktische Reflexion beginnen, die Kategorie der NS-Volksgemeinschaft auf ihre geschichtsdidaktischen Potenziale abklopfen, nach impliziten und expliziten Bedeutungen in Bezug auf gegenwärtige und zukunftsorientierte Vermittlungskonzepte fragen. Einfach und mutig formuliert: Wir wollen die produktive fachwissenschaftliche Debatte um dieses Analysekonzept in den geschichtsdidaktischen Diskurs einführen, also eine Brücke zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik schlagen. Denn: Eine aus der Geschichtswissenschaft und eben nicht von der Allgemeinen Didaktik abgeleitete Geschichtsdidaktik hat unserer Ansicht nach auch die normative Aufgabe, innovative, erkenntniserweiternde fachwissenschaftliche Ansätze zu historischen Gegenständen in die Praxis der Geschichtsvermittlung zu transferieren; und zwar sowohl in die schulische wie die außerschulische. Im Mittelpunkt dieses Bandes stehen also die Fragen nach dem spezifischen Leistungsvermögen des Volksgemeinschaftskonzepts für das historische Lernen, nach seinen Chancen, Herausforderungen und Grenzen für die Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust in Schule, Universität und sonstiger Geschichtskultur. Auf der Basis einer einführenden Bestandsaufnahme des fachwissenschaftlichen Diskurses um die NS-Volksgemeinschaft werden sowohl theoretische als auch normative, analytische und konkret-pragmatische Perspektiven eingenommen. Kann das Konzept helfen, vertiefte Erkenntnis zu vermitteln? Inwiefern birgt der Begriff der NS-Volksgemeinschaft spezifische Chancen, die Funktionsweise des Nationalsozialismus bezogen auf herrschaftliche und gesellschaftliche Aspekte besser zu verstehen als bisher? Inwiefern kann das Konzept helfen, eine fachdidaktisch sinnvolle Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Verankerung des Nationalsozialismus anzubahnen? Welche Möglichkeiten, aber auch welche Schwierigkeiten und Probleme bietet eine tendenziell analytischere, stärker reflektierende Betrachtung der »attraktiven«, 13 Siehe auch den Beitrag von Detlef Schmiechen-Ackermann in diesem Band, dort Anmerkung 3.
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»verheißungsvollen« Seiten der NS-Herrschaft im Kontext historischen Lernens, auf die auch das eingangs zitierte Schüler_inneninteresse wohl abzielte?
2.
Unser Zugang
Wie kommen wir dazu? Warum ausgerechnet wir am Institut für schleswigholsteinische Zeit- und Regionalgeschichte und am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik der nördlichsten deutschen Universität? Der Herausgeber wurde ursprünglich noch an die PH Flensburg berufen. Die Denomination mit »Geschichte und Geschichtsdidaktik« erscheint aus universitärer Perspektive ungewöhnlich weit, verhindert übliche Spezialisierung, kann aber auch durch Verankerung in Fachwissenschaft und Fachdidaktik als Option zur Brückenbildung gesehen werden. Die Herausgeberin ist »Public-Historian«, mit Fokus auf und Erfahrungen in nicht-schulischer Geschichtsvermittlung. Beide scheuen nicht den Praxistest ihrer Konzepte. Als Angehörige der einer zukunftsweisenden Lehramtsausbildung verschriebenen Europa-Universität Flensburg und als kleine regionalhistorische Forschungseinrichtung mit dem ausdrücklichen Vermittlungsauftrag sowie der Tradition, bei Bedarf auch aktiv geschichtskulturelle Beiträge zu leisten, haben wir uns vor Jahren dem öffentlichen Auftrag gestellt, ein Konzept für einen »Historischen Lernort Neulandhalle« in Dithmarschen zu entwickeln und gegebenenfalls dessen Umsetzung zu begleiten.14 In dieses Projekt flossen regionalhistorische Forschung, geschichtsdidaktische Fundierung und die Bereitschaft zur realen musealen Umsetzung ein. – Da dabei das Konzept der Volksgemeinschaft den Dreh- und Angelpunkt bildete, unternehmen wir mit diesem Band, das Projekt für uns abschließend, den Versuch einer generalisierenden Ableitung, nämlich das Konzept der Volksgemeinschaft in die geschichtsdidaktische Sphäre zu transferieren. Im Projekt ging es um die Neulandhalle im Dieksanderkoog in Dithmarschen.15 1936 war sie als eine nationalsozialistische Ersatzkirche im kurz zuvor eingeweihten, damals nach dem »Führer« benannten Adolf-Hitler-Koog, »geweiht« worden. Als Ensemble bildeten Koog und Halle Mitte der 1930er Jahre das Modell einer klinisch reinen und neu geschaffenen Volksgemeinschaft im Kleinen, ja stellten ein Renommierprojekt zur Beschreibung der nationalsozialisti-
14 Vgl. Uwe Danker mit Claudia Ruge: Die Neulandhalle. Machbarkeitsstudie zur Nutzung als »Historischer Lernort Neulandhalle«. Malente 2012 (unter Mitwirkung von Astrid Schwabe und Sebastian Lehmann-Himmel). 15 Vgl. zum Folgenden Uwe Danker : Volksgemeinschaft und Lebensraum: Die Neulandhalle als historischer Lernort. Neumünster 2014.
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schen Verheißung einer geschlossenen, harmonischen und kämpferischen Zukunftsgemeinschaft der »Arier_innen« dar. Als Adolf Hitler am 29. August 1935 nach triumphaler Anreise in Süderdithmarschen den nach ihm benannten Koog (ein-)weihte, war der Reichsrundfunk über Stunden live dabei und berichteten tags darauf reichsweit und ganzseitig Zeitungen wie der »Völkische Beobachter« von der »natürlichen Landeroberung durch Friedensarbeit«. Von Herrschaftsbeginn an hatten die Nationalsozialisten Eindeichung und Besiedlung dieser circa 13 Quadratkilometer Neuland an der Elbmündung als Renommierprojekt betrieben. Das Projekt schien nämlich bestens geeignet für die NS-Selbstdarstellung. Die Schlagworte lauteten: Kampf gegen das Meer, Arbeitsbeschaffung, Freiwilliger und Reichsarbeitsdienst, Verbreiterung der Ernährungsgrundlagen, »Schollenbildung«. Insgesamt siedelten im Adolf-Hitler-Koog (nur) knapp 100 Familien. Gleichwohl: In der Berufsstruktur korporatistisch-ständisch am vormodernen Dorf orientiert, soziologisch eine stark differenzierte Gemeinschaft darstellend, aber weltanschaulich und rassisch homogen, würde der so konstruierte AdolfHitler-Koog die eben nicht egalitäre NS-Volksgemeinschaft im Kleinen abbilden – als experimentelle Anordnung wie in einem Reagenzglas. Genau das war seine reichsweit vermarktete Funktion. Zur propagandistischen Verwertung gehörten auch Sondersendungen des Rundfunks, Postkarten und Publikationen, nationale wie internationale Journalist_innen- und Besucher_innengruppen, die durch den Koog geführt wurden oder unorganisiert reisten; bis zu vierzig Busse täglich zählte man. Zu jedem Koog – der Nordsee abgetrotztes, neues Land – gehört traditionell ein Kirchbau. Tatsächlich erfüllte ab 1936 die Neulandhalle, deren Grundstein Hitler am Tag der »Koogweihe« legte, die Funktion einer Ersatzkirche, sinnbildlich unterstrichen durch den vom Reichsarbeitsdienst errichteten hölzernen Turm mit der vom Reichsnährstand geschenkten Glocke, die an NS-Feiertagen, bei Tod, Geburt und im Katastrophenfall läutete. Das Äußere der Halle erschien durchkomponiert: der weithin als »Hoheitsabzeichen« sichtbare Adler mit Hakenkreuz an der nördlichen Turmwand, zwei vier Meter große, die Dachrinne noch überragende »Wächter«, ein Soldat mit Gewehr und, ausgestattet mit einem Spaten, ein Bauer, der auch als Arbeitsdienstmann gedeutet werden konnte. All das unterstrich Wehrhaftigkeit, Kampfbereitschaft und Herrschaftsausdruck – und mochte dem Betrachter zugleich schon als integrierendes Wir-Angebot erscheinen, Zugehörigkeit suggerieren. Die eigentliche Halle im Erdgeschoss dominiert das Innere des Gebäudes:16 16 Eine virtuelle Präsentation ist zu finden im Virtuellen Museum www.vimu.info, unter http:// www.vimu.info/multimedia.jsp?id=for_mm_deu_1& lang=de& u=general& flash=true& flash=true (aufgerufen am 05. 12. 2016).
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Abb. 1: Die Neulandhalle im Jahr 1936. Quelle: Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein (Hrsg.): Neulandhalle. Adolf-Hitler-Koog. Kiel 1937, S. 11.
gepflastert mit braunen Ziegeln, die Decke mit schweren Balken versehen, im Zentrum der östlichen Stirnwand ein mächtiger in Brauntönen gemauerter Kamin. Vier Fresken von Otto Thämer umrahmten ihn wandfüllend, »Deichbau«, »Säemann«, »Ernte« sowie »Hausbau«: zeitgenössisch stilsichere Heroisierungen von Handarbeit und Landgewinnung, von Rolle und Aufgaben der Neusiedler_innen. Wie Kirchenfenster mochten die jeweils vier farblich abgestimmten, mosaikartig gestalteten, aus großflächigen, schlanken Rechtecken konstruierten Fenster der Seitenwände anmuten. Auch fand sich eine geschnitzte Führerbüste im altarähnlich angelegten, fest installierten Bücherbord. Die Neulandhalle bildete den Ort, an dem Koogbewohner_innen das NSFeierjahr zelebrierten: Am »Tag der Nationalen Arbeit«, zur »Sonnenwende«, am Jahrestag der Koogweihe, zum Erntedank usw. versammelte man sich hier zu choreografierten Kulthandlungen. Familienfeste, auch ausdrücklich kirchliche respektive religiöse Feiern der »Gottgläubigen«, auch von »Deutschchrist_ innen«, konnten durchgeführt werden. Fraglos stellt die Neulandhalle einen authentischen Ort der ausdrücklichen Manifestation der NS-Volksgemeinschaft und des NS-Lebensraumkonzeptes dar. Sie zählt damit zu den raren, noch existenten Orten, an denen sich eines dieser zwei besonders relevanten und in der NS-Selbstdarstellung eng miteinander
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verknüpften NS-Konzepte baulich und programmatisch ausdrückte. Im deutschen und internationalen Referenzrahmen ist kein weiterer authentischer Ort bekannt, der beide ideologischen Kernkonzepte des Nationalsozialismus so nachvollziehbar in einer baulichen Hinterlassenschaft verkörpert. Im projektierten Historischen Lernort Neulandhalle könnten Fragen nach der gesellschaftlichen und plebiszitären Verankerung der »NS-Zustimmungsdiktatur« exemplarisch bearbeitet werden. Damit würde eine wichtige Vermittlungsaufgabe zum historischen Verständnis des Nationalsozialismus geleistet. Leitgedanke ist die Janusköpfigkeit der Konzepte: Die als traditionsverbunden vermarktete Landgewinnung fand folgerichtige Fortsetzung als Lebensraumkrieg – übrigens mit identischem Personal!17 – und das harmonische Inklusionsversprechen der NS-Volksgemeinschaft basierte auf vielfältiger, steter und gewaltsamer Exklusion. In das Konzept des Lernortes integriert wurde die Kooperation mit benachbarten KZ-Gedenkstätten (Neuengamme, Ladelund) und der Lehramtsausbildung in Schleswig-Holstein. Die Konzeption eines »Historischen Lernortes Neulandhalle« ist zunächst gescheitert aufgrund der Nichtaufnahme in die Bundesgedenkstättenförderung durch die »Bundesbeauftragte für Kultur und Medien«, in deren Beschlussgremien überwiegend interessegeleitete Repräsentant_innen der etablierten Gedenkstätten sitzen, am politisch nicht möglichen oder nicht gewollten Ausgleich mit Landesmitteln sowie nicht zuletzt auch daran, dass die mit der Landespolitik gut vernetzte Szene der schleswig-holsteinischen Gedenkstätten ein teures und auch noch am »falschen«, nämlich »Täterort«, angesiedeltes Projekt nachdrücklich ablehnte. – Für Manches scheint hier die Zeit noch nicht gekommen, so auch nicht für eine nüchtern und pragmatisch ausgelegte, allein dem historischen Lernen verpflichtete NS-Vermittlungsarbeit.
3.
Die Beiträge
Mit einer Ausnahme versammelt der vorliegende Band die zum Teil erheblich überarbeiteten Beiträge der Konferenz.18 Allen Referent_innen sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Den ersten thematischen Block »Fachwissenschaftliche Diskurse« bilden zwei grundlegende Aufsätze zum Kern des Gegenstands, der NS-Volksgemeinschaft, 17 Vgl. Danker (Anm. 15), S. 50–54. 18 Vgl. zum Verlauf der Tagung und der Diskussionen den Tagungsbericht von Stephanie Kowitz-Harms und Anna Menny : Tagungsbericht: Vermittlungspotenzial der »NS-Volksgemeinschaft« – Der fachdidaktische Gehalt eines wissenschaftlichen Analysekonzepts, 28. 05. 2015–29. 05. 2015 Schleswig. In: H-Soz-Kult, 02. 07. 2015, verfügbar unter www.hsoz kult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6060 (aufgerufen am 07. 10. 2016).
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aus fachwissenschaftlicher Perspektive und eine Analyse geschichtskultureller Prozesse im Wechselspiel zwischen Fachwissenschaft und nichtakademischer Geschichte in der Öffentlichkeit. Frank Bajohr zeichnet zum Auftakt den »lange[n] Weg zu einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus« nach, vom Ende der NS-Herrschaft bis in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, in dem die Volksgemeinschaft als wissenschaftliche Analysekategorie in den Blick geriet. Dabei charakterisiert der Autor die 1980er Jahre als zentrale, innovative Phase der historiographischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft im Nationalsozialismus, für die er eine systematisierende Übersicht über Forschungsfragen und -zugänge und ihre spezifischen »Erkenntnisgewinne«, aber auch Grenzen liefert. Martina Steber und Bernhard Gotto legen stark konzentriert den Kern des fachwissenschaftlichen Konzepts der NS-Volksgemeinschaft dar, unter Einbezug der kontroversen Debatten, die sich in den vergangenen Jahren darum entspannten, vor allem in Bezug auf die Abgrenzung zwischen »Quellenbegriff« und wissenschaftlicher Kategorie zur Analyse »soziokulturellen Wandel[s] während der NS-Diktatur«. Autorin und Autor arbeiten fünf Dimensionen heraus, die Volksgemeinschaft im NS-Regime kennzeichneten, verstanden als Begriff im Spannungsfeld zwischen Obrigkeit und Subjekt, und zeigen das Potenzial dieses gesellschaftsgeschichtlichen Zugangs zur Erklärung individuellen Verhaltens in und unter nationalsozialistischer Herrschaft. Den engeren Kontext der Beschäftigung mit der NS-Volksgemeinschaft verlässt Astrid Schwabe in ihrem Beitrag zur zeithistorischen Public History. Die Autorin untersucht auf die Forschungs- und Vermittlungsgeschichte zu Nationalsozialismus und Holocaust bezogen anhand einiger konkreter Fallbeispiele, wie sich die Verbreitung historischer Einsichten in eine breitere Öffentlichkeit vollzieht, um so den Wechselwirkungen zwischen Geschichtswissenschaft und außerwissenschaftlicher Geschichtskultur exemplarisch nachzuspüren und eine erste »Typisierung geschichtskultureller Prozesse« zur Diskussion zu stellen. Uwe Dankers Überlegungen zum »geschichtsdidaktischen Potenzial des zeitgenössischen Begriffs und historischen Analysekonzepts Volksgemeinschaft« eröffnen den zweiten thematischen Schwerpunkt des Bandes: »Potenziale und Herausforderungen in geschichtsdidaktischer Perspektive«. Dieser Teil fokussiert grundlegende Ausführungen zur Vermittlung der NS-Gesellschaftsgeschichte. Ausgehend von Schlaglichtern auf die gegenwärtige schulische und außerschulische NS-Vermittlung in TV, Internet, Ausstellungen, Gedenkstätten und durch Zeitzeug_innen konstatiert Danker eine nicht angemessene Berücksichtigung der NS-Gesellschaft. Der Autor legt anhand fachwissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Reflexionen dar, weshalb er gerade in der Beschäftigung mit diesem Gegenstand – und somit im Analyse-
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konzept der Volksgemeinschaft – das Potenzial sieht, zu einem »vertiefte[n] Verständnis des Nationalsozialismus« zu gelangen. Auch Detlef Schmiechen-Ackermann widmet sich dem fachdidaktischen Wert der Beschäftigung mit »Gemeinschaftspolitik und Mitmach-Bereitschaft« für eine moderne, zukunftsfähige »historisch-politisch[e] Bildungsarbeit«. Er erweitert die Perspektive auf vergleichende Fragen nach »Gemeinschaftspolitik und Gemeinschaftshandeln in Diktaturen« im Allgemeinen. Die großen »demokratiedidaktischen« Potenziale einer Auseinandersetzung mit den Inklusions- und Exklusionsprozessen in der NS-Gesellschaft, aber auch ihre Grenzen, diskutiert der Autor anhand einiger historischer Orte »des Mitmachens«. Als Leiter eines der bedeutendsten historischen NS-Orte, des Obersalzbergs, fokussiert Axel Drecoll Fragen nach der angemessenen musealen Re-Präsentation der NS-Gesellschaft. Theoriebasiert legt er die besonderen Herausforderungen dar, die für die Ausstellung des Gegenstands Nationalsozialismus gelten, der per se schon maßgeblich durch Ästhetisierung und ihre Instrumentalisierung geprägt war. Der »Problemaufriss« untersucht die besonderen Bedingungen von Ausstellungen an historischen NS-Orten, bevor er vor allem Desiderata in Hinblick auf empirische Ergebnisse zum Lernen an solchen Orten und auf didaktisierte Ausstellungskonzepte benennt. Der dritte Abschnitt wendet sich den »Vermittlungskonkretionen« der NSGesellschaftsgeschichte im schulischen Unterricht zu, indem die Aufsätze sowohl Geschichtsschulbücher und Unterrichtsstunden analysieren als auch reale Unterrichtserfahrungen bzw. didaktische Konzeptionen vorstellen und diskutieren. Etienne Schinkel untersucht anhand eines kleinen Samples aktuell für die gymnasiale Sekundarstufe I in Niedersachsen zugelassener Schulbücher, ob die NS-Volksgemeinschaft in den Lehrwerken thematisiert und erläutert wird und, wenn ja, in welcher Form. Seine Befunde zeigen, dass die Darstellungen und/ oder Materialien zur NS-Gesellschaft doch zum Teil die angemessene Komplexität vermissen lassen. Auf Basis dieser Ergebnisse formuliert der Autor fachdidaktische Anforderungen als Empfehlungen für die Schulbuchmacher_innen. Eine Unterrichtsstunde in einer zehnten Realschulklasse über den Film »Napola – Elite für den Führer« (2004) analysiert Christian Mehr unter der Fragestellung, ob und wie das Konzept Volksgemeinschaft helfen kann, Schüler_innen diese Verheißung nachvollziehbarer zu machen. Sein Fokus liegt auf der sensiblen Destillation der inneren Logik der Stunde, in der anhand des Films »eher zusammenhanglos abgearbeitet [worden sei], was alles zur Ideologie der Nationalsozialisten gehörte«, obwohl in Schüler_innenäußerungen durchaus Reflexionen über »die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Begriffs Volksgemeinschaft« angelegt gewesen seien. Ein konkretes kompetenzorientiertes Lehr-Lern-Arrangement zu Vermitt-
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lung der NS-Geschichte an Oberstufen-Schüler_innen, nämlich eine Lerneinheit im »Alfried-Krupp Schülerlabor« an der Ruhr-Universität Bochum über das Zusammenleben von »Juden« bzw. »Jüdinnen« und »Nichtjuden« bzw. »Nichtjüdinnen«, stellt Marcel Mierwald einschließlich ihrer konzeptionell-fachdidaktischen Basis vor. Vor allem aber diskutiert er erste empirische Befunde aus im Rahmen dieser Einheit entstandenen Schüler_innenarbeiten, um Einblicke in das Verständnis der Lernenden in Bezug auf die NS-Volksgemeinschaft zu erhalten und daraus wiederum Anregungen für die Vermittlungspraxis zu gewinnen. Ein Unterrichtskonzept zur Volksgemeinschaft, das vor allem auf die »Förderung der Sach- und Urteilskompetenz« der Lernenden fokussiert, präsentiert Dirk Strohmenger. Es geht aus von »Vor(aus)urteilen und Vorwissen« über den Nationalsozialismus und konzentriert sich in der Umsetzung auf lokal- und regionalgeschichtliche Zugänge, die auch historische NS-Orte in der Region in den Unterricht integrieren. Den Abschluss dieses Blocks bilden grundlegende Reflexionen Malte Thießens über die Chancen der Auseinandersetzung mit der NS-Volksgemeinschaft im kompetenzorientierten (Zeit-)Geschichtsunterricht. Diese geschichtsdidaktische Diskussion der neuen Forschungsperspektiven konkretisiert der Autor im zweiten Teil seines Beitrags in Form von vier grob skizzierten Unterrichtsideen, die die NS-Gesellschaft als Lerngegenstand explizit in den Blick nehmen. Der Band schließt mit einem Resümee von Detlef Garbe, der im Mai 2015 aus bewusst spezifischer Perspektive, nämlich jener der NS-Gedenkstätten, einen kritischen Blick auf die Vorträge und Diskussionen dieser disziplinübergreifenden Tagung und ihren Ertrag geworfen hat. Dabei verweist er folgerichtig auch auf die didaktischen und pädagogischen Herausforderungen, vor denen gerade die Gedenkstätten zukünftig stehen, um »das Unbequeme und ihre Anstößigkeit« nicht zu verlieren, das nötig ist, um Besucher_innen zum kritischen Nachdenken anzuregen. Die Form des Konferenzkommentars wurde hier bewusst beibehalten.
4.
Gegenentwurf zur Holocaust-Education
Versuchen wir eine Zwischenbilanz: Wo ist das Anliegen, das fachwissenschaftliche Konzept der NS-Volksgemeinschaft geschichtsdidaktisch zu wenden, zu verorten, was bleibt offen, was wäre zu tun? Zunächst sei noch einmal deutlich betont: Unser Dreh- und Angelpunkt ist das historische Lernen, kein Ethikunterricht, kein dekontextualisiertes moralisches Lernen, keine Distanzierung oder Einübung von Toleranz. Unsere Profession ist allein die Geschichte, verstanden als Denkprozess, immer bezogen auf
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vergangene Realität, die wir zu rekonstruieren und zu verstehen suchen. Das gilt für forschende Erkenntnissuche ebenso wie für geschichtsdidaktisch abgesichert begleitetes historisches Lernen. Die Kernanliegen unserer Konferenz und der in ihrem Kontext entstandenen Beiträge dieses Bandes lauten: gewichtige wissenschaftliche Erkenntnis in Vermittlung zu transferieren, also dem historischen Lernen nutzbar zu machen. Ziel dieses Sammelbandes ist das Ausloten neuer Perspektiven für eine modifizierte Vermittlungsarbeit des Nationalsozialismus: Es geht um den Versuch, die Volksgemeinschaft auch zum Ausgangs- und Mittelpunkt der NS-Vermittlung zu machen, weil reflektierte historische Erkenntnis dem historischen Lernen dient. Geschichtsdidaktik hat in diesem Kontext – so unsere feste Überzeugung – eine normative Aufgabe wahrzunehmen: Es ist nicht an uns, abzuwarten, wie sich wissenschaftliche Einsicht ungeordnet und ungesteuert ihren Weg bahnt auch in Vermittlungsformen. Unser Ansatz lautet, durch die Formulierung von Ansprüchen und Standards, Begründungen und Reflexionen, Erwartungen und Thesen normierend einzugreifen in diesen Prozess. Dem gemeinsamen Unterfangen dienen auf jeweils spezifische, sehr unterschiedliche Weise alle in diesem Band versammelten Beiträge. Einzelne unter ihnen zeigen auf, wie ein neuer analytischer Zugriff, nämlich das in eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus weisende Analysekonzept der Volksgemeinschaft der Geschichtswissenschaft zu erweiterten tragenden Erklärungsansätzen verhilft. Mehrere Beiträge befassen sich mit Rahmenbedingungen und denkbaren Normierungen, andere weisen in Chancen und Grenzen der realen Umsetzung. Unser Ansatz bleibt dabei immer historisch konkret, auf den historischen Nationalsozialismus und dessen gesellschaftliche wie ideologische Strukturen bezogen. Gegenstand ist konkrete und zugleich sehr komplexe Vergangenheit, es geht um Verstehen und Erkenntnis ehemaliger Wirklichkeit, über die zeitgenössische Vision und das Analysekonzept Volksgemeinschaft, mit ihrem Motor von Inklusion und Exklusion, kulminierend unter anderem im Geschehen des Holocaust. Ohne zu behaupten, die NS-Volksgemeinschaft sei real gewesen, findet eine sukzessive Annäherung an die NS-Gesellschaft statt, die Grautöne und Komplexität herausarbeiten, dabei die Grenzen zwischen Täter_innen und Zuschauer_innen in der Schärfe ihrer Konturen hinterfragen lässt. Am ganz konkreten, mit Quellen empirisch zu belegenden realen Beispiel wird der Nationalsozialismus mithilfe des Volksgemeinschafts-Konzeptes analysiert, werden die gesellschaftlichen Strukturen offengelegt. Entscheidend ist: Indem wir den Nationalsozialismus vertieft verstehen und entschlüsseln, gelingt Erkenntnis über reale Vergangenheit und öffnet zugleich den Blick in eine Universalie, den allen Gesellschaften, Nationen und beliebigen Gruppen bekannten Mechanismus von Inklusion und Exklusion. Indes verlassen wir niemals den realen historischen Gegenstand und die
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Beschäftigung mit diesem. Ja, wichtig ist bei dieser Standortbestimmung: Darin ist der Unterschied, ja der Gegenentwurf zur »Holocaust-Education« erkennbar, die nämlich oft weit entfernt vom historisch-realen Geschehen, ja förmlich dekontextualisiert den Holocaust zur Chiffre des Bösen schlechthin sowie Mechanismen abgehoben zu gefühlten Mustern und vermeintlich sicheren Erkenntnissen erhebt. Exzessive Auswüchse dieser Holocaust-Education sind vielfach beschrieben worden,19 nichts mit diesen hat unser Ansatz zu tun. Gleichwohl, und auch das ist ein wesentlicher Aspekt historischen Lernens: Gerade auf Basis empirisch und historiografisch gesicherter Erkenntnis und Analyse geht es auch um Sensibilisierung für gesellschaftliche Prozesse von Ausgrenzung und Integration, die – wie betont – als durchaus universell begriffen werden dürfen. Wer Kambodscha 1976, Ruanda 1994, Srebrenica 1995 und eine Reihe weiterer Beispiele als Symbole für recht aktuelle genozidale Verbrechen wahrnimmt, wird vorsichtiger werden in der Betonung des Einzigartigen und Unvergleichlichen der NS-Gewaltverbrechen, obwohl es unbestreitbare Elemente ihrer Singularität gibt. Zunehmend wird die Erkenntnis in den Vordergrund rücken, dass jedenfalls gewisse Strukturen und Prozesse genozidaler Verbrechen anatomische Ähnlichkeiten aufweisen, vergleichbar erscheinen, ja zu pathologischen Ausartungen menschlicher Vergemeinschaftung zählen müssen. Bei aller Vorsicht und Distanz: Möglicherweise lässt sich mit Hilfe des Verstehens und der Erkenntnis aus der Geschichte lernen, kann man Muster der Wiederholung markieren. Wir bewegen uns also in einem vom spezifischen historischen Lernen erzeugten Spannungsbogen zwischen der Singularität des historischen Holocaust und Gegenwarts- und Zukunftsbezügen, die jedenfalls in Ansätzen auch Analogien zu Wirkmechanismen der NS-Volksgemeinschaft ins Auge fassen können, wenn sie mit gleicher Konsequenz auch Differenzen im Blick behalten. Im Gegensatz zur Holocaust-Education, deren moralische Ziele fast nach Pawlowscher 19 Vgl. u. a. Thomas Sandkühler : Nach Stockholm: Holocaust-Geschichte und historische Erinnerung im neueren Schulgeschichtsbuch für die Sekundarstufen I und II. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 50–76, bes. S. 53–56; Volkhard Knigge: Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland. In: Ders./Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern: Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005, S. 443–460. Aus der Fülle der Literatur zur Universalisierung und Enthistorisierung des Holocaust vgl. besonders Daniel Levy/Natan Sznaider : Erinnerung im globalen Zeitalter : der Holocaust. Frankfurt a. M. 2007; Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013; Jan Eckel/Claudia Moisel (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive. Göttingen 2008; Rolf Steininger (Hrsg.): Der Umgang mit dem Holocaust: Europa – USA – Israel. Wien 1994. Vgl. auch Karl H. Pohl/Astrid Schwabe: Presenting and Teaching the Past. In: Shelley Baranowski/Armin Nolzen/Claus-Christian Szeijnmann (Hrsg.): A Companion to Nazi Germany. Chichester (i. E.).
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Weise feststehen, wird hier auch ein sensibles Spannungsfeld zwischen Offenheit der Erkenntnis und der Fortentwicklung von moralischem Bewusstsein eröffnet. Verlauf und Diskussionen der Konferenz bestärken uns darin, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Es scheint uns sinnvoll zu sein, einen Übergang vom hochkomplexen, in eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus weisenden analytischen Konzept der Volksgemeinschaft (hier von Steber/Gotto und Bajohr beschrieben) zu den pragmatischen Überlegungen für einen Transfer im Bildungsprozesse zu konstruieren (wie Schmiechen-Ackermann und Danker ausführen), ganz im Sinne reflektierter Wanderung von fachwissenschaftlicher Erkenntnis in Bildungsprozesse (hier von Schwabe betrachtet). In der Folge und in der Praxis wird es darum gehen, diesen Transfer in Bildungsangebote konkret zu realisieren: Für die Institution Schule heißt es, dass Konzepte und konkrete Ideen für Unterrichtspraxis (hier von Thießen, Mierwald, Strohmenger und Mehr reflektiert) fortentwickelt werden sollten, insbesondere aber Schulbuchautor_innen die (von Schinkel beschriebenen) Defizite in der Befassung mit der NS-Volksgemeinschaft zu beseitigen hätten. Außerschulisch bedeutet es, Offenheit für neue museale Schwerpunkte zu entwickeln (wie Drecoll ausführt), auch eine Vernetzung von historischen Orten der Verfolgung und der Verheißung anzudenken: zum Beispiel München als Hauptstadt der Bewegung und als Ort des KZ Dachau; das Nürnberger Reichsparteitagsgelände und die lokalen jüdischen Erinnerungsorte, die Neulandhalle in Dithmarschen und das KZ Neuengamme bei Hamburg. Abschließend: Auch Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus, die in der Vermittlungsarbeit zu nutzen sind, werden zukünftig viel stärker die Volksgemeinschaft in den Fokus rücken. In der völligen Neubearbeitung unseres ehemals als Handbuch, Lehr- und Lesebuch eingeführten Bandes »Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus«20 unternehmen wir derzeit den konkreten Versuch, die gesamte neue Darstellung aus dem Konzept der NS-Volksgemeinschaft heraus abzuleiten. Versuch macht klug. So oder so.
20 Uwe Danker/Astrid Schwabe: Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus. Neumünster 2005.
I. Fachwissenschaftliche Diskurse
Frank Bajohr
Vom Herrschaftssystem zur Volksgemeinschaft. Der lange Weg zu einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus
Als die amerikanischen Truppen im Jahre 1944/1945 die westlichen Teile des Deutschen Reiches besetzten, wurden sie von zahlreichen Sozialwissenschaftlern und Psychologen begleitet, die Einstellung und Haltung der deutschen Bevölkerung zum Nationalsozialismus zu ergründen suchten. Dies erwies sich als keineswegs einfach, behaupteten doch fast alle befragten Deutschen, keine Nationalsozialisten gewesen zu sein und von den Verbrechen des »Dritten Reiches« nichts gewusst zu haben. Die Journalistin Margaret Bourke-White, die für das amerikanische Magazin »Life« schrieb, hörte den Satz »Wir haben es nicht gewusst« derart häufig und monoton, dass er ihr schließlich wie eine deutsche National-Hymne vorkam.1 In Meinungsumfragen registrierten die Amerikaner erstaunt, wie distanziert die meisten Deutschen der ehemaligen Führung des »Dritten Reiches« begegneten. Vor allem die Haltung gegenüber Hitler sei – so die amerikanischen Sozialwissenschaftler – durch eine »relatively cool attitude« geprägt.2 Nur gut ein Zehntel der Deutschen wollte sich 1945 dazu bekennen, Hitler bis zum Kriegsende vertraut zu haben, und wäre dieser am Leben geblieben, hätten immerhin 72 Prozent der Deutschen seine Überstellung an das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal befürwortet.3 Die dort Angeklagten hielten 1945 nur rund fünf Prozent der Deutschen für unschuldig, eine Zahl, die bis Herbst 1946 auf statistisch kaum noch messbare 0,5 Prozent absank.4 Wie war so etwas möglich, fragten sich die Amerikaner, waren denn die Bilder allgemeiner Führerbegeisterung und die Volksgemeinschaft der NS-Propaganda nichts als Lug und Trug gewesen? Waren die Deutschen des Jahres 1945, die den Alliierten als hemmungslose Egoisten erschienen, die einander denunzierten, sich auf dem 1 Zu den gesammelten Reportagen vgl. Margaret Bourke-White: Deutschland, April 1945. München 1979. 2 Zit. nach Anna J. Merritt/Richard L. Merritt (Hrsg.): Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys 1945–1949. Urbana 1970, S. 30. 3 Vgl. ebd., S. 31. 4 Vgl. ebd., S. 35.
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Schwarzmarkt übervorteilten und sich gegenseitig für den Nationalsozialismus verantwortlich machten, überhaupt jemals eine Gemeinschaft gewesen? Was sich auf den ersten Blick höchst widersprüchlich ausnahm, erwies sich bei näherem Hinsehen oft als zwei Seiten derselben Medaille. So hatte der amerikanische Psychologe Saul Padover bereits früh darauf hingewiesen, dass sich in der Führerverdammung in Wirklichkeit die vorherige Führerbegeisterung spiegelverkehrt abbilde, und in der Führerverdammung vor allem ein Bedürfnis nach persönlicher Schuldentlastung zum Ausdruck komme. Im November 1944 hatte Padover nach Gesprächen mit Deutschen festgestellt: »Alle Last wird auf den Führer abgewälzt, damit man selbst keine moralische Verantwortung tragen muss«.5 Dementsprechend fielen auch die Meinungsumfragen aus, wenn die Amerikaner nach einer kollektiven Verantwortung der Deutschen fragten. So lehnten im November 1945 mehr als 70 Prozent der Befragten eine Verantwortung des deutschen Volkes für den Zweiten Weltkrieg ab – ein Wert, der sich auch in der Folgezeit nicht merklich veränderte.6 In ihrem Selbstbild begriffen sich die Deutschen vor allem als Opfer : als Opfer des Nationalsozialismus, als Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung, vor allem als Opfer der Russen. Letzteres galt ausdrücklich auch für jene Deutschen, die Ende 1944 im Westen Deutschlands bereits unter amerikanischer Besatzung lebten und vor Übergriffen der Roten Armee sicher waren. Auch hier wies Saul Padover darauf hin, dass in der »Russenphobie« – wie er sie nannte – vor allem Bestrafungserwartungen und Vergeltungsängste angesichts des deutschen Vernichtungskrieges im Osten zum Ausdruck kämen, sodass auch Russenphobie und Vernichtungskrieg zwei Seiten derselben Medaille bildeten.7 Haltung und Einstellung der Deutschen gegenüber dem Nationalsozialismus waren also retrospektiv keineswegs einfach zu entschlüsseln, und angesichts von Schuldabwehr und Selbstviktimisierung der Nachkriegsdeutschen, die Herrschaft und Gesellschaft fast hermetisch voneinander trennten, verwundert es nicht, dass es vieler Jahrzehnte bedurfte, bis sich die historische Forschung einer Gesellschaftsgeschichte des Dritten Reiches umfassend und ohne Scheuklappen zuwandte. Diese Nachkriegsjahrzehnte waren durch Anfänge kritischer Analyse, aber auch durch Ausweich- und Vermeidungsdiskurse gekennzeichnet. Es ist kein Zufall, dass das Verhalten der Gesellschaft in ihrer Breite erst dann ins Blickfeld der Forschung rückte, als die Ära der Zeitzeugen zu Ende ging bzw. diese aus allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen abgetreten und in den 5 Saul K. Padover : Lügendetektor. Vernehmungen im besetzten Deutschland 1944/45. Frankfurt a. M. 1999, S. 86. 6 Vgl. Merritt/Merritt (Anm. 2), S. 36. 7 Vgl. Padover (Anm. 5), S. 87.
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Ruhestand abgewandert waren, vor allem in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Medien.8 Im Folgenden soll der lange Weg zu einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte des Dritten Reiches in seinen Windungen und Wendungen skizzenhaft nachgezeichnet werden, gewissermaßen als »Vorgeschichte« jener historiographischen Debatten, die sich mit dem Begriff der Volksgemeinschaft verbinden. Dabei möchte ich mich vor allem auf die 1980er Jahre konzentrieren, die eine wichtige formative Phase für eine umfassende Gesellschaftsgeschichte bildeten und zahlreiche innovative Forschungsansätze hervorbrachten. Zugleich waren diese jedoch durch spezifische Defizite und Probleme gekennzeichnet. Anfang der 1980er Jahre befand sich die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit der NS-Zeit unübersehbar im Umbruch: Auf der einen Seite dominierten immer noch theoretisch-deutende Zugriffe mit hohem Abstraktionsgrad, in denen die Gesellschaft als eigenständiger Akteur kaum vorkam. Zwar hatten Anfang der 80er Jahre die Faschismustheorien, die vor allem den Funktionszusammenhang von Kapitalismus und Faschismus hervorhoben, ihre kurzlebige Strahlkraft im Gefolge der Studentenbewegung bereits verloren. Umso stärker jedoch prägten die damalige Zeit Debatten um das nationalsozialistische Herrschaftssystem. War das »Dritte Reich« eine Form monokratischer Herrschaft, in der nahezu alles auf die Person Hitlers und dessen »Weltanschauung« zugeschnitten war, die dann auch die politische Praxis nach 1933 programmatisch-intentionalistisch bestimmte? Oder handelte es sich um eine Polykratie, in der verschiedene Herrschaftsträger in rivalisierende Kompetenzkämpfe verstrickt waren und vor allem dadurch die kumulative Radikalisierung nationalsozialistischer Politik vorantrieben, ja nicht zuletzt die Selbstzerstörung des Herrschaftssystems herbeiführten?9 Auch wenn in dieser Debatte zwischen Intentionalisten und Funktionalisten den letzteren das Verdienst nicht abzusprechen ist, den Blick auf die Vielzahl von Herrschaftsträgern jenseits der Person Hitlers gerichtet zu haben, so nahm der Funktionalismus diese Herrschaftsträger dennoch oft nicht als handelnde Akteure, sondern vor allem als Teil einer Struktur wahr, und gesellschaftsgeschichtliche Fragen blieben in dieser strukturgeschichtlichen Debatte weitgehend außen vor. Die offensichtlichen empirischen Defizite in der Erforschung der NS-Zeit wurden nur selten thematisiert. Im Gegenteil suggerierten die meisten der an den damaligen Debatten 8 Diese durchaus positiven Folgen des ansonsten stets als negativer Einschnitt beschriebenen Abschieds von der Zeitgenossenschaft hat vor vielen Jahren bereits Norbert Frei prognostiziert. Vgl. ders.: Abschied von der Zeitgenossenschaft. Der Nationalsozialismus und seine Erforschung auf dem Weg in die Geschichte. In: Werkstatt Geschichte 20 (1998), S. 69–83, hier S. 80–81. 9 Vgl. die Beiträge in Gerhard Hirschfeld/Lothar Kettenacker (Hrsg.): Der »Führerstaat«. Mythos und Realität. Stuttgart 1981.
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Beteiligten, dass ohnehin längst alles bekannt sei, und es folglich allein auf die geschichtswissenschaftliche Deutung des »Dritten Reiches« ankomme. Dass jedoch in vielen Fällen die Deutung der empirischen Forschung weit vorauseilte, wurde in besonderer Weise im sogenannten »Historikerstreit« 1986/87 deutlich,10 in dem »Auschwitz« als Synonym für den Holocaust zugleich als allgemeine Chiffre in einem politisch-kulturellen Grundsatzkonflikt diente, ohne dass Auschwitz und der Holocaust bis dahin überhaupt intensiver Gegenstand vor allem der deutschen Forschung gewesen wären. Nun wird man den Deutungsdiskursen der 70er und 80er Jahre ein erkenntnistheoretisches Potential keineswegs absprechen können. Im Hinblick auf gesellschaftsgeschichtliche Fragen wirken sie jedoch rückblickend wie Vermeidungsdiskurse, wie ein Ausweichen ins Allgemeine, um sich mit bedrängenden Fragen im Detail, vor allem der Gesellschaft selbst, nicht auseinandersetzen zu müssen. Dies war auch in den 1980er Jahren bereits mehr als deutlich, die andererseits durch eine Vielzahl neuer Forschungsansätze geprägt waren, von denen ausgesprochen innovative Impulse für eine Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit ausgingen. Auf deren Erkenntnisgewinne, aber auch deren Grenzen und Probleme möchte ich im Folgenden anhand von insgesamt sechs Forschungstrends und methodischen Zugriffen näher eingehen.
Widerstand und Verfolgung Wenn im Nachkriegsdeutschland überhaupt gesellschaftliches Verhalten in der NS-Zeit thematisiert wurde, dann stand lange Zeit vor allem abweichendes Verhalten im Mittelpunkt, verkörpert vor allem durch den Widerstand gegen das »Dritte Reich«. Während in der Bundesrepublik – beginnend mit den frühen Arbeiten von Hans Rothfels und anderen – Widerstand vor allem mit dem Umsturzversuch des 20. Juli 1944 oder auch der Weißen Rose gleichgesetzt wurde, monopolisierte umgekehrt die DDR den kommunistischen Widerstand als wesentliches Element der Traditionsbildung und Herrschaftslegitimation. In den 1970er und 1980er Jahren änderte sich jedoch in der Bundesrepublik dieses Bild, als zahlreiche Lokal- und Regionalstudien erschienen, die zumeist das Begriffspaar »Widerstand und Verfolgung« im Titel trugen.11 Auch ich hatte 10 »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987. 11 Vgl. u. a. Hans-Josef Steinberg: Widerstand und Verfolgung in Essen 1933–1945. Hannover 1969; Kuno Bludau: Widerstand und Verfolgung in Duisburg 1933–1945. Duisburg 1973; Kurt Klotzbach: Gegen den Nationalsozialismus. Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1930–1945. Hannover 1969; Gerhard Hetzer: Widerstand und Verfolgung in Augsburg. München 1981 (Diss.).
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Anfang der 80er Jahre als noch junger Student eine derartige Studie über meinen Heimatort Gladbeck im Ruhrgebiet verfasst, deren Defizite aus heutiger Sicht mehr als offensichtlich sind.12 Positiv gebührt diesen Studien sicher das Verdienst, den gesellschaftlichen Blick auf Widerstand und abweichendes Verhalten wesentlich verbreitert zu haben. Der bis dahin unzureichend gewürdigte Widerstand der Arbeiterbewegung, aber auch verschiedenste Formen von Nonkonformität und Verweigerung im Alltag, wie sie etwa subkulturelle Jugendgruppen wie die »Edelweißpiraten« praktizierten, kamen jetzt in den Blick. Besondere Maßstäbe setzte dabei das vom Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) initiierte Projekt »Bayern in der NS-Zeit«, das wie kein zweites Handlungssituationen und Konflikte im Herrschaftsalltag des »Dritten Reiches« thematisierte.13 Der Direktor des IfZ, Martin Broszat, prägte im Hinblick auf die vielfältigen Formen abweichenden Verhaltens den Begriff der gesellschaftlichen »Resistenz«. Der Begriff der Resistenz war jedoch – wie auch der Untertitel des Bayern-Projektes »Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt« – insofern außerordentlich problematisch, als er insinuierte, dass sich Herrschaft und Gesellschaft im »Dritten Reich« wie zwei getrennte, feindliche Lager gegenübergestanden hätten. Dabei hatte nicht zuletzt das Bayern-Projekt gezeigt, dass sich ein Großteil der Konflikte nicht zwischen Herrschaft und Gesellschaft abspielte, sondern vor allem innerhalb von Herrschaft und Gesellschaft. Im Forschungseifer, möglichst jeden Hitlergrußverweigerer in jedem bayerischen Bergdorf persönlich zu identifizieren, wurden Zustimmung und Konsens mit dem NSRegime deutlich vernachlässigt. Dies hatte beispielsweise der Historiker Detlev Peukert bereits 1984 in einer kritischen Rezension des Bayern-Projektes angemerkt: »Nach so viel Widerstands- und »Resistenz«-Forschung sollte das Interesse auch auf Ausmaß und Gründe des Konsenses gelenkt werden.«14 Angesichts dieser Forderung geriet jedoch Peukert in die Bredouille, als ihn Klaus Tenfelde im darauffolgenden Jahr einlud, im Rahmen der von ihm herausgegebenen Buchreihe »Bergbau und Bergarbeit« eine Studie über den Widerstand der Bergarbeiterbewegung im Dritten Reich zu verfassen, für die Peukert schließlich auch mich ich als Mitautoren verpflichtete, seinen langjährigen studentischen Mitarbeiter. Antifaschistische Heldengeschichten zum Zwecke der Traditionsbildung kamen für uns natürlich nicht in Frage. Wie jedoch schreibt man – brachten wir das Dilemma gleich schon in der Einleitung der 1987 erschienenen Studie auf den Punkt – eigentlich eine »Geschichte fortgesetzten Scheiterns«, denn die Geschichte des Widerstandes gegen das »Dritte 12 Frank Bajohr : Verdrängte Jahre. Gladbeck unter’m Hakenkreuz. Essen 1983. 13 Bayern in der NS-Zeit. 5 Bde. München 1977–1983. 14 Detlev Peukert: Widerstand und »Resistenz«. Zu den Bänden V und VI der Publikation »Bayern in der NS-Zeit«. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 24 (1984), S. 661–666, hier S. 665.
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Reich« sei letztlich eine »Geschichte der Verlierer«, die sich abseits des gesellschaftlichen Mainstreams bewegt hätten. Etwas einschränkend fügten wir dann hinzu: »Eine Geschichte des Widerstandes aus der Perspektive der »Verlierer« zu schreiben heißt auch, zu verstehen suchen, warum diese trotz alledem nicht aufgegeben haben.«15 Diese Formulierung sollte den Widerständlern den ihnen gebührenden Respekt erweisen und die moralische Würdigung ihres Einsatzes gegen das Regime zum Ausdruck bringen. Schaut man jedoch genauer hin, drückten wir uns letztlich um die Beantwortung dieser Frage herum, weil nicht zu übersehen war, dass der Opfermut vieler NS-Gegner nicht zuletzt auf der Leugnung und Verdrängung der damaligen Realitäten beruhte. So bewegten sich beispielsweise viele Kommunisten in einer ideologisch verzerrten Parallelwelt oder die mit außerordentlicher Intensität verfolgten Zeugen Jehovas in einer religiös determinierten Parallelwelt, und agierten damit weitgehend abgekapselt von der Bevölkerungsmehrheit.
Rassismus als Gesellschaftspolitik Neben der Ausblendung des damaligen gesellschaftlichen Konsenses wiesen die vielen Studien über »Widerstand und Verfolgung« noch ein weiteres Manko auf, weil sie Verfolgung vor allem als Reaktion auf Widerstand und abweichendes Verhalten interpretierten. Die repressive Exklusion unerwünschter Minderheiten war jedoch ein zentrales Element nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik gewesen. Dies zeigten zahlreiche Einzelstudien zur Praxis von Rassismus und Rassenhygiene, die ebenfalls in den 1980er Jahren Konjunktur hatten und hier als zweiter Forschungstrend benannt werden sollen.16 In schneller Folge erschienen in jener Zeit Arbeiten zur Geschichte der Eugenik, der Zwangssterilisationen, der Euthanasie, der Psychiatrie und Medizin, der Sozial- und Bevölkerungspolitik. Dabei standen gesellschaftliche Gruppen im Mittelpunkt, die damals häufig als »vergessene Opfer« des NS-Regimes bezeichnet wurden: So genannte »Asoziale«, Homosexuelle, Sinti und Roma, »Berufsverbrecher« und 15 Detlev Peukert/Frank Bajohr : Spuren des Widerstands. Die Bergarbeiterbewegung im Dritten Reich und im Exil. München 1987, S. 13. 16 Vgl. u. a. Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. Opladen 1986; Ernst Klee: »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Frankfurt a. M. 1983; Dirk Blasius: Umgang mit Unheilbaren. Studien zur Sozialgeschichte der Psychiatrie. Bonn 1986; Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens« 1890–1945. Göttingen 1987; Hans-Uwe Otto/Heinz Sünker (Hrsg.): Soziale Arbeit und Faschismus. Volkspflege und Pädagogik im Nationalsozialismus. Bielefeld 1986; Heidrun Kaupen-Haas (Hrsg.): Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik. Nördlingen 1986.
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andere.17 Der Terminus »vergessene Opfer« hob zwar darauf ab, dass diesen Verfolgtengruppen nach 1945 jegliche Wiedergutmachung und Entschädigung verweigert worden war. Im Hinblick auf die historische Forschung lässt sich jedoch konstatieren, dass Ende der 1980er Jahre die Verfolgungsgeschichte dieser »vergessenen Opfer« weitaus besser erforscht war als die Verfolgung der – angeblich nicht vergessenen – Juden oder die Geschichte des Holocaust. In vielen Studien zum NS-Rassismus in den 1980er Jahren kamen Judenfeindschaft und Antisemitismus und die besonders radikale Exklusion der jüdischen Minderheit schlichtweg nicht vor. In seinem wegweisenden Aufsatz »Die Genesis der Endlösung aus dem Geiste der Wissenschaft« konstruierte beispielsweise Detlev Peukert eine »Endlösung«, in der Jüdinnen und Juden sowie der Antisemitismus kaum vorkamen, wobei er sich darin im Einklang mit vielen Arbeiten jener Zeit befand.18 Noch ein weiteres Defizit vieler Arbeiten zum NS-Rassismus in jener Zeit springt rückblickend ins Auge: Die meisten nämlich konzentrierten sich ausschließlich auf Maßnahmen der gesellschaftlichen Exklusion, ignorierten jedoch, dass die so genannte »Ausmerze« der so genannten »Minderwertigen« zugleich mit der Förderung der Volksgemeinschaft einherging. Diese profitierte von zahlreichen Fördermaßnahmen, die vom Winterhilfswerk bis zu Ehestandsdarlehen reichten. Von daher war beispielsweise die Geburtenpolitik des Nationalsozialismus keineswegs allein anti-natalistisch, d. h. auf die Verhinderung unerwünschter Geburten ausgerichtet, wie Gisela Bock in ihrer Studie über Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus hervorhob;19 sie war gleichzeitig eben auch pro-natalistisch orientiert und förderte umgekehrt jene, die im Sinne der NS-Rassedoktrin als förderungswürdig galten.
Alltagsgeschichte Die 1980er Jahren waren insgesamt durch einen ungeheuren Aufschwung der so genannten »Alltagsgeschichte« geprägt, die hier als dritter jener Forschungsansätze thematisiert werden soll, mit denen sich die Forschung allmählich dem Verhalten der deutschen Gesellschaft zuwandte. Beispielhaft sei hier der Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte der Hamburger Körber-Stiftung erwähnt, der Anfang der 1980er Jahre gleich zwei Mal zum Thema »Alltag im Nationalsozialismus« stattfand und dabei eine wahre Rekordzahl von Schülerarbeiten hervorbrachte. Diese hohe Beteiligung offenbarte zugleich ein breites gesell17 Vgl. Verachtet – verfolgt – vernichtet. Zu den »vergessenen« Opfern des NS-Regimes (hrsg. von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes). Hamburg 1986. 18 Detlev Peukert: Die Genesis der ›Endlösung‹ aus dem Geist der Wissenschaft. In: Ders: Max Webers Diagnose der Moderne. Göttingen 1989, S. 102–121. 19 Bock (Anm. 16).
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schaftliches Bedürfnis nach einer Re-Konkretisierung der NS-Zeit jenseits abstrakter Deutungsdebatten. Nicht wenige der Schülerarbeiten litten zwar an einer simplifizierenden geschichtspädagogischen Zurichtung, die Ulrich Herbert 1982 an dem fiktiven Beispiel einer typischen Schülerarbeit karikierte: »Erster Teil: Der Nationalsozialismus und die Verführung der Jugend im Allgemeinen. Zweiter Teil: Die Geschichte des Fähnleins »Totila« des Jungvolks in Essen-Rüttenscheid. Dritter Teil: Auswertung. Die Jugend darf sich nicht so leicht verführen lassen, deswegen Vorsicht bei den Radikalen von links und rechts, wir brauchen eine wehrhafte Demokratie.«20 Nimmt man jedoch die damals preisgekrönten Arbeiten näher in den Blick, dann zeigen diese anhand zahlreicher eindringlicher Beispiele, wie nicht nur der Nationalsozialismus die Gesellschaft diktatorisch-verführend von oben durchdrang, sondern sich die Gesellschaft die Herrschaftsbedingungen von unten aktiv-partizipierend aneignete. So schlossen sich beispielsweise viele Schüler des katholisch-konservativen Internatsgymnasiums »Collegium Augustinianum« am Niederrhein begeistert der Hitlerjugend an, um sich auf diese Weise gegen die konservativ-autoritären Strukturen ihrer Schule zur Wehr zu setzen und sich persönliche Freiräume zu erkämpfen – eine ganz neue Lesart einer Geschichte der HJ jenseits der klassischen Stereotype von Verführung und totalitärer Indienstnahme.21 Ein Schüler hatte die Geschichte seines Großonkels rekonstruiert, der begeisterter junger Nationalsozialist gewesen und 22jährig an der Ostfront gefallen war. Die Schülerarbeit trug den Titel: »Ein Leben für eine ›große Idee‹« und zeichnete minutiös die aktive Selbstaneignung nationalsozialistischer Ideologie durch den besagten Großonkel nach, der als Jugendlicher Propagandabilder über den »Sozialismus der Tat« zeichnete und eigene Lieder und Gedichte verfasste. Besonders positiv hob die Jury an dieser Arbeit hervor : »Die biographische Perspektive macht deutlich, dass die bekannten Erziehungsmuster nicht von oben aufgedrückt werden, sondern sich die Vereinnahmung der Jugendlichen als aktive, widerspruchsvolle und konfliktreiche Aneignung dieser Muster vollzieht.«22 Ähnliche Tendenzen zeigte eine Schülergruppe auf, die sich mit dem »Fest der Volksgemeinschaft« beschäftigte, das
20 Ulrich Herbert: Vor der eigenen Tür. Bemerkungen zur Erforschung der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus. In: Dieter Galinski/Ders./Ulla Lachauer (Hrsg.): Nazis und Nachbarn. Schüler erforschen den Alltag im Nationalsozialismus. Reinbek 1982, S. 9–33, hier S. 25. 21 Klaus van Eickels: Hitlerjugend und »Neudeutschland« auf der Gaesdonk. In: Ebd., S. 75–92. 22 Peter Blümler: Ein Leben für eine »große Idee«. Karl Haas als Pimpf. In: Dieter Galinski/Ulla Lachauer (Hrsg.): Alltag im Nationalsozialismus 1933 bis 1939. Jahrbuch zum Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten. Braunschweig 1982, S. 135–143, Zitat S. 136.
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die Stadt Herdecke 1939 aus Anlass ihres 200jährigen Bestehens veranstaltete.23 Dabei verschränkten sich Elemente nationalsozialistischer Propaganda mit zahlreichen anderen Aspekten der Festgestaltung, die »keinen typischen nationalsozialistischen Charakter« aufwiesen und zugleich weite Teile der Bevölkerung in den Festablauf mit seinen Umzügen und Darbietungen integrierten. Obwohl dem Leitbild der Volksgemeinschaft verpflichtet, bestritten rückblickend im Jahre 1980 neun von zehn befragten ehemaligen Beteiligten, dass das Fest überhaupt einen politischen Hintergrund besessen habe. In solchen Beispielen offenbarten die Arbeiten des Schülerwettbewerbs im positiven Sinne das Potential der Alltagsgeschichte für eine kritische Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, nämlich Herrschaft als soziale Praxis vorzuführen und die damaligen Zeitgenossen dabei als handelnde Akteure wahrzunehmen.
Oral History Eng mit dem Aufschwung der »Alltagsgeschichte« verbunden war zu Beginn der 1980er Jahre die Blüte der »Oral History«, die mit dem von Lutz Niethammer geleiteten Projekt »LUSIR« (Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960) ein methodisch innovatives Forschungsprojekt hervorbrachte, das sich dem – so Niethammer – »verdrängten Kontinuitätsfaktor Volk« zuwandte und auf eine umfassende »Erfahrungsgeschichte des Volkes« abzielte.24 Dabei unternahm das Projekt den Versuch, den historisch belasteten Volksbegriff in linker Variante wiederzubeleben. So hob Lutz Niethammer in seinen einleitenden Bemerkungen hervor : »Das heutige Mißtrauen gegenüber dem Volksbegriff, soweit er nicht einfach durch völkischen und volkstümlichen Mißbrauch verschlissen erscheint, beruht im Kern in der Frage, ob es Hitlers Volksgemeinschaft nicht doch gegeben habe. Sie kann man nur historisch bearbeiten, indem man zunächst der Kontinuität des Volkes nicht aus dem Wege geht, sondern das Verdrängte thematisiert. Das soll hier geschehen, und zwar nicht an unspezifischen Beispielen, sondern da, wo die Tradition der Arbeiterklasse im Volk ein politisch zentraler Erfahrungsbereich ist und es erlaubt, zugleich Entstehung, Art und Umfang von Konsenselementen im Faschismus und ihre Bedeutung für die Nachkriegszeit zu thematisieren.«25 23 Christoph Großpietsch u. a.: Die 200-Jahr-Feier der Stadt Herdecke im Jahre 1939. Ein Volksfest im Nationalsozialismus. In: Ebd., S. 192–202. 24 Lutz Niethammer (Hrsg.): »Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.« Faschismus-Erfahrungen im Ruhrgebiet. Bonn 1983; Ders. (Hrsg.): »Hinter merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist.« Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet. Bonn 1983; Ders. (Hrsg.): »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Berlin 1985. 25 Niethammer : Jahre (Anm. 24), S. 10.
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Zwar leicht verbrämt durch linke Semantik wie »Arbeiterklasse« und »Faschismus«, warf das LUSIR-Projekt doch einigermaßen unbefangen die Frage nach der Volksgemeinschaft auf. Dies geschah auf der Basis von mehr als zweihundert lebensgeschichtlichen Interviews mit Zeitzeugen, die die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 vielfach als Erwachsene erlebt hatten. Von daher ordneten sie auch die NS-Zeit rückblickend in gänzlich andere Erinnerungskonstruktionen ein als spätere Generationen von Hitlerjungen und Kriegskindern, die später die Fernsehdokumentationen als Pseudo-Zeitzeugen bevölkerten. Die rückblickende Erinnerung der Zeitzeugen wurde vor allem durch den Dualismus von guten und schlechten Zeiten bestimmt. So gehörten die Perioden von Mitte der 30er Jahre bis zum Beginn der 40er Jahre sowie die 1950er Jahre zu den »guten Zeiten«, geprägt durch Ordnung, Stabilität und Normalität von Berufsalltag und Familienleben, während die Jahre der Weltwirtschaftskrise sowie die späten Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre als »schlechte Zeiten« erinnert wurden, in denen »Normalität« nicht möglich war.26 Dass in der Erinnerung die Anfangsjahre der NS-Herrschaft nicht als terroristischer Ausnahmezustand in einer Diktatur, sondern als »gute Zeiten« von Ordnung, Stabilität und Normalität konstruiert wurden, hatte etwas Provokatives und verwies indirekt auf Bindekräfte zwischen Bevölkerung und NS-Regime. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit infolge des Rüstungsbooms hatte zum Beispiel bei jüngeren Arbeitern Aufstiegshoffnungen mobilisiert, die Michael Zimmermann in seinem Aufsatz über die »Ausbruchshoffnungen« jüngerer Bergleute eingehend analysierte.27 Zugleich zeigte das LUSIR-Projekt jedoch die methodischen Grenzen und Probleme der Oral History auf, nämlich letztlich an die Erinnerungsperspektive und Erinnerungskonstruktionen der Zeitzeugen gebunden zu sein, und zwar von Zeitzeugen, die überwiegend nicht zu den Verfolgten, sondern zur – wie es Niethammer ausdrückte – »schweigenden Mehrheit« der Bevölkerung gehörten. Dies schloss zwar nicht aus, auch Leerstellen und blinde Flecke der Erinnerung zu benennen, doch konnten diese Leerstellen selbst nicht detailliert analysiert werden. Deshalb war das LUSIR-Projekt auch nur bedingt in der Lage, Prozesse gesellschaftlicher Exklusion in der NS-Zeit zu thematisieren. So hatte beispielsweise das physische Verschwinden der Juden aus der deutschen Gesellschaft durch Vertreibung, Deportation und Massenmord auch zu ihrem Verschwinden aus der Erinnerung der nichtjüdischen Zeitgenossen geführt – eine Leerstelle, die das LUSIR-Projekt noch einmal reproduzierte, in dem sich kein 26 Ulrich Herbert: »Die guten und die schlechten Zeiten«. Überlegungen zur diachronen Analyse lebensgeschichtlicher Interviews. In: Niethammer : Jahre (Anm. 24), S. 67–96. 27 Michael Zimmermann: Ausbruchshoffnungen. Junge Bergleute in den dreißiger Jahren. In: Ebd. (Anm. 24), S. 97–132.
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einziger Projektbeitrag mit der Judenverfolgung beschäftigte. Auch erwies es sich als nahezu unmöglich, die Lebensrealität der nach hunderttausenden zählenden Zwangsarbeiter in den Erinnerungen der Zeitzeugen auch nur annähernd greifbar zu machen. Fast alle Befragten erinnerten sich nämlich an Begebenheiten, in denen sie oder andere die Zwangsarbeiter gut behandelt hatten, während sich dieselben umgekehrt oft nicht angemessen benommen hätten, beispielsweise nach ihrer Befreiung 1945. Die Erinnerung an die ehemaligen Zwangsarbeiter erwies sich somit als Addition positiver Ausnahmen, vorgebracht als Abwehr gegen mögliche Schuldvorwürfe, während die trübe Normalität des Zwangsarbeiterdaseins im Ruhrgebiet in der Erinnerung der ehemaligen »Volksgenossen« eher schemenhaft sichtbar wurde.28 Dieser methodischen Grenzen der Oral History waren sich die Initiatoren des LUSIRProjektes durchaus bewusst, wenngleich nicht zu übersehen war, dass manche Protagonisten die Oral History ja als Methode gefeiert hatten, blinde Flecken der bisherigen Geschichtsschreibung zu beseitigen.
Frauen- und Geschlechtergeschichte Die 1980er Jahre waren neben der Alltagsgeschichte und der Oral History durch einen weiteren Forschungstrend gekennzeichnet, von dem ebenfalls innovative Impulse für eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus ausgingen, nämlich von der Frauengeschichte, die sich bereits im Verlaufe der 80er Jahre zunehmend zur Geschlechtergeschichte erweiterte. Rückblickend fällt auf, dass die Perspektive auf Frauen in der NS-Zeit zumeist durch einseitige Zuspitzungen und Verzerrungen gekennzeichnet gewesen war.29 So präsentierte die feministisch inspirierte Frauengeschichte der späten siebziger und frühen achtziger Jahre die Frauen im »Dritten Reich« als Opfer und Objekte männlicher patriarchaler Herrschaftsstrukturen, die sie auf die Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert hätten (obwohl doch das nationalsozialistische Deutschland eine der höchsten Frauenerwerbsquoten der Welt aufzuweisen hatte). Dies wiederum geschah in Abgrenzung zu bis dahin weit verbreiteten Annahmen, dass vor allem Frauen als Wählerinnen Hitler an die Macht gebracht bzw. als Denunziantinnen das staatliche Terror- und Überwachungssystem gestützt hätten. Es sollen an dieser Stelle die oft einseitigen Zuspitzungen dieser Debatten seit den späten 1970er Jahren nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. In manchen Dar28 Ulrich Herbert: Apartheid nebenan. Erinnerungen an die Fremdarbeiter im Ruhrgebiet. In: Ebd. (Anm. 24), S. 233–266. 29 Zur Zusammenfassung von Forschungsstand und Forschungsentwicklung siehe Sybille Steinbacher (Hrsg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft. Göttingen 2007 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 23).
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stellungen wurden Frauen allzu oft entweder als Opfer oder in krasser Umkehrung als »Täterinnen« präsentiert.30 Insgesamt scheinen mir jedoch diese einseitigen Zuspitzungen eine Vielzahl von Studien inspiriert zu haben, die Handlungsräume von Frauen, ihre Mobilisierung und Selbstmobilisierung im NS-Regime präzise, abgewogen und alltagsnah zu erforschen, d. h. ohne zuspitzende Debatten besäßen wir heute nicht jene Vielzahl empirischer Studien über sozial wohlversorgte Kriegerfrauen, über Frauen in der Rüstungswirtschaft, über Frauen im Sippenverband der SS, über SS-Helferinnen, über Frauen im Osten.31 Die schließliche Erweiterung der vormaligen Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte hat im Übrigen dazu geführt, frühere Annahmen über radikale Geschlechterhierarchien im »Dritten Reich« deutlich zu relativieren, zum Beispiel in den besetzten Gebieten, wo deutsche Frauen stets den einheimischen Männern übergeordnet waren. Zugleich hat die Geschlechtergeschichte die Bedeutung von Geschlechterkonstruktionen hervorgehoben, die beide Geschlechter für ihre Selbstmobilisierung im Sinne des Regimes nutzten. Selbst Hausfrauen und Mütter wurden keineswegs allein ins Private abgedrängt, sondern das Private im Gegenteil politisiert und damit auch Hausarbeit und Mutterschaft in einer Weise aufgewertet, die Frauen einen Zutritt zum »politischen Raum« ermöglichte. Insgesamt hat die Frauen- und Geschlechtergeschichte sicherlich auf ihre Weise zur Ausbildung einer kritischen Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit beigetragen.
Verfolgungsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte Abschließend sei ein sechster und letzter Forschungstrend erwähnt, der sich in den späten 1980er Jahren allmählich entwickelte und schließlich in den 1990er Jahren in vollem Umfang entfaltete, nämlich Verfolgungsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte zu schreiben und damit jene ursprünglich auf Raul Hilberg zurückgehende schematische Unterteilung zwischen Tätern, Opfern und so genannten »Zuschauern« zu überwinden.32 Stattdessen verwandelte die Gesell30 Vgl. Kathrin Kompisch: Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus. Köln/Weimar/Wien 2008. 31 Vgl. u. a. Birthe Kundrus: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hamburg 1995; Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der »SS-Sippengemeinschaft«. Hamburg 1997; Elizabeth Harvey : Women and the Nazi East. Agents and Witnesses of Germanization. New Haven/London 2003; Simone Erpel (Hrsg.): Im Gefolge der SS. Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück. Begleitband zur Ausstellung. Berlin 2007; Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrung und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen. Göttingen 2009. 32 Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1939–1945. Frankfurt a. M. 1992.
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schaftsgeschichte der Verfolgung die vormaligen eher passiven Zuschauer in beteiligte Akteure des Geschehens. Verfolgung war im Dritten Reich eben nicht allein ein politischer Prozess, exekutiert von den Institutionen des NS-Staates oder der Partei. Verfolgung war zugleich immer auch ein sozialer Prozess, an dem die Gesellschaft in vielfältiger Weise beteiligt gewesen war.33 So zeigte beispielsweise eine Analyse der Handlungspraxis der Gestapo und anderer Verfolgungsinstitutionen, in welch starker Weise diese auf Denunziationen und Mitarbeit aus der Bevölkerung angewiesen waren, auch wenn man die These von Robert Gellately und anderen von der Selbstüberwachung der Gesellschaft im »Dritten Reich« nicht unbedingt teilen muss.34 Auch die »Arisierung« jüdischen Eigentums im »Dritten Reich« wäre schwerlich ohne eine Vielzahl von Beteiligten, Nutznießern und Profiteuren möglich gewesen, bis hin zu zehntausenden so genannter Volksgenossen, die in den Kriegsjahren an der öffentlichen Versteigerung jüdischen Besitzes teilnahmen.35 In den besetzten Ostgebieten waren nicht allein Wehrmacht und SS aktiv, sondern ein gesellschaftliches Riesenheer von Verwaltungsangestellten, Unternehmern, BDM-Mädchen usw., die allesamt an der Ausbeutung und Germanisierung der besetzten Gebiete mitwirkten. Die sich als Sub-Disziplin der Holocaustforschung ausbildende Täterforschung korrigierte weit verbreitete Annahmen, dass Massenmorde von einer letztlich kleinen Zahl von Tätern begangen worden seien. Mittlerweile geht sie von einer Zahl von 200000–250000 deutschen und österreichischen Tätern aus, die deutlich macht, dass Täter keine kriminelle Randgruppe innerhalb der damaligen Gesellschaft bildeten, sondern zumeist der sozialen Mitte der Gesellschaft entstammten.36 Deshalb können sie auch nicht als Sondergruppe vom Rest der Gesellschaft getrennt werden, sodass viele Buchtitel die »Normalität« der Täter hervorheben. Exemplarisch sei Christopher Brownings Studie »Ganz normale Männer« über das Reserve-Polizeibataillon 101 hervorgehoben, die erstmals 1993 als Buch erschienen war.37 33 Vgl. Frank Bajohr : Verfolgung aus gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive. Die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden und die deutsche Gesellschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), H. 4, S. 91–114. 34 Robert Gellately : Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933–1945. Paderborn 1993; Ders.: Backing Hitler. Consent and Coercion in Nazi Germany. Oxford 2001. 35 Die knappste Zusammenfassung der Forschungsbefunde der letzten zwanzig Jahre bietet Dieter Ziegler : Die wirtschaftliche Verfolgung der Juden im »Dritten Reich«. In: HeinzJürgen Priamus (Hrsg.): Was die Nationalsozialisten »Arisierung« nannten. Essen 2007, S. 17–40. 36 Frank Bajohr : Täterforschung. Ertrag, Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes. In: Ders./Andrea Löw (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung. Frankfurt a. M. 2015, S. 167–185. 37 Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Reinbek 1993.
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Diese sechs Forschungstrends haben zweifellos dazu beigetragen, eine kritische Gesellschaftsgeschichte des NS im Laufe der Jahrzehnte vom Rand ins Zentrum der Analyse zu rücken, sodass mittlerweile auch Hitler-Biographien nicht mehr ohne Perspektive auf die Gesellschaft geschrieben werden können, wie dies beispielsweise Ian Kershaws Hitlerbiographie gezeigt hat, in der Kershaw die »dem Führer entgegen arbeitende« Gesellschaft in den Mittelpunkt rückte.38 Und dennoch wird man abschließend sagen müssen, dass eine Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit ohne den Begriff der Volksgemeinschaft und den mit ihm verbundenen Forschungen nicht geschrieben werden kann. Was immer man über den Begriff der Volksgemeinschaft und seine Operationalisierungsmöglichkeiten39 sagen mag: Auch seine Kritiker können nicht bestreiten, dass er endlich die NS-Gesellschaft in das Zentrum der Analysen zur NS-Herrschaft gestellt hat.
38 Ian Kershaw: Hitler. Bd. 1: 1889–1936. Stuttgart 1998; Bd. 2: 1936–1945. Stuttgart 2000. 39 Vgl. den Beitrag von Martina Steber/Bernhard Gotto in diesem Band.
Martina Steber / Bernhard Gotto
Volksgemeinschaft – ein analytischer Schlüssel zur Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes
Kein anderer Begriff hat die Debatte über die Gesellschaftsgeschichte während der NS-Diktatur in den vergangenen Jahren so sehr angetrieben wie jener der Volksgemeinschaft.1 Lange Zeit als propagandistisches Schlagwort abgetan, haben zahlreiche jüngere Forschungen sich von ihm anregen lassen, neu über den sozialen und kulturellen Wandel in Deutschland zwischen 1933 und 1945 nachzudenken. Dadurch hat der Begriff Volksgemeinschaft einen doppeldeutigen Gehalt angenommen: Zum einen handelt es sich um einen Quellenbegriff; seine Verwendungsweisen und seine Bedeutungsschichten sind daher ganz im Sinne historischer Quellenkritik zu analysieren und historisch zu bewerten. Zum anderen aber dient er der Geschichtswissenschaft als analytischer Leitbegriff, mit dessen Hilfe nach Richtung und Ursachen gesellschaftlicher Veränderungen gefragt wird. In ihm bündeln sich historiographische Perspektiven, Leitideen und methodische Entscheidungen. Diese heterogene Semantik macht den Begriff Kritiker_innen der jüngeren Volkgemeinschaftsforschung suspekt. Sie fordern klare Definitionskriterien für analytisches Handwerkszeug ein, um sozialen Wandel überzeugend zu erklären. Befürworter_innen wenden gegen dieses Argument ein, dass gerade die Vielschichtigkeit des Begriffs es ermögliche, die Widersprüchlichkeit und Komplexität von sozialen und kulturellen Veränderungen überhaupt zu erfassen und dann zu ordnen.2 1 Diese Überlegungen basieren auf Martina Steber/Bernhard Gotto: Volksgemeinschaft im NSRegime. Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 62 (2014), H. 3, S. 433–445 sowie Dies.: Volksgemeinschaft. Writing the Social History of the Nazi Regime. In: Dies. (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives. Oxford 2014, S. 1–25. Dort sowie in der Gesamtbibliographie des Bandes (S. 295–326) finden sich ausführliche Literaturangaben, auf die hier weitgehend verzichtet wird. Vgl. außerdem zum Stand der Forschung den Forschungsbericht von Janosch Steuwer : Was meint und nützt das Sprechen von der Volksgemeinschaft? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. In: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487–534. 2 Zum historiographischen Diskurs vgl. Steber/Gotto (Anm. 1), S. 10–15; Michael Wildt: Volksgemeinschaft, Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 03. 06. 2014, URL: http://do
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Den berechtigten Einwänden gegen die leichtfertige Verwendung eines Quellenbegriffs als analytischer Kategorie sucht die neuere Forschung in dreierlei Weise Rechnung zu tragen: Erstens wird vermieden, von der Volksgemeinschaft als etwas Realem zu sprechen, denn zu keinem Zeitpunkt entsprach die gesellschaftliche Wirklichkeit den nationalsozialistischen Propagandaversprechen. Zweitens hat sich eine Definition herauskristallisiert, die klar benennt, was gemeint ist, wenn über den Begriff der Volksgemeinschaft und seine Bedeutung im Nationalsozialismus gesprochen, wenn Volksgemeinschaft als analytischer Begriff verwendet wird: Er war zugleich eine Gesellschaftsutopie und eine Handlungsanweisung, um sie zu realisieren. Das Herzstück bildete ein als überzeitliche Rasseeinheit imaginiertes Kollektivsubjekt, über das der schicksalhaft erwählte »Führer« unumschränkte Autorität hatte. Die Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft sollte soziale Unterschiede wie Religions- und Klassenzugehörigkeit zwar nicht beseitigen, aber im identitätsstiftenden Erleben überformen. Sie musste biologistisch legitimiert und vom Einzelnen durch Leistung sowie Bekenntnis untermauert werden. Von ihr leiteten sich Lebenschancen ab, deren Zuteilung neue soziale Ungleichheit begründete. Das wirksamste Mittel zur Herstellung der Volksgemeinschaft war die Gewalt, die sich exterminatorisch nach innen und expansiv nach außen richtete.3 Schließlich konzentriert sich die neuere Forschung, drittens, auf eine Operationalisierung des analytischen Leitbegriffs Volksgemeinschaft für eine Gesellschaftsgeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands. Denn die vielschichtige Debatte über Nutzen und Nachteil des Volksgemeinschaftszugangs bedarf vor allem begrifflicher Schärfung und analytischer Präzision. Mit dem Begriff der Volksgemeinschaft steht sicherlich kein Masterkonzept zur Verfügung, um den Nationalsozialismus insgesamt neu zu deuten. Volksgemeinschaft ist ein (sicherlich sehr wertvoller) analytischer Schlüssel – nicht mehr und nicht weniger. Doch die mitunter erregten Diskussionen und die vielfältigen empirischen Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass der Begriff der Volksgemeinschaft ein geeignetes Instrument darstellt, um den soziokulturellen Wandel während der NS-Diktatur zu analysieren. Dabei geht es längst nicht mehr darum, tatsächliche oder vermeintliche Propagandaversprechen sozialer Egalität oder höheren Lebensstandards als Täuschung zu entlarven, indem man sie mit sozialstatistisch unterfütterten Befunden über Ungleichheit und Versorgungsdefizite kontrastiert. Das gilt insbesondere mit Blick cupedia.de/zg/Volksgemeinschaft?oldid=106491; Steuwer (Anm. 1), S. 488–494 sowie das Forum »Volksgemeinschaft und die Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes«. In: VfZ 62 (2014), H. 3, S. 433–467. 3 Vgl. Dietmar Süß: Gewalt und Gewalterfahrung im »Dritten Reich«. In: Winfried Nerdinger (Hrsg): München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München. 2. Aufl. München 2015, S. 427–434.
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auf Götz Alys These, dass das NS-Regime sich die Zustimmung der Bevölkerung durch eine Sozialpolitik auf Kosten der Beraubten im Reich und im besetzten Europa regelrecht erkauft habe.4 Sein »Volksstaat« macht ihn keineswegs zum Kronzeugen für diejenigen, die nach Volksgemeinschaft fragen – eher für ihre Kritiker. Auch die Verengung des Begriffs auf sozialpsychologische Effekte von Gemeinschaftsinszenierungen oder demonstrativer sozialer Aufwertung fällt hinter den Stand der Diskussion zurück. Affektive Integration ist sicherlich ein wichtiges Thema, aber sie allein kann die offenen Fragen nach den Gründen für die augenfällige Verhaltenskonformität im Sinne der Regimeziele nicht beantworten. Einen enormen Fortschritt stellen die Überlegungen Michael Wildts zu Funktion und Folgen antisemitischer Gewaltakte dar, die von einer breiten lokalen Bevölkerung mitgetragen wurden.5 Doch auch bei seiner These der »Selbstermächtigung« mit ihrer Tendenz, Vergemeinschaftung allein über Gewalt zu begreifen, ist die Diskussion über das Erklärungspotenzial des Volksgemeinschaftsbegriffs nicht stehen geblieben. Sie hat sich vielmehr zur Frage entwickelt, wie die Zeitgeschichtsforschung überhaupt den sozialen und kulturellen Wandel während der NS-Diktatur konzeptionell fassen kann. Und sie hat eine bemerkenswerte Wendung genommen: Während dem Volksgemeinschaftsansatz der Vorwurf gemacht wurde, individuelle Verhaltensweisen zu nivellieren, indem er eine breite Palette von Handlungen, Motivationen und Einstellungen schlicht als Variationen einer Leitidee auffasse und dadurch letztlich alle, die nicht offenen Widerstand leisteten, zu Tätern und Täterinnen erkläre, besteht seine Pointe vielmehr darin, die Möglichkeiten von Individualität und Eigen-Sinn (Alf Lüdtke) im Rahmen einer radikal kollektivistischen Diktatur aufzuzeigen.6 Dies erweist nicht zuletzt das hier abgedruckte Propagandafoto von Hanns Hubmann (Abb. 1).7 Es zeigt eine intime Szene am Strand: ein Pärchen eng umschlungen, eingegraben in den Sand, von flatternden Hakenkreuzfähnchen umgeben – Sommer in Deutschland 1939 oder 1940. Das Bild steht für die Verheißung auf eine wie auch immer beschaffene, in jedem Falle aber bessere Zukunft, die Volksgemeinschaft vielen bedeutete. Solche Zukunftsaussichten 4 Götz Aly : Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt a. M. 2005. 5 Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007. 6 Vgl. hierzu Alf Lüdtke (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis: Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991. 7 Hanns Hubmann (1910–1996) gehörte zu den führenden Fotojournalisten des Regimes. Seine affirmative Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus noch in der Bundesrepublik, in der er seine Karriere ungebrochen fortsetzte, dokumentiert sein autobiographischer Band Hanns Hubmann: Augenzeuge 1933–1945. München 1980. Dort ist eine Auswahl seiner Arbeiten der Jahre 1933–1945 publiziert.
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Abb. 1: Propagandafoto von Hanns Hubmann, aufgenommen 1939 oder 1940 (Quelle: ullstein bild).
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entfalteten im NS-Regime eine gewaltige Kraft. Der Begriff Volksgemeinschaft lud zur individuellen Aneignung und Interpretation ein und ließ sich mit einer Vielzahl von alltäglichen Praktiken verbinden. Dabei war er trotz seiner Flexibilität keineswegs willkürlich, ganz im Gegenteil: Ihn zeichneten fünf Dimensionen aus, die den Rahmen bestimmten, innerhalb dessen sich gesellschaftlicher Wandel im NS-Regime vollzog. Zugleich leiten sich aus diesen fünf Dimensionen des Begriffs jeweils spezifische methodische Zugriffe auf die Gesellschaftsgeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands ab. Erstens meinte Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus eine gedachte Ordnung.8 Volksgemeinschaft brachte die projektierte nationalsozialistische Gesellschaftsordnung auf den Begriff. Der Begriff war Ideal, und zugleich legitimierte er konkrete Politik. Dabei ist entscheidend, dass sich das Label Volksgemeinschaft auf nahezu alles anwenden ließ. Tatsächlich findet sich kaum ein gesellschaftliches Handlungsfeld, in dem Volksgemeinschaft keine Rolle spielte, das demonstrieren die Forschungserträge der letzten Jahre. Gerade deshalb eignet sich der Begriff als analytische Klammer, um die Richtung und Tragweite gesellschaftlichen Wandels zu beschreiben. Zweitens versprach der Begriff den Zeitgenossen eine strahlende Zukunft. Er ließ auf eine Verbesserung des Lebensstandards hoffen; er präsentierte die Verwirklichung von Volksgemeinschaftspolitiken als Voraussetzung für individuelles Glück im Privaten.9 Die Utopie der Volksgemeinschaft wirkte auch deshalb als kohäsiv und mobilisierend zugleich, weil sie ein positives Gegenbild zur weithin abgelehnten parlamentarischen Demokratie und zu pluralistischen Ordnungsentwürfen bot.10 Eine Gesellschaft, die den volksgemeinschaftlichen Idealen entsprach, galt als genuin deutsch. Dabei versprach der Volksgemeinschaftsbegriff eine doppelte Überbietung der Gegenwart: Er verhieß Erneuerung, Läuterung und »Heil« in einer fernen Zukunft als Belohnung für Leistung und Hingabe im Hier und Jetzt.11 Darüber hinaus aber etikettierte er herausragende Momente der Gegenwart, die seine Versprechen einzulösen schienen. 8 So auch Dietmar Süß/Winfried Süß: Volksgemeinschaft und Vernichtungskrieg. Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland. In: Dies. (Hrsg.): Das »Dritte Reich«. Eine Einführung. München 2008, S. 79–99, hier S. 79. 9 Vgl. z. B. Andreas Wirsching: Volksgemeinschaft and the Illusion of ›Normality‹ from the 1920s to the 1940s. In: Steber/Gotto (Anm. 1), S. 149–156; Andreas Wirsching: Privatheit. In: Nerdinger (Anm. 3), S. 443–449. 10 Auf dieses Element hat die Volksgemeinschaftsforschung früh aufmerksam gemacht; vgl. Frank Bajohr/Michael Wildt: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009, S. 9–23. 11 Vgl. Michael Burleigh: Political Religion and Social Evil. In: Totalitarian Movements and Political Religions 3 (2002), S. 1–60; Richard Steigmann-Gall: The Holy Reich: Nazi Conceptions of Christianity. 1919–1945. Cambridge 2003; Manfred Gailus/Armin Nolzen (Hrsg.): Zerstrittene Volksgemeinschaft: Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Göttingen 2011.
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Daher waren alle Volksgenoss_innen aufgerufen, an »mehr Volksgemeinschaft« im Morgen als im Heute zu glauben, gleichzeitig jedoch jeden noch so kleinen Erfolg als konkreten Schritt auf dem Weg dorthin zu begreifen. Diese doppelte Überbietung der Gegenwart vollzog sich in Symbolhandlungen wie dem Eintopfsonntag oder der Verleihung des Mutterkreuzes sowie durch punktuelle Vergemeinschaftungserlebnisse, also Feste und große Inszenierungen wie die Reichsparteitage. Das Kommende, so machten die Nationalsozialisten Glauben, manifestierte sich im Erleben der Volksgemeinschaft in der Gegenwart – wenn auch nur für einen Augenblick oder für wenige Stunden.12 Drittens lieferte der Volksgemeinschaftsbegriff die Koordinaten für ein dichotomisches Zuschreibungssystem, das zwischen »Volksgenoss_innen« und »Gemeinschaftsfremden« unterschied.13 Der Begriff legte fest, wer dazu gehörte und wer ausgeschlossen wurde; er etablierte die Regeln für gesellschaftliche Exklusion und Inklusion.14 Diese Regeln entschieden über Lebenschancen – im wahrsten Sinne des Wortes. Volksgemeinschaft, so argumentierte kürzlich Ulrich Herbert, meinte die »Chimäre der sozialen Gleichheit und die Praxis der rassistischen Ungleichheit«.15 Denn trotz aller sozialegalitären Rhetorik und trotz aller Appelle an das rassische Gemeinschaftsgefühl prägte soziale Ungleichheit die nationalsozialistische Gesellschaft.16 Der Nationalsozialismus eröffnete seinen Anhängern soziale Aufstiegschancen und gab seine Gegner der sozialen Ächtung preis. Allerdings enthielt die Volksgemeinschafts-Utopie das Versprechen, dass diese Ungleichheiten verändert werden konnten: Der volksgemeinschaftliche Status eines jeden Einzelnen war reversibel17 – mit Ausnahme der nach biologistischen und rassistischen Logiken kategorisch Ausgeschlossenen –, er wurde durch soziale und administrative Praxis immer wieder aktualisiert und gegebenenfalls rekonfiguriert. Vergemeinschaftung und Ausgren12 Vgl. Markus Urban: Die Konsensfabrik. Funktion und Wahrnehmung der NS-Reichsparteitage 1933–1941. Göttingen 2007; ]rp#d von Klimj/Malte Rolf: Rausch und Diktatur. Emotion, Erfahrung und Inszenierung totalitärer Herrschaft. In: Dies. (Hrsg.): Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen. Frankfurt a. M. 2006, S. 11–43; Christian Bunnenberg: »Daher sieht es die Partei als ihre vornehmste Aufgabe an…«. »Schulungen« als Instrumente der Differenzierung und Kontrolle. In: Nicole Kramer/Armin Nolzen (Hrsg.): Ungleichheiten im ›Dritten Reich‹: Semantiken, Praktiken, Erfahrungen. München 2012, S. 139–154. 13 Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982; Kramer/Nolzen (Anm. 12). 14 Vgl. Armin Nolzen: Inklusion und Exklusion im Dritten Reich. Das Beispiel der NSDAP. In: Bajohr/Wildt (Anm. 10), S. 60–77. 15 Ulrich Herbert: Volksgemeinschaft. Gleichheit und Ungleichheit. In: Nerdinger (Anm. 3), S. 408–418, hier S. 418. 16 Vgl. Süß/Süß (Anm. 8), hier S. 81. 17 Vgl. Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch. 2. Aufl. Wiesbaden 2005, S. 121–36.
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zung bedeuteten also keine starren Festlegungen, sondern kannten Abstufungen und konnten widerrufen werden. Jeder musste sich seiner Stellung im volksgemeinschaftlichen Gefüge diskursiv und durch symbolische Akte stets aufs Neue versichern. Weil die Kriterien für eine volle Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft in vielerlei Hinsicht inkohärent und uneindeutig waren, kam es zu ständigen Aushandlungsprozessen, die wiederum Handlungsspielräume eröffneten.18 Viertens diente der Volksgemeinschaftsbegriff als Referenz und Begründungsstrategie. Gerade weil er in den Weimarer Jahren in allen politischen Lagern gängig und zustimmungsfähig war, bildete er einen idealen Bezugspunkt für strategisches Handeln und Kommunizieren. Ganz unabhängig davon, ob der oder die Einzelne nun an die Realisierbarkeit und Wünschbarkeit der nationalsozialistischen Gesellschaftsutopie glaubte oder nicht, argumentierten Männer und Frauen mit Volksgemeinschaft, um ihre Interessen durchzusetzen oder partielles Einverständnis zu signalisieren.19 Allein diese diskursive Praxis besaß realitätsveränderndes Gewicht bzw., wenn man das Politische in erster Linie als kommunikativ konstruiert versteht, »erschuf« sie soziale Realität überhaupt. Die relative Offenheit und Pluralität des Begriffs erlaubten es vor allem zu Beginn des NS-Regimes vielen, die dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber standen, sich unter diesem Dach einzufinden.20 Indes: Der Volksgemeinschaftsbegriff war nicht beliebig dehnbar. Sein Gebrauch wandelte sich zusehends, denn das NS-Regime verengte seine Bedeutung auf einen rassistischen, sozialdarwinistischen Kern: Wer von Volksgemeinschaft sprach, verwendete zu Beginn der NS-Herrschaft eine vieldeutige Formel nationaler Einheit, positionierte sich ab Mitte der 1930er Jahre auf der Seite der NS-Ideologie und legitimierte gegen Kriegsende schrankenlosen Terror zur Disziplinierung der »Heimatfront«. Fünftens hatte der Volksgemeinschaftsbegriff eine Handlungsdimension.21 Sie 18 Vgl. Jane Caplan: Registering the Volksgemeinschaft. Civil Status in Nazi Germany 1933–9. In: Steber/Gotto (Anm. 1), S. 116–128 und Gerhard Wolf: Exporting Volksgemeinschaft. Die Deutsche Volksliste in Annexed Upper Silesia. In: Ebd., S. 129–145 sowie Andrew S. Bergerson: Ordinary Germans in Extraordinary Times. The Nazi Revolution in Hildesheim. Bloomington, Ind. 2004. 19 Vgl. John Connelly : The Uses of Volksgemeinschaft. Letters to the NSDAP Kreisleitung Eisenach. 1939–1940. In: Journal of Modern History (JModH) 68 (1996), H. 4, S. 899–930. 20 Vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann: Social Control and the Making of the Volksgemeinschaft. In: Steber/Gotto (Anm. 1), S. 240–253, und Ders.: Volksgemeinschaft. Mythos der NS-Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? – Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Paderborn 2012, S. 13–53. 21 Diesen Aspekt heben insbesondere Frank Bajohr, Michael Wildt und Detlef SchmiechenAckermann hervor: vgl. Michael Wildt: Volksgemeinschaft. Eine Antwort auf Ian Kershaw. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), S. 102–109; Detlef Schmiechen-Ackermann, Einführung (Anm. 20); Frank Bajohr : ›Community of Action‹ and Diversity of Attitudes.
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enthielt den eindringlichen Appell, die nationalsozialistische Gesellschaftsutopie im Alltag – in der Nachbarschaft, in der Familie, im Berufsleben – zu realisieren, koste es, was es wolle. Dies entsprach ganz der nationalsozialistischen Verherrlichung der Tat. Volksgemeinschaft sollte situativ und vor Ort »gemacht« werden. Eines der bekanntesten Propagandaschlagworte, das die Volksgemeinschaftsidee paraphrasierte, hieß »Sozialismus der Tat«. Volksgemeinschaft lernte man durch praktisches Einüben.22 Die soziale Praxis ermöglichte Teilhabe und eröffnete Gestaltungsspielräume.23 Das nationalsozialistische Volksgemeinschaft-Projekt wurde mithin nicht nur erlitten oder erlebt, sondern von vielen mitgestaltet. Diese fünf Dimensionen machten Volksgemeinschaft im NS-Regime aus. Dieses Modell führt mitnichten die Vorstellung von einer tatsächlich existenten Volksgemeinschaft durch die Hintertüre wieder ein. Vielmehr kann es die Dynamik sozialen Wandels einfangen und zugleich die eklatanten Widersprüche aufdecken, die dem Gesellschaftsprojekt der Nationalsozialisten zugrunde lagen. Das trifft auch auf die besondere Wirkmächtigkeit des Volksgemeinschaftsbegriffs zu, die wir in zwei spezifischen Kontexten feststellen können: Volksgemeinschaft war einerseits ein Begriff des Regimes, andererseits zielte er auf das Individuum. Zum einen stellte der Begriff Volksgemeinschaft dem Regime ein flexibles Werkzeug des »social engineering« bereit.24 Der Begriff bot sich zudem als vortreffliches Mittel der Propaganda an.25 So entfaltete er integrative Wirkung, legte die nationalsozialistische Gesellschaftsutopie begrifflich fest und legitimierte die nationalsozialistische Herrschaft. Über die Deutungshoheit in der politischen Öffentlichkeit konnte Diskursen eine Richtung gegeben und das semantische Feld, das sich um Volksgemeinschaft entfaltete, immer deutlicher markiert werden. Es band andere zentrale Begriffe der NS-Ideologie und erst in
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Reflections on Mechanisms of Social Integration in National Socialist Germany, 1933–45. In: Steber/Gotto (Anm. 1), S. 187–199. Vgl. beispielsweise Kathrin Kollmeier : Erziehungsziel Volksgemeinschaft. Kinder und Jugendliche in der Hitler-Jugend. In: Klaus-Peter Horn/Jörg-W. Link (Hrsg): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus: Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit. Bad Heilbrunn 2011, S. 59–106; Bernhard Gotto: Die NSDAP in Fürstenfeldbruck. In: Ferdinand Kramer/Ellen Latzin (Hrsg.): Fürstenfeldbruck in der NS-Zeit. Eine Kleinstadt bei München in den Jahren 1933 bis 1945. Regensburg 2009, S. 117–73, hier S. 143–61. Vgl. in diesem Sinne auch Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hrsg.): Volksgemeinschaft als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013; Michael Wildt (Anm. 21); David Reinicke u. a. (Hrsg.): Gemeinschaft als Erfahrung. Kulturelle Inszenierungen und soziale Praxis. 1930–1960. Paderborn 2014. Vgl. Thomas Etzemüller (Hrsg): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. Vgl. David Welch: Nazi Propaganda and the Volksgemeinschaft. Constructing a People’s Community. In: Journal of Contemporary History 39 (2004), H. 2, S. 213–238.
Volksgemeinschaft – ein analytischer Schlüssel
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ihrem Zusammenklang erhielt der nationalsozialistische Begriff seine spezifische Kontur.26 Außerdem diente die Berufung auf die Volksgemeinschaft dem Regime der sozialen Kontrolle; sie war ihm Handlungsanleitung, Instrument sowie Begründung für Überwachung, Repression und Terror.27 Entscheidend war die Flexibilität in der Ausgestaltung und Bedeutungszuschreibung, die der Begriff durch seine relative Offenheit ermöglichte.28 Dies führte zu einer Pluralität von Begriffsvarianten, die wiederum zu erneuten Begriffsfestlegungen zwangen. Die charakteristische Dynamik des Regimes ist daher auch auf diese semantischen Prozesse zurückzuführen.29 Zum anderen waren die Forderungen, die sich aus der Volksgemeinschaftsutopie ergaben, radikal individuell formuliert – sie zielten auf den Menschen in seinem Alltag. In der extremst möglichen Konsequenz galt dies für die aus der Volksgemeinschaft Ausgegrenzten: Ihnen wurde das Lebensrecht abgesprochen. Doch auch die »Volksgenoss_innen« sahen sich in der Mühle des nationalsozialistischen Gesellschaftsexperiments gefangen – sie konnten allerdings, wenn auch in einem begrenzten Maße, selbst entscheiden, wie sehr sie sich darauf tatsächlich einlassen wollten. Denn Volksgemeinschaft stellte ein genuin nationalsozialistisches Identitätsmodell bereit. Nicht allein die klare Hinordnung des Individuums auf Führer und »Volk«, die Zuschreibung rassischer und biologischer Qualität sowie die Honorierung politischer Zuverlässigkeit definierten einen klaren Rahmen identitärer Selbstvergewisserung in der Volksgemeinschaft; daneben wartete das Regime mit konkreten Rollenangeboten auf, die individuell gefüllt werden konnten und für manchen bzw. manche eine attraktive Alternative boten. Der Krieg verstärkte diese Tendenz: Die »militarisierte Volksgemeinschaft« hielt eine Vielzahl von Rollen bereit, und dies galt besonders für Frauen.30 26 Vgl. Martina Steber: Region and National Socialist Ideology. Reflections on Contained Plurality. In: Claus-Christian W. Szejnmann/Maiken Umbach (Hrsg.): Heimat, Region and Empire. Spatial Identities under National Socialism. Houndmills 2012, S. 25–42. 27 Vgl. zum Beispiel Kerstin Thieler : Volksgemeinschaft unter Vorbehalt. Gesinnungskontrolle und politische Mobilisierung in der Herrschaftspraxis der NS-Kreisleitung Göttingen. Göttingen 2014. 28 Vgl. Lutz Raphael: Pluralities of National Socialist Ideology. New Perspectives on the Production and Diffusion of National Socialist Weltanschauung. In: Steber/Gotto (Anm. 1), S. 73–86. 29 Ein Beispiel für die semantische Offenheit von Volksgemeinschaft lässt sich bei den Schützenvereinen im Nationalsozialismus finden, welche Volksgemeinschaft in ihr Konzept der Gemeinschaftspflege integrierten, jedoch nicht auf Versuche der politischen Indoktrination auf Vereinsebene eingingen, siehe: Henning Borggräfe: Schützenvereine im Nationalsozialismus. Pflege der Volksgemeinschaft und Vorbereitung auf den Krieg (1933 bis 1945). Münster 2010; ebenso aufschlussreich: Rudolf Oswald: ›Fußball-Volksgemeinschaft‹. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919–1964. Frankfurt a. M. 2008. 30 Vgl. Nicole Kramer : Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Er-
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Martina Steber / Bernhard Gotto
Darüber hinaus offerierte der Volksgemeinschaftsbegriff ein klares Ordnungsmuster, das die gesellschaftliche Komplexität radikal reduzierte. Während in der Weimarer Republik die Welt auf dem Kopf zu stehen und anstelle der ersehnten Einheit nur Zersplitterung zu herrschen schien,31 klare Wertorientierungen infrage gestellt und man vorgeblich typisch »deutsche« Normen und Praktiken zurückgedrängt glaubte, versprach die nationalsozialistische Volksgemeinschaft Eindeutigkeit und Verbindlichkeit.32 Zudem forderte sie zur Partizipation, zum aktiven Mittun auf und versprach Anerkennung ganz unabhängig von sozialem Status und Privilegien in einer nach rassistischen, biologistischen und leistungsethischen Kriterien differenzierten Gesellschaft. Die demokratische Partizipations- und Gleichheitsverheißung wurde mithin ihres liberalen Kerns entkleidet und rassistisch und biologistisch fundiert.33 Individualität und individuelle Identität wurden also paradoxerweise über einen Entwurf kollektiver Identität ermöglicht oder zumindest in Aussicht gestellt.34 Auch aus dieser Spannung heraus sind die Ambivalenzen individuellen Verhaltens erklärbar, die in den Forschungsarbeiten der letzten Jahre deutlich werden. Denn alternative, also etwa konfessionelle, bürgerliche oder sozialistische Identitätsentwürfe waren 1933 ja nicht verschwunden, sie bestanden fort, auch wenn ihre Begründungsmuster aus der Öffentlichkeit nach und nach verdrängt wurden und sich das semantische Feld der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zentrale konkurrierende Begriffe einverleibte bzw. diese mit neuer Bedeutung ausgestattet wurden. Die Amalgamierungsversuche, die die ersten Jahre des Regimes prägten, mussten mit dessen fortwährender Radikalisierung scheitern. Für den Einzelnen stellte sich dieses Problem besonders auf der alltagspraktischen Ebene dar : Selbst wenn in den engen Grenzen des Pri-
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innerung. Göttingen 2011, S. 124–48; Sybille Steinbacher (Hrsg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft. Göttingen 2007; Elizabeth Harvey : Women in the Nazi East. Agents and Witnesses of Germanization. New Haven 2003; Franka Maubach: Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichte von Wehrmachthelferinnen. Göttingen 2009. Vgl. Martin Geyer: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914–1924. Göttingen 1998. Vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann: Einführung (Anm. 20), S. 37–40; Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München 2000, S. 159–187. Aus ideengeschichtlicher Perspektive: Jan-Werner Müller: Contesting Democracy. – Political Ideas in Twentieth-Century Europe. New Haven 2011, S. 116–120. Zu dieser Spannung vgl. Moritz Föllmer : Was Nazism Collectivistic? Redefining the Individual in Berlin. 1930–1945. In: JModH 82 (2010), S. 61–100; Ders.: Individuality and Modernity in Berlin. Self and Society from Weimar to the Wall. Cambridge 2013; vgl. auch Peter Fritzsche: Life and Death in the Third Reich. Cambridge, Mass. 2008. Zur individuellen Aneignung der vom Regime angebotenen Semantiken vgl. Kramer/Nolzen (Anm. 12), insbesondere die Einleitung der Herausgeber, S. 9–26, hier S. 18–19.
Volksgemeinschaft – ein analytischer Schlüssel
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vaten ein Festhalten an alten Überzeugungen möglich war,35 so war dies in einem Alltag, der immer stärker von volksgemeinschaftlichen Regeln und Praktiken geprägt war, schwer möglich. Kohärenz in einem individuellen Identitätsentwurf herzustellen, war eine tägliche Herausforderung.36 Kohärenz herzustellen wird auch der Geschichtswissenschaft nicht gelingen, die sich mit der Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus beschäftigt. Das liegt in der Natur der Sache: Das Regime strebte Kohärenz an – und konnte an der Komplexität, Ambiguität und Mehrdeutigkeit der gesellschaftlichen Realität nur scheitern. Genau dies erzeugte wiederum radikalisierende Effekte. Das Strand-Bild Hans Hubmanns veranschaulicht dies nur allzu gut. Denn: Was zeigt es uns? Ein Paar, das einen privaten Moment jenseits des kollektiven Volksgemeinschaftsglücks genießt? Oder ein Paar, das gerade in der Volksgemeinschaft zu seinem ganz privaten Glück findet? Ermöglichte Volksgemeinschaft also erst Privatheit und Individualität? Oder konnte sich der einzelne vor einem Eindringen eines Zuviels an Gemeinschaft nur dadurch schützen, dass er sich tief eingrub in den Sand und sich in eine Mulde zurückzog? Und nicht zuletzt: Was mochte es bedeuten, dass das volksgemeinschaftliche FreizeitGlück im Bild buchstäblich auf Sand gebaut war?37 Auch dem zeitgenössischen Betrachter präsentierte sich die nationalsozialistische Verheißung der Volksgemeinschaft alles andere als eindeutig. Wie sollte es Historikerinnen und Historikern dann anders ergehen?
35 Vgl. die neueren Forschungen zu Subjektivitäten: Peter Fritzsche: The Turbulent World of Franz Göll. An Ordinary Berliner Writes the Twentieth Century. Cambridge 2011; Nicholas Stargardt: The Troubled Patriot. German Innerlichkeit in World War II. In: German History 28 (2010), H. 3, S. 326–342; Ders.: Beyond ›Consent‹ and ›Terror‹. Wartime Crises in Nazi Germany. In: History Workshop Journal 72 (2011), S. 190–204; Moritz Föllmer (Anm. 34); Janosch Steuwer/Hanne Leßau: »Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?« Zur Unterscheidung von Nationalsozialisten und anderen Deutschen. In: Mittelweg 36 (2014), H.1, S. 30–51; Riccardo Bavaj: Der Nationalsozialismus. Entstehung, Aufstieg und Herrschaft. Berlin-Brandenburg 2016, S. 85–87, 112–134. 36 Theodor Heuss ist dafür ein gutes Beispiel, vgl. Elke Seefried: Einführung. Theodor Heuss in der Defensive. Briefe 1933–1945. In: Dies. (Hrsg.): Theodor Heuss. In der Defensive. Briefe 1933–1945. München 2009, S. 15–70. 37 Zur Interpretation des Bildes vgl. Elizabeth Harvey : Eine Utopie mit tödlichen Ausschlussklauseln. In: VfZ 62 (2014), H. 3, S. 445–452.
Astrid Schwabe
Geschichtskulturelle Prozesse – Beobachtungen zum Verhältnis von historischer Fachwissenschaft und »Public History«
1.
Einleitung
Fokussieren wir, wie in diesem Band intendiert, historische Lernprozesse über Nationalsozialismus und Holocaust, wird sich der Blick dabei auf die gesteuerte Geschichtsvermittlung in Schule und Hochschule richten, die die Förderung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins anstrebt:1 In konzeptionell-normativer wie pragmatischer Ausrichtung gilt es, Fragen zu stellen nach Vermittlungszielen, angestrebten Kompetenzzuwächsen, Lerninhalten, Lernmedien und möglichen methodischen Umsetzungen. Mindestens ebenso zentral ist die Berücksichtigung der so genannten außerschulischen Geschichtskultur, der (Re-)Präsentationen von Geschichte in der Gesellschaft außerhalb formaler Bildungskontexte, in der Öffentlichkeit beziehungsweise für eine breite Öffentlichkeit. Diese »Public History« – so uneindeutig dieser Begriff in der deutschsprachigen Forschungslandschaft aktuell noch sein mag2 –, evoziert ebenso historische Lernprozesse, beeinflusst 1 Waltraud Schreiber : Reflektiertes und (selbst-)reflexives Geschichtsbewusstsein durch Geschichtsunterricht fördern – ein vielschichtiges Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (ZfGD) 1 (2002), S. 18–43. 2 Vgl. zur Diskussion u. a. Simone Rauthe: Public History in den USA und der Bundesrepublik Deutschland. Essen 2001; dies.: Geschichtsdidaktik – ein Auslaufmodell? Neue Impulse der amerikanischen Public History. In: Zeithistorische Forschungen. Studies in contemporary history (2005), H. 2. Verfügbar unter : http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2005?q= node/4647 (aufgerufen am 26. 11. 2016); Frank Bösch/Constantin Goschler (Hrsg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M. 2009, darin besonders: dies.: Der Nationalsozialismus und die deutsche Public History, S. 7–23; Irmgard Zündorf: Zeitgeschichte und Public History, Version: 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 6. 9. 2016. Verfügbar unter : http://docupedia.de/zg/Pu blic_History (aufgerufen am 26. 11. 2016); Christoph Kühberger : Geschichtsmarketing als Teil der Public History. In: Ders./Andreas Pudlat (Hrsg.): Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Innsbruck 2012, S. 14–53; Serge Noiret: Internationalisierung der Public History. In: Public History Weekly (PHW) 2 (2014), H. 34. DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014–2647 (aufgerufen am 26. 11. 2016); Marko De-
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also das Geschichtsbewusstsein von Individuum und Gesellschaft; in der Regel unreflektiert, beiläufig oder möglicherweise häppchenweise. Ungesteuerte Begegnungen mit Geschichte können bei den Rezipient_innen zu Irritationen und Unverständnis führen,3 aber auch zu Konstruktionen von Vergangenheit, die wir aus fachdidaktischer Perspektive als vereinfachend, problematisch, lückenhaft, manchmal schlicht als falsch beurteilen; obwohl dies keineswegs der Fall sein muss, genauso wenig wie beispielsweise gesteuerte schulische Lernprozesse automatisch »richtige« beziehungsweise plausible Geschichtsdeutungen bei ihren Adressat_innen hervorrufen. Gerade im Themenfeld der Geschichte des Nationalsozialismus scheinen unzureichendes »Wissen«, mangelndes Verständnis und zweifelhafte Interpretationen gesellschaftlich besonders problematisch, da sie immer wieder – ohne empirische Evidenz und oft reflexhaft – in Beziehung zu aktuellen (radikalen) politischen Einstellungen und Überzeugungen gesetzt werden.4 Es soll im Folgenden um das für Fragen nach dem historischen Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust zentrale Verhältnis zwischen der Geschichtswissenschaft als einer, nämlich der »kognitiven« Dimension der Geschichtskultur,5 und anderen – hier : deutschen – geschichtskulturellen Institutionen, Professionen und Medien6 gehen. Ich möchte nach dem Platz historischer Erkenntnisse in der Geschichtskultur fragen, genauer nach den Prozessen ihrer Erforschung und Verbreitung im historischen Wissenschaftsund Vermittlungsbetrieb. Bewusst vereinfacht und zugespitzt formuliert: Bei den folgenden Überlegungen soll es um die toposhafte Frage gehen, ob am Anfang einer neuen historischen Erkenntnis, eines neuen Zugangs oder eines Paradigmenwechsels tatsächlich die fachwissenschaftliche Forschung »im Elfenbeinturm« steht, bevor Überlegungen nach der »Übersetzung« in die schu-
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mantowsky : »Public History« – Aufhebung einer deutschsprachigen Debatte? In: PHW 3 (2015), H. 2. DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2015-3292 (aufgerufen am 26. 11. 2016). Hans-Jürgen Pandel führt das Fallbeispiel der Hitler-Skulptur »Him« von Maurizio Cattela (2001) an, die die Rezipient_innen möglicherweise »irritiert und ratlos« zurücklässt. HansJürgen Pandel: Geschichtskultur als Aufgabe der Geschichtsdidaktik: Viel zu wissen ist zu wenig. In: Vadim Oswalt/Ders. (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. 2009 (Forum Historisches Lernen), S. 19–33, hier S. 23. Ein aktuelles Beispiel lieferte Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich im Juni 2016, der den Geschichtsunterricht in der 10. Klasse als Präventionsmaßnahme gegen Rechtsradikalismus bezeichnete. Vgl. Interview in der Rheinischen Post vom 9. Juni 2016, http://www.rponline.de/politik/stanislaw-tillich-demokratie-nachhilfe-fuer-sachsens-schueler-aid-1.60346 62 (aufgerufen am 27. 11. 2016). Vgl. zuletzt Jörn Rüsen: Die fünf Dimensionen der Geschichtskultur. In: Jacqueline Nießer/ Juliane Tomann (Hrsg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn 2014, S. 46–57. Vgl. Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Forschungskonzept der Geschichtsdidaktik. In: ZfGD 1 (2002), S. 78–86.
Geschichtskulturelle Prozesse – Beobachtungen
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lische und außerschulische Vermittlung angestellt werden.7 In einem solchen Sinne sind wohl beispielsweise die Formulierungen des Münchner Zeithistorikers Hans G. Hockerts zu verstehen: »[Z]eitgeschichtliche Forschung [hat], indem sie einen Fundus kritisch geprüften Wissens erarbeitet und bereitstellt, eine ganz unentbehrliche Servicefunktion für alle anderen Bereiche, denn diese sind durchwegs eher Vermittler und Verwender als Zulieferer des empirisch kontrollierten Wissensspeichers.« Und: »Umgekehrt bedürfen die Ergebnisse der zeithistorischen Forschung fast immer der Vermittler und Übersetzer, wenn sie einem größeren Publikum nahegebracht werden sollen.«8 Wenn geschichtskulturelle Prozesse tatsächlich in diese Richtung ablaufen, welche wirksamen Faktoren und Dynamiken lassen sich dann beschreiben? Vor allem aber : Gibt auch Geschichte in der Öffentlichkeit der Forschung konkrete neue Impulse, über eher allgemeine kulturelle »Strömungen«9 hinaus? Oder helfen die Diffusion in die und die Rezeption in der Öffentlichkeit der Geschichtswissenschaft womöglich bei der Ausschärfung ihrer Gegenstände und Ergebnisse im Hinblick auf den eigentlich relevanten Kern? Offener gefragt: Wie kann der Gang neuer Erkenntnisse über die – hier – NS-Vergangenheit in der geschichtskulturellen »Verwertungskette« eigentlich aussehen? Wie vollzieht sich die Verbreitung historischer Einsichten in eine breitere Öffentlichkeit? Welche Wechselwirkungen lassen sich zwischen Geschichtswissenschaft und nichtakademischen Bereichen der Geschichtskultur konstatieren? Es ist allerdings zu beachten, dass die Trennung der beiden Felder in dieser Schärfe eben nicht wirklich existiert. Unter anderem weil es oft akademisch ausgebildete Historiker_innen sind, die sich der Geschichtsvermittlung in den außerwissenschaftlichen Bereichen widmen, sei es als Journalist_innen, Kurator_innen, Leiter_innen von historischen Lernorten oder gar als Wissenschaftler_innen, die sich mit eigenen Produkten auf dem geschichtskulturellen Markt der Konkurrenz stellen. Allerdings unterwerfen sich diese Expert_innen dann definitiv anderen, je nach Medium unterschiedlichen, vom akademischen Milieu abweichenden, aber als gegeben zu akzeptierenden Bedingungen – u. a. 7 Siehe hierzu auch Frank Bösch: Journalisten als Historiker. Die Medialisierung de Zeitgeschichte nach 1945. In: Oswalt/Pandel (Hrsg.) (Anm. 3), S. 47–62, hier S. 47; Vadim Oswalt/ Hans-Jürgen Pandel: Einführung. In: Ebd., S. 7–13, S. 9f.; Paul Nolte: Öffentliche Geschichte. Die neue Nähe von Fachwissenschaft, Massenmedien und Publikum: Ursachen, Chancen und Grenzen. In: Michele Barricelli/Julia Hornig (Hrsg.): Aufklärung, Bildung, »Histotainment«? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute. Frankfurt a. M. 2008, S. 131–146, hier S. 134–137. 8 Hans G. Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft. In: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt a. M./New York 2002, S. 39–73, S. 72. 9 Oswalt/Pandel, Einführung (Anm. 7), S. 9f.
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Marktorientierung, Akzeptanz der Form als gleichwertig zum Inhalt, angemessene Reduktion, reduzierte Belegstrukturen. Dies hat eine genuin andere Herangehensweise an den Gegenstand zur Folge. Wie wäre nun solchen wie auch immer gearteten geschichtskulturellen Prozessen nachzuspüren? Ein erster Zugang kann meines Erachtens sein, ausgehend vom aktuellen Forschungsstand über die Historiographie- und Vermittlungsgeschichte zu Nationalsozialismus und Holocaust aus der kaum überschaubaren öffentlichen Beschäftigung mit dem Gegenstandsbereich zunächst einige Fallbeispiele – darunter prägnantere und weniger bekannte – auszuwählen, die als Muster für mögliche Verläufe in der geschichtskulturellen Verbreitung dienen können. Sie sollen die Basis bilden für eine bewusst vorläufige Typisierung geschichtskultureller Prozesse, die ich zur Diskussion stellen möchte. Ziel dieser konzeptionellen Vorüberlegungen kann nur der Versuch sein, erste systematisierende Schneisen in ein großes Forschungsfeld zu schlagen, das dicht bewachsen, aber aus dieser spezifischen Perspektive, um im Bild zu bleiben, auch recht wild und undurchdringlich scheint. Neben einigen instruktiven Auseinandersetzungen mit Fragen nach dem originären Beitrag außerwissenschaftlicher Geschichte zur Rekonstruktion der Vergangenheit, insbesondere von Frank Bösch und Constantin Goschler,10 existieren zahlreiche, oft eher essayistische Reflexionen zum großen Gegenstandsbereich der so genannten »Erinnerungskultur«, hier mit Hockerts verstanden »als lockerer Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedenen Mitteln und für die verschiedensten Zwecke«.11 Sie werden ergänzt von unzähligen Analysen spezifischer geschichtskultureller Phänomene, die allerdings in Hinblick auf Systematik und empirische Fundierung stark divergieren. – Welche Prozesse der öffentlichen Verbreitung historischer Erkenntnisse zu Nationalsozialismus und Holocaust lassen sich nun beobachten?
10 Vgl. u. a. Bösch/Goschler , Nationalsozialismus (Anm. 2), hier S. 8; Nolte (Anm. 7); Konrad H. Jarausch: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interpendenz? In: Ders./Sabrow (Hrsg.) (Anm. 8), S. 9–37. 11 Hockerts (Anm. 8), S. 41.
Geschichtskulturelle Prozesse – Beobachtungen
2.
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Fachwissenschaftliche Erkenntnisse diffundieren in die Vermittlung
Typus I Entsprechend weit verbreiteter Vorannahmen betrachten wir als »klassischen« Weg wissenschaftlicher Erkenntnis jenen der medialen, oft vereinfachenden »Übersetzung« von in der akademischen historischen Forschung gewonnenen Ergebnissen für die und in die breite Öffentlichkeit oder in spezifische Teilöffentlichkeiten. Unter diesen ersten Typus fiele beispielsweise die Wahrnehmung des existierenden Forschungsstands zu einem historischen Thema durch Ausstellungsmacher_innen oder Fernsehredakteur_innen und die jeweilige »imaginative« Darstellung in einer dem jeweiligen Medium spezifischen Sprache und/oder Ästhetik, die immer auch den Inhalt prägen, mit dem Ziel der populären Verbreitung. Hans-Jürgen Pandel spricht hier vom debattenauslösenden »Gattungswechsel«, von »›Wandern‹ von historischen Thematiken durch die Gattungen« und »Media-Switch«. Er spricht diesem Prozess sogar quasi pauschal eine »demokratisierende Funktion« zu.12 Diese These wäre sicherlich durch Detailanalysen zu hinterfragen: Geht es bei diesen Prozessen wirklich grundsätzlich um »Wissenschaftspopularisierung« im klassischen Sinne, oder überwiegen nicht manchmal auch andere, durchaus auch berechtigte Interessen im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie, die die historischen Bezüge als reine Folie nutzen? Pandels Schluss, jeder Gattungswechsel errege öffentliche Aufmerksamkeit,13 scheint mir gerade nicht zuzutreffen. Im Idealfall verläuft dieser Prozess zwar oft mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, allerdings recht unauffällig, weshalb die Suche nach diesen »gelungenen« Beispielen eher mühevoll ist. Denn diese »geräuscharmen« Übersetzungs- und Rezeptionsprozesse gehen in der großen Anzahl der Darstellungen von Geschichte in der Öffentlichkeit nahezu unter, wenn sie ohne größere Debatten verlaufen. Doch gerade sie scheinen mir aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik der näheren Betrachtung wert, um Potenziale für die historische Vermittlung auszuloten: Welche Akteur_innen waren bei diesen Diffusions- bzw. Transformationsprozessen in den verschiedenen Dimensionen der Geschichtskultur beteiligt? Sehen wir eine von universitären Historiker_innen geleistete Forschungsarbeit, die dann durch andere Professionen und Medien »popularisiert« wurde? Gibt es auch Fälle, in denen die öffentliche Verbreitung durch die forschenden Akteur_innen selbst gelang, die 12 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/ Ts. 2013 (Forum Historisches Lernen), S. 169–172 (Zitat S. 169 und S. 172). 13 Vgl. ebd., S. 172.
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sich aus dem akademischen Feld heraus bewusst auf den Markt der Geschichtsangebote begeben haben, um Fachkolleg_innen und ein breites Publikum zu erreichen? Oder ist der gelungene Transfer in die Geschichtskultur Ergebnis einer erfolgreichen Kooperation zwischen akademischer Geschichtswissenschaft und anderen Vermittlungsinstitutionen? Die Grafik (Abb. 1) zeigt diesen ersten Typus in der Mitte. Die Horizontale verdeutlicht die Unterscheidung der beiden grundsätzlichen Verläufe, die geschichtskulturelle Prozesse nehmen können, was sich auch in den Graustufen widerspiegelt. Die gestrichelten – vertikalen – Pfeile signalisieren die »Fließrichtung« der inhaltlichen Einflüsse; im Fall von Typus I von der Geschichtswissenschaft Richtung Geschichtskultur.
Typisierung geschichtskultureller Prozesse Geschichtswissenschaft (GW) Geschic
inhaltliche Einflüsse
mediale Form/ Sprache des Wissenstransfers
TYP VII Impuls aus PH findet in GW keinen Nachklang
TYP VI historische Erkenntnis aus PH führt zu konkreten Forschungen in GW
TYP V (Forschungs-)) (Forschungs Impulse für GW aus PH
TYP I zeitnahe, geräuscharme ›Übersetzung‹ aktueller historischer Erkenntnisse
TYP II zeitnahe, geräuschvolle ›Übersetzung‹ aktueller historischer Erkenntnisse Aufmerksamkeit
TYP III vollständig neuartige, Repräsentation
Aufmerksamkeit
TYP IV neuartige Präsentation bekannter historischer Erkenntnisse plötzliche Aufmerksamkeit
außerwissenschaftliche außerwisse e enschaftliche Geschichtskultur / Public History (PH) außeruniversitäre Geschichtskultur als Impulsgeber
fachwissenschaftliche Erkenntnisse diffundieren in Vermittlung
Abb. 1: Geschichtskulturelle Prozesse im Überblick – Versuch einer Typisierung (Quelle: Eigene Darstellung).
Typus II Leichter zu fassen sind zeitnahe, ich möchte es einmal »geschichtskulturelle Interpretationen fachwissenschaftlicher Erkenntnisse« nennen, wenn sie zumindest ein Rauschen im Blätterwald erzeugt haben. Als zweiter Typus wären also »geräuschvolle Übersetzungen« historischer Erkenntnisse zu benennen, die öffentliche Aufmerksamkeit erregen, zumindest aber in Teilöffentlichkeiten für
Geschichtskulturelle Prozesse – Beobachtungen
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Aufregung sorgen. Als Beispiel kann hier die geschichtskulturelle Rezeption der Studie von Christian Streit über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen zwischen 1941 und 1945 angeführt werden, die das Münchner Institut für Zeitgeschichte 1978 veröffentlichte.14 Streit wies in seiner Dissertation nach, wie stark und planvoll die Wehrmacht als Institution an massenhaften Kriegsverbrechen gegenüber Angehörigen der Roten Armee beteiligt war, und räumte so mit der vor allem durch die Darstellungen ehemaliger Offiziere geprägten mystifizierenden Erinnerung an die »saubere Wehrmacht« auf. Die Ergebnisse der Forschungen Streits gelangten über das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« und zwei TV-Reportagen recht zügig in die Öffentlichkeit und riefen breite Diskussionen hervor, vor allem über die genaue Zahl der in deutscher Kriegsgefangenschaft gestorbenen Rotarmist_innen.15 In diesen Fällen erregen die neuen wissenschaftliche Erkenntnisse mit ihren Inhalten, auf Grund ihrer Kernthesen und Hauptaussagen in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit, weil sie eine neue Sicht auf gesellschaftlich relevante Wahrnehmungen der Vergangenheit bieten, die oft auch Selbst- und/oder Fremdbilder gesellschaftlicher Gruppen in Frage stellen. Gerade deshalb treffen sie oft auch auf Widerspruch, werden kritisch hinterfragt oder gar zunächst einmal abgelehnt.
Typus III Auf noch größere öffentliche Resonanz stoßen oft Fälle des Wissenschaftstransfers, wenn nicht die öffentliche Verbreitung im Sinne der Wissenschaftspopularisierung im Fokus steht, sondern über eine neuartige, zunächst augenscheinlich nicht akzeptable Repräsentation des eigentlich breit bekannten wissenschaftlichen Kenntnisstands gestritten wird. Diese Debatten geraten in der Regel umso heftiger, wenn der Vorwurf des »Tabubruchs« im Raum steht; oder, wie gar nicht selten, vermittelnde Akteur_innen selbst einen solchen ankündigen, weil dies auf jeden Fall Aufmerksamkeit verspricht. Hier scheinen mir Pandels oben skizzierte Überlegungen zuzutreffen; sie stellen aber eine spezifische Form der geschichtskulturellen Vermittlung dar. Gerade in Bezug auf filmische Repräsentation von Nationalsozialismus und Holocaust können in transnationaler Perspektive viele oft herangezogene Bei14 Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. Stuttgart 1978. 15 Vgl. Jörg Osterloh: Die vergessenen Kriegsgefangenen. Christian Streit und der Mythos der »sauberen Wehrmacht«. In: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte. Göttingen 2007, S. 148–152.
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spiele für diesen dritten Typus angeführt werden.16 Im Zentrum standen dabei jeweils Fragen nach der adäquaten Repräsentation des Holocaust, nach der Angemessenheit der visuellen Darstellung des Unbeschreiblichen:17 von der Darstellung der Vernichtung der europäischen Juden in Form der fiktionalen TV-Serie »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß« (1978, Regie: Marvin J. Chomsky) über den Spielfilm »Schindlers Liste« (1993, Steven Spielberg) und die so genannten »Holocaust-Komödien« »Das Leben ist schön« (1997, Roberto Benigni) und »Zug des Lebens« (1998, Radu Mihaileanu) bis zum Gewaltepos »Inglourious Basterds« (2009, Quentin Tarantino). Die Darlegung jeder dieser oft ausführlich wissenschaftlich untersuchten öffentlichen Debatten würde hier den Rahmen sprengen: Gestritten wurde über Fragen der Authentizität, einer vermeintlich unzulässigen Ästhetisierung, Trivialisierung, gar Kommerzialisierung, auch über gewaltverherrlichende Motive und – sehr ernst zu nehmen – über die Gefahr, die Würde der Opfer zu verletzen. In Bezug auf deutsche Produktionen seit den 2000er Jahren sind im Bereich der filmischen »Vermittlung« an die breite Öffentlichkeit unter anderen die Themen der NS-Eliteschulen, des deutschen Widerstands und »Hitlers Realitätsverlust am Kriegsende« zu nennen, über die deutschen Filme »Napola« (2004, Dennis Gansel), »Stauffenberg« (2004, Jo Baier) oder, mit noch größerer Öffentlichkeitswirkung, »Der Untergang« (2004, Oliver Hirschbiegel).18 Bösch wertet diese Debatten um die »richtige« oder eher gerade um die »unangemessene« Übersetzung des historischen Forschungsstands als positiv auch für die wissenschaftliche Geschichtsdarstellung, da die sich daran entzündenden öffentlichen Diskussionen die Aufmerksamkeit eines größeren Teils der Gesellschaft auf den historischen Gegenstand lenkten.19 Ähnlich argumentiert Sven Kellerhof, wenn er zum Teil stark kritisierte TV-Produktionen sozu16 Für eine Einordnung in die inter- und transnationale Holocaust-Erinnerung und weitere Literaturhinweise vgl. Karl H. Pohl/Astrid Schwabe: Presenting and teaching the past. In: Shelley Baranowski/Armin Nolzen/Claus-Christian Szejnmann (Hrsg.): A Companion to Nazi-Germany. Chichester (i. E.). Vgl. u. a. auch Sonja Schultz: Der Nationalsozialismus im Film: Vom Triumph des Willens bis Inglourious Basterds. Berlin 2012; Bettina Bannasch/ Almuth Hammer (Hrsg.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah. Frankfurt a. M. 2004; Manuel Köppen/Klaus R. Scherpe: Zur Einführung: Der Streit um die Darstellbarkeit des Holocaust. In: Dies. (Hrsg.): Bilder des Holocaust: Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln 1997, S. 1–12. 17 Vgl. hierzu auch Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach: Die zweite Geschichte der Hitler-Diktatur. Zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Der Nationalsozialismus – die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung. Bonn 2009, S. 7–21, S. 19f. 18 Vgl. Frank Bösch: Von Holocaust bis Untergang. Nationalsozialismus, Filme und Geschichtswissenschaft seit Ende der siebziger Jahre. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Visualität und Geschichte. Berlin 2011 (Geschichtskultur und historisches Lernen, 1), S. 197–225, S. 220f. Zu »Napola« siehe den Beitrag von Christan Mehr in diesem Band. 19 Vgl. ebd.
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sagen als verkaufsfördernden »Leckermacher« für den historischen Sach- und durchaus auch Fachbuchmarkt charakterisiert.20 – Über diese Position lässt sich sicherlich trefflich streiten. Zugespitzt formuliert stellt sich hier aus geschichtsdidaktischer Perspektive die Frage: Sind wir über jede öffentlichkeitswirksame Verbreitung historischer Erkenntnisse froh, weil sie ein Thema zumindest bekannt macht? Oder wirkt die Gefahr schwerer, dass zu stark vereinfachte oder gar schiefe historische Darstellungen mutmaßlich zu lückenhaften, undifferenzierten Vorstellungen zur Geschichte des Nationalsozialismus beim Publikum führen werden? Kellerhoff führt zu einigen von ihm genannten medialen »Skandalisierungen« historiographischer Forschungen – die allerdinge eben oft nicht den breiten Forschungsstand, sondern eine Minderheitenposition vertraten – an:21 »[D]er mediale Pluralismus im Gebiet der Zeitgeschichte funktioniert«, wenn auch teilweise zeitversetzt, in der Regel hätten gerade die Medien selbst die Skandalisierungen kritisiert, überzeugende Gegenpositionen publiziert, »über die tatsächlichen Hintergründe [aufgeklärt]« – die Selbstreinigungskräfte der offenen Gesellschaft träten also positiv zu Tage. Diese Beobachtung ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Doch scheint mir hier auf jeden Fall die – empirisch nur sehr schwer zu beantwortende – Frage nach der Breitenwirksamkeit der langfristig dann eben doch recht differenzierten Debatten im Zeitungs-Feuilleton zu stellen zu sein: Ist diese nicht eher ein Elitenphänomen, während die zuerst wirkende crossmediale Vermarktung geschichtskultureller Events (oft im Kino oder Fernsehen) mit ihren teilweise problematischen Kernbotschaften eine deutlich nachhaltigere Wirkung auf viele Individuen hat?
Typus IV Eine weitere mögliche Verlaufsform lässt sich mustergültig an der breit dokumentierten und untersuchten Kontroverse um die so genannten »Wehrmachtsausstellung« 1995ff. dokumentieren. In der Community eigentlich lange bekannte Forschungsergebnisse führten in der Folge einer bestimmten geschichtskulturellen Präsentationsform zu einer wirkmächtigen öffentlichen Debatte. Der Sachverhalt ist bekannt: Über die Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechenskomplexen während des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion hatte die Geschichtsforschung schon spätestens mit Manfred Mes20 Vgl. Sven F. Kellerhof: Geschichte muss nicht knallen – Zwischen Vermittlung und Vereinfachung: Plädoyer für eine Partnerschaft von Geschichtswissenschaft und Geschichtsjournalismus. In: Barricelli/Hornig (Hrsg.) (Anm. 7), S. 147–158, S. 154. 21 Vgl. ebd., S. 147–151 (Zitate S. 149).
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serschmidts 1969 erschienenem Werk,22 dem zunächst »nicht die Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die es verdient gehabt hätte«,23 entscheidende Erkenntnisse gewonnen, erst recht mit zahlreichen im Kontext des Freiburger Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr entstandenen Monographien aus den 1970er und frühen 1980er Jahren.24 Reinhard Rürup konstatiert 2014 apodiktisch: Spätestens Ende der 1980er Jahre wäre ein gesicherter Forschungsstand zum Verhältnis der Wehrmacht zum Nationalsozialismus und zu ihren verbrecherischen Taten im Zweiten Weltkrieg »nicht nur einem kleinen Kreis von Spezialisten zugänglich« gewesen, sondern jedem Journalisten oder anderen Multiplikator, »der sich ernsthaft damit auseinandersetzen wollte.«25 Das Erstaunliche an diesem konkreten Fall ist, das hat Rürup in seiner instruktiven Untersuchung der Debatte um die Ausstellung herausgearbeitet:26 Schon einige Jahre zuvor haben verschiedene mediale Projekte versucht, diesen Forschungsstand in der Öffentlichkeit zu verbreiten, 1991 bis 1993 sogar anhand des gleichen Mediums einer historischen Ausstellung in der »Topographie des Terrors«, die bis dato unbekannte Dokumente und Fotografien aus deutschen und sowjetischen Archiven präsentierte. Doch obwohl diese Ausstellung unter anderem in Berlin und Hamburg wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde, erreichte sie in keiner Weise eine ähnliche öffentliche Aufmerksamkeit wie die im März 1995 in Hamburg eröffnete so genannte Erste Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die insgesamt in 34 Städten etwa 700.000 Besucher_innen zählte.27 Ich spare genauere Hinweise auf den Verlauf 22 Manfred Messerschmidt: Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination. Hamburg 1969 (Truppe und Verwaltung, Bd. 16). 23 Magnus Koch: Unbequeme Wahrheiten. Manfred Messerschmidts Studie zur »Nazifizierung« der Wehrmacht. In: Danyel/Kirch/Sabrow (Anm. 15), S. 123–126, S. 123. 24 U. a. Streit (Anm. 14) oder Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942. 2. Bde. Stuttgart 1981. 25 Vgl. Reinhard Rürup: Die deutsche Wehrmacht und die NS-Verbrechen: Zur Diskussion um die ›Wehrmachtsausstellung‹. In: Ders. (Hrsg.): Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Göttingen 2014, S. 184–204, S. 186– 193 (Zitat S. 187). Ähnlich Hartmut Voit: Erinnerungskultur und historisches Lernen. Überlegungen zur »Wehrmachtsausstellung« aus geschichtsdidaktischer Sicht. In: Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim 2000, S. 95–107, S. 97–98; vgl. hierzu auch Michael Th. Greven/Oliver von Wrochem (Hrsg.): Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik. Opladen 2000; Michael Kißener: Das Dritte Reich. Darmstadt 2005 (Kontroversen um die Geschichte), S. 38f. 26 Vgl. hier und im Folgenden Rürup (Anm. 25), bes. S. 193–196. 27 Vgl. Hans-Ulrich Thamer : Laboratorium der Zeitgeschichte. Die »Wehrmachtsausstellungen« und ihre Kataloge als Beiträge zur Geschichtskultur. In: Danyel/Kirch/Sabrow (Anm. 15), S. 235–239, S. 236; Jürgen Wilke: Massenmedien und Vergangenheitspolitik. In:
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der Kontroverse aus, sie ist umfassend dokumentiert.28 Nur soviel: In den ersten Monaten, ja Jahren blieb auch hier das Medienecho im normalen Rahmen. Erst ab Frühjahr 1997 formierten sich auf den Straßen Ausstellungsgegner_innen, vor allem ehemalige Wehrmachtsangehörige und Angehörige der politischen Rechten, die lautstark gegen die »verzerrende, entehrende Darstellung deutscher Soldaten« protestierten. In der Folge entwickelte sich auch in den Medien eine heftige Debatte, sogar der Bundestag29 widmete sich im Frühjahr 1997 dem Thema. Dieser gut untersuchte, spezifische Fall bietet im Hinblick auf die oben formulierten Fragen einige instruktive Hinweise. Rürup sieht die »plötzliche« öffentliche Aufmerksamkeit für die Verantwortung der Wehrmacht weder in den eigentlich transportierten wissenschaftlichen Erkenntnissen, noch im popularisierenden Medium der Ausstellung an sich begründet, sondern in ihrer polarisierenden und plakativen Anlage: Sie war »ganz und gar schwarz-weiß konzipiert und an Zwischentönen nicht interessiert […]. Sie wollte nicht um Verständnis ringen und Zögernde überzeugen, sondern provozieren. Ihre große Wirkung war deshalb nicht zuletzt in ihren Schwächen und Defiziten begründet.«30 Als weiteren Faktor führt er ihre quasi alleinige Fokussierung auf den Informationsträger »Bild« mit seiner vermeintlich beweiskräftigen und stark emotionalisierenden, ja schockierenden Wirkung an. Hartmut Voit31 äußert sich ähnlich und kritisiert den unkritischen, zu unbedarften Umgang der Ausstellung mit der komplexen Quelle Bild, die eben gerade nicht alles zeigt, sondern sensibel kontextualisiert und interpretiert werden muss. Hans-Ulrich Thamer führt zustimmend die durch die »Macht der Bilder« erfolgte Personalisierung an: »Die Täter [bekamen] nun Gesichter«.32
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Ders. (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1999, S. 649–671, S. 666. Vgl. aus der Fülle der Literatur neben Rürup u. a. Heribert Prantl (Hrsg.): Wehrmachtsverbrechen. Eine deutsche Kontroverse. Hamburg 1997; Hans-Günther Thiele (Hrsg.): Die Wehrmachtsausstellung. Dokumentation einer Kontroverse. Bonn 1997; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. Hamburg 1999; vgl. auch Hans-Ulrich Thamer : Laboratorium der Zeitgeschichte. Die »Wehrmachtsausstellungen« und ihre Kataloge als Beiträge zur Geschichtskultur. In: Danyel/Kirch/Sabrow (Anm. 15), S. 235–239; Lena Knäpple: Wehrmachtsausstellungen. In: Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 3. überarb. u. erw. Aufl. Bielefeld 2015, S. 312–314. Rürup bewertet die von quasi allen Redner_innen zugleich persönlich und differenziert geführte Debatte als eine der Sternstunden des Parlaments. Vgl. Rürup (Anm. 25), S. 195. Vgl. Rürup (Anm. 25), S. 196–198 (Zitat S. 197). Vgl. Voit (Anm. 25), hier S. 101f. Thamer (Anm. 27), hier S. 237.
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Zugleich scheint aber auch nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, nach einem vollzogenen Generationenwechsel,33 nach etwa 15 Jahren intensiverer öffentlicher Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen und im Zuge einer aufkommenden Sorge um eine drohende neuerliche »Schlussstrich-Debatte« der gesellschaftliche Boden für eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Thema bereitet gewesen zu sein.34 Sicherlich sind diese letzten Aspekte auch bedenkenswert. Sie können aber gerade nicht den Erfolg der Hamburger im Vergleich zur Berliner Ausstellung erklären, denn diese gesellschaftlichen »Rezeptionsbedingungen« galten auch schon für diesen ersten Versuch einer musealen Präsentation des Themas. Diese Differenz scheint mir ein deutliches Indiz für die Relevanz der medialen Form eines Wissenstransfers, für die Wirkmacht der »Präsentationsbedingungen« zu sein.35 Dabei scheint es – entsprechend des Typs III – weniger um den künstlerischen Gehalt der Darstellung zu gehen, als vielmehr um ihre Neuartigkeit, um die Originalität der »Sprache«, also wiederum um eine Form des »Tabubruchs«. – Eine Überprüfung dieser Thesen durch die Untersuchung ähnlicher geschichtskultureller Prozesse dieses Typs wäre wünschenswert. Ein Fallbeispiel könnte dabei die kritische Annäherung an den Architekten und NS-Minister Albert Speer sein, die Matthias Schmidt in seiner Dissertation 1982 schon geleistet hatte,36 die in der breiten Öffentlichkeit allerdings in der Regel mit den TV-Doku-Dramen Heinrich Breloers aus dem Jahr 2005 verbunden wird.37 Der Fall der Wehrmachtsausstellung(en) ist auch deshalb so spannend, weil diese erste und auch die nach der Schließung der ersten und einer Bewertung durch eine Historikerkommission im Jahr 2001 dann massiv überarbeitete »zweite« Ausstellung neben einem entscheidenden Beitrag zur öffentlichen »Historisierung der NS-Vergangenheit« wiederum auch Rückwirkungen auf die akademische Geschichtswissenschaft zeitigten. Thamer führt hier sowohl eine Ausweitung und Erneuerung der Militärgeschichtsschreibung als auch vor allem eine maßgebliche Sensibilisierung und Professionalisierung im Umgang mit Fotographien als historische Quellen an.38 – Diese Beobachtungen zu den hier im 33 Vgl. hierzu auch Norbert Frei: Geschichtswissenschaft. In: Volkmar Knigge/Ders. (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 489), S. 389–397, S. 391. 34 Vgl. Rürup (Anm. 25), S. 196–198 (Zitat S. 197) und Voit (Anm. 31), S. 99–102. 35 Voit (Anm. 31), S. 97. 36 Matthias Schmidt: Albert Speer : Das Ende eines Mythos. Speers wahre Rolle im Dritten Reich. Bern 1982. 37 Vgl. Rainer Wirtz: Alles authentisch: so war’s. Geschichte im Fernsehen oder TV-History. In: Thomas Fischer/Ders. (Hrsg.): Alles authentisch? Popularisierung von Geschichte im Fernsehen. Konstanz 2008, S. 9–32, S. 16f. Vgl. zur Rezeption Speers auch Nicole Colin: Albert Speer : Erinnerungen. In: Fischer/Lorenz (Anm. 28), S. 227–229. 38 Vgl. Thamer (Anm. 27), S. 238.
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Wortsinne Wechselwirkungen zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichte in der Öffentlichkeit leiten über zum zweiten Teil meiner Überlegungen: zur Untersuchung von Forschungsimpulsen für die Geschichtswissenschaft, die in der außerwissenschaftlichen Geschichtskultur entstehen.
3.
Forschungsimpulse aus der außeruniversitären Geschichtskultur
Die bisherigen Typen entsprachen unserer Prämisse vom Transfer neuer Forschungsansätze und zentraler wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Geschichtswissenschaft in die außerwissenschaftliche Geschichtskultur. Die Historiographiegeschichte des Holocaust39 zeigt jedoch gegenläufige Wirkungen. Es sei an dieser Stelle nur kurz ins Gedächtnis gerufen: Bis Ende der 1950er Jahre ignorierte die deutsche Geschichtswissenschaft den Holocaust nahezu vollständig und auch die Debatten der 1960er und 1970er Jahre drehten sich vor allem um recht abstrakte strukturelle Fragen des NS-Regimes und ihre Interpretationen in Bezug auf Entscheidungs- und Radikalisierungsprozesse, basierend »auf einer nur dünnen empirischen Grundlage«.40 Der Blick richtete sich äußerst selten auf das eigentliche Mordgeschehen und die Opfer, Zuschauer_innen und auch Täter_innen außerhalb der NS-Führungsriege. Raul Hilbergs Pionierstudie zur »Vernichtung der europäischen Juden«,41 die in den USA 1961 erschien, wurde kaum rezipiert, die deutsche Übersetzung erschien erst 1982, als der Fokus sich langsam »vom System und den Strukturen auf die Subjekte«42 zu wandeln begann. Die ersten tiefergehenden Untersuchungen zu den nationalsozialistischen Verbrechenskomplexen entstanden überwiegend im Zuge der großen NS-Prozesse vor deutschen Gerichten (insbesondere der AuschwitzProzess 1963–1965 in Frankfurt und der zweite Treblinka-Prozess in Düsseldorf 1964/65) durch gutachterliche Tätigkeiten von Historikern wie Martin Broszat, Hans Buchheim und Helmut Krausnick – alle keine Lehrstuhlinhaber an deutschen Universitäten, hier entstanden erst langsam erste Lehrstühle für Zeitge-
39 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Frank Bajohr und Uwe Danker in diesem Band. 40 Vgl. hierzu und im Folgenden Michael Wildt: Die Epochenzäsur 1989/90 und die NS-Historiographie. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe, 5 (2008), H. 3, verfügbar unter : http://www.zeithistorische-forschungen.de/32008/id=4757 (aufgerufen am 27. 11. 2016), Zitat Abs. 1. Vgl. auch Constantin Goschler : Erinnerte Geschichte: Stimmen der Opfer. In: Bösch/Goschler (Anm. 2), S. 144. 41 Raul Hilberg: The Destruction of the European Jews. Chicago 1961. 42 Wildt (Anm. 40), Abs. 4.
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schichte,43 sondern meist am außeruniversitären Institut für Zeitgeschichte in München tätig.
Typus V Einige konkrete Forschungsfragen oder Erkenntnisse haben im Kontext der Prozesse ihren Weg aus außerwissenschaftlichen Dimensionen der Geschichtskultur in die universitäre Geschichtswissenschaft gefunden. Staatsanwälte und Richter übernahmen klassische Aufgaben der Fachwissenschaft, indem sie über Zeug_innenaussagen und Aktenrecherchen zahlreiche Fakten über die Verbrechenskomplexe in den besetzten Gebieten, ihre Opfer und Täter_innen zusammentrugen. Nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang auch Recherchen und Berichterstattungen von Journalist_innen im Vorfeld oder im Kontext der Prozesse, beispielsweise in Bezug auf Massenerschießungen durch Einsatzgruppen in Artikeln des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« oder der »Süddeutschen Zeitung« nach der Verhaftung Adolf Eichmanns um 1960. Einige solcher zeithistorischen Serien erschienen später gar als Monographien.44 Ein weiteres, sehr konkretes Beispiel für diesen fünften Typus geschichtskultureller Prozesse führt uns wiederum in die 1960er Jahre. Die Premiere des Dramas »Der Stellvertreter« von Rolf Hochhuth über die Haltung des Vatikans und Papst Pius XII. zur Ermordung der europäischen Juden in Berlin 1963 löste eine langanhaltende Debatte aus. Hochhuth wirft dem Vatikan in diesem Stück mit dokumentarischen Passagen Untätigkeit und Schweigen auch aus machtpolitischen und ökonomischen Gründen vor, stellt dabei jedoch das Versagen des Individuums in einer existenziellen Lage, die eine klare Entscheidung fordert, in den Mittelpunkt. Im Rückblick sprechen einige Autor_innen dem Theaterstück mittlerweile eine eindrückliche Wirkung auf eine vertiefte zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Verhältnis von katholischer Kirche und NS-Staat zu, die zudem um eine deutliche moralische Komponente erweitert worden sei. Michael Kißener sieht den daraus entstandenen konkreten Impuls für vielfältige geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex vor allem in Bezug auf die moralische Bewertung der Haltung und Handlungen von Papst und Vatikan.45 Durch den Impuls einer eindeutig künstlerischen Auseinandersetzung mit der NS-Ver43 Vgl. Jarausch (Anm. 10), S. 21. 44 Vgl. Bösch (Anm. 7), S. 52f. 45 Vgl. hier Kißener (Anm. 25), S. 71–73. Vgl. auch Dorothea Kraus: Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter. In: Fischer/Lorenz (Anm. 28), S. 173–175.
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gangenheit rückte ein großer und wichtiger Themenkomplex stärker ins Blickfeld der Historiographie.
Typus VI Solche im außerwissenschaftlichen Bereich gewonnenen Erkenntnisse können auch ganz konkrete akademische Forschungsaktivitäten zur Folge haben. Ich möchte als Beispiel dieses Typs VI einen Dokumentarfilm anführen: eine Dokumentation über den Verbleib jenes Goldes, das den vor allem in Auschwitz ermordeten Jüdinnen und Juden abgenommen wurde. Die investigativen Recherchen der Redakteure Oliver Merz und Eric Friedler für die SWR-Dokumentation »Blutige Beute. Das SS-Raubgold und die verschwundenen Akten« aus dem Jahr 1998 hatten die Einberufung mehrerer Historikerkommissionen zur Folge, die im Folgenden den Handel mit Raubgold untersuchten.46 Bemerkenswert ist hier, dass die federführend involvierte »Deutsche Bank« schon 1995 eine Gruppe von Historikern beauftragt hatte, ihre Geschichte zwischen 1933 und 1938 zu untersuchen.47 Den Aspekt des Raubgolds hatten die Historiker – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – nicht in ausreichendem Maße behandelt.48 Wir können hier folglich eine gewisse gesellschaftliche Sensibilität für einen spezifischen Themenkomplex zu einer bestimmten Zeit konstatieren, doch die konkrete »Aufklärung« ging auf einen journalistischen Impuls zurück.
Typus VII Im Kontrast dazu lassen sich einige Beispiele durchaus öffentlichkeitswirksamer geschichtskultureller Produkte zu historischen Themen finden, die auf keinerlei Nachhall in der Geschichtswissenschaft stießen. Hier sind unter anderem Medienprodukte anzuführen, die durchaus ernsthafte Auseinandersetzungen mit verschiedenen NS-Täter_innentypen bildeten, ihrer Zeit aber scheinbar voraus waren. Dies reichte von einer Dokumentation über »Die schönsten Jahre meines Lebens« (1960, Peter Schultze und Matthias Walden) über die Beweggründe 46 Vgl. Wirtz (Anm. 37), S. 16; Thomas Fischer : Zeitzeugen im Geschichts-TV. In: Ders./Wirtz (Anm. 37), S. 33–49, S. 46f. 47 Lothar Gall u. a.: Die Deutsche Bank 1870–1995. München 1995. 48 Vgl. hierzu Gerald D. Feldman: Unternehmensgeschichte des Dritten Reichs und Verantwortung der Historiker. Raubgold und Versicherungen, Arisierung und Zwangsarbeit. Vortrag, Berlin 1998. Verfügbar unter http://www.fes.de/fulltext/historiker/00501.htm (aufgerufen am 27. 11. 2016); Jonathan Steinberg: Die Deutsche Bank und ihre Goldtransaktionen während des Zweiten Weltkrieges. München 1999.
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ehemaliger SS-Offiziere bis zu langen Interviews mit angeklagten bzw. inhaftierten Täter_innen in ausführlich recherchierten Dokumentationen wie »Lagerstraße Auschwitz« (1979, Ebbo Demant) oder »Der Prozess« (1984, Eberhard Fechner).49 Die deutschsprachige Geschichtswissenschaft wandte sich den Täter_innen in einem erweiterten Verständnis, ihren individuellen Taten, ihren Handlungsspielräumen und Motiven explizit erst in den 1990er Jahren zu,50 zuvor hatte sie dieses Sujet der Justiz und den Print- und Bild-Journalist_innen quasi vollständig überlassen. Und sie sah lange Zeit auch keine Notwendigkeit, daran etwas zu ändern.51 Die ausgewählten Blicke auf die außerhalb des universitären Milieus erworbenen historischen Erkenntnisse zeigen folglich deutliche Unterschiede in Bezug auf die Impulse, die daraus für die akademische Geschichtswissenschaft entstanden sind. Die Frage nach den Gründen kann vorerst nur zu einer Thesenbildung führen: Scheinbar ist das Agieren des Vatikans beziehungsweise die Verstrickung europäischer Großbanken in die nationalsozialistischen Verbrechen zum jeweiligen Zeitpunkt der geschichtskulturellen Veröffentlichung auf einen anderen gesellschaftlichen »Boden« gefallen als die Beschäftigung mit Täter_innen jenseits der Haupttäter in der NS-Führungsriege. Doch was sind wiederum die Ursachen für diese Unterschiede in der Rezeption? Meiner Ansicht nach birgt der Vergleich so gearteter geschichtskultureller Prozesse das Potenzial, um ebensolche Fragen nach gesellschaftlichen Rezeptionsbedingungen geschichtskultureller Fälle zu untersuchen. Dabei kristallisiert sich heraus, dass sich der Blick maßgeblich auf die beteiligten Akteur_innen richten sollte: Welche Professionen, Institutionen oder auch Interessengruppen haben sich des Themas jeweils angenommen? Welchen Einfluss haben sie? Fand das eine Thema im Gegensatz zum anderen sozusagen eine einflussreiche »Lobby«? Was sind die Gründe dafür? Welche medialen Mechanismen der Eventisierung oder gar Skandalisierung spielten jeweils eine Rolle?
49 Vgl. Frank Bösch: Der Nationalsozialismus im Dokumentarfilm: Geschichtsschreibung im Fernsehen, 1950–1990. In: Ders./Goschler (Anm. 2), S. 52–76, S. 71f.; Knut Hickethier: Die Darstellung des Massenmordes an den Juden im Fernsehen der Bundesrepublik von 1960–1980. In: Sven Kramer (Hrsg.): Die Shoah im Bild. Augsburg 2003, S. 117–131, S. 124. 50 Vgl. Wildt (Anm. 40), Abs. 6–9. 51 Vgl. Jan E. Schulte: »Namen sind Nachrichten«: Journalismus und NS-Täterforschung in der frühen Bundesrepublik. In: Bösch/Goschler (Anm. 2), S. 25–51, bes. S. 37–40.
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Ein Zwischenfazit und vor allem ein Ausblick
Ich möchte trotz der Vorläufigkeit der Ergebnisse nach der kursorischen Untersuchung markanter Fallbeispiele ein Zwischenfazit wagen: Die hier exemplarisch betrachteten geschichtskulturellen Prozesse lassen bestimmte Muster erkennen. Zunächst wurde der Versuch unternommen, sieben Typen voneinander abgrenzen, die sich unterschiedlich stark unterscheiden. Diese Typen, die aus dem unübersichtlichen Feld von Erinnerungskultur und »Vergangenheitsbewältigung« bisher – bewusst vorläufig – herauskristallisiert wurden, gilt es nun in einer breiteren Anlage zu überprüfen, auch in Bezug auf andere Epochen bzw. Zeiträume. Lassen sich hier ähnliche Prozesse beobachten und die Typen bestätigen? Oder gelten die herausgearbeiteten Muster in diesem Sinne nur für die Disziplin der Zeitgeschichte, auf Grund ihres komplizierten Verhältnisses zu den subjektiven Erinnerungen von Zeitgenoss_innen, die ihren Blick auch auf die jüngste Vergangenheit richten, der von dem der »objektivierende[n] Forschung« aber zwangsläufig abweicht?52 Wenn es im Bereich anderer Epochen und Teildisziplinen Unterschiede geben sollte, wo liegen diese dann? Vor allem aber bestätigte sich die Beobachtung, dass das Zusammenspiel zwischen der wissenschaftlichen und der außerwissenschaftlichen Sphäre der Geschichtskultur deutlich vielschichtiger ist, als es Ausdrücke wie »Popularisierung«, »Übersetzung« und auch »geschichtskulturelle Verwertungskette« auf den ersten Blick glauben machen. Wir haben es, zumindest hier bezogen auf die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust, keineswegs allein mit dem Gewinn neuer Erkenntnisse in der Geschichtswissenschaft und ihrer Vermittlung an eine breitere Öffentlichkeit oder spezifische Teilöffentlichkeit außerhalb der Universitäten und Forschungsinstitutionen zu tun, betrieben von anderen Professionen, wie Journalist_innen, Kurator_innen und Lehrkräften, und in Form diverser nichtakademischer geschichtskultureller Produkte. Im Gegenteil, wir konstatieren auch gegenläufige Prozesse,53 entscheidende Erkenntnisgewinne in den Feldern der Public History, die teilweise Forschungstrends für die Geschichtswissenschaft anstoßen oder gar ganz konkrete Forschungsimpulse geben. Vor allem aber können wir augenscheinliche Wechselwirkungen zwischen der akademischen Geschichtswissenschaft und Geschichte in der Öffentlichkeit in der Geschichtskultur wahrnehmen, die oft etwas mit einer bestimmten Präsentationsform, mit Fragen nach Aufmerksamkeit und auch »Zeitgeist« zu tun haben. Einige angeführte Beispiele zeigten eindrücklich diese Interdependenz zwischen gesellschaftlicher Stimmungslage und spezifischer,
52 Vgl. hierzu Jarausch (Anm. 10), S. 26–37, bes. S. 26f. (Zitat S. 26). 53 Vgl. hierzu u. a. auch Bösch/Goschler (Anm. 2); Bösch (Anm. 7), S. 47–49.
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irgendwie zeitgemäßer Darstellung. Hier sind weitere Forschungen dringend erforderlich. Wenn wir tiefergehende Erkenntnisse über diese Wechselwirkungen, die auch im Zusammenhang mit Handlungsspielräumen geschichtskultureller Akteur_innen und Machtverhältnissen zwischen Medien, Professionen und Institutionen der Geschichtskultur stehen, gewinnen möchten, scheint mir die Entwicklung systematischer, komparatistisch angelegter Analyseverfahren für die Untersuchung von geschichtskulturellen Prozessen geboten, die über die empirisch oft nicht abgesicherte, phänomenologische Betrachtung einzelner Geschichtsdarstellungen und – wenn auch oft plausible – beobachtende Beschreibung von Entwicklungen hinausgeht. Ein erster Schritt könnte die Erarbeitung einer Art Meta-Studie darstellen, um die existierenden Einzelfallstudien geschichtskultureller Prozesse auf ihre methodische Anlage und empirische Absicherung hin zu untersuchen und nach den verschiedenen Dimensionen, Institutionen, Professionen und Medien der Geschichtskultur systematisierend auszuwerten. Um über den Einzelfall hinausgehende Erkenntnisse aus dem hier skizzierten Blickwinkel zu gewinnen, scheint es sinnvoll und geboten, neue vergleichende Analysen durchzuführen, beispielsweise zwischen den Prozess-Typen gleicher Stoßrichtung Typ I und II, im Hinblick auf die zentrale Frage nach der Bedeutung der medialen Präsentationsform und auch der potenziellen medialen Begleitung des Wissenstransfers. – Grundsätzlich gilt es dabei in jedem Fall, die Strukturmerkmale und »Marktmechanismen« im jeweiligen geschichtskulturellen Feld zu berücksichtigen, so dass der Blick über den disziplinären Tellerrand unverzichtbar ist, beispielsweise zu den Medien- und Kommunikationswissenschaften. Solch methodisch abgesicherte Analysen »geschichtskultureller AgendaSetting-Prozesse« anhand konkreter, auch weniger bekannter Fälle abseits der großen, oft untersuchten Kontroversen bieten meines Erachtens große Potenziale für die »Erfahrungswissenschaft« Geschichtsdidaktik.54 Denn: Sie nehmen mit ihrem Ziel, Gesetzmäßigkeiten in geschichtskulturellen Prozessen zu entschlüsseln, das Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft in den Blick.
54 Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 6. überarb. Aufl. Berlin 2014, S. 11–22, hier S. 13f.
II. Potenziale und Herausforderungen in geschichtsdidaktischer Perspektive
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Horizonterweiterung der NS-Vermittlung? Das geschichtsdidaktische Potenzial des zeitgenössischen Begriffs und historischen Analysekonzepts Volksgemeinschaft
Dieser Beitrag will den programmatischen Versuch unternehmen, das Konzept der NS-Volksgemeinschaft für die geschichtsdidaktisch abgesicherte Vermittlung der NS-Geschichte nutzbar zu machen. Systematisch ist dieser Versuch – soweit ich das überblicke – bisher noch nicht unternommen worden.1 Deshalb gilt es etwas auszuholen: Ich werde ausführen, was ein geschichtsdidaktisches Potenzial wohl sei, werde Schlaglichter auf die NS-Vermittlung in der deutschen Geschichtskultur werfen, dann das noch einmal zugespitzt in Erinnerung gerufene Volksgemeinschaft-Konzept auf neue Erklärungspotenziale abklopfen und diese an geschichtsdidaktischen Kriterien messen, um abschließend die Horizonterweiterung zu skizzieren.
1.
Was definiert ein geschichtsdidaktisches Potenzial?
Operiere ich mit dem Begriff »geschichtsdidaktisches Potenzial«, geht es natürlich um Vermittlung von Geschichte, um die Anbahnung und Förderung (oder auch Behinderung) historischen Lernens. Dies allerdings keineswegs nur in staatlichen Institutionen des Geschichtsunterrichts – die begreifen wir als, allerdings wichtige, Sonderfälle –, sondern allerorten, wo Geschichte ver- und gehandelt wird, beispielsweise auch in Literatur und Massenmedien, Gedenkstätten und Museen, in intergenerationeller Weitergabe in Familien oder durch kulturell institutionalisierte Zeitzeug_innen. Für alle Sektoren unserer damit angedeuteten Geschichtskultur2 möge gelten: 1 Vgl. jedoch den Beitrag von Malte Thießen in diesem Band. 2 Vgl. Bernd Schönmann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur. In: Ders.: Bausteine einer Geschichtsdidaktik. Bernd Schönemann zum 60. Geburtstag (hrsg. von Marko Demantowsky/Saskia Handro/Meik Zülsdorf-Kersting). Schwalbach 2014, S. 57–86; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach 2013, S. 161–177; Jörn Rüsen: Geschichtskultur. In: Klaus Bergmann/Klaus Fröhlich/Annette Kuhn (Hrsg.): Hand-
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Ein positives geschichtsdidaktisches Potenzial will ich unterstellen, wenn ein Konzept ganz konkret dabei hilft, Antworten auf historische Fragen zu finden, und historisches Verständnis bzw. – aktiver formuliert – historisches Verstehen fördert. Das klingt simpel, ist aber konzeptionell eingebettet: Zwar verfügen wir weder über eine überzeugende Theorie noch gar über eine unstrittige Definition historischen Lernens.3 Aber alle aktuellen geschichtstheoretischen respektive geschichtsdidaktischen Ansätze gehen aus von der Zentralkategorie Geschichtsbewusstsein,4 das je nach Schule in der Entfaltung historischer Urteilsfähigkeit (Karl-Ernst Jeismann)5 oder historischer Sinnbildung (Jörn Rüsen)6 bestehe oder sich in aktueller Sichtweise aus erworbenen historischen Kompetenzen konstituiert, wie diese auch jeweils im einzelnen definiert werden.7 Unabhängig davon, ob diese Veränderungen des individuellen Geschichtsbewusstseins bewusst begleitet oder anarchisch selbstgesteuert stattfinden, übrigens auch unabhängig davon, ob sie Zuwachs oder Regression anzeigen, will ich darunter historisches Lernen verstehen, wobei nicht Fakten und Wissensbestände, sondern Erkenntnisprozeduren und Kompetenzen der Träger_innen im Vordergrund stehen, die als autonom-mündige Menschen Antworten auf ihre historischen Fragen erarbeiten. Die Rede ist also von Prozessen bei Rezipient_innen, bei Lernenden, nicht etwa bei Absender_innen. Im Fokus stehen hier keine methodischen Aspekte, keine Instrumente in den Händen jener, die – irgendwie und in irgendeiner
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buch der Geschichtsdidaktik. 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 38–41; Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann/Heinrich T. Grütter/Ders. (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln u. a. 1994, S. 3–26. Vgl. Pandel: Geschichtsdidaktik (Anm. 2); Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens. Schwalbach/Ts. 1998; Jörn Rüsen: Historisches Lernen. In: Bergmann/Fröhlich/Kuhn (Anm. 2), S. 261–265. Vgl. Bernd Schönemann: Geschichtsbewusstsein – Theorie. In: Ders. (Anm. 2), S. 23–40; Pandel: Geschichtsdidaktik (Anm. 2), S. 123–160; ders.: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In: Geschichtsdidaktik. Probleme, Projekte, Perspektiven 12 (1987), H. 2, S. 130–142. Vgl. Karl-Ernst Jeismann: »Geschichtsbewußtsein« als zentrale Kategorie des Geschichtsunterrichts. In: Wolfgang Jacobmeyer/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur historischen Bildungsforschung. Paderborn 2000, S. 46–72. Vgl. Jörn Rüsen: Historisches Lernen – Grundriß einer Theorie. In: Ders.: Historisches Lernen – Grundlagen und Paradigmen. 2. Aufl. Schwalbach 2008, S. 70–114. Zur Kompetenzdebatte vgl. u.v.a.: Werner Heil: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht. 2. Aufl. Stuttgart 2012; Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schön (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007; Michael Sauer : Kompetenzen für den Geschichtsunterricht – ein pragmatisches Modell als Basis für die Bildungsstandards des Verbandes der Geschichtslehrer. In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 74 (2006), S. 7–20.
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Rolle – Geschichte vermitteln und Geschichtsdidaktik als Methodik missdeuten, sondern wissenschaftlich fundierte Konzepte, beispielsweise tragende Erklärungsmuster, die, idealiter durch Arrangements reflektiert in Vermittlungsprozesse integriert, Lernenden Erfahrungen, Erkenntnisse und Veränderung bescheren. In genau diesem breiteren geschichtsdidaktischen Kontext will ich den Ort des Volksgemeinschaft-Konzepts bestimmen, analytisch und pragmatisch.
2.
Schlaglichter auf die NS-Vermittlung in der deutschen Geschichtskultur
Ich möchte unter einem spezifischen Fokus in kurzen Schlaglichtern die aktuelle Lage der NS-Vermittlung abklopfen: Seit 1945 steht die aufwühlende Frage nach dem Warum und Wie des Holocaust und anderer exkludierender NS-Gewaltprogramme im Raum, damit insbesondere auch danach, wie es zu erklären sei, dass die zivilisierte deutsche Gesellschaft dieses einzigartige nationalsozialistische Mordprogramm in ausdifferenzierter, oft tätiger, jedenfalls kaum distanzierter Komplizenschaft mittrug. Trotz vielfältiger Forschungsansätze und -erträge waren Antworten seither oft abwehrend, verleugnend, auf andere weisend, jedenfalls einen selbst irgendwie nichts angehend. Aber im Hintergrund blieb die Frage virulent – und weitgehend unbeantwortet. Es geht um diese Suche nach den Strukturen und Funktionsweisen der NS-Gesellschaft, die sich als Volksgemeinschaft begriff! NS-Vermittlung folgt – phasenverschoben – den Wegen der Forschung. Das ist naheliegend und gut so; auch dieser Band erhebt einen solchen Transfer zum Gegenstand. Innovationsträgerin war dabei nicht immer die akademische Forschung; die Opfer, Alltags- und lokale Aspekte entdeckte zunächst die Geschichtsbewegung von unten, auch stellten manche Paradigmenwechsel der Forschung zunächst Reaktionen auf Wahrnehmungsverschiebungen der Öffentlichkeit dar.8 Geschichtsforschung und -vermittlung finden erkennbar nicht im gesellschaftsfreien Elfenbeintürmchen statt. Hier nur ein Schlaglicht auf Wegmarken der Geschichte der deutschen NS-Forschung, die bereits intensiver betrachtet wurden.9 8 Vgl. den Beitrag von Astrid Schwabe in diesem Band. 9 Vgl. den Beitrag von Frank Bajohr in diesem Band. Vgl. zum Folgenden den markanten Forschungsüberblick von Ulrich Herbert: Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des »Holocaust«. In: Ders. (Hrsg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen. Frankfurt a. M. 1998, S. 9–66. Vgl. Michael Kißener : Das Dritte Reich. Kontroversen um die Geschichte. Darmstadt 2005; Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich. 7. Aufl. Berlin 2009.
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Frühe historiografische Arbeiten dämonisierten und isolierten eine kleine NS-Führung und die SS zur Abwehr der »Kollektivschuldthese«,10 die übrigens eine (zu) plakative, jedenfalls nicht ausdifferenzierte und empirisch unterlegte Antwort auf unsere markierte Fragestellung lieferte, auf so apodiktische Weise, dass konstruktives und differenziertes Nachdenken leicht abgewehrt wurde. Spätere Studien zum Aufkommen und zur Machtübernahme der Nationalsozialisten betrachteten Elitenversagen und plebiszitäre Ermächtigung vor dem Hintergrund des »Versagens von Weimar«, den »Versailler Folgen«, den Nöten und gefühlten Demütigungen der Deutschen. Die Hinwendung zur Herrschaftsphase fokussierte zunächst auf Strukturen der Diktatur, Vorbild liefernden militärisch-konservativen Widerstand, die Opferrolle der Deutschen im Krieg bei Bomben, Fluchten und Vertreibungen. Zum Teil lange tragende Herrschaftsanalysen führten später zu Fragen nach den Funktions- und Kooperationsweisen in Fraenkels »Doppelstaat« von 1940,11 der Herrschaftsmitwirkung tradierter Eliten, nach den polykratischen Strukturen. Und, in unserem Kontext nicht unwichtig, die gesellschaftliche (Selbst-)Gleichschaltung in der Anfangsphase der NS-Herrschaft, die Brückenbildung von Staat und Gesellschaft, rückte gerade in Regional- und Alltagsstudien in den Vordergrund. Nach rassisch und völkisch fundierter, grenzenlos eskalierender Gewalt fragte in der Nachkriegszeit noch kaum jemand, nach der Gesellschaft, die sie gebar, niemand; der Holocaust überhaupt fand erbärmlich wenig Platz in Gesamtdarstellungen wie Schulbüchern, hatte irgendwo im Osten, jedenfalls im Verborgenen, stattgefunden, verantwortet von der SS. Gesellschaftliche Sensibilisierung resultierte nicht aus der Geschichtsforschung und -vermittlung, sondern fand andere Anlässe, den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, das Eichmann-Verfahren 1961, den Auschwitz-Prozess 1966, sodann massenmediale »Events« wie die US-Serie Holocaust 1979 usw.12 Prozessgutachter leisteten wissenschaftliche Pionierarbeiten, die stufenweise Entfaltung des Holocaust, die Zusammenhänge der rassistisch motivierten Verfolgungen unterschiedlicher Opfergruppen, die Integration in den Vernichtungskrieg wurden erkannt, die Debatte zwischen Intentionalisten und Strukturalisten eröffnet. Bandbreite und Komplexität der genozidalen Gewalt bearbeiteten schließlich große auf Regionen bezogene empirische Forschungen. Spät nahmen Forschung und Öffentlichkeit ausdrücklich Perspektiven ein. Zunächst entdeckte man in den 1980ern die Opfer und (vergessene) Opfer10 Vgl. Aleida Assmann: Ein deutsches Trauma? Die Kollektivschuldthese zwischen Erinnern und Vergessen. In: Merkur 53 (1999), S. 1142–1154. 11 Vgl. Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Frankfurt a. M. 1974 (1940). 12 Vgl. u. a. Frank Bösch/Constantin Goschler (Hrsg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M./New York 2009.
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gruppen, den Widerstand der kleinen Leute eingeschlossen. Diesen Menschen galt der emphatische Versuch, einen Teil ihrer Würde zu restituieren. In den 1990ern wandte sich die Forschung den Täter_innen und sukzessive erweiterten Täter_innengruppen zu. Der belastendste Fokus, jener auf die Zuschauer_innen, die Hinwendung zur Gesellschaft, der Blick also auf die gewöhnlichen Deutschen, erfolgte erst jüngst mit Analysen der »Zustimmungsdiktatur«13 und insbesondere der analytischen Ausformung des Volksgemeinschaft-Konzepts. Erst jetzt also sind wir mit der Hinwendung auf die Gesellschaft – wieder – bei dem Thema, dass millionenfaches Verfolgen und Ermorden anderer Bevölkerungsgruppen und Bevölkerungen nicht von einigen Verbrechern, den »Nazis«, sondern der deutschen Gesellschaft getragen wurde, und zwar, wie die Forschung vielfach herausgearbeitet hat, passiv und akzeptierend, oft mit Eigeninitiative, freiwilliger Beteiligung, mit Häme und Hass. Welchen Stellenwert besitzt die Analyse der NS-Gesellschaft in der deutschen geschichtskulturellen Vermittlung? Thesenartig benenne ich Eindrücke von einigen Orten der Vermittlung (Abb. 1): Zunächst zum schulischen Geschichtsunterricht:14 In der ambitionierten schulischen NS-Vermittlung dominieren, so scheint es, weiterhin die strukturierte Ereignisgeschichte und die Beschäftigung vorwiegend mit Opfern und Täter_innen; engagierte Lehrkräfte können viele Themen bearbeiten (lassen), Wissen und Analyse generieren. Sie leisten das oft, so glaube ich, biografisch verknüpft mit dem eigenen Geschichtsstudium und dem damaligen Forschungsstand. Gewiss gibt es sehr gute Schulbücher und Materialien, die phasenverschoben wissenschaftliche Erkenntnisse transportieren, thematische Bandbreite bieten. Wie einschlägige Studien ausweisen, ist es mit dem verfüg13 Vgl.: Götz Aly : Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt a. M. 2005. Siehe den Forschungsüberblick von Hans Mommsen: Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 14–15/2007, S. 14–21. 14 Vgl. z. B. Martin Lücke/Christina Brüning: Nationalsozialismus und Holocaust als Themen historischen Lernens in der Sekundarstufe I. Produktive eigen-sinnige Aneignungen. In: Hanns-Fred Rathenow/Birgit Wenzel/Norbert H. Weber (Hrsg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung. Schwalbach 2013, S. 149–165; Wolfgang Meseth/Matthias Proske/FrankOlaf Radtke: Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. In: Dies. (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt a. M./New York 2004, S. 9–32; Dies.: Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsunterricht. Erste empirische Befunde und theoretische Schlussfolgerungen. In: Ebd., S. 95–146; Gerhard Henke-Bockschatz: Der »Holocaust« als Thema im Geschichtsunterricht. Kritische Anmerkungen. In: Ebd., S. 298–322. Allgemein: Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. 4. Aufl. Berlin 2012., S. 23–47; Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 10. Aufl. Seelze 2012; Peter Gautschi: Geschichte lehren. Lernwege und Lernsituationen für Jugendliche. Bern 1999.
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Abb. 1: Angebote der NS-Vermittlung (Quelle: Eigene Darstellung).
baren analytischen Wissen der Schüler_innen aber nicht so weit her, wird die gesellschaftlich erwünschte antinazistische Haltung kulturell erworben, auch ohne Kenntnisse.15 Lese ich studentische Seminararbeiten, so irritieren mich (neben mangelhaften Kenntnissen) vor allem mit stofflichem Wissen gefütterte, so selbstgewiss vorgetragene Scheinsicherheiten in Darstellung und Analyse, die oft keiner vertieften Nach- oder Sinnfrage standhalten. Ich erinnere Studierende, die betonten, wie wichtig ihr neues Wissen sei, nämlich dass Deportati15 In den Aussagen offenbar immer noch aktuell: Bodo von Borries: Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Eine repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartsbestimmungen und Zukunftswahrnehmungen von Schülerinnen und Schülern in Ostund Westdeutschland. Weinheim/München 1995, insbesondere S. 75, S. 414.
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onszüge der Shoa nicht mit Viehwaggons, sondern als überfüllte Personenzüge fuhren, als wenn damit der Holocaust verstanden wäre. – Meine Erfahrung sagt: Prozesse der sukzessiven gesellschaftlichen Verstrickung und Komplizenschaft, die Rolle von (zustimmenden) Zuschauer_innen bilden im Schulunterricht noch ein randständiges, ja unklares Teilthema, und zwar quantitativ wie qualitativ. In Massenmedien, insbesondere TV und zunehmend auch Internet, überwiegen die quellenunkritischen, zeugnishaften, zwar immer politisch korrekten, auch Forschungsstände beachtenden, indes medientypisch gefällig präsentierten Produkte.16 Entweder schaffen sie es, auf Knoppsche Manier, den Schrecken geglättet und erträglich in deutsche Wohnstuben zu transportieren, oder sie klagen an – irgendwelche periodisch neu entlarvten Täter_innen.17 – Medial wird zwar regelmäßig modernisiert, jene die Genres verwischenden Dokudramen beherrschen heute die Mattscheiben, gern auch multimedial. Inhaltlich aber bewegt sich wenig, denn wirklich beunruhigende Fragen bei den Zuschauer_innen wären quotenschädlich; sie kommen nicht. Historische Museen und Ausstellungen haben spezifische Probleme:18 Ein SSDolch, immerhin als originales Exponat ein museales Kernstück, auf Samt präsentiert, mündet zu Recht im Skandal. Die für unseren Themenbereich fraglos hoch ambitionierten Ausstellungteile der ständigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin präsentieren den Holocaust aufwändig, in vielen relevanten Aspekten erschöpfend und museal kreativ ; ausgerechnet die gesellschaftliche Verankerung und die Perspektive der Zuschau16 Vgl. z. B.: Astrid Schwabe: Geschichtsfernsehen im ZDF. In: Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 3. Aufl. Bielefeld 2015, S. 366–370; Wulf Kantsteiner : Ein Völkermord ohne Täter? Die Darstellung der »Endlösung« in den Sendungen des Zweiten Deutschen Fernsehens. In: Moshe Zuckermann (Hrsg.): Medien – Politik – Geschichte. Göttingen 2003 (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXI), S. 253–286; Frank Bösch: Das »Dritte Reich« ferngesehen. Geschichtsvermittlung in der historischen Dokumentation. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU), 50 (1999), H. 4, S. 204–220. 17 Man vergleiche aktuell die seit Januar 2016 mehrfach im Spartensender ZDF-Info ausgestrahlte sechsteilige Doku-Reihe »Das Erbe der Nazis«: http://www.zdf.de/zdfinfo/das-erbeder-nazis-vergangenheitsbewaeltigung-in-ost-und-west-41505640.html (aufgerufen am 02. 10. 2016). 18 Vgl. z. B. Angelinka Schoder : Die Vermittlung des Unbegreiflichen. Darstellung des Holocaust im Museum. Frankfurt a. M. 2014; Karl-Heinrich Pohl: Historische Museen heute: Theoretische Überlegungen und praktische Konsequenzen. In: Ders.: Der kritische Museumsführer. Neun Historische Museen im Fokus. Schwalbach 2013; Katja Köhr : Die vielen Gesichter des Holocaust: Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung. Göttingen 2012; Uwe Danker/Astrid Schwabe: Orientierung in der Geschichte der Deutschen? In: GWU 10/2007, S. 591–608; Stephan Schwan (Hrsg.): Lernen im Museum. Die Rolle von Medien für die Resituierung von Exponaten. Berlin 2006. Vgl. auch den Beitrag von Axel Drecoll in diesem Band.
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er_innen sind unterbelichtet. Und die Vorstellung der NS-Gesellschaft nebenan misslingt auch, indem ein Dutzend nicht kontextualisierte Exponate ausgerechnet den Mythos Autobahnbau in den Fokus nehmen und nicht dekonstruieren.19 – Auch in historischen Museen und Ausstellungen bilden die Aspekte der gesellschaftlichen Verankerung der genozidalen Gewalt in NS-Deutschland die schwierigsten und selten gelösten Anforderungen an die Geschichtspräsentation. Teilnarrative können sich, wie angedeutet, im Niveau extrem unterscheiden. Und dann die Gedenkstätten und authentischen Orte der NS-Gewalt, die einige ihrer bisherigen Hauptaufgaben – das ortsgebunden mahnende Gedenken an reale Gewalt, die Begegnung von Opfern mit Repräsentant_innen der Täter_innengesellschaft usw. – aufgrund biologischer Entwicklung langsam ebenso in den Hintergrund treten lassen, wie eine aufrüttelnde, sich von Täter_innen distanzierende und mit Opfern identifizierende Betroffenheitspädagogik ihre Rolle verliert.20 Immer nachdrücklicher beschwören die Einrichtungen selbst den Paradigmenwechsel von Gedenken zum ambitionierten historischen Lernen. Da trägt eine Jugendliche nach dem Besuch einer KZGedenkstätte ins Gästebuch ein: »Ja, das ist alles ganz schrecklich und furchtbar. Unbestritten… Aber es muss doch am Nationalsozialismus auch etwas Positives gegeben haben, eine andere Seite, die unsere Großeltern dazu brachte, Hitler zu wählen. Was war das bloß?«21 – Ihre Frage ist sehr berechtigt: In KZ-Gedenkstätten lassen sich NS-Verbrechen erfahren und erspüren; die Frage der Jugendlichen aber weist hinaus zu den Täter_innen, zu den Mittäter_innen und Zuschauer_innen, mithin in die NS-Gesellschaft. Gedenkstätten, so lautet ihr Dilemma, sind der falsche Ort für die richtigen und brennenden Fragen.22 Professionelle Gedenkstätten liefern deshalb immer umfassendere historische Ausstellungen und museumspädagogische Angebote, die 19 Vgl. Danker/Schwabe (Anm. 18), insbesondere S. 601–605. 20 Vgl. z. B. Thomas Lutz: Lernort Gedenkstätte und zeithistorisches Museum. In: Rathenow/ Wenzel/Weber (Anm. 14), S. 367–382; Dana Gieseke/Harald Welzer : Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2012; Bert Pampel (Hrsg.): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen. Leipzig 2011; Annette Eberle: Pädagogik und Gedenkkultur. Bildungsarbeit an NS-Gedenkorten zwischen Wissensvermittlung, Opfergedenken und Menschenrechtserziehung. Praxisfelder, Konzepte und Methoden in Bayern. Würzburg 2008; Volkhard Knigge: Erinnern oder auseinandersetzen? Kritische Anmerkungen zur Gedenkstättenpädagogik. In: Eduard Fuchs/Falk Pingel/Verena Radkau (Hrsg.): Holocaust und Nationalsozialismus. Wien 2002, S. 33–41. 21 Vgl. ausführlicher zu diesem Phänomen: Uwe Danker : Eintragungen. Ein Gästebuch, der Aufklärungsanspruch und die Grenzen der Geschichtsvermittlung. In: Zwischenspiel. Festschrift für Hans-Werner Prahl zum 60. Geburtstag (hrsg. von Klaus R. Schroeter und Monika Setzwein). Kiel/Köln 2004, S. 55–72. 22 Vgl. Uwe Danker : Volksgemeinschaft und Lebensraum: Die Neulandhalle als historischer Lernort. Neumünster 2014, S. 74ff.
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den paradoxen Standortnachteil aufheben sollen. Damit stehen sie vor sehr ähnlichen Aufgaben wie alle anderen Anbieter_innen. Und schließlich das vielfach beklagte Dahinsterben der NS-Zeitzeug_innen.23 In Zukunft steht unmittelbare Erinnerung jedenfalls nicht mehr zur Verfügung, lediglich noch medial und mehr oder weniger didaktisiert. Nun wird man über die Rolle von Zeitzeug_innen aus vielerlei Gründen kontrovers diskutieren und sich skeptisch fragen können, welchen Erkenntnisgewinn sie jeweils bieten können und welchen nicht. In der Tat aber hat dieser natürliche Prozess ganz reale Folgen für jeden Versuch der Annäherung an diese Geschichte. Intergenerationell – etwa in Familien – nähern sich die Urenkel_innen mit neuer und öffnender Distanz dem anstrengenden, herausfordernden Thema Nationalsozialismus, wobei erstaunende Verzerrungen beobachtet werden: Was früher zu innerfamiliären Widersprüchen und Konflikten führte, wird heute oft harmonisiert.24 Ich will es intergenerationelle Harmonisierung nennen: Die Elterngeneration vermittelt selbst nur Gelerntes, Enkel_innen und Urenkel_innen sind offen und kritisch, spalten aber den Opa oder Uropa bequem ab, der irgendwie Teil des Widerstands war. Von der NS-Gesellschaft ist auch hier kaum die Rede. Peter Reichel hat auf eine weitere auffällige Diskrepanz des Erinnerns verwiesen: Viele Deutsche hätten den Nationalsozialismus mit seinen »spektakulären Massenveranstaltungen und imponierenden Machtdemonstrationen als verheißungsvollen Vorschein einer neuen Zeit« erinnert, die Nachwelt dagegen, also auch unsere gegenwärtige deutsche Gesellschaft, stark überwiegend die Verbrechen.25 Wir nennen das differierende Erinnerung. Ohne hier den empirischen Nachweis zu liefern, will ich konstatieren: Allerorten drückt sich in geschichtskultureller Vermittlung die auch für die Forschung behauptete Vernachlässigung der NS-Gesellschaft aus. Ausgerechnet die vulgärsten propagandistischen Mythen, der Reflex auf die Weltwirtschaftskrise und Hitlers heilbringender Autobahnbau, leben seit Jahrzehnten als Konstanten fort. Irgendwas muss sich ändern in der NS- und Holocaustvermittlung. Alle benannten Vermittlungsprobleme weisen in die gleiche Richtung: Lernende Beschäftigung muss sich heute anspruchsvoller der NS-Gesellschaft zuwenden, 23 Vgl. z. B.: Gerhard Henke-Bockschatz: Oral History im Geschichtsunterricht. Schwalbach 2014; Norbert Frei/Martin Sabrow (Hrsg.): Die Geburt der Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012; Ulrike Jureit: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager. Hamburg 1999. 24 Vgl. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2002. 25 Peter Reichel: Die umstrittene Erinnerung. Über Ursachen der anhaltenden Auseinandersetzung um die öffentliche Darstellung der NS-Vergangenheit. In: Burkhard Asmuss/HansMartin Hinz (Hrsg.): Historische Stätten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Orte des Erinnerns, des Gedenkens und der kulturellen Weiterbildung. Frankfurt a. M. 1999, S. 21–37, hier S. 21f.
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Mechanismen der Radikalisierung von Gewalt und Motive der Verstrickung erfahren, den Blick auf Täter_innen, Mitläufer_innen und Zuschauer_innen richten, die NS-Volksgemeinschaft ins Visier nehmen.
3.
Das Volksgemeinschaft-Konzept
Analysen der nationalsozialistischen Selbstinszenierung verweisen seit geraumer Zeit auf deren Janusköpfigkeit. Versprechen und Verheißungen des Zusammenrückens waren verbunden mit ungehobelt-rabaukenartiger Gewalttätigkeit. »Doppelgesicht des Dritten Reiches«, »Verführung und Gewalt« oder »Faszination und Gewalt« sind frühere Einordnungen, die auf Hans-Ulrich Thamer zurückgehen und von Peter Reichel sowie Bernd Ogan bestätigt wurden.26 Die NS-Volksgemeinschaft, soweit wir ihr Realität zumessen wollen, war erst recht janusköpfig, und zwar angelegt in dem ihr zugrundeliegenden Wirkmechanismus. Schon 1982 erkannte Detlev Peukert diese »höchst bedrückende Dimension« der Volksgemeinschaft, die »eine Zustimmung zum Terror« erzeugt habe.27 Ich kann die produktive historiografische Debatte um die NSVolksgemeinschaft hier nicht nachzeichnen, das haben in diesem Band schon andere gemacht.28 Es seien nur in Stichworten die Konturen des Konzeptes in Erinnerung gerufen.29 26 Bernd Ogan: Faszination und Gewalt. Ein Überblick. In: Ders./Wolfgang W. Weiß (Hrsg.): Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus. Nürnberg 1992, S. 11–38, hier S. 15ff.; Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. München 1991, S. 16; Hans-Ulrich Thamer : Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945. Berlin 1986. 27 Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982, S. 233. 28 Ausführlicher dazu die Beiträge von Bajohr und Steber/Gotto in diesem Band. 29 Den Verlauf der Debatte erläutern präzise: Detlef Schmiechen-Ackermann: »Volksgemeinschaft«. Mythos der NS-Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Einführung. In: Ders. (Hrsg.): »Volksgemeinschaft«. Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Paderborn 2012, S. 13–54 sowie Daniel Mühlenfeld: Die Vergesellschaftung von »Volksgemeinschaft« in der sozialen Interaktion. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), H. 10, S. 826–846. Zurückhaltend kritisch positioniert sich Ian Kershaw: »Volksgemeinschaft«. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), H. 1, S. 1–17; Mommsen sehr kritisch zuletzt in Hans Mommsen: Amoklauf der »Volksgemeinschaft«? Kritische Anmerkungen zu Michael Wildts Grundkurs zur Geschichte des Nationalsozialismus. In: Neue politische Literatur 53 (2008), S. 15–20. Vgl. Danker (Anm. 22), S. 59–72. Wir stützen uns insbesondere auf Frank Bajohr/Michael Wildt: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009, S. 7–23; Michael Wildt: »Volksgemeinschaft« als Selbstermächtigung. Soziale Praxis und Gewalt. In: Hans-Ulrich Thamer/Simone Erpel (Hrsg.): Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen. Dresden 2010,
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Alternativ verstanden zur als bindungslos denunzierten Gesellschaft der westlichen Welt lautete das Versprechen, das »Dritte Reich« werde auf nationalsozialistischer Grundlage die neue deutsche, mit Gefühlen und Erwartungen aufgeladene Volksgemeinschaft entfalten. Jenen, die rassisch, gesundheitlich, sozial und politisch-weltanschaulich der NS-Norm entsprachen – folglich der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung – verhieß der NS-Staat die Erfahrung einer hoch integrierten Gemeinschaft ohne wahrnehmbare soziale, politische oder kulturelle Konflikte der Moderne, teilweise unter Rekurs auf tradierte ständische Gesellschaftsbilder. Es ging nicht um neue soziale Strukturen, sondern um Gemeinschaftserlebnisse, um gefühlte Wirklichkeit. Das attraktive Versprechen lautete indes auf »Herstellung von Ungleichheit«, die in erster Linie biologisch-rassisch hergeleitet wurde.30 Während deutsche »Arier« das Homogenitätsversprechen erleben durften, sollten durch Abstammung definierte »Juden« und »Zigeuner«, auch »Berufsverbrecher« oder »Asoziale« sowie ab Kriegsbeginn sonstige »Volksschädlinge« »ausgesondert« oder »ausgemerzt« werden, so auch geistig behinderte »Ballastexistenzen«, während jene, die als politisch oder weltanschaulich Oppositionelle noch »abseits ständen«, unter Umständen durch KZ-Aufenthalte noch integrierbar wären. Kreiert war damit ein antimodernes Projekt, das viele »Volksgenossen« – gerade nach den gesellschaftlichen Zerklüftungen vergangener Jahrzehnte – als Verheißung begriffen. Es handelte sich um eine kaum zu überschätzende Faszination und innenpolitische »Suggestivkraft«, wie Hans-Ulrich Wehler schreibt.31 Ohne die »Annahme beträchtlicher sozialer Bindekräfte« durch ein »Gefühl sozialer Gleichheit«, so Norbert Frei unter Rekurs auf die »Lebenswirklichkeit der Deutschen« im Nationalsozialismus, lasse sich das »Funktionieren des NS-Regimes« nicht erklären.32 Der Motor der NS-Volksgemeinschaft beinhaltete folglich zweierlei, harmoS. 90–111; Norbert Frei: »Volksgemeinschaft«. Erfahrungsgeschichte und Lebenswirklichkeit der Hitler-Zeit. In: Ders.: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2005, S. 107–128. Vgl. die selbstverständliche Anwendung der Kategorie etwa bei Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. München 2003, S. 675–689; jüngst: Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hrsg.): »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013 sowie Janosch Steuwer : Was meint und nützt das Sprechen von der »Volksgemeinschaft«? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. In: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487–534. 30 Bajohr/Wildt (Anm. 29), S. 19. Vgl. Frank Bajohr : Dynamik und Disparität. Die nationalsozialistische Rüstungsmobilisierung und die »Volksgemeinschaft«. In: Ders./Michael Wildt: Volksgemeinschaft (Anm. 29), S. 78–93, hier S. 89f. 31 Wehler (Anm. 29), S. 681. 32 Frei (Anm. 29), S. 110, S. 114.
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nische Inklusion für die einen, gewalttätige bis mörderische Exklusion der anderen. Das ist der quasi selbsttragende Wirkmechanismus der Volksgemeinschaft! In den zeitgenössischen Begriffen »Volksgenosse« und »Volksschädling« manifestierten sich die untrennbar zusammenhängenden Prozesse von Inklusion und Exklusion. Dabei ist die Interdependenz der Gegensätze zu beachten: Homogenität wird durch Ausgrenzung und Ausschluss erzeugt. Alle sozialen Gruppen kennen diesen Mechanismus, aber selten so scharf und eskalierend; ich komme darauf zurück. Empirisch abgesichert argumentierend vertritt am konsequentesten Michael Wildt die Position, harmonische Inklusion der Volksgemeinschaft habe überhaupt auf der »brutale[n] Exklusionspraxis« basiert, »der sich die jüdischen, behinderten, ›gemeinschaftsfremden‹ Deutschen ausgesetzt sahen.«33 »In der Aktion« habe sich die Volksgemeinschaft gebildet, »eine Gemeinschaft, die einen Feind besaß, dessen Verfolgung und Vertreibung zum Prüfstein ihrer Existenz wurde.«34 Laut Frank Bajohr bildete das Ziel des NS-Herrschaftsprojektes die Generierung der »kriegsbereite[n] Volksgemeinschaft«,35 die als Komplizin ihrer Führung agiert. Derartige Komplizenschaft – etwa auch im Holocaust – hat gewiss dazu beigetragen, dass Gefolgschaft und Führung der NS-Volksgemeinschaft zusammengeschweißt wurden.36
4.
Die Erklärungspotenziale des Volksgemeinschaft-Konzepts
In diesem Abschnitt möchte ich diskutieren, worin die Leistung des Volksgemeinschaft-Konzepts für ein vertieftes Verständnis des Nationalsozialismus liegt und damit auch für eine modifizierte Vermittlung der NS-Geschichte. Nunmehr also zur Kernfrage dieses Beitrags, zu den geschichtsdidaktischen Potenzialen: Auf welche Fragen kann das Konzept (vertiefte) Antworten liefern, wo fördert und verbessert es möglicherweise das historische Verstehen (Abb. 2)? (a) Zunächst leistet das Konzept der Volksgemeinschaft eine gleichrangige Integration verschiedener, ja vermeintlich gegenteiliger Aspekte von NSHerrschaft und -Gesellschaft. Das klingt trivial. Aber wenn das hilft, die 33 Michael Wildt: Volksgemeinschaft im Krieg. Die deutsche Gesellschaft 1939 bis 1945. In: Mittelweg 36 16 (2007), H. 2, S. 65–76, hier S. 67. 34 Wildt (Anm. 29), S. 93. 35 Frank Bajohr : Dynamik und Disparität. Die nationalsozialistische Rüstungsmobilisierung und die »Volksgemeinschaft«. In: Bajohr/Wildt (Anm. 29), S. 78–93, S. 78. 36 Vgl. Thomas Sandkühler : Krieg, Kampf um »Lebensraum« und Vernichtung. Der nationalsozialistische Krieg. In: Thamer/Erpel (Anm. 29), S. 122–129, hier S. 126ff.; Birthe Kundrus: Der Holocaust. Die »Volksgemeinschaft« als Verbrechensgemeinschaft? In: Ebd., S. 130–135, hier S. 135; Wildt (Anm. 33), S. 73.
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Abb. 2: Geschichtsdidaktische Potenziale des Volksgemeinschaft-Konzepts (Quelle: Eigene Darstellung).
zitierte verzweifelte Frage der Jugendlichen nach »dem Positiven« im Nationalsozialismus nicht platt mit Mythen abzuwehren, sondern aufzugreifen, und gemeinsam ernsthaft, analytisch komplex zu überlegen, warum die (Ur-)Großeltern trotz des offensichtlichen Konzentrationslagers im Nachbardorf nicht »abseits standen«, dann wird wesentliche Erkenntnis generiert. Sie ist bedrückend, ja belastend; aber der Weg ist offen (und das Ziel).
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(b) Mit nüchterner Distanz und analytischer Radikalität, vielleicht anfangs gestützt durch nicht ganz korrekte Bilder der zwei Seiten einer Medaille oder zwei Pole eines Phänomens, nähert man sich dem Motor der NSVolksgemeinschaft: dem Modell von Inklusion und Exklusion in der Erzeugung von vermeintlich harmonischer Homogenität. In diesem WirkMechanismus ist – wie benannt – das eine nicht ohne das andere zu haben, erklärt und bedingt es sich gegenseitig. Die Gleichrangigkeit der Gegensätze, ihre interdependente Präsenz und Entwicklung sind der Schlüssel zum Verständnis. (c) Zunächst lassen sich damit rein phänomenologisch die Erinnerungen ordnen und integrieren: Wenn die Zeitzeug_innen (sofern sie nicht zu den NS-Opfern zählten) für die Friedenszeit überwiegend Zusammenrücken, Gemeinschaft und Aufstieg, für die Kriegsphase dann die Opferrolle erinnern, nachgeborene Enkel_innengenerationen aber stark überwiegend Holocaust und Vernichtungskrieg, so ist diese »geteilte Erinnerung« wahr, indem sie je eine Seite der Medaille monopolisiert. Das Erkenntniskonzept Volksgemeinschaft löst den vermeintlichen Widerspruch auf, führt zusammen, liefert die Integration. Und vielleicht korrigiert es auch die Schnittmenge kollektiver deutscher Erinnerung, die triviale »Erklärung« des Nationalsozialismus aus Weltwirtschaftskrise und deutschem Wiederaufstieg. (d) Zur analytischen Anwendung des Konzepts: Die kumulative Entfaltung der am Ende völlig entgrenzten NS-Gewalt lässt sich nicht hinreichend durch diktatorische Strukturen und fanatischen Hass erklären, sondern, indem der Blick auf empirisch belegte breite Akzeptanz und vielfaches Mitmachen gerichtet wird, auch durch die Ketten sozialer Interdependenzen (Norbert Elias)37 von Inklusion und Exklusion. Ins Zentrum rückt die Gesellschaft, in die der historische Prozess des Holocaust einbettet war, die ihn gebar, entfaltete und trug. Nach Jahrzehnten der Abwehr richtet sich dieser Ansatz analytisch lernender Beschäftigung auf die »ganz normalen« Deutschen, auf Verhaltensmuster und Handlungsspielräume im Mittelfeld von Opportunismus, Zuschauen, Mitmachen und Stufen der Verstrickung. (e) Das hat Folgen auch für die orientierende Perspektivenwahl. Wir sind es seit Hilbergs großen Arbeiten gewohnt, zwischen Opfern, Täter_innen und Zuschauer_innen zu unterscheiden.38 Nunmehr verschwimmen Grenzen. Das gilt insbesondere für die Unterscheidung von Täter_innen und Zuschauer_innen, die trivialisiert übertragen in Sprache so beruhigend dif37 Vgl. Annette Treibel: Die Soziologie von Norbert Elias. Eine Einführung in ihre Geschichte, Systematik und Perspektiven. Wiesbaden 2008. 38 Vgl. Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945. Frankfurt a. M. 1992.
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ferenzieren ließ zwischen »Nazis« und Deutschen, Anormalen und Normalen, Schuldigen und Nicht-Betroffenen. Damit ist es vorbei. Die NSVolksgemeinschaft, untergründig eskalierend angetrieben von Exklusion und Inklusion, entfaltete unübersehbar eine ganz andere Realität mit vielen Grautönen, Schattenwürfen und grenzüberwindenden kollektiven und individuellen Biografien. (f) Vieles spricht übrigens dafür, dass die NS-Volksgemeinschaft mit ihren Prozessen von Inklusion und Exklusion den Extremfall einer Universalität repräsentiert. Der soziale Orientierungs- und Gestaltungsmechanismus ist der Gruppensoziologie, der Systemtheorie und der Sozialpsychologie wohlbekannt.39 Wir-Bewusstsein von Eigengruppen rekurriert nicht immer, aber sehr oft auf abgrenzende Bilder von den Anderen, den Nicht-DazuGehörenden; gesellschaftliche Homogenität wird auch durch Ausgrenzung erzeugt, gegenüber Minoritäten ebenso wie gegenüber Fremdgruppen, auf der Makroebene ausgedrückt durch Rassismus, auf der Mikroebene durch Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung. Je nach Gruppenstruktur, -normen oder -kultur, Gruppenbildung, -zielen, oder -prozessen tritt dieser dynamische Mechanismus mal schärfer, mal weniger scharf auf. Ich will es hier bei diesen Andeutungen belassen, jedoch ergänzen: Der Blick in die Erkenntnisse der Gruppensoziologie, den in diesem speziellen Kontext meines Wissens noch niemand unternahm, scheint sehr fruchtbar. So war mir lange nicht bewusst, wie sehr biografische Erfahrungen des Holocausts die Erkenntnisinteressen wichtiger Protagonisten der Entfaltung der Gruppensoziologie in den 1950ern und 1970ern inspirierten – man denke z. B. an Henri Tajfel. Wir dürfen eine Analogie zum Erkenntnisweg der Sozialpsychologie vermuten, Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Überlegungen zum »autoritären Charakter« hatten bekanntlich ihren Ausgangspunkt in der von ihnen betrachteten NS-Gesellschaft.40 – Das alles will jedoch noch belastbarer betrachtet werden. 39 Vgl. beispielsweise: Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. 3. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 226–251, hier S. 229; Lars-Eric Petersen: Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. In: HansWerner Bierhoff u. a. (Hrsg.): Sozialpsychologie. Individuum und soziale Welt. Göttingen 2011, S. 234–252; Henri Tajfel: Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen. Bern 1982; siehe auch psychoanalytische Beiträge wie jene von Rolf Pohl: Das Konstrukt »Volksgemeinschaft« als Mittel zur Erzeugung von Massenloyalität im Nationalsozialismus. In: Schmiechen-Ackermann (Anm. 29), S. 69–86 und Sascha Howind: Der faschistische Einheitstrick. Die Suggestion von Einheit und Gleichheit in der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«. In: Markus Brunner (Hrsg.): Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen. Gießen 2011, S. 111–134. 40 Vgl. Theodor W. Adorno u. a.: The Authoritarian Personality. New York 1950.
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Qualitätsstandards? Anwendung geschichtsdidaktischer Kriterien
Wenn wir ihm ein einschlägiges Potenzial bescheinigen wollen, so muss das Konzept auch relevanten, für jede Vermittlung normativen geschichtsdidaktischen Standards genügen, sollte ihnen zumindest verträglich sein (Abb. 3). Zwar verfügt die Geschichtsdidaktik über keinen unstrittigen Katalog, wohl aber können wir einen Kanon verbreiteter, ja kanonisierter Ansprüche aufstellen:41 – Zunächst begreifen wir Geschichte als mehr oder weniger belegte und ausgeführte, nie den völligen Wahrheitsanspruch erreichende (Re-)Konstruktion vergangenen menschlichen Lebens aus der Perspektive und Motivation der Gegenwart. Wo schon der Gegenstand selbst, die NS-Volksgemeinschaft, eine gewagte zeitgenössische Konstruktion darstellte und ein analytisches Konzept ist, und wo die Geschichte des Wandels der Fragen an die NS-Geschichte so deutlich erscheint, lässt sich Konstruktionscharakter von Geschichte besonders gut erfahren. – Historisches Lernen, verstanden als Denkoperation, als möglichst autonom gestaltetes Re-Konstruieren spezifischer Aspekte der Vergangenheit aus gegenwärtigen Interessen, Problemlagen oder Orientierungsbedürfnissen, fußt folglich immer auf drängenden Fragen an die Vergangenheit, auf Suche nach Erklärung. Deshalb gibt es keine »verbotenen Fragen«. – Das konstruktive Selbstverständnis bestimmt auch alles Weitere. Daraus leiten wir die Forderung nach wissenschaftlicher Transparenz historischer Narrative und der Benennung von kontroversen Ergebnissen der Forschung ab. Dieses ist immer möglich, bei den genannten Forschungslinien zudem naheliegend. Und Transparenz wird in reflektierter, also bewusster Anwendung des Konzepts Volksgemeinschaft erlebt und realisiert. – Der Aspekt der Personifizierung meint die Darstellung von Geschichte aus der Perspektive einzelner Menschen. Traditionell galt Personifikation Herrschern 41 Vgl. unser normatives geschichtsdidaktisches Kriterienraster mit spezifischen Literaturverweisen: Uwe Danker/Astrid Schwabe: Historisches Lernen im Internet. In: GWU 58 (2007), H. 1, S. 4–19, hier S. 7ff.; eine intensiver ausgeführte Version findet sich bei Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web. Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 4), S. 54–72. Zur Orientierung nach wie vor aktuell: Bergmann/ Fröhlich/Kuhn (Anm. 2); für den schnellen Blick: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 3. Aufl. Schwalbach 2014. Grundlegende Einführungen in die Geschichtsdidaktik: Pandel (Anm. 2); Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens. 2. Aufl. Schwalbach 2000. Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. 3. erw. Aufl. Göttingen 2010; Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 12. Aufl. Seelze-Velber 2015.
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Abb. 3: Geschichtsdidaktische Standards als Qualitätsmaßstab (Quelle: Eigene Darstellung).
oder Entdeckern, heute bevorzugen wir reale Repräsentant_innen gesellschaftlicher Gruppen oder Rollen. – Am konkreten Beispiel: Ein historischer Akteur, der alles bisher Geforderte exemplarisch in seiner Biografie vereint, ist Pastor Johannes Meyer, der deutschchristliche Gemeindepastor von Ladelund, der im Frühwinter 1944 hunderte KZ-Insassen beerdigte, nach Kriegsende fraglos die Versöhnungsarbeit initiierte – aber eine wohl retrospektiv verfasste, also verfälschte kritische Kirchenchronik der furchtbaren
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KZ-Monate vorlegte.42 Die quellenkritische Beschäftigung mit diesem Dokument leistet alles bisher Gesagte. Wer ausschließlich empathisch die Opferperspektive einnimmt, wird wenig über den Nationalsozialismus lernen. Deshalb sind auch unterschiedliche Standorte von Teilgruppen der NS-Volksgemeinschaft wahr- und einzunehmen, ist die Bandbreite unterschiedlicher Standpunkte und Sichtweisen aufzuzeigen. Dieser Anspruch der Multiperspektivität im Kontext unserer spezifischen historischen Gesellschaftsanalyse vertieft unsere Erkenntnisse und steigert den Grad der Unbequemlichkeit. Die Reflexion der Perspektiven historischer Akteure bildet einen wesentlichen Strang historischen Lernens. NS-Volksgemeinschaft analytisch angewandt, führt erkennbar in den Kern der Sache, verhandelt vergangene Horizonte, die Zeitgebundenheit von Wahrnehmungen und Taten, mündet in die so relevante Befassung mit Handlungsspielräumen damaliger Menschen. Retrospektive historische Wertung sollte auf einfache, rückprojizierte Muster verzichten, nicht naheliegende Identifikationsangebote und schnelle Kategorisierungen in Gut und Böse ermöglichen, sondern vergangene Orientierungen, Normen und menschliche Handlungsspielräume erschließen. Historisches Bewerten oder Urteilen sollte die Horizonte der Vergangenheit achten, vergangene Wahrnehmungen, Orientierungsmuster und Moralvorstellungen bis hin zur rechtlichen Kodifizierung freilegen, die Messlatte aus universell gültigen sowie zeitgebundenen Ansichten konstruieren. Die Analyse der NS-Volksgemeinschaft hilft bei diesen komplexen Prozessen der Differenzierung und Normierung. Jeder Umgang mit Geschichte ist begleitet von Emotionen; die Bandbreite historischer Gefühle ist riesig. Das sollte uns bewusst sein, aber kalkulierend steuern kann man Affekte nicht. Geschichtsvermittlung sollte jedoch zu starke Emotionen, Ohnmachtsgefühle und Abwehr auslösende Überwältigung zu vermeiden suchen, nach Kräften kognitive Rationalität anstreben. Mit Distanz und Mut geht das, auch ohne falsche Relativierungen. Verknüpft damit ist der Anspruch, Geschichte möglichst offen, also ohne vorgegebene Urteile anzubieten. Nachhaltige historische Erkenntnis setzt, soweit vertretbar, auf verbindliche Wertungen verzichtende, zur eigenen Urteilsbildung einladende Vermittlungsangebote voraus, die methodisch durch ein handlungsorientiertes, selbstgesteuertes Lernen unterstützt werden. Sonst schwer erträglich in der NS-Vermittlung (man stelle sich Offenheit der Bewertung eines KZ vor) liefert die Volksgemeinschaft einen offenen
42 Vgl. Jörn-Peter Leppien: »Das waren keine Menschen mehr…«. Aus der Chronik der Kirchengemeinde, Pastor Johannes Meyer über das Konzentrationslager Ladelund 1944. Eine quellenkritische Studie. In: Grenzfriedenshefte (1983), H. 3, S. 143–185.
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Deutungsrahmen. Für eine tabufreie Suche nach Erklärung gibt es Optionen und keine feststehende Wertung. – Die Freiheit der Rezipient_innen, ihre eigenen Wertungen, Einordnungen und Urteile zu finden, kann nur in Grenzen realisiert werden, denn deutungsfreie Geschichtsnarrative sind nicht möglich. Bei aller konstruktivistischen Radikalität und vermittelnden Offenheit formulieren wir wohl den Anspruch, Beschäftigung mit Geschichte solle auch aufklärend wirken. Auch reflektierte Bewegung in diesem Zielkonflikt leistet das Konzept. – Gegenwartsbezug und Transfer der Erkenntnisse schließlich sind in die Universalität des Wechselspiels von Inklusion und Exklusion einbeschrieben. Ja tatsächlich kann, so scheint mir, eine analytische Beschäftigung mit der NSVolksgemeinschaft historische Lehren und Wachsamkeiten generieren, natürlich wieder in engen Grenzen und mit Vorsicht und Demut.
6.
Fazit: eine Horizonterweiterung!
Ich will den Bogen nicht überspannen: Der Ansatz, mit Hilfe des Volksgemeinschaft-Konzepts ein vertieftes historisches Verständnis des Nationalsozialismus zu vermitteln, erfindet die Welt nicht neu, macht anderes nicht hinfällig, aber wir verfügen über die Option, neue und komplexe Erkenntnisfelder zu erschließen, erhalten damit, das wollte ich aufzeigen, auch einen neuen Maßstab für einschlägige Produkte der Geschichtskultur. Alle, Schulen, Gedenkstätten und Museen, können von den didaktischen Potenzialen des VolksgemeinschaftKonzepts profitieren. Die Gefahr der Relativierung oder der Autobahntrivialisierung sehe ich nicht. Dafür ist das Konzept zu anspruchsvoll und zu stark durch seinen Grundmechanismus strukturiert. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, inklusiver Autobahnbau oder Sonntagseintopf und exklusive Gewalt bedingen einander. Neben dieser narrativen Verzahnung von Inklusion und Exklusion bei allen denkbaren didaktisierten Umsetzungen werden als Folge auch neue Zuschnitte von Fragestellungen, Themen, Platzbudgets und Formen eintreten. – Beispielhaft könnte man jetzt diskutieren, wie die Autobahn-Ecke im DHM umzugestalten oder ein KZ-Besuch zu flankieren wäre. Diese Konkretisierung ist hier nicht zu leisten.43 Aber : In einem nächsten Schritt wären schulische und nichtschulische Praxisbeispiele zu entwickeln. Ich verspreche mir von derartigen Unterfangen, dass keine reproduzierten Scheinsicherheiten, keine nur 43 Ein am konkreten Beispiel voll entfaltetes konzeptionelles Vorhaben der didaktischen Verzahnung von Inklusion und Exklusion habe ich an anderem Ort entwickelt: Danker (Anm. 22).
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überwältigenden Betroffenheitserlebnisse ohne Antworten auf brennende Fragen, sondern eine Erweiterung der historisch-lernenden Beschäftigung mit Funktionsweisen, Analyseansätzen und Erklärungen der NS-Volksgemeinschaft eintritt, die als tabufrei, reflektiert und transfertauglich charakterisiert werden kann. Das Konzept der NS-Volksgemeinschaft enthält das geschichtsdidaktische Potenzial für diesen Weg! Dieser zugleich belastende und drängende sowie wirklichkeitsnahe und problembezogene Zugang zur NS-Gesellschaft macht es, sofern naheliegende Abwehrversuche nicht Oberhand gewinnen, möglich, für sich persönliche Lehren aus der Geschichte abzuleiten, und er erfüllt Adornos paradoxe und bis heute selten eingelöste Forderung nach der analytischen Konzentration auf die Gesellschaft der Täter_innen, nämlich den Versuch, nicht beim Entsetzen stehen zu bleiben, sondern »selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen«.44
44 Theodor W. Adorno: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? (1959). In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959–1969 (herausgegeben von Gerd Kadelbach). Frankfurt a. M. 1971, S. 10–28, S. 25.
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Gemeinschaftspolitik und Mitmach-Bereitschaft in Diktaturen als Themenfeld für eine »Didaktik der Demokratie«. Grundlegende Überlegungen und konkrete Fallbeispiele
»Der Begriff der NS-Volksgemeinschaft war in der jüngsten Zeit Gegenstand einer intensiven und produktiven historiografischen Debatte, die – einer Minderheit prominenter Kritiker zum Trotz – den analytischen Kanon für das Verstehen und Erklären des Nationalsozialismus um eine wesentliche Kategorie erweiterte. Inzwischen kann die Nutzung des Begriffs als kanonisiert gelten«1, so resümiert Uwe Danker die seit rund einem Jahrzehnt geführte Auseinandersetzung über die Bedeutung von Gemeinschaftspolitik als Denkfigur und Instrument der nationalsozialistischen Diktatur.2 Wie aber kann man die mit dieser breit geführten Debatte um Volksgemeinschaft aufgerufenen Fragehorizonte und Erkenntnispotentiale geschichtsdidaktisch und geschichtskulturell umsetzen und wirksam werden lassen? Ein ausgefeiltes anwendungsorientiertes Konzept hierzu gibt es derzeit noch nicht,3 wohl aber exemplarische Überle1 Uwe Danker : Volksgemeinschaft und Lebensraum: Die Neulandhalle als Historischer Lernort. Neumünster 2014, S. 63. 2 Als wichtige impulsgebende Debattenbeiträge sind zu nennen: Michael Wildt/Frank Bajohr (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2006; Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007; Hans-Ulrich Thamer/ Sabine Erpel (Hrsg.): Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen. Dresden 2010. Den Zwischenstand der kontroversen Debatte um die »Volksgemeinschaft« bilanziert der Sammelband zu einer im März 2010 am Deutschen Historischen Institut in London durchgeführten Tagung sehr instruktiv: Martina Steber/Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives. Oxford 2014. Ein geplanter Sammelband zu der vom 25. bis 27. Juni 2015 in Hannover unter dem Titel »Der Ort der ›Volksgemeinschaft‹ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte« durchgeführten Abschlusstagung des Niedersächsischen Forschungskollegs »Nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort« wird zudem auch auf weiterführende Forschungsperspektiven verweisen. 3 Bedauerlicherweise erfolgte bei einer insgesamt sehr großzügigen Finanzierung des Niedersächsischen Forschungskollegs zum Thema »Nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort« (nähere Informationen unter : www.foko-ns.de) im Detail eine selektive Bewilligung der Forschungsgelder, die genau jenes Teilprojekt, das auf ein Konzept zur fachdidaktischen Umsetzung der gewon-
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gungen, in welche Richtung man (zum Beispiel im Hinblick auf die Neulandhalle in Dithmarschen) denken könnte.4 Wie würden sich solche Reflexionen und methodischen Handreichungen in eine umfassender gedachte und konzipierte »Didaktik der Demokratie« einpassen? Mit Bemerkungen zur letzten Frage möchte ich beginnen, bevor ich in diesem Beitrag einige generellere Überlegungen zur Bedeutung von Gemeinschaftspolitik für die Aufrechterhaltung von diktatorischer Herrschaft vorstellen will, um abschließend anhand von Fallbeispielen das Potential einer »Gesellschaftsgeschichte des Mitmachens« aufzuzeigen sowie die Widerstände, die vielerorts gegen ein solches Konzept bestehen, anzusprechen.
I. Als Zielvorstellung und Handlungsperspektive soll der Begriff der »Didaktik der Demokratie« vor allem unterstreichen, dass sich politische Bildner_innen, Akteur_innen der Erinnerungskultur sowie Historiker_innen in der medial geprägten und globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhundert gemeinsam auf den Weg machen müssen, um innovative Ansätze und neue Wege demokratischer Teilhabe zu identifizieren und zeitgemäße mediale Formen historisch-politischer Bildungsarbeit stetig weiterzuentwickeln. In diesem Sinne zielt das an der Leibniz Universität Hannover 2013 gegründete »Institut für Didaktik der Demokratie« (IDD) – in Anspielung auf die von Harald Welzer und Dana Giesecke geforderte, allerdings auch heftig umstrittene »Renovierung der Erinnerungskultur«5 – auf eine umfassender ausgreifende »Renovierung« der politischen Bildungsarbeit, bei der der moralische Zeigefinger als zentrales Hilfsmittel wertebezogener Instruktion obsolet wird, da nicht passive Rezipient_innen einem Bildungsprozess unterzogen werden, sondern sich Jugendliche und interessierte Bürger_innen im Rahmen aktiv gestalteter Lernprozesse Kenntnisse und Einsichten selbst erarbeiten. Dieses »Programm« einer neuen DemokratieDidaktik wird auf traditionelle Angebote wie die klassische Bildungsveranstaltung oder eine Landeszentrale für politische Bildung (wie es sie in Niedersachsen seit 2005 nicht mehr gab und wie sie nun wieder eingerichtet werden soll) keineswegs völlig verzichten wollen und können, aber es wird gleichzeitig in seinen Mitteln und Methoden darüber hinausverweisen müssen. Wesentliche nenen Erkenntnisse zielen sollte, zum großen Bedauern der Antragsteller und Projektleiter aus der Förderung des Verbundprojektes herausgenommen hat. 4 Zu den methodisch-didaktischen Vorüberlegungen zur Gestaltung der »Neulandhalle« im Dieksanderkoog als Lernort zum Nationalsozialismus: Danker (Anm. 1), S. 97–127. 5 Dana Giesecke/Harald Welzer : Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2012.
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Impulse für diesen dringlich einzufordernden, allerdings mancherorts auch bereits ablaufenden Lernprozess können von der Wissenschaft geliefert werden. Dabei ist systematisch zu reflektieren, wie sich demokratische Grundwerte angesichts von wachsender Diversität und einer stetig neue Informationskanäle kreierenden Medialisierung, aber auch einer Globalisierung, die mit einem grundlegenden Wandel von Staatlichkeit einhergeht, rasant verändern. Dementsprechend heißt es in den Leitlinien des IDD, dass das Institut darauf zielt, »Forschungs- und Transferaktivitäten auf den Feldern von Politischer Bildung und Demokratiepädagogik, Geschichte und Erinnerungskultur sowie den sozialen Herausforderungen der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu bündeln und zu profilieren.«6 Soweit der intendierte größere Kontext, vor dem ich mich im Folgenden der Bedeutung von Gemeinschaftspolitik in Diktaturen nähere.
II. Eine zweite Vorbemerkung erscheint notwendig: Titel und Programm der Schleswiger Tagung rückten in den Blickpunkt, dass es nach einer intensiv und kontrovers geführten fachwissenschaftlichen Debatte – nun in einem zweiten Schritt – an der Zeit sei, den Leitbegriff Volksgemeinschaft für die konkrete pädagogische Praxis aufzubereiten. Dies suggeriert, dass wir den Begriff erstmals füllen und insofern einer terra incognita endlich eine geordnete Gestalt verleihen würden. Diese Akzentuierung scheint mir nicht ganz die Realität zu treffen, denn es gibt bereits seit längerer Zeit – und auch bis in die pädagogische Praxis hinein – durchaus charakteristische und nicht immer unproblematische Formen der Aneignung dieses Begriffes. Gab man im Gemeinsamen Verbundkatalog des GBVunter »Alle Wörter ohne Volltext« den Begriff Volksgemeinschaft ein, so erhielt man bei einer Stichprobe am 15. Mai 2015 bereits 874 Treffer angezeigt.7 In etwa 38 Prozent der Fälle handelte es sich um Publikationen aus den Jahren bis 1945, in denen der Terminus also vorrangig als Quellenbegriff bzw. Schlagwort der politischen Propaganda benutzt worden ist. Über 37 Prozent der angezeigten Titel (konkret: 325 Treffer) waren allein in den letzten zehn Jahren erschienen; dem standen für die Zeitspanne von 1945 bis 2000 nur rund 25 Prozent der Treffer gegenüber, bei 6 Institut für Didaktik der Demokratie (Hrsg.): Bericht des Instituts für Didaktik der Demokratie 2013/2014. Hannover 2015, S. 3. Im Netz abrufbar unter : http://demokratiedidaktik.de/ wp-content/uploads/2015/08/IDD-T%C3%A4tigkeitsbericht.pdf (aufgerufen am 17. 11.2015). 7 Recherche im GVK, Schlagwort »Volksgemeinschaft« = 874 Treffer, Stand: 15. Mai 2015. Mittlerweile (Stichtag: 17. November 2015) ist die Zahl auf 939 gestiegen, so dass demnächst die Tausender-Marke überschritten werden wird. Die folgenden Überlegungen arbeiten mit den Daten der Stichprobe vom 15. Mai 2015.
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denen Volksgemeinschaft im Buchtitel auftaucht oder als Schlagwort verlinkt worden ist. Dieses Suchergebnis verweist auf drei keineswegs überraschende Sachverhalte: Erstens war die Verwendung des Begriffes Volksgemeinschaft während der NS-Zeit prominent und damit auch publikationsrelevant, zweitens spielte der Terminus in der wissenschaftlichen Analyse seit 1945 und mit wachsender Intensität seit den 1970er Jahren stets eine gewisse, aber nicht herausgehobene Rolle und drittens hat er sich – ungeachtet der sehr kontroversen Diskussion in der geschichtswissenschaftlichen Community – in den letzten zehn Jahren auf breiter Front als ein titelträchtiger Leitbegriff neuerer Forschungen zum Nationalsozialismus durchgesetzt. Schaut man allerdings nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ auf die Verwendung des Begriffes Volksgemeinschaft, so wird ein Problem deutlich, das in der fachwissenschaftlichen Debatte breiten Raum eingenommen hat, obwohl es dort tatsächlich kaum relevant war. Es geht um die Frage, ob Volksgemeinschaft essentialistisch verstanden, also angenommen wird, dass dieser Begriff einen real eingetretenen Zustand beschreibe. Genau dies hatten die Kritiker jenen Forscher_innen, die mit dem Begriff der Volksgemeinschaft operieren und auf diese Weise neue Aspekte der Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus erschließen wollen, nämlich immer wieder gebetsmühlenartig vorgeworfen – ungeachtet der Tatsache, dass die so Kritisierten immer wieder klargestellt hatten, dass es bei der historiographischen Analyse des ideologischen »Projekts« der NS-Volksgemeinschaft vor allem um den Prozess des Herstellens dieser zwar auch auf erfolgreicher Inklusion, vor allem aber auf gewalttätiger Exklusion beruhenden Vergemeinschaftung gehe und somit keineswegs impliziert werde, sondern sogar deutlich negiert sei, dass tatsächlich eine egalitäre NS-Gesellschaft entstanden wäre. Trotz dieser Einschränkung ist aber festzuhalten, dass durch die von den Nationalsozialist_innen betriebene rabiate Gemeinschaftspolitik faktisch ein realer politischer Handlungsrahmen gesetzt worden war, in den sich individuelles Verhalten im »Dritten Reich« zwangsläufig einpassen musste. Da inzwischen zu dieser Debatte etliche lesenswerte Forschungsberichte verfasst worden sind,8 wird dieser Aspekt hier nicht weiter ausgeführt. Nicht mehr in den neueren Forschungsbeiträgen, wohl aber in Teilen der vorliegenden älteren Literatur existierte zum einen bisweilen eine rein schablonenhafte Verwendung des Begriffes Volksgemeinschaft (verstanden als eine rein propagandistische »Worthülse«), zum anderen aber auch das eben beklagte essentialistische Missverständnis. Aus der erheblichen Zahl von Publikationen, die den Begriff in der einen oder anderen Weise unreflektiert verwenden, sollen 8 Vor allem: Janosch Steuwer : Was meint und nützt das Sprechen von der »Volksgemeinschaft«? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. In: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487–534.
Gemeinschaftspolitik und Mitmach-Bereitschaft in Diktaturen
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hier nur drei Beispiele herausgegriffen werden: Für seine 1975 publizierten Überlegungen zur Arbeiterpolitik in den Jahren 1936 bis 1939 wählte Tim Mason das plakative Begriffspaar »Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft«9 als Haupttitel – ohne freilich den Gehalt und die Wirkung nationalsozialistischer Gemeinschaftspolitik überhaupt ergebnisoffen zu reflektieren und wirklich zu überprüfen. Nimmt man die 2005 von Dorothee Hochstetter unter dem Titel »Motorisierung und ›Volksgemeinschaft‹«10 publizierte Monographie über das nationalsozialistische Kraftfahrkorps zur Hand, so stellt man fest, dass es die viel zitierte Volksgemeinschaft zwar auch in dieser stringent organisationsgeschichtlich angelegten Studie in die Titelzeile geschafft hat, die tatsächlich am Rande auftauchende »Verkehrsgemeinschaft« als kuriose Variante der Volksgemeinschaft dann aber nur auf mageren acht der fast 500 Textseiten erörtert und diskutiert wird. Dagegen ist sachlich überhaupt nichts einzuwenden, nur fragt man sich, mit welcher Motivation dann das Schlagwort der Volksgemeinschaft im Titel auftaucht? Einen in dieser Hinsicht ebenfalls ambivalenten Eindruck hinterlässt auch der ansonsten sehr hilfreiche, vor allem an Lehrkräfte gerichtete Quellenband »Der Nationalsozialismus. Band 1: Staatsterror und Volksgemeinschaft, 1933–1939«.11 Hier wird zwar in den wenigen kommentierenden Teilen bewusst Anschluss an die laufende Debatte gesucht, zugleich aber scheint die Chiffre Volksgemeinschaft in etlichen der ausgewählten Quellen einfach synonym für »Alltag im ›Dritten Reich‹« zu stehen, was einer essentialistischen Fehldeutung wiederum nahekommen würde.
III. Gemeinschaftsvorstellungen sind im 20. Jahrhundert nicht nur in Diktaturen, sondern auch in pluralistisch verfassten Demokratien als Gestaltungsmittel der Politik genutzt worden. Das prominenteste Beispiel ist die schwedische Idee des »folkhem«12, die zwar aus konservativen Kreisen stammt, aber erst durch ihre 9 Tim Mason: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Opladen 1975. 10 Dorothee Hochstetter : Motorisierung und »Volksgemeinschaft«. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931–1945. München 2005. 11 Herausgegeben von Thomas Lange und Gerd Steffens. 2. Aufl. Schwalbach 2013. 12 Vgl. hierzu vor allem Norbert Götz: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim. Baden-Baden 2001; ders.: Das schwedische Volksheimdenken in der Zwischenkriegszeit. Problem oder Lösung? In: Detlef Lehnert (Hrsg.): Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich 1900–1938. Köln u. a. 2013, S. 133–148; Thomas Etzemüller : Die Romantik des Reißbretts. Social engineering und demokratische Volksgemeinschaft in Schweden. Das Beispiel Alva und Gunnar Myrdal (1930–1960). In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 445–466; ders.: Total, aber nicht totalitär. Die schwedische »Volksge-
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Adaption in sozialdemokratisches Sozialstaatsdenken seit Ende der 1920er Jahre massenwirksam wurde. Im Kern wurde dabei eine idealisierte harmonische Vorstellung von Familie und Heim auf den Staat übertragen und damit eine Art »moralisches Regime« begründet.13 »Gemeinsamkeit« und ein »Gefühl der Zusammengehörigkeit« bildeten bald schon das allgemein akzeptierte Fundament des schwedischen »Volksheims«.14 Im kontrastierenden Vergleich zum so ungemein repressiven und zerstörerischen Gemeinschaftsregime der Nationalsozialist_innen stellt sich die Frage, ob die schwedische Gemeinschaftspolitik denn in jeder Hinsicht positiv zu bewerten ist. Und diese Frage ist offensichtlich zu verneinen. Zwar mündete eine durch funktionierende demokratische Institutionen »gerahmte« und somit prinzipiell kontrollierbar bleibende Gemeinschaftspolitik weder in Schweden noch in einer anderen Demokratie in ein radikales Exklusionsregime mit Vernichtungsphantasien. Aber die Versuchung, die eigene Bevölkerung durch »social engineering« zu optimieren, entfaltete – und dies nicht nur in ganz Skandinavien, sondern auch in der Schweiz und den Vereinigten Staaten15 – eine erhebliche und durchaus problematische Wirkung. Anhand des wohl markantesten Phänomens lässt sich die generelle Problematik schlaglichtartig verdeutlichen: Allein in Schweden wurden zwischen 1934 und 1976 über 60.000 Sterilisierungen durchgeführt, davon 20.000 bis 30.000 unter Zwang.16 Bei aller zu betonenden Unterschiedlichkeit zum Behindertenmord im »Dritten Reich« muss es überaus nachdenklich machen, dass die »Utopie der positiven Formung des Volkskörpers«17 auch in demokratisch verfassten Staaten eine maßgebliche Rolle spielte und zu einschneidenden Maßnahmen führte. Zwar erfolgte in Schweden nicht der fatale Schritt – wie Detlev Peukert es mit Blick auf den NS-Staat ausgedrückt hat – »von der Massenbeglückung zur Massenvernichtung«,18 aber Thomas Etzemüller konstatiert zurecht, dass sich
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meinschaft«. In: Bajohr/Wildt (Anm. 2), S. 41–59; ders.: Suchbewegungen: Schwedens Weg in die »ambivalente Moderne«. In: Detlef Lehnert (Hrsg.): Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich 1900–1938. Köln u. a. 2013, S. 149–169; Detlef Lehnert: Zur Geschichte und Theorie des Gemeinschaftsdenkens im 20. Jahrhundert. Schweden in Vergleichsperspektiven. In: Ders. (Hrsg.): Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich 1900–1938. Köln u. a. 2013, S. 7–38. Thomas Etzemüller : Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden. Bielefeld 2010, S. 104ff., das Zitat auf S. 106. Vgl. Götz (Anm. 12), S. 219–225. Auf diese beiden ebenfalls wichtigen Fallbeispiele kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Diese Daten stammen aus der offiziellen Beantwortung einer Anfrage im schwedischen Parlament. Vgl. http://www.regeringen.se/content/1/c4/28/64/212fc81a.pdf (aufgerufen am 11. 12. 2014). Detlev J.K. Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne. Göttingen 1989, S. 111. Peukert (Anm. 17), S. 112.
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auch das schwedische »Volksheim« in der Zwischenkriegszeit zu einer, wenn auch moderaten, Variante der »Normalisierungsgesellschaft« im Foucaultschen Sinne entwickelt habe, also zu einem durch repressive Biopolitik geprägten Gemeinwesen. Gleichzeitig sei aber auch festzuhalten, dass Schweden eine »grundsätzlich inkludierende«19 Gesellschaft geblieben sei. Nimmt man den Umgang mit identifizierten Defekten am »Volkskörper« als sensiblen Gradmesser, so taugt Schweden bis in die 1970er Jahre hinein also keineswegs als Beispiel für eine demokratische Gemeinschaftspolitik ohne Exklusionsdruck. Dass es in einer Demokratie dennoch am Ende gelingen kann, eine als »total« oder »normalisierend« zu charakterisierende biopolitische Machbarkeitsphantasie zu überwinden, belegt das schwedische Beispiel allerdings ebenfalls. Diskussionen um »Gemeinschaft«, so ist von Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst bemerkt worden, werden besonders dann geführt, »wenn die Grenzen des Liberalismus zur Debatte stehen«.20 Mit dem Rekurs auf »Gemeinschaft« wird in Diktaturen Machtdurchsetzung und Herrschaftssicherung betrieben, und zwar in der Regel, indem subjektiv empfundene Verlusterfahrungen aufgenommen und Verheißungen für eine bessere Zukunft gemacht werden. Zygmunt Baumann konstatiert, der Begriff »Gemeinschaft« bezeichne »eine Welt, die sich bedauerlicherweise erheblich von der unseren unterscheidet – in der wir aber liebend gerne leben würden und die wir eines Tages zurückzuerobern hoffen.« Unter Bezugnahme auf den britischen Kulturwissenschaftler Raymond Williams21 pointiert er weiter, »dass von Gemeinschaften merkwürdigerweise immer nur im Imperfekt die Rede sei« – oder, so könnten wir hinzufügen, im Futur. »Gemeinschaft – das Wort ist zum Synonym für ein verlorenes Paradies geworden, in das wir eines Tages zurückzukehren hoffen, und so suchen wir fieberhaft nach den Wegen dorthin. Ob nun verloren oder erst noch zu finden: es ist jedenfalls nicht der Ort, an dem wir leben, und auch keiner, den wir aus eigener Erfahrung kennen. Vielleicht erscheint er uns gerade deswegen als so paradiesisch.«22 Auf erstaunlich viele empirische Befunde in den aus dem niedersächsischen Forschungskolleg hervorgehenden Studien lässt sich dieser Kommentar zur Bedeutung und Wirkmächtigkeit von Gemeinschaftspolitik tatsächlich als 19 Etzemüller : Suchbewegungen (Anm. 12), S. 510. 20 Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1993, S. 9. 21 Raymond Williams gilt als einer der Begründer der Cultural Studies. Sein wegweisendes Werk »Culture und Society« publizierte er 1958 (deutsche Übersetzung: Raymond Williams: Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Zur historischen Semantik von »Kultur«. München 1972). 22 Zygmunt Baumann: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt. Frankfurt a. M. 2009, S. 9.
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Quintessenz lesen. Moderne Diktaturen auf charismatischer Grundlage müssen – dies wissen wir sowohl aus Max Webers Herrschaftssoziologie als auch aus Franz Neumanns Typologie von Diktaturen23 – stets immer auch nach möglichst großer Zustimmung, nach dem »Gehorchenwollen« der »Vielen« suchen, da eine dauerhafte Aufrechterhaltung von diktatorischer Herrschaft allein durch Gewalt unerhört mühsam und kräfteverschleißend ist. Neben materiellen Verlockungen zählt daher die Verheißung einer in der Zukunft zu erreichenden besseren »Gemeinschaft« zum gern und viel genutzten Instrumentarium von Diktaturen. Der Stellenwert und die Systemrelevanz von Gemeinschaftspolitik scheint allerdings in kommunistischen und faschistischen Diktaturen sehr unterschiedlich gewesen zu sein. Letztere zielten auf eine dauerhaft nach exkludierenden Prinzipien konstruierte und möglichst leistungsstarke Gemeinschaft als politisches Ideal, während erstere – jedenfalls ihrer erklärten politischen Absicht nach – Gemeinschaftspolitik als Mittel zum Zweck einsetzten, um auf gesellschaftliche Strukturveränderungen mit dem fiktiven Endziel einer klassenlosen Gesellschaft hinzuarbeiten. Differenziert man die beiden wichtigen an die Macht gelangten europäischen Faschismen in Italien und Deutschland im direkten Vergleich, so sticht ins Auge, dass eine auf der Ebene von Symbolen und Inszenierungen zum Teil sehr ähnliche Art von Gemeinschaftspolitik in beiden Diktaturen betrieben worden ist. In Italien wurde diese vor allem über die Vision eines »neuen Menschen«, das Modell des Korporativismus und die Idee der »Romanit/ fascista« vermittelt. Es existierte aber insgesamt wohl kein gleichwertiges und ähnlich wirkungsmächtiges Pendant zur deutschen Volksgemeinschaft – in dem Sinne, dass ein umfassender und allgemein verbindlicher Handlungsrahmen durchgesetzt worden wäre, zu dem sich alle Italiener_innen bei Androhung der Strafe gesellschaftlicher Exklusion jederzeit hätten aktiv bekennen müssen. Insofern kann – so das Fazit aus dieser hier nur sehr knapp referierten vergleichenden Betrachtung – der Nationalsozialismus als eine spezifische Form faschistischer Diktatur verstanden werden, die ihre Besonderheit auch durch das Alleinstellungsmerkmal gewinnt, ein Regime extrem repressiver Vergemeinschaftung zu sein. Mit dem Politikwissenschaftler Norbert Götz kann man formulieren, dass das mit dem Terminus der Volksgemeinschaft transportierte Gemeinschaftsdenken im »Dritten Reich« – und eben nur dort – die Gestalt einer »konkreten Ordnung«24 gewonnen habe. Neben anderen wäre damit ein weiteres signifikantes Markenzeichen nationalsozialistischer Herrschaft, dass die Vision einer künftigen »Gemeinschaft« nicht nur erfolgreich als verlockende Verhei23 Franz Neumann: Notizen zur Theorie der Diktatur. In: Ders. (Hrsg.): Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a. M. 1967, S. 224–247. 24 Götz (Anm. 12), S. 281–287.
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ßung kommuniziert, sondern vor allem als alltäglicher Handlungsrahmen für Inklusion und vor allem Exklusionen konsequent durchgesetzt worden ist. Voraussetzungen für »Zugehörigkeit« bildeten dabei nicht nur eine »arische« Abstammung und nachgewiesene Erbgesundheit, sondern auch ein der normativ gesetzten »konkreten Ordnung« entsprechendes Verhalten. Götz bilanziert: »Positive Zustimmung war nicht gefragt, sie wurde vorausgesetzt. Abweichende Handlungen oder Einstellungen aber wurden registriert und als Treubruch bewertet. Unerwünschte politische Einstellungen, soziale Unangepasstheit, insbesondere das, was zeitgenössisch als »arbeitsscheu« bezeichnet wurde, kriminelle Handlungen und bisweilen wirtschaftliche Ausbeutung verschmolzen zum Feindbild der sich außerhalb der Gemeinschaft Stellenden und diese Schädigenden.«25 Wenn wir also Gemeinschaftspolitik und Gemeinschaftshandeln in Diktaturen unter diesem Blickwinkel betrachten, so wird deutlich, dass die Exklusionspolitik der Nationalsozialist_innen zwar nicht per se etwas völlig Einmaliges darstellt, dass sie aber ihre negative Einzigartigkeit durch die extreme und millionenfach tödliche Zuspitzung und Konsequenz gewinnt, mit der dieses Regime repressiver Vergemeinschaftung errichtet wurde. Dies bedeutet mithin, dass die auch für andere Diktaturen und auch für demokratisch verfasste Gesellschaften relevante Problematik gesellschaftlicher Ausgrenzung anhand dieses Sonderfalles wie unter einem Brennglas in extremer Ausformung studiert werden kann. Für die politische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus ließe sich ableiten, dass somit die Voraussetzungen und Motivationen, die Instrumente und Methoden sowie die Dynamik der im »Dritten Reich« wirksam werdenden Exklusionsprozesse in das Zentrum einer demokratiedidaktischen Auseinandersetzung mit der Diktatur zu rücken wären. Anders ausgedrückt: Es müsste vor allem um die konkreten Umstände, um die Bedingungen und Voraussetzungen des Mitmachens, Geschehenlassens und Wegschauens gehen und nicht allein um eine Fixierung auf die Haupttäter und ihre monströsen Verbrechen.
IV. Abschließend will ich anhand von Fallbeispielen das Potential, aber auch die Schwierigkeiten aufzeigen, die sich bei der Umsetzung dieser Perspektive an konkreten Erinnerungsorten ergeben. Der Bückeberg bei Hameln ist einer der so
25 Ebd., S. 531.
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genannten »bösen Orte«26, eine Stätte nationalsozialistischer Selbstdarstellung, ein »Täterort«, an dem mit den Reichserntedankfesten eine propagandistische Großinszenierung des »Dritten Reiches« stattfand und sich die NS-Ideologie in besonderer Weise manifestierte. Ins Auge sticht, dass im lokalen Nahbereich die Grundhaltung »Bloß kleine Gedenkstätte am historischen Ort« eine Art Mantra in der nun bereits lange währenden Debatte um einen erinnerungspolitischen Anlaufpunkt zu bilden scheint. Warum ist dies so? War nach 1945 die Abwehrhaltung gegen Gedenkstätten an den Standorten ehemaliger Konzentrationslager über Jahrzehnte virulent, so scheint sich mittlerweile vielerorts in der unmittelbaren lokalen Nachbarschaft doch eine deutlich veränderte gesellschaftliche Rezeptionsweise durchgesetzt zu haben. Das ehrende Gedenken an die Opfer ist in der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts »common sense« geworden – sieht man einmal von einem kleinen Prozentsatz der Ewiggestrigen ab. Dazu hat sicherlich eine inzwischen eingespielte und politisch nicht zur Disposition stehende offizielle Gedenkkultur einiges beigetragen, vermutlich aber auch die Entdeckung, dass KZ-Gedenkstätten heute zumindest für kleinere Orte ein touristischer Standortfaktor sind. Bei den »bösen Orten«, die für NS-Inszenierungen und propagandistische Verführungskraft stehen, scheint mir die Basis für eine solche Akzeptanz vielfach noch nicht gegeben zu sein. Natürlich gibt es Ausnahmen – vor allem dann, wenn die Staatsräson dies zwingend erfordert. Bevor das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 2006 im Berliner Olympiastadion angepfiffen wurde, hatte man dort die erinnerungspolitischen Hausaufgaben erledigt: Auf dem ehemaligen Reichssportfeld war eine so genannte »Historische Kommentierung« zur Olympiade 1936 und ihren Bauten realisiert27 und im Glockenturm zum »Geschichtsort Olympiagelände« eine Dauerausstellung als Dependance des Deutsches Historischen Museums eröffnet worden.28 In diesen Kanon der herausragenden und jedenfalls offiziell nicht zur Debatte stehenden Institutionen der Erinnerung gehören ebenfalls das 2001 in Nürnberg unter dem programmatischen Titel »Faszination und Gewalt« neu eröffnete Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände,29 die im Jahr 2000 eröffnete, unter Federführung des Institutes für Zeitgeschichte entstandene Dokumentation Obersalzberg bei 26 Stephan Porombka/Hilmar Schmidt (Hrsg.): Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute. Berlin 2005. 27 Vgl. hierzu http://www.gedenkstaettenforum.de/nc/gedenkstaetten-rundbrief/rundbrief/ news/historische_kommentierung_des_olympiagelaendes_berlin (aufgerufen am 18. 05. 2015). 28 http://www.dhm.de/ausstellungen/an-anderen-orten/geschichtsort-olympiagelaende.html (aufgerufen am 18. 05. 2015). Vgl. auch Jürgen Trimborn: Im Olympiastadion, Berlin. In: Porombka/Schmidt (Anm. 26), S. 129–152. 29 Museen der Stadt Nürnberg (Hrsg.): Faszination und Gewalt. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg. Nürnberg [2006].
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Berchtesgaden30 sowie das soeben auf dem ehemaligen Standort der NSDAPParteizentrale in München eröffnete NS-Dokumentationszentrum. Wie aber sieht es andernorts, an weniger prominenter Stelle, mit der lokalen Akzeptanz dafür aus, dass Orte oder Gebäude für bestimmte Aspekte des Mitmachens in der NS-Zeit stehen? In Prora ist ein Dokumentationszentrum entstanden, allerdings in einem durchaus konfliktreichen Prozess, in dem verschiedene Konzeptionen von Erinnerung (nämlich an die NS-Zeit und an die Nutzung durch die Nationale Volksarmee während des Bestehens der DDR) miteinander in Konkurrenz gerieten. Am Ort der ehemaligen Heeresversuchsanstalt in Peenemünde existiert heute ein »Historisch-technisches Museum«, das seit seiner Eröffnung 1991 wohl mehr als 5 Millionen Besucher_innen zu verzeichnen hat. Wer einmal dort war, wird sich vermutlich fragen, wie groß der Prozentsatz der Besucher_innen ist, die das Museum aufgrund eines politischen-historischen Bildungsinteresses aufsuchen und wie viele durch die Faszination von Groß- und Militärtechnik angelockt werden. Im mecklenburgischen Alt-Rehse arbeite man sich »verzweifelt an der Frage [ab], ob im Schlosspark an die Vergangenheit erinnert werden soll oder nicht«, bilanzierten die Journalisten Hilmar Schmidt und Stephan Porombka 2005 in der TAZ.31 Mittlerweile ist auch dort, nach einem ebenfalls recht konfliktreichen Prozess, ein dauerhafter Lern- und Gedenkort an die ehemalige NS-Führerschule der deutschen Ärzteschaft eingerichtet worden – allerdings bislang offensichtlich nur mit einer recht kleinen Ausstellung.32 Auch der Austragungsort der Reichserntedankfeste bei Hameln ist ein solcher »böser«, ein störender und daher unbequemer Ort. Stefan Winghart, der Präsident des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege, bilanzierte die überaus kontroverse, stark von Ängsten und Befürchtungen vieler Anwohner_innen geprägte Debatte um den Bückeberg wie folgt: »Es ist unbestritten leichter, der Opfer zu gedenken, gerade für die Gruppe der Nachgeborenen, zu der inzwischen nahezu alle gehören und die sich keiner persönlichen Schuld bewusst sein muss. Die Identifikation mit den Opfern der Tyrannei fällt nie schwer, zumal dann, wenn sie nicht risikobehaftet ist. Schwieriger wird es nach wie vor dann, wenn wir es mit den Tätern zu tun bekommen.«33 30 Volker Dahm u. a. (Hrsg.): Die tödliche Utopie. Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich. 5. Aufl. München 2008. 31 Hilmar Schmidt/Stephan Porombka: Unterwegs in Germania. In: Die Tageszeitung, 26. März 2005. 32 http://www.lifekritik.de/index.php/fuehrerschule-musterdorf-der-tollense-lebenspark-undalt-rehse-heute.html (aufgerufen am 18. 05. 2015). 33 Stefan Winghart: Unbequeme Denkmale der NS-Zeit als denkmalpflegerische Aufgabe. In: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.): Die Reichserntedankfeste auf dem Bückeberg bei Hameln. Diskussion über eine zentrale Stätte nationalsozialistischer Selbstinszenierung. [Hannover] 2010, S. 57f.
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Auch in Städten, Kreisen und Gemeinden, in denen man sich bereits seit Jahrzehnten um eine kritische Aufarbeitung der NS-Zeit bemüht, etwa indem man Zwangsarbeiter_innen über Gastprogramme einlädt, Stolpersteine verlegt oder regelmäßig Gedenkveranstaltungen organisiert, wird das hier aufgeworfene Thema des »Mitmachens« während der NS-Zeit eine ganz neue Herausforderung bilden. Über das emphatische Mitfühlen mit den Opfern und die moralische Verurteilung der Täter_innen hinauszugreifen und auf die Dynamik und Komplexität alltäglicher Exklusionsprozesse zu blicken, wird wesentlich schmerzhafter sein als der in seiner Schwarz-Weiß-Konnotation so eindeutig erscheinende Blick auf Opfer und Täter_innen. Wie man eine »Gesellschaftsgeschichte des Mitmachens« konzipieren könnte, ist in Hannover anhand der Überlegungen für einen von der Stadt ins Auge gefassten neuen Lern- und Dokumentationsort durchgespielt worden. Ein Beirat für Erinnerungskultur34 hat vor dem Hintergrund, dass 2014 mit der Gedenkstätte in der ehemaligen Israelitischen Gartenbauschule in Ahlem eine Institution eröffnet werden konnte,35 in der Verfolgung und Täterschaft sowie jüdische Selbstbehauptung im Mittelpunkt der Ausstellungen stehen, einige zentrale Grundlinien für einen ergänzenden zweiten Lernort formuliert. Er spricht sich dafür aus, »dass die Stadt Hannover die Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit mit ihren vielfältigen Aspekten breit thematisiert. Benötigt wird ein Lernort, der dezidiert zum Themenfeld ›Mitmachen und Widerstehen in der Diktatur‹ konzipiert ist. […] Bei der Konzeption für einen zentralen Ort sind in methodischer Hinsicht die aktuellen Tendenzen in der NS-Forschung (cultural turn, visual turn, spatial turn, exemplarische biographische Zugänge) aufzunehmen. Ein möglichst breit angelegter erfahrungsgeschichtlicher und lebensweltlicher Zugriff garantiert dabei, dass eine simple Reduktion der NS-Zeit auf eine Geschichte von Opfern und Tätern überwunden wird. Ins Zentrum der Betrachtung sind vielmehr das Problem der Mobilisierungsfähigkeit und die Analyse der Bindekräfte der NS-Diktatur zu rücken. Insbesondere die Auseinandersetzung mit den Fragen, warum so viele Menschen damals so willig ›mitmachten‹ und sich nicht verweigert haben bzw. welche Mechanismen zu Anpassung und Integration in die diktatorische Gesellschaft geführt haben, bieten konkrete Ansatzpunkte, um an diesem Lernort auch über aktuelle Gefährdungen der Demokratie ins Gespräch zu kommen.«36
Neben den Rahmenbedingungen von Propaganda und Kontrolle, Strafen und Terror in der Diktatur, so fordert dieses Beiratspapier, solle ein Spektrum gesellschaftlicher Verhaltensmuster und Lebenswelten aufgezeigt werden, das von begeistertem Aktivismus und zielgerichtetem Profitieren (etwa im Zuge der 34 Der Verfasser ist stellvertretender Sprecher dieses Beirates. 35 Nähere Informationen unter http://www.hannover.de/Kultur-Freizeit/Architektur-Geschich te/Erinnerungskultur/Gedenkst%C3%A4tte-Ahlem (aufgerufen am 18. 11. 2015). 36 Beirat der Landeshauptstadt Hannover für Erinnerungskultur : Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Gedenk- und Erinnerungskultur in der Stadt Hannover, 31. 05. 2012.
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»Arisierung«) über williges Mitmachen und Wegschauen bis zu vorsichtiger Distanzierung oder gar Widerstand reichte. Ob ein solches Konzept für einen Dokumentations- und Lernort, das das Spektrum des Verhaltens von Individuen und sozialen Gruppen während des »Dritten Reiches« in seiner ganzen Bandbreite ins Auge fasst, realisiert werden kann, ist derzeit allerdings noch völlig offen. Im Falle des Projektes Neulandhalle scheint mir eine vergleichbare Chance trotz Vorliegen eines überzeugenden inhaltlichen Konzeptes vergeben worden zu sein.37 Abschließend seien zwei Institutionen in den Blickpunkt gerückt, an denen es bereits in ganz unterschiedlicher Weise gelungen ist, das Problem der Gemeinschaftspolitik und des »Mitmachens der Vielen«38 in der Diktatur zu thematisieren. Im Mai 2015 wurde, nach mehrjähriger kompletter Überarbeitung, die Dokumentationsstätte »Gelsenkirchen im Nationalsozialismus« neu eröffnet. Im Informationsblatt zu diesem Lernort wird als roter Faden der neuen Ausstellung benannt, dass es darum gehen soll, »die Bedingungen dar[zustellen], unter denen die von den Nationalsozialisten propagierte ›Volksgemeinschaft‹ bereit ist, im Namen einer rassistischen und menschenverachtenden Ideologie an Verbrechen mitzuwirken, die mit alltäglicher Ausgrenzung beginnen und schließlich im Massenmord gipfeln – auch in einer Industrieregion, deren Bevölkerung dem Nationalsozialismus ursprünglich überwiegend ablehnend begegnet ist«.39 Tatsächlich bilden die Fragen nach Inklusion und Exklusion, nach den Wirkungen nationalsozialistischer Gemeinschaftspolitik, aber auch nach dem selbstmobilisierenden Einschreiben der Bevölkerung in die Denkfigur der Volksgemeinschaft den roten Faden, der sich durch die sieben Räume einer mit vergleichsweise konventionellen Mitteln (vor allem Texte und Fotografien vermitteln die Inhalte, es gibt kaum Exponate) eingerichteten Ausstellung zieht. Der Terminus Volksgemeinschaft wird dabei durchaus in seiner Ambivalenz und Problematik reflektiert, etwa wenn es in Raum 3 um Anspruch und Wirklichkeit der propagierten Volksgemeinschaft geht. Verwiesen 37 Danker (Anm. 1), S. 128–132. 38 Dieser Begriff geht auf Alf Lüdtke zurück. Vgl. Alf Lüdtke: Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991; ders.: Die Praxis von Herrschaft: Zur Analyse von Hinnehmen und Mitmachen im deutschen Faschismus. In: Brigitte Berlekamp/Werner Röhr (Hrsg.): Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus. Münster 1995, S. 226–245. 39 Vgl. hierzu auch die Internet-Präsentation der Dokumentationsstätte unter www.gelsenkir chen.de/de/kultur/museen_und_dauerausstellungen/dokumentationsstaette_gelsenkirchen_ im_nationalsozialismus/Themen_der _Ausstellungsraeume.aspx (aufgerufen am 18. 11. 2015). Der Flyer (letzte Nutzung am 18. 11. 2015) ist abrufbar unter www.gelsenkirchen.de/ de/kultur/museen_und_dauerausstellungen/dokumentationsstaette_gelsenkirchen_im_na tionalsozialismus/_doc/Flyer_Ausstellung_Dokumentationsstätte_neu_2015.pdf.
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wird dabei beispielhaft auf Orte in Gelsenkirchen, an denen sich der Prozess des intendierten Herstellens von »Gemeinschaft« besonders verdichtete.40 Als weitaus größer dimensionierte (und natürlich auch weitaus kostenintensivere) Institution an einem Originalschauplatz der NS-Verfolgung besticht der im Herbst 2012 eröffnete »Site M8morial du Camp des Milles«, der sich vor den Toren von Aix-en-Provence auf dem Gelände einer alten Ziegelei befindet.41 Das weiträumige Areal der Ziegelei hatte von 1939 bis 1942 als Lagergelände gedient und dabei drei Etappen durchlaufen: In der Zusammenbruchsphase der dritten Republik als Internierungslager für »feindliche Subjekte« (»camp d’internment pour sujets ennemis«) von September 1939 bis Juni 1940, also paradoxerweise vor allem für deutsche und österreichische Antifaschisten, die vor den Nazis geflohen und in Südfrankreich ihr Exildomizil gefunden hatten. Beispielsweise waren Lion Feuchtwanger und Franz Werfel hier interniert, die wie viele andere in dem in den 1930er Jahren als Fluchtpunkt für Künstler bekannt gewordenen Dorf Sanary-sur-Mer Zuflucht gefunden hatten. Unter dem Vichy-Regime bestand Les Milles zunächst von Juli 1940 bis Juli 1942 als Lager für »unerwünschte Ausländer« (»camp d’internment des ind8sirables«), d. h. vor allem für nicht-französische Juden, aber auch für ehemalige Kämpfer der Internationalen Brigaden in Spanien. Die bedrückendste und grausamste letzte Phase der Lagergeschichte bildeten schließlich wenige Wochen im August und September 1942, als Les Milles zum Durchgangslager für Jüdinnen und Juden umfunktioniert wurde, bis diese über Drancy nach Auschwitz deportiert wurden.42 Die Darstellung dieser komplexen Entwicklungsgeschichte des Lagers erfolgt durch eine moderne, medial wie gestalterisch sehr ansprechende Ausstellung, in der immer wieder auch die Frage thematisiert wird, wie sich z. B. Nachbar_innen verhielten bzw. wie französische Akteure durch Kollaboration in das Verfolgungsgeschehen eingebunden waren. Insgesamt besteht der heutige Erinnerungsort aus drei großen Komplexen: der Ausstellung zur eben ganz knapp skizzierten Geschichte des Lagers (plakativ benannt als »Wissen«), der Präsentation des Gebäudes und weniger sachlicher Überreste (»Emotion«) und einem sehr ausführlichen, der politischen Bildung gewidmeten Bereich der »Reflexion«. In diesem geht es z. B. um Themen wie »Die Erfahrung des Ex40 www.gelsenkirchen.de/de/kultur/museen_und_dauerausstellungen/dokumentationsstaette_ gelsenkirchen_im_nationalsozialismus/Studienraum3.aspx (aufgerufen am 18. 11. 2015). 41 Ausführliche Informationen im Netz unter : www.campdesmilles.org/index.html (aufgerufen am 18. 11. 2015). Es liegt auch eine deutsche Version des Kurzführers vor: Fondation du Camp des Milles (Hrsg.): Lager von Les Milles. Von unserer Vergangenheit lernen. Für heute und für morgen. O.O. und o. J. 42 Zur Geschichte des Lagers liegen französisch- wie deutschsprachige Studien vor: Andr8 Fontaine: Le camp d’8trangers des Milles 1939–1943. Aix-en-Provence 1992; Doris Obschernitzki: Letzte Hoffnung – Ausreise. Die Ziegelei von Les Milles 1939–1942. Vom Lager für unerwünschte Ausländer zum Deportationszentrum. Berlin 1999.
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tremfalles«, »Der Nährboden für soziale Spannungen«, »Die Schritte vom Rassismus zum Genozid«, »Komplize werden oder widerstehen?«. Dieser dritte Bereich der Erinnerungsstätte mündet in sehr aktuelle Zeitbezüge zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und schließt mit der Aufforderung »Wachsam sein!«. Die Besucher_innen werden nicht mit der hilflosen Frage »Wie konnte das geschehen?« aus der Erinnerungsstätte entlassen, sondern mit analytischen Erklärungsansätzen konfrontiert. Aus diesem Grund gewinnt diese sehr moderne und zeitgemäße Einrichtung an einem südfranzösischen Ort der Verfolgung eine besondere Qualität und bietet hervorragende Ansatzpunkte für politische Bildungsarbeit. Am Extremfall der NS-Verfolgung wird nicht nur das Entstehen und die Konsequenzen radikaler Exklusionspolitik ausführlich dargestellt. Durch vergleichende Thematisierungen (z. B. des Genozids an den Armenier_ innen und in Ruanda) und Verweise auf totalitäre Potentiale heute, wird erfahrbar gemacht, dass es sich beim Kampf um Demokratie und Toleranz nicht um eine in einer abgeschlossenen Vergangenheit spielende Angelegenheit handelt, sondern um eine bleibende Aufgabe.
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NS-Volksgemeinschaft ausstellen. Zur Reinszenierung einer Schreckensvision mit Verheißungskraft
Im Jahr 2003 berief die Kulturreferentin der Stadt München Lydia Hartl eine Gruppe von Gutachern und eine Gutachterin ein. Ziel war die Konzeption für ein neu zu gestaltendes NS-Dokumentationszentrum auf den Grundmauern des sogenannten »Braunen Hauses«, der ehemaligen Parteizentrale der NSDAP in der bayerischen Landeshauptstadt. Ein Jahr später lagen zwei verschiedene Expert_innenempfehlungen vor und beide Einschätzungen kamen letztendlich zu Ergebnissen, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Die Verfasser_innen des Mehrheitsvotums konzipierten ein »informatives« und »attraktives« »Haus der Geschichte des Nationalsozialismus in München.«1 Die »politische, gesellschaftliche und kulturelle Formierung der Volksgemeinschaft« mit ihrer »Kehrseite« der »(mörderischen) Ausgrenzung von zu Gemeinschaftsfremden erklärten [sic]« wird, so die Idee der Autor_innen, mit musealen Mitteln, also durch die Verwendung von Realien und deren räumliche Inszenierungen veranschaulicht.2 Ganz anders das Konzept des konkurrierenden Gutachtens.3 Es lässt in seinen Ausführungen ganz explizit einen »Lernort« und kein Museum entstehen, im Gegenteil: Es gehe gerade nicht um »museologische Techniken zur Aktivierung des Interesses«, sondern »um die evidente Vermittlung von Fakten«. Aufgrund ihrer »auratischen Aufladung« verzichtet das zweite Expos8 auf 1 Cilly Kugelmann/Norbert Frei/Volkhard Knigge (Mehrheitsvotum): Haus der Geschichte des Nationalsozialismus in München, Stand: März 2004, S. 5; publiziert in: https://www.rismuenchen.de/RII/RII/DOK/SITZUNGSVORLAGE/450905.pdf (aufgerufen am 07. 09. 2016). Die Gutachten sind in der Sekundärliteratur bereits aufgegriffen worden, vgl. Stefanie PauflerGerlach: (Keine) erneute Inszenierung? Museale Präsentation von NS-Propaganda in zeitgenössischen Ausstellungen. In: Christian Kuchler (Hrsg.): NS-Propaganda im 21. Jahrhundert. Zwischen Verbot und Auseinandersetzung. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 175–192, hier S. 176. 2 Kugelmann/Frei/Knigge (Anm. 1), S. 11. 3 Ein weiterer Gutachter, der ursprünglich zur Gruppe gehörte, Albert Lichtblau, schloss sich keinem Votum an, schied daher ohne Stellungnahme aus der Gruppe aus; Vorwort von Lydia Hartl in : https ://www.ris-muenchen.de/RII/RII/DOK/SITZUNGSVORLAGE/450905.pdf (aufgerufen am 07. 09. 2016).
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das Ausstellen von Objekten vollständig.4 Adjektive wie »spannend« oder »attraktiv« lehnt der Autor bei der Vermittlung des Themas generell ab.5 Auch beim inhaltlichen Zuschnitt bestehen Unterschiede: Ein besonderer Schwerpunkt des Konzepts der Mehrheitsgutachter_innen liegt auf der »exemplarischen Gesellschaftsgeschichte«, die Attraktivität des Regimes, der Charakter einer Konsensdiktatur soll durch die Beschäftigung mit der Volksgemeinschaft im NSRegime aufgezeigt und im erfahrungsgeschichtlich-biografischen Milieuzusammenhang verortet werden.6 Münchner Stadtgeschichte im Nationalsozialismus mit einem struktur- und ereignisgeschichtlichen Schwerpunkt ist hingegen der Fokus von Gutachten zwei.7 Die unterschiedlichen Auffassungen zu inhaltlichen Zuschnitten und Präsentationsfragen im Münchner Gutachter_innenstreit stellen keinen Einzelfall dar. In ähnlicher Form prägten derartige Fragestellungen zum Thema NS-Geschichte nahezu die gesamte deutsche Ausstellungslandschaft, die um die Jahrtausendwende neue Konturen angenommen hat.8 Und die Fragen sind nach wie vor unbeantwortet und virulent. Ein Ende des veritablen Booms der zahlreichen Gedenkstätten und Dokumentationszentren am historischen Ort, die inzwischen ein Millionenpublikum erreichen, ist nicht in Sicht.9 Dieser enormen Breitenwirkung ungeachtet stehen eine konsistente Theorie der Darstellung von NS-Geschichte im Ausstellungskontext und eine eindeutige Definition der damit verbundenen Vermittlungsziele allerdings nach wie vor aus.10 Dieses analytisch4 Winfried Nerdinger : Gutachterliche Stellungnahme zur Errichtung eines NS-Dokumentationszentrums in München, Stand 5. Februar 2004 in: ebd., S. 3f. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Kugelmann/Frei/Knigge (Anm. 1), S. 12–15. 7 Vgl. Nerdinger (Anm. 4), S. 2f. 8 Die Dokumentation Obersalzberg und die Villa Ten Hompel in Münster wurden 1999 eröffnet, das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg 2001. 1997 wurde das ELDE Haus in Köln reorganisiert. 2005 wurde die KZ-Gedenkstätte in Neuengamme eröffnet; 2010 die NS-Ausstellung in Wewelsburg und die Topographie des Terrors, 2015 neben dem NS-Dokuzentrum München die neugestaltete Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf. Die neue Ausstellung in Vogelsang (Internationaler Platz) eröffnete 2016. 9 Zu Besucher_innenzahlen Thomas Lutz: Zwischen Vermittlungsanspruch und emotionaler Wahrnehmung. Die Gestaltung neuer Dauerausstellungen in Gedenkstätten für die NS-Opfer in Deutschland und deren Bildungsanspruch. Berlin 2009, S. 143–146. 10 Vgl. Volkhard Knigge: Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? In: Gedenkstättenrundbrief 172 (12/2013), S. 3–15, hier S. 12–15; Verena Haug: Gedenkstättenpädagogik als Interaktion. Aushandlung von Erwartungen und Ansprüchen vor Ort. In: Elke Gryglewski u. a. (Hrsg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NSVerbrechen. Berlin 2015, S. 113–126, hier S. 113; Verena Haug: Am »authentischen« Ort. Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik. Berlin 2015, S. 58f. Zu Spezifika von NS-Erinnerungsorten und der Vermittlungsarbeit etwa Barabara Thimm/Gottfried Kößler/Susanne Ulrich (Hrsg.): Verunsichernde Orte. Frankfurt a. M. 2010; Daniela Allmeier u. a. (Hrsg.): Erinnerungsorte in Bewegung. Bielefeld 2016; Bert Pampel (Hrsg): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeit-
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konzeptionelle Defizit hängt wiederum mit Unsicherheiten zusammen, die mit dem Wandel der NS-Forschung und der Ausrichtung von Museen zu tun haben. Eine verstärkte Hinwendung zu Alltags- und Gesellschaftsgeschichte unter dem Label Volksgemeinschaft auf der einen und eine zunehmende Orientierung an Fragen der Besucher_innenpartizipation und Ausstellungsrezeption auf der anderen Seite, so lassen sich diese Entwicklungen verkürzt zusammenfassen. Die Entstehungsgeschichte des Münchner Dokuzentrums markiert die Gratwanderung für Kurator_innen, die mit diesem Wandel verbunden ist. Dieser Grat verläuft zwischen der Darstellung des Regimealltags und Trivialisierung, Präsentation von Attraktionspotenzialen des »Dritten Reiches« und ungewollter Reproduktion genau dieser Potenziale durch ihre Re-Präsentation, zwischen Objektzentrierung und Auratisierung und zwischen Besucher_innenorientierung und bespaßender Verharmlosung. – Ob und wie aber kann dann Volksgemeinschaft adäquat dargestellt werden? Die folgenden Überlegungen nähern sich dieser Frage in einem Problemaufriss, indem die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Ausstellung von Volksgemeinschaft im diskursiven Rahmen der übergreifenden Debatten näher analysiert werden. Dabei kann es weder darum gehen, bereits eine konsistente Theorie der Präsentation von NS-Gesellschaftsgeschichte vorzustellen, noch ist es das Ziel, den Begriff der Volksgemeinschaft und seinen forschungspraktischen Nutzen genauer in den Blick zu nehmen. Das ist an anderer Stelle bereits ausführlich geschehen.11 Vielmehr sollen drei Dimensionen näher analysiert werden, die in Bezug auf Fragen der musealen Darstellung und Darstellbarkeit von Volksgemeinschaft eine zentrale Rolle spielen und im Münchner Beispiel bereits angedeutet sind: Die Dimensionen der Ausstellungspräsentation (Zeigen), die Dimension der ortsgebundenen Darstellung von NS-Geschichte (historische Topographie) und die der Vermittlungsziele (Didaktik).
geschichtlichen Ausstellungen. Leipzig 2011; zu Ausstellungen auch Paufler-Gerlach (Anm. 1) und Lutz (Anm. 9). 11 Vgl. hierzu die konzisen Analysen und Überblicke über die mittlerweile reichlich vorhandene Literatur zum Thema von Martina Steber/Bernhard Gotto: Volksgemeinschaft im NSRegime: Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (2014), S. 433–467; Janosch Steuwer : Was meint und nützt das Sprechen von der »Volksgemeinschaft«? Neue Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. In: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 487–534; Detlev Schmiechen-Ackermann: Einführung. In: Ders. (Hrsg.): »Volksgemeinschaft«. Mythos der NS-Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im Dritten Reich? Paderborn u. a. 2012, S. 14–53. Siehe hierzu vor allem auch die Beiträge von Martina Steber/Bernhard Gotto sowie Frank Bajohr in diesem Band.
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I Als die Autor_innen im Jahr 2004 ihre Gutachten vorlegten, waren die Diskussionen um die gesellschaftliche Beteiligung an Verfolgung und Völkermord im »Dritten Reich« in vollem Gange. Bereits seit einigen Jahren hatte vor allem die Beschäftigung mit der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung und der Profit »ganz normaler« Deutscher, die so genannte »Arisierung«, neuen Auftrieb erhalten.12 Ein Jahr nach dem Erscheinen der Gutachten sorgte Götz Aly mit seiner Studie »Hitlers Volksstaat« und der dort vertretenen These einer Zustimmungsdiktatur, die sich die Unterstützung von »Millionen einfacher Deutscher« durch materielle Vergünstigungen und Vorteile erkauft habe, für viel Wirbel.13 Nach Norbert Frei, einem der Autoren des Mehrheitsgutachtens, führen Fragen nach der Volksgemeinschaft »zum Kern des Problems«, wenn es um die NSMassenverbrechen geht, wie er ein Jahr nach der Publikation des Gutachtens hervorhob.14 Ebenfalls in den Jahren um die Jahrtausendwende waren geeignete museale Darstellungsformen der Geschichte Gegenstand intensiver Erörterungen. Aus den früheren Musentempeln waren nicht nur Lernorte, sondern partizipative Kommunikationsräume geworden.15 Angepasst an Erkenntnisse aus der Besucher_innenforschung und unter anderem orientiert an den Konsum-, Wahrnehmungs- und Rezeptionsgewohnheiten der jungen Generation, lauteten die erörterten Stichworte »Intensität des Erlebens«, »Erlebniswelten«, »audiencecentered« oder »Ort der Unterhaltung«, um Museen auch weiterhin als zukunftsfähige Anziehungspunkte für ein breites Publikum im hart umkämpften Kultur- und Freizeitbereich erhalten zu können.16 12 Vgl. Frank Bajohr : »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945. Hamburg 1997. 13 Vgl. Götz Aly : Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt a. M. 2005, Zitat S. 362. 14 Vgl. Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. Erw. Taschenbuchausg. München 2009, Zitat S. 142. 15 Die Begriffe gehen zurück auf Walter Hochreiter : Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800–1914. Darmstadt 1994. 16 So Teile von Aufsatztiteln im Sammelband von Beatrix Commandeur/Dorothee Dennert (Hrsg.): Event zieht – Inhalt bindet. Besucherorientierung von Museen auf neuen Wegen. Bielefeld 2004; zur Diskussion um adäquate Ausstellungsformate für Geschichte siehe auch: Heinrich Th. Grütter : Die Präsentation der Vergangenheit. Zur Darstellung von Geschichte in historischen Museen und Ausstellungen. In: Klaus Füßmann/Ders./Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 173–187; Olaf Hartung (Hrsg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld 2006; Gottfried Korff: Museumsdinge deponieren – exponieren (hrsg. von Martina Eberspächer/Gudrun Marlene König/Bernhard Tschofen). Köln/Weimar/Wien 2002; Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung. Die Darstellung von Geschichte im Museum. In: Ulrich Bors-
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Beide hier angedeuteten Diskussionen verweisen bereits auf ein zentrales Problem bei der Visualisierung von NS-Volksgemeinschaft. Es hängt mit der ästhetischen Dimension von Politik und deren Re-Präsentation durch Exponate zusammen. Es sind offensichtlich die Charakteristika des ausstellungsbezogenen Zeigens und die spezifischen Qualitäten von Museumsdingen, die – wie auch in München – themenspezifische Schwierigkeiten bereiten. Grundsätzlich sind (Geschichts-)Ausstellungen, das gilt es in diesem Kontext zunächst hervorzuheben, per se ästhetische Anordnungen im Raum. Ausstellungen leben, so hat es Gottfried Korff formuliert, vom »Sexappeal« der Exponate, die ihre Anziehungskraft aus der räumlichen Nähe und zeitlichen Ferne gewinnen.17 Ausstellungsinszenierung heißt ästhetisch reflektierte und intendierte Ordnung von Objekten: gewissermaßen eine historische Versuchsanordnung mit einem spielerischen, assoziativen und faszinierenden Charakter. Dabei kreuzen sich die Deutungsintentionen der Kurator_innen mit denen der Betrachter_innen, die häufig nicht deckungsgleich sind.18 Der/die Besucher_in ist also nicht nur Rezipient_in, sondern auch Sinnproduzent_in, die/der sich von der ästhetischen Anmutung der Ausstellung, der Anziehungskraft einzelner Exponate und ihrer, um erneut Korff zu zitieren, »mnemotechnischer Energien«, ihrer »quasi magischen Aufladung« leiten lässt.19 Die besonderen Wirkungsmechanismen der im Museum ästhetisch angeordneten Dinge und Dingwelten werden auch an anderer Stelle besonders hervorgehoben. Krzysztof Pomian nennt solche bedeutungsbeladenen Sammlungsstücke besondere Zeichenträger, die mit ihrem »zweigesichtigen« Charakter als »Semiophoren« eine besondere Beziehung mit dem Betrachter eingehen.20 Hermann Schmitz spricht von »Atmosphäre« als das, was bei leiblicher Anwesenheit von Menschen und Dingen erfahrbar ist, Gernot Böhme von dem »Ding und seinen Ekstasen«. Er meint damit die Artikulation der Präsenz von Dingen im Raum, ihre Wirkung nach außen oder ihr »aus sich [H]eraustreten«, so dass sie für den Betrachter spürbar werden.21 Auch Walter Benjamin
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dorf/Heinrich Th. Grütter (Hrsg.): Orte der Erinnerung. Denkmal/Gedenkstätte/Museum. Frankfurt a. M./New York 1999, S. 319–335. Korff, Museumsdinge (Anm. 16), S. 119. So auch bereits Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Frankfurt a. M. 2011, S. 569–599, hier S. 576; Krzystof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. 3. Aufl. Berlin 1998, S. 43. Vgl. Annemarie Hürlmann: Zum Umgang mit Dingwelten in der aktuellen Ausstellungspraxis. Ein Plädoyer für die Schaulust, den geduldigen Blick und Phantasie. In: Hartung (Anm. 16), S. 60–71, hier S. 65. Korff, Museumsdinge (Anm. 16), S. 143; Korff, Bildwelt (Anm. 16), S. 330. Pomian (Anm. 17), S. 95. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. 2. Aufl. Berlin 2014, S. 35f. Hierin auch zu Hermann Schmitz’ Begriff der Atmosphäre, S. 28–31.
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verweist auf die inzwischen vielzitierte »Aura« von geschichtlichen oder natürlichen Gegenständen, die sich aus der Originalität wie auch der Paradoxie der gleichzeitigen Nähe und Ferne ergeben kann.22 Und Hans Ulrich Gumbrecht setzt sich mit der »Produktion von Präsenz« von Gegenständen auseinander, also der »Materialität der Kommunikation« und ihren Wirkungen.23 Unabhängig davon, ob man diese Wirkung bei »authentischen« Objekten im musealen Zusammenhang nun als »Zuschreibungen in bestimmten Kommunikationssituationen« bezeichnen will oder die besondere Qualität der Dinge, ihren Eigensinn hervorhebt:24 Festzuhalten bleiben die Deutungsoffenheit und die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten, die die verdinglichte Geschichte in historischen Ausstellungen offeriert. Dinge im Museum sind offene Objekte, die über sich selbst hinausweisen, Schnittstellen von »Beziehungen, Meinungen und Erfahrungen.«25 Als deutungsoffen müssen Ausstellungswelten wohl auch deshalb gelten, weil die Präsenz der Dinge, die durch sie hervorgerufenen Atmosphären einen »Sinnüberschuss« generieren, eine Form der Kommunikation zwischen verschiedenen Körpern im Raum, die sich des kognitiv-interpretativen Zugriffs zumindest ein Stück weit entziehen. Gerade dieser Charakter musealer Repräsentation von Geschichte macht, so jedenfalls eine der zu beobachtenden Entwicklungslinien, aus Museen ästhetisch reflektierte und dingbezogene Kommunikationsplattformen und negiert ihren Charakter als »Bildungsinstrumente«.26 Diese Eigenschaften sind es allerdings auch, die der herkömmlichen Form musealer Darstellung beim Thema Volksgemeinschaft in den Augen zahlreicher Kurator_innen entgegenstehen. Das hängt zunächst mit der Ästhetisierung des Politischen im Nationalsozialismus selbst zusammen. Die wirkungsmächtige Formel der Volksgemeinschaft zielte auf einen »biologistisch definierten Sinn von ›Blutsgemeinschaft‹«. Mit ihr verbanden sich Hoffnungen auf die Überwindung von Klassenschranken, sozialen Aufstieg, wirtschaftliche Prosperität und die Wiedererlangung 22 Vgl. Benjamin (Anm. 17), S. 574–576. 23 Hans U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004, S. 11 und 33. 24 So Achim Saupe in seinem konzisen Überblick über historische Authentizität: Achim Saupe: Empirische, materiale, personale und kollektive Authentizitätskonstruktionen und die Historizität des Authentischen. In: Martin Fitzenreiter (Hrsg.): Authentizität. Artefakt und Versprechen in der Archäologie. London 2014, S. 19–26, hier S. 22; hierzu auch: Andreas Ludwig: Materielle Kultur, Version 1.0. In: Docupedia Zeitgeschichte, 30. 5. 2011, https:// docupedia.de/zg/Materielle_Kultur (aufgerufen am 08. 09. 2016). 25 Jan Gerchow/Susanne Gesser/Angela Jannelli: Nicht von Gestern! Das historische Museum Frankfurt wird zum Stadtmuseum für das 21. Jahrhundert. In: Susanne Gesser u. a. (Hrsg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen. Bielefeld 2012, S. 22–32, hier S. 30. 26 Vgl. Susanne Gesser u. a.: Das partizipative Museum. In: Gesser (Anm. 25), S. 10–15, hier S. 11.
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nationaler Stärke.27 Die volksgemeinschaftliche Zugehörigkeitssuggestion erzeugten die Nationalsozialisten auch, indem sie durch eine Flut propagandistischer Bild- und Tonangebote sowie durch die Massenproduktion politischideologisch eingefärbter Devotionalien den Glauben an die Gemeinschaft stärkten und zum Mitmachen animierten. Immer wiederkehrende NS-Symbole, etwa das Hakenkreuz, gehörten, wie verschiedene Darstellungen von Gemeinschaft, zu den millionenfach zirkulierenden Bildmotiven. Die ständige Wiederholung und Ritualisierung der hochgradig affektiven Bildgebung und Objektgestaltung ermöglichten emotionale Sofortreaktionen und sollten identitätsund ideologiestiftend im Sinne des NS-Regimes wirken.28 Diese »Ästhetisierung« des Politischen bezog sich zu einem Großteil auf Adolf Hitler und dessen Beziehung zum Volk. Er erschien als volksnaher Kanzler und Menschenfreund »zum Anfassen« genauso wie als einsamer Visionär und weltgewandter Staatsmann. Die intendierte Vision war die einer glorreichen Zukunft mit Hitler, geprägt von Wohlstand, Frieden, wiedererlangter außenpolitischer Größe, und einer durch rassische Selektion hervorgerufenen Harmonie.29 Es ist nicht zuletzt diese politische Instrumentalisierung der Ästhetik, vor deren Suggestivkraft gerade diejenigen warnen, die sich theoretisch mit Phänomenen wie »Aura«, »Atmosphäre« oder Dingwirkungen auseinandersetzen.30 Die bild- und dinggewaltige Ästhetisierung der Politik im Nationalsozialismus gerade in Bezug auf die Attraktions- und Zustimmungspotentiale, die mit dem Begriff Volksgemeinschaft verbunden sind, führen Kurator_innen und Ausstellungsgestalter_innen heute in ein Dilemma, das sich in dreifacher Weise äußert. Es liegt zunächst auf der Hand, dass – wie bereits angedeutet – die dem Gestaltungskontext immanente ästhetische Dimension in diesem Fall die Reästhetisierung einer politischen Ästhetik bedeutet, die nicht nur ein Millionenpublikum zu beeinflussen imstande war, sondern vor allem dazu diente, Gewaltakte und Massenmorde mit ungeheuren Ausmaßen zu ermöglichen. Es lässt 27 Vgl. Frank Bajohr/Michael Wildt: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009, S. 7–23, hier S. 12–16 (Zitat S. 16). 28 Vgl. hierzu: Habbo Knoch: Die »Volksgemeinschaft« der Bilder. Propaganda und Gesellschaft im frühen Nationalsozialismus. In: Gudrun Brockhaus (Hrsg.): Attraktion der NSBewegung. Essen 2014, S. 133–160, hier S. 135; Saul Friedländer : Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Erw. Ausg. Frankfurt a. M. 2007, S. 22–31; zum Umgang mit Kitsch im Nationalsozialismus auch Natalia Skradol: Fascism and Kitsch: The Nazi Campaign against Kitsch. In: German Studies Review 34/3 (2011), S. 595–612. 29 Vgl. Knoch (Anm. 28), S. 144; zu dieser ästhetischen Dimension auch grundlegend Wolfram Pytha: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. München 2015, S. 8–30; Harald Welzer : Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung. In: Ders. (Hrsg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995, S. 169. 30 Vgl. Böhme (Anm. 21), S. 43f.; Benjamin (Anm. 17), S. 597–599.
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sich nicht ausschließen, dass diese Reästhetisierung nicht den Anstoß für eine Reflexion leistet, sondern unbeabsichtigt einen faszinierten Blick auf die NSÄsthetik ermöglicht.31 Eine weitere Falle droht, weil die permanente Reproduktion von NS-Propagandamaterialien in Presse, Film, Internet und Ausstellung womöglich einer Mythisierung Adolf Hitlers und seiner Beziehung zur Volksgemeinschaft Vorschub leistet. Die Bildgewalt der Nationalsozialisten und deren Monopol auf das veröffentlichte Erscheinungsbild lassen uns durch diesen Rückgriff das Regime so sehen, wie es gesehen werden wollte. In diesem Sinne hat der NS-Staat aufgrund der Überlieferung seiner Propaganda die Deutung der eigenen Geschichte gleich mitgeliefert.32 Wichtige, aber deutlich weniger oder gar nicht bildlich festgehaltene Aspekte des Alltags der NS-Gesellschaft oder Volksgemeinschaft drohen hingegen übersehen oder mangels geeigneter Exponate gar nicht erst ausgestellt zu werden. Schließlich ist es gerade das Kernanliegen kuratorischer Arbeit zu Alltag und Volksgemeinschaft im »Dritten Reich«, Erklärungen für die Zustimmungsfähigkeit zum verbrecherischen Regime und für die breite Beteiligung an den Massenverbrechen zu liefern. Die Darstellungsintention ist also zwangsläufig erheblich normativ aufgeladen, der Widerspruch zur prinzipiellen Deutungsoffenheit musealer Exponate und ihrer kognitiv kaum oder allenfalls schwer zu erfassenden Wirkung kaum auflösbar.33 In der bisherigen Ausstellungspraxis haben solche Dilemmata bereits deutlichen Niederschlag gefunden. Das Zeigen von Volksgemeinschaft in Geschichtsausstellungen markierte daher nicht nur in München ein kritisch diskutiertes kuratorisches Betätigungsfeld. Auch andere Ausstellungen an hochfrequentierten NS-Orten verzichten auf die Darstellung dreidimensionaler 31 Zu Faszination als Problem: Vgl. Hans-Ernst Mittig: NS-Architektur – Faszinierend? In: Gerd Zimmermann/Christiane Wolf (Hrsg.): Vergegenständlichte Erinnerung. Über Relikte der NS-Architektur. Weimar 1999, S. 9–20. 32 Vgl. Welzer, (Anm. 29), S. 169; Martin Loiperdinger/Rudolf Herz/Ulrich Pohlmann (Hrsg.): Führerbilder. Hitler, Mussolini, Roosevelt, Stalin in Fotografie und Film. München 1995, S. 9; Simone Erpel: Hitler entdämonisiert. Die mediale Präsenz des Diktators nach 1945 in Presse und Internet. In: Hans-Ulrich Thamer/Simone Erpel (Hrsg.): Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen. Dresden 2010, S. 154–160, hier S. 155. 33 Auf solche und andere Widersprüche bei der Präsentation von NS-Geschichte in Ausstellungen bzw. im Vermittlungskontext ist bereits mehrfach hingewiesen worden; etwa bei Dieter Mersch: Politik des Erinnerns und die Geste des Zeigens. In: Karen van den Berg/Hans U. Gumbrecht (Hrsg.): Politik des Zeigens. München 2010, S. 109–126; Gottfried Kößler : Aura und Ordnung. Zum Verhältnis von Gedenkstätte und Museum. In: Gryglewski u. a. (Anm. 10), S. 67–81, hier S. 71; Haug (Anm. 10), S. 80f.; Joachim Rohfels: Eine bilanzierende Einführung. In: Hartung (Anm. 16), S. 11–20, hier S. 11; Simone Lässig: Vom historischen Fluchtpunkt zur transnationalen Metapher. Holocaust-Erinnerung in Museen zwischen Geschichte und Moral. In: Ebd., S. 184–210, hier S. 195f.; Karl H. Pohl: Wann ist ein Museum »historisch korrekt«? »Offenes Geschichtsbild«, Kontroversität, Multiperspektivität und »Überwältigungsverbot« als Grundprinzipien musealer Geschichtspräsentation. In: Ebd., S. 273–286.
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Exponate und hegen das Bildmaterial vorwiegend in der zweidimensionalen Präsentation der Wandabwicklung oder in den Exponatträgerflächen durch den Inhalt der Ausstellungstexte ein. Gerade diejenigen Ausstellungen an historischen Stätten, die sich mit gesellschaftsgeschichtlichen Themen zum Nationalsozialismus auseinandersetzen und insbesondere mit der Selbstinszenierung des Regimes oder den Täter_innen der Massenverbrechen in Verbindung gebracht werden, versuchen, wie inzwischen mehrfach hervorgehoben, häufig vollständig auf »Inszenierungen« zu verzichten.34 Bereits der als Institutionenbezeichnung inzwischen übliche Begriff »Dokumentation« verweist auf einen nüchternen Ausstellungsstil, der auf die kognitive Auseinandersetzung durch die Vermittlung historischer Fakten und Informationen zielt und die Einrichtung selbst in der Nähe von Schule und Hochschule verortet.35 Idealtypisch lassen sich Ausstellungen zur NS-Geschichte daher nach ihrer Objektbezogenheit bzw. nach ihrem Objektverzicht in zwei Kategorien einteilen: in objektbezogen-narrative Inszenierungen auf der einen Seite, die auf Dreidimensionalität als Mittel musealer Vermittlung setzen. Solche Ausstellungskonzepte sind häufig an Gedenkstätten für die Opfer des NS-Regimes zu finden und bezeichnen sich folgerichtig als Memorialmuseum.36 Auf der anderen Seite wählen Kurator_innen primär dokumentierend-erklärende Ausstellungen an Orten, die sich Täter_innen und deren gesellschaftlichem Umfeld widmen. Sie beziehen dreidimensionaler Objekte allenfalls zögerlich ein bzw. verzichten auf deren Verwendung ganz bewusst.37 34 Vgl. Stefanie Endlich: Orte des Erinnerns – Mahnmale und Gedenkstätten. In Peter Reichel/ Harald Schmid/Peter Steinbach (Hrsg.): Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte. München 2009, S. 350–377, hier S. 374; Paufler-Gerlach (Anm. 1), hier S. 185. 35 Vgl. Volker Dahm: Der Obersalzberg als historischer Ort. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Die tödliche Utopie. Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich. München 2008, S. 17–27, hier S. 19–22. Einen ähnlichen Zugang mit ähnlicher Namensgebung auch beim NS-Dokumentationszentrum in München und bei der Topografie des Terrors in Berlin, die einem nüchtern-informativen Stil verpflichtet sind und vollständig auf die Verwendung dreidimensionaler Objekte verzichten. 36 So etwa die KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Ebensee. 37 Eine ähnliche Begrifflichkeit aber mit ganz anderer inhaltlicher Stoßrichtung wählt Volkhard Knigge, wenn er von narrativen (Metabotschaft) und dokumentierend-argumentierenden Ausstellungen (multiperspektivisch-fragend) spricht: Volkhard Knigge: Gedenkstätten und Museen. In: Ders./Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005, S. 405f. Natürlich existieren Mischformen, beispielsweise die Herangehensweise bei der ausgesprochen hochfrequentierten Ausstellung »Hitler und die Deutschen«; Hans-Ulrich Thamer : Die Inszenierung von Macht. Hitlers Herrschaft und ihre Präsentation im Museum. In: Thamer/Erpel (Anm. 32), S. 17–22, hier. S. 18; in jedem Fall sind zahlreiche Wechselausstellungen, die sich mit der NS-Tätergeschichte auseinandersetzen, einem betont nüchternen Stil verpflichtet. Das gilt etwa für die Zweite Wehrmachtsausstellung; zu deren Inhalten siehe: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–
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Volksgemeinschaft ja, aber nicht mit den klassischen Mitteln einer Ausstellung, so lassen sich die Präsentationsschwierigkeiten vor allem an den sogenannten Täter_innenorten noch einmal zugespitzt zusammenfassen. Sensationslustvermeidung, Auratisierungsverhinderung, intendierte, eindeutige Verarbeitungszielsetzungen und exponatbezogene Wirkungsbrechung stehen einem Medium des Zeigens entgegen, das genau auf solche Mittel setzt: Uneindeutigkeit, Aura, Atmosphäre, Faszination und inszeniertes Ereignis; ein Medium, das deshalb in unmittelbarer Nähe zum Theatralischen angesiedelt ist und auf die Cognitio Sensitiva, Erkenntnis durch ästhetische Sinnlichkeit setzt. Eigenschaften also, die sich mit dem primär kognitiven, hermeneutischen Zugang offensichtlich kaum oder allenfalls schwer in Einklang bringen lassen.
II Chancen und Grenzen der Volksgemeinschaftsdarstellung ergeben sich nicht nur aus dem herkömmlichen Präsentationskontext einer Ausstellung, sondern auch aus seiner topografischen Umgebung. Die meisten Ausstellungen, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Gesellschaft im »Dritten Reich« auseinandersetzen – darauf ist eingangs bereits hingewiesen worden – tun dies an den NS-Orten herausgehobenen Geschehens. Im Museum oder Dokumentationszentrum ausgestellt wird NS-Geschichte also in erster Linie am historischen Ort selbst. Für die breitenwirksame Geschichtsvermittlung ist gerade dieser Bezug von geschichtsträchtiger Topografie und musealer Funktion von besonderer Bedeutung. NS-Erinnerungsorte gelten als Kristallisationspunkte oder eben Kristallisationsorte des negativen Gedächtnisses an den Nationalsozialismus, wie es Reinhardt Koselleck bezeichnet hat.38 Mit einer Art Scharnierfunktion verbinden sie, so eine inzwischen gängige Auffassung, Vergangenheit mit gegenwärtigen Herausforderungen und bieten ethisch-moralisch sowie rechtsstaatlich-demokratisch fundierte Orientierungen für zukünftige Einstellungen und Verhaltensweisen an.39 Die Bedeutung und der Bedeutungs1944. Ausstellungskatalog. Hamburg 2002; hierzu auch Paufler-Gerlach (Anm. 1), S. 184. Volkhard Knigge verweist auch in Bezug auf die Ausstellungen an Gedenkstätten darauf, dass sich Schaulust nicht uneingeschränkt entfalten und keine »Erlebnisräume« geschaffen werden dürften; Volkhard Knigge: Museum oder Schädelstätte? Gedenkstätten als multiple Institutionen. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Gedenkstätten und Besucherforschung. Bonn 2003, S. 17–33, hier S. 32. 38 Vgl. Reinhard Koselleck: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. In: Knigge/ Frei (Anm. 37), S. 21–32. 39 Zur Zielsetzung der Gedenkstätten und der aktuellen Diskussion um diese Zielsetzung vgl. den Sammelband von Gryglewski u. a. (Anm. 10); Haug, Ort (Anm. 10) und die zahlreichen Diskussionen und Aufsätze im Fachjournal Gedenkstättenrundbrief. Das Konzept der Er-
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zuwachs der NS-Geschichtsorte lassen sich unter anderem mit dem sukzessiven Verschwinden der Miterlebenden und dem damit verbundenen Generationswechsel in Verbindung bringen.40 Für die Zeit nach den Zeitzeugen können die Geschichtsorte demnach als »Steinerne Zeugen« mit doppelter Funktion gelten: Einmal in einem historischen Sinne, weil sie durch die fehlende Möglichkeit mündlicher Überlieferung das Gewesene zu verbürgen vermögen. Zudem in einer eher juristisch definierten Funktion, weil sie als »steinerne Beweise« die Verbrechen an den Tatorten oder das politische Handeln der Täter_innen an den Täterorten belegen können. Es sind denn auch die der kriminologischen Terminologie entlehnten Begriffe der »Spurensuche« und »Spurensicherung«, die bei der Vermittlungsarbeit vor Ort eine ausgesprochen wichtige Rolle spielen.41 Für Kurator_innen und Pädagog_innen bieten diese Originalschauplätze zweifellos Vermittlungschancen. Sie werden in der Besucher_innenperspektive offensichtlich als authentisch wahrgenommen, sind daher per se von einer besonderen Aura der Glaubwürdigkeit umgeben und vermögen sowohl emotional wie kognitiv – und durch die Vermittlungsarbeit letztendlich reflexiv – zu stimulieren. Es soll an dieser Stelle nicht auf die grundsätzliche Problematik der »Aura« der »Authentizität« für Fragen der Geschichtsvermittlung und Perzeption eingegangen werden, die nicht primär die Präsentation von Volksgemeinschaft, innerungsorte geht u. a. zurück auf Pierre Nora (Hrsg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005; Etienne Francois/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. München 2001; in Bezug auf die vielfältige Literatur zur Bedeutung der topografischen Erinnerungsorte vgl. etwa Endlich (Anm. 34); Gerd Zimmermann/Christiane Wolf (Hrsg.): Vergegenständlichte Erinnerung. Über Relikte der NS-Architektur. Weimar 1999; Alexandra Klei: Der erinnerte Ort. Geschichte durch Architektur. Bielefeld 2011; Habbo Knoch: Spurensuche: NS-Gedenkstätten als Orte der Zeitgeschichte. In: Frank Bösch/Constantin Göschler (Hrsg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M./New York 2009, S. 190–218; Borsdorf (Anm. 16); Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 298–336; zur Scharnierfunktion siehe Insa Eschebach/Andreas Ehresmann: »Zeitschaften«. Zum Umgang mit baulichen Relikten ehemaliger Konzentrationslager. In: Petra Frank/Stefan Hördler (Hrsg.): Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses. Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens. Berlin 2005, S. 110–120. 40 Kritisch diskutiert bei Norbert Frei: Die Zukunft der Erinnerung. Geschichtswissenschaft, Gedenkstätten, Medien. In: Knigge/Frei (Anm. 37), S. 389–409, hier S. 390–392; Norbert Frei: Einleitung. In: Ders. (Anm. 14), S. 7–21, hier S. 7. 41 Vgl. hierzu: Detlev Hoffmann: Das Gedächtnis der Dinge. In: Ders.: Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945–1999. Frankfurt a. M./New York 1998, S. 6–35; ders.: Die Problematik der Mahn- und Gedenkstätten auf den Plätzen ehemaliger Konzentrationslager im Nachkriegsdeutschland. In: Borsdorf/Grütter (Anm. 16), S. 267–283; Knigge (Anm. 37), S. 26; Matthias Heyl: »Forensische Bildung« am historischen Tat- und Bildungsort – Ein Plädoyer gegen das Erspüren von Geschichte. In: Bernd Overwien/ Christian Geißler (Hrsg.): Elemente einer zeitgemäßen politischen Bildung. Berlin 2010, S. 189–202.
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sondern ganz allgemein das Ausstellen von Geschichte und insbesondere der NS-Historie betrifft.42 Vielmehr geht es um zwei andere Grenzziehungen, die vor allem die Darstellbarkeit von NS-Gesellschaftsgeschichte betreffen und die durch die Präsentationsfixierung auf authentische Orte erfolgen. Betrachtet man noch einmal die Ortsbezogenheit der Vermittlung an Geschichtsorten, so sind deren unbestrittene Nuclei die historischen Topographien selbst. Das dortige Zeigen von Geschichte ist also immer ortsbezogen und dient der Entschlüsselung und Einbettung in historische Zusammenhänge. Für ein Millionenpublikum führen die Spuren damit ausschließlich, oder zumindest in den allermeisten Fällen, zu besonders herausgehobenen Orten des »Dritten Reiches«. Zu den Tatorten der Massenverbrechen, Orten wichtiger politischer Entscheidungen oder den Hauptschauplätzen der Regimeinszenierung. Dazu zählen etwa die Topografie des Terrors auf dem Gelände des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes, das NS-Dokumentationszentrum auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, das ELDE-Haus in Köln, ehemals Gestapodienststelle und Gefängnis, oder die KZ-Gedenkstätten Dachau und Buchenwald, um nur einige der besucher_innenstärksten Einrichtungen zu nennen. Die korrespondierenden, topografiebezogenen Schwerpunktthemen NS-Verbrechen und Propaganda bilden zweifellos ein wesentliches Fundament der NSDiktatur und damit besonders wichtige Aspekte der Geschichte des »Dritten Reiches« ab, aber eben längst nicht alle. Alltag und Alltäglichkeit, die eher schleichenden Politisierung des täglichen Lebens, das komplizierte Wechselverhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in einer Diktatur mit weitgehendem Durchherrschungsanspruch43, die leiseren und sublimeren Methoden der Zustimmungsgenerierung, Vergemeinschaftung und Unterwanderung, alles das sind Themen, die im Ausstellungskontext zwar behandelt werden können, aber in der Perzeption des historischen Gesamtensembles eine eher periphere Rolle spielen. Die dortige Darstellung der NS-Geschichte bezieht sich neben der Inszenierung von Politik notwendigerweise vorwiegend auf die Erfahrungen und Erlebnishorizonte der Opfer oder auf die Täter_innen und weiteren Akteur_innen, auf mögliche Ursachen für das Mitmachen oder Wegsehen bei den zahlreichen Gewaltaktionen des Regimes. So kann es ganz generell schwer werden, zwischen Volksgemeinschaft und Gesellschaft im Nationalsozialismus zu unterscheiden. Es kann der Eindruck eines permanenten Entweder-Oder, 42 Gerade dieser Einfluss auf die Rezeption wird daher ausführlich und kritisch diskutiert beispielsweise bei Charles S. Maier : Die »Aura« Buchenwald. In: Knigge/Frei (Anm. 37), S. 347–361; Heyl (Anm. 41); Knigge (Anm. 37), S. 32; Haug (Anm. 10), S. 11f., S. 41–45; Kößler (Anm. 33), S. 73. 43 Vgl. hierzu etwa Andreas Wirsching: Privatheit. In: Winfried Nerdinger (Hrsg.): München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München. München 2015, S. 443–449.
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Mitmachen oder Stigmatisierung und Verfolgung entstehen. Die in der Forschung hervorgehobenen komplexen Kommunikations- und Aushandlungsprozesse, die vielfältigen Formen individuellen Handelns und die ausgesprochen heterogenen Alltagswelten, die offensichtlich in Verbindung mit oder parallel zu den Gewaltexzessen der Nationalsozialisten existierten, können aus dem Blick geraten.44 Die Ausstellung am historischen Ort hat zudem Einfluss auf die bereits angedeutete Art der Präsentation. Nicht die museale Inszenierung von Sammlungsstücken, sondern ortsflankierende Information durch Faktenvermittlung prägt die Darstellungsmodi in München und andernorts.45 Häufig entstanden, um unter dem Motto »nicht vergessen!« die NS-Vergangenheit unter den zahlreichen Umnutzungen, Überformungen und Verdrängungsstrategien zum Vorschein zu bringen, diente und dient die Informationsvermittlung dazu, Täter_innen, Taten und Opferschicksale aus den Überresten hervorzuholen und mit der Beweiskraft von Relikten und (Zeit-)Zeug_innenaussagen die Wahrheit der monströsen Taten und ihrer schrecklichen Folgen untermauern zu können. Genau darauf verweist ja die nicht nur historisch-pädagogisch, sondern auch juristisch und kriminologisch geprägte Begrifflichkeit und Herangehensweise. Auch deshalb wird an so genannten Täterorten häufig auf die Präsentation von deutungsoffenen Objekten oder profanen Alltagsrealien verzichtet und bleibt die Präsentation von gesellschafts- und alltagsgeschichtlichen Themen auf einer eher abstrakten, zweidimensionalen Ebene. Selbst Ausstellungen, die sich der Präsentation von Dingwelten bedienen, wie etwa in der Wewelsburg bei Paderborn, arbeiten nach dem Motto »nicht verstecken, aber verdecken«, oder verzichten, etwa in Ravensbrück, auf die Präsentation von »Täterexponaten«, wie etwa Uniformen, um faszinierende Effekte und auratische Wirkungen zu vermeiden.46
44 Zu Forschungen und Kontroversen zum Thema »Volksgemeinschaft« auch Bernhard Gotto/ Martina Steber (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and private Lives. Oxford 2014. 45 Zur Ausstellungslandschaft und zur Genese der NS-Ausstellungen an den historischen Orten generell vgl. Lutz (Anm. 9), S. 17, 45, 130f. 46 Vgl. hierzu: Wulff E. Brebeck u. a. (Hrsg.): Endzeitkämpfer. Ideologie und Terror der SS. München 2011, S. 24. Zur Ausstellung in Ravensbrück: Alyn Beßmann/Insa Eschebach (Hrsg.): Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Geschichte und Erinnerung. Berlin 2013, hier insb. S. 11–22. Den Hinweis auf den Verzicht von Uniformen verdanke ich Sabine Arend.
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III Die durch die historischen Topografien gezogenen Grenzen verweisen schließlich auf Limitierungen der Geschichtsvermittlung, was wiederum mit der Dingbezogenheit von Ausstellungen zu tun hat; hier schließt sich also der Kreis. Mit erstaunlicher analytischer Tiefenschärfe werden in der Gedenkstättenlandschaft die Chancen und Grenzen des »Lernens aus der Geschichte« reflektiert.47 Weitgehend unbestritten ist dabei, dass die ortsbezogene Geschichtsvermittlung überhaupt Lernpotenziale birgt; unbestritten scheint auch der ethisch-normativ fundierte Vermittlungsanspruch, mit dem diese Potenziale ausgeschöpft werden können. In Bezug auf das Thema Volksgemeinschaft heißt das mit den Worten der Münchner Gutachter (in diesem Fall Frei und andere): durch das exemplarische Aufzeigen gesellschaftlicher Entwicklungen im Nationalsozialismus qua Ausstellung einen Lernprozess mit dem Imperativ »dass Auschwitz sich nicht wiederhole« aufzuzeigen.48 Offen gestaltete Lernsituationen bei einem geschlossenen System grundsätzlicher Aussagen, so lassen sich die Bildungswege und Ziele wohl zusammenfassen. Der offene und gleichzeitig geschlossene Bildungsanspruch ist mit dem Thema Volksgemeinschaft an den topografischen NS-Erinnerungsorten allerdings nur teilweise kompatibel. Die partielle Unvereinbarkeit zeigt sich bereits bei der Begrifflichkeit. Die Verwendung einer ideologischen NS-Propagandaund Selbstbeschreibungskategorie ist erklärungsbedürftig. Es gilt, die Funktion als historischen Analysebegriff genauso zu verdeutlichen wie die Sonden sichtbar zu machen, die die Implementierung der rassischen Verheißungsformel in die deutsche Gesellschaft zu messen im Stande sind. Volksgemeinschaft ist daher in hohem Maße auf Kontextualisierung angewiesen. Für ein nicht primär sprachbasiertes Medium liegt genau hier das Problem. Die mit dem Begriff Volksgemeinschaft verbundenen Massenverbrechen machen beim aktuellen Geschichtstransfer konsistente ethisch-moralische Maßstäbe notwendig. Um ihre Erklärungskraft entfalten zu können, bedürfen sie sowohl der historischen Kontexte des NS-Regimes als auch die der unverbrüchlichen Geltung gegenwärtiger Wertesysteme. So erklärt sich auch das offensichtliche Misstrauen gegenüber Charakteristika des Mediums Ausstellung und die Furcht vor Miss47 Vgl. beispielsweise Haug (Anm. 10); Gryglewski u. a. (Anm. 10); Lutz (Anm. 9), S. 255–299; Thimm/Kößler/Ulrich (Anm. 10); Cornelia Siebeck: Unterwegs verloren? In: Gedenkstättenrundbrief 177 (3/2015), S. 5–10; Oliver von Wrochem: Die zeitliche Distanz zu den NSVerbrechen als Herausforderung für die Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus. In: Gedenkstättenrundbrief 179 (10/2015), S. 3–14; Knigge (Anm. 10); besonders umstritten: Harald Welzer : Für eine Modernisierung der Erinnerungs- und Gedenkkultur. In: Gedenkstättenrundbrief 162 (8/2011), S. 3–9. 48 Kugelmann/Frei/Knigge (Anm. 1), S. 9.
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verständnissen in Bezug auf dahinterstehende Kernaussagen, wie sie in München und andernorts klar zur Geltung kommen. Und so gesehen ist der partielle oder vollständige Verzicht auf Dingwelten in der Ausstellung nur allzu verständlich; auf eine Exponatgruppe also, deren Entschlüsselung, wie bereits angedeutet, der »wilden Semiose« bedarf, des Augensinns und anderer sinnlicher Wahrnehmungen.49 Deren Deutungsoffenheit kann klar formulierten Aussageintentionen zweifellos eklatant zuwiderlaufen. Damit ist eine grundlegende Schwierigkeit der Ausstellung von NS- Gesellschafts- oder Kulturgeschichte an Täter_innen- oder Tatorten bereits benannt. Die häufig verwendeten Selbstbeschreibungen wie Lern- oder Erinnerungsort verweisen nach dem Ende der Zeitzeug_innenschaft, darauf hat Volkhard Knigge verwiesen, auf das »erinnert werden«, eine angemahnte Erinnerung, die einen Lerneffekt erzielen soll.50 Dieses Einschreiben von Lernzielen, die normative Aufladung, ist zwar angesichts der Monstrosität der Massenverbrechen verständlich, sie lassen sich aber mit den Mitteln einer Ausstellung nur schwer adäquat erreichen. In der jetzigen Erinnerungslandschaft sind es grundsätzliche Unvereinbarkeiten, oder »Paradoxien« bzw. »Aporien«, die die Vermittlungsarbeit an den Geschichtsorten prägen und sowohl als Limitierung als auch als Chancen wahrgenommen werden, da sie als diskursive Reibungsflächen zur kritischen Reflexion anregen können.51 Umso erstaunlicher mutet ein weiterer Befund an, der in eine ähnliche Richtung deutet und Rückschlüsse auf die theoretisch konzeptionellen Ungereimtheiten beim Thema Volksgemeinschaftsvermittlung qua Ausstellung zulässt. Den ausgereiften theoretischen Erörterungen in Bezug auf Gruppenarbeit und Quellenkritik steht ein auffälliges Desiderat hinsichtlich der Geschichtstransfers für die Mehrheit der Besucher_innen gegenüber. Dass es an vielen Orten vorwiegend Einzelbesucher_innen oder Gruppen sind, die ohne pädagogisches Begleitprogramm vor allem die baulichen Relikte und die Ausstellungen als Zeige- und Informationsmedien wahrnehmen, ist zwar unstrittig.52 Die empirisch gesättigten Studien beziehen sich allerdings zu einem Großteil auf 49 Vgl. Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick auf die Wilde Semiose. In: Hans U. Gumbrecht/Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988, S. 237–251; Gottfried Korff: Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen. In: Anke te Heesen/Petra Lutz (Hrsg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 89–107, hier S. 100. 50 Vgl. Knigge (Anm. 10), S. 5. 51 Hierzu grundlegend Haug (Anm. 10); Gryglewski u. a. (Anm. 10); Knigge (Anm. 10), S. 14f.; Thimm/Kößler/Ulrich (Anm. 10). 52 Vgl. vor allem die von Thomas Lutz erhobenen Daten: Lutz (Anm. 9), S. 49 und 143. Die Dokumentation Obersalzberg gehört beispielsweise zu den Einrichtungen, bei denen die Anzahl der Einzelbesucher_innen klar überwiegt.
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die pädagogische Arbeit mit Schulklassen.53 Ein fundiertes Konzept über das Zeigen von NS-Geschichte qua Ausstellung fehlt hingegen und ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch nicht Gegenstand intensiverer historisch-didaktischer Erörterungen.54 Erkenntniszielorientierte NS-Geschichtsvermittlung ja, das lässt sich daraus ableiten, aber (bisher) nur in der Gruppenarbeit mit intensiver Betreuung und nicht durch alleinige Präsentation qua Ausstellung. Zeigen alleine reicht offensichtlich nicht.
IV Zurück zur eingangs gestellten Frage: Wie und inwiefern Volksgemeinschaft adäquat ausgestellt werden kann, wo genau die Chancen und Grenzen des Zeigens von NS-Gesellschaftsgeschichte zu verorten sind, kann angesichts dieser Desiderate nur angemessen beantwortet werden, wenn einige wesentliche Forschungs- und Erkenntnislücken geschlossen worden sind. Bisher liegt weder fundiertes Wissen über die Wahrnehmung und Perzeption auf Seiten der Ausstellungsbesucher_innen vor, noch Erkenntnisse darüber, mit welchen Mitteln musealer Darstellung welche Erkenntnisziele erfolgversprechend angestrebt werden können. In Bezug auf die besonders kritisch diskutierten Dingwelten in NS-Ausstellungen lassen einzelne Ergebnisse der Besucher_innenforschung und der Erfolg derjenigen Ausstellungen, die sich dreidimensionaler Objekte bedienen, allerdings bereits einige Annahmen zu. Bei aller nachvollziehbaren Kritik an möglichen Trivialisierungs- und Auratisierungseffekten durch das Zeigen vermeintlich profaner Alltagsdinge oder Propagandautensilien sollten die Chancen nicht übersehen werden, die der »epistemische« Charakter der Dinge eröffnet. Als Bedeutungsträger können sie helfen, zur Reflexion über Dimensionen der materiellen Kultur und der Materialisierung von Politik anzuregen. Sie sind nicht nur Exponate, sondern kulturhistorische Quellen, die gerade mit Blick auf alltags- und gesellschaftsgeschichtliche Themen Hinweise geben können: auf die Gegenstandsbeziehungen gewöhnlicher Leute, auf ihre »Aneignungsbiografien«, auf den Zusammenhang von materieller Kultur, gesellschaftlicher Machtbeziehungen und Herrschafts53 So beispielsweise Haug (Anm. 10); Pampel (Anm. 10); dazu auch: Robert Sigel: Schulische Bildung und ihre Bedeutung für die Gedenkstättenpädagogik. In: Gryglewski u. a. (Anm. 10); S. 44–55. 54 So auch das Gutachten von Kugelmann/Frei/Knigge (Anm. 1), S. 8; diese Tatsache betont auch das Europäische Kolleg Jena: Das 20. Jh. und seine Repräsentationen (Flyer). Arbeiten, die sich mit NS-Ausstellungen auseinandersetzen, analysieren bestehende Ausstellungen, legen aber keine Theorie des Zeigens von NS-Geschichte vor. So etwa Lutz (Anm. 9); PauflerGerlach (Anm. 4).
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praktiken in ihrer vergegenständlichten Form.55 Gerade Dinge im Sinne von Produkten sind und waren im NS-Regime auch und vor allem Teile symbolisch vermittelter Bedeutungssysteme, die kollektiven Sinn und soziale Integration stifteten.56 Spezifische Dimensionen von Alltag und Herrschaftsalltag in der NSDiktatur sind daher wohl nur durch das Zeigen von Dingen darstellbar und auch nur so zu entschlüsseln. Für diese Art der Perzeption bedarf es aber des intensiven Blicks und eben nicht des (partiellen) Verzichts auf Dingpräsentation oder des nur verdeckten Zeigens. Zieht man noch die offensichtliche Anziehungskraft dreidimensionaler Objekte auf die Besucher_innen in Betracht57, so kann das vorläufige Credo »keine Angst vor dem Objekt« lauten, auch und gerade bei Ausstellungen, die sich mit Themen von Alltag, Volksgemeinschaft, Gesellschaft und Täter_innen auseinandersetzen. Ausstellungen sind zwangsläufig Inszenierungen durch die Anordnung von Objekten im Raum. Sie sollen Schaulust wecken und Emotionen hervorrufen, die dann in kognitive Prozesse münden können. Deren Negation bedeutet eben auch ein Verzicht auf die Fundamentalprinzipien und die didaktischen Potenziale ausstellungsbezogenen Geschichtszeigens. Dass es für das »Wie« des Zeigens der intensiven theoretisch-konzeptionellen und didaktischen Reflexion bedarf, ist bereits hervorgehoben worden. Um Schieflagen in der Wahrnehmung zu vermeiden, wäre es freilich wünschenswert, in historisch-topografischer Hinsicht deutlich stärker auch solche Orte einzubeziehen, die in besonderem Maße auf Themenfelder wie Alltag und Volksgemeinschaft verweisen. Der Verzicht, im Regimemaßstab weniger prominente NS-Orte wie etwa die Neulandhalle in Schleswig-Holstein zu Geschichtsorten mit entsprechendem historischem Verweissystem zu entwickeln, ist daher besonders schmerzhaft. Schließlich sollte über die Verwendung des Begriffes Volksgemeinschaft in Ausstellungen noch intensiver nachgedacht werden. Gerade der diffuse Bedeutungsinhalt, die Deutungsoffenheit und inhaltliche Vielschichtigkeit, die in der Forschung als Chance wahrgenommen werden, sind in der notwendig verkürzten Form in Ausstellungen nur schwer zu transportieren. Volksgemeinschaft als Quellenbegriff und NS-Verheißungsformel ja, aber nicht als Kapitel oder Analyse- bzw. Zeigekategorie, auf diese Formel könnte man sich bei der Prä-
55 Ludwig (Anm. 24), S. 11–15; zum Erkenntnispotenzial der Alltagsdinge auch Andrea Hauser : Sachkultur oder materielle Kultur. In: Gudrun M. König (Hrsg.): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur. Tübingen 2005, S. 139–195. 56 Vgl. dazu in allgemein kulturwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive: Elfie Miklautz: Die Produktwelt als symbolische Form. In: König (Anm. 55), S. 43–61. 57 So zumindest das vorläufige Ergebnis einer nicht publizierten Besucher_innenstudie, die im Jahr 2016 von der Universität Salzburg zusammen mit der Dokumentation Obersalzberg durchgeführt wurde.
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sentation von NS-Gesellschaftsgeschichte im Ausstellungskontext eventuell einigen.
III. Vermittlungskonkretionen im schulischen Unterricht
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Die NS-Volksgemeinschaft in aktuellen Geschichtsschulbüchern? Empirische Befunde und pragmatische Konsequenzen
1.
Einleitung
Das Schulbuch nimmt seit jeher im Geschichtsunterricht eine zentrale Rolle ein.1 Obwohl ihm im Zuge des Aufkommens digitaler Medien schon mehrfach das Sterbeglöckchen geläutet wurde,2 ist es bis heute das Leitmedium für historisches Lernen im Klassenzimmer geblieben.3 Ganz anders verhält es sich dagegen mit der wissenschaftlichen Analysekategorie NS-Volksgemeinschaft. Lange Zeit galt die Volksgemeinschaft innerhalb der Historikerzunft als bloßes Propagandakonstrukt.4 Wer heutzutage wissenschaftlich über die NS-Zeit arbeitet, wird den Begriff dagegen kaum umgehen können – als eine »der wirkungsmächtigsten Formeln in der nationalsozialistischen Massenbewegung«5 ist er mitt1 Vgl. Falk Pingel: Geschichtslehrbücher zwischen Kaiserreich und Gegenwart. In: Paul Leidinger (Hrsg.): Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen. Stuttgart 1988, S. 242–260. 2 Waldemar Grosch z. B. übte 2001 eine Fundamentalkritik an herkömmlichen Schulbüchern und plädierte für ein alternatives Schulbuch auf einem elektronischen Datenträger. Vgl. Waldemar Grosch: Das Schulbuch der Zukunft. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Wie weiter? Zur Zukunft des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2001, S. 136–155. 3 Vgl. Ulrich Baumgärtner : Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule. Paderborn 2015, S. 152–156; Ursula A. J. Becher : Schulbuch. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. 6., erw. Aufl. Schwalbach/ Ts. 2011, S. 45–68; Michael Sauer : Medien im Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 85–91. 4 Vgl. etwa Hans Mommsen: Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung. In: Walter H. Pehle (Hrsg.): Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen. Frankfurt a. M. 1990, S. 31–46; Bernd Weisbrod: Der Schein der Modernität. Zur Historisierung der Volksgemeinschaft. In: Karsten Rudolph/Christl Wickert (Hrsg.): Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen der Demokratie. Festschrift für Helga Grebing. Essen 1995, S. 224–242; Heinrich A. Winkler: Vom Mythos der Volksgemeinschaft. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 17 (1977), S. 484–490. 5 Hans-Ulrich Thamer : Nation als Volksgemeinschaft. Völkische Vorstellungen, Nationalso-
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lerweile zum analytischen Leitbegriff der Geschichtswissenschaft zur Erforschung gesellschaftlicher Entwicklungen im Nationalsozialismus avanciert. Im Fokus von Studien über die NS-Volksgemeinschaft stehen, so Michael Wildt, »die Vielfältigkeit von Handlungsweisen, von Mit-Tun wie Sich-Abwenden, Bereitwilligkeit wie Widerwille, Anpassungsbereitschaft wie Begeisterung, Sich-Distanzieren wie ›Dem-Führer-Entgegenarbeiten‹ […] als soziale Praxis«.6 Blickt man in einen einschlägigen, von Frank Bajohr und Michael Wildt bereits im Jahr 2009 herausgegebenen Sammelband, wird diese Vielfalt schnell offenbar. Das Spektrum reicht etwa von Prozessen der Inklusion und Exklusion in der NSDAP7 über Handlungsspielräume von Frauen8 bis hin zu verschiedenen Wahrnehmungsmustern von Menschen in Luftschutzkellern.9 Während Befürworter_innen des Volksgemeinschaftskonzepts auf die Vorteile dieser prinzipiellen Anschlussfähigkeit nach fast allen Seiten verweisen, stören sich Kritiker_innen gerade an dieser Ubiquität und Vagheit und halten deshalb den analytischen Gehalt des Begriffs für die Erforschung der NS-Diktatur nur für begrenzt tragfähig.10
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zialismus und Gemeinschaftsideologie. In: Jörg-Dieter Gauger/Klaus Weigelt (Hrsg.): Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation. Bonn 1990, S. 112–128, hier S. 113. Michael Wildt: Volksgemeinschaft. Eine Antwort auf Ian Kershaw. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), S. 102–109, hier S. 107. Vgl. Armin Nolzen: Inklusion und Exklusion im »Dritten Reich«. Das Beispiel der NSDAP. In: Frank Bajohr/Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009, S. 60–77. Vgl. Sybille Steinbacher : Differenz der Geschlechter? Chancen und Schranken für die »Volksgenossinnen«. In: Bajohr/Wildt (Anm. 7), S. 94–104. Vgl. Dietmar Süß: Der Kampf um die »Moral« im Bunker. Deutschland, Großbritannien und der Luftkrieg. In: Bajohr/Wildt (Anm. 7), S. 124–143. Vgl. zur Diskussion über die Tragfähigkeit des Ansatzes u. a. Ulrich Herbert: Echoes of the Volksgemeinschaft. In: Martina Steber/Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives. Oxford 2014, S. 60–69; Ian Kershaw: »Volksgemeinschaft«. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 59 (2011), H. 1, S. 1–17; Detlef Schmiechen-Ackermann: »Volksgemeinschaft«. Mythos der NS-Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? – Einführung. In: Ders. (Hrsg.): »Volksgemeinschaft«. Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte. Paderborn 2012 (Nationalsozialistische »Volksgemeinschaft«. Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung, Bd. 1), S. 13–53; Martina Steber u. a.: Volksgemeinschaft und die Gesellschaft des NS-Regimes – Diskussion. In: VfZ 62 (2014), H. 3, S. 433–467; Janosch Steuwer : Was meint und nützt das Sprechen von der »Volksgemeinschaft«? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. In: AfS 53 (2013), S. 487–534; Michael Wildt: »Volksgemeinschaft« – eine Zwischenbilanz. In: Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hrsg.): »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013 (Nationalsozialistische »Volksgemeinschaft«. Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung, Bd. 4), S. 355–369.
Die NS-Volksgemeinschaft in aktuellen Geschichtsschulbüchern?
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Ich gestehe, dass ich bei der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Probleme hatte – Probleme insofern, als sich angesichts der Themenvielfalt, die mittlerweile unter dem Volksgemeinschaftsbegriff untersucht worden ist, unweigerlich die Frage stellte, was eigentlich in den Lehrwerken genau zu untersuchen sei. Sollten in Anlehnung an den oben zitierten Sammelband die Schulbuchdarstellungen zur »Partei«, zu »Frauen« oder zum »Bombenkrieg« im Fokus stehen?
2.
Methodisches Vorgehen
Im Zuge der Analyse habe ich mich für ein methodisches Vorgehen entschieden, das vom Register des Schulbuches ausgeht, in dem bekanntermaßen verschiedene Namen, Begriffe oder Ähnliches verzeichnet sind. Drei Fragen stehen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses: – Wo beziehungsweise in welchen thematischen Unterkapiteln taucht der Begriff Volksgemeinschaft überhaupt auf ? – Wird der Begriff – im Glossar oder in der Randspalte der jeweiligen Seite – erklärt? – Wie steht es um die didaktische Umsetzung des Konzeptes zur Erklärung der Gesellschaft unter der NS-Diktatur? Als empirische Grundlage dient ein Sample von vier aktuell für die Sekundarstufe I des Gymnasiums zugelassenen Lehrwerken in den niedersächsischen Länderausgaben der wichtigsten Schulbuchverlage: »Das waren Zeiten« (C.C. Buchner),11 »Forum Geschichte« (Cornelsen),12 »Geschichte und Geschehen« (Klett)13 und »Horizonte« (Westermann)14. Alle Bücher entsprechen dem modernen Typus des kombinierten Lehr- und Arbeitsbuches, für den eine (mehr oder minder) klare Trennung von Darstellungs- und Materialteil konstitutiv ist.15 Die von den Schulbuchautor_innen geschriebenen Verfasser_innentexte informieren dabei zusammenhängend über ein historisches Thema, wobei sie 11 Vgl. Dieter Brückner/Harald Focke (Hrsg.): Das waren Zeiten. Neue Ausgabe Niedersachsen. Unterrichtswerk für Geschichte an Gymnasien. Sekundarstufe I. Bd. 4: Deutschland, Europa und die Welt von 1871 bis zur Gegenwart. Bamberg 2010. 12 Vgl. Hans-Otto Regenhardt (Hrsg.): Forum Geschichte 9/10. Niedersachsen. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Berlin 2010. 13 Vgl. Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 6. Ausgabe für Bremen und Niedersachsen. Stuttgart 2011. 14 Vgl. Ulrich Baumgärtner/Hans-Jürgen Döscher/Klaus Fieberg (Hrsg.): Horizonte 3. Geschichte Gymnasium Niedersachsen. Schuljahrgänge 9 und 10. Braunschweig 2010. 15 Vgl. Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 10., erneut akt. u. erw. Aufl. Seelze 2012, S. 255.
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den Forschungsstand in gebündelter Form darstellen sollen. Die Arbeitsteile wiederum sollen zur Akzentuierung und Vertiefung der Informationen aus dem Verfasser_innentext beitragen: Schüler_innen sollen sich selbstständig anhand von Quellen (Texten, Bildern) und Darstellungen (Historiker_innentexten, Geschichtskarten, Statistiken, Schaubildern, Zeitleisten etc.) mit der Geschichte auseinandersetzen und zu begründeten historischen Urteilen kommen.16 Bevor die Ergebnisse der Schulbuchanalyse vorgestellt werden, sollen noch zwei notwendige Bemerkungen zur Gattung »Schulbuch« vorangestellt werden: Wer Schulbücher analysiert und die von ihnen transportierten Geschichtsbilder17 bewertet, muss die Charakteristika und Spezifika dieses Mediums berücksichtigen. Es darf erstens nicht vergessen werden, dass der Raum, der Schulbuchautor_innen für die Abfassung ihrer Texte und den Abdruck von Quellen und Darstellungen zur Verfügung steht, notwendigerweise begrenzt ist. Niemals wird ein Schulbuch daher die in der Fachwissenschaft bis ins kleinste Detail vorgetragenen Erkenntnisse in Gänze wiedergeben können.18 Hinzu kommt, dass Schulbücher die Fortschritte der Fachwissenschaft aufgrund der branchenüblichen Produktions- und Distributionsprozesse nur mit einem gewissen Timelag zur Kenntnis nehmen können.19 Zweitens darf die von einem Schulbuch primär angesprochene Zielgruppe bei der Analyse nicht aus den Augen verloren werden: Geschichtsschulbücher werden eben nicht für ausgebildete Historiker_innen an Universitäten, sondern für Schüler_innen mit wenigen bis gar keinen Vorkenntnissen geschrieben. Statt sich also in den Verästelungen der Wissenschaft zu verrennen, muss es vornehmlich um historische Orientierung in Raum und Zeit gehen. Die für die jungen Leser_innen meist unbekannten Inhalte müssen zudem insoweit ele16 Vgl. zu den Bestandteilen moderner Schulgeschichtsbücher ausführlich Bernd Schönemann/Holger Thünemann: Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis. Schwalbach/Ts. 2010, S. 81–98. 17 Vgl. Marko Demantowsky : Geschichtsbild. In: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik. 3. Aufl. Schwalbach/Ts. 2014, S. 82–83. 18 Vgl. Ernst Hinrichs: Zur wissenschaftlichen Angemessenheit von Schulbuchtexten. Beispiel: Geschichtsbücher. In: K. Peter Fritzsche (Hrsg.): Schulbücher auf dem Prüfstand. Perspektiven der Schulbuchforschung und Schulbuchbeurteilung in Europa. Frankfurt a. M. 1992 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Bd. 75), S. 97–105. 19 Vgl. Heike Hessenauer: Die Produktion von Schulbüchern – Zwischen rechtlichen Vorgaben und unternehmerischem Kalkül. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. 2. Aufl. Berlin 2011 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 16), S. 265–282; Björn Opfer : Zwischen Markt, Politik und Wissenschaft. Wie entsteht ein Schulbuch für die gymnasiale Oberstufe? In: Martin Clauss/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Das Bild des Mittelalters in europäischen Schulbüchern. Berlin 2007 (Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 5), S. 117–124; Björn Opfer-Klinger/Nils Vollert: Echo aus der Praxis. Schulbuchschelte aus der Sicht eines Schulbuchredakteurs und eines Schulbuchautors. In: Zeitschrift für Genozidforschung. Strukturen, Folgen, Gegenwart kollektiver Gewalt 14 (2013), H. 1/2, S. 70–103.
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mentarisiert werden, als sie ihrem altersspezifischen Erfahrungs- und Verständnishorizont angemessen sind.20
3.
Empirische Befunde
Wo beziehungsweise in welchen thematischen Unterkapiteln taucht in den exemplarisch untersuchten Schulbüchern der Begriff Volksgemeinschaft überhaupt auf ? Die Vokabel ist im Kontext ganz unterschiedlicher Themen der Lehrwerke präsent. Mit mindestens einer Nennung im Verfasser_innentext kommt Volksgemeinschaft in Schulbuchkapiteln im Kontext von Machtübernahme und -festigung,21 von Ideologie und Weltanschauung,22 von Verfolgung der Juden und Jüdinnen sowie anderer Minderheiten,23 von Alltagsleben während der NS-Diktatur,24 von Kindheit und Jugend25 und Frauen im Nationalsozialismus26 vor. Der Begriff Volksgemeinschaft kann folglich je nach Lehrwerk eine mehr oder weniger starke Präsenz bei der thematischen Vermittlung von Nationalsozialismus für sich beanspruchen. Es fällt indes auf, dass die Vokabel ausschließlich in solchen Schulbuchkapiteln Verwendung findet, in denen die Phasen der Formierung und Konsolidierung nationalsozialistischer Herrschaft zwischen 1933 und 193827 aufbereitet sind. In den Abschnitten dagegen, die über den Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden, den militärischen Kriegsverlauf, die nationalsozialistische Besatzungspolitik, den Widerstand oder Flucht und Vertreibung, also über den Zeitraum von 1939 bis 1945 informieren, wird das Wort Volksgemeinschaft in keinem der Werke gebraucht. Wie oft ein manifestes Element im Schulbuch – hier das Wort Volksgemeinschaft – vorkommt, sagt naturgemäß noch relativ wenig über dessen Bedeutung aus. Es wäre gewiss eine vorschnelle Annahme, dass ihm aufgrund seines häu20 Vgl. Joachim Rohlfes: Schulgeschichtsbücher (Stichworte zur Geschichtsdidaktik). In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 45 (1994), S. 460–465, hier S. 462. 21 Vgl. Forum Geschichte (Anm. 12): Kapitel »Machtsicherung und ›Gleichschaltung‹«, S. 132f. 22 Vgl. Das waren Zeiten (Anm. 11): Kapitel »Was will die NSDAP?«, S. 132–135; Geschichte und Geschehen (Anm. 13): Kapitel »Die Ideologie des Nationalsozialismus«, S. 20–25; Horizonte (Anm. 14): Kapitel »Die Weltanschauung der Nationalsozialisten«, S. 150–153. 23 Vgl. Geschichte und Geschehen (Anm. 13): Kapitel »Diffamierung, Ausgrenzung, Pogrom«, S. 36–39. 24 Vgl. Das waren Zeiten (Anm. 11): Kapitel »Die Bevölkerung wird verführt«, S. 141–143 und Kapitel »Überwachung – Verfolgung – Widerstand«, S. 146–149; Horizonte (Anm. 14): Kapitel »Verführung und Gewalt«, S. 154–159. 25 Vgl. Horizonte (Anm. 14): Kapitel »Die Hitlerjugend«, S. 160–163. 26 Vgl. Forum Geschichte (Anm. 12): Kapitel »Frauen in der ›Volksgemeinschaft‹«, S. 150f. 27 Vgl. Norbert Frei: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945. Neuausgabe. München 2013, der die Entwicklung des »Dritten Reiches« in drei Phasen teilt: Formierung 1933–1934, Konsolidierung 1935–1938 und Radikalisierung 1938–1945.
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figen Auftretens in der Zeitspanne von 1933 bis 1938 eine Schlüsselrolle im Schulbuch zukommt.28 Gefragt wurde daher, ob die Schulbuchautor_innen ihren Leser_innen Erläuterungen des Begriffs anbieten. Dies ist insofern interessant, als es sich bei Volksgemeinschaft um einen amorphen und vagen Terminus handelt und in der Forschung bisher keineswegs von einem einheitlichen Gebrauch die Rede sein kann. Welche geschichtswissenschaftlichen Überlegungen haben also bisher Einzug in die Lehrwerke erhalten? Zunächst ist zu konstatieren, dass alle Lehrwerke, mit Ausnahme von »Geschichte und Geschehen«, versuchen, Volksgemeinschaft im Glossar oder in der Randspalte des Verfasser_innentextes definitorisch zu fassen. Gleichwohl widmen die Autor_innen dieses Klett-Buches der Volksgemeinschaft einen separaten Abschnitt im Verfasser_innentext, in dem es heißt: »Die Nationalsozialisten propagierten eine auf rassischen Prinzipien beruhende Gesellschaft. Die der arischen Rasse angehörenden ›Volksgenossen‹ sollten in einer sogenannten ›Volksgemeinschaft‹ leben, in der es keine sozialen Ungleichheiten geben sollte. In dieser Gemeinschaft sollten weder Herkunft, Bildung, Vermögen, Beruf usw. noch die Interessen und Wünsche des Einzelnen oder von Gruppen eine Rolle spielen. ›Du bist nichts, Dein Volk ist alles!‹ und ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz!‹ lauteten die entsprechenden Parolen. Um die ›Volksgemeinschaft‹ zu stärken, wurden auch sozialpolitische Maßnahmen eingeführt. So linderten beispielsweise die Sammlungen der Organisation ›Winterhilfswerk‹ die Not der von Arbeitslosigkeit und Armut betroffenen Menschen. Und mit der NS-Freizeitorganisation ›Kraft durch Freude‹ (KdF) fuhren Millionen Menschen erstmals, wenn auch nur für wenige Tage, in Urlaub. Dies alles setzte einerseits das NS-Regime in ein gutes Licht und verbesserte andererseits auch die Lebensqualität vieler Menschen. Ähnlich verhielt es sich mit anderen Freizeitangeboten der KdF. Zugleich wurden diese Maßnahmen mit der Werbung für die ideologischen Ziele der Partei verbunden. Ganz selbstverständlich waren aus der Volksgemeinschaft sogenannte ›Fremdvölkische‹ und ›Volksschädlinge‹ ausgeschlossen. Dazu zählten die Nationalsozialisten neben Juden oder Sinti und Roma auch Behinderte, Homosexuelle, ›Asoziale‹ und politische Gegner«.29
Das sogenannte »Minilexikon« von »Horizonte« erläutert: »Volksgemeinschaft. In der Ideologie des Nationalsozialismus wurde stets die ›rassisch verbundene Volksgemeinschaft‹ beschworen, die über Klassengegensätzen stehen und sich dem ›Führer‹ unterordnen sollte. Da die Nationalsozialisten entschieden, wer zu ihr zählen sollte, war die Volksgemeinschaft ein Instrument zur Ausgrenzung von Minderheiten und zur Brandmarkung politischer Gegner«.30
28 Vgl. Etienne Schinkel: Schulbuchanalyse (Stichworte zur Geschichtsdidaktik). In: GWU 65 (2014), S. 482–497, hier S. 492. 29 Geschichte und Geschehen (Anm. 13), S. 20f. 30 Horizonte (Anm. 14), S. 365.
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In einem Kasten auf der Themenseite »Das Ideal der ›Volksgemeinschaft‹« von »Forum Geschichte« findet sich folgende abstrakte Worterklärung: »Die Nationalsozialisten verstanden unter diesem Begriff eine ›Bluts- und Schicksalsgemeinschaft‹, in der Standesgegensätze, Klassen, Parteien und Einzelinteressen aufgehoben werden sollten und sich die Gemeinschaft dem Willen eines Führers unterordnete. In ihrer Struktur war die Idee der ›Volksgemeinschaft‹ antipluralistisch und antidemokratisch«.31
Die aus dieser Definition sich möglicherweise für Schüler_innen ergebenden Verständnisschwierigkeiten32 sollten allerdings nicht allzu negativ ins Gewicht fallen, da im Verfasser_innentext auf derselben Seite folgende Information zu finden ist: »Im Zentrum der NS-Ideologie stand der Gedanke der ›Volksgemeinschaft‹, in der alle gesellschaftlichen Gruppen verschmelzen sollten. Nicht in die ›Volksgemeinschaft‹ gehörten diejenigen, die zum politischen Gegner erklärt oder aus rassistischen Gründen ausgegrenzt wurden«.33
»Das waren Zeiten« bietet am Ende der Themeneinheit »Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg« unter der Überschrift »Was war wichtig? – Überprüfe deine Kompetenz!« ein ganzes Sammelsurium von Wissensbeständen, die sich die Schüler_innen merken sollen. Diese Kapitelzusammenfassung des Lehrwerks – das sei nur nebenbei bemerkt – mutet vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren innerhalb der Geschichtsdidaktik intensiv geführten Debatte über fachspezifische Schülerkompetenzen nachgerade absurd an. Anstelle eines Angebots zur eigenständigen Rekapitulation werden haufenweise Daten (»Wiederhole die Daten!«), Begriffe (»Merke dir die Begriffe!«) und Namen (»Behalte die Namen!«) mit jeweils kurzen Erläuterungen aufgelistet, anhand derer die Schüler_innen ihre erworbenen Kompetenzen überprüfen sollen. Diese Forderung ist aber von ihnen gar nicht einzulösen, handelt es sich hier
31 Forum Geschichte (Anm. 12), S. 149. 32 Dass die von Schulbuchautor_innen verfassten Texte – ganz zu schweigen von den Quellentexten – von der jungen Leserschaft nicht genau verstanden werden, kann als gesicherter empirischer Befund gelten. Vgl. Bodo von Borries (unter Mitarbeit von Andreas Körber und Johannes Meyer-Hamme): Reflexiver Umgang mit Geschichts-Schulbüchern? Befunde einer Befragung von Lehrern, Schülern und Studierenden 2002. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (ZfGD) 2 (2003), S. 114–136; Gerhard Henke-Bockschatz: Viel benutzt, aber auch verstanden? Arbeit mit dem Schulgeschichtsbuch. In: Geschichte lernen 20 (2007), H. 116, S. 40–45; Johannes Meyer-Hamme: »Man muss so viel lesen. […] Nimmt so viel Zeit in Anspruch und ist nicht so wichtig«. Ergebnisse einer qualitativen und quantitativen Schülerbefragung zum Schulbuchverständnis. In: Handro/Schönemann (Anm. 19), S. 89–103. 33 Forum Geschichte (Anm. 12), S. 149.
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doch schlichtweg um Sachwissen zum Auswendiglernen.34 Zu Volksgemeinschaft stellen die Autor_innen folgende Definition auf: »›Volksgemeinschaft‹: nach der völkischen Weltanschauung und Propaganda die soziale Einheit aller Deutschen unabhängig von Stand, Beruf und Konfession. Gemäß den rassistischen Vorstellungen der Anhänger der NSDAP zählten zur ›Volksgemeinschaft‹ weder Juden, Roma und Sinti, noch Homosexuelle und ›Asoziale‹. Ihnen allen sagten die Nationalsozialisten den ›Kampf‹ an. Sie misshandelten und ermordeten sie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern«.35
Die Zitate lassen erkennen, dass alle Bücher auf zwei wesentliche Aspekte der Forschung rekurrieren: Volksgemeinschaft sei erstens eine propagandistische Floskel gewesen, in der die Nationalsozialist_innen alle gesellschaftlichen Unterschiede aufgehoben sahen. Die Beschwörung und Realisierung der Volksgemeinschaft seien zweitens mit einer für die Nationalsozialist_innen notwendigen Scheidung zwischen Nicht-»Volksgenoss_innen« und »Volksgenoss_innen« verbunden gewesen. Stets habe ein Nebeneinander von Vergemeinschaftungsund Exklusionspolitik existiert. Aus den Definitionen selbst lässt sich dagegen nicht entnehmen, dass die Ideologie der Volksgemeinschaft für große Teile der Bevölkerung eine enorme Anziehungskraft besaß, etwa weil sie dem/der Einzelnen – oft auf Kosten der Ausgeschlossenen – berufliche Aufstiegschancen und materielle Gewinne versprach. »Das waren Zeiten«, »Geschichte und Geschehen« und »Horizonte« nutzen den Begriff zwar prominent in den Zwischenüberschriften einzelner Kapitel36 oder drucken in den Arbeitsteilen Quellen zu Inklusions- und Exklusionsprozessen ab, »echte« didaktische Arrangements aber, in denen Volksgemeinschaft in den Mittelpunkt zur Erklärung gesellschaftlicher Aspekte gerückt wird, sind nicht vorhanden. So stoßen die Schüler_innen zum Beispiel im Kapitel »Ver34 Vgl. zur geschichtsdidaktischen Kompetenzdebatte u. a. Michele Barricelli/Peter Gautschi/ Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 207–235; Franziska Conrad: »Alter Wein in neuen Schläuchen« oder »Paradigmenwechsel«? Von der Lernzielorientierung zu Kompetenzen und Standards. In: GWU 63 (2012), S. 302–323; Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 38–66; Wolfgang Hasberg: Von PISA nach Berlin. Auf der Suche nach Kompetenzen und Standards historischen Lernens. In: GWU 56 (2005), S. 684–702; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005, S. 24–52; Bernd Schönemann/ Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Berlin 2010 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 4); Waltraud Schreiber : Ein KompetenzStrukturmodell historischen Denkens. In: Zeitschrift für Pädagogik 54 (2008), S. 198–212. 35 Das waren Zeiten (Anm. 11), S. 191. 36 Vgl. ebd., S. 133 u. S. 146; Geschichte und Geschehen (Anm. 13), S. 20f.; Horizonte (Anm. 14), S. 151 u. S. 154.
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führung und Gewalt« bei »Horizonte« auf die höchst interessante Gegenüberstellung zweier Quellen (Abb. 1) aus dem umfangreichen touristischen Freizeitprogramm der NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude«, welche aber beide relativ isoliert zu den anderen im Arbeitsteil gebotenen Materialien stehen:
Abb. 1: Quellenarrangement zu Volksgemeinschaft und »KdF« aus »Horizonte«, S. 157.
Anders dagegen verfährt »Forum Geschichte«: Hier erheben die Autor_innen für das Kapitel »Leben in der nationalsozialistischen Diktatur« die Volksgemeinschaft zur Leitkategorie, mit der die gesellschaftliche Dimension des Nationalsozialismus für die Schüler_innen fassbar werden soll. Angeboten wird der Vorschlag für eine Gruppenarbeit, die unter der Hauptfragestellung »Die ›Volksgemeinschaft‹ – zwei Gesichter?« steht. Als Materialbasis für die arbeitsteilige Bearbeitung stehen den Lernenden fünf Doppelseiten mit unterschiedlichen Themen zur Verfügung: 1. Frauen in der Volksgemeinschaft, 2. Freizeit im NS-Staat, 3. Jugend im Nationalsozialismus, 4. Das Jugend-KZ Moringen und 5. Propaganda und Politik gegen Juden.37 Konsequenterweise wird ein multiper-
37 Vgl. Forum Geschichte (Anm. 12), S. 148–159.
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spektivischer Ansatz verfolgt,38 der sowohl integrative als auch ausgrenzende Formen der Volksgemeinschaft umfasst. Anhand der Gegenüberstellung von zwei Quellen (Abb. 2) im Unterkapitel »Jugend im Nationalsozialismus« ist dies gut erkennbar : Zum einen bieten die Schulbuchmacher_innen einen Auszug aus den Erinnerungen eines »arischen« Jugendlichen an seine Zeit in der »Hitler-Jugend«. Diese Zeit wird von ihm aufgrund der Kameradschaft unter den Jugendlichen, der Fahrtenerlebnisse und der als solchen wahrgenommenen Negation aller sozialen Unterschiede als sehr positiv dargestellt. Zum anderen stoßen die Schüler_innen auf den Abdruck einer wichtigen Textstelle aus den Erinnerungen des Afrodeutschen Hans-Jürgen Massaquoi, dem die Aufnahme in die »Hitler-Jugend« versagt blieb: Als »rassisch minderwertige« Person konnte er nicht Teil der Volksgemeinschaft sein.
Abb. 2: Quellenzusammenstellung aus »Forum Geschichte«, S. 155.
38 Vgl. zum Unterrichtsprinzip »Multiperspektivität« ausführlich Klaus Bergmann: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008.
Die NS-Volksgemeinschaft in aktuellen Geschichtsschulbüchern?
4.
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Pragmatische Konsequenzen
Bei der Formulierung pragmatischer Konsequenzen für die Schulbuchgestaltung müssen die eingangs angesprochenen, dem Medium innewohnenden Zwänge zur Komplexitätsreduktion stets mitgedacht werden. Das hat zur Folge, dass in Schulbüchern nicht der Platz sein kann, das gesamte Kaleidoskop der Volksgemeinschaftsforschung im Detail aufzubereiten. Allerdings haben natürlich auch die in der Schule Lernenden (und Lehrenden) einen Anspruch auf verlässliche Wissensvermittlung. Jörn Rüsen hat bereits vor knapp 25 Jahren zu Recht betont, dass ein Geschichtsschulbuch »dem Forschungsstand als einer Art ›Vetoinstanz‹ verpflichtet«39 sei; es dürfe trotz Verknappung des Umfangs »keine historischen Interpretationen präsentieren, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand widersprechen«40. Welche – auch tatsächlich umsetzbaren – Kriterien müsste ein Geschichtslehrwerk folglich beachten, damit von einer angemessenen Aufbereitung der Volksgemeinschaft im Sinne der aktuellen fachwissenschaftlichen Diskussion gesprochen werden kann? Die folgenden Empfehlungen beschränken sich auf die Ausgestaltung der Verfasser_innentexte, weil diese als »Derivate von Historiographie«41 das wichtigste Transportmedium fachwissenschaftlicher Erkenntnisse darstellen. Zentral erscheinen mir vier Punkte: Zunächst muss aus den Verfasser_innentexten eindeutig hervorgehen, dass sich seinerzeit die große Mehrheit der Bevölkerung mit dem Nationalsozialismus identifizierte. Die Akzeptanz des Regimes beruhte – neben der Person Adolf Hitlers – maßgeblich auf der von den Nationalsozialist_innen propagierten Volksgemeinschaft. Die Beschwörung und Versprechung von Egalität, die vermeintlichen und realen wohlfahrtsähnlichen Maßnahmen oder das Gefühl, Anteil an einer heroischen Zeit des Wiederaufstiegs zu haben, besaßen enorme Anziehungskraft. Die Bewunderung für das (außen-)politische Geschick des »Führers« und das durch die propagierte Volksgemeinschaft gestiftete veränderte Lebensgefühl sind neben der Beseitigung von Arbeitslosigkeit, der – angesichts der Verbrechen der Nationalsozialist_innen grotesk anmutenden – Bekämpfung von Kriminalität, der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung, den (bescheiden) wachsenden Konsummöglichkeiten sowie dem Bau von Autobahnen auch Aspekte, die in retrospektiven Befragungen ehemaliger »Volksgenoss_innen« immer wieder geäußert wurden.42 Gewiss: Wenn die deutsche 39 Jörn Rüsen: Das ideale Schulbuch. Überlegungen zum Leitmedium des Geschichtsunterrichts. In: Internationale Schulbuchforschung 14 (1992), S. 237–250, hier S. 247. 40 Ebd. 41 Hans-Jürgen Pandel: Was macht ein Schulbuch zu einem Geschichtsbuch? Ein Versuch über Kohärenz und Intertextualität. In: Handro/Schönemann (Anm. 19), S. 15–37, hier S. 19. 42 Vgl. Arnulf Kutsch: Einstellungen zum Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit. Ein
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Gesellschaft in den Blick gerät, kann die Forderung nach Differenzierung nur richtig sein. Aber dies darf nicht dazu führen, die typische Mehrheitsmeinung zu vernebeln. So betont etwa Hans-Ulrich Wehler im Rahmen seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte«, es stehe »außer Zweifel, daß die Führerherrschaft in den sechs Friedensjahren des ›Dritten Reiches‹ eine stürmisch wachsende, schließlich enthusiastische Zustimmung aus der deutschen Gesellschaft erfahren hat«.43 Zweitens: Der Begriff Volksgemeinschaft sollte nicht als bloße Propagandafloskel abgetan werden. Zwar blieben bekanntlich die meisten Versprechungen leere Phrasen44 und das Regime verstand es nur allzu gut, den Traum von der Volksgemeinschaft immer wieder gezielt zu aktualisieren, etwa wenn unter größten organisatorischen und choreographischen Anstrengungen in Nürnberg der »Reichsparteitag«45 oder auf dem südlich von Hameln gelegenen Bückeberg das »Reichserntedankfest«46 theatralisch in Szene gesetzt wurden. Aber es ist auch richtig, dass in einigen Bereichen die sozial- und gesellschaftspolitischen Maßnahmen der Nationalsozialist_innen nicht nur hohle Propaganda waren. Man denke an die Ehestandsdarlehen, mit denen der Staat jungen Paaren einen zinslosen Zuschuss von bis zu 1.000 Reichsmark für den Kauf der Haushaltseinrichtung gewährte,47 oder die von »Kraft durch Freude« veranstalteten Reisen, mit denen hunderttausende »Volksgenoss_innen« erstmals in ihrem Leben
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Beitrag zu den Anfängen der Meinungsforschung in den westlichen Besatzungszonen. In: Publizistik 40 (1995), S. 415–447; Karl-Heinz Reuband: Das NS-Regime zwischen Akzeptanz und Ablehnung. Eine retrospektive Analyse von Bevölkerungseinstellungen im Dritten Reich auf der Basis von Umfragedaten. In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 315–343; Malte Thießen: Erinnerungen an die »Volksgemeinschaft«. Integration und Exklusion im kommunalen und kommunikativen Gedächtnis. In: Schmiechen-Ackermann (Anm. 10), S. 319–334; Malte Thießen: Schöne Zeiten? Erinnerungen an die »Volksgemeinschaft« nach 1945. In: Bajohr/Wildt (Anm. 7), S. 165–187. Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. München 2003, S. 675. Das Paradebeispiel war der Propagandafeldzug für den »KdF-Wagen«. Das Versprechen eines preisgünstigen Volks-Automobils veranlasste 336.000 Menschen zu wöchentlichen Vorschuss-Ratenzahlungen an die DAF. Da das Volkswagenwerk ab 1939 seine Produktion auf den Kriegsbedarf umstellte und nun in erster Linie der Anfertigung von Rüstungsgütern (Flugzeugteile, Flugbomben, Minen und geländegängige »Kübelwagen«) diente, erhielt kein Sparer ein eigenes Auto. Vgl. Hans Mommsen/Manfred Grieger : Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996, S. 179–202. Vgl. Markus Urban: Die Konsensfabrik. Funktion und Wahrnehmung der NS-Reichsparteitage 1933–1941. Göttingen 2007. Vgl. Bernhard Gelderblom: Die Reichserntedankfeste auf dem Bückeberg 1933–1937. 2., überarb. Aufl. Hameln 2008. 1.000 Reichsmark entsprachen etwa sechs bis sieben Monatslöhnen einer Arbeiterfamilie. Die Darlehensschuld konnte »abgekindert« werden. Pro Neugeborenem wurde den Eheleuten ein Viertel des Kredits erlassen. Vgl. Frei (Anm. 27), S. 99.
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in den Urlaub fahren konnten.48 Natürlich sollte es auch im Geschichtsunterricht darum gehen, ein realitätsgerechtes Bild der Verhältnisse während der NSDiktatur zu zeichnen. Hierfür ist es gleichsam unabdingbar, dass in den Schulbüchern diese »verheißungsvollen« Seiten der NS-Herrschaft ausreichend zur Geltung kommen. Wie, so könnte man in Anlehnung an Norbert Frei fragen, sollen Schüler_innen denn sonst verstehen, dass »sich die Ideologie der ›Volksgemeinschaft‹ für weite Teile der Bevölkerung, auch der Arbeiterschaft, als tragfähig und sogar attraktiv zu erweisen schien«?49 Drittens: Besondere Akzentuierung muss das unbestreitbare Faktum erfahren, dass Volksgemeinschaft immer auch »Ausgrenzungsgemeinschaft« bedeutete.50 »Das Konzept der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsutopie«, so formulierte Detlev Peukert bereits 1982 treffend, »zielte auf die Formierung einer ideologisch homogenen, sozial angepaßten, leistungsorientierten und hierarchisch gegliederten Gesellschaft mit den Mitteln der Erziehung der ›gut Gearteten‹ und der ›Ausmerze‹ der angeblich ›Ungearteten‹«.51 Schüler_innen müssen erkennen können, dass das NS-Regime – aller Inklusionsrhetorik zum Trotz – von Anfang an eine radikale und zunehmend tödliche Ungleichheitspolitik betrieb. Hinweise darauf, dass wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen wie die Ehestandsdarlehen oder die »KdF«-Reisen den als »gemeinschaftsfremd« und »fremdvölkisch« diffamierten Menschen per definitionem verschlossen blieben, sind daher unabkömmlich. Wer nicht dem Rassendogma der Nationalsozialist_innen entsprach, wurde aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Aus gewiss nachvollziehbaren und notwendigen Gründen stellen aktuelle Schulbücher vor allem das Schicksal der jüdischen Minderheit in den Fokus. In den letzten Jahren haben mitunter ebenfalls die »Euthanasie-Opfer« eine deutliche Aufwertung erfahren.52 Angesichts des notorischen Platzmangels, unter dem alle Lehrwerke leiden, wäre es verfehlt, die ebenso ausführliche Behandlung anderer 48 Vgl. Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus. Göttingen 2008, S. 93–94. 49 Norbert Frei: »Volksgemeinschaft«. Erfahrungsgeschichte und Lebenswirklichkeit in der Hitler-Zeit. In: Ders.: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. Erw. Taschenbuchausgabe. München 2009, S. 121–142, hier S. 127f. 50 Vgl. Volksgemeinschaft – Ausgrenzungsgemeinschaft. Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933. 4. Internationale Konferenz zur Holocaustforschung. Eine Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit der Universität Flensburg und der Humboldt-Universität zu Berlin 27.–29. Januar 2013 in Berlin. Eine ausführliche Dokumentation der Konferenz kann unter folgender Website abgerufen werden: http://www.bpb. de/veranstaltungen/dokumentation/153320/4-konferenz-2013 (aufgerufen am 07. 02. 2016). 51 Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982, S. 295. 52 Vgl. Susanne Popp: Anmerkungen zur Darstellung von Opfergruppen des Nationalsozialismus in aktuellen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht. In: Gerhard Fritz (Hrsg.): Landesgeschichte und Geschichtsdidaktik. Festschrift für Rainer Jooß. Schwäbisch Gmünd 2004, S. 105–119.
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Opfergruppen einzufordern. Dennoch muss es zum Standard eines jeden Geschichtsschulbuches gehören, weitere von den Nationalsozialist_innen diskriminierte, verfolgte und getötete Personengruppen (z. B. Sinti und Roma, Kommunist_innen, Sozialdemokrat_innen, »Pazifist_innen«, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Kriminelle, Vorbestrafte, Landstreicher_innen, Bettler_innen, Prostituierte, Zuhälter_innen oder Alkoholiker_innen) zumindest zu nennen. Nicht zuletzt könnte so der noch immer weitverbreiteten wie vereinfachenden Vorstellung der alles integrierenden und homogenisierenden Volksgemeinschaft entgegengewirkt werden. Viertens: Es sollte gezeigt werden, dass der gewaltsame Ausschluss der »Anderen« vielen Menschen Möglichkeiten der persönlichen Profilierung, Bereicherung und Vorteilsnahme bot. Insbesondere die Politik des staatlich verordneten Antisemitismus stieß – sei es aufgrund ideologischer Dispositionen oder handfester materieller Interessen – bei einem beträchtlichen Teil der Volksgemeinschaft auf positive Resonanz. An Beispielen mangelt es wahrlich nicht: Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 und diverse Folgeerlasse führten zur Vertreibung jüdischer Beamten, Rechtsanwälte und Ärzte aus ihren Berufen, boten aber gleichzeitig exzellente Karrierechancen vor allem für jüngere »Volksgenossen« die diese zu nutzen verstanden.53 Evident wird die Partizipation gewöhnlicher Deutscher an der Exklusionspolitik ebenso, wenn die »Arisierungen« in den Blick geraten. Von der Möglichkeit zum Erwerb neuer Besitztümer zu Schleuderpreisen bei gleichzeitiger Ausschaltung der unliebsamen jüdischen Konkurrenz machten nachweislich unzählige »Volksgenoss_innen« Gebrauch.54 Persönliche Bereicherung erfolgte ebenfalls während der im gesamten Reichsgebiet im Anschluss an die Deportationen stattfindenden öffentlichen Versteigerungen von Einrichtungs- und Wertgegenständen aus jüdischem Besitz. Unzählige Deutsche ersteigerten neben Möbeln, Kunstgegenständen oder Kleidungsstücken tausende nützlicher Kleinigkeiten, welche die Deportierten zurücklassen mussten.55 Schließlich beschränkte sich auch die physische Gewalt gegen die Jüdinnen 53 Vgl. Robert Gellately : Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk. Stuttgart/München 2002, S. 43–48. 54 Vgl. Frank Bajohr : »Arisierung« und wirtschaftliche Existenzvernichtung in der NS-Zeit. In: Arno Herzig/Cay Rademacher (Hrsg.): Die Geschichte der Juden in Deutschland. Hamburg 2007, S. 224–231. 55 Die teilweise tumultartigen Ansammlungen von »Volksgenoss_innen« bei der Versteigerung von Hausrat deportierter Jüdinnen und Juden sind durch zahlreiche Fotografien dokumentiert. Vgl. Klaus Hesse: Bilder lokaler Judendeportationen. Fotografien als Zugänge zur Alltagsgeschichte des NS-Terrors. In: Gerhard Paul (Hrsg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, S. 149–168; Klaus Hesse/Philipp Springer : Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz. Essen 2002, S. 135–176; Andreas Nachama/Klaus Hesse (Hrsg.): Vor aller Augen. Die Deportation der Juden und die Versteige-
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und Juden keineswegs auf aktivistische und militante Partei-, SA- oder SS-Leute, sondern ging häufig genug von einfachen »Volksgenoss_innen« aus.56 Die Ergebnisse diverser empirischer Studien älteren und jüngeren Datums deuten darauf hin, dass Schüler_innen aufgrund des Einflusses mündlicher Überlieferungen im Verwandten- und Bekanntenkreis sowie kommerzieller Angebote der Geschichtskultur zu einer weitgehenden Viktimisierung der Täter_innen und Exkulpation der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung des Nationalsozialismus neigen. Nicht selten konstruieren die Lernenden aus Täter_innen Opferfiguren, aus Mitläufer_innen Unbeteiligte und aus Zuschauer_innen Unwissende.57 Diese Geschichtsvorstellungen liegen natürlich quer zu den Ergebnissen der Fachwissenschaft. Dem Geschichtsunterricht wiederum gelingt offenbar bisher nicht, diese – simplifizierenden und besorgniserregenden – Deutungsmuster der Heranwachsenden zu korrigieren. Ein Schulgeschichtsbuch, in dem Teile der hier angestellten Überlegungen in Zukunft verstärkt ihren Niederschlag finden, könnte Abhilfe schaffen, zumal ein Lehrwerk angesichts seiner dominanten Stellung in der Unterrichtspraxis zumindest theoretisch entscheidenden Einfluss auf die historische Bewusstseinsbildung ganzer Alterskohorten hat.
rung ihres Eigentums. Fotografien aus Lörrach 1940. Berlin 2011 (Topographie des Terrors – Notizen, Bd. 1). 56 Vgl. Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007. 57 Vgl. Bodo von Borries: Nationalsozialismus in Schulbüchern und Schülerköpfen. Quantitative und qualitative Annäherungen an ein deutsches Trauma-Thema. In: Markus Bernhardt/Gerhard Henke-Bockschatz/Michael Sauer (Hrsg.): Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen. Festschrift für Ulrich Mayer zum 65. Geburtstag. Schwalbach/Ts. 2006, S. 135–151; Christoph Hamann: »Uropa war ein Guter«. Retten und Überleben im Nationalsozialismus als Thema des Geschichtsunterrichts. In: Beate Kosmala/Claudia Schoppmann (Hrsg.): Überleben im Untergrund. Hilfe für Juden in Deutschland 1941–1945. Berlin 2002 (Solidarität und Hilfe. Rettungsversuche für Juden vor der Verfolgung und Vernichtung unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bd. 5), S. 381–393; Manuel Köster : Vom Holocaust lesen. Textverstehen im Spannungsfeld von Darstellungstext und Identitätsbedürfnissen. In: ZfGD 11 (2012), S. 116–130; Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke: Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsunterricht. Erste empirische Befunde und theoretische Schlussfolgerungen. In: Dies. (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt a. M. 2004 (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 11), S. 95–146; Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M. 2002; Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin 2007 (Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 2).
Christian Mehr
NS-Volksgemeinschaft im Geschichtsunterricht: Der Spielfilm »Napola – Elite für den Führer«
Unterricht verspricht dann spannend zu werden, wenn Schüler_innen Widersprüche feststellen. Auch bei dem Thema NS-Volksgemeinschaft können sie auf Ungereimtheiten stoßen: »zum Beispiel Hitler, der war ja auch nicht blond und blauäugig, sondern hatte auch braune Haare. Warum war er dann sozusagen der Obermacker?« (Z. 419–422).1 Diese originale Schüleräußerung scheint typisch für den Geschichtsunterricht, wenn es darum geht, die Ideologie des Nationalsozialismus im Spiegel der damaligen gesellschaftlichen Realität zu erschließen.2 Das Zitat macht dabei auf die spannungsreiche Verknüpfung gegenteiliger Gesichtspunkte aufmerksam: auf der einen Seite das phänotypische Idealbild der »arischen Rasse« (»blond und blauäugig«) und auf der anderen Seite die Uneindeutigkeit rassischer Kriterien in der gesellschaftlichen Praxis. Damit geht auf Schüler_innenseite auch das Unverständnis einher, warum damals die Menschen einer heute offensichtlichen Manipulation und Verführung auf den Leim gingen. Lässt sich, so ist zu fragen, überhaupt die nationalsozialistische Vision der Volksgemeinschaft 1 W., T.: Unterrichtstranskript einer Geschichtsstunde an einer Integrierten Gesamtschule (10. Klasse, Realschulzweig). Stundenthema: »Napola – Eine Elite für den Führer«. PDF-Dokument (1 Datei), 24 Seiten, 2011, URL: https://archiv.apaek.uni-frankfurt.de/2307 (aufgerufen am 03. 09. 2015). Alle folgenden Zitate der Stunde sind aus diesem im Internet zugänglichen Transkript entnommen und mit Zeilenangaben zitiert. 2 Entgegen der Behauptung des Schülers hatte Hitler blaue Augen, so zumindest die Wahrnehmung mancher Zeitgenossen (vgl. Percy E. Schramm: Adolf Hitler – Anatomie eines Diktators. In: Der Spiegel, Nr. 5 vom 29. 1. 1964, S. 40. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-46162899.html (aufgerufen am 03. 09. 2015); Edgar Feuchtwanger : Als Hitler unser Nachbar war. Erinnerungen an meine Kindheit im Nationalsozialismus. München 2014, S. 108). Das Schülerzitat wiederholt trotzdem sinngemäß ein Argument der damaligen politischen Gegner Hitlers. So wendete bereits der Journalist Fritz Gerlich 1932 den Rassenkatalog des Eugenikers Hans Friedrich Karl Günther auf Hitlers Erscheinungsbild an und beabsichtigte auf diese Weise die Widersinnigkeit des Nationalsozialismus zu entlarven. Hitler verkörpere nämlich eine »ostisch-mongolische Rassemischung«. Zitiert nach: Tobias Ronge: Das Bild des Herrschers in Malerei und Grafik des Nationalsozialismus: Eine Untersuchung zur Ikonografie von Führer- und Funktionärsbildern im Dritten Reich. Berlin 2010, S. 243.
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verstehen, nicht im entschuldigenden Sinne, aber eben doch im objektivierenden, und in seiner ganzen Widersprüchlichkeit auch für Schüler_innen nachvollziehen? Für diesen Fragehorizont soll im Folgenden die Fruchtbarkeit des Begriffs Volksgemeinschaft als Analysekonzept für den Geschichtsunterricht ausgelotet werden. In diesem Beitrag geht es dabei vorrangig um die Wahrnehmung und das Geschichtsbewusstsein der Schüler_innen im Unterricht. Was können sie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Nationalsozialismus verstehen lernen, wenn das Analysekonzept der Volksgemeinschaft in den Geschichtsunterricht Eingang fände? Um zu rekonstruieren, ob und wie mit den verschiedenen Dimensionen3 des Begriffs Volksgemeinschaft umgegangen werden kann, analysiere ich einzelne Sequenzen eines Unterrichtstranskripts4. Die ausgewählte Unterrichtsstunde fokussiert auf das Thema der Erziehung Jugendlicher im Nationalsozialismus. Dafür hat die Lehrerin sich den historischen Spielfilm »Napola – Elite für den Führer« als Anschauungsmaterial gewählt. So sollen Einblicke in den Alltag und das Leben von Jugendlichen gewährt und damit auch prinzipiell die Lebenswelt heutiger Jugendlicher angesprochen werden. Dies beteuert zumindest die Lehrerin während der Stunde, denn die Durchführung des Themas geschehe auch auf Wunsch der Schüler_innen (»Das ist ja das, was ihr eigentlich auch, ja, gewünscht habt; was euch interessiert hat, wie war denn das Leben« Z. 234–237). Unabhängig von dieser behaupteten Schüler_innenorientierung sind zunächst zwei Fragen zu klären: Inwiefern hängen die »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten« mit dem Thema NS-Volksgemeinschaft zusammen und inwiefern kann der Film »Napola – Elite für den Führer« hierbei einen Dienst im Unterricht leisten?
3 Zum Analysekonzept der »Volksgemeinschaft« und den fünf Dimensionen dieses Begriffs vgl. auch den Beitrag von Martina Steber/Bernhard Gotto in diesem Band sowie Dies.: Volksgemeinschaft im NS-Regime: Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 62 (2014), S. 433–445. 4 Die Auswertung der Unterrichtssequenzen erfolgt in Anlehnung an die Methode der objektiven Hermeneutik. Vgl. dazu Christian Mehr : Objektive Hermeneutik und Geschichtsdidaktik. In: Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Unterrichtsforschung. Schwalbach/Ts. 2015 (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 5), S. 149–176.
NS-Volksgemeinschaft im Geschichtsunterricht
1.
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Ist das Thema »Napola« geeignet für die Einführung des Begriffs Volksgemeinschaft?
In den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (kurz: Napola) sollte die »Elite« einer Generation für Führungsaufgaben indoktriniert werden.5 Ursprünglich waren 100 solcher Internatsschulen geplant gewesen, von 1933 bis Kriegsende hatten schließlich 43 den Betrieb aufgenommen, drei davon für Mädchen; rund 6000 Schüler sind im Jahr 1942 gezählt worden. Die direkt dem Reichserziehungsminister unterstellten Schulen gerieten zunehmend unter den Einfluss der SS, in ihr oder der Wehrmacht strebten die meisten Absolventen eine Offizierslaufbahn an. Wie die im Dritten Reich propagierte NS-Volksgemeinschaft waren auch die Napolas mehr idealisierte Verheißung als Wirklichkeit. Die Ablösung des überkommenen Bildungssystems durch Eliteschulen des Führerstaates (auch »Hitlerschulen«, »Ordensburgen«) war allenfalls eine Zukunftsvision, die bis Kriegsende nicht der Realität entsprach. Das galt auch für die Zusammensetzung der Schülerschaft als egalitärer Gemeinschaft. Im Vergleich mit anderen, konventionellen Gymnasien fanden zwar Arbeiter- und Bauernkinder bereitwilliger Aufnahme an einer Napola, es ergab sich dennoch kein repräsentatives Abbild der Gesellschaft. Rund 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler kamen aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu, ihr gesamtgesellschaftlicher Anteil betrug dagegen 55 Prozent. Hier wie anderswo legten mehrheitlich Beamten- und Angestelltenkinder das Abitur ab. Die Voraussetzungen für die Aufnahme an einer Napola waren vergleichsweise großzügig: Nicht einmal die Zugehörigkeit zur HJ gehörte lange Zeit zu den Bestimmungen; Eltern sollten, so hieß es lediglich, »›möglichst‹ der Partei angehören«.6 Das zu bezahlende Schulgeld war sozial gestaffelt (bis zu 1200 Reichsmark, umgerechnet ca. 6000 Euro jährlich) und konnte bei Erhalt eines Stipendiums ganz entfallen. So sehr also diese Schulen darauf abzielten, möglichst viele Interessent anzuziehen, so rigoros waren die sich anschließenden Auswahlverfahren. Von 2000 Bewerber wurden beispielsweise an der Napola Plön zum Schuljahr 1934/ 35 nur 120 zur Auswahlprüfung zugelassen, von denen wiederum lediglich 70 die 5 Zur allgemeinen Geschichte der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten vgl. Harald Scholtz: NS-Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates. Göttingen 1973; Horst Ueberhorst (Hrsg.): Elite für die Diktatur. Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten 1933–1945. Ein Dokumentarbericht. Düsseldorf 1969. In der neueren Literatur findet sich vor allem ein von pädagogischen Erkenntnisinteressen geleiteter Blick auf Eliteschule des Nationalsozialismus: Barbara Feller/Wolfgang Feller: Die Adolf-Hitler-Schulen. Pädagogische Provinz versus Ideologische Zuchtanstalt. Weinheim/München 2001. Vgl. hierzu die Rezensionen von Wolfgang Keim in Zeitschrift für Pädagogik 48 (2002), S. 804–808 und von Gisela Miller-Kipp in Bildung und Erziehung 56 (2003), S. 114–118. 6 Vgl. Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: 1914–1949. München 2003, S. 776. Die hier referierten Statistiken sind ebenfalls von dort entnommen.
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sportliche und die »rassische« Prüfung bestanden.7 Die Auserwählten durften sich also schon aufgrund dieses Verfahrens als Privilegierte fühlen. Die Gleichzeitigkeit von Exklusion und Inklusion gilt allgemein als ein wichtiges Merkmal der NS-Volksgemeinschaft.8 Dies gilt auch für die Napolas, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen versprach die Aufnahme an einer Napola soziale Aufstiegschancen und damit die Überwindung von Klassengegensätzen. Der strenge Auswahlmodus schuf jedoch selbst wiederum eine Elite mit entsprechendem Dünkel. Es ist eine der vermeintlichen Paradoxien der Volksgemeinschaft sowie der Napolas, dass gerade die (angeblich) egalitäre Gemeinschaft einer strengen Hierarchie und der Anführer bedurfte. Dazu passt, dass die Schulform des Internats die Schüler zunächst weitgehend von der Gemeinschaft abkapselte, der sie einmal bedingungslos dienen sollten. Zum anderen entfaltete das Gemeinschaftsleben innerhalb der Schule eine eigene Dynamik: Differenzen und Ungleichheiten bei gleichzeitiger Inklusion einer Mehrheit waren auch hier fest institutionalisiert. Die Erzieher bekleideten unterschiedliche hierarchische Ränge (Zugführer, Hundertschaftsführer); Demütigungen und Ausgrenzungen einzelner Schüler waren an der Tagesordnung.9 Die Jugendlichen sollten durch paramilitärisches Training ein Gemeinschaftsideal nicht nur als Zukunftsversprechen, sondern zumindest teilweise als bereits erlebbare Wirklichkeit erfahren können: »Volksgemeinschaft lernte man durch praktisches Einüben.«10 Diese Handlungsdimension gilt auch für die Napola und das Erziehungswesen im Dritten Reich: »Das Geheimnis der Erziehung liegt also weniger im Unterrichten als im Vorleben.«11 In einem klassenlosen und solidarischen Zusammenleben waren Schüler an Nationalpoliti7 Vgl. Matthias Paustian: Die Nationalpolitische Erziehungsanstalt Plön 1939–1945. In: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 26 (1994), S. 3–100, hier S. 28; verfügbar unter http://www.akens.org/akens/texte/info/26/20.html (aufgerufen am 03. 09. 2015). 8 Vgl. Steber/Gotto (Anm. 3), S. 440f. 9 Zeitzeugen wie Hellmuth Karasek erinnern sich an entsprechende Vorgänge: »Mir hat besonders nachträglich imponiert, wie man eigentlich zum Sadismus erzogen werden sollte. Ich war ein sehr unordentlicher Mensch, am Abend hatte ich meinen Spind nicht richtig gebaut, die Wäsche nicht auf Kante und nicht geordnet und dann kam der Zugführer, so hieß der Klassenlehrer, bei der Inspektion durch das Zimmer, da waren sechs, sieben Jungs, Jungmannen wie das hieß und hat mit einem Stiefel alle Fächer hochgehoben, so dass die Sachen durcheinander fielen, dann musste ich sie wieder aufbauen und während dieser ganze Zeit mussten die sechs anderen, die ihren Spind gut gebaut hatten, da stehen und mir zusehen.« So Karasek im Deutschlandfunk: http://www.deutschlandfunk.de/napola-wolltezum-sadismus-erziehen.694.de.html?dram:article_id=61774 (aufgerufen am 03. 09. 2015). Vgl. auch die psychoanalytisch orientierten Befragungen ehemaliger Napola-Schüler in: Christian Schneider/Cordelia Stillke/Bernd Leineweber : Das Erbe der NAPOLA. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. 2. Aufl. Hamburg 1997, hier S. 104. 10 Steber/Gotto (Anm. 3), S. 441. 11 Zitiert nach Paustian (Anm. 7), S. 25.
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schen Erziehungsanstalten zu Höchstleistungen, insbesondere sportlichen, angehalten. Das Erziehungsprogramm rückte körperliche und biologische Qualitäten ins Zentrum der Aufmerksamkeit und entsprach damit auch wesentlichen Attributen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Die Erziehungsanstalten bildeten, sehr verkürzt gesagt, somit die Ideale und das Wesen der Volksgemeinschaft in nuce ab: eine permanente Dynamik von Exklusion und Inklusion, biologistische Legitimation, die Verheißung einer klassenlosen Gesellschaft und aufopfernde Leistungsbereitschaft der/des Einzelnen für eine völkische Gemeinschaft. Das Thema »Nationalpolitische Erziehungsanstalten« scheint auf den ersten Blick also durchaus geeignet, zu dem Begriff Volksgemeinschaft als Analysekonzept hinzuleiten.
2.
Welche Möglichkeitshorizonte eröffnet der Film »Napola – Elite für den Führer« im Unterricht?
Sowohl in der transkribierten Unterrichtsstunde einer zehnten Realschulklasse (»Mein Leben ist nichts, das Leben der Volksgemeinschaft ist alles« Z. 575f.) als auch in didaktischen Handreichungen12 wird der Film »Napola – Elite für den Führer«13 als geeignetes Medium erachtet, in dessen Zusammenhang das Thema Volksgemeinschaft diskutiert werden kann. Darüber hinaus berührt auch er mehrere Dimensionen des Begriffs Volksgemeinschaft, wie sie oben bereits angedeutet wurden. Der 17jährige Friedrich, die Hauptfigur des Films, will die Chance ergreifen, sich als begabter Boxer aus den einfachen Lebensverhältnissen seiner Familie zu lösen. Er besteht die Aufnahmeprüfung für die fiktive Napola Allenstein, allein sein regimekritischer Vater, ein gläubiger Katholik aus dem Berliner Arbeitermilieu, verweigert sein Einverständnis zum Schulbesuch. Sein Sohn weiß sich nicht anders zu helfen, als die Unterschrift des Vaters zu fälschen, und nimmt nachts Reißaus von zu Hause. 12 »Der Film eignet sich gut für den Einsatz im Unterricht. Er lässt sich einbetten in eine Sequenz, die sich mit dem Menschenbild der Nationalsozialisten, den Erziehungsidealen und den Mechanismen der Gleichschaltung auseinander setzt. Denn dass die totale Gleichschaltung schon in Kindheit und Jugend beginnt, wird am Beispiel der Napola Allenstein schnell deutlich. Zentrale Themen, die sich in diesem Zusammenhang erarbeiten lassen, sind die Ideologie des Nationalsozialismus, der Mythos der Volksgemeinschaft, die Gleichschaltung der Jugend (HJ, BDM, Kraft durch Freude [KDF])« (http://www.lehreronline.de/napola). Vgl. auch Klaus Fieberg: Film-Tipp. Napola – Elite für den Führer. In: Praxis Geschichte 18 (2005), S. 55. Jonas Takors: Nationalsozialistische Indoktrination. Authentische Gefühle und erfundene Handlung im Spielfilm Napola. In: Geschichte lernen 158 (2014), S. 48–55. 13 Napola – Elite für den Führer, Deutschland 2004, Regie: Dennis Gansel, 110 Min., FSK: 12 Jahre.
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In dieser Hinsicht bringt der Film »Vergesellschaftungspraktiken und Individualitätsentwürfe zueinander in Beziehung«.14 Friedrich sieht sich neben dem schwelenden Generationenkonflikt einer Reihe weiterer Anforderungen ausgesetzt, um seine persönliche Zukunftsplanung in die Tat umzusetzen. Anfänglich ist der Protagonist Friedrich von der Kameradschaft und Solidarität der erlebten Gemeinschaft in der Napola begeistert. Seine Freundschaft zu Albrecht, dem privilegierten Sohn eines einflussreichen Gauleiters, wird jedoch zunehmend zu einer Bewährungsprobe. Albrecht, ein eher feinsinniger und stiller Charakter, lehnt die menschenverachtende Brutalität ab, die von seinem Vater und der Schule kultiviert und verherrlicht wird. Als er in einem Schulaufsatz offen die Tötung russischer Kriegsgefangenen-Kinder, an der die Schüler der Napola beteiligt waren, kritisiert, kommt es zum Eklat. Albrecht soll dem Willen seines Vaters nach sofort an die Ostfront eingezogen werden. Dem entzieht er sich durch den Freitod bei einer schulischen Manöverübung. An den Freunden Albrecht und Friedrich wird offensichtlich, dass Vergemeinschaftung und Ausgrenzung permanent neu ausgehandelt werden und alles andere als starr festgelegt sind: während der Arbeitersohn sich Anerkennung durch sein sportliches Talent erwirbt, wird der Sohn einer lokalen Nazigröße demontiert. Am Ende des Films folgt Friedrich dem Vermächtnis seines toten Freundes, indem auch er sich widersetzt, weil er keine Möglichkeit mehr sieht, sein Gewissen mit den von ihm geforderten Leistungen zu vereinbaren. Friedrich weigert sich in einem Boxkampf, auf einen bereits am Boden liegenden Gegner weiter einzuschlagen, und verliert absichtlich seinen letzten, wichtigsten Kampf. Friedrich wird der Schule verwiesen. Viele weitere Szenen des Films zeigen Exklusion und Inklusion in der Binnengemeinschaft der Napola-Schüler, zum Beispiel, wenn ein Bettnässer bloßgestellt wird, bei gleichzeitigen Vergemeinschaftungserlebnissen, wenn demselben, nun toten Mitschüler bei der Trauerfeier als Held gedacht wird. Die dramatische Umsetzung eines solchen Themas im Spielfilm folgt begreiflicherweise einer eigenen Logik, die sich zunächst nicht historischer »Wahrheit« oder einem bestimmten historisch-politischen Bildungsauftrag verpflichtet sehen muss, sondern auch auf Unterhaltung abzielt15. Gleichwohl 14 Steber/Gotto (Anm. 3), S. 437. 15 Insbesondere die Filmkritiken haben den Film danach bewertet, ob Nationalpolitische Erziehungsanstalten authentisch rekonstruiert und ob überhaupt Zwang und Verführung durch den Nationalsozialismus angemessen mit den ästhetischen Mitteln des (Kino-)Films dargestellt wurden. Dieser Beitrag verzichtet dagegen bewusst auf eine Fortführung der Filmkritik, wie sie in den Feuilletons großer Tageszeitungen nachzulesen ist, bspw.: Michael Kohler : Riefenstahl als Lackmustest. In: Frankfurter Rundschau vom 13. Januar 2005, S. 28; Claudia Schwartz: Pubertät im Dritten Reich. In: Neue Zürcher Zeitung vom 8. April 2005, S. 47; Andreas Kilb: Knallzarte Jungs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Januar
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suggeriert die Vorführung eines solchen Films im schulischen Kontext die Darbietung von etwas Authentischem. Insofern ist die Verwendung eines Spielfilms als Anschauungsmaterial ambivalent: Zum einen können die Schüler_innen der »Hollywoodisierung«16 historischen Lernens zumindest partiell erliegen, indem sie keine analytische Distanz zu Unterhaltung und Fiktion von historischen Spielfilmen aufbauen. In der zugrundeliegenden Unterrichtstunde ist tatsächlich zu fragen, welche Rolle das Medium Film für die Zuschauer_innen im Klassenraum spielt. Für die Lehrkraft, so hat es den Anschein, ist der Film die Botschaft: »In der heutigen Stunde wird es noch mal drum gehen zu gucken, was für Erziehungsvorstellungen und was für Bilder von Jugend gab’s im Dritten Reich« (Z. 1–3). Diese abstrakte Einführung dürfte für Schüler_innen einer zehnten Realschulklasse zunächst nur schwer mit konkreten Inhalten zu füllen sein. Der Film, so wird dagegen schnell klar, liefert aus Sicht der Lehrerin die dokumentarische Ergänzung und eine zutreffende Deutung des von ihr eingangs vorgetragenen Stundenthemas. Deshalb hält sich die Lehrerin auch vergleichsweise lange mit der Inhaltsangabe des Films auf. Dass in dieser Stunde weniger über den Film gesprochen werden als vielmehr der Film für sich selbst sprechen soll, bemerkt auch ein Schüler, der daran folgende Provokation anschließt: »Ich hab ne Frage: Können wir den Film gucken? Der ›Inglourious Basterds‹ oder so« (Z. 385f.). Die Zwischenfrage, die sofort von Mitschüler_innen aufgenommen wird, unterstellt die Austauschbarkeit von Filmvorführungen im Unterricht, die zudem der bloßen Unterhaltung dienten (»Der ist so geil« Z. 389). In diesem Fall unternimmt die Lehrerin auch nichts, diesem Eindruck entgegen zu wirken. Vielmehr scheint es sogar möglich, dass der kontrafaktische Kriegsfilm »Inglourious Basterds« tatsächlich noch als Belohnung im Unterricht zur Vorführung gelangen wird: »Können wir eventuell am Schluss, wenn wir so n bisschen weiter noch sind, ja? Dann können wirs uns ja noch angucken« (Z. 393–395). Damit weist die Lehrerin die Film2005, S. 31; Hans G. Pflaum: Härtetest der Geschichte. In: Süddeutsche Zeitung vom 13. Januar 2005, S. 12. 16 »Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher wird heute weniger von Schule und Unterricht als vielmehr von den Erscheinungen der sie umgebenden Geschichtskultur bestimmt, von der Unterhaltungsindustrie etwa oder von Einrichtungen der Kommunikationsmedien und des Tourismussektors. Insbesondere die Hollywoodisierung von Geschichte dominiert durch ihre suggestive und unterhaltende Form ebenso wie durch ihre immer undurchschaubarer werdende Mischung aus Phantasie, Fiktion und historischer ›Realität‹ das Bild der Jugendlichen, das sie sich von Vergangenheit machen, und marginalisiert zugleich die Bedeutung der Lernergebnisse im Unterrichtsfach Geschichte.« Reinhard Krammer : Paradigmenwechsel? Geschichte, politische Bildung und eine neue Herausforderung: Globalgeschichte. In: Globales Lernen – Nachhaltige Entwicklung. In: Globales Lernen – Politische Bildung. Beiträge zu einer nachhaltigen Entwicklung (hrsg. v. Forum Politische Bildung – Informationen zur Politischen Bildung, Bd. 23). Innsbruck u. a. 2005, S. 42. URL: http:// www.politischebildung.com/pdfs/itext_23.pdf (aufgerufen am 03. 09. 2015).
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zuschauer_innen implizit auf die erst noch zu leistende Anstrengung im Unterricht hin, denn erst wenn »wir weiter« sind, kann der Wunsch des Schülers nach Unterhaltung in Erfüllung gehen. Dass auch »Inglourious Basterds« im Unterricht als geschichtskulturelles Ereignis analysiert werden könnte, daran denkt in diesem Moment wohl niemand in der Klasse.17 Filmvorführung und Unterricht sind also dieser kurzen Diskussion nach zwei paar Schuhe. Mit dem Film »Napola« dagegen hofft zumindest die Lehrerin, im Unterricht »weiter« zu kommen, auch wenn sie nicht darüber aufklärt, inwiefern er historisches Lernen befördern soll oder kann. Trotz dieser Reduktion auf Geschichtsentertainment ist nicht abzustreiten, dass der Film »Napola – Elite für den Führer« Potential für eine Reihe von Gesprächsanlässen, Irritationen und Nachfragen birgt, die zu einer Überprüfung der Triftigkeit des Gesehenen führen können. Das machen insbesondere auch die Schüler_innenfragen (s. u.) deutlich.
3.
Die Unterrichtswirklichkeit: Konzepte und Fragen zum Begriff Volksgemeinschaft
Der Ablauf der rund 45 minütigen Unterrichtsstunde in einer zehnten Realschulklasse ist, wie bereits erwähnt, von der Nacherzählung des Filmgeschehens geprägt. Im Gespräch hält die Lehrerin fest, dass die Napola »die große Chance« (Z. 157) und ein »Sprungbrett« (Z. 615) für Friedrich darstelle, dessen Vater mit seiner Regimekritik jedoch Recht behalte. Im Verlauf der Stunde wird eher zusammenhanglos abgearbeitet, was alles zur Ideologie der Nationalsozialisten gehörte und durch den Film in Szene gesetzt wurde. Stichworte eines zusätzlich gelesenen Informationstextes sollen die Schüler_innen im Film »Napola« wiederfinden. Dazu gehören das Unterrichtsfach »Rassenkunde« und die Aufnahme der Napola-Schüler nach rassischen Merkmalen. Begriffe wie »Rasse«, »Vererbung« und Volksgemeinschaft werden anhand filmischer Impressionen abgehandelt. Ein kreativer Schreibimpuls bildet den abschließenden Arbeitsauftrag: Die Lernenden sollen einen Brief aus Sicht des Hauptdarstellers an seinen toten Freund verfassen. Das sorgt zum Stundenende für eine Diskussion in der Klasse, die die Logik hinterfragt, einem Toten einen Brief zu schreiben.
17 Ein Unterrichtsbeispiel dazu schlägt folgender Beitrag vor: Nils Vollert/Nils Osthues: Märchen oder Historienfilm. Inglourious Basterds als Beitrag zur NS-Erinnerungskultur. In: Geschichte lernen 158 (2014), S. 56–61.
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Das Konzept der Lehrerin Der Lehrerin ist durchaus bewusst, dass die Ideologie der Nationalsozialisten ein »Konstrukt« (Z. 415) ist, also einerseits nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht und andererseits trotzdem auf diese eine Auswirkung hat. Allerdings wird den Schüler_innen weder die Konstruiertheit als solche gezeigt, noch werden die Widersprüche thematisiert, die sich aus diesem Konstruktcharakter notwendigerweise ergeben müssen. Es bleibt bei einer bewertenden Einordnung, dass die behauptete Überlegenheit der »arischen Rasse natürlich Quatsch« (Z. 546) sei, wie sie sagt. Beschreibend sammelt sie im letzten Stundendrittel eine Reihe von »Erziehungszielen« (Z. 557) der Nationalsozialisten: Gehorsam, Kameradschaftsgefühl, Kaltherzigkeit, Härte, Mitleidslosigkeit und Opferbereitschaft gehören dazu. Die Lehrerin fasst zusammen: »Ja, also sich opfern für den Kameraden. Mein Leben ist nichts, das Leben der Volksgemeinschaft ist alles« (Z. 576). Der Film illustriere dies in einer Szene, in der sich ein Schüler auf eine explodierende Handgranate werfe, um seine Mitschüler zu retten. Ohne Übergang beendet die Lehrerin nun die Sammlung filmischer Impressionen und fragt recht unvermittelt: »Okay, wer von euch ist in irgend ner Jugendorganisation? Pfadfinder oder was weiß ich, irgendwie in der Kirche aktiv?« (Z. 601–603). Die Frage führt schließlich zu der Beobachtung, dass das Wir-Gefühl, »Einheit« und »Gleichheit« für Jugendliche attraktiv seien. So sei es schließlich auch für Friedrich gewesen, sodass neben seinen Karriereplänen auch Wohlgefallen an dem Gemeinschaftsgefühl als Motivation für sein Bemühen um Aufnahme an einer Napola in den Vordergrund getreten seien. In didaktischer Hinsicht sollen die Lernenden durch einen lebensweltlichen Bezug ein historisches Phänomen erschließen. Allerdings geschieht dies hier zu dem Preis, dass Vergemeinschaftungspraktiken als enthistorisierte Verführungsvehikel vorgeführt werden, zwischen den Schülern der Napola, insbesondere Friedrich, und heutigen Pfadfinder_innen oder Messdienern in der Kirche bestünde diesbezüglich nicht der geringste Unterschied, so als ob bloß der Katechismus ein anderer wäre. Da die Vorstellung einer gegenwärtigen Vergemeinschaftung zum Verständnis einer gesellschaftlichen Utopie der Nationalsozialisten führen soll, wird zudem zwischen den Begriffen »Gesellschaft« und »Gemeinschaft« nicht weiter differenziert. Diese für Schüler_innen sicherlich nur schwer nachvollziehbare Unterscheidung wäre jedoch zentral für das Verstehen der NS-Volksgemeinschaft.18 In meinem Fazit werde ich darauf zurück-
18 Zur Differenz von »Gemeinschaft«/»Volksgemeinschaft« und »Gesellschaft« vgl. a. Frank Bajohr/Michael Wildt: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen
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kommen, inwiefern eine Klärung sowohl der Historizität von Gemeinschaft als auch die Kenntnis der Bedeutungsdifferenz zu dem Begriff »Gesellschaft« nötig sind, damit Jugendliche in der Schule etwas über die NS-Volksgemeinschaft lernen können. Der Protagonist des historischen Spielfilms, so das Ergebnis des Unterrichts, wird durch Aufstiegschancen und die Erfahrung von Gleichheit zum Mitmachen verführt, bevor er schließlich durchschaut, welchen Zielen er eigentlich dient. Diesen Durchblick am Ende des Films sollen auch die Schüler_innen schriftlich festhalten, indem sie einen fiktiven Brief an den toten Albrecht schreiben. Ein Schüler trägt dabei folgenden Kurzbrief vor: »Lieber Albrecht. Ich bin von der Napola gegangen, da dein Tod mir die Augen geöffnet hat.« Die Lehrerin findet das »Wunderbar! Kurz aber prägnant.« Der Schüler daraufhin lachend: »Dein Friedrich« (Z. 788–791). Die NS-Ideologie, und mit ihr auch ein Begriff wie Volksgemeinschaft, ist in diesem Konzept der Lehrerin auf einen durchschaubaren Propagandainhalt reduziert.
Die Fragen der Schüler_innen Wie nicht anders zu erwarten, gibt es Schüler_innen, die das Konzept der Lehrerin antizipieren oder teilen. Dazu gehört beispielsweise Schülerin G. Sie deutet bereits zu einem frühen Zeitpunkt in der Stunde das Ende des historischen Spielfilms als Einsicht des Protagonisten in das, »was die Nazis wirklich sind« (Z. 213–315). Die NS-Ideologie sei »den Kindern in den Kopf gesetzt« (Z. 356) worden. Zu einer Frage regt die Lehrerin an, indem sie an die letzte Stunde erinnert. Sie meint bemerkt zu haben, dass das Ende des Films nicht den Erwartungen der Schüler_innenschaft entsprochen habe. Schüler R nimmt den Faden auf und fragt: »Ich würd ähh ich hätt gern wissen wie das weitergegangen ist, als er dann zu Hause war. Also wie der Vater reagiert so« (Z. 101). Nimmt man diese Frage ernst, so lässt sich aus ihr zweierlei schlussfolgern: Die Frage danach, wie es weitergegangen ist, präsupponiert, dass der Film noch nicht am Ende ist, die Entlarvung der NS-Ideologie also nicht, wenn man so will, das Ende der Geschichte ist. In der Tat beginnt der Film ja auch mit einem Konflikt, an den die Handlung jedoch nicht mehr anknüpft. Was wird also aus dem Generationenkonflikt, will der Schüler wissen. Damit ist zweitens verbunden, dass die moralische Implikation des guten Gewissens vielleicht dem Film ein Ende verleiht, es aber weiterhin offenbleibt, mit welchen gesellschaftlichen Folgen der/die zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2012, S. 10; Peter Longerich: Gemach – bis zum Praxistest. In: VfZ 62 (2014), S. 459–462, hier S. 461.
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Einzelne rechnen muss. Was geschieht mit denen, die sich der Vergemeinschaftung durch die Nationalsozialisten entziehen oder von ihr bewusst ausgeschlossen werden? Schüler R mutmaßt auch, dass die »SS da zugreifen und dann halt dem Vater irgendwie (.)n auch verhören und dann foltern [würde] oder so«. Offen bleibt, wie die Volksgemeinschaft sich zu anderen Formen der Vergemeinschaftung verhält, beispielsweise der Familie. Auch in diesen Fragehorizont führt der Wunsch, wissen zu wollen, wie der Vater wohl auf die Rückkehr des Sohnes reagiert hätte. Dass die Idee der Volksgemeinschaft nicht ohne Widersprüche gesellschaftliche Realität werden konnte, deutet auch eine Äußerung der bereits genannten Schülerin G an: »Ehm, also es war für Leute auch unmöglich, also (.) wenn ich jetzt kein Jude wäre und meine Uroma war Jüdin, dann wär ich trotzdem noch immer Halbjude und würde trotzdem noch verfolgt, auch wenn ich nicht dieser Religion angehöre« (Z. 523–527). Dass dies nicht als Statement, sondern vielmehr als Frage aufzufassen ist, unterstreicht die Verwendung des Konjunktivs. Sicherlich fehlt der Schülerin das Wissen über die Nürnberger Gesetze und die dort festgelegte Definition eines »Juden« bzw. »jüdischer Mischlinge«. Denn tatsächlich weist der Begriff »Halbjude« auf einen jüdischen Elternteil oder zwei jüdische Großeltern hin, während alleine eine jüdische Uroma in aller Regel keine unmittelbare Verfolgung bedeutet hätte. Diese falsche Einordnung wäre vermutlich noch schnell zu korrigieren und würde gleichwohl nicht das eigentlich Fragwürdige dieser Meldung beantworten. Die Schülerin wundert sich nämlich darüber, dass man das Judentum als »Makel« gar nicht loswerden kann, selbst wenn man der Religion nicht mehr angehöre. Die Äußerung der Schülerin verkennt also, dass es eben nicht bloß um Fragen der Religionsausübung geht, sondern um eine Rassenideologie. Sie drückt die Empfindung aus, es sei gewissermaßen »unfair«, weil man selbst gar nichts tun könne, um Teil der deutschen Volksgemeinschaft zu werden, die Abstammung werde man nicht los. In der Konsequenz würde dies ein passives Ausgeliefertsein der Bevölkerung bedeuten. Genau darin besteht jedoch eines von mehreren Missverständnissen, das zu klären lohnenswert wäre. Denn die sogenannten »Mischlinge« waren »Grenzgänger«, der Umgang mit ihnen nicht einheitlich und jede/r Einzelne musste sich überlegen, wie er sich in der komplexen Situation aus Bedrohung und relativer Behauptung in der Mehrheitsgesellschaft verhalten sollte. Insofern mündete die jüdische Herkunft, sofern man nicht als »Volljude« galt, alles andere als in ein fatalistisches Schicksal. Und noch etwas Fragwürdiges wirft der Beitrag der Schülerin auf: Wie klar sind eigentlich »jüdische Mischlinge« vom deutschen »Volkskörper« abzugrenzen, überwiegt nicht das »deutsche, arische Blut«, wenn »bloß« die Uroma jüdisch war? Was gilt eigentlich für »Viertel-, Achteljuden« oder andere »Mischformen«? Beate Meyer stellt dazu fest, dass »›jüdische Mischlinge‹ im Deutschen Reich nur in den Augen der Rassenideo-
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logen eine fest umrissene Gruppe darstellten. In der Realität existierte eine solche nicht.«19 Die Einseitigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse hinterfragt schließlich auch Schülerin Q: »Ehm wie wurde den Leuten eigentlich der Aufenthalt in diesen Schulen da eigentlich finanziert? Haben die Schulen des gemacht oder wie…?« (Z. 444–446). Die Antwort der Lehrerin suggeriert, dass der Staat mit aller Macht seine Ideen durchdrückte und alle Anreize selbst schuf: »Der Staat. Ganz normal. Das Bildungsministerium hat das einfach finanziert« (Z. 455f.). Weniger die Unkenntnis der Lehrerin verdient hier hervorgehoben zu werden, sondern eher das Muster, nach dem hier auf Fragen eine Antwort versucht wird, die die Lehrerin offensichtlich nicht kennt. Es folgt der Vorstellung eines omnipotenten Staates, der das Volk in die Richtung lenkt, in der er es haben möchte. Dies wird zudem als wenig außergewöhnlich charakterisiert – es sei schließlich »ganz normal«. Herrschaft und Gesellschaft driften als zwei von einander unabhängige Sphären auseinander. Wenn die Pointe des Volksgemeinschaftsansatzes darin besteht, »dass die Möglichkeiten von Individualität und Eigen-Sinn (Alf Lüdtke) im Rahmen einer radikal kollektivistischen Diktatur«20 nicht außer Acht gelassen wird, dann bestünde aber auch bei dieser Frage der Schülerin hinreichend Potential.
4.
»Gemeinschaft« und »Gesellschaft« als historische Begriffe – ein Fazit
Mit der vorangehenden Analyse eines Fallbeispiels soll nicht behauptet werden, dass Unterricht sich immer auf diese Weise oder ähnlich abspielt. Sie kann jedoch darauf aufmerksam machen, welche Mechanismen in Gang gesetzt werden können, wenn Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus anhand eines Spielfilms im Unterricht erörtert wird. Das didaktische Arrangement aus Filmvorführung und dem »Sich-Hineinversetzen« in aktuelle Gemeinschaftserlebnisse, die beide zu historischen Erkenntnissen führen sollen, ist grundsätzlich mit Schwierigkeiten im Geschichtsunterricht behaftet. Die untersuchte Stunde stellt daher nur eine besondere Ausdrucksgestalt eines an sich allgemeinen Problems dar, nämlich durch moderne Medien oder Perspektivübernahme historisch zu lernen. Die Eigenlogik des Geschichtsentertainments be-
19 Beate Meyer : Erfühlte und erdachte »Volksgemeinschaft«. Erfahrungen »jüdischer Mischlinge« zwischen Ausgrenzung und Integration. In: Bajohr/Wildt (Anm. 18), S. 144–164, hier S. 145. 20 Steber/Gotto (Anm. 3), S. 435.
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sitzt darüber hinaus genauso wie der Fragehorizont der Schüler_innen eine Plausibilität, die über diesen Einzelfall hinausweist. Die Fragen der Lernenden zeigen zunächst, dass die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Begriffs Volksgemeinschaft im Geschichtsunterricht einer zehnten Realschulklasse zum Thema werden kann. Das Thema ist also weder zu schwierig noch uninteressant. Auch das Eingangsbeispiel (»Ehm was ist mit dieser arischen Rasse eigentlich? Wo, wo kommt die her? Weil (.) zum Beispiel Hitler, der war ja auch nicht blond und blauäugig, sondern hatte auch braune Haare. Warum war er dann sozusagen der ›Obermacker‹?«) ist ein Beleg dafür, dass Jugendliche die NS-Ideologie in einer Weise hinterfragen können, die nicht unhistorisch ist. Die Frage korrespondiert schließlich mit einem zeitgenössischen Witz: »›Wie sieht der ideale Deutsche aus? Blond wie Hitler, groß wie Goebbels, schlank wie Göring und keusch wie Röhm‹«. Er »bringt deutlich zum Ausdruck, dass in der deutschen Bevölkerung die Unvereinbarkeit der optischen Erscheinung wichtiger Mitglieder der NS-Führungsspitze mit dem in Kunst und Literatur propagierten Rassenideal wahrgenommen wurde.«21 Auf Hitlers »unarisches« Aussehen angesprochen, verweist die Lehrerin hilflos auf das Internet: »Was ist mit Arier überhaupt gemeint […] versuchs mal zu googlen« (Z. 430–435). Es bleibt bei einer Verschlagwortung von Merkmalen, die die Nationalsozialisten in einer zukünftigen Gesellschaft verwirklicht sehen wollen. In der analysierten Unterrichtsstunde konnte damit das Potential nicht geborgen werden, die gesellschaftliche Realität mit den Ansprüchen der NSIdeologie zu konfrontieren und wenigstens in Ansätzen auch die Verflechtung der deutschen Mehrheitsbevölkerung mit den Zielen der NS-Politik zu zeigen. Stattdessen überwiegt der einseitige und damit falsche Eindruck, dass die meisten Menschen als bloße Zuschauer_innen über die gesellschaftlichen Ziele des Nationalsozialismus nicht im Bilde waren, sie nicht wussten, »was die Nazis wirklich sind« (Z. 213–315).22 Warum, so ist also abschließend zu fragen, wird der beobachtete Unterricht den Möglichkeiten und Problematisierungen, die auch der Begriff Volksgemeinschaft als Analysekonzept bietet, nicht gerecht, obwohl die Schüler_innenfragen dazu Anlass böten? Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass es vielen empirischen Studien zufolge oft im Geschichtsunterricht nicht gelingt, eine hinreichende Problematisierung, Nachdenklichkeit oder ein tieferes Verständnis für historische Begriffe, Ereignisse und Zusammenhänge zu erzeugen. Insofern bildet das hier vorgeführte gesellschaftspolitische Thema des Nationalsozialismus weder eine Aus21 Tobias Ronge (Anm. 2), S. 241f. 22 Insofern reproduziert das Fallbeispiel hier eine Lesart, die auch Schulbücher suggerieren. Vgl. dazu den Beitrag von Etienne Schinkel in diesem Band.
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nahme noch ließe sich behaupten, dass für die Defizite dieses Falles allein die Komplexität und die Ansprüche des Gegenstandes verantwortlich wären. Sicherlich ist auch zu berücksichtigen, dass der vorgeführte Unterricht noch nicht einmal als misslungen betrachtet werden muss, immerhin bietet er Frageanlässe für die Schüler_innen und vielleicht haben sich auch einzelne Begriffe zur Geschichte des Nationalsozialismus verfestigt. Ebenso dürften die Zehntklässler_innen nun über eine wie auch immer geartete Vorstellung von den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten verfügen. Vielleicht, so könnte behauptet werden, ist mehr im Geschichtsunterricht gar nicht zu erwarten. Ohne darüber hier ein Urteil fällen zu wollen, möchte ich jedoch kurz skizzieren, worin die eigentliche Hürde mit Blick auf den Begriff Volksgemeinschaft im Geschichtsunterricht zu bestehen scheint: Sowohl die Lehrerin als auch die Schüler_innen stellen – wie bereits ausgeführt – fest, dass gegenwärtige Gemeinschaftserlebnisse bei Pfadfinder_innen oder in der Kirche einen ähnlichen Reiz hätten wie diejenigen, die der Protagonist Friedrich in der Napola erlebt habe. Didaktisch scheint hier ein an der Lebenswelt der Schüler_innen orientierter Perspektivenwechsel zu verfangen. Charakteristisch sowohl für die nationalsozialistische Gemeinschaft als auch heutige Gemeinschaftsformen sei das »Gefühl« von »Gleichheit« (Z. 623) und »Einheit« (Z.626), so lautet das Ergebnis im Unterricht. Ein solcher Vergleich ist zwar suggestiv, er übersieht aber, dass Einrichtungen wie Kirche oder Schule sowohl Phänomene einer Vergesellschaftung als auch der Vergemeinschaftung sind. Beides ist nicht identisch miteinander. In der Schule bildet beispielsweise eine einzelne Klasse eine Gemeinschaft (und eben keine Gesellschaft), indem die Schüler_innen einen eigendynamischen Zusammenhalt entwickeln, der mit dem Schulziel nicht zwangsläufig übereinstimmen muss. Zugleich ist Schule als formale Organisation ein Prinzip der Vergesellschaftung, insofern sie für eine bestimmte Personengruppe ein meist staatliches Programm einlösen soll. Kirche lässt sich ebenfalls als Form von »Gemeinschaft« denken, mit der Religiosität als gesellschaftliches Phänomen korrespondiert. Die Pointe der von den Nationalsozialisten imaginierten Volksgemeinschaft ist, eine Einheit von Gemeinschaft und Gesellschaft erreichen zu wollen. Dabei sollte das Volk nur noch als Gemeinschaft adressiert werden, seine gesellschaftliche Rolle als Souverän wurde damit infrage gestellt. Mit der Tilgung von »Gesellschaft« durch den Begriff »Gemeinschaft« konnte somit auch die plurale Gesellschaft negiert werden. Sie »soll auf ihren Kernbestand, das in sich geeinte Volk, zurückgeführt werden, um dessen Überlebensfähigkeit im Daseinskampf der Rassen und Völker sicherzustellen.«23 Im Unterricht wird zwar die dafür passende Parole »Du bist nichts, dein Volk ist alles« – leicht abgewandelt zitiert (»Mein Leben ist 23 Peter Longerich (Anm. 18), S. 461.
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nichts, das Leben der Volksgemeinschaft ist alles.« Z. 576), allerdings scheint diese plakative Formel unreflektiert und damit folgenlos zu bleiben, sonst könnte nicht der Vergleich mit Pfadfinder_innen oder der Kirche folgen. Die Deckungsgleichheit von Gemeinschaft und Gesellschaft ist für heutige Gemeinschaften eben gerade nicht konstitutiv, in der Regel behauptet beides eine relative Eigenständigkeit. Begriffe wie »Gemeinschaft«, »Gesellschaft«, »Volk« oder »Staat« werden im Geschichtsunterricht selten genauer bestimmt und noch seltener ihre Historizität offengelegt. Eine zentrale Weg- und Wendemarke stellt wie so oft für solche Begriffe die Französische Revolution dar : Die vorrevolutionäre Ständeordnung war nämlich noch ein Sozialgebilde, in dem der Mensch gegebenen und gottgewollten Gemeinschaften angehörte und ihnen gegenüber verpflichtet war.24 Im modernen Sinn gab es dagegen noch keine Gesellschaft, in der die Menschen aus ihren Gemeinschaftsverpflichtungen herausgelöst und als Einzelne aufgewertet waren. Für die nachrevolutionäre Gesellschaft war die Unabhängigkeit gegenüber Herrschaft und Staat konstitutiv. Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ist demnach auch der Versuch, den herrschaftsfreien Raum der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wieder aufzuheben. Der didaktisch motivierte Perspektivenwechsel, demzufolge die Schüler_innen sich heutige Gemeinschaftserlebnisse vorstellen sollten, führte stattdessen zu einem undeutlichen und zudem impliziten Gebrauch des Begriffs »Gemeinschaft«. Das erklärt, warum in der analysierten Stunde ohne Anzeichen einer Irritation der Begriff Volksgemeinschaft auf die Bedeutung von »Gemeinschaft« schrumpft, die zu erleben von den meisten Menschen und zumal auch Jugendlichen als angenehm empfunden wird. Eine historische Dekonstruktion der Nominalphrase Volksgemeinschaft wäre jedoch Voraussetzung dafür, dass das Potential des Analysekonzeptes Volksgemeinschaft eingelöst werden kann.
24 Vgl. Johannes Süßmann: Vom Alten Reich zum Deutschen Bund 1789–1815. Paderborn 2015, S. 83ff.
Marcel Mierwald
Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand im Rahmen der Wissenschaftsvermittlung im Schülerlabor. Theoretische Annahmen, empirische Einsichten und pragmatische Ausblicke
1.
Einleitung »Nichtjüdische Freunde und Nachbarn, ja sogar Menschen, die wir vorher kaum gekannt hatten, kamen zu uns, um ihre Verbundenheit und ihre Freundschaft zu uns zu bekunden, und alle meinten, daß die Schreckenszeit nicht lange dauern könne. Aber nach einigen Monaten des Terrorregimes hatten Treue und Freundschaft ihren Sinn verloren, Furcht und Verrat griff um sich. […] Mit jedem Tag der Naziherrschaft wurde die Kluft zwischen uns und unseren Mitbürgern weiter. Freunde, mit denen wir lange Jahre hindurch freundschaftlich verbunden waren, kannten uns nicht mehr. Plötzlich stellten sie fest, daß wir doch anders waren. Natürlich waren wir anders, denn wir trugen schließlich das Stigma des Nazihasses, wir wurden verfolgt und gejagt wie Wild.«1 Marta Appel 1940/41
Die Frage danach, wie sich die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen unter der NS-Herrschaft bis hin zur vollständigen Ausgrenzung und gewaltbereiten Verfolgung der deutschen Jüdinnen und Juden veränderten, wird zunehmend diskutiert. Neuere Forschungsarbeiten, die diese Frage berühren, thematisieren häufig einen Wandel von Gefühlen, Werten und Moralvorstellungen in der deutschen Gesellschaft, um die Verfolgung der Juden und Jüdinnen im nationalsozialistischen Deutschland retrospektiv zu erklären.2 1 Marta Appel: Memoirs [USA 1940/41]. In: Monika Richarz (Hrsg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Bd. 3: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918–1945. Stuttgart 1982, S. 231–243, hier S. 232. 2 Vgl. vor allem Michal Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007; Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Frankfurt a. M. 2012; Alexandra Przyrembel: Ambivalente Gefühle. Sexualität und Antisemitismus während des Nationalsozialismus. In: Geschichte und Gesellschaft (GG) 4 (2014), S. 527–554; Alon Confino: A world without jews. The Nazi imagination from persecution to genocide. New Haven 2014; Ute Frevert: Glaube, Liebe, Hass. Die nationalsozialistische Politik der Gefühle. In: Winfried Nerdinger (Hrsg.): München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München. München 2015, S. 482–489.
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Marcel Mierwald
Besonders Selbstzeugnisse von jüdischen Deutschen, wie das vorangestellte Zitat, das aus den 1940/41 verschriftlichten Memoiren Marta Appels stammt, berichten über Reaktionsweisen und Emotionen von »Deutschen« und »Jüdinnen« und »Juden« im NS-Staat und geben damit wichtige Hinweise auf die sich verändernde deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte. Gleichzeitig werfen sie die Frage auf, inwiefern die NS-Herrschaft Gefühle hervorrief, welche Gemeinschaften zwischen Juden und Jüdinnen und Nichtjuden und -jüdinnen zerstörten und die Bildung einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft beförderten. Aus der Sicht der Emotionsgeschichte ist dies eine berechtigte Frage, die auch gegenwärtig für die Durchführung eines Lehr-/Lernangebotes im außerschulischen Lernort »Alfried-Krupp Schülerlabor« an der Ruhr-Universität Bochum genutzt wird.3 Im Zentrum dieses Angebotes steht die Wissenschaftsvermittlung mit dem Ziel, Schüler_innen der Oberstufe an fachhistorische Themen und Konzepte, das selbstständige geschichtswissenschaftliche Arbeiten und vor allem an das historische Argumentieren heranzuführen.4 Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag zum einen an der Wissenschaftsvermittlung im Schülerlabor aufzeigen, wie der Lerngegenstand NS-Volksgemeinschaft innovativ fachwissenschaftlich aufbereitet und kompetenzdidaktisch vermittelt werden kann. Zum anderen gibt er anhand der im Schülerlabor entstandenen Lernprodukte, nämlich der von Schüler_innen verfassten argumentativen Essays, erste empirische Einblicke in das Verständnis von und den Umgang mit dem Lerngegenstand Volksgemeinschaft. Zunächst gehe ich auf den fachwissenschaftlichen Ansatz des Lehr-/Lernangebotes ein (2.), aus dem die Implikationen für die sich daran anschließende fachdidaktische Vermittlung der NS-Volksgemeinschaft im Schülerlaborprojekt resultieren (3.). Danach werte ich die im Lehr-/Lernarrangement bisher entstandenen Schüler_innen-Texte inhaltsanalytisch hinsichtlich der Thematisierung der NSVolksgemeinschaft aus und reflektiere sie fachdidaktisch (4.). Abschließend resümiere ich die im Beitrag gewonnenen Ergebnisse und gebe einen didaktischpragmatischen Ausblick auf die Vermittlung des Lerngegenstandes (5.).
3 Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen eines Dissertationsprojektes, das Bestandteil des Promotionskollegs »Wissenschaftsvermittlung im Schülerlabor« der Professional School of Education (PSE) der Ruhr-Universität Bochum ist. 4 Zur Wissenschaftspropädeutik mit Referenz zum Schülerlabor siehe auch Nicola Brauch: Geschichtsdidaktik. Berlin 2015.
Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand
2.
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Theoretische Annahmen: Zur fachwissenschaftlichen Grundlage des Lehr-/Lernangebotes zur NS-Volksgemeinschaft im Schülerlabor
Eine Darlegung der fachwissenschaftlichen Grundlage des konkreten Lehr-/ Lernangebotes zum Thema »Angst, Hass, Scham und Ehre. Können Gefühle Gemeinschaften bilden und zerstören?« ist notwendig, um die spätere didaktische Aufbereitung und Vorauswahl geeigneter Materialien eines forschungsnahen Schülerlabors an den Schnittstellen zwischen dem fachlichen Konzept NS-Volksgemeinschaft, Quellen und Forschung nachvollziehbar zu machen. Daher möchte ich an dieser Stelle die theoretischen Annahmen, die dem fachwissenschaftlichen Inhalt des Schülerlabors zugrunde liegen, kurz darstellen.5 Als Ausgangspunkt dient im Schülerlabor die authentisch-geschichtswissenschaftliche Frage, inwiefern die NS-Herrschaft Gefühle hervorrief, die das Zusammenleben von »Juden« und »Nichtjuden« beeinflussten. Dabei wird – wie in Abb. 1 veranschaulicht – von der These ausgegangen, dass die im NS-Staat angestrebte Formierung der deutschen Gesellschaft zu einer rassisch homogenen Volksgemeinschaft die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden grundlegend veränderte. Antijüdische Maßnahmen und Gesetze »von oben« und lokale Gewaltaktionen »von unten« riefen Emotionen hervor, welche die sozialen und emotionalen Beziehungen neu strukturierten. Das Konzept der NS-Volksgemeinschaft wird als analytische Folie dafür genutzt Zugehörigkeit und Ausgrenzung im NS-Staat greifbar zu machen und danach zu fragen, welche Rolle Emotionen bei der Zerstörung der Gemeinschaften von Juden und Jüdinnen sowie Nichtjuden und Nichtjüdinnen auf der einen und bei der Bildung einer arischen Volksgemeinschaft auf der anderen Seite spielten.6 Das Volksgemeinschaftskonzept wird dabei mit Barbara Rosenweins Theorie der »emotional communities« verbunden. Für Rosenwein sind »emotionale Gemeinschaften« »genau die gleichen wie soziale Gemeinschaften […]. Nur sucht der Forscher, der sie untersucht, vornehmlich nach Gefühlssystemen, nämlich: was diese Gemeinschaften (und die Individuen in ihnen) als wertvoll oder schädlich für sich definieren und 5 Als fachwissenschaftliche Grundlage dient ein bisher unveröffentlichter Aufsatz: Marcel Mierwald: Angst, Hass, Scham und Ehre. Können Gefühle Gemeinschaften bilden und zerstören? Auswirkungen der NS-Herrschaft auf die sozialen Beziehungen von Juden und Nichtjuden (1933–1938). Bochum 2014. Darin wurde die zentrale Frage des Lehr-/Lernangebotes im Schülerlabor fachhistorisch bearbeitet. 6 Auf dieses analytische Potenzial machen u. a. Ian Kershaw (Ders.: Volksgemeinschaft. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 1 (2011), S. 1–17) sowie Michael Wildt (Ders.: Volksgemeinschaft. Eine Antwort auf Ian Kershaw. In: Zeithistorische Forschung 8 (2011), S. 102–109) aufmerksam.
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Abb. 1: Modell fachwissenschaftliche Grundlage des Schülerlabors (Quelle: Eigene Darstellung).
beurteilen; ihre Einschätzungen der Gefühle anderer, die Natur der zwischenmenschlichen affektiven Beziehungen, die sie anerkennen; und die Modi des Gefühlsausdrucks, die sie erwarten, fördern, tolerieren und missbilligen.«7
Rosenwein vertritt die Annahme, dass in der Moderne eine ganze Nation – im Sinne einer »imagined community«8 – als emotionale Gemeinschaft verstanden werden kann. Sie geht des Weiteren davon aus, dass immer mehrere dieser Gemeinschaften zu einer bestimmten Zeit existieren und dass Menschen verschiedenen emotionalen Gemeinschaften angehören können. Allerdings dominieren immer einige emotionale Gemeinschaften, denen dann andere »marginale emotionale Gemeinschaften« gegenüberstehen, oder mit denen sie sich überschneiden.9 Es bleibt genauer zu klären, wie unter den Bedingungen der NS-Herrschaft von »emotionalen Gemeinschaften« gesprochen werden kann, hierfür sind 7 Barbara H. Rosenwein. Zit. nach Jan Plamper : Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012, S. 80. Vgl. zudem Barbara H. Rosenwein: Emotional communities in the early middle ages. Ithaca 2007. Zur Kritik an Rosenweins Theorie siehe Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of emotions. Teil 1. Göttingen 2015, S. 267–280. 8 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1993. 9 Vgl. Jan Plamper: Wie schreibt man eine Geschichte der Gefühle? William Reddy, Barbara Rosenwein und Peter Stearns im Gespräch mit Jan Plamper. In: Werkstatt Geschichte 54 (2010), S. 52–64, hier S. 59f.
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Überlegungen von ]rp#d von Klimj und Malte Rolf hilfreich. Diese verstehen totalitäre Regime als eine »dominante, parteistaatlich sanktionierte emotionale Gemeinschaft mitsamt Regelwerk und Vokabular, in die man sich einzuordnen hatte, wollte oder musste man am öffentlichen Diskurs partizipieren«.10 Dies heißt nicht, dass es keine Pluralität an emotionalen Gemeinschaften in einer Diktatur gibt. Vielmehr ist anzunehmen, dass Diktaturen eine »offizielle emotionale Gemeinschaft« schaffen, die das öffentliche Leben beherrscht und damit auch normierend auf die öffentliche Äußerung von Emotionen einwirkt.11 Dies hatte auf die nationalsozialistische Diktatur übertragen zur Folge, dass Handlungen, Äußerungen und Empfindungen, die von der »offiziellen Linie« abwichen, unterdrückt und verfolgt wurden, und dass Widerspruch aufgrund des nationalsozialistischen Machtanspruchs auf den privaten und halböffentlichen Raum beschränkt blieb, daher Bestandteil »marginaler emotionaler Gemeinschaften« war.12 Nach von Klimj und Rolf funktioniert die Emotionspolitik diktatorischer Regime in zweierlei Weise: Auf der einen Seite versuchen sie Zustimmung bzw. »Begeisterung, Hingabe und Liebe« zum politischen System zu erzeugen, wozu sie u. a. Gemeinschaftserlebnisse kreieren und Propaganda betreiben. Auf der anderen Seite »generieren sie Hass, aber auch Angst«, indem sie Feindbilder schaffen und Gewalt entfachen. Die vom totalitären Regime auserwählte Gemeinschaft lässt sich auf Dauer nur durch Abgrenzung und durch die Erzeugung von Feindbildern herstellen.13 Dies ist ein wichtiger Ansatz für das Projekt im Schülerlabor, das seinen Blick vorrangig auf die Exklusionsseite der sogenannten Volksgemeinschaft wendet und diese synonym als »emotional community« versteht.
3.
Fachdidaktische Vermittlung des Lerngegenstandes NS-Volksgemeinschaft im Schülerlabor
»Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um ›die Welt‹ einzufangen […]«14, so der Philosoph Karl Popper. Wie werden nun aber die theoretischen Annahmen und die damit verbundene geschichtswissenschaftliche Fragestellung den 10 ]rp#d von Klimj/Malte Rolf: Rausch und Diktatur. Emotionen, Erfahrungen und Inszenierung totalitärer Herrschaft. In: Dies. (Hrsg.): Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen. Frankfurt a. M. 2006, S. 11–43, hier S. 20. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. Peter Longerich: Judenverfolgung und nationalsozialistische Öffentlichkeit. In: Kristin Platt (Hrsg.): Reden von Gewalt. München 2002, S. 226–255, hier S. 228f. 13 Vgl. von Klimj/Rolf (Anm. 10), S. 19. 14 Karl Popper: Logik der Forschung. 5. Aufl. Tübingen 1973, S. 31.
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Lernenden im Schülerlabor vermittelt und mit Hilfe welchen Materials kann die NS-Volksgemeinschaft im oben skizzierten Verständnis greifbar gemacht werden? Mittels einer fachdidaktischen Transkription gilt es, aktuelle Problemstellungen und Lösungsmöglichkeiten der historischen Forschung auf Lehr-/Lernprozesse im Schülerlaborprojekt zu übertragen. Im Sinne eines Problemlöselernens in der Domäne Geschichte wird dem Lernprozess im Schülerlabor eine übergeordnete Fragestellung zugrunde gelegt und den Lernenden eine Auswahl von Medien (d. h. Quellen und Darstellungen) sowie Aufgaben zu deren inhaltlichen Erschließung zur Verfügung gestellt, mit denen es ihnen am Ende möglich ist, ein eigenes argumentatives historisches Antwortnarrativ zu entwickeln.15 Dadurch wird den Lernenden eigenes historisches Forschen ermöglicht, das ausgehend von einer historischen Fragestellung über die Analyse von Quellen- und Darstellungstexten bis hin zur Schaffung eines eigenen argumentativen Narratives Kompetenzen des historischen Denkens anbahnt.16 Ausgehend von der historischen Frage, inwiefern die NS-Herrschaft Gefühle hervorrief, die das Zusammenleben von Jüdinnen und Juden und Nichtjüdinnen und Nichtjuden beeinflussten, ist die Vermittlung des Lerngegenstandes NSVolksgemeinschaft an zwei Stellen im Lehr-/Lernangebot von Bedeutung: im Rahmen der thematischen Einführung und bei der historischen Untersuchung. Zunächst erhalten die Lernenden zu Beginn des Projektes mittels einer thematischen Einführung notwendiges Hintergrundwissen, das für die spätere eigenständige Forschungsarbeit hilfreich ist. Darin wird ihnen verdeutlicht, dass es ein Ziel der Nationalsozialisten war, die bestehende deutsche Gesellschaft in eine »rassisch einheitliche, arische Volksgemeinschaft« umzugestalten.17 Volksgemeinschaft bildete eine Zielvorstellung, ein Gesellschaftsmodell, das Auswirkungen auf bestehende soziale Beziehungen und emotionale Bindungen zwi-
15 Vgl. Nicola Brauch: Das Anne Frank Tagebuch. Eine Quelle historischen Lernens in Unterricht und Studium. Stuttgart 2016, S. 11f.; Gerhard Tulodziecki/Bardo Herzig/Sigrid Blömeke (Hrsg.): Gestaltung von Unterricht. Eine Einführung in die Didaktik. Bad Heilbrunn 2009. 16 Vgl. Andreas Körber/Waltraud Schreiber (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007. Zum historischen Argumentieren siehe Marcel Mierwald/Nicola Brauch: »Ich denke, dass Anne Franks Tagebücher eigentlich eine sehr gute Quelle sind, da…«. Zur Konzeptionalisierung und Förderung des historischen Argumentierens im Fach Geschichte. In: Alexandra Budke u. a. (Hrsg.): Fachlich argumentieren lernen. Didaktische Forschungen zur Argumentation in den Unterrichtsfächern. Münster 2015, S. 215–229. 17 Vgl. Peter Longerich: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das NSRegime. Ein Überblick. In: Bernd Sösemann (Hrsg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick. Stuttgart/München 2002, S. 239–257, hier S. 240f.
Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand
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schen Juden und Jüdinnen sowie Nichtjuden und Nichtjüdinnen hatte.18 Die angestrebte »rassische Einheit« sollte durch die Ausgrenzung, Vertreibung und schließlich Ermordung aller, die als »schwache Mitglieder« der eigenen »Rasse« oder als »Fremdrassige« angesehen wurden, allen voran Juden und Jüdinnen, hergestellt werden.19 Jedoch darf nicht, wie zum Beispiel auf der Grundlage eines populären Fotos, das Arbeiter der Hamburger Werft Blohm & Voss bei einem Besuch Adolf Hitlers im Jahr 1936 zeigt, der Schluss gezogen werden, dass die deutsche Gesellschaft tatsächlich uniform war. Neben dem offiziell erwünschten Verhalten – hier auf dem Foto das bereitwillige Heben des Armes zum »HitlerGruß« – gab es eine Vielzahl individueller Handlungsmöglichkeiten und Empfindungen. Dies kann man selbst auf dieser Aufnahme einer offiziellen Veranstaltung an einem Werftarbeiter in der Mitte sehen, der demonstrativ die Arme verschränkt hält.20 Zur didaktischen Konzeption der Erarbeitungsphase gehört auch der Hinweis, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse im nationalsozialistischen Deutschland nicht vom Endpunkt, also Holocaust und Kriegsende, betrachtet werden sollten; die Lernenden sollen vielmehr den schrittweisen gesellschaftlichen Wandlungsprozess der Vorkriegsjahre, der alle kommenden Entwicklungen beförderte, rekonstruieren.21 Im Rahmen des Lehr-/Lernangebots analysieren die Schüler_innen daher in Kleingruppen zu verschiedenen Themen Reaktionen, d. h. Handlungen und Gefühle, die die zentralen Ereignisse der Ausgrenzung und Verfolgung auf jüdischer und nichtjüdischer Seite begleiteten, um daraus Rückschlüsse auf die Beziehung zwischen Juden und Jüdinnen sowie Nichtjuden und Nichtjüdinnen zu ziehen und Prozesse der Gemeinschaftsbildung und -zerstörung im NS-Staat zu untersuchen. Das zur Verfügung gestellte Untersuchungsmaterial ermöglicht die Rekonstruktion emotionaler Erfahrungen und die Wahrnehmung der NS-Volksgemeinschaft in Hinblick auf das Erleben von Inklusion und Exklusion durch ihre Zeitgenoss_innen. Am Thema »Fortwährende Boykottaktionen nach dem 1. April 1933« können Vorgehensweise und didaktische Überlegungen beispielhaft verdeutlicht werden: Zur Rekonstruktion des historischen Ereignisses bekommen die Teilnehmer_innen des Schülerlabors multiperspektivisch zusammengestellte Quellen. 18 Vgl. Malte Thießen: Zeitgeschichtsunterricht als Aufgabe. Impulse zeithistorischer Forschung für einen kompetenzorientierten Geschichts- und Politikunterricht. In: geschichte für heute 3 (2014), S. 20–31, hier S. 21. 19 Vgl. Longerich (Anm. 17), S. 241. 20 Vgl. Michael Wildt: Volksgemeinschaft? In: Informationen zur politischen Bildung (IZPB) 314 (2012), S. 4. 21 Zur Kritik an der gängigen Geschichtsvermittlung vgl. Harald Welzer/Dana Giesecke: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2012, S. 27ff.
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So erhalten die Lernenden unter anderem ein antisemitisches Flugblatt der NSDAP-Ortsgruppenleitung Freimar vom Dezember 1934, in dem die »deutschen Volksgenossen« angehalten werden, ihre Einkäufe zukünftig nicht mehr in den jüdischen Geschäften Münchens zu tätigen. Dabei wird an das Ehrgefühl der »Volksgenossen« appelliert, sich nicht von Jüdinnen und Juden erniedrigen zu lassen und sich zu schämen, wenn sie bisher jüdische Geschäfte besucht haben.22 Weiterhin schreibt der jüdische Deutsche Hans Winterfeldt in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1969 über »unglaubliche Schikanen und Schädigungen« von im »Stürmer«-Kasten zur Schau gestellten Personen und über die Kundschaft des Geschäfts seiner Familie, die sich zuletzt nur noch durch den Hintereingang in den Laden traute.23 In einem Tagebucheintrag vom Februar 1939 berichtet schließlich der deutsche Ingenieur Karl Dürkefelden rückblickend über diverse jüdische Geschäfte in Celle, die sich zum Teil großer Beliebtheit erfreut hatten, denen aber nach und nach die Kundschaft fernblieb. Er selbst sei in Celle kaum mehr in die Geschäfte gegangen, weil er sich nicht »der Juden wegen in Gefahr« bringen wollte.24 Ergänzend dazu erhalten die Lernenden Deutungsangebote in Form von Ausschnitten aus Darstellungstexten von Historiker_innen: Im Fall der »Fortwährenden Boykottaktionen« ist dies eine Passage von Hannah Ahlheim, die vom gesellschaftlichen Druck spricht, der auf nichtjüdischen Kund_innen und Käufer_innen lastete und der den alltäglichen Kontakt mit Juden und Jüdinnen »unangenehm« machte, sowie ein Text von Michael Wildt, in dem dieser betont, dass lokale Boykottaktionen dazu dienten, die antisemitische Grenzlinie vor Ort zu ziehen und nichtjüdische Deutsche zur Volksgemeinschaft zu formieren.25 Die Materialauswahl trägt somit der Erfordernis Rechnung, dass Volksgemeinschaft als historischer Begriff in den Quellen – direkt oder durch diese durchscheinend – und als historiografisches Konzept in den Darstellungstexten erkennbar wird. Die Schüler_innen sollen insbesondere durch das Quellenmaterial Prozesse der Ein- und Ausgrenzung kennenlernen und untersuchen, welche Bedeutung dabei den Emotionen im raum- und zeitspezifischen Kontext 22 Vgl. Götz Aly u. a. (Hrsg.): VEJ [Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945]. Deutsches Reich 1933–1937. Bd. 1. Bearb. v. Wolf Gruner. München 2008, S. 393f. Es handelt sich dabei um das Schreiben der Direktion Hermann Tietz & Co., München, an das RWM, z. Hd. Oberregierungsrat Michel (Eing. 27. 12. 1934), vom 22. 12. 1934 mit Anlage (Abschrift). 23 Vgl. Hans Winterfeldt: Deutschland. Ein Zeitbild 1926–1945. In: Richarz (Anm. 1), S. 336–345, hier S. 337f. 24 Vgl. Herbert Obenaus/Sibylle Obenaus: »Schreiben wie es wirklich war!« Aufzeichnungen Karl Dürkefeldens aus den Jahren 1933–1945. Hannover 1985, S. 98. 25 Vgl. Hannah Ahlheim: »Deutsche, kauft nicht bei Juden!«. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935. Göttingen 2011, S. 342; Michael Wildt: Verfolgung. In: IZPB 314 (2012), S. 64–79, hier S. 69f.
Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand
165
zukommt. Als Hilfen erhalten die Lernenden Leitfragen, die ihnen ermöglichen, herauszuarbeiten, welche Emotionen eine Rolle spielten, und mit welchen Mitteln und Bedingungen Repräsentant_innen des NS-Staats oder Anhänger_innen der NSDAP auf lokaler Ebene versuchten, Konsens in der Gesellschaft – ergo (Volks-) Gemeinschaft – herzustellen, und welchen Erfolg sie damit hatten. Die genannten Materialbeispiele zeigen, dass gerade Quellen, die Interaktion und Kommunikation im sozialen Nahbereich thematisieren, Ausgrenzung gut veranschaulichen können.26 Sie lassen zudem erkennen, dass der Nationalsozialismus durch Aufrechterhaltung von Differenzen integrierende Wirkung entfaltete und durchaus vielfältige Handlungsformen und unterschiedliche Gefühle bei den historischen Akteur_innen existierten.27
4.
Empirische Einsichten: Thematisierung der NS-Volksgemeinschaft in Schüler_innen-Essays
Erste empirische Einblicke in das Verständnis von und den Umgang mit dem Lerngegenstand NS-Volksgemeinschaft geben die argumentativen Essays, die die Schüler_innen am Ende des Lehr-/Lernangebotes im Schülerlabor verfassten. Bei der folgenden inhaltsanalytischen Auswertung der Texte geht es um die Frage, ob und inwiefern die Schüler_innen in ihren Essays die NS-Volksgemeinschaft thematisieren. Eine Analyse der Argumentationen erlaubt es, Potenziale und Grenzen von Wissenschaftsvermittlung am Beispiel NS-Volksgemeinschaft im Schülerlabor zu reflektieren.
4.1
Methodisches Vorgehen
Im Schülerlabor zum Thema »Angst, Hass, Scham und Ehre. Können Gefühle Gemeinschaften bilden und zerstören?« arbeiten die Lernenden in einem standardisierten Lehr-/Lernangebot zur immer identischen historischen Frage unter gleichbleibendem Ablauf und Bedingungen. Nach einer Einführung in das historische Argumentieren erhalten die Lernenden am Ende des Projektes die Aufgabe, einen argumentativen Essay (ca. 1–2 Seiten) zu folgender historischen Frage zu schreiben: »Inwiefern hat die NS-Herrschaft Gefühle hervorgerufen, die das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden entscheidend beeinfluss26 Vgl. Dietmar von Reeken/Malte Thießen: Volksgemeinschaft als soziale Praxis? Perspektiven und Potenziale neuer Forschung vor Ort. In: Dies. (Hrsg.): Volksgemeinschaft als soziale Praxis. Neue Forschung zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013, S. 11–36, hier S. 18. 27 Vgl. Welzer/Giesecke (Anm. 21), S. 34ff.
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Marcel Mierwald
ten?«. Die Schüler_innen sollen jeweils am Beispiel des von ihnen bearbeiteten historischen Ereignisses argumentieren und dabei Belege aus den ihnen vorliegenden Quellen und Darstellungen nutzen. Ob und wie sie auf die NS-Volksgemeinschaft in ihren Texten eingehen, obliegt den Lernenden selbst. Für die Bearbeitung des Arbeitsauftrages erhalten sie etwa eine Stunde Zeit. Die Essays werden an einem Laptop in einer herkömmlichen Textdatei verfasst. Als Hilfestellung zur Formulierung der Texte erhalten die Schüler_innen einen »How-ToWrite-Your-Essay-Plan«, der die formale Struktur einer historischen Argumentation vorgibt und Ideen dazu beinhaltet, wie Informationen textuell angeordnet werden können.28 Bisher liegt aus fünf Schülerlaborprojekten ein Textkorpus von insgesamt 103 Schüler_innen-Essays vor. Bei den Lernenden selbst handelt es sich um Schüler_innen der 11. und 12. Jahrgänge, die in den Oberstufen fünf unterschiedlicher Gymnasien im Ruhrgebiet Geschichte als Leistungs-, Grund- oder Projektkurs belegen und im Rahmen des Geschichtsunterrichtes am Lehr-/Lernangebot des Schülerlabors teilnahmen. Zur Auswertung der Essays wird eine qualitative Inhaltsanalyse verwendet, die sich an dem von Philipp Mayring entwickelten Verfahren zur systematischen Analyse von Textmaterial orientiert.29 Sie erlaubt es, basierend auf der Grundlage der manifesten sprachlichen Eigenschaften der Texte, Aussagen zu nichtsprachlichen Eigenschaften von Personen zu tätigen.30 Anhand der Performanz des historischen Denkens der Schüler_innen, die in ihren Essays sichtbar wird, ist es somit möglich, Rückschlüsse auf ihr Verständnis zu und ihrem Umgang mit dem Thema NS-Volksgemeinschaft zu ziehen. Nach einer ersten Lektüre des gesamten Textmaterials werden die Essays hinsichtlich des Auftretens des Wortes Volksgemeinschaft, damit in Verbindung stehender Begrifflichkeiten (z. B. »Volksgenossen«) sowie alternativer Formulierungen, mit denen gesellschaftliche Verhältnisse im Nationalsozialismus beschrieben werden können, gesichtet. Alle so identifizierten Textstellen wurden zusammenfassend paraphrasiert, bevor induktiv aus dem Material Kategorien gebildet werden, um die Thematisierung von Volksgemeinschaft prägnant zu charakterisieren.31 Zusätzlich werden die Textstellen hinsichtlich des Verständnisses und des Umgangs der Lernenden mit dem Begriff Volksgemeinschaft oder seinen Variationen expliziert. Zur Erläuterung der Fundstellen wird ent28 Vgl. Marcel Mierwald/Nicola Brauch: Historisches Argumentieren als Ausdruck historischen Denkens. Theoretische Fundierung und empirische Annäherungen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (ZfGD) 14 (2015), S. 82–98. 29 Vgl. Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim 2010, S. 59ff. 30 Vgl. Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 5. überarb. Aufl. Weinheim 2010, S. 434. 31 Vgl. Mayring (Anm. 29), S. 63–109.
Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand
167
weder auf den engen Textkontext oder auf weiteres Material, wie die von den Lernenden im Schülerlabor verwendeten Quellen- und Darstellungstexte, zurückgegriffen. Die Analyse der argumentativen Essays erfolgt computergestützt mit der Software MAXQDA 11.32 Erste Ergebnisse, die sich aus diesem inhaltsanalytischen Verfahren ergeben, werden nachfolgend vorgestellt.
4.2
Forschungsergebnisse
Die empirischen Befunde werden geleitet durch folgende Fragen: Wie thematisieren die Schüler_innen in ihren argumentativen Essays Volksgemeinschaft und welche Rückschlüsse ergeben sich daraus auf ihr Verständnis von und den Umgang mit dem Lerngegenstand? Die inhaltsanalytische Auswertung der Schüler_innen-Texte ergab im Wesentlichen drei Kategorien der Thematisierung (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Thematisierung von Volksgemeinschaft in Schüler_innen-Essays (Quelle: Eigene Darstellung).
Wenn in den Essays von Volksgemeinschaft die Rede ist, dann zumeist (20 %), weil der Begriff oder Variationen dessen wichtige Bestandteile der Quellensprache sind und als solche von den Lernenden auch wahrgenommen werden. Die Kategorie »Bestandteil der Quellensprache« ist dadurch gekennzeichnet, dass die Lernenden den historischen Begriff Volksgemeinschaft oder damit in 32 Vgl. Udo Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim 2014, S. 142ff.
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Verbindung stehende historische Begriffe (z. B. »Volksgenossen« oder »Volksverräter«) in den ihnen vorliegenden Quellen erkennen und als empirischen Befund für die Interpretation gesellschaftlicher Verhältnisse im Nationalsozialismus deuten. Dies kann an einem Ausschnitt aus dem Text einer Schülerin veranschaulicht werden, der die »Fortwährenden Boykottaktionen nach dem 1. April 1933« anspricht: »Durch die antisemitische Stimmungsmache sollte in den Bürgern, die weiterhin in jüdischen Geschäften konsumierten, negative Emotionen wie Ehrverlust und Scham geweckt werden, die sie schließlich zum Boykott drängen sollten. Diese Bewegung wurde beispielsweise durch Flugblätter unter die Bevölkerung gebracht. Eine dieser Schriften wurde am 22. Dezember 1934 von einer Kaufhausdirektorin, die diese in einer Vorstadt Münchens abfing, an das Reichswirtschaftsministerium weitergeleitet. Die Formulierungen dieser Quelle richten sich eindeutig an die Nicht-Juden, die »deutschen Volksgenossen«. Mit Sätzen wie »So viel Ehrgefühl werdet [Ihr] doch haben, dass Ihr Euch nicht zu Schweinen des Juden erniedrigt?« oder »Schämt Euch, wenn Ihr bisher noch jüdische Geschäfte besucht habt (…)!« sollten genau diese eben beschriebenen Emotionen geweckt werden.« (RB/2210).
Die Schülerin erkennt, dass sich das ihr vorliegende Flugblatt der NSDAPOrtsgruppenleitung Freimar direkt an die »deutschen Volksgenossen« wendet, dass damit alle »Nicht-Juden« gemeint sind, und dass sich darin Emotionswörter finden, welche die »Volksgenossen« zur Vermeidung von Einkäufen in jüdischen Geschäften oder gar zum Boykott bewegen sollten. Der Begriff »Volksgenossen« wird von der Schülerin hervorgehoben, weil er ein inhärenter Begriff einer der ihr vorliegenden Quellen ist und somit ein Element ihrer Interpretation wird. In lediglich einem Essay (1 %) wird eine der Begriffsvariationen von Volksgemeinschaft verwendet, da sich diese in einem Darstellungstext findet; die Kategorie »Bestandteil von Darstellungstexten« meint, dass Volksgemeinschaft in den historischen Argumentationen von Historiker_innen als Element der Analysesprache genutzt wird und somit auch die Lernenden mit diesem als analytischer Kategorie konfrontiert sind. Dies ist im folgenden Ausschnitt aus dem Text eines Schülers ersichtlich, in dem es inhaltlich um die Verfolgung von »Rassenschande« geht: »Durch die Prangerumzüge konnte die deutsche Durchschnittsbevölkerung Gewalt ausüben, die durch die massive Öffentlichkeit legitimiert wurde. Dadurch konnten auch Frauen und Kinder politisch aktiv werden. Hierzu schreibt der Historiker Michael Wildt: ›Frauen, Kinder, Jugendliche laufen mit, lachen, verhöhnen, beschimpfen, bespucken die Opfer. Die Schaulustigen, Neugierigen und Passanten, wie auch immer ihre innere Einstellung zum Geschehen gewesen war, stellten ein unverzichtbares Element dieser Aktionen dar, die in aller Öffentlichkeit stattfanden, um eben diese Öffentlichkeit
Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand
169
fundamental zu verändern. Das NS-Regime vergemeinschaftete die Gewalt und ließ die ›Volksgenossen‹ an ihr partizipieren.‹ (D2: Historiker Michael Wildt)« (UH/2702).
Dem Schüler geht es darum, die Prangerumzüge, durch die deutsch-jüdische Beziehungen in aller Öffentlichkeit geächtet wurden, als Aktionen zu beschreiben, in denen Gewalt vor aller Augen ausgeübt werden konnte. Durch die Öffentlichkeit dieser Aktionen wurde Gewalt gegen Juden und Jüdinnen legitimiert. Dass sich hierdurch auch die Öffentlichkeit fundamental veränderte, illustriert er durch das angeführte Zitat aus einem Darstellungstext des Historikers Michael Wildt. Der Begriff des »Volksgenossen« sowie das dahinterstehende Analysekonzept der Volksgemeinschaft finden sich im Text des Historikers, jedoch geht der Schüler im Verlauf des Essays darauf nicht weiter ein. In wenigen Essays (8 %) wird Volksgemeinschaft als eigene Analysefolie vergangener Wirklichkeit verwendet. Die Kategorie der »eigenen Analysefolie« kennzeichnet den Umstand, dass die Lernenden das Konzept Volksgemeinschaft als Möglichkeit der Interpretation gesellschaftlicher Verhältnisse und Veränderungen im Nationalsozialismus in ihren Essays nutzen. Dies kann an einem Textauszug zum Thema der »Reichspogromnacht« veranschaulicht werden: »Einem Juden zu helfen, brachte einen in die Gefahr, verfolgt und missachtet zu werden. Dies wird am Beispiel der Maria Kahle aus Bonn deutlich, die nach der Reichspogromnacht jüdischen Ladeninhabern beim Aufräumen half und daraufhin öffentlich angegriffen und gemieden wurde, was sie schließlich sogar zur Emigration nach Großbritannien zwang. Nur wenige Deutsche wollten sich dieser wachsenden Gefahr aussetzen, brachen daher aus Angst und Furcht Verbindungen zu ihren jüdischen Mitbürgern ab und halfen ihnen am 9. November 1938 nicht, als diese verletzt und ihre Geschäfte geplündert wurden. Dies wiederum führte in den folgenden Tagen zu Schamgefühlen, laut dem jüdischen Juristen Rudolf Bing gab es einige Stimmen, die sich ›schäm[t]e[n] ein Deutscher zu sein‹. Doch trotzdem kam es zu keinen Protesten, was wieder auf Furcht der Bevölkerung vor politischer Verfolgung und Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft zurückzuführen ist. […] Durch jahrelange Propaganda und antisemitische Gesetze waren die Verbindungen zwischen Juden und Nicht-Juden so bröckelig und distanziert geworden, dass kein Deutscher sich einem Juden insofern verpflichtet fühlte, ihm in einer solch gefährlichen Situation zu helfen und das Gefühl der Angst bzw. die Sicherung der eigenen Sicherheit überwiegte. Auch die immer wichtigere Volksgemeinschaft war zu einem großen Einflussfaktor geworden, da man nur als Mitglied dieser als Mensch akzeptiert wurde und die Gemeinschaft und Zugehörigkeit war für viele Menschen gerade nach der entbehrungsreichen Zeit der Weimarer Republik zu einer essentiellen Stütze geworden.« (RE/0107).
Die Schülerin schreibt über Maria Kahle, die aufgrund ihrer Hilfeleistungen nach der Reichspogromnacht der Sympathie für Juden und Jüdinnen beschul-
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digt, öffentlich angegriffen und von Freunden gemieden wurde. Des Weiteren benennt sie Emotionen, die nichtjüdische Deutsche während und nach der Pogromnacht dazu bewegten, ihren Kontakt mit Jüdinnen und Juden abzubrechen. Als Erklärungsgröße dafür, warum bestimmte Emotionen und bestimmtes Verhalten ausgelöst wurden, bemüht sie in ihrem Essay das Volksgemeinschaftskonzept als Interpretationsmöglichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse. Der weitaus größte Teil der Schüler_innen (71 %) thematisiert Volksgemeinschaft gar nicht und nutzt stattdessen in ihren Essays durchgehend sogenannte alternative Formulierungen. Die Kategorie »Nutzen alternativer Formulierungen« zielt darauf ab, dass die Lernenden die gesellschaftlichen Veränderungen im nationalsozialistischen Deutschland mit anderen sprachlichen Mitteln als mit dem Konzept der Volksgemeinschaft erklären. Dies kann an einem Textbeispiel zum Thema »Rassenschande« illustriert werden: »Ein weiterer Faktor sind die Prangerumzüge, die die Rassenschande und das damit verbundene Ehrgefühl als wichtigen Teil des deutschen Reiches etablierten. […] Der deutsche Journalist Rolf Winter berichtet zum Beispiel in seinen Kindheitserinnerungen davon, dass die Prangerzüge kleinen Triumphzügen ähnelten und die SAMitglieder mit Stolz erweckten, aber auch das Interesse des Volkes weckte und somit für einen gewissen Zusammenhalt innerhalb der Teilnehmer führte. […] Dieser Meinung ist auch die Historikerin Alexandra Przyrembel, die dem Fakt, dass die Züge am helllichten Tag und in aller Öffentlichkeit stattfanden erhebliche Bedeutung zumaß, da so ein Gemeinschafsgefühl der Zuschauer gegenüber den angeprangerten Personen entstehen konnte.« (SS/0201).
Der Schüler schreibt über die Prangerumzüge und die Emotionen, die sich in diesen Aktionen seiner Ansicht nach wiederfanden. Er bedenkt in diesem Fall nicht, Volksgemeinschaft als Analysekategorie zu verwenden. Stattdessen schreibt er über teilnehmende Zuschauer_innen und angeprangerte Paare sowie Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl. Möglicherweise ist das Volksgemeinschaftskonzept dem Schüler zu theoretisch und abstrakt. In zahlreichen Essays verwenden die Lernenden alternative Formulierungen wie allgemeine Akteursbezeichnungen (z. B. »Juden und Nichtjuden« oder »jüdische und nichtjüdische Bevölkerung«), Beschreibungen (z. B. »wurden mit zunehmend gewalttätigen Mitteln jüdische Mitmenschen aus der Gesellschaft gedrängt« (RZ/2002) oder »Wandel im Umgang der Nichtjuden und Juden und der Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft« (SH/1302)) und Quantifizierungen (z. B. »Großteil der Deutschen« (SJ/1406)), um gesellschaftliche Unterschiede und Veränderungen zwischen beiden Gruppen zu verbalisieren.33
33 Es sei darauf hingewiesen, dass die Verbalisierung deutsch-jüdischer Geschichte in Begrifflichkeiten selbst Historiker_innen und Schulbuchautor_innen schwerfällt. Vgl. Martin
Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand
171
Überdies benennen die Schüler_innen häufig konkrete historische Akteur_innen, deren Verhalten und Empfinden sie schließlich aus den Quellen rekonstruierten.
4.3
Didaktische Kommentierung der empirischen Befunde
Wie sind die empirischen Befunde zur Thematisierung der NS-Volksgemeinschaft mit Blick auf die teilnehmenden Schüler_innen und das Schülerlaborprojekt zu bewerten? Eine Antwort hierauf vermag Potenziale und Grenzen von Wissenschaftsvermittlung am Beispiel des Lerngegenstandes NS-Volksgemeinschaft zu verdeutlichen. Zunächst sei festgehalten, dass die Schüler_innen in ihren Essays Volksgemeinschaft bzw. sprachliche Variationen dessen thematisieren, weil dies historische Begriffe sind, die von Zeitgenoss_innen verwendet wurden, und die daher in der historischen Analyse nicht einfach übergangen werden dürfen. Vor diesem Hintergrund liegt ein Potenzial der Thematisierung von Volksgemeinschaft in historischen Lernprozessen darin, mit den Lernenden anhand der in den Quellen vorzufindenden »Volks«-Begrifflichkeiten über die Zuschreibung von Zugehörigkeit und Ausgrenzung im NS-Staat nachzudenken. Für eine tiefergehende Beschäftigung bietet es sich an, danach zu fragen, wer Begriffe wie Volksgemeinschaft, »Volksgenosse« oder »Volksverräter« wie, wann und warum bzw. wozu benutzte.34 Diese Fragen bilden Ansatzpunkte dafür, um mit Schüler_innen über die Bedeutung und Reichweite des Volksgemeinschaftsbegriffs zu reflektieren. So könnte beispielsweise gefragt werden, inwiefern durch die direkte Ansprache der »Volksgenossen« und das Wecken von Emotionen historische Akteur_innen im NS-Staat beabsichtigten, eine Grenze zwischen Juden und Jüdinnen sowie Nichtjuden und Nichtjüdinnen zu ziehen, um damit eine NS-Volksgemeinschaft herzustellen. Des Weiteren zeigen die Befunde, dass Historiker_innen Volksgemeinschaft als wissenschaftliches Analysekonzept verwenden und dies damit auch Beachtung auf Seiten der Schüler_innen finden kann. So ist es ratsam, mit den Lernenden darüber zu sprechen, warum Historiker_innen in ihren Texten z. B. von »Volksgenossen« schreiben, warum sie Volksgemeinschaft als analytischen Begriff verwenden und welche »historiografische[n] Perspektiven, Leitideen und Liepach/Wolfgang Geiger : Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen. Schwalbach/Ts. 2014, S. 134–141. 34 Vgl. Armin Nolzen: Nationalsozialismus und Volksgemeinschaft. Plädoyer für eine operative Semantik. In: von Reeken/Thießen (Anm. 26), S. 51–64.
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Marcel Mierwald
methodische[n] Entscheidungen«35 sich damit verbinden. Ebenfalls ist aus den empirischen Befunden ersichtlich, dass das Konzept der NS-Volksgemeinschaft den Lernenden dabei helfen kann, die komplexen sozialen Verhältnisse im NSStaat zu erfassen und Erklärungen für das Verhalten und Empfinden von Personen zu finden. So lassen sich Prozesse der Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftszerstörung beschreiben und untersuchen, welche Bedeutung darin Gefühlen als Triebkräften zukam. Konstatiert werden muss allerdings, dass nur sehr wenige Schüler_innen in ihren Essays Volksgemeinschaft als historischen Begriff beachten oder als Analysemöglichkeit verwenden und stattdessen häufig alternative Formulierungen nutzen. Dies kann an der Art und am zeitlichen Umfang der expliziten Thematisierung der NS-Volksgemeinschaft im Schülerlabor liegen. Daraus lässt sich schließen, dass die Schüler_innen gerade für den historischen Begriff mehr sensibilisiert werden müssen. Zudem ist zu überlegen, ob die Lernenden durch eine Operationalisierung der Bedeutungsinhalte von Volksgemeinschaft konkreter an das Analysekonzept herangeführt werden können.36 Die entscheidende fachdidaktische Frage ist jedoch, ob man das Konzept der Volksgemeinschaft in jedem Fall benötigt, um soziale Verhältnisse während des Dritten Reiches einzufangen. Suggeriert es den Lernenden genauso wie die Kategorien »die Deutschen« und »die Juden« Einheitlichkeit, wo doch vielmehr Differenzen in der Gesellschaft bestanden?37 Vielleicht sollte auch genau diese Erkenntnis Bestandteil des historischen Lernens sein, indem das Quellenmaterial so ausgewählt wird, dass die Intention zur Entwicklung der Volksgemeinschaft eben nur sehr bedingt greift. So könnte herausgearbeitet werden, dass Menschen sehr unterschiedlich reagiert haben und die Tatsache, dass jemand z. B. aus Angst den Kontakt mit jüdischen Deutschen abbrach, noch nicht heißt, dass er sich der Volksgemeinschaft im nationalsozialistischen Sinne verbunden fühlte. Auch wenn durch den Volksgemeinschaftsansatz in einem epistemischen Sinne eine stärkere Hinwendung zur Gesellschaft während des Nationalsozialismus stattgefunden hat, sollte in didaktischen Settings darauf geachtet werden, dass bei aller »Gemeinschaftlichkeit« individuelle Handlungen, Beweggründe und Bedingungen in ihrer Pluralität deutlich zum Tragen kommen.
35 Martina Steber/Bernhard Gotto: Volksgemeinschaft im NS-Regime. Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens. In: VfZ 3 (2014), S. 433–445, hier S. 433. 36 Eine Operationalisierung findet sich ebd., S. 439–443. 37 Vgl. Janosch Steuwer : Was meint und nützt das Sprechen von der Volksgemeinschaft? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 53 (2013), S. 487–534, hier S. 533.
Die NS-Volksgemeinschaft als Lerngegenstand
5.
173
Fazit und pragmatischer Ausblick
Dieser Beitrag beleuchtete – anhand eines Lehr-/Lernangebots mit dem Ziel der Wissenschaftsvermittlung im Schülerlabor – Möglichkeiten, das Thema NSVolksgemeinschaft zum Gegenstand des historischen Lernens werden zu lassen. Zugleich sollten dahingehend erste empirische Einsichten darüber skizziert werden, welches Verständnis von und welchen Umgang mit diesem Thema Oberstufenschüler_innen zeigen. Auf Letzteres möchte ich hier resümierend eingehen und einen didaktisch-pragmatischen Ausblick wagen: Die inhaltsanalytische Auswertung der im Schülerlabor entstandenen Essays ergab, dass die teilnehmenden Schüler_innen den Begriff Volksgemeinschaft oder damit in Beziehung stehende Begrifflichkeiten vor allem als Bestandteil von Quellensprache thematisierten. Weit seltener gingen sie auf den Begriff oder seine Variationen als Bestandteile von bzw. analytische Kategorien in Darstellungstexten ein. Vereinzelt wurde Volksgemeinschaft auch als eigene Analysefolie für Ursachen und Formen gesellschaftlicher Veränderungen der NS-Gesellschaft in den Schüler_innen-Essays genutzt. In den meisten Fällen verwendeten die Schüler_innen jedoch alternative Formulierungen, um die gesellschaftlichen Veränderungen und Verhältnisse im nationalsozialistischen Deutschland zu benennen und zu erklären. Wie gezeigt wurde, sind mit der Beschäftigung mit dem Begriff und dem Konzept der Volksgemeinschaft im Schülerlaborprojekt einige Potenziale, aber auch Grenzen verbunden: Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Volksgemeinschaft macht die Gesellschaft bzw. gesellschaftlichen Entwicklungen während der NS-Zeit in der Tat zu einer Problemstellung, die für das historische Lernen nutzbar ist, indem im historischen Kontext nach Antworten gesucht wird.38 Dies kann beispielsweise geschehen, indem die Begriffsverwendung historisch untersucht oder gefragt wird, inwiefern Volksgemeinschaft als Analysefolie durch Historiker_innen Verwendung findet und für eigene Erklärungen geeignet ist. Historische Begriffskonzepte sind elementare Werkzeuge, um über historische Fragen nachzudenken und historische Sachverhalte zu benennen, zu analysieren und zu erklären. Verständnis für solche Begriffskonzepte zu wecken und zur adäquaten Nutzung zu befähigen, ist ein Ziel des historischen Lernens.39 Jedoch sind die Schüler_innen in der Auseinandersetzung mit dem Begriff und Konzept Volksgemeinschaft ganz besonderen Herausforderungen ausgesetzt. In 38 Vgl. Thießen (Anm. 18), S. 23. 39 Vgl. Jannet van Drie/Carla van Boxtel: Historical Reasoning. Towards a Framework for Analyzing Students’ Reasoning about the Past. In: Educational Psychology Review 20 (2008) H. 2, S. 87–110, hier S. 13–19.
174
Marcel Mierwald
der fachhistorischen Literatur wird diesbezüglich einhellig herausgearbeitet, dass der Begriff sowohl Bestandteil von Quellen- als auch von Analysesprache ist. Fachdidaktisch gewendet kann man davon sprechen, dass Volksgemeinschaft ein Begriffskonzept mit großer Bedeutungsfülle ist. Die Lernenden sind damit konfrontiert, dass sowohl der zeitgenössische Terminus als auch dessen Verwendung durch Historiker_innen als analytische Kategorie eine außerordentliche Bedeutungsvielfalt besitzt, die das Verständnis erschweren kann.40 Eventuell könnte eine Begriffsgeschichte / la Koselleck als didaktisches Instrumentarium Abhilfe schaffen, indem Sprache direkt als »Indikator der vorgefundenen ›Realität‹ […] [oder als] Faktor der Realitätsfindung«41 zum Lerngegenstand wird. Hier gilt es weiter über konkrete Möglichkeiten der Begriffsbildung im Geschichtsunterricht nachzudenken und auch grundlegend die Leistungsfähigkeit des Analysekonzepts zu hinterfragen.42 Abschließend ist festzuhalten, dass sich die reflektierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff und dem Konzept der Volksgemeinschaft durchaus zu lohnen scheint; außerdem lässt sich anfügen, dass der vielleicht größte Verdienst der fachwissenschaftlichen und nun anschließenden fachdidaktischen Diskussion über die NS-Volksgemeinschaft darin liegt, die Perspektive auf die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus weiter für Fragen der vielfältigen Verhaltensweisen, individuellen Handlungsmöglichkeiten und unterschiedlichen Emotionen unter der NS-Herrschaft geöffnet zu haben.43 Dies birgt große Potenziale für historische Lernprozesse mittels Thematisierung des Lerngegenstandes NS-Volksgemeinschaft.
40 Vgl. Steuwer (Anm. 37), S. 533. 41 Reinhard Koselleck: Begriffsgeschichte. In: Stefan Jordan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Begriffe. Stuttgart 2007, S. 40–44, hier S. 40. 42 Siehe hierzu u. a. Bettina Alavi: Begriffsbildung im Geschichtsunterricht. Problemstellung und Befunde. In: Uwe Uffelmann/Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Verstehen und Vermitteln. Idstein 2004, S. 39–61. 43 Vgl. Michael Wildt: Volksgemeinschaft – eine Zwischenbilanz. In: von Reeken/Thießen (Anm. 26), S. 369.
Dirk Strohmenger
Volksgemeinschaft – ein belastetes oder belastbares Konzept für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht? Die Arbeit an der Urteilskompetenz mit Vorausurteilen und Geschichte vor Ort
1.
Aktualität des wissenschaftlichen Volksgemeinschaft-Analysekonzeptes
»›Volksgemeinschaft‹ hat Hochkonjunktur.«1 Der Historiker Daniel Mühlenfeld beginnt mit dieser These 2013 den »Trendbericht« über den Terminus der Volksgemeinschaft und erörtert dabei den Nutzen dieser analytischen Sonde für die Zeitgeschichtsforschung. Er führt für diese Entwicklung der letzten Jahre u. a. den Verweis auf die vierte internationale Konferenz zur Holocaustforschung im Jahr 2013 mit dem Titel: »Volksgemeinschaft – Ausgrenzungsgemeinschaft. Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933« an. Dieser »Trendbericht« kann mittlerweile durch weitere einschlägige Publikationen2 und Tagungen, so etwa 2015 jener zum didaktischen Potenzial sowie dem internationalen Abschlusskongress zur Volksgemeinschaft des niedersächsischen Forschungskollegs fortgesetzt werden.3 In diesem Aufsatz wird versucht, die Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik zusammenzubringen und mögliche Potenziale und Lasten aufzuzeigen, die das wissenschaftliche Volksgemeinschaft-Konzept für die Di1 Daniel Mühlenfeld: Vom Nutzen und Nachteil der »Volksgemeinschaft« für die Zeitgeschichte. Neuere Debatten und Forschungen zur gesellschaftlichen Verfasstheit des »Dritten Reiches«. In: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau (2013), H. 66, S. 71–104, S. 71. 2 Als ein Beispiel für die ab 2013 erschienenen Publikationen: Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hrsg.): »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn u. a. 2013 (Nationalsozialistische »Volksgemeinschaft«, Bd. 4). Vgl. auch Martina Steber/Bernhard Gotto (Hrsg.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives. Oxford 2014 sowie dies.: »Volksgemeinschaft« im NS-Regime. Wandlungen, Wirkungen und Aneignungen eines Zukunftsversprechens. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 62 (2014), H. 3, S. 433–445. 3 Der vorliegende Sammelband geht auf die Tagung im Mai 2015 in Schleswig zum »Vermittlungspotenzial der ›NS-Volksgemeinschaft‹« zurück. Im Juni 2015 fand in Hannover folgende Tagung statt: Der Ort der »Volksgemeinschaft« in der deutschen Gesellschaftsgeschichte. Internationaler Abschlusskongress des niedersächsischen Forschungskollegs »Nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹?«, vgl. http://www.foko-ns.de (aufgerufen am 02. 11. 2015).
176
Dirk Strohmenger
daktik und insbesondere den Schulalltag mit sich bringen kann. Bei der Verzahnung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik anhand von Volksgemeinschaft orientiert sich der Autor dabei an den von Malte Thießen zuletzt 2015 herausgestellten Potenzialen des Konzeptes für die Fachdidaktik, die er mit »Konkretisierung«, »Versachlichung« und »Dynamisierung« überschrieben hat.4 In diesem Dreischritt wird versucht, die neueren Forschungsansätze zur Volksgemeinschaft mit dem Geschichtsunterricht zu verbinden und zu operationalisieren. Der Aufsatz gliedert sich folgendermaßen: Zunächst erfolgt eine Konzentration auf Herausforderungen der NS-Thematik im Geschichtsunterricht und die sogenannten Vorausurteile über die NS-Zeit, die Schüler_innen in den Unterricht mitbringen und die eine »Konkretisierung« erfahren sollen. Im zweiten Schritt wird eine Variante zur »Versachlichung« vorgestellt, nämlich die Arbeit an der Analyse- und Urteilskompetenz der Schüler_innen, es folgen konzeptionelle Überlegungen zur Tauglichkeit der Volksgemeinschaft als Oberbegriff in der Schule sowie zu einer NS-Geschichte vor Ort. Der Urteilsbildungsprozess endet mit einer »Dynamisierung« im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht. Einige Beispiele aus der Unterrichtspraxis sollen das skizzierte Unterrichtskonzept verdeutlichen und schließlich generelle Aussagen zur Belastbarkeit des Volksgemeinschaft-Konzeptes in der Fachwissenschaft und der Fachdidaktik möglich machen.
2.
Was soll guter Geschichtsunterricht leisten? Ein neuer Umgang mit den Herausforderungen der NS-Thematik durch das Volksgemeinschaft-Konzept?
Da Volksgemeinschaft einen bedeutenden Gegenstand des aktuellen fachwissenschaftlichen Diskurses darstellt, fällt der erste Brückenschlag zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik überaus leicht, sollen nach Peter Gautschi doch gerade fachspezifisch bedeutsame Inhalte und Themen in einem »guten Geschichtsunterricht« behandelt werden: »Geschichtsunterricht ist dann gut, wenn Schülerinnen und Schüler anhand von fachspezifisch bedeutsamen Inhalten und Themen mittels eines Unterrichtsprozesses, der den Ansprüchen der Bezugswissenschaften entspricht, relevantes geschichtliches Wissen und für Historisches Lernen grundlegende Kompetenzen erwerben und ausdifferen-
4 Malte Thießen präsentierte dies auf der Tagung in Hannover 2015 (Anm. 3) in seinem Vortrag: Lernziel »Volksgemeinschaft«? Chancen und Schwierigkeiten neuer NS-Forschungen für einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht.
Volksgemeinschaft – im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
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Abb. 1: Modell Volksgemeinschaft-Konzept und Förderung der Sach- und Urteilskompetenz im Geschichtsunterricht (Quelle: Eigene Darstellung).
zieren.«5 Gautschi vertritt die Meinung, dass der Geschichtsunterricht zur »Entwicklung von Einstellungen« beitragen kann bzw. soll. Ohne die Schüler_innen »überrumpeln« zu wollen, d. h. ihnen nicht als Lehrer eine »Leitmeinung« vorzugeben, soll der Geschichtsunterricht positive Einstellungen zu den zentralen Werten wie »Frieden, Freiheit in Gemeinschaft, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichberechtigung der Geschlechter, Verantwortung für die Umwelt« aufbauen.6 Dies scheint umso wichtiger, da die bereits 2007 für die Schweiz getroffene Feststellung im Jahr 2016 (nicht nur) für Europa ihre Aktualität besitzt: »Extremismus ist wieder alltäglich geworden. Gewalttätige Ausschreitungen machen Schlagzeilen. Rassistische und nationalistische Äußerungen finden sich in Medien, auf Plakatwänden und werden während Kulturund Sportveranstaltungen öffentlich verbreitet.«7 Der Befund zum »Extremismus« und die zentralen Werte des Geschichtsunterrichts wurden angeführt, da darin ein möglicher Schlüssel zur Etablierung des geschichtswissenschaftlichen Volksgemeinschaft-Konzeptes im Schulunterricht liegen könnte. Zunächst stellt der Nationalsozialismus nicht nur den einzigen Inhalt dar, der keiner Begründung für die Verankerung in den Lehrplänen bedarf, er ist zu5 Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht: Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 100. 6 Peter Gautschi: Der Beitrag des Geschichtsunterrichts zur Entwicklung von Einstellungen. In: Jan-Patrick Bauer/Johannes Meyer-Hamme/Andreas Körber (Hrsg.): Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen. Festschrift für Bodo von Borries zum 65. Geburtstag. Kenzingen 2008, S. 289–306, S. 294. 7 Ebd., S. 289.
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Dirk Strohmenger
gleich ein Thema, für das gewissermaßen eine Leitmeinung vorgegeben ist.8 Diese Relevanz, aber auch die starke Normierung der Werturteile zur NS-Zeit ist »Segen und Fluch« zugleich.9 Der Beutelsbacher Konsens samt »Konsensproblem« tritt bei diesem Thema wie bei keinem anderen in einem Brennglas deutlich zu Tage.10 Eine Normierung der Bewertung der NS-Zeit verhindert nicht nur Pluralität, sie fördert darüber hinaus eine Übersättigung, wie sie Meik Zülsdorf-Kersting bei Schüler_innen unterschiedlicher Sekundarschulen nachgewiesen hat.11 Zumal sich bisherige Unterrichtsmaterialien größtenteils in Darstellungen der »extremen« Positionen von Inklusion (z. B. ein_e blonde_r, blauäugige_r Teenager_in, dem bzw. der scheinbar eine rosige Zukunft im Nationalsozialismus bevorsteht) und Exklusion erschöpfen, die in nicht wenigen Fällen durch NS-Propagandabilder thematisiert werden. Einige der »bisher verwendeten Muster [sind] als kontraproduktiv einzuschätzen. So bleibt beispielsweise häufig als Langzeiteffekt […] das ›Stürmer-Bild‹ des Juden in Erinnerung, der eben vom Rest der Gesellschaft abgegrenzt ist, keine anderen Interessen hat, als seinen Reichtum zu mehren«12.
Des Weiteren ist in den Unterrichtsmaterialien aus nachvollziehbaren Gründen meist nicht der neueste Forschungsstand wiedergegeben, wie es u. a. die verschiedenen Volksgemeinschaft-Definitionen in den Schulbüchern belegen.13 Die erste Herausforderung besteht nun darin, das wissenschaftliche Konzept der Volksgemeinschaft in ein Unterrichtskonzept zu überführen, in dem stets die Lernenden und deren Kompetenzerwerb im Mittelpunkt stehen. Das wissen8 Vgl. Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt a. M. 2004. 9 Vgl. Themenheft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 60 (2009), H. 5/6 sowie Hanss-Fred Rathenow/Birgit Wenzel/Norbert H. Weber (Hrsg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung. Schwalbach/Ts. 2013 (Politik und Bildung, Bd. 66). 10 Vgl. Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977. Siehe auch: http://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-kon sens (aufgerufen am 02. 01. 2016). 11 Vgl. Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin 2007 (Geschichtskultur und Historisches Lernen, Bd. 2) sowie ders.: »Immer wieder dieses Thema! Das ist einfach zu langweilig!« – Außerschulische Bildung zum Thema Nationalsozialismus im Kontext von Lernfrustrationen und Übersättigung. In: Siegfried Grillmeyer/Zeno Ackermann (Hrsg.): Erinnern für die Zukunft. Die nationalsozialistische Vergangenheit als Lernfeld der politischen Jugendbildung. Schwalbach/Ts. 2002, S. 89–98. 12 Thomas Kreuder : Schule des Vorurteils. Forschung zum Antisemitismus. In: Frankfurter Rundschau vom 24. Januar 2007. Vgl. auch Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.): Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus. Frankfurt a. M. 2006 (Jahrbuch 2006 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust). 13 Vgl. dazu den Aufsatz von Etienne Schinkel in diesem Band.
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schaftliche Volksgemeinschaft-Konzept möchte die Grautöne abbilden, die zwischen schwarz und weiß liegen, und aufzeigen, dass es gerade diese mannigfaltigen Unterschiede waren, die das diktatorische NS-System dynamisierten und zugleich festigten. Einige »Volksgenoss_innen« waren gewissermaßen gleicher als andere und das »Dritte Reich« wurde nicht nur von Terror und Verführung, sondern besonders auch von Distinktion geprägt.14
3.
Diagnose und Konkretisierung
Für die Didaktik, die nicht nur eine Reflexions- sondern auch Handlungswissenschaft ist, könnte das Potenzial von Volksgemeinschaft im Gebrauch als Oberbegriff im Geschichtsunterricht liegen, um vermeintlich einzelne NSThemen zu vernetzen, die durch Zwänge im Schulalltag allzu oft als einzelne nicht miteinander verbundene, vom Schulbuch vorgegebenen Themenblöcke erscheinen. Mit Volksgemeinschaft als Oberbegriff könnte es gelingen, das Gesamtthema des Nationalsozialismus im Unterricht neu auszurichten und es fit für die Herausforderungen der Migrationsgesellschaft in Deutschland zu machen. Eine diesbezügliche Unterrichtskonzeption müsste versuchen, an den Wurzeln anzusetzen, die für jedweden »Extremismus« ursächlich sind. Es sind nämlich die vagen, unsachlichen Urteile über etwas »Fremdes«, die sich allmählich zu einem Weltbild, damit immanent auch zu einem Feindbild, formen und sich bis zur Ideologie entwickeln können, die dann wiederum sehr schwer »aus den Köpfen gelöscht« werden kann. Eine Unterrichtsreihe zum Nationalsozialismus sollte daher zunächst das Einlassen auf etwas »Fremdes« und die damit verbundenen zentralen Kompetenzen der Perspektivübernahme und der Urteilskompetenz im Geschichtsunterricht fördern, diese früh ausbilden, festigen und präzisieren. Den Ausgangspunkt einer Unterrichtsreihe sollte ein diagnostizierter Problemhorizont der Schüler_innen bilden. So bringen Schüler_innen der Sek. I und II zu dem verbindlichen Unterrichtsthema »Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg« sowie »Holocaust«, sei es etwa durch Film, Funk, Fernsehen, Internet, Bücher und Gespräche mit Erwachsenen, einige Vor(aus)urteile und »Vorwissen« über die NS-Zeit in den Unterricht mit.15 »Was […] spricht dage-
14 Vgl. Malte Thießen: Zeitgeschichte als Aufgabe. Impulse zeithistorischer Forschungen für einen kompetenzorientierten Geschichts- und Politikunterricht. In: Geschichte für heute 7 (2014), H. 3, S. 20–31. 15 Der Autor kann sich dabei auf eigene Analyseergebnisse der Pädagogischen Facharbeit zur Zweiten Staatsprüfung am Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Heppenheim stützen: Dirk Strohmenger : Vom Vorurteil zum Sachurteil. Eine lokalgeschichtliche Analyse
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Dirk Strohmenger
gen, auch in der Schule offen über die Erwartungen an das Thema zu sprechen und als Lehrer bereit zu sein, ›politisch inkorrekte‹ Schüleraussagen fruchtbar zu machen, statt sie empört abzuqualifizieren?«16 Eine Selbstdiagnose zu Beginn der Unterrichtsreihe soll helfen, die bereits bestehenden Vorausurteile und Vorurteile der Schüler_innen zum geschichtlichen Thema der NS-Zeit zu identifizieren.17 Damit erfährt das Thema des Nationalsozialismus eine »Konkretisierung« im Klassenraum. Die Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis zeigen durchaus eine Vielfalt an NS-Wissensbeständen. Einige sind nach Schüler_innenmeinung relativ gut durch Faktenwissen abgedeckt, doch diese als »Wissen« deklarierten Kenntnisse entbehren meist der historischen Grundlage, da sie bei Nachfrage allzu oft nicht ausreichend begründet werden können. Daraus ergibt sich für die Konzeption der Unterrichtsreihe die Prämisse, die Schüler_innen in die Lage zu versetzen, ihre historische Urteilsfähigkeit und ihr Sachwissen über die NS-Zeit auf- bzw. auszubauen. Dies gelingt, wenn die Äußerungen bzw. Auffassungen der Schüler_innen nicht als Defizite gebrandmarkt werden, sondern sie aufgegriffen und in den Geschichtsunterricht integriert werden. Die Vorausurteile18 müssen sensibel offengelegt und unter einer Problemfrage zur Grundlage für die gesamte Unterrichtsreihe gemacht werden. Im Plenum kann sich beispielsweise folgende Problemfrage entwickeln, die fortan das Unterrichtsgeschehen begleitet und für Transparenz sorgt: Stimmen unsere durch Fernsehen, Internet, PC-Spiele, Freund_innen, Bekannte und Großeltern entstandenen (Voraus-)Urteile über die NS-Zeit? Die jeweilige Anzahl von Schüler_innenaussagen, die einem bestimmten thematischen Bereich des Nationalsozialismus zuzuordnen sind, kann dabei den Ausschlag geben, welches Thema im Unterricht schwerpunktmäßig behandelt der NS-Volksgemeinschaftsidee in einer Lerngruppe der Jahrgangsstufe 9 der Georg-AugustZinn-Schule. Reichelsheim 2014. 16 Christian Staas: Jugendliche und NS-Zeit: Was geht mich das noch an? Unsere Umfrage zeigt: Die NS-Zeit bewegt die Jugendlichen nach wie vor. Aber sie wollen nicht auf Befehl betroffen sein. In: ZEITonline, Nr. 45 vom 04. 11. 2010, verfügbar unter : http://www.zeit.de/ 2010/45/Erinnern-NS-Zeit-Jugendliche (aufgerufen am 08. 08. 2014). 17 Dazu bieten sich verschiedene Varianten vom klassischen Brainstorming bis zur Arbeit mit Diagnosebögen und Kompetenzrastern an, vgl. Holger R. Stunz: Transparenz und Selbstsicherheit. Selbstdiagnosebögen im Anfangsunterricht. In: Sammelband Geschichte lernen 116 (2007), S. 14–20. Vgl. auch den Selbstdiagnosebogen zum Nationalsozialismus für die Sekundarstufe: Frank G. Becker/Holger R. Strunz (Bearb.): Kompetenztraining Geschichte. Selbstdiagnose-, Förder- und Testbögen als Kopiervorlagen. Berlin 2011, S. 209. Vgl. auch Andreas Füchter : Diagnostik und Förderung im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht. Didaktische Konzeption und unterrichtspraktische Ansätze für die Unterrichtsfächer Politik, Wirtschaft, Geschichte und Geographie. Kassel 2010. 18 Der Terminus »Vorausurteil« steht für die noch zum Teil unreflektierten Aussagen der Schüler_innen und wird explizit nicht abwertend gebraucht. Er beinhaltet auch Vorurteile im klassischen Sinne, d. h. starke, teilweise ideologisch gefestigte Meinungen. Vgl. http://www. duden.de/rechtschreibung/Vorurteil (aufgerufen am 08. 08. 2014).
Volksgemeinschaft – im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
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werden soll. Im folgenden Beispiel aus einer neunten Klasse am Gymnasium wurde Volksgemeinschaft unter der besonderen Berücksichtigung der Judenverfolgung vor Ort untersucht. Ursächlich dafür waren die Aussagen von Schüler_innen aus dieser Lerngruppe (Auswahl): »A) Natürlich weiß ich etwas darüber! Als Hitler an die Macht kam, kamen alle Juden in die KZ’s, die wurden sofort vergast! B) Die Juden waren teilweise selber Schuld! C) Sie [jüdische Deutsche] waren reich […] auf jeden Fall reicher als die Deutschen! D) Man konnte sowieso nichts dagegen [Judenverfolgung] machen. E) Die jüdischen Kirchen wurden damals angesteckt, hier [vor Ort] weiß ich nichts davon. F) Von diesen Sachen wird fast niemand etwas mitbekommen haben. G) Man hätte eh nichts [dagegen] machen können. H) Haben Juden hier überhaupt gewohnt? I) Doch! Es gibt doch auch hier Stolpersteine! J) Hier gab’s auch mal eine Synagoge, glaube ich jedenfalls.«19
4.
Das fachwissenschaftliche Modell im Geschichtsunterricht. Versachlichung: Arbeit an Sachurteilen und Perspektivübernahme
Um an dem diagnostizierten »bunten Strauß« an Vorausurteilen der Schüler_innen über die NS-Zeit im Unterricht zu arbeiten, bieten sich verschiedene Lösungsansätze an, beispielsweise die Konzentration auf den Kompetenzerwerb der Sach- und Urteilskompetenz.20 Quellenanalysen bzw. deren Vergleich untereinander sind geeignet dafür, zumal in der Fachdidaktik Konsens besteht, dass ein Sachurteil das Ergebnis von Sachanalysen darstellt. Der Fokus liegt auf dem Entwicklungsprozess von Vorausurteilen zu historischen Sachurteilen. In der didaktischen und methodischen Fachliteratur wird dieser erste Entwicklungsschritt größtenteils vernachlässigt und dafür der zweite Entwicklungsschritt, nämlich der Prozess vom Sachurteil zum Werturteil, in das Zentrum 19 Siehe Strohmenger (Anm. 15), S. 5f. 20 In Hessen stellt die Urteilskompetenz nur eine von insgesamt vier Leitkompetenzen dar, die allesamt zur Narrativen Kompetenz beitragen bzw. in ihr münden. Siehe: Hessisches Kultusministerium und Institut für Qualitätsentwicklung (Hrsg.): Leitfaden Geschichte. Maßgebliche Orientierungstexte zum Kerncurriculum. Sekundarstufe I. Wiesbaden 2011; Hessisches Kultusministerium (Hrsg.): Das neue Kerncurriculum für Hessen. Geschichte, Bildungsstandards und Inhaltsfelder. Sekundarstufe I – Gymnasium. Wiesbaden 2011, bes. das Schaubild: Kerncurriculum Geschichte. Vgl. auch Hessisches Kultusministerium (Hrsg.): Lehrplan Geschichte. Gymnasialer Bildungsgang, Jahrgangsstufen 5G bis 9G und gymnasiale Oberstufe. Wiesbaden 2010, S. 15, S. 22, S. 24 u. S. 26–31.
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gestellt.21 Dabei beginnt das Historische Lernen nach Franziska Conrad bei der Perspektivübernahme, erst dies ermöglicht die historische Urteilsfähigkeit: »Um das Denken und Handeln eines historischen Akteurs nachzuvollziehen, ist es notwendig, probeweise mit seinen Augen zu blicken. Nur die Bereitschaft, eine fremde Perspektive einzunehmen, schafft Verständnis für historische wie gegenwärtige Entscheidungen und Konflikte.«22
So gilt es nun, einzelne Vorausurteile aufzunehmen und diese anhand von konkreten historischen Perspektiven von Akteur_innen der NS-Zeit vor Ort zu überprüfen, etwa als HJ-Angehörige_r oder jüdische_r Jugendliche_r oder zeitgenössische_r Beobachter_in von bestimmten Aktionen. Hier kann das fachwissenschaftliche Volksgemeinschaft-Konzept dem Geschichtsunterricht durchaus eine Stütze sein, da es zur Förderung von Multiperspektivität und Urteilsfähigkeit sowie zur Einbeziehung außerschulischer Lernorte im Nahbereich der jeweiligen Schule beiträgt. So steht das wissenschaftliche Konzept nach Thießen unter folgenden Prämissen: »1. ›Doing community‹. ›Volksgemeinschaft‹ als Praxis und Prozess. 2. Verortung der ›Volksgemeinschaft‹ im Nahbereich. 3. Vergleich und transnationale Zusammenhänge der ›Volksgemeinschaft‹.«23
Im Folgenden liegt die Konzentration auf den Potenzialen der beiden erstgenannten Punkte, während der dritte Punkt der Transnationalisierung nicht weiterverfolgt wird. Insgesamt sollte der Geschichtsunterricht die von Thießen geforderte »Versachlichung« umsetzen, dabei hängt das Potenzial untrennbar mit kontroversem Geschichtsunterricht zusammen, da die Auseinandersetzung mit Volksgemeinschaft die Beschäftigung mit unterschiedlichen Perspektiven im Sinne Klaus Bergmanns durch historische Sachverhalte fördert. Allgemein gelten bestimmte Quellengattungen als besonders ertragreich, um eine Perspektivübernahme bei den Schüler_innen zu erreichen.24 Nach Birgit Wenzel sollte 21 Vgl. Franziska Conrad: Perspektivübernahme, Sachurteil und Werturteil. Drei zentrale Kompetenzen im Umgang mit Geschichte. In: Geschichte lernen 24 (2011), H. 139, S. 2–11. Vgl. auch Hans-Jürgen Pandel: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 130–142 sowie ders.: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005. Zur Schaffung eines Historizitätsbewusstseins siehe dort besonders S. 8–23. 22 Conrad (Anm. 21), S. 3. 23 Thießen (Anm. 4): Inhalt der Vortragsfolie mit dem Titel »1. Befunde geschichtswissenschaftlicher Forschungen zur ›Volksgemeinschaft‹: eine ganz kurze Skizze«. Vgl. auch Dietmar von Reeken/Malte Thießen: »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis? Perspektiven und Potenziale neuer Forschungen vor Ort. In: Dies. (Anm. 2), S. 11–33. 24 Dazu zählen besonders persönliche Zeugnisse wie Tagebücher. Weitere Quellengattungen, die sich für die »Historische Perspektivübernahme« anbieten, bei Michael Sauer : Histori-
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darauf geachtet werden, dass den Schüler_innen die Perspektivübernahme von extremen Rollen, etwa Opfer von Vergewaltigungen oder Massenmörder, nicht zugemutet wird und nicht nur sie gibt einige konkrete Beispiele für NS-Biographien durch Rollenkarten vor.25 Im Sinne einer Geschichte vor Ort könnten Schüler_innen solche Rollenkarten auch anhand von lokalen Quellen zu erstellen versuchen. Bei einer Unterrichtskonzeption zur Volksgemeinschaft ist es daher wichtig, dass Schüler_innen durch didaktische und methodische Schritte, etwa durch die Tätigkeit als »damaliger Zeitungsjournalist«, die Quellen analysieren und bewerten, um die unterschiedlichen Sichtweisen vom historischen und gegenwärtigen Standpunkt aus zu beleuchten, z. B. durch die Methode des »Objektinterviews«.26 Die Arbeit mit Kurzbiografien und außerschulischen Lernorten im Lebensumfeld der Schüler_innen trägt zur »Dynamisierung« der Urteilskompetenz im Geschichtsunterricht bei, indem die Erkenntnis gefördert wird, dass das Wissen zum Nationalsozialismus ausgehandelt werden muss. Bei der Distinktion27 als Muster sozialer Ordnung lernen Schüler_innen, dass im nationalsozialistischen Volksgemeinschaft-Konzept feine, aber im Alltag sehr wirkmächtige Unterschiede gemacht wurden. Damit gelingt es, in einer Unterrichtsreihe zur Volksgemeinschaft gleich mehrere von Conrad aufgestellte »fachspezifische« und »fachübergreifende Kompetenzbereiche« auf vielfältige Weise zu bedienen.28 Um Schüler_innenäußerungen und die Diagnose des Kompetenzzuwachs hinsichtlich der Urteilsfähigkeit bewerten zu können, bieten sich Graduierungsraster nach dem Dreischritt-Modell von Conrad an: 1. »Perspektivübernahme«, 2. »Beurteilen – Fällen von Sachurteilen« und 3. »Bewerten – Fällen von Werturteilen«.29
25
26 27 28 29
sche Perspektivübernahme. Methodische Anregungen. In: Geschichte lernen (Anm. 21), S. 12–17. Vgl. Methode »Ich sehe so, wie du nicht siehst« in Birgit Wenzel: Kreative und innovative Methoden. Geschichtsunterricht einmal anders. In: Michele Barricelli u. a. (Hrsg.): Methoden Historischen Lernens. 3. Aufl. Schwalbach/Ts. 2012, S. 122–129. Weitere Beispiele für insg. 15 Rollenkarten (Sek. I) finden sich bei Wolfgang Neufert/Horst Oelze: »…und der Zukunft zugewandt!?« Erfahrungsbericht über ein Entscheidungsspiel zum 8. Mai 1945. In: Michael Sauer (Red.): Geschichte lernen. Sammelband Geschichte lehren und lernen – Unterrichtsmethode, Lerntechniken, Handlungsorientierung. Seelze 1997, S. 123–127. Zum »Objektinterview« siehe Wenzel (Anm. 25), S. 182–187. Vgl. Thießen (Anm. 14), S. 20–31. Eine diesbezügliche summarische Zusammenstellung der einzelnen Kompetenzbereiche findet sich in Strohmenger (Anm. 15), S. 12. Conrad (Anm. 21), S. 3.
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5.
Dirk Strohmenger
Außerschulische Lernorte zur NS-Geschichte vor Ort
Im Fach Geschichte bieten außerschulische Lernorte die Möglichkeit, mit allen Sinnen zu lernen, den Bezug zur Lebenswelt der Schüler_innen und zur umgebenden Wirklichkeit herzustellen und u. a. das Lernen als Prozess des aktiven Suchens und Forschens sowie Multiperspektivität wahrzunehmen. Dabei ist Geschichte nach Peter Knoch »weder im Klassenzimmer anzuschauen, noch vor Ort zu besichtigen. Geschichte existiert, wenn überhaupt, nur als Vorstellungsbild in unseren Köpfen. Aber die Rekonstruktionen, die Bilder in unseren Kopf können wir nur mit Hilfe jener Spuren, Überreste, Quellen, Hilfsmittel aufbauen.«30 Entscheidend für den Geschichtsunterricht ist die Didaktisierung der betreffenden außerschulischen Orte, um daraus historische Lernorte zu machen. Es handelt sich weder um einen »Ausflug«, noch um einen »Frontalunterricht im Freien«; vielmehr sollte schüler_innengenerierte Konstruktion anstatt lehrer_innenzentrierter Instruktion am »historischen« Ort stattfinden. Diese Grundgedanken decken sich mit den aktuellen Konzeptionen des Lernens an außerschulischen Orten und können auf Waltraud Schreibers »Idealtypen« des Lernens am historischen Ort aufbauen: die Erkundung, die Rekonstruktion historischer Ereignisse und das Hinterfragen gedeuteter Geschichte.31 Dies trägt zur weiteren »Versachlichung« und »Dynamisierung« einer Unterrichtseinheit zur Volksgemeinschaft bei, da die Methodik der Unterrichtsreihe ebenfalls auf die Problemausgangslage bezogen und eine Vier-Schritt-Methode angewandt werden kann: 1. Vor(aus)urteile, 2. Erkundung, 3. Rekonstruktion und 4. Hinterfragen. Die der Unterrichtsreihe zugrunde gelegte didaktische Fragestellung könnte wie folgt lauten: Inwiefern trägt der Besuch von außerschulischen Lernorten sowie die schüler_innenorientierte Entwicklung einer exemplarischhistorischen Lokalgeschichte zur Volksgemeinschaft vor Ort zur historischen Urteilskompetenz von Schüler_innen bei? Am Ende der Unterrichtsreihe sollten Schüler_innen ausgehend von »ihren« Ergebnissen aus der Sachanalyse in der Lage sein, Sachurteile über die NSGeschichte zu fällen und ihre anfänglichen Vorausurteile durch Historizität, Perspektivübernahme und Multikausalität zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren, nämlich anhand von Quellenanalysen und außerschulischen Lernorten. In der Sek. II bietet sich auch eine Diskussion über das neue »Reichsbürgergesetz« an und was man 1935 unter »vollen politischen Rechten« 30 Peter Knoch: Geschichte vor Ort. In: Praxis Geschichte 3 (1989), S. 6–13, hier S. 6. Diese These kann nach Meinung des Autors auch nicht durch steigende Zahlen des »HISTourismus« widerlegt werden. 31 Vgl. Christan Kuchler : Historische Orte im Geschichtsunterricht. Mit Beiträgen von Christian Bunnenberg, Martin Clauss, Andreas Hidasi und Friederike Huebner. Schwalbach/ Ts. 2012, S. 54. Vgl. auch Strohmenger (Anm. 15), S. 14.
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überhaupt verstehen konnte.32 So können alle verbindlichen Unterrichtsinhalte und fakultativen Themenbereiche zu »Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg« bzw. »Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur – Weimarer Republik und Nationalsozialismus« des hessischen Lehrplans sowohl in der Sek. I wie auch in der Sek. II mit Volksgemeinschaft als Oberthema behandelt werden.33 So bewertet der Autor außerschulische Lernorte als positiv für zukünftige Volksgemeinschaft-Unterrichtskonzepte. Die Schüler_innenschaft der Sek. I sah den Besuch von außerschulischen Lernorten im Geschichtsunterricht allgemein als bereichernd an, nicht nur, da dadurch der »klassische Schulalltag« aufgebrochen werden konnte. Die Volksgemeinschaft sei ihnen wirkmächtig vor das geistige Auge getreten, da sie nun soziale Praktiken der NS-Gesellschaft mit einem Ort aus ihrer Heimat verbinden konnten. Dass das System des »Dritten Reichs« aus zwei sich gegenseitig bedingenden Teilen – »Volksgenoss_innen« und »Volksfeind_innen« – und vor allem auch aus der Masse derer, die die Handlungsspielräume nutzten, die eine Volksgemeinschaft dem Einzelnen vor Ort bot, sei ihnen nun stärker bewusst. Schüler_innen bemerkten nicht erst in den Vertiefungs- und Reflexionsstunden, dass ihre anfänglichen Vorausurteile teils widerlegt, teils mit betreffenden Quellenfunden eine genauere historische Fundierung erfahren hatten, und lernten historisch zu argumentieren, wobei sie auf den Prozess verwiesen, wie sie von ihren Vorausurteilen zu Sachurteilen gelangt seien. Zudem empfanden die Schüler_innen als wohltuend, das Thema Nationalsozialismus nicht in einer Art verordneten Betroffenheit vermittelt bekommen zu haben, sondern sich manchmal als »echte Forscher_innen« gefühlt zu haben. Ein Kompetenzzuwachs im Bereich der Urteilsfähigkeit konnte diagnostiziert werden.34
6.
Landeszeitgeschichte und Neue Medien
Ein auf den oben genannten Bestandteilen fußendes Volksgemeinschaft-Konzept könnte zum tragenden fachdidaktischen Konzept werden, wenn es zukünftig gelänge, gerade Lehrkräften eine Unterstützung aus Fachdidaktik und Fachwissenschaft zukommen zu lassen, um außerschulische Lernorte besser in den Geschichtsunterricht zu integrieren. Es wäre für alle Beteiligten ein Gewinn, wenn besonders die digitalen Angebote von Landes- und Regionalgeschichte zur
32 Karin Laschewski-Müller/Robert Rauh (Hrsg.): Kursbuch Geschichte. Neue Ausgabe Hessen. Von der Antike bis zur Gegenwart. 3. Druck. Berlin 2012, Quelle M 6 (Absatz 3), S. 435. 33 Siehe Hessisches Kultusministerium: Lehrplan Geschichte (Anm. 20), S. 28f. und S. 41–43. 34 Vgl. Auswertung der Selbstdiagnosebögen am Anfang und Ende der Unterrichtsreihe. In: Strohmenger (Anm. 15), S. 21–30.
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NS-Geschichte ausgebaut würden, etwa von Universitäten oder außeruniversitären, teils landesunmittelbaren Forschungseinrichtungen. Online-Angebote, wie die »Topografie des Nationalsozialismus in Hessen« oder das Projekt »Lehrerhandreichung Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus« samt »Virtuellem Museum«, stellen bereits erste Anregungen dar.35 Auf dieser Grundlage könnten sich zukünftig Plattformen entwickeln, um schüler_innenzentrierte Unterrichtsgänge vor Ort samt »Objektinterviews« zu fördern, zu begleiten und dauerhaft zu sichern. Neue Medien könnten im Sinne der »Augmented Reality« den Geschichtsunterricht durch eine »erweiterte Realität« ertragreich(er) gestalten und damit die Potenziale einer »computergenerierte[n] Anreicherung der Wirklichkeit mit Informationen« noch stärker in der modernen Landeszeitgeschichte und bei außerschulischen Lernorten ausgeschöpft werden. Lehrer- und Schüler_innenschaft wäre die Möglichkeit gegeben »über Smartphone oder Tablet an bestimmten Standorten passende audiovisuelle oder textbasierte Informationen, Frage- oder Aufgabenstellungen« zu gestalten bzw. zu erhalten.36 Diese Vorgehensweise würde die NS-Themen des jeweiligen Schulbuches mit dem Nahbereich der Schüler_innen verbinden und damit einer »Vereinzelung« der Schulbuchthemen entgegentreten. Gleichzeitig würde es helfen, die in der fachwissenschaftlichen Konzeption von Volksgemeinschaft geforderte Vernetzung von Stadt und Land umzusetzen.37
7.
Volksgemeinschaft. Belastetes oder belastbares Konzept für den Geschichtsunterricht?
Für den Schulunterricht bleibt jedoch die Frage nach der Wichtigkeit des Begriffs der Volksgemeinschaft weiterhin offen. Zugespitzt könnte man sagen, dass der Begriff bisher eher verwirrt, da jeder erst einmal sagen muss, was er darunter 35 Vgl. das Onlinemodul »Topografie des Nationalsozialismus in Hessen« des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde, unter : http://www.lagis-hessen.de (aufgerufen am 15. 12. 2015) sowie Virtuelles Museum ViMu zur deutsch-dänischen Grenzregion, verfügbar unter http://www.vimu.info (aufgerufen am 15. 12. 2015).Vgl. auch Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte an der Universität Flensburg: Projekt Lehrerhandreichung Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus, u. a.: http://www. izrg.de/102.html und http://www.vimu.info/teacher_01.jsp?u=teacher& lang=de (aufgerufen am 15. 12. 2015). 36 Multimedia-Werkstatt der Goethe-Universität Frankfurt am 16. 11. 2015 zu den Apps Biparcours und Actionsbound: Beyond the Classroom – Augmented Reality, Educaching und Co., http://blog.studiumdigitale.uni-frankfurt.de/sd/blog/2015/10/27/augmented-reality-edu caching-und-co-multimediawerkstatt-am-16-november (aufgerufen am 20. 12. 2015). 37 Vgl. dazu den Aufsatz von Martina Steber/Bernhard Gotto in diesem Band und ihren Vortrag in Hannover 2015 (Anm. 3) unter dem Titel: Die Eigenkraft des Regionalen. Die ungeschöpften Potenziale einer Geschichte des Nationalsozialismus im kleinen Raum.
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versteht. Auf der internationalen Abschlusstagung in Hannover 2015 traten diese Schwierigkeiten ebenfalls auf. Habbo Knoch verwies darauf, dass selbst in der Wissenschaft der Terminus Volksgemeinschaft unterschiedlich verwendet werde, nämlich mit »akademischer, semantischer, praxeologischer und ontologischer« Aufladung. Weitgehender Konsens besteht darin, Volksgemeinschaft in einer semantischen und praxeologischen Kategorie zu verstehen. Zukünftig müsste definiert werden, wie »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« für die Zeit vor 1933 und lange nach 1945 zu verstehen sind. Neben diesen unterschiedlichen Definitionen von Volksgemeinschaft stellt sich im Schulalltag ein weiteres wesentliches Problem dar, das gerade für die Fachdidaktik eine große Relevanz besitzt und sich unmittelbar auf die Urteilskompetenz bezieht: Die Frage nach der Spezifizierung und Handhabung von Kategorien und Prinzipien, die das historische Denken in Schüler_innenäußerungen erkennbar(er) werden lassen.38 Trotz des Dreischritts von Conrad, die jeweils die drei Segmente der historischen Urteilskompetenz wiederum in fünf Stufen unterteilt, angefangen bei der ersten Stufe »Fehlende Fähigkeit zur Perspektivenübernahme« bis zur fünften und höchsten Stufe: »Historische Perspektivenübernahme unter Berücksichtigung des breiteren historischen Kontexts/ […] Reflektiertes Werturteil«, fällt es schwer, diese Bewertungsraster trotz der ebenfalls von Conrad als Hilfestellung angedachten »Operationen« im Schulalltag handhabbar zu machen.39 So gelangt auch Michael Sauer zu diesem grundsätzlichen Problem im Geschichtsunterricht und bescheinigt, dass es sich gerade »bei vielen Gesichtspunkten, die den Kern von historischem Lernen in der Schule ausmachen (oder ausmachen sollten), […] um gedankliche Prozesse [handelt], die oft schwer an beobachtbarem Schülerverhalten festzumachen sind«.40 Außerdem gilt der Besuch außerschulischer Lernorte innerhalb des fachdidaktischen Diskurses keinesfalls als Königsweg. Vor allem im Schulalltag stößt er gerade wegen seines planerischen und organisatorischen Zeitaufwands auf nicht wenige Widerstände und wird durch Lehrkräfte meist aus pragmatischen Gründen nicht praktiziert. Die Didaktisierung der Lernorte erfolgt nämlich zumeist durch den Lehrkörper, der die Auswahl der Orte festlegt, die dem Ziel der Unterrichtssequenz dienlich sind. Darin liegt eine Schwierigkeit in der zu konzipierenden Volksgemeinschaft-Reihe, da der Zeitaufwand bei der Vorbe38 Vgl. Bärbel Völkel: Steinzeitmänner gingen auf die Jagd, die Frauen wuschen Wäsche. Kategorien und Prinzipien historischen Denkens in Schüleräußerungen erkennen. In: Sammelband (Anm. 17), S. 46–52. 39 Vgl. Franziska Conrad: Diagnostizieren im Geschichtsunterricht. In: Sammelband (Anm. 17), S. 2–11. 40 Michael Sauer: Geschichtsunterricht beobachten. Kategorien für die Diagnose historischen Lehrens und Lernens. In: Sammelband (Anm. 17), S. 12f.
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reitung der Lernarrangements erfahrungsgemäß enorm ist. Dennoch ist die positive Bewertung der Regionalgeschichte zur Nutzung im Geschichtsunterricht von Christian Kuchler aus dem Jahr 2011 zu unterstützen: »In den letzten Jahren sprachen sich immer mehr Didaktiker für eine Wiederentdeckung der Regionalgeschichte für das historische Lernen in allen Altersstufen aus.«41 Ob ein neues fachdidaktisches Konzept zur Volksgemeinschaft den Grundkonflikt zwischen »Shoa und Schule«42 im 21. Jahrhundert lösen kann, muss an dieser Stelle offenbleiben. Es kann jedoch vermutlich dazu beitragen, das Dilemma zu schmälern, sofern Fachdidaktik und Fachwissenschaft enger kooperieren und den Lehrkräften alltagstaugliche Unterstützungen in die Hand geben. Zunächst mag diese Einschätzung verwundern, bietet das wissenschaftliche Volksgemeinschaft-Konzept als Lerngegenstand doch keine (didaktische) Reduktion der NS-Geschichte an, da sie den Nationalsozialismus eben nicht auf einzelne Täter_innen und einmalige Verbrechen oder auf die Verführung herunterbricht, sondern ein vielschichtiges Bild zeichnen will. Das wissenschaftliche Konzept der Volksgemeinschaft meint nämlich stets beides, auf der einen Seite die Faszination des Nationalsozialismus, die Integration und Inklusion der »Volksgenoss_innen«, also das Dabeisein, und auf der anderen Seite das Ausgestoßenwerden, die Exklusion und das Vernichten. Gerade für Schüler_innen bedeutet dies einen weiteren Schwierigkeitsgrad, die Geschichte wird »noch« komplexer. So müssen Schüler_innen in der Lage sein, einige dieser inklusiven und exklusiven Praktiken im »Dritten Reich« benennen zu können, um in einem zweiten gedanklichen Schritt zum eigentlich wichtigeren Punkt des Volksgemeinschaft-Konzeptes zu gelangen, nämlich, dass beide Seiten sich gegenseitig bedingen und miteinander verbunden sind, also zwei Seiten einer Medaille bilden. So ist das wissenschaftliche Konzept der Volksgemeinschaft mit der sozialen Praxis für den Geschichtsunterricht adaptierbar, d. h. dass Herrschaft bzw. Gesellschaft nicht (nur) von oben gemacht werden, sondern im Tun der Leute begründet sind. Es abstrahiert vom Denken der Leute, um diese eben nicht mehr als intentional handelnde Einzelpersonen begreifen zu können, sondern aus dem Tun der Leute selbst heraus erklären zu können, wie gesellschaftliche Ausgrenzung usw. funktionieren kann. Für eine Didaktik, die darauf zielt, Re41 Kuchler (Anm. 31), S. 34. Dafür sprechen »ganz pragmatische Überlegungen wie etwa die leichtere Erreichbarkeit von Exkursionszielen in der näheren Umgebung oder der deutlich geringere Zeitaufwand, zumal auf diesem Weg die alltagsweltliche Lebensumgebung der Lernenden in den Unterricht einbezogen wird.« Kuchler verweist neben den Handbüchern zur Fachdidaktik auch auf die Werke von Carola Gruner und Waltraud Schreiber (2009) sowie von Dietmar Schiersner : Alter Zopf oder neue Chance? Regionalgeschichte in Historiographie und Geschichtsunterricht. In: GWU 62 (2011), H. 1/2, S. 50–60. 42 Peter Gautschi/Meik Zülsdorf-Kersting/B8atrice Ziegler (Hrsg.): Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Zürich 2013.
Volksgemeinschaft – im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht
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flexionsbewusstsein, Positions- und Urteilsbildung zu erzeugen, ist dies kein Hindernis, sondern macht den Schüler_innen bewusst, dass Integration, Aufstieg und Vergnügen im Nationalsozialismus immer mit Exklusion, Ausgrenzung und Vernichtung zusammengedacht werden müssen. Schüler_innen werden sensibel dafür, nicht bei Sachurteilen stehen zu bleiben. Im Gegenteil, die Beschäftigung mit diesen Verwicklungen zwischen Inklusion und Exklusion provoziert eben auch eine Auseinandersetzung, die den Schüler_innen deutlich macht, dass die NS-Gesellschaft und die (schulische wie öffentliche) Debatte über dieses Thema die Entwicklung eigener Werturteile auf Grundlage von Sachurteilen erfordert. Volkgemeinschaft ist für den Geschichtsunterricht unter dem Zugriff auf Vorausurteile und Geschichte vor Ort ein durchaus belastbares Konzept. Gleichzeitig wurden jedoch auch einige der Belastungen aufgezeigt, die mit diesem Quellenbegriff einhergehen. Ob Volksgemeinschaft dauerhaft als Oberbegriff für eine neue NS-Gesellschaftsgeschichte dienen kann, bleibt daher weiterhin Aufgabe von Fachwissenschaft und Fachdidaktik.
Malte Thießen
Volksgemeinschaft als Lerngegenstand: Potenziale für die Kompetenzentwicklung und Perspektiven für die Unterrichtspraxis
Die Wogen haben sich geglättet. Nachdem die Volksgemeinschaft jahrelang unter Zeithistoriker_innen für erbitterte Auseinandersetzungen sorgte, sind Vor- und Nachteile des Begriffs mittlerweile intensiv ausgetauscht worden. Während die historische Forschung Bilanzen zieht,1 hat die Arbeit für Geschichtsdidaktiker_innen im Grunde erst begonnen: Denn was bringt Volksgemeinschaft als Quellen-, als Analysebegriff oder als Zugriff auf die NS-Gesellschaft für den Geschichtsunterricht? Wie lassen sich die Ergebnisse neuer Forschungen für die Unterrichtspraxis nutzen? Wo liegen die Chancen, wo die Gefahren des Lerngegenstands Volksgemeinschaft?2 Angesichts solch grundsätzlicher Fragen ist es erstaunlich, dass sich die geschichtsdidaktische Forschung bislang eher zögerlich mit der Volksgemeinschaftsforschung auseinandergesetzt hat. Zwar sind gerade in den letzten Jahren mehrere Ausstellungen, Unterrichtsmodelle und Handreichungen entstanden, die die Volksgemeinschaft explizit im Titel tragen. Bei genauerer Betrachtung fungiert der Begriff in vielen dieser Beiträge jedoch allein als Eyecatcher. Volksgemeinschaft ist hier wenig mehr als ein Synonym für »Drittes Reich«, 1 Vgl. u. a. die Diskussion von Martina Steber u. a.: Volksgemeinschaft und die Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 62 (2014), S. 433–467; empfehlenswerte Überblicke bieten Frank Bajohr/Michael Wildt: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009, S. 7–23; Detlef Schmiechen-Ackermann: Volksgemeinschaft. Mythos der NS-Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? – Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Mythos der NS-Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im »Dritten Reich«? Paderborn 2012, S. 13–53; Janosch Steuwer : Was meint und nützt das Sprechen von der Volksgemeinschaft? Neuere Literatur zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 53 (2013), S. 487–534; Michael Wildt: Volksgemeinschaft – eine Zwischenbilanz. In: Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hrsg.): Volksgemeinschaft als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013, S. 355–369. 2 Vgl. dazu die grundlegenden Überlegungen von Uwe Danker/Astrid Schwabe in der Einführung in diesen Band.
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Malte Thießen
»Nationalsozialismus« oder für die »NS-Gesellschaft«. Volksgemeinschaft als Forschungskonzept meint aber doch etwas mehr : Es möchte neue Perspektiven auf soziale Praktiken und Aushandlungsprozesse eröffnen, an denen Voraussetzungen, spezifische Formen und Funktionsweisen der NS-Gesellschaft erkennbar werden. Der folgende Beitrag möchte daher einen Brückenschlag zwischen zeithistorischer und geschichtsdidaktischer Forschung anregen sowie unterrichtspraktische Impulse bieten, wie sich Volksgemeinschaft als Lerngegenstand konzeptualisieren und konkret umsetzen lässt. Für dieses Vorhaben gehe ich in zwei Schritten vor : Im ersten Teil skizziere ich zunächst geschichtsdidaktische Potenziale bisheriger Forschungen und entwerfe grundsätzliche Perspektiven, die sich aus neueren Debatten für den kompetenzorientierten Unterricht eröffnen.3 In einem zweiten Schritt werde ich diese Perspektiven und Potenziale in die Praxis übersetzen. Anhand von vier Unterrichtsbeispielen entwerfe ich in diesem Abschnitt erste Vorschläge, wie sich Volksgemeinschaft als Lerngegenstand im Geschichtsunterricht umsetzen lässt. Selbstverständlich können diese Vorschläge schon aus Platzgründen nicht den Anspruch erheben, ausgearbeitete Unterrichtssequenzen und -einheiten zu sein. Vielmehr geht es um Anregungen für die Praxis, die neue Blicke auf einen mittlerweile recht alten Lerngegenstand eröffnen: die NS-Gesellschaft.
1.
Perspektiven der Volksgemeinschaftsforschung und Potenziale für den Geschichtsunterricht
Was also sind das für Perspektiven, die das Forschungskonzept Volksgemeinschaft der Geschichtsdidaktik eröffnet? Welche Schwerpunkte haben sich in den letzten Jahren herauskristallisiert und was ist an ihnen eigentlich das Neue? Angesichts der umfangreichen Darstellungen von Frank Bajohr, Martina Steber und Benjamin Gotto sowie Uwe Danker im vorliegenden Band möchte ich im Folgenden neuere Forschungsergebnisse nur kurz in drei Perspektiven bündeln, aus denen ich anschließend drei Potenziale für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht ableite. Eine erste Perspektive eröffnen neuere Studien wegen ihres »praxeologischen« Blicks auf die NS-Gesellschaft. Sie untersuchen Volksgemeinschaft nicht 3 Vgl. als Überblick und Einstieg in unterschiedliche Kompetenzmodelle die Synopsen bei Ulrich Mayer: Keine Angst vor Kompetenzen. Kompetenzorientierung – eine typologische, historische und systematische Einordnung. In: geschichte für heute (2014), H. 3, S. 6–19 sowie Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 207–235.
Volksgemeinschaft als Lerngegenstand
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allein als Propaganda-Motiv oder als ideologisches Programm, sondern als »soziale Praxis«. So zeichnen regionale und Fallstudien im Alltag nach, wie Volksgemeinschaft in spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhängen und Kontexten »gemacht« bzw. unterlaufen wurde: auf Veranstaltungen und in der Verwaltung, im Gerichtssaal und durch Gewaltausbrüche, auf der Straße und beim Sport, im Lager und auf dem Land.4 Mit der praxeologischen ist eine zweite Perspektive untrennbar verbunden, der Blick auf Volksgemeinschaft als Aushandlungsprozess. Da Volksgemeinschaft ein ebenso verbreiteter wie schwammiger Begriff war, musste sie in alltäglichen Praktiken konkretisiert und immer wieder neu verhandelt werden. In diesem Zusammenhang ist zwar von mehreren Zeithistoriker_innen kritisch eingewandt worden, dass Spielräume für Aushandlungsprozesse im »Dritten Reich« oft eng begrenzt waren. Dieser Einwand weist allerdings nur einmal mehr darauf hin, dass Aushandlungsprozesse in spezifische gesellschaftliche Kontexte eingebettet werden müssen. Was genau in der jeweiligen Situation als Volksgemeinschaft zu verstehen war, wer also als »Volksgenosse« bzw. »Volksgenossin« galt und wer als »Gemeinschaftsfremde_r«, das war immer auch eine Frage des Settings, der Konstellationen und Beziehungen der Akteur_innen und selbstverständlich nicht zuletzt des zeitlichen Kontextes: In der Etablierungsphase des NS-Regimes waren die Rahmenbedingungen für Aushandlungsprozesse der Volksgemeinschaft vielerorts selbstverständlich andere als beispielsweise im »totalen Krieg«. Der Blick auf Aushandlungsprozesse unterstreicht damit den grundsätzlichen Befund, dass Volksgemeinschaft als ein sehr dynamisches Konzept zu verstehen ist, das in unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Kontexten unterschiedlich verhandelt und verstanden wurde. In diesem Sinne befördern neue Forschungen drittens eine »Verortung« der Volksgemeinschaft. Im Blick auf die Praktiken und Aushandlungsprozesse wird die Volksgemeinschaft vor Ort sichtbar : in der Region, in den Städten oder gar in einzelnen Dörfern, wie beispielsweise Martina Steber und Ernst Langthaler nachweisen.5 Regional- und Lokalstudien decken spezifische Formen der Vergemeinschaftung auf, die auch im eigentlichen Wortsinne sehr nahe liegen: im Siedlungsbau, in der Stadtplanung und in der Ordnung des sozialen Raumes in »Blöcken« und »Zellen«; in Volksfesten und auf Liederabenden, im Theater und 4 Vgl. die Pionierstudie von Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg 2007 sowie die Ergebnisse neuerer Fallstudien in Reeken/Thießen (Anm. 1). 5 Martina Steber : Region and National Socialist Ideology. Reflections on Contained Plurality. In: Claus-Christian W. Szejnmann/Maiken Umbach (Hrsg.): Heimat, Region and Empire. Spatial Identities under National Socialism. Houndmills 2012, S. 25–42; Ernst Langthaler : Ländliche Gesellschaft im Nationalsozialismus als »Lebenswelt« – am Beispiel der Erbhofgerichtsbarkeit. In: Reeken/Thießen (Anm. 1), S. 111–124.
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Malte Thießen
Bürgerhaus; auf dem Schulhof und im Unternehmen – überall diente Volksgemeinschaft als Leitidee, die in den jeweiligen Räumen verortet wurde. Mit dieser Verortung machen neuere Forschungen auch auf die Wirkungsmacht lokaler Traditionen aufmerksam. Vor Ort wurde Volksgemeinschaft mit Symbolen und Praktiken des »heimischen« Brauchtums verbunden, mit älteren Ritualen und Regeln der lokalen Gemeinschaft also, die sich die Volksgemeinschaft aneignete. Diese drei Perspektiven erscheinen mir für geschichtsdidaktische Konzepte besonders fruchtbar zu sein. Aus dem Fokus auf Praktiken, auf Prozesse der Aushandlung und auf die Verortung im Nahbereich lassen sich (mindestens) drei didaktische Potenziale für einen Geschichtsunterricht ableiten. Diese Potenziale liegen erstens in einer Versachlichung des Nationalsozialismus (1), zweitens in der Multiperspektivität und Kontroversität des Lerngegenstandes (2) sowie drittens in einer Trans-Nationalisierung des Geschichtsunterrichts (3). (1) Vor mehreren Jahren hat Michael Sauer im Sonderheft zum Nationalsozialismus von »Geschichte lernen« eine Sonderstellung des »Dritten Reichs« hervorgehoben. Der Nationalsozialismus sei demnach »eines der wenigen Themen, vielleicht sogar das einzige Thema in deutschen Geschichtslehrplänen, das keiner besonderen Begründung und Rechtfertigung bedarf«.6 Diese unangefochtene Spitzenstellung des »Dritten Reichs« ist für den Geschichtsunterricht Segen und Fluch zugleich: Einerseits unterstreicht sie die hohe gesellschaftliche Relevanz des historischen Themas, die ja zunächst einmal nicht selbstverständlich ist. Andererseits führt genau diese gesellschaftliche Relevanz zu einer starken sozialen Normierung des Lerngegenstandes. Auf die Folgen dieser Normierung hat Dietmar von Reeken hingewiesen, wüssten Schüler_innen mittlerweile doch »gerade im Unterricht genau […], was von ihnen gesellschaftlich und pädagogisch erwartet wird«, so dass sie sich »an die gesellschaftlichen Normen, Konventionen und Erwartungen anpassen«.7 Eine Normierung des Themas verhindert aber nicht nur Pluralität und Kontroversität und damit eine eigene Urteilsbildung der Schüler_innen. Darüber hinaus befördert sie eine »Übersättigung« der Lernenden, wie sie Meik Zülsdorf-Kersting bereits in seiner empirischen Studie von 2005 nachgewiesen hat.8 Als Lerngegenstand weist die Volksgemeinschaft einen Ausweg aus diesem Dilemma: Sie reduziert den Nationalsozialismus nicht auf einzelne Täter_innen 6 Michael Sauer : Editorial. In: Geschichte lernen. Sammelband Nationalsozialismus. O.O., o. J., S. 1. 7 Dietmar von Reeken: Zeitgeschichte geschichtsdidaktisch. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 7 (2008), S. 94–113, S. 105. 8 Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach. Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Münster 2007. Vgl. auch die grundlegende Problematisierung bei Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt a. M. 2004.
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und einmalige Verbrechen und eine »Moral von der Geschichte«, sondern eröffnet ein komplexeres Bild. Volksgemeinschaft bezieht sich stets auf mehrere Seiten der NS-Gesellschaft. Zum einen macht sie aufmerksam auf die Faszination des Nationalsozialismus, auf die Integration und Inklusion der »Volksgenoss_innen«, also für Motive und Praktiken des Dabeiseins; zum anderen verweist sie auf das Ausgestoßenwerden, das Ausgrenzen und Vernichten, die Exklusion.9 Wichtiger noch: Im Konzept der Volksgemeinschaft sind beide Seiten untrennbar miteinander verbunden, ja »zwei Seiten einer Medaille«.10 Auf diese Verbindung werde ich in meinen unterrichtspraktischen Beispielen noch einmal zurückkommen. Das vielschichtige Bild ist nicht so trivial, wie es zunächst klingt. Denn Volksgemeinschaft macht aufmerksam auf alltägliche soziale Prozesse, die auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen könnten. Das Sammeln oder Eintopfessen für das »Winterhilfswerk« (»Gegen Hunger und Kälte – für Treue und Volksgemeinschaft«),11 das Dabeisein in der HJ oder das Verreisen mit der DAF/KdF, die höheren Löhne, die leistungsfähigen »Volksgenoss_innen« in Schlüsselindustrien geboten wurden – alles das verweist auf scheinbar »gute« Seiten des »Dritten Reichs«, die anscheinend wenig mit den schrecklichen Seiten zu tun haben.12 An der Volksgemeinschaft kann für Schüler_innen somit nachvollziehbar werden, dass der Nationalsozialismus für viele »Volksgenoss_innen« Attraktion, Aufstieg und Integration bedeutete, weil er persönliche Bedürfnisse erfüllte, die auch heute noch teilweise verständlich sind. Die Auseinandersetzung mit diesen Angeboten und Bedürfnissen bietet somit Gelegenheit für einen offenen Blick auf soziale Prozesse und Strukturen, die mit Sachurteilen erfasst werden können. Kurz gesagt fordert die Beschäftigung mit der Volksgemeinschaft von den Lernenden ein hohes Maß an Sachkompetenz und macht deutlich, dass moralische Verurteilungen zunächst wenig helfen. Eine sachliche Analyse der Schüler_innen macht indes schnell sichtbar, dass die scheinbar »schönen Seiten« mit den »schlechten Seiten« untrennbar zusammenhängen: Der neue Konsum und kleine Wohlstand auf der einen Seite bedeutete »Arisierungen« auf der anderen; die Karriere und der Aufstieg der einen brachte berufliche Ausgrenzungen der anderen mit sich; das Zusam9 Vgl. dazu das Fallbeispiel bei Uwe Danker : Volksgemeinschaft und Lebensraum. Die Neulandhalle als historischer Lernort. Neumünster 2014. 10 Michael Kißener: Die braune Diktatur. Nationalsozialistische Herrschaft 1933–1945. In: Praxis Geschichte (2009), H. 3, S. 4–9, hier S. 8. 11 Das Abzeichen des Winterhilfswerks mit dem entsprechenden Slogan findet sich als Abbildung in Reeken/Thießen (Anm. 1), S. 12. 12 Vgl. u. a. die Materialien für die Sekundarstufe II bei Rüdiger Hachtmann/Rainer Brieske: Zwischen Repression und Aussicht auf Urlaub. Die Arbeiterschaft in den Fängen der Deutschen Arbeitsfront. In: Praxis Geschichte (Anm. 10), S. 33–37.
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menrücken der »Volksgenoss_innen« am Eintopfsonntag zielte zugleich auf das Herausdrängen der »Gemeinschaftsfremden« aus der »Volkswohlfahrt«, Vorund Fürsorge, um nur einige Beispiele zu nennen.13 Eine Beschäftigung mit diesen Zusammenhängen macht Lernenden bewusst, dass Integration, Aufstieg und Erlebnis immer mit Exklusion, Ausgrenzung und Vernichtung zusammengedacht werden sollten. Und sie macht deutlich, dass Schüler_innen nicht bei Sachurteilen stehen bleiben müssen, im Gegenteil: Die Beschäftigung mit der Volksgemeinschaft erlaubt und erfordert nach einer sachlichen Auseinandersetzung die Entwicklung eigener Werturteile und ihre Diskussion. (2) Mit der Versachlichung hängt ein zweites Potenzial untrennbar zusammen. Auseinandersetzungen mit der Volksgemeinschaft befördern einen multiperspektivischen und kontroversen Geschichtsunterricht,14 und zwar aus zwei Gründen: Zum einen erfordert sie eine Beschäftigung mit unterschiedlichen Perspektiven im Sinne Klaus Bergmanns, da »historische Sachverhalte aus den Perspektiven verschiedener beteiligter […] Menschen dargestellt und betrachtet werden«.15 Diese Perspektiven reduzieren sich keineswegs auf eine Zweiteilung zwischen »Volksgenoss_innen« auf der einen und »Gemeinschaftsfremden« auf der anderen Seite. Vielmehr können Schüler_innen an diesem Lerngegenstand herausarbeiten, dass auch innerhalb der Volksgemeinschaft gewaltige Unterschiede gemacht wurden: Einige »Volksgenoss_innen« waren eben »gleicher« als andere. Sie genossen höhere Löhne, Vergünstigungen und Privilegien, z. B. auf den seltenen Fernreisen der KdF, beim Erwerb des noch selteneren »Volkswagens« oder im Bunker. Neue Forschungen heben hervor, dass nicht nur Inklusion und Exklusion, sondern ebenso Distinktion ein Ordnungsmuster der NS-Gesellschaft war, was einen multiperspektivischen Geschichtsunterricht begünstigt. Schüler_innen können und müssen aus unterschiedlichen Perspektiven Blicke auf die Volksgemeinschaft werfen, um soziale Zusammenhänge und Konflikte zu verstehen. Zum anderen ist Volksgemeinschaft als Forschungskonzept kontrovers. Über wenige Themen ist in den letzten Jahren so engagiert gestritten worden. Dass dieser Streit nicht nur in Fachzeitschriften, sondern ebenso in den Feuilletons und sogar im Fernsehen geführt wurde, erhöht noch die Relevanz des Lerngegenstandes. Schüler_innen können anhand solcher Debatten nachvollziehen, dass nicht nur im Klassenraum, sondern auch in der Öffentlichkeit das »Dritte 13 Zur »Arisierung« vgl. das Modell mit Gruppenarbeit mit Text- und Bildquellen für die Sekundarstufe I bei Wolfgang Woelk: »Bereichert Euch!« Die »Arisierung« jüdischen Eigentums im NS-Staat. In: Praxis Geschichte (Anm. 10), S. 42–45. 14 Vgl. Martin Lücke: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2012, S. 281–288. 15 Zit. nach ebd., S. 283.
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Reich« in unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Kontroversität befördert damit die Erkenntnis, dass auch Schulwissen auf Interpretationen beruht und immer wieder neu verhandelt werden muss. Auch auf diesen Zusammenhang werde ich in meinen unterrichtspraktischen Überlegungen noch näher eingehen. (3) Mit Versachlichung und Kontroversität hängt das dritte Potenzial für die Geschichtsdidaktik eng zusammen. Die Auseinandersetzung mit der Volksgemeinschaft bietet Chancen, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus seinem nationalen Korsett zu lösen und in transnationale Zusammenhänge zu stellen.16 Das gilt insbesondere für Osteuropa, wo Volksgemeinschaft während des Zweiten Weltkriegs zu einem Instrument sozialer Ordnung avancierte. In Polen, in der Ukraine oder in den baltischen Ländern wurde genau hingesehen, wer künftig als »Volksgenosse« bzw. »Volksgenossin« dazugehören sollte.17 Überdies erlaubt das Forschungskonzept Volksgemeinschaft Vergleiche mit anderen Gesellschaften und damit Blicke über den nationalen Tellerrand. Vergleichende Studien zu Formen der »Vergemeinschaftung« in Italien, in der Sowjetunion, in den USA, Großbritannien oder Skandinavien können in der Sekundarstufe II den nationalen Bezugsrahmen des Geschichtsunterrichts aufbrechen.18 Diese Öffnung ist Chance und Schwierigkeit zugleich: So sinnvoll transnationale historische Lerngegenstände in der Migrationsgesellschaft sind, so sehr ist darauf zu achten, dass vergleichen nicht gleichsetzen bedeutet. Positiv gewendet bietet Volksgemeinschaft Schüler_innen auch in dieser Hinsicht Gelegenheit, ihre Sach- und Methodenkompetenz zu erweitern. Sie können Kriterien für historische Vergleiche entwickeln und überprüfen.19 Noch in einer anderen Hinsicht »übersetzt« das Konzept Volksgemeinschaft den Nationalsozialismus in die Migrationsgesellschaft. So sind soziale Prozesse der Inklusion und Exklusion nicht nur, aber eben auch für Schüler_innen mit 16 Vgl. dazu die grundlegenden Überlegungen bei Michele Barricelli: Collected Memories statt kollektives Gedächtnis. Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft. In: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2013, S. 89–118. Zur transnationalen Öffnung des Zeitgeschichtsunterrichts im Allgemeinen vgl. die Überlegungen von Markus Furrer : Grundfragen und Themen der Zeitgeschichte. In: Ebd., S. 21–60, bes. S. 43–46. 17 Birthe Kundrus: Regime der Differenz. Volkstumspolitische Inklusionen und Exklusionen im Warthegau und im Generalgouvernement. In: Bajohr/Wildt (Anm. 1), S. 105–123. 18 Vgl. u. a. die Vergleiche bei Norbert Götz: Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft im synchronen und diachronen Vergleich. In: Schmiechen-Ackermann (Anm. 1), S. 55–67; Thomas Etzemüller : Total, aber nicht totalitär. Die schwedische Volksgemeinschaft. In: Bajohr/Wildt (Anm. 1), S. 41–59. 19 Vgl. Waltraud Schreiber : Kompetenzbereich historische Methodenkompetenz. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zu Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 194–235.
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Migrationshintergrund nachvollziehbar. Praktiken des Dazugehörens oder des Ausgeschlossenwerdens erleben viele von ihnen hautnah. Auch dieser Lebensweltbezug ist Chance und Schwierigkeit zugleich: Einerseits geben solche sozialen Prozesse Antworten auf die bei Schüler_innen beliebte Frage »Was hat das mit mir zu tun?«; andererseits wäre es fatal, wenn reale Exklusionsprozesse auf den Lerngegenstand projiziert oder durch den Geschichtsunterricht sogar noch reproduziert würden. So produktiv der Lebensweltbezug des Lerngegenstandes auch ist, so sensibel wird man mit potenziellen Folgen für die Schüler_innen sowie mit vorschnellen Gleichsetzungen umgehen müssen.
2.
Praxis: Beispiele für Volksgemeinschaft im Geschichtsunterricht
Wie lassen sich diese geschichtsdidaktischen Potenziale konkret im Unterricht umsetzen? Wie werden neue Forschungen zur Volksgemeinschaft zu Lerngegenständen, an denen Schüler_innen Kompetenzen entwickeln und neue Blicke auf die Geschichte des »Dritten Reichs« werfen können? Ich möchte diese Fragen in zwei Schritten beantworten. In einem ersten Schritt werde ich drei unterrichtspraktische Beispiele aus vorliegenden Handreichungen präsentieren, die zwar nicht das Forschungskonzept Volksgemeinschaft zum Ausgangspunkt haben, an denen sich aber bereits das Potenzial dieses Lerngegenstandes zeigen lässt. Da zeithistorische Fachdebatten erst mit zeitlichem Abstand in Schulbüchern und unterrichtspraktischen Zeitschriften aufgegriffen werden können, scheint mir diese Neubetrachtung vorliegender Ansätze sinnvoll (2.1). In einem zweiten, etwas ausführlicheren Schritt werde ich vier Vorschläge für Unterrichtsbeispiele präsentieren, um die o.g. Potenziale für den Geschichtsunterricht konkret greifbar zu machen (2.2–2.5).
2.1
Volksgemeinschaft in bisherigen Konzepten
Aushandlungsprozesse der Volksgemeinschaft sind in Quellen nicht immer leicht zu erfassen. Wie aber sollen Schüler_innen jene Aushandlungen erkunden, wenn schon gestandene Zeithistoriker_innen mit ihrer Analyse mitunter Schwierigkeiten haben? Ein besonders anschauliches Beispiel für solche Aushandlungen, das im Schulunterricht bereits länger im Mittelpunkt steht, sind Denunziationen. Schließlich hat die Denunziationsforschung in zahlreichen Fallstudien herausgearbeitet, dass häufig »persönliches Missfallen oder private
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Streitigkeiten«20 Anlass zur Denunziation gaben. Denunziationen waren also keineswegs vorwiegend »politische« Angelegenheiten in dem Sinne, dass politisches Fehlverhalten den Impuls zur Anzeige gab. Stattdessen denunzierten sich die Deutschen oft aus sehr persönlichen Motiven, wegen Streitereien in der Familie, unter Freunden oder Bekannten. Doch gerade weil Denunzierende oft von persönlichen Interessen geleitet wurden, arbeiteten sie häufig mit volksgemeinschaftlichen Kriterien. Schließlich erhöhte die Konstruktion eines »Gemeinschaftsfremden« die Überzeugungskraft der Denunziation.21 Antonia Heinrich und Peter Mierau haben ein Unterrichtsmodell zur Auseinandersetzung mit Denunziation in der Sekundarstufe I und II vorgestellt, durch das Schüler_innen solche kommunikativen Konstruktionen des »Volksgenossen« bzw. der »Volksgenossin« und der/des »Gemeinschaftsfremden« nachvollziehen und erklären können.22 Darüber hinaus sind seit einigen Jahren mehrere Quellen-Editionen erschienen, in denen Denunziationsfälle für ganz Deutschland dokumentiert sind, so dass Lehrkräfte mittlerweile verhältnismäßig leicht auf Fallbeispiele für unterschiedliche Bundesländer, Regionen und Städte zurückgreifen können.23 Ein zweites unterrichtspraktisches Beispiel für alltägliche Aushandlungen bietet der Bombenkrieg. In Lehrmaterialien hat dieser Aspekt erst seit der »Bombenkriegsdebatte« nach der Jahrtausendwende größere Aufmerksamkeit gefunden. Das entsprechende Heft über »Heimatfront und Kriegsalltag« von »Praxis Geschichte« bietet dafür ein gutes Beispiel.24 Für die Konzeption des Lerngegenstands Volksgemeinschaft ist die »Heimatfront« in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen zeichneten sich im Krieg die Grenzziehungen der Volksgemeinschaft besonders deutlich ab, so dass Schüler_innen Konflikte und 20 Antonia Heinrich/Peter Mierau: Denn sie wussten nicht, was sie tun? Zwei Verfahren im Vergleich. In: Praxis Geschichte (2012), H. 5, S. 18–23. 21 Vgl. Inge Marszolek: Verhandlungssache: Die Volksgemeinschaft – eine kommunikative Figuration. In: Reeken/Thießen (Anm. 1), S. 65–77; Vandana Joshi: Zwischen Ehedramen und Nachbarschaftsklatsch. Denunziation im Nationalsozialismus. In: Christine Künzel (Hrsg.): Täterinnen und/oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen. Hamburg 2007, S. 46–68. 22 Heinrich/Mierau (Anm. 20); vgl. auch die Materialien in der Beilage Der Fall Lehman – ein Held und sein Denunziant. In: Praxis Geschichte (Anm. 10). 23 Vgl. neben den o.g. Beiträgen u. a. Gisela Diewald-Kerkmann: Politische Denunziationen im NS-Regime oder : Die kleine Macht der »Volksgenossen«. Bonn 1995; Dieter W. Rockenmaier : Denunzianten. 47 Fallgeschichten aus den Akten der Gestapo im NS-Gau Mainfranken. Würzburg 1998; Stephanie Abke: Sichtbare Zeichen unsichtbarer Kräfte: Denunziationsmuster und Denunziationsverhalten 1933–1949. Tübingen 2003; Christoph Thonfeld: Sozialkontrolle und Eigensinn. Denunziation am Beispiel Thüringens 1933 bis 1949. Köln 2003; Christina Altenstraßer : Handlungsspielraum Denunziation: Alltag, Geschlecht und Denunziation im ländlichen Oberdonau 1938 bis 1945. München 2005; Ela Hornung: Denunziation als soziale Praxis. Fälle aus der NS-Militärjustiz. Wien 2010. 24 Praxis Geschichte (2004), H. 4.
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Grenzziehungen untersuchen können. Im eigentlichen Sinne handgreiflich wurden solche Konflikte beispielsweise vor bzw. in den Bunkern, die Dietmar Süß treffend als »Eingangstore« zur Volksgemeinschaft beschrieben hat.25 Das gilt vor allem für die »Gemeinschaftsfremden«, wie Juden und Jüdinnen sowie Zwangsarbeiter_innen, die keinen Zugang zu Bunkern erhielten und mitunter gewalttätig vor die Tür gesetzt wurden.26 Reinhard Bein hat ein entsprechendes Unterrichtsmodell vorgestellt, in dem derartige Exklusionsprozesse im Bombenkrieg und ihre Folgen von Schüler_innen anhand von Erlebnisberichten untersucht werden. In einem Rollenspiel könnten damit schon Schüler_innen der Sekundarstufe I Klassifizierungen von »Volksgenoss_innen« und »Gemeinschaftsfremden« und ihre zeitgenössischen Begründungen nachvollziehen.27 Zum anderen wurde im Krieg die Auflösung bzw. Verwandlung der Volksgemeinschaft als soziales Ordnungsmuster deutlich. Bereits in den Bunkern mussten Männer mitunter an ihre Pflicht als »Volksgenossen« erinnert werden, wenn diese schwangere oder ältere Frauen von ihren Schutzplätzen verdrängten.28 Und überhaupt: In den brennenden Städten ebenso wie in den »Aufnahmegauen« für »Ausgebombte« war Volksgemeinschaft wenig mehr als eine propagandistische Phrase, die die Auflösung der »Zusammenbruchgesellschaft« allenfalls kaschierte. Auch für diesen Aspekt bietet Reinhard Beins oben genanntes Modell unterrichtspraktische Beispiele. In der Auswertung von Zeitzeug_innenberichten werde nach Bein besonders deutlich, »dass selbst in der Not eines Bombenangriffs die nur scheinbar vom NS-Regime überwundene soziale Spaltung offensichtlich wurde«.29 Entsprechende Zeitzeug_innenberichte sind in den letzten Jahren für zahlreiche Städte in ganz Deutschland erschienen, so dass der Einsatz des Unterrichtsmaterials in vielen Lerngruppen regionale Bezüge berücksichtigen kann.30 Für Schüler_innen wird an der 25 Dietmar Süß: Der Kampf um die »Moral« im Bunker. Deutschland, Großbritannien und der Luftkrieg. In: Bajohr/Wildt (Anm. 1), S. 124–143. 26 Vgl. dazu auch die umfangreiche Quellensammlung für den Geschichtsunterricht von Gerd Steffens/Thomas Lange: Der Nationalsozialismus. Bd. 2: Volksgemeinschaft, Holocaust und Vernichtungskrieg. Schwalbach/Ts. 2011, S. 229–235 (zu »Überleben im Bombenkrieg«, »Überleben im Bunker als Privileg« und »Zwangsarbeiter – doppelte Opfer«). 27 Reinhard Bein: Wer in den Bunker will, braucht eine Eintrittskarte. In: Praxis Geschichte (Anm. 24), S. 12–16. 28 Vgl. Süß (Anm. 25). 29 Bein (Anm. 27), S. 13. 30 Vgl. aus der Fülle an Sammlungen u. a. Margarete Dörr : »Wer die Zeit nicht miterlebt hat…« Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1998; Dies.: »Der Krieg hat uns geprägt«. Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten. 3 Bde. Frankfurt a. M. 2007; Gudrun Norbisrath: Gestohlene Jugend. Der Zweite Weltkrieg in Erinnerungen. Essen 2000; Oliver Reinhard/Matthias Neutzner/Wolfgang Hesse (Hrsg.): Das rote Leuchten. Dresden und der Bombenkrieg. Dresden 2005, S. 263–349; Klaus M. Höynck/
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»Auflösung« der Volksgemeinschaft somit das Spannungsfeld zwischen Propaganda und Alltag sichtbar. Ein drittes und letztes Beispiel für Aushandlungsprozesse der Volksgemeinschaft bietet der »Blockwart«, wie die »politischen Leiter« der NSDAP gemeinhin genannt wurden.31 Peter Mierau sieht in seinen unterrichtspraktischen Überlegungen für die Sekundarstufe I das Potenzial dieses Lerngegenstandes in der Erkenntnis der »Polykratie« und alltäglichen Umsetzungen der »Rassenpolitik« in der Tätigkeit der mehr als 280.000 Blockwarte. Darüber hinaus wird am »Blockwart« aber auch die Aushandlung der Volksgemeinschaft vor Ort sichtbar. Einerseits können Schüler_innen anhand der Aufgabenbereiche und Tätigkeiten des Blockwarts aufzeigen, wie die Volksgemeinschaft in den Vierteln und Dörfern »gemacht« werden sollte.32 Andererseits machen die Überwachungs-, Kontroll- und Beratungsfunktionen des Blockwarts zugleich die Schwierigkeiten und Grenzen dieses »Machens« deutlich: Volksgemeinschaft war eben kein Programm, dass sich per »Führerprinzip« verordnen ließ. Vielmehr musste sie vor Ort und im Zusammenspiel unterschiedlicher Personen gemacht werden. Die Schüler_innen können dieses Machen beispielsweise in der Auswertung von Erfahrungsberichten, in Rollenspielen oder beim Schreiben fiktionaler Briefe und Tagebucheinträge erkunden. Kurz gesagt liegen bereits mehrere Beispiele vor, mit denen die Volksgemeinschaft als Lerngegenstand erarbeitet werden kann. Selbst wenn das Forschungskonzept und die Erträge aktueller Debatten erst langsam in Schulbüchern und didaktischen Zeitschriften Eingang finden, stehen somit wichtige Anregungen bereit, an die neue Überlegungen anschließen können. Einige dieser Überlegungen möchte ich im Folgenden an vier unterrichtspraktischen Beispielen konkretisieren.
2.2
Zusammensein und Ausschließen: Volksgemeinschaft im Bild
Im Geschichtsunterricht hat der Einsatz von Bildern auch vom »visual turn« neue Impulse erhalten. Bilder werden seither nicht mehr (nur) als Illustration genutzt, sondern als eine spezifische Quelle ernst genommen, die mit spezifiEberhard Schellenberger (Hrsg.): 16. März 1945. Erinnerungen an Würzburgs Schicksalstag und das Ende des Krieges. Würzburg 2005; Kirsten Serup-Bilfeldt: Ins Gedächtnis eingebrannt. Wie Kölner den Zweiten Weltkrieg erlebten. Köln 2005. 31 Zum »Blockwart« vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann: Der »Blockwart«. Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparat. In: VfZ 48 (2000), S. 575–602. 32 Peter Mierau: Der NS-Parteifunktionär von nebenan. Das Phänomen »Blockwart« im Geschichtsunterricht. In: Praxis Geschichte (Anm. 10), S. 38–41, hier S. 40.
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schen Methoden entschlüsselt und analysiert werden kann. Für die Volksgemeinschaft liegt der Ertrag dieser Bildanalyse auf der Hand. Wenn sie das Spannungsverhältnis zwischen Propaganda und Alltag, zwischen Ideologie und Lebenswirklichkeit sichtbar machen soll, bedarf es bei der Auswertung von Bildern besonderer Kompetenzen. Schließlich besteht ein Großteil der heute kursierenden Fotografien aus Propaganda-Aufnahmen, die eine bestimmte Botschaft vermitteln und die soziale Wirkmächtigkeit der Volksgemeinschaft belegen wollten. Für den Geschichtsunterricht ergeben sich aus dieser propagandistischen Zielsetzung mehrere Aufgabenbereiche. Erstens können aus dem breiten Spektrum an Propagandaaufnahmen – von Parteitagen, Fackelmärschen bis hin zu Aufnahmen vom Eintopfsonntag oder vom Sammeln für das Winterhilfswerk – die Konstruktionsprinzipien von Fotos erarbeitet und damit die Medien- und Methodenkompetenzen der Schüler_innen entwickelt werden. Wer oder was steht im Mittelpunkt der Aufnahme? Welche Sichtachsen und Perspektiven werden deutlich? Welche Hierarchien und Beziehungen zwischen Menschen und Objekten konstruieren diese Gestaltungsmittel? Wer gehört also zur Volksgemeinschaft dazu und wie wird diese Zugehörigkeit charakterisiert, z. B. durch bestimmte Tätigkeiten, Ausstattungen und Attribute? Wie werden »Gemeinschaftsfremde« bildlich ausgeschlossen, welche Mimik, Gestik und Anordnung der Figuren unterstreicht diesen Ausschluss? In welchem Kontext wurde das Bild sichtbar, welche Adressat_innen sollten also mit der Fotografie angesprochen werden? In besonders »plakativer« Form – und zwar im eigentlichen Wortsinne – lassen sich solche Konstruktionsprozesse auf Plakaten nachweisen. Kataloge, z. B. der bekannten Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum zu »Grundrechten«33 oder zu »Hitler und die Deutschen«, bieten eine Fülle solcher Beispiele, an denen Schüler_innen der Sekundarstufe I und II die Bildsprache und Gestaltung der Volksgemeinschaft entschlüsseln und damit ihre Methodenkompetenz erweitern können. Obwohl die Dekonstruktion von Plakaten und Fotografien auf dem Vorwissen der Schüler_innen aufbaut und daher im Laufe oder am Ende einer Unterrichtseinheit eingeplant werden könnte, lassen sich Bilder der Volksgemeinschaft auch als hervorragende Einstiegsimpulse nutzen, um Vorwissen der Schüler_innen zu aktivieren oder Probleme und Leitfragen für die Unterrichtseinheit aufzuwerfen und damit die Fragekompetenz zu erweitern.34 Als problemorien33 Vgl. das Kapitel »Volksgemeinschaft« mit entsprechenden Plakaten in: Kai Artinger/DHM (Hrsg.): Die Grundrechte im Spiegel des Plakats. 1919 bis 1999. Berlin 2000, S. 69–71; Christian Fuhrmeister : Ikonografie der Volksgemeinschaft. In: Simone Erpel/DHM (Hrsg.): Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen. Berlin 2010, S. 94–103. 34 Schreiber (Anm. 19), S. 155–193.
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tierten Einstieg in eine Unterrichtseinheit lässt sich etwa folgende Abbildung (Abb. 1), beispielsweise als Impuls für ein Brainstorming mit anschließendem Clustering der Schüler_innen-Äußerungen, nutzen. In diesem Fall müssen die Schüler_innen nicht unbedingt eine präzise Bildanalyse leisten, sondern zunächst einmal eigene Eindrücke formulieren, die dann von ihnen selbst oder von der Lehrkraft per Tafelbild oder Metaplan gesammelt und nach Oberbegriffen bzw. Leitfragen systematisiert werden.
Abb. 1: HJ und SA-Mann, Ausschnitt einer Aufnahme von 1933 (T Raumbildverlag Otto Schönstein/DHM, Berlin).
Bei diesem Beispiel handelt es sich um einen Ausschnitt, die vollständige Aufnahme kommt in einer zweiten Phase zum Einsatz. Mögliche Eindrücke der Schüler_innen könnten »Jungs-« oder »Jugendgruppe«, »Gruppe und ein Anführer«, »Zusammenhalt«, »Spaß«, »Abenteuer in Natur« o. ä. lauten. Schon an diesem Brainstorming lassen sich Eindrücke und Fragen für die weitere Unterrichtseinheit sammeln. Die Voraussetzung für den Zusammenhalt könnte hier ebenso diskutiert werden wie die Rolle des »Anführers«. Offenbar ist Volksgemeinschaft schon in diesem Bild immer beides: Erlebnisangebot und Unterordnung, Abenteuer und Disziplin. Weitere Spannungsfelder können die Schüler_innen erkennen, wenn die Abbildung vollständig gezeigt wird (Abb. 2). Obgleich die »Gemeinschaftsfremden« hier nicht als Person sichtbar werden, sind sie doch die explizite Botschaft des Bildes. Ja mehr noch: Die Gemeinschaft der Jugendlichen, ihr Zusammenhalt und ihre Ordnung bekräftigen die Exklusion. Zum einen scheinen »Juden« und »Jüdinnen« in der Gruppe nicht dabei zu sein, wenn man
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Abb. 2: Vollständige Aufnahme »Antisemitisches Schild am Ortseingang von Behringersdorf« (T Raumbildverlag Otto Schönstein/DHM, Berlin).
die Unbeschwertheit und das Grinsen der Personen berücksichtigt. Zum anderen ist die Ausgrenzung offenbar ein Spaß für die Gruppe. Durch ihre Anordnung unter dem Bild erhält die antisemitische Botschaft somit eine Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, die unter Schüler_innen Fragen zur Alltäglichkeit von Ausgrenzungsprozessen aufwerfen könnte. Integration und Exklusion, das machen Bilder wie diese deutlich,35 sind in der Volksgemeinschaft auch visuell untrennbar miteinander verwoben.
35 Zahlreiche ähnliche Bilder von (Fest-)Umzügen oder Ausgrenzungen im Zuge von Boykotten oder gewalttätigen Konflikten finden sich in Schulbüchern ebenso wie in wissenschaftlichen Veröffentlichungen.
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2.3
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Räume erkunden: Volksgemeinschaft vor Ort
Volksgemeinschaft war auch in räumlicher Hinsicht ein Ordnungsinstrument. Das gilt zunächst einmal für Räume im topographischen Sinne. So zeichnen neuere Forschungsbeiträge nach, wie Volksgemeinschaft im Siedlungsbau und in der Stadtplanung verwirklicht werden sollte.36 Konzepte wie das von der »Ortsgruppe als Siedlungszelle« entwarfen räumliche Strukturen, die in entsprechenden Karten und Planskizzen schnell erkennbar werden.37 Schüler_innen können an solchen Karten die Grundprinzipien der Volksgemeinschaft und (erwünschte) Hierarchien und Praktiken der NS-Gesellschaft nachzeichnen. Die zentrale Anordnung von Gemeinschafts-, Parteiverwaltungs- oder HJ-Häusern und der Aufbau »nach sozialem Status innerhalb der Parteigliederungen«38 machen topographisch sichtbar, dass Volksgemeinschaft keineswegs mit Gleichheit und Egalität zu verwechseln ist. Ebenso ertragreich für die Unterrichtspraxis sind Räume im anderen Wortsinne: als Orte, an denen die Volksgemeinschaft inszeniert und repräsentiert wurde. Ein gelungenes Beispiel hat vor kurzem Uwe Danker in seiner Studie zur »Neulandhalle« an der Nordsee in Schleswig-Holstein präsentiert.39 Danker versteht die Neulandhalle als »historischen Lernort«, an dem die Volksgemeinschaft von Schüler_innen und Studierenden erforscht werden kann. Für die Unterrichtspraxis eröffnet dieser Lernort gleich mehrere Anknüpfungspunkte, die ich wegen des Beitrags von Uwe Danker im vorliegenden Band nur anreiße. Erstens macht die Neulandhalle die oben gezeigte Raumplanung der Volksgemeinschaft real begehbar. Hier wurden Planungen soziale Wirklichkeit in Form von Erbhöfen und Gemeinschaftsräumen, deren Anordnung dem volksgemeinschaftlichen Ordnungsgedanken entsprach. Zweitens ist die Neulandhalle ein Repräsentationsort für die Volksgemeinschaft, der von Schüler_innen erkundet werden kann. Von der räumlichen Anordnung bis zur bildlichen Gestaltung der Wände reicht eine ganze Palette solcher Repräsentationen, die in Arbeitsgruppen untersucht und anschließend im Plenum präsentiert werden könnten. Und drittens lässt sich an der Neulandhalle der Nachgeschichte der Volksgemeinschaft nachspüren. Die Nachnutzung der Halle als Jugendbegegnungsstätte oder die Gedenktafel »Zu Ehren der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs«, die wie selbstverständlich auch SS-Männer ehrte, verweist auf problematische Kontinuitäten volksgemeinschaftlichen Denkens nach 1945. 36 Vgl. u. a. Kerstin Thieler : Architektur der Macht. Die Auseinandersetzung um Oldenburg als Gauhauptstadt. In: Reeken/Thießen (Anm. 1), S. 157–174. 37 Vgl. dazu die entsprechenden Abbildungen bei Sylvia Necker : Architekten planen (für) die NS-Volksgemeinschaft. In: Reeken/Thießen (Anm. 1), S. 145–156, hier S. 152. 38 Necker (Anm. 37), S. 151. 39 Danker : Volksgemeinschaft und Lebensraum (Anm. 9).
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Räumliche Repräsentationen der Volksgemeinschaft wie jene der Neulandhalle oder des »KdF-Bads« Prora auf Rügen sind für die Kompetenzentwicklung im Geschichtsunterricht insofern von Vorteil, als dass sie nicht nur auf NSSymbole und -Semantiken im engeren Sinne, sondern zugleich auf Traditionsbestände »völkischer« und »Heimatbewegungen« sowie auf ältere Deutungen bis zur Romantik zurückgreifen. In der Neulandhalle sind solche Bezüge an entsprechenden Darstellungen des »Kampfes gegen den blanken Hans« besonders gut nachvollziehbar.40 Doch auch anderen Lernorten sind entsprechende Traditionen eingeschrieben. So zeigen Studien des niedersächsischen Forschungskollegs »Nationalsozialistische Volksgemeinschaft« zum Bückeberg, zu Goslar oder zu Wilhelmshaven, wie stark die Repräsentation der Volksgemeinschaft vor Ort mit lokalen Traditionen vermischt und »heimatlich« aufgeladen wurde.41 Lernorte der Volksgemeinschaft eröffnen Schüler_innen damit Möglichkeiten, sozialen Voraussetzungen und Nachwirkungen der NS-Zeit nachzuspüren und diese mit lokalen Traditionen und Kontexten zu erklären.42 Für den Geschichtsunterricht bietet sich die Erkundung solcher Lernorte in Exkursionen oder projektorientierten Arbeitsformen, v. a. im Rahmen von Projekttagen oder -wochen an. Die Schüler_innen müssen dafür nicht gleich nach oder durch Schleswig-Holstein reisen. Schließlich lassen sich bei genauerer Betrachtung zahlreiche weitere Lernorte der Volksgemeinschaft im Nahbereich vieler bundesdeutscher Lerngruppen ausmachen. Zum einen sind ähnliche Repräsentationsorte wie die Neulandhalle im gesamten Bundesgebiet verstreut. Nicht nur das Nürnberger Parteitagsgelände oder der o.g. Bückeberg zählen dazu, sondern ebenso sämtliche KZ-Gedenkstätten. Begreift man diese als Orte der Exklusion und stellt sie in ihren sozialräumlichen Kontext, können Schüler_innen neue Fragen nach dem Zusammenhang von Exklusion und Inklusion im sozialen Nahbereich aufwerfen. Auf einer Karte der unzähligen Außenlager der »großen« Konzentrationslager wird für Schüler_innen beispielsweise deutlich, dass Exklusion von »Gemeinschaftsfremden« im gesamten Reich und eben auch vor Ort alltäglich war. Diese Erkenntnis ist schon angesichts der ikonographischen Überhöhung von »Auschwitz« mit all ihren Gefahren von 40 Vgl. ebd., S. 18–19. 41 Vgl. u. a. Lu Seegers: Die »Reichsbauernstadt« Goslar als städtische Repräsentation der Volksgemeinschaft? In: Reeken/Thießen: (Anm. 1), S. 175–190; Anette Blaschke: Die Reichserntedankfeste vor Ort. Auf der »Hinterbühne« einer nationalsozialistischen Masseninszenierung. In: Ebd., S. 125–141; Gunnar Zamzow: Die Marine als Generator von Gemeinschaft. Städtische Images Wilhelmshavens während des Nationalsozialismus und nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Ebd., S. 191–206. 42 Vgl. dazu die grundsätzlichen und unterrichtspraktischen Überlegungen für die Sekundarstufe I/II bei Thomas Schattner : Vorauseilender Gehorsam und Anbiederei. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im lokalen Umfeld. In: Geschichte lernen (Anm. 6), S. 15–19.
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Bedeutung. Ergänzt man Karten von Außenlagern zudem mit zeitgenössischen Stadtplänen, Fotografien oder Berichten von Zwangsarbeiter_innen und Häftlingen, können Schüler_innen die Volksgemeinschaft sogar noch genauer in ihrer Lebenswelt verorten – und Zusammenhänge zwischen Volksgemeinschaft und »Vernichtung durch Arbeit«, zwischen Exklusion und Kriegswirtschaft diskutieren. In dieser Hinsicht steht die Volksgemeinschaft als Lerngegenstand für eine generelle Perspektivenerweiterung im Geschichtsunterricht. KZ-Gedenkstätten geraten nicht mehr allein als Orte der Opfer und Täter_innen in den Blick, sondern ebenso als Orte von Profiteur_innen, Mitwisser_innen und Anwohner_innen. Neue Konzepte wie jene der Gedenkstätten Bergen-Belsen, Dachau, Flossenbürg und Neuengamme, um nur einige zu nennen, haben diese Perspektive in den letzten Jahren aufgegriffen und ihr mit eigenen Sonderausstellungen oder Erweiterungen der Dauerausstellungen Rechnung getragen, so dass Lehrkräfte auf neue Materialien der Gedenkstätten zurückgreifen können.
2.4
Geschichte schreiben: Volksgemeinschaft als Debatte
Um die Volksgemeinschaft wurde in den letzten Jahren intensiv gestritten. Die Intensität dieser Debatte speiste sich nicht allein aus Spezialfragen über theoretische Zugriffe oder methodische Aspekte. Vielmehr ging es in dem Streit um ganz Grundsätzliches, um die Frage nämlich, wie der Nationalsozialismus zu deuten ist. Was hielt die NS-Gesellschaft zusammen? Waren es Repressionen und Verfolgungen oder Angebote und Partizipationsmöglichkeiten, mit denen viele Deutsche »Volksgenoss_innen« wurden? Und wurden sie das überhaupt? War die Volksgemeinschaft tatsächlich soziale Realität oder nicht nur reine Propaganda? Ist die Untersuchung der Volksgemeinschaft also ein Ansatz, der uns neue Einblicke in den Alltag eröffnet? Oder fokussiert sie allenfalls einen Leitbegriff, der Auskunft über Ideologie und Programmatik bringt? Was kam von den Angeboten und Programmen überhaupt im Alltag an? Es sind grundsätzliche Fragen wie diese, die die Debatte selbst zu einem Lerngegenstand machen. In der Sekundarstufe II lassen sich beispielsweise in Expert_innendiskussionen, in Gruppen-Puzzles oder in Fish-Bowls unterschiedliche Deutungen der Volksgemeinschaft austauschen und bewerten. Erprobt habe ich dieses Verfahren mit einer Expert_innendiskussion in einer zwölften Klasse einer Hamburger Gesamt- bzw. Stadtteilschule. Damit der Austausch der Schüler_innen ein möglichst breites Spektrum an Deutungen abdeckt, ist es sinnvoll, in Form eines Rollenspiels Positionen zuzuteilen (oder wählen zu lassen). Geeignete Personen und Positionen sind beispielsweise wortmächtige Vertreter der Debatte wie Ian Kershaw, Hans Mommsen, Bernd
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Weisbrod und Michael Wildt. Alle vier haben sich in den letzten Jahren mehrfach und oft sehr klar zu Wort gemeldet.43 Ihre Beiträge zur Debatte sind auch deshalb geeignet, weil sie mitunter autobiographische Hintergründe in ihre Deutungen der Volksgemeinschaft einflechten. Die jeweilige Deutung der Geschichte, das wird an diesen Beiträgen somit deutlich, hängt untrennbar zusammen mit persönlichen Perspektiven und Interessen des jeweiligen Historikers. Je nach Zeitplanung gibt es für die Umsetzung der Debatte zwei Variationen. In der kompakteren Form stellt die Lehrkraft Rollenkarten mit wichtigen Informationen zur jeweiligen Person und Position für die Schüler_innen zusammen. In der aufwendigeren Form stellen die Schüler_innen ihre Rollenkarten weitgehend selbst zusammen, wobei die Lehrkraft bei Bedarf Material (einen einschlägigen, leicht lesbaren Aufsatz der zu recherchierenden Person, biografische Hintergrundinformationen etc.) bereitstellt. Die Lerngruppe wird je nach Anzahl der Positionen in eine entsprechende Anzahl von Arbeitsgruppen eingeteilt, in denen die Positionen zunächst gemeinsam geklärt und sämtliche Fragen beantwortet werden. Jede Gruppe wählt anschließend eine/n Schüler_in aus, die bzw. der die jeweilige Position in der Debatte vertritt. Alle übrigen Schüler_innen bilden den Zuschauer_innenkreis, aus dem Nachfragen gestellt werden können und in dem wichtige Argumente der Debatte notiert werden. Nach der Debatte tragen die Schüler_innen ihre Beobachtungen an der Tafel oder im Metaplan zusammen und erklären die unterschiedlichen Positionen. Biografische Hintergründe dürften dabei ebenso eine Rolle spielen wie unterschiedliche Interessen der Historiker. Während bei Michael Wildt der Fokus auf alltägliche Gewalt hervorsticht, tritt bei Kershaw dessen Blick auf die »große« Politik zum Vorschein, bei Mommsen und Weisbrod wiederum wird das Interesse an der Auseinandersetzung mit der Propaganda schnell deutlich. Ein Austausch der Schüler_innen über die Hintergründe unterschiedlicher Deutungen zielt auf zweierlei: zum einen auf eine Differenzierung der Argumente, zum anderen auf die Einsicht der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis. 43 Vergleichsweise leicht zugängliche Beiträge der genannten Historiker sind u. a. Ian Kershaw: Volksgemeinschaft. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: VfZ 59 (2011), S. 1–16, zur eigenen Position zur Volksgemeinschaft v. a. S. 9–16; Hans Mommsen: Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 14–15/2007, S. 14–21; Bernd Weisbrod: Der Schein der Modernität. Zur Historisierung der Volksgemeinschaft. In: Karsten Rudolph/Christl Wickert (Hrsg.): Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. Essen 1995, S. 224–242; Michael Wildt: Volksgemeinschaft. Eine Antwort auf Ian Kershaw. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), S. 102–109 (verfügbar unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2011/id=4756 (aufgerufen am 02. 06. 2016)). Im Forschungsbericht von Steuwer finden sich entsprechende Hinweis auf weitere mögliche Positionen und Personen, die im Unterricht genutzt werden könnten, vgl. Steuwer (Anm. 1).
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Am Ende des Austausches nehmen die Schüler_innen zu den Ergebnissen Stellung und beziehen selbst Position. Im Idealfall beziehen sie die gewonnenen Erkenntnisse auf ihre Bewertung der Volksgemeinschaft und reflektieren damit eigene Vorannahmen und Interessen. Eine Debatte über die Volksgemeinschaft fördert daher erstens die Auseinandersetzung mit der Perspektivität historischer Erkenntnis. Damit eröffnet sie zweitens einen multiperspektivischen Zugriff auf den Lerngegenstand nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in heuristischer Hinsicht. So können im Anschluss an die Debatte weitere Unterrichtssequenzen die jeweiligen Forschungsschwerpunkte (z. B. von Wildt auf die Alltagsgeschichte, von Weisbrod und Mommsen auf die Propaganda etc.) vertiefen. Und drittens fördert die Reflexion der Argumentation personale bzw. Selbstkompetenz im Klafki’schen Sinne, wird von den Schüler_innen doch die Fähigkeit zur Selbstreflexion erprobt.
2.5
Erinnerungen dekonstruieren: »Volksgenoss_innen« als Zeitzeug_innen
Ein letztes Unterrichtsbeispiel ist ebenfalls v. a. für die Sekundarstufe II geeignet und arbeitet mit einer besonders beliebten Quellengattung: mit Zeitzeug_innen. Im Geschichtsunterricht haben Zeitzeug_innen als Quelle wegen ihrer vielen Vorzüge seit langem einen festen Platz.44 So bieten Zeitzeug_innenberichte besonders alltagsnahe Schilderungen der Geschichte, die Schüler_innen emotional ansprechen und zur Identifikation einladen. Darüber hinaus sind Zeitzeug_innenberichte zur NS-Zeit mittlerweile geradezu omnipräsent und in unzähligen Editionen, Internetportalen oder Fernsehsendungen verfügbar. Aus diesen Vorteilen ergeben sich indes auch gewisse Nachteile. So erschwert die Omnipräsenz von Zeitzeug_innenberichten mittlerweile eine gezielte Auswahl für den Unterrichtseinsatz. Vor allem aber ist die Emotionalität und das Identifikationsangebot von Zeitzeug_innenberichten trotz potenzieller Motivationsschübe auch ein Problem, insbesondere in einer Unterrichtseinheit zur Volksgemeinschaft.45 Wenn der Geschichtsunterricht die Methodenkompetenz und damit die Fähigkeit zur Quellenkritik ausbilden soll,46 gilt das ebenso für Quellen der Oral History.47 44 Vgl. Gerhard Henke-Bockschatz: Zeitzeugenbefragung. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2007, S. 354–369. 45 Vgl. dazu meine differenzierteren Überlegungen in Malte Thießen: Zeitgeschichtsunterricht als Aufgabe. Impulse zeithistorischer Forschungen für einen kompetenzorientierten Geschichts- und Politikunterricht. In: Geschichte für heute (2014), H. 3, S. 20–31. 46 Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. In: Mayer/Pandel/Schneider (Anm. 44), S. 152–171.
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Tatsächlich lässt sich die Methodenkompetenz am Lerngegenstand Volksgemeinschaft besonders gut entwickeln, zeigen sich an Zeitzeug_innenberichten doch spezifische Probleme und Potenziale dieser Quellengattung, die in einer Unterrichtssequenz zum Thema gemacht werden könnten. Dazu nur zwei Beispiele, an denen sich Vor- und Nachteile von Zeitzeug_innen mit der Lerngruppe behandeln lassen. Ende der 1970er Jahre befragte der britische Historiker Martin Middlebrook Hamburger Zeitzeug_innen nach ihren Erfahrungen im Bombenkrieg. Erstaunlicherweise berichteten viele Befragte nicht so sehr vom Tod und vom Leid, sondern von gegenseitiger Hilfe und vom Zusammenhalt der Volksgemeinschaft: »Wenn man heute zurückdenkt«, so erklärte beispielsweise Frau Schmitt dem britischen Historiker die Situation im zerbombten Hamburg, »eigentlich sagenhaft, nach den Zerstörungen! Die Bevölkerung wurde zu ›Kumpeln‹. Wir teilten alles. Einer half dem anderen! Jeder konnte sich mutterseelenallein auf die Straße wagen und wurde nicht beraubt und belästigt! Ich habe bei offener Haustür geschlafen, ebenerdig, und mit ist nichts passiert. Heute ist ein Gang zur U-Bahn schon gewagt«.48
Dass solche Erinnerungen bis heute en vogue sind, zeigt ein ganz ähnlicher Bericht einer Zeitzeugin von 2006, ebenfalls über Erlebnisse nach den schweren Luftangriffen auf Hamburg: »Und dann die entsetzten Gesichter von den jungen Menschen. Das, das sehe ich noch heute. Und die haben dann gegriffen und uns Butterbrot gegeben, ja, ihr Butterbrot. Ja, das war, ja, ich meine, man mag lachen oder nicht, die Volksgemeinschaft gab es. Die gibt’s heut nicht mehr. Sonst hätte das auch mit Natascha nicht vorkommen können. Das hätte nie, das hätte man vorher merken müssen, nicht? Diese Sache, die da in der Zeitung«.49
Beide Erinnerungen bieten Beispiele sowohl für die biografische Funktion von Volksgemeinschaft-Erzählungen als auch für die Retrospektivität von Erinnerungen. Denn beide Zeitzeug_innen setzen die Volksgemeinschaft in einen scharfen Kontrast zur Gegenwart, in der der frühere Zusammenhalt und die Gemeinschaft zu fehlen scheinen. Die unsichere U-Bahn oder der Fall Natascha Kampusch dienen den Zeitzeuginnen als negative Kontrastfolie, vor denen die NS-Zeit fast schon zu einer »guten alten Zeit« mutiert. Unter Schüler_innen dürften diese Deutungen Fragen aufwerfen, nicht zuletzt dank ihres alltäglichen 47 Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit dem Einsatz von Zeitzeug_innen im Schulunterricht bei Ralph Erbar : Zeugen der Zeit? Zeitzeugengespräche in Wissenschaft und Unterricht. In: Geschichte für heute (2012), H. 3, S. 5–20. 48 Zit. nach Martin Middlebrook: Hamburg im Juli ’43. Alliierte Luftstreitkräfte gegen eine deutsche Stadt. Frankfurt a. M. 1983, S. 400. 49 Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg/Werkstatt der Erinnerung: Interview mit Christina Farmer, 25. 08. 2006, S. 68–69. Der Name der Zeitzeugin ist ein Aliasname.
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Vorwissens zum »Dritten Reich«, das gemeinhin die Brutalität und Unmenschlichkeit des NS-Regimes betont. Die Auseinandersetzung mit solchen Berichten sollte sich gleichwohl nicht darauf reduzieren, allzu verklärende Erinnerungen als »falsch« abzutun. Interessanter und zielführender sind Unterrichtssequenzen, in denen die Schüler_innen verklärende oder widersprüchliche Deutungen erklären. Der Gegenwartsbezug jeglicher Erinnerung wäre für solche Erklärungen ein Ansatz, die Entlastungsfunktion solcher Erinnerungen ein weiterer. Wenn das »Dritte Reich« auch seine »guten« Seiten hatte, kann man den Zeitzeug_innen schließlich schwerlich persönliche Vorwürfe machen. Vielleicht, so könnten Schüler_innen vermuten, dient die Volksgemeinschaft Zeitzeug_innen aber auch als eine Art Notlüge oder Feigenblatt (in der Oral History würde man von »Deckerinnerungen« sprechen), um über andere Dinge nicht reden zu müssen? Was auf den ersten Blick wie eine sehr komplexe Auseinandersetzung anmutet, knüpft im Grunde am Erfahrungsschatz eines bzw. einer jeden Lernenden an. Dass man über gemeinsame Erlebnisse in der Familie oder unter Freunden ganz unterschiedliche Erinnerungen austauscht und sich oft uneinig ist, wer nun eigentlich Recht hat, ist ja kein genuin wissenschaftliches Phänomen, sondern ein ganz alltägliches. Dass Erinnerungen an die eigene Kindheit von den Erzählungen anderer und von Fotos oder Filmen geprägt sind, können Schüler_innen wahrscheinlich ebenfalls an eigenen Erfahrungen festmachen. Erinnerungen an die Volksgemeinschaft sind demnach ein besonders geeigneter Lerngegenstand für einen sachlicheren und reflektierteren Umgang mit Zeitzeug_innen und für die Entwicklung der Methodenkompetenz. Denn Zeitzeug_innenberichte bieten für das Erproben der Quellenkritik eine besonders dankbare Quelle, weil sie die subjektive Deutung von Geschichte so offensichtlich machen. Zeitzeug_innen sind insofern nicht (nur) »Informanten zu Themenbereichen der Sozial- und Alltagsgeschichte«,50 sondern menschgewordene Quellen mit alle ihren Tücken.
3.
Fazit
In meinem Beitrag habe ich Verbindungen zwischen neuen Forschungen zur Volksgemeinschaft und geschichtsdidaktischen sowie unterrichtspraktischen Konzepten ausgelotet, um Potenziale der Volksgemeinschaft als Lerngegenstand herauszuarbeiten und Anknüpfungspunkte zur Kompetenzentwicklung aufzu-
50 Catherine Bosshart-Pfluger : Oral History. Methode und Quelle. In: Furrer/Messmer (Anm. 16), S. 135–155, hier S. 150.
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zeigen. Zusammengefasst sehe ich die Potenziale in einer Konkretisierung, Versachlichung und Dynamisierung des Geschichtsunterrichts. Konkret wird die NS-Zeit im Unterricht durch den Blick auf die Praktiken. In der Auseinandersetzung mit der Volksgemeinschaft erscheint die nationalsozialistische Herrschaft nicht mehr als das finstere Werk einer »allmächtigen Elite« im fernen Berlin. Vielmehr wurde Herrschaft vor Ort »gemacht«: von Täter_innen, Mitläufer_innen und eben auch von Zuschauer_innen. Mit der Volksgemeinschaft werden Funktionsweisen der NS-Gesellschaft nachvollziehbar, lassen sich soziale Strukturen und Prozesse verstehen. In diesem Sinne dient die Auseinandersetzung mit der Volksgemeinschaft einer Versachlichung, wie sie Ulrich Baumgärtner vor kurzem gefordert hat. Bei aller Berechtigung von Forderungen und Appellen an die Zivilcourage in »holocaust education« und Erinnerungskultur müsse der Geschichtsunterricht über »persönliche Betroffenheit« und »blankes Entsetzen«51 hinausgehen. Diese Versachlichung scheint mir im Übrigen auch noch aus einem recht trivialen Grund sinnvoll zu sein: Wenn die NS-Zeit zur moralischen Projektionsfläche für eine staatsbürgerliche Ethik mutiert, wird Geschichtsunterricht für Schüler_innen vor allem eines: sehr langweilig. Eine Dynamisierung des Geschichtsunterrichts sehe ich in dem Volksgemeinschaftskonzept, weil es die Perspektivität von Wissen nachvollziehbar macht. Die intensive Debatte um das Forschungskonzept und die mediale Präsenz der Volksgemeinschaft zeigen, wie sehr unser Wissen über die NS-Zeit ausgehandelt wird und wie sehr sich dieses Wissen je nach gesellschaftlicher Wetterlage ändert. Diese Dynamik des Wissens scheint mir eine besonders wichtige Erkenntnis für Schüler_innen zu sein: Die Erkenntnis nämlich, dass nicht nur die Volksgemeinschaft an sich, sondern ebenso ihre historische Deutung »gemacht« wurde und wird – am besten auch von den Schüler_innen selbst.
51 Ulrich Baumgärtner : Zwischen Betroffenheit und Erkenntnis. Didaktische Überlegungen zur Behandlung der NS-Herrschaft im Geschichtsunterricht. In: Praxis Geschichte (Anm. 10), S. 10. Vgl. auch Ulrich Baumgärtner : NS-Verbrechen. Didaktische Überlegungen. In: Praxis Geschichte (2012), H. 5, S. 10–11.
IV. Kommentar
Detlef Garbe
Abschlusskommentar zur Tagung »Der fachdidaktische Gehalt eines wissenschaftlichen Analysekonzepts – Zum Vermittlungspotenzial der NS-Volksgemeinschaft«1
Unmittelbar zum Abschluss dieser dichten und sehr gehaltvollen Tagung um einen Abschlusskommentar gebeten zu werden, ist zugleich eine inhaltlich reizvolle wie undankbare Aufgabe. Natürlich kann ich im Folgenden nur einiges streifen und jenes ansprechen, was mir aus meiner Sicht besonders berichtenswert und vor allem für die weitere Diskussion lohnend erscheint. Dass dies der vielleicht zuweilen unausgewogene Blick eines in der Gedenkstättenarbeit Engagierten ist, kann nicht überraschen. Eine solche eher externe Perspektive war vielmehr von den Tagungsverantwortlichen erwünscht. Zunächst möchte ich den Veranstalter_innen für das sehr gute Konzept der Tagung danken. Als ich im letzten Jahr angesprochen wurde, erschien mir dieses Unternehmen zunächst wissenschaftlich als nicht recht spannend. Ich sah darin den Wunsch des Instituts für Zeit- und Regionalgeschichte, die eigene Befassung mit dem Themenfeld nach dem durch politische Förderentscheidungen zum Scheitern gebrachten Projekt des »Historischen Lernorts Neulandhalle«2 zu einem gewissen Abschluss zu bringen. Einige Worte zu diesem Projekt. Ich bedaure, dass ein innovatives Konzept für das historische Lernen an finanziellen Realitäten, topografischen und anderen pragmatischen Erschwernissen und an politischen Obstruktionen scheitert. Ich hoffe zwar immer noch, dass durch die Herauslösung dieses Projekts aus dem Referenzrahmen der Gedenkstättenförderung und die Nutzung der Potentiale, die der Ort und das Gebäude für eine Bildungsstätte bieten, eine Lösung gefunden wird, gerade weil mir weder die Veräußerung und Nachnutzung für zum 1 Dieser am 29. Mai 2015 am Ende der Tagung »Der fachdidaktische Gehalt eines wissenschaftlichen Analysekonzepts – Zum Vermittlungspotenzial der NS-Volksgemeinschaft« des Instituts für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte und des Seminars für Geschichte und Geschichtsdidaktik im Landesarchiv Schleswig-Holstein in Schleswig vorgetragene Kommentar ist bewusst nur ganz leicht überarbeitet worden, um den Charakter eines spontanen Resümees beizubehalten. 2 Vgl. die Ausführungen von Uwe Danker/Astrid Schwabe zu dem Projekt in der Einführung in diesen Band.
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Beispiel gastronomische Zwecke noch der Abriss oder die Translozierung des Gebäudes zum Beispiel in das schleswig-holsteinische Freilichtmuseum Molfsee denkbar erscheint. Das ist einfach alles inakzeptabel. Von daher ist für mich also das Gebäude der Neulandhalle selbst Garant dafür, dass die Debatte längst noch nicht zu ihrem Ende gekommen ist. Doch nun zurück zur Tagung, deren Gegenstand mir also zunächst im Unterschied zu der hier zwischen West- und Ostküste geführten Debatte um die »Neulandhalle« nicht besonders aufregend erschien. Das Herunterbrechen des in den letzten zehn Jahren breit beforschten Analyserahmens der Volksgemeinschaft, die Aufnahme von Ergebnissen der intensiven fachwissenschaftlichen Debatte in die schulische und außerschulische Vermittlungsebene, die Frage, wie die Ergebnisse in Schulbüchern, Ausstellungen oder andere Formate öffentlicher Geschichtsvermittlung einfließen können – ja, das ist natürlich wichtig, aber doch nicht wirklich erkenntnisfördernd, so schien mir. Da habe ich mich doch gründlich getäuscht. Uwe Danker hat das Ziel dieser Tagung zum Auftakt in die Kurzformel gefasst, das historiografische wissenschaftliche Analysekonzept in die Fachdidaktik zu transferieren, in der es bislang keine Rolle spiele. Hier geht es aber um weit mehr als um die Überführung von Wissenschaft in pädagogische Praxis, denn die Didaktik fragt ja im Zuge der erforderlichen Reduktion nach dem Kern, nach dem Substrat, nach dem Ertrag von Forschung – und dies ist für diese selbst, das zeigten die Diskussionen auf der Tagung, von elementarer Bedeutung. Denn hier geht es um die Tragweite, um die Spezifika, um den Erkenntniswert des Konzepts für die Herausbildung einer Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes oder, wie es Detlef SchmiechenAckermann im Blick auf die didaktische Aufgabe formulierte, einer Gesellschaftsgeschichte des Mitmachens. Besonders wertvoll und erkenntnisfördernd war bereits die Einführung in die Tagung mit den Vorträgen zum fachwissenschaftlichen Konzept des Analyserahmens der Volksgemeinschaft. Der Verweis von Frank Bajohr auf die Forschungstrends, die seit den 1980er Jahren den geschichtspolitischen Turn im Zuge des Generationenwechsels hin zu einer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auf breiter Ebene ausmachten, würdigte diese zwar als Bausteine für die sozialund alltagsgeschichtliche Analyse, zeigte aber zugleich deren Fehlstellen. Hier stand die Aufklärung, oft in Gestalt der politischen Enthüllung des zuvor Verdrängten, Beschwiegenen und Geleugneten im Fokus. Dies im Unterschied zu dem oft apologetischen und exkulpatorischen Approach der bundesdeutschen Historiographie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, die in den Darstellungen des »Dritten Reiches« die Deutschen aufgrund von Unterdrückung, Terror und perfider Verführung zum Opfer der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten erklärten. Dabei war ja aus dem Entlastungsinteresse heraus in der
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posthumen Betrachtung der Macht des »Führers« oft geradezu Omnipotenz zugeschrieben worden. »Die Deutschen unter der Herrschaft Hitlers«, so lautete das gängige Bild. So konnte nach 1945 die Volksgemeinschaft in der Verleugnungsgemeinschaft aufgehen, die – sieht man einmal von den ehemals Verfolgten ab – unisono erklärte, von alledem nichts gewusst zu haben und in der Folge Geschichtslegenden in großer Zahl hervorbrachte. Insofern waren die Forschungstrends der 1980er Jahre, die Betrachtung von Verfolgung und Widerstand, die Befassung mit der NS-Sozial- und Gesundheitspolitik, die Hinwendung zu den vergessenen Opfern, die aus der Perspektive der Frauen- und Genderforschung aufgeworfenen Fragestellungen, die »Militärgeschichte von unten« und die Forschungen zu den Täter_innen von großem Wert. Denn sie offenbarten die Legenden von der »sauberen Wehrmacht« und andere Selbstlügen, die keineswegs nur personellen Kontinuitäten spiegelten – so das von Giordano als »zweite Schuld« gefasste Fortwirken des Unrechts und das des nicht nur justiziellen Versagens im Umgang mit den Hinterlassenschaften der nationalsozialistischen Verbrechen. Aber auch wenn viele Akteur_innen dieser wichtigen Forschungstrends vom Geist von 1968 inspiriert waren und der sich Anfang der 1980er Jahre herausbildenden Bewegung der Geschichtswerkstätten entstammten, so verstellten, wie Bajohr aufgezeigt hat, die aufgeworfenen Fragen den Blick auf den gesellschaftlichen Kern des Nationalsozialismus. Man spürte auf der einen Seite mit großer Empathie und wichtigem Ertrag Lebensgeschichten der Opfer auf, auf der anderen Seite befasste man sich mit den Funktionseliten des NS-Regimes. Dies beförderte aber zweifellos ein dichotomisches Verständnis der NS-Herrschaft, die Konzentration auf Opfer und Täter_innen war insofern in sozialgeschichtlicher Perspektive nicht unbedingt erkenntnisfördernd. Das Themenfeld Verfolgung und Widerstand verstellte trotz der völlig berechtigten Betonung alternativer Handlungsoptionen den Blick. So war der Widerstand nach 1933 ja nicht allein deshalb chancenlos, weil der Terror so umfassend war, sondern auch, weil er in der Bevölkerung auf viel zu wenig Resonanz stieß. Lange verweigerten sich auch keineswegs nur konservative Teile der bundesdeutschen Gesellschaft der Annahme der Erkenntnis, dass es sich beim Nationalsozialismus in weiten Teilen um eine »Zustimmungsdiktatur« gehandelt hatte, nicht um die mit Gewalt erzwungene Herrschaft weniger über viele, sondern um ein berauschtes, zumindest akzeptierendes Einvernehmen großer Bevölkerungsteile mit dem Regime. Es gab eine weit verbreitete Zustimmung zum Führer-Kult, zur Volksgemeinschaftsideologie und zur Ausgrenzung von Minderheiten. In welcher Weise die nationalsozialistische Propagandaformel der Volksgemeinschaft, die aber zugleich auch soziale Praxis, ein Integrationsangebot und Selbstwahrnehmung großer Bevölkerungsteile abbildete, als analytisches In-
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strumentarium geeignet ist, hat Martina Steber in ihrer Kategorienbildung schlüssig dargelegt. Volksgemeinschaft war zugleich Programm, Versprechen, Herrschaftstechnik und Handlungsdimension. Von daher, auch eingedenk der diskutierten Gefahr des Zirkelschlusses, bietet dieser Begriff einen Zugang zur für die didaktische Aufgabe elementaren Fragestellung, wie es möglich war oder – um das von Uwe Danker schon aufgenommene Wort von Theodor Adorno abermals zu zitieren – für den Versuch, »selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen«. Dabei, und das zeigten die Beiträge der verschiedenen Sektionen, bedarf der Begriff Volksgemeinschaft in geschichtsdidaktischer Perspektive der weiteren Auffächerung und Differenzierung. Was unter der Volksgemeinschaft zu verstehen ist, was sie ausmachte, ist zweifellos schwer in didaktische Konzepte zu transferieren, denn bei der Vermittlung dessen, wofür der Begriff Volksgemeinschaft steht, geht es schließlich ja nicht um die Wissensaneignung über bestimmte historische Ereignisse, Prozesse, nicht um die Vermittlung nüchterner Fakten, sondern um Einstellungen und Gefühle. Es geht um das Faszinosum, um den »schönen Schein« des Nationalsozialismus, um Visionen und Sinnstiftung, um die Dimension einer quasi politischen Religion, um die Anschlussfähigkeit an den Nationalsozialismus für jene Volksgenoss_innen, die keine Parteigenoss_innen waren, es geht um Gemeinwohlformeln (»Du bist nichts, dein Volk ist alles«) und eingeübte Praxis (»Deutscher Gruß« mit der Formel »Heil Hitler«), es geht um Verheißungen der Einheit gegen die komplexe, durch gesellschaftliche Zersplitterung, unterschiedliche Interessen und Konflikte konturierte Moderne, es geht um ein völkisches Gleichheitsversprechen (Götz Aly), um die Einebnung der Klassenunterschiede in der Hitlerjugend, im Arbeitsdienst und in der Wehrmacht, es geht um Mechanismen der Teilhabe und der Erzeugung von Kompliz_innenschaft, die sich besonders in der Ausgestaltung der Volksgemeinschaft zur Wehrgemeinschaft gezeigt und das Festhalten am Nationalsozialismus bis zum bitteren Ende befördert hat (Thomas Kühne). Dies alles zu vermitteln, stellt eine ungeheure Anforderung an die Didaktik dar, gleichwohl ist sie meines Erachtens eine unverzichtbare Aufgabe. Dabei gilt es selbstverständlich, den Gefahren einer zu großen Vereinfachung zu wehren: Wird dies so vermittelt, als ob die Bevölkerung in Gänze und unterschiedslos damals für den unheilvollen Weg verantwortlich und mithin schuldig war, quasi eine Wiederaufnahme der zeitgenössisch bzw. in der frühen Nachkriegszeit aus der Außenperspektive postulierten »Kollektivschuldthese«, trägt dieses weder zum historischen Lernen noch zum Erkennen gegenwärtiger und zukünftiger politischer Herausforderungen bei. Es gilt meines Erachtens, sowohl die Veränderungen über die Zeit der zwölf Jahre 1933 bis 1945, die unterschiedlichen Zustimmungsgrade, die Gemengelage von Konsens mit Teilen der nationalsozialistischen Herrschaftsziele und Dissens bezüglich anderer
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Segmente des nationalsozialistischen Herrschaftsvollzugs in den Blick zu nehmen. Im Anschluss an die Veröffentlichung seines vielbeachteten Buches »Hitlers Volksstaat« hat Aly erklärt, dass der »Generalplan Ost« und mithin der Raubund Vernichtungskrieg – ich zitiere aus seiner Rede zur Verleihung des HeinrichMann-Preises der Akademie der Künste 20023 – »nicht zum Vorteil von Junkern und Monopolisten geplant [wurde], sondern als konkrete Utopie für einfache Deutsche«. Der Blick »auf die reale Kriegsfinanzierung zwischen 1939 und 1945« zeige »unwiderleglich, wie intensiv […] sich der NS-Staat um das materielle Wohl der schlecht und mäßig verdienenden Deutschen kümmerte.« Aly schloss in Abwandlung des Horkheimer-Diktums über den Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus mit der Conclusio: »Wer von den vielen Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.« Nun legt er also nahe, Kriegsgewinnler seien die kleinen Leute gewesen, während das Kapital unter der hohen Gewinnabschöpfung durch den Staat gelitten habe. So Recht er hat, dass die Nationalsozialisten die Zustimmung der Massen mit der Volksgemeinschaftsideologie, der ins völkische gewendeten Utopie der sozialen Gleichheit, erlangten und dadurch diese Massen zur Hatz auf Juden und Jüdinnen sowie andere »Gemeinschaftsfremde« mobilisieren konnten, so irrt er, wenn er deshalb den Nationalsozialismus zu einer Art klassenlosen Raubgemeinschaft erklärt. Wenn auch zig Millionen Deutsche am NaziRaub profitierten, differierte die Höhe der Profite schon beträchtlich. Millionenprofite machten nicht die kleinen Leute, wohl aber große Teile der deutschen Kriegswirtschaft und der Nazi-Oligarchie. Also kein Grund, dem HorkheimerWort jede Berechtigung zu entziehen. Wohl aber dem vulgär-marxistischen Missbrauch dieses Zitats als Losung, die im Faschismus lediglich das wahre Gesicht eines enthemmten Kapitalismus zu erkennen meinte. Aly ist dafür zu danken, dass er erneut darauf aufmerksam macht. Seine Thesen sind ein Beitrag zu einer wichtigen Frage: Wie gelang es dem Nationalsozialismus, die Zustimmung der Massen zu erlangen? Die Nazi-Diktatur bedeutete im eigenen Land nicht die Herrschaft weniger über viele; sie war keine Diktatur über das Volk, sondern eine des Volkes über andere: zunächst gegenüber den aus der Volksgemeinschaft Verstoßenen im eigenen Land und später gegenüber anderen Völkern. Hier liegt der tiefere Grund dafür, weshalb sich die Deutschen mit der
3 Aly Götz: Hitlers Volksstaat. Anmerkungen zum Klassencharakter des Nationalsozialismus. Rede zur Verleihung des Heinrich-Mann-Preises der Akademie der Künste 2002. In: Süddeutsche Zeitung, 22. 05. 2002, verfügbar unter https://www.perlentaucher.de/essay/hitlersvolksstaat.html (aufgerufen am 07. 09. 2016).
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Aufarbeitung der Vergangenheit so schwergetan haben und auch weiterhin schwertun werden. Gestatten Sie mir zum Schluss noch einen Blick, genauer drei Blicke auf die Perspektive der Gedenkstätten, die im Zuge ihrer Neuverortung die Debatte dieser Tagung mit großem Gewinn für ihre Arbeit nutzen können bzw. sollten. 1.) In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten entstand in öffentlicher Trägerschaft an ehemaligen Stätten des NS-Terrors eine Vielzahl von Erinnerungsorten, die sich oft zu zeitgeschichtlichen Museen und bedeutenden außerschulischen Lernorten entwickelt haben. Gesellschaft und Staat haben dabei heute zweifellos den politischen Nutzen von Gedenkstätten erkannt: Nach der Vereinigung konnten und können sie als Vorzeigeobjekte dafür dienen, dass das vereinte und ökonomisch mächtige Deutschland, das in der internationalen Politik einen entsprechenden Platz beansprucht, die Abkehr von jenem Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 sichtbar und glaubwürdig vollzogen hat. 2.) Doch gibt es in didaktischer Perspektive noch etwas zu bedenken, auf das Danker in seinem Eingangsstatement zu dieser Tagung hingewiesen hat. Er bezeichnete die Gedenkstätten als Orte »mit paradoxem Standortnachteil«. Auch ich sehe hier ein Problem. Denn die Konzentrations- und Vernichtungslager bildeten bekanntermaßen die letzte Station eines langen leidvollen Weges, der durch Stigmatisierung und öffentliche Diskriminierung, Ausgrenzung und gesellschaftliche Isolierung, Verfolgung und offene Gewalt gekennzeichnet war. Da die Gedenkstätten gewissermaßen am Ende des Weges ansetzen, der zu Vernichtung und Holocaust geführt hat, besteht die Gefahr, der Totalität des Phänomens Nationalsozialismus nicht gerecht zu werden.4 In der Wissenschaft werden ein »Unbehagen an der Aufarbeitung«5 und ein »neue[s] Unbehagen an der Erinnerungskultur«6 konstatiert. Ein Projekt öffentlicher Selbstbeunruhigung und gesellschaftlicher Kontroverse ist im vereinigten Deutschland inzwischen Teil bundesdeutscher Identität und der Staatsräson geworden, Affirmation ist an die Stelle von Anstößigkeit und Verunsicherung getreten. Die geschichtspolitische Läuterung im Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus, aber auch dem der DDR, kann dabei als Teil des »Nation-Building« gedeutet werden.7 4 Detlef Garbe: Gedenkstätten: Orte der Erinnerung und die zunehmende Distanz zum Nationalsozialismus. In: Hanno Loewy (Hrsg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Reinbek 1992, S. 260–284. 5 Martin Sabrow: Das Unbehagen an der Aufarbeitung. Zur Engführung von Wissenschaft, Moral und Politik in der Zeitgeschichte. In: Thomas Schaarschmidt (Hrsg.): Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2008, S. 11–20. 6 Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013. 7 Cornelia Siebeck: »The universal is an empty place.« Nachdenken über die (Un-)Möglichkeit
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Die Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus haben im Zuge ihrer notwendigen Professionalisierung ihren Teil dazu beigetragen. In ihren Ausstellungen und Präsentationen ist das Verstörende zu sehr eingeebnet worden, sind Anstößigkeit und Infragestellungen oftmals auf der Strecke geblieben. Der von den Besucher_innen gewünschten Suggestion einer unmittelbaren Anschaulichkeit, beim Besuch erfahren zu können, was ein Konzentrationslager war (wobei die Nacherlebbarkeit weder möglich noch anstrebenswert ist), begegneten die KZ-Gedenkstätten mit dem Anspruch, mittels Informationen und Medien verstehen zu können, was ein Konzentrationslager war, also das Geschehene kognitiv nachvollziehen zu können. Das von ihnen vermittelte Narrativ wirkt auch und gerade durch die modernen Ausstellungen und die multimedialen Informationsangebote so, als könne eine fertige Deutung präsentiert werden, eine lineare Darstellung der Lagergeschichte. Trotz der Betonung der Vielschichtigkeit der Quellen und der unterschiedlichen Betrachtungsweisen in den Erinnerungsberichten und trotz der multiperspektivischen Zugänge in der Gedenkstättenpädagogik werden die Besucher_innen zu wenig zum Fragen und Weiterdenken angeregt. Die sich an der modernen Massenmedialität orientierenden professionellen Gedenkstättenausstellungen wirken gegen ihre Intention oft geglättet. Das Grauen erscheint als konsumierbarer Ausstellungsinhalt. Doch die Didaktik darf um der historischen Orte und ihres Vermächtnisses willen nicht die tiefen zivilisatorischen Verstörungen zudecken, die von den nationalsozialistischen Verbrechen ausgehen. Verlieren Gedenkstätten das Unbequeme und ihre Anstößigkeit, sind sie als Lernorte nicht zukunftsfähig. 3.) Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Volksgemeinschaft ist in der Vermittlungsarbeit der Gedenkstätten auch deshalb geboten, weil in der Thematisierung der Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft, ihrer stufenweisen Ausweitung und der möglichen individuellen Reaktionsweisen für das Heute unmittelbar bedeutsame Fragestellungen reflektiert werden können. Das ist vielleicht für das Lernen aus der Geschichte der wichtigste Punkt.
demokratischer KZ-Gedenkstätten. In: Imke Hansen/Enrico Heitzer/Katarzyna Nowak (Hrsg.): Ereignis & Gedächtnis. Neue Perspektiven auf die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Berlin 2014, S. 217–253.
Autor_innen
Prof. Dr. Frank Bajohr, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für HolocaustStudien, Institut für Zeitgeschichte, München Prof. Dr. Uwe Danker, Professor für Geschichte und ihre Didaktik am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik sowie Direktor am Institut für Zeit- und Regionalgeschichte der Europa-Universität Flensburg Dr. Axel Drecoll, Leiter der Abteilung Dokumentation Obersalzberg, Institut für Zeitgeschichte, München Dr. Detlef Garbe, Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg PD Dr. Bernhard Gotto, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, München Dr. Christian Mehr, Studienrat in Nidda, Hessen Marcel Mierwald, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Didaktik der Geschichte der Ruhr-Universität Bochum Etienne Schinkel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Didaktik der Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann, Apl. Professor und Direktor des Instituts für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover Prof. Dr. Astrid Schwabe, Juniorprofessorin für Public History und historisches Lernen im Sachunterricht am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik der Europa-Universität Flensburg
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Autor_innen
PD Dr. Martina Steber, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, München Dr. des. Dirk Strohmenger, Studienrat in Reichelsheim im Odenwald, Hessen Prof. Dr. Malte Thießen, Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte sowie apl. Prof. für Neuere und Neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg