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German Pages [181] Year 2023
Kunst und Politik Band 24/2022
KUNST UND POLITIK JAHRBUCH DER GUERNICA-GESELLSCHAFT Begründet von Jutta Held Herausgegeben von Andrew Hemingway und Martin Papenbrock
Wissenschaftlicher Beirat Christoph Bertsch, Innsbruck Carol Duncan, New York Christian Fuhrmeister, München Anna Greve, Bremen Annegret Jürgens-Kirchhoff, Tübingen Barbara McCloskey, Pittsburgh Frances Pohl, Claremont/California Ernst Seidl, Tübingen Ellen Spickernagel, Gießen Peter Weibel, Karlsruhe
KUNST UND POLITIK JAHRBUCH DER GUERNICA-GESELLSCHAFT Kunst und Politik Band 24/2022 Schwerpunkt: Politisches Graffiti Herausgeber:innen dieses Bandes: Martin Papenbrock Doris Tophinke
V&R unipress
Redaktion:
Alexandra Axtmann, Katharina Bauer, Britta Borger, Stephanie Borgolte, Pia Emmrich, Anna Greve, Barbara Martin, Martin Papenbrock, Elke Wüst-Kralowetz
Redaktionsadresse:
Guernica-Gesellschaft, Klauprechtstraße 19, 76137 Karlsruhe, Tel. 07 21/3 52 93 79
Erscheinungsweise:
Jährlich
Abonnement:
Der Preis für ein einzelnes Jahrbuch beträgt EUR 22,50 im Abonnement EUR 19,50
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Kritische Kunst- und Kulturwissenschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. 1. Aufl. 2023 © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Einbandgestaltung: Tevfik Göktepe Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 1439-0205 ISBN 978-3-7370-1537-0
Inhalt
SCHWERPUNKT: POLITISCHES GRAFFITI Vorwort .............................................................................................................................7 Ulrich Blanché Stencil Graffiti zwischen Widerstand und Propaganda 1930–1945 ...............................11 Doris Tophinke »DAS iSt STRASSEN-PoLiTiK!« Politisches »meaning making« im Szene-Graffiti .............................................................................................................23 Evelyn Ziegler Praktiken des Stancetaking: Politische Graffitis in der Metropole Ruhr ..............................................................................................................47 Martin Papenbrock ›Message‹ und ›Style‹. Über das Politische im Graffiti und die Graffitisierung des Politischen .......................................................................................67 Johannes Stahl »Die Wand ist dafür geschaffen.« Anmerkungen zu einem politischen Begriff ..........................................................................................................83 Sven Niemann Bomb the System! Politische Pieces als Partizipationspraktik im öffentlichen Raum ......................................................................................................89 Steffen Pappert Plakat-Busting: Vandalismus, Protest oder was? ........................................................103 Katharina Stelzel Graffiti im Baskenland – Seismographen des Konflikts?..............................................119 Anna Krüger »Eine einzigartige Visitenkarte unserer Stadt«. Die Entstehung der Hall of Fame am Rathaus der »Grafftiti-Stadt« Marl ............................................133
WEITERE BEITRÄGE Katharina Büttner-Kirschner Propaganda, Patriotismus und Pazifismus. Der Kunsthistoriker Werner Weisbach (1873-1953) im Ersten Weltkrieg .................................................... 141
BESPRECHUNGEN Mitja Velikonja: Post-Socialist Political Graffiti in the Balkans and Central Europe. London/ New York 2020 (Anica Nießner) ........................................ 157 Oliver Nebel, Frank Petering, Mirko Reisser, Andreas Timm (Hg.): Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980–1999. Hamburg 2021 (Stephanie Borgolte) ........................................................................... 160 Reclaim Your City: BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003–2021. Berlin/Hamburg 2022 (Kevin Messing) .................................... 164 Richard Hambleton – der vergessene Schattenmann. Ausstellung im Museum of Urban and Contemporary Art (MUCA) in München von Herbst 2020 bis Sommer 2022 (Elke Wüst-Kralowetz) ....................................... 166
ANHANG Autorinnen und Autoren............................................................................................... 171 Abbildungsverzeichnis ................................................................................................. 175
SCHWERPUNKT: POLITISCHES GRAFFITI
Vorwort
In der Reihe des Jahrbuchs Kunst und Politik ist der vorliegende Band in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen widmet er sich einem Thema aus dem Bereich der Populärkultur, das in kunstgeschichtlichen Zusammenhängen eher selten behandelt wird: dem politischen Graffiti. Zum anderen versammelt er Aufsätze aus unterschiedlichen Disziplinen: neben kunst- und kulturgeschichtlichen Arbeiten vor allem Beiträge aus der Sprachwissenschaft. Eine interdisziplinäre Perspektive ist für Kunst und Politik nicht neu, die starke Präsenz linguistischer Zugänge dagegen schon. Sie erklärt sich aus dem Gegenstand der Untersuchung. Graffiti enthält sowohl bildliche als vor allem auch schriftliche Elemente, insbesondere das politische Graffiti, weshalb eine Kombination aus kunstgeschichtlichen und sprachwissenschaftlichen Perspektiven auf das Thema sinnvoll erscheint. Die verschiedenen Fächerkulturen zeigen sich in diesem Band nicht nur in den jeweils spezifischen Fragestellungen, sondern auch in eigenen Zitierkonventionen. Die Unterschiede wurden bewusst beibehalten und nicht in Gänze vereinheitlicht. So ergibt sich für manche Leser:innen von Kunst und Politik hin und wieder ein ungewohntes Bild, das aber durchaus dem interdisziplinären Charakter des Themas und des Forschungszusammenhangs Rechnung trägt. Die Beiträge sind aus einem Online-Workshop zum Thema »Politisches Graffiti« hervorgegangen, der am 17. und 18. Februar 2021 im Kontext des DFG-Projekts »Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID)« stattgefunden hat. Aufgabe und Ziel dieses gemeinsamen Projekts aus Kunstgeschichte und Sprachwissenschaft, das von den Herausgeber:innen des vorliegenden Bandes geleitet wird, ist der Aufbau einer Forschungsdatenbank zum Thema »Graffiti in Deutschland«, die nicht nur den beteiligten Fächern, sondern auch angrenzenden Disziplinen aus den Geistes-, Kultur- und Medienwissenschaften, aber etwa auch der Stadtsoziologie oder der Urbanistik neue Grundlagen, Möglichkeiten und Perspektiven zur Erforschung des Phänomens Graffiti eröffnen soll. Mit informationstechnologischer und informatischer Unterstützung werden Sammlungen von Graffiti-Fotos durch Projektmitarbeiter:innen aus der Kunstgeschichte und der Sprachwissenschaft kooperativ erfasst und durch Annotation erschlossen. Bislang konnten bereits ca. 100.000 Graffitis für die Forschung zur Verfügung gestellt werden. Seit 2020 ist die INGRID-Datenbank über eine Benutzeroberfläche der Universität Paderborn online zugänglich, zunächst nur über das Deutsche Forschungsnetz (DFN-AAI), inzwischen aber für alle Interessierten. Der Kreis der Beiträger:innen des vorliegenden Bandes setzt sich mehrheitlich aus den Projektmitgliedern von INGRID sowie aus dem Projekt nahestehenden Wissenschaftler:innen zusammen. Das Ziel des vorliegenden Bandes ist es nicht, das Thema »Politisches Graffiti« umfassend zu behandeln. Dies kann, da nur wenige der Disziplinen, die sich mit dem The-
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Vorwort
ma befassen, im Band vertreten sind, nicht der Anspruch sein. Es soll eher darum gehen, punktuelle Forschungen aus den beteiligten Fächern zu bündeln und zur Diskussion zu stellen. Der Band ist durchaus heterogen. Die einzelnen Beiträge unterscheiden sich sowohl in theoretisch-methodischer Hinsicht als auch im zeitlichen, räumlichen und gattungstypologischen Zuschnitt des Untersuchungsfeldes. Als Voraussetzung für eine gemeinsame Diskussion wurde vereinbart, den Beiträgen jeweils kurze Ausführungen zur Perspektive, zur Methodik und zu den zugrunde gelegten Begriffen von Graffiti und Politik vorzuschalten, die den Leser:innen die Einschätzung der verschiedenen Positionen erleichtern. Quer zu den disziplinären Unterschiedenen widmen sich einige Beiträge eher dem Szene-Graffiti, dem sogenannten Style Writing amerikanischer Tradition, andere eher dem gestalterisch weniger ambitionierten Spruch- und Parolengraffiti. Einige legen ihren Ausführungen ein engeres Politikverständnis zugrunde, das sich auf die Kommunikation politischer Akteure und Gruppierungen konzentriert, andere setzen einen weiten Politikbegriff voraus, der alle der alle Graffitis, die gesellschaftlich Relevantes thematisieren oder sich zu gesellschaftlichen Themen positionieren, einschließt. Die Beiträge verbindet die Wertschätzung und Anerkennung von Graffiti als kulturellem Phänomen sowie als Stimme im Konzert der politischen Positionierung und Meinungsäußerung, die gerade in der wissenschaftlichen Wahrnehmung – um im Bild zu bleiben – oftmals ›überhört‹ wird. Sie verstehen sich als »Werkstattberichte«, die Einblick in laufende Forschungen bieten, explorieren die Reichweite analytischer Zugänge und stellen Überlegungen, Forschungen, erste Befunde und Ergebnisse zur Diskussion. Im Idealfall setzen sie Impulse, die weitere Forschungen im Bereich des politischen Graffiti anregen. Die Brücke zu einem der Kernthemen der Guernica-Gesellschaft und des Jahrbuchs Kunst und Politik, dem antifaschistischen Widerstand der 30er und 40er Jahre, schlägt der Beitrag von Ulrich Blanché über die Geschichte des Victory-»V« als Symbol des internationalen Widerstands gegen Nazi-Deutschland, das nicht zuletzt in Form von Graffitis verbreitet wurde. Sein Beitrag markiert historisch den Beginn des Untersuchungsfeldes und bildet den Auftakt des Bandes. Alle weiteren Beiträge widmen sich dem neueren Graffiti, das heißt, politischen Graffitis von den 80er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart. Doris Tophinke widmet sich dem politischen Szene-Graffiti in einer kognitivlinguistischen Perspektive. Dabei bestimmt sie heuristisch den Gegenstandsbereich weit und fasst alle Szene-Graffitis, die gesellschaftlich Relevantes thematisieren, als politisch. Das Interesse ihres Beitrags gilt den (schrift-)bildlichen Mustern in der Formulierung politischer Inhalte und und der Frage, welches politische »meaning making« diese bestimmen. In der Analyse, die sich auf Szene-Graffitis in der Datenbank INGRID stützt, zeigt sie, dass diese eine eher schematische und vage ›Welt‹ des Politischen entwerfen und Bezugnahmen auf konkrete gesellschaftliche Ereignisse eher selten sind. Evelyn Ziegler untersucht politische Graffitis in der Metropole Ruhr, die im Rahmen des von von ihr mitbegründeten Projekts »Metropolenzeichen« fotografisch dokumentiert wurden. Politisches Graffiti begreift sie als Stancetaking, als Positionierung der Akteure im öffentlichen Raum, und als Eröffnung einer politischen Kommunikation beziehungsweise eines politischen Dialogs. Sie stellt eine deutliche Dominanz deontischer (zur Handlung auffordender) Stances gegenüber epistemischen (kundgebenden) Stances fest.
Vorwort
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Martin Papenbrock vergleicht in seinem Beitrag das politische Sponti-Graffiti der frühen 80er Jahre mit politischen Äußerungen des Szene-Graffitis der Jahrtausendwende und stellt eine »Graffitisierung des Politischen« fest, das heißt eine zunehmende Akzentverschiebung von der »Message« zum »Style«. In einer originellen Perspektive verlagert Johannes Stahl in seinem Beitrag den Blick von den Graffitis zur Wand, auf der sie aufgebracht sind. Er sieht die Wand als politischen Bildträger und untermauert diese These mit einer Reihe von historischen Beispielen. Sven Niemann nimmt das politische Szene-Graffiti in den Blick, insbesondere die großformatigen und mehrfarbigen »Pieces«, vor allem solche, in deren Zentrum kein Sprüher- oder Crewname, sondern eine politische Formulierung oder der Name einer politischen Gruppierung steht, und erkennt darin den Anspruch der Graffiti-Szene auf politische Partizipation. Ähnlich argumentiert Steffen Pappert, der politische Wahlplakate untersucht, die mit Graffitis überschrieben, übermalt oder überklebt wurden. Ob diese mit dem Adbusting verwandten, nichtautorisierten Eingriffe in die Wahlkampfkommunikation als Formen des politischen Protests zu interpretieren sind, bleibt offen. Zumindest sind sie als Ausdruck einer Kritik an der politischen Kommunikation im öffentlichen Raum zu verstehen. Eine ganz andere Region als die anderen Beiträge nimmt Katharina Stelzel in den Blick. Sie untersucht im Rahmen einer Sozial- und Lebensraumanalyse das politische Graffiti im Baskenland und seine Präsenz und Bedeutung in baskischen Städten vor dem Hintergrund des bewaffneten Konflikts, der um 2006 – dem Zeitpunkt ihrer Aufnahmen – einen Höhepunkt erreichte. Der Aufsatz von Anna Krüger, der die Reihe der Beiträge zum Themenschwerpunkt beschließt, befasst sich nicht mit politischem Graffiti, sondern mit Graffiti als Thema städtischer Kulturpolitik. Am Beispiel der selbsternannten »Graffiti-Stadt« Marl skizziert sie die ungewöhnliche ›Graffiti-Politik‹ einer Kommune, die eine Rathauswand zum Sprühen freigibt und sich davon positive Effekte für ihre Außendarstellung erhofft. Außerhalb des Schwerpunktthemas »Politisches Graffiti« ist der Beitrag von Katharina Büttner-Kirschner angesiedelt, die an die Tradition fachgeschichtlicher Beiträge in Kunst und Politik anknüpft und am Beispiel des Kunsthistorikers Werner Weisbach das ambivalente, zwischen Propaganda und Pazifismus changierende Verhältnis von deutschen Intellektuellen und Wissenschaftlern im Ersten Weltkrieg beleuchtet. Die Rezensionen sind dann wieder dem Schwerpunktbereich »Politisches Graffiti« gewidmet. Sie stellen neuere Publikationen und Ausstellungen zum Thema vor. Anica Nießner nimmt Mitja Velikonjas methodisch ambitionierte Untersuchung über PostSocialist Political Graffiti in the Balkans and Central Europe (2020) in den Blick und wirft damit ein Licht auf politisches Graffiti in einer Region, die in den Schwerpunktbeiträgen des Bandes unberücksichtigt geblieben ist. Stephanie Borgolte bespricht die Dokumentation Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980–1999 (2021), die aus der Graffiti-Szene heraus entstanden ist und belegt, wie dort zunehmend ein Bewusstsein der eigenen Geschichte und der Notwendigkeit ihrer Dokumentation entsteht. Ebenfalls den Szene-Publikationen zuzurechnen ist der von Kevin Messing besprochene Band BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003–2021 (2022) des Kollektivs Reclaim Your City, das sich die Dokumentation aktivistischer Kunst- und Protestformen auf die Fahnen geschrieben hat. Diese Veröffentlichung weitet den Horizont und zeigt die Vielfalt von künstlerischem und politischem Aktivismus in einer Graffiti-Metropole
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Vorwort
wie Berlin auf und dokumentiert den unmittelbaren künstlerischen und politischen Kontext der Graffiti-Kultur. Elke Wüst-Kralowetz schließlich bespricht die Ausstellung Richard Hambleton – der vergessene Schattenmann, die von 2020 bis 2022 im Museum of Urban and Contemporary Art (MUCA) in München gezeigt wurde, und zeigt die engen Verbindungen zwischen bildender Kunst und Graffiti in den frühen 80er Jahren auf. Doris Tophinke und Martin Papenbrock
Ulrich Blanché Stencil Graffiti zwischen Widerstand und Propaganda 1930–1945
Unter Graffiti verstehe ich hier nicht nur gängige Style-Writing-Graffiti in USamerikanischer Tradition, also das Schreiben und Malen von Tags and Pieces, meist des eigenen Pseudonyms mit Marker oder Sprühdose, sondern auch jede Art von nicht autorisierter, meist illegal geschriebener, gekratzter, gemalter etc., visueller Äußerung in öffentlichen Räumen. Mein methodischer Zugang ist ein kulturhistorischer, empirischer, nahe am Objekt, mit dem Ziel, den originalen Kontext zu entschlüsseln bzw. dem damals zeitgenössischen Betrachter:innenhorizont nahe zu kommen. Zwei Allgemeinplätze vorab: Politische Graffiti gab es immer schon,1 und schon spätestens seit sie illegal sind, sind alle Graffiti politisch. Es gibt Graffiti, bei denen Form und Inhalt politisch sind, und solche, bei denen nur die Form politisch ist. »Graffiti ist ein politischer Akt, ob die Urheber:in sich dessen bewusst ist oder nicht. Wenn man regelmäßig etwas Illegales tut, weil es Teil der eigenen Kultur oder Kunstform ist, ist man politische/r Künstler:in. Auch wenn die Botschaft nicht offen politisch ist, gibt es einen politischen Punkt, wenn man das Gesetz bricht, um seine/ihre Kunst zu machen.«2
Allein die Tatsache, dass man sich mit seiner visuellen Äußerung auf fremden Mauern im öffentlichen Raum über Eigentumsverhältnisse hinwegsetzt, stellt diese damit in Frage. Dies kann man von Empfängerseite immer politisch verstehen – auch wenn es von der Senderseite nicht bewusst bzw. implizit oder explizit angelegt ist. »Straßen zu bemalen bedeutet, ein realer Teil einer Stadt zu werden.«3 Die physische Involviertheit ist bereits politisch bei Graffiti, ähnlich dem Ausdruck ›Abstimmung mit den Füßen‹. »Insbesondere Schablonen [Graffiti] waren weitgehend mit politischen Bewegungen verbunden«4, so auch Banksy: »Sobald ich meine erste Schablone geschnitten hatte, spürte ich die Kraft dort. Die Rücksichtslosigkeit und Effizienz sind perfekt. Mir gefällt auch der politische Aspekt. Alle Graffiti sind Dissens auf niedrigem Niveau, aber Schablonen haben nochmal eine besondere Geschichte. Sie wurden verwendet, um Revolutionen zu starten und Kriege zu beenden. Sie sehen schon allein durch den Stil politisch aus. Sogar ein Bild von einem Kaninchen, das Klavier spielt, sieht hart aus als Schablone. Es wirkt wie eine Anklage der seichten Unterhaltungsbranche.«5
In der Literatur zu Schablonengraffiti wurde schon bald auf ihre Ursprünge in politischen Schablonen hingewiesen, insbesondere auf die Zeit, die sich im Begriff ›GuerillaSchablonen‹ manifestiert, nämlich die der südamerikanischen, afrikanischen und arabischen Protestbewegungen und Revolutionen der 1960er bis 1980er Jahre.6 An älteren Beispielen früher politischer Wandschablonen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs
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Ulrich Blanché
tauchten eine Weile lang genau drei Beispiele in der Literatur auf: Der französische 1980er Pochoirist Blek le Rat erwähnte, dass er als Kind im Italienurlaub alte Mussolini-Stencils auf Mauern sah.7 Im Falle der Mussolini-Schablonen verweise ich an dieser Stelle auf die der Graffiti-Literatur weitgehend unbekannten, italienischsprachigen regionalgeschichtlichen Bildbände und Abb. 1: Die Weiße Rose, Wandparole »Nieder Bücher, insbesondere von Segàla, mit Hitler« an der Fassade der Münchner Bosca und Marsilio,8 die eine Reihe Universitätsbibliothek in der Ludwigstraße, von Fotos, Gedanken und Dokumenten Februar 1943, vermutlich Fahndungsfoto der dazu zusammentrugen. Johannes Stahl Gestapo, grafisch nachbearbeitet illustrierte eine schablonierte Durchhalteparole vor 1945, sie wurde noch 1988 in Wuppertal fotografiert.9 Beide Beispiele waren jedoch zur Zeit ihrer Rezeption Geisterbilder übriggebliebener faschistischer Wand-Propaganda, die zur Entstehungszeit keine Graffiti, sondern legal waren. Es gab natürlich auch rechte, bestärkende Graffiti damals, etwa antisemitische Schmierereien auf jüdischen Geschäften, diese sind aber nicht Thema dieses Aufsatzes. Als drittes Beispiel war lange nur als bildloser Mythos überliefert, dass auch die bekannte Widerstandsgruppe Weiße Rose Schablonengraffiti gemacht habe.10 Über die tatsächliche Größe, Farbe und Komposition wurde gemutmaßt, etwa in dem Spielfilm Die Weiße Rose von 1982.11 Wandschablonen wurden spätestens seit den 1930er Jahren als Werkzeug des Widerstands, etwa gegen Nazi-Deutschland, nicht nur in Deutschland selbst, sondern auch in anderen Ländern von lokalen Widerständlern eingesetzt. Diese Schablonen waren nie das einzige oder vorherrschende Werkzeug des Widerstands, sondern eines von vielen. Es existiert eine Foto-Rekonstruktion des tatsächlichen Schablonengraffiti der Weißen Rose (Abb. 1).12 Laut dem polnischen Graffiti- und Schablonenspezialisten Tomasz Sikorski »wurden im besetzten Warschau aus Sicherheitsgründen kaum Schablonen auf den Straßen verwendet. Die Zeichen wurden mit Pinseln und oft zum Beispiel mit haltbarem Teer bemalt, während Schablonen Farbe erforderten [wahrscheinlich schwer zu bekommen] und – die Utensilien und die Originalschablone zu tragen, war eine tödliche Bedrohung, wenn man auf der Straße angehalten und durchsucht wurde.«13 Diese Beobachtung gilt auch für andere Widerstandsgraffiti dieser Zeit. Gemäß den NS-Verhörprotokollen malten die Mitglieder der Weißen Rose, Hans Scholl und Alexander Schmorell, in drei Nächten, am 4., 9. und 16. Februar 1943 ihre Widerstandsgraffiti.14 Vor 1990 waren die Vernehmungsprotokolle noch nicht voll zugänglich.15 Aus diesem Grund gibt die Sekundärliteratur vor diesem Datum manchmal andere Details an. Es ist auch möglich, dass Scholl und Schmorell in diesen Protokollen nicht die ganze Wahrheit gesagt haben, um andere oder sich selbst zu schützen. Beiden zufolge hat Schmorell nur einen der Slogans, »Nieder mit Hitler«,16 kombiniert mit einem durchgestrichenen Hakenkreuz17, als Schablone für Scholl ausgeschnitten.18 In der Woche zuvor hatte Schmorell Wilhelm Geyer, einen akademischen Maler und älteren Freund von Hans Scholl, gefragt, wie man Schablonen schneidet.19 Der Schab-
Stencil Graffiti zwischen Widerstand und Propaganda 1930–1945
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lonendruck an den Wänden maß nur circa 15 x 25 cm; sie arbeiteten nachts, bemalten etwa 30 Wände und brachten ihre Parolen mit schwarzer Teerkohle oder grüner Emaillefarbe an,20 wobei letztere wohl für die Schablone verwendet wurde, da Teer sie verstopft hätte. Unter »Beweise« listete die NaziStaatsanwaltschaft ausdrücklich »Schablone, Farbe, Pinsel« auf.21 Also ist es Abb. 2: Weg mit der Nazipest, Schablonenmöglich, dass die Gestapo auch das graffiti, Köln, Nordstadt, 1946 Original-Schablonenwerkzeug fand, nicht nur das Schablonenbild auf Papier, das sie Scholl präsentierte. Auch in der Anklageschrift erwähnte der Oberstaatsanwalt vom 21. Februar 1943 die wohl größeren freihändig gemalten Parolen »Massenmörder Hitler«22 oder das erwähnte »Freiheit« nicht, das einen Meter hohe Buchstaben hatte,23 sondern nur die kleine Schablone »Nieder mit Hitler« inklusive des durchgestrichenen Hakenkreuzes.24 Das Schablonenwerkzeug bewies Vorbereitung, es bewies, dass die Weiße Rose vorsätzlich gehandelt hatte, keineswegs spontan, obwohl die Widerstandsgraffiti in der Anklageschrift abwertend als »Schmierparolen« betitelt wurden25 ─ obwohl eine Schablone in der Regel ein sauberes Bild ergibt. Ein weiteres politisches Stencil-Graffiti-Beispiel fand der Kölner Fotograf Walter Dick kurz nach Kriegsende im Norden seiner Heimatstadt: »WEG MIT DER NAZIPEST« (Abb. 2). Ton und Form unterscheiden sich kaum von der 40 Jahre späteren Münchner 1980er Schablone »STOPPT DIE CSU NAZIS« aus dem INGRIDArchiv.26 Dieselben eingedampften, bildlosen Slogans hätten auch auf einem Transparent bei einer Demo stehen oder bei einer solchen laut skandiert werden können. Beider Großschreibung und Kürze weisen auf ihre Verwandtschaft zum und Herkunft im Gesprochensprachlichen, konkret auf die wütende Lautstärke und die im Chor geschrienen Wiederholungen von Demo-Schlachtrufen. Schon in antiken »Beschreibungen politischer Pamphlete und Kommentare, die laut der literarischen Quellen an Säulen und Statuen angeschrieben wurden, wird besonders der Zusammenhang zwischen Sprechund Schreibakt deutlich, wenn in den Textstellen Suetons die Inschriften zusammen mit gesungenen Liedern oder nächtlichem Gebrüll genannt werden, die mit den Texten einhergingen: So wurden die Proteste schriftlich und mündlich artikuliert; und auch wenn wir aus Pompeji keinerlei solche explizit subversiven Graffiti-Texte kennen, ist die enge Beziehung zwischen gesprochenem und geschriebenem Text auch dort unverkennbar.«27 Schablonengraffiti sind als Medium der Klarheit, Kürze und Wiederholung für politische Graffiti prädestiniert. Mit Wiederholung ist nicht nur die oftmalige Anbringung durch ein Individuum gemeint, sondern eben auch das Chorische. Leicht kopierbar und weiterreichbar, können dieselbe Schablone eine Vielzahl von Schablonenmaler:innen anbringen. Die Wirkung von Schablonengraffiti ist eine geschlossenere als beim Freihand-Graffiti, da bei Freihand-Parolen immer eher das Spontane und damit Unüberlegtere in der Wirkung bleibt. Schablonen sind das Gegenteil von spontan. Zuhause vorbereitet, geschnitten und meist auch getestet, erlauben sie gute Komposition und Lesbarkeit
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Ulrich Blanché
Abb. 3: RAF und V=verloren voor Hitler, Graffiti auf einer Mauer in Amsterdam, ca. 1941
auch unter dem großen Druck, ertappt zu werden. Passant:innen auf der Straße eröffnet sich bei Schablonen eine andere Wirkung als beim Freihand-Graffiti. Eine saubere Anbringung der Schablone erlaubt den Fokus auf Inhalte, nimmt Diskreditierungsversuchen, das Ganze als ›Geschmier‹ abzutun, den Wind aus den Segeln, auch weil die Form Passanten an vertraute, übliche Beschilderungen in derselben Technik im selben visuellen Befehlston erinnert. Zudem erweckt die Schablone einen orchestrierten, überlegten Eindruck. Politisches Schablonengraffiti wirkt aufgrund seiner nüchterneren, oft handschrift-freien Form eher wie von einer Gruppe als von Einzelpersonen geschaffen. Damit scheint visuell weniger ein einzelner Wirrkopf dahinter zu stecken, sondern eher eine Gruppe, von der die Sympathisant:innen unter den Passant:innen deren Sichtbarkeit und angenommene Größe vielleicht als Inspiration empfinden, selbst mitzumachen oder selbst aktiv zu werden. Die Staatsmacht las solche Stencil Graffiti möglicherweise ebenfalls eher als von einer größeren Gruppe erstellt, wie ein Stencil Graffitist aus dem sozialistischen Polen der 1980er Jahre berichtet: »Ich gründete die Animal Liberation Front, eine informelle ökologische Bewegung, und fertigte eine Schablone mit dem Skelett eines weißen Adlers und der Aufschrift ›Polen ist noch nicht tot‹ an. Ich konnte die Schablone 40 Mal am Tag anbringen, so dass sie nach einer Woche in vielen Treppenhäusern in meiner Nachbarschaft zu sehen war. Es gab das Gerücht, dass eine neue, große Oppositionsorganisation dies tat. Die verdeckten Ermittler begannen, in meinem Viertel zu schnüffeln.«28
Die Quantität und autoritäre Nüchternheit und die leichter mögliche formale Qualität von Stencil Graffiti lässt sie wichtiger und gefährlicher erscheinen als Freihand-Graffiti. Dies möchte ich im Folgenden an dem Beispiel der groß orchestrierten V-Kampagne in mehreren Nazi-besetzten Ländern vor 1945 deutlich machen.
Stencil Graffiti zwischen Widerstand und Propaganda 1930–1945
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Obwohl bereits die französische Tageszeitung Le Monde Quotidien am 18. Mai 1939 eine »V pour victoire«-Schlagzeile hatte, war es der ehemalige belgische Justizminister und Leiter der belgischen französischsprachigen Sendungen der BBC, Victor de Laveley, der in einer BBC-Sendung vom 14. Januar 1941 vorschlug, dass die Belgier:innen ein »V pour victoire« (»V für Sieg« auf Französisch) oder »victorie/vrijheid« (»Sieg/Freiheit« auf Flämisch) als visuelles Zeichen des Widerstands gegen die Nazis verwenden sollten. De Laveley hatte erfahren, dass in Belgien Kinder die Buchstaben »RAF«29 (Royal Air Force) an Wände ritzten. Diese Buchstaben, die potenzielle Helfer aus dem Vereinigten Königreich symbolisieren sollten, waren unter der Nazi-Besatzung verboten. Um das Risiko, von den Deutschen ertappt zu werden, zu verringern, war ein einzelner Buchstabe (»V«) schneller zu zeichnen als drei (»RAF«) (Abb. 3).30 In den nächsten Wochen tauchte dann »V« als Graffiti an Wänden in ganz Belgien, den Niederlanden und Nordfrankreich auf.31 Die Radio-Kampagne war ein voller Erfolg. Aus diesem Grund startete die BBC von Juni 1941 bis Mai 1942 die »V for Victory«Kampagne.32 Am 19. Juli 1941 erwähnte der britische Premierminister Winston Churchill in einer Rede die »V for Victory«-Kampagne und posierte damit mehrmals auf Fotos33 und machte sie so bekannt. Eine Nazi-Karikatur aus dem Völkischen Beobachter zeigte Churchill, wie er das V als Graffiti an eine Wand malte, während er von einem deutschen Soldaten gefangen wurde.34 Spätestens im Juli 1941 eignete sich Nazi-Deutschland jedoch auch das »V«-Symbol selbst an und propagierte seine Kampagne »Deutschland siegt an allen Fronten«35 kombiniert mit dem angeblichen »alten deutschen Schlachtruf ›Viktoria‹«36 oder einem großen »V« für öffentliche Gebäude in den von den Nazis besetzten Ländern. Eine damals von den Nazis kontrollierte norwegische Zeitung schrieb am 21. Juli 1941: »Fast ganz Europa steht heute im Zeichen der Propaganda, die Hunderte von Millionen mit dem Symbol Deutschlands im Kampf verbindet […] Dieses Symbol wird im Buchstaben V ausgedrückt, der der erste Buchstabe von Victoria ist. Es ist nicht nur das Symbol derer, die an den deutschen Sieg im Kampf um Europa glauben, sondern auch derer, deren Fahnen nie einen Rückzug, sondern nur Siege verspürten. Der Buchstabe V dominiert heute das Straßenbild in den meisten Städten des Kontinents. Die Flugzeuge ziehen es in den Himmel, der Sender wirft es in die Luft und von den Titelseiten der Zeitungen trifft es einen. In Belgien und den Niederlanden ist es überall auf den Straßen zu finden, im Generalgouvernement steht es auf allen Zäunen und Säulen, im Protektorat dominiert es die Presse und in Paris strahlt es vom Eiffelturm aus.«37
Widerstandsgraffiti in Ländern unter Nazi-Besatzung wie Polen oder Norwegen reagierten unterschiedlich auf diese Nazi-V-Gegen-Kampagne. Sie mussten etwa sicherstellen, dass ihre eigene Verwendung des »V« nicht als pro-Nazi-Deutschland missverstanden wurde, also spielten sie mit dem V-Zeichen. In Frankreich war das V-Graffiti oft mit dem Croix de Lorraine kombiniert, dem Zeichen des Widerständlers Charles De Gaulle, welches sich auch als Schablonengraffiti erhalten hat.38 Ein Widerstandsgraffiti in Warschau zum Beispiel bestand aus dem Wort »GrunVald«.39 Es wurde mindestens zweimal fotografiert, einmal freihändig40 und einmal mit einer Schablone gemalt (Abb. 4)41, irgendwann nach der deutschen Besetzung Polens im September 1939 und vor Mai 1945, aber höchstwahrscheinlich nach dem Juli 1941, als die V-Kampagne in Europa am bekanntesten war.
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Ulrich Blanché
Die Schlacht bei Grunwald (mit einem »w«) ereignete sich am 15. Juli 1410 während des Polnisch-LitauischDeutschen Krieges. Diese alte Schlacht galt als wichtiger Sieg in der polnischen Geschichte und als große Niederlage in der deutschen Geschichte. Die GrunVald-Kampagne war Teil einer polnischen Gegenpropaganda-Aktion von verbotenen, ehemaligen Pfadfindergruppen, die sich in der Widerstandsorganisation Wawer zusammenfanden.42 Abb. 4: GrunVald, auf einer Mauer in WarIhre erste Aktion um Weihnachten schau, um 1941 1940, dem Jahrestag des Nazi-Massakers in der Stadt Wawer bei Warschau, bestand aus Anti-Nazi-Graffiti und Sabotage.43 Das GrunVald-Graffiti besagt, dass Deutschland in der Vergangenheit – zum Beispiel in Grunwald – verloren hat und es deshalb wieder verlieren kann. Die mittelalterliche Schlacht von Grunwald wurde zu einem Symbol des Kampfes gegen fremde Invasoren. Während des 20. Jahrhunderts wurde diese Schlacht in nationalsozialistischen und sowjetischen Propagandakampagnen verwendet, aber eben auch in dieser Anti-Nazi-Kampagne. Anstatt »Grunwald« zu schreiben, schrieben die Wavers »GrunVald«, gerichtet gegen die nationalsozialistische »V«-Gegen-Kampagne, zugleich anspielend auf das Widerstandssymbol der BBCKampagne der Alliierten für den polnischen Widerstand gegen die Deutschen.44 Andere polnische Widerstandsgraffiti wandelten das deutsche »V« auch in »Verloren« um, zum Beispiel 1943 in Warschau.45 Auch in der polnischen Widerstandskarikatur wurde die deutsche V-Kampagne lächerlich gemacht.46 Eine weitere Widerstandskarikatur aus Polen zeigt einen grobschlächtigen Nazi-Affen namens »Großdeutschland«, der ein »V« als Graffiti an eine Wand malt.47 Widerstandskarikatur und Graffiti haben nicht nur ähnliche Adressaten, sondern auch ähnliche Slogans, Formen und Bilder. Auch im von den Nazis besetzten Norwegen wurde die »V«-Kampagne in Widerstandsgraffiti irgendwo zwischen einem Zeichen für eine deutsche Propagandakampagne, gegen die man arbeiten sollte, und einem Zeichen der Solidarität mit anderen europäischen Kräften, die heimlich gegen die Nazis arbeiteten, verstanden, insbesondere die erwähnte BBC-Kampagne, aber auch zum Beispiel auf mit »V« versehenen Briefmarken, ausgegeben im August 1941.48 Briefmarken und Straßen waren beides klassische Kanäle der täglichen Kommunikation und Infrastruktur der Mehrheitsbevölkerung. Die V-Widerstandskampagne wurde daher genau hier eingeschrieben, als Stempel auf Briefmarken und als Graffiti auf Straßen, hier durchaus ebenfalls im wörtlichen Sinne. Das Foto49 eines norwegischen Widerstandsgraffiti auf einer Straße zeigt ein großes schabloniertes »V« zusammen mit einem kleineren, ebenfalls schablonierten Symbol eines »H« kombiniert mit einer »7« (Abb. 5). »H7« war das Monogramm des norwegischen Königs Haakon VII., der beim Einmarsch der Deutschen am 9. April 1940 geflohen war. Sein Monogramm erschien auch ohne das »V« als Widerstandsgraffiti auf Zäunen, Mauern, Häusern, Straßen und sonst im öffentlichen Raum.50 Variationen waren »Leve H7«, »V7« oder »Leve Kongen« [es lebe der König (Haakon VII)].51
Stencil Graffiti zwischen Widerstand und Propaganda 1930–1945
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Abb. 5: V-Zeichen, H[aakon] 7, und V als Morsezeichen auf eine Straße in Norwegen gemalt, ca. 1940─45
Vor dem erwähnten »H7«- und »V«-Schablonengraffiti befinden sich drei Punkte und ein Strich auf dem Foto. Der anonyme norwegische Autor dieser WiderstandsSchablonen-Graffiti zitierte den BBC-Nachrichtenredakteur Douglas Ritchie, der neben dem visuellen »V« auch ein hörbares »V« vorschlug – in seinem Morse-Code-Rhythmus – drei Punkte und ein Strich, das über Radio auf der BBC ab dem 27. Juni 1941 auch akustisch übertragen wurde.52 Die BBC sendete diese Audiograffiti-Vorlage auch als Jingle für Radio-Sendungen, die sie in von den Nazis besetzten Ländern ausstrahlte beziehungsweise die dort auch empfangen werden konnten. Beethovens Symphonie Nr. 5, manchmal auch »das Schicksal klopft an die Tür« genannt, wurde zu einer Hymne dieser »V«-Kampagne, weil sie bekanntlich mit drei kurzen und dann einer langen Note beginnt.53 Einen Höhepunkt fand die akustische Seite der Graffiti-Kampagne im ebenfalls von der BBC ausgestrahlten Chanson des »V«,54 gesungen von Jean Oberlé auf die Melodie von Beethovens Fünfter, mit einem Text von Maurice Van Moppès. Beide Widerständler waren eigentlich Illustratoren, und die Noten sind mit einem Knaben beim freihändigen Malen vieler »V«-Graffiti auf einer Wand – als Buchstaben und Morsezeichen – illustriert. Im Text heißt es etwa: »Auf den Mauern und auf dem Pflaster macht das »V«.«55 Das genannte Widerstandsgraffiti auf der Straße in Norwegen kombinierte also lokale norwegische mit internationalen Widerstandsgraffiti, zudem visuelle mit akustischen.
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1941 hat Carl Dihle in Norwegen auf einer anderen Straße, nahe Sundvollen, eine Reihe von Fotos eines eben fertiggestellten Widerstandsgraffiti geschossen (Abb. 6), das drei Mitstreiter gemalt hatten.56 »Vi Vil Vinne« heißt nicht nur »Wir werden gewinnen« auf Norwegisch. Alliterativ wiederholt es zudem dreimal den Widerstandsbuchstaben V der gleichnamigen Kampagne, der sich ein viertes Mal in der VAbb. 6: Vi Vil Vinne, Graffiti, gemalt auf einer Zeichen-Geste eines der Männer wieStraße nahe Sundvollen, Norwegen von Henderfindet.57 Das »Vil« erinnert zudem rik Aubert, Egil Breenog und Frans Aubert im ein wenig an Haakons römische Sieben. Sommer 1941 Obwohl dieses Beispiel wohl nicht mit Schablone hergestellt wurde, nimmt es eine Zwischenposition zwischen Freihand und Schablone ein, da es sauber und klar freihandgemalt Druckschrift und damit – wie auch Schablonen oft – eher offizielle Botschaften imitiert. Das gibt diesem Graffiti eine größere Glaubwürdigkeit als eine hastig hingeschmierte Parole. Fotos dieser Aktion fanden 1943 ihren Weg nach London, wo die norwegische Exilregierung einen Satz Widerstandsbriefmarken herausgab, darunter auch eine grafische Umsetzung eines der »Vi Vil Vinne«-Fotos, ein anderes aus der gleichen Serie wurde etwa zeitgleich auf einem US-amerikanischen Poster über den norwegischen Widerstand verwendet.58 Im Jahr 2001 posierte schließlich der greise Original-Fotograf Carl Dihle selbst noch vor einem staatlich genehmigten, dauerhaften Reenactment dieses politischen Graffiti, nun als Erinnerungsmal an den Widerstand des Zweiten Weltkriegs am Originalschauplatz angebracht.59 Alltägliche visuelle und akustische Zeichen wie Graffiti, auch auf Fotos, auf Postern, auf Briefmarken, aber auch Karikaturen, angeeignete Briefmarken, im Radio gehörte akustische Codes, Klatschen, Klopfen oder Hand-Gesten wie die von Churchill nutzten das V, um orchestrierten europäischen Anti-Nazi-Widerstand zu zeigen. Politische Graffiti gab es immer schon, alle Graffiti sind heute politisch, und politische Graffiti stehen nicht allein, sondern waren Teil und Spiegel vielfacher ähnlicher politischer Äußerungen zur selben Zeit am selben Ort.
Stencil Graffiti zwischen Widerstand und Propaganda 1930–1945
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Polly Lohmann: Graffiti als Interaktionsform. Berlin 2018, S. 11. Pablo Fiasco im Interview mit dem Autor via E-Mail im Februar 2021. Übersetzung UB. Banksy in: Tristan Manco: Stencil Graffiti. London 2002, S. 77–79. Pablo Fiasco im Interview mit dem Autor via E-Mail im Februar 2021. Übersetzung UB. Banksy in: Manco 2002 (wie Anm. 3), S. 77–79. Bart Bosmans: Aspecten van graffiti: een empirisch-sociologisch onderzoek naar de communicatieve waarde van illegale sjabloongraffiti in Brussel. Vol. 1. Brüssel 1992, S. 59; Manco 2002 (wie Anm. 3), S. 9; Josh McPhee: Stencil Pirates. A Global Study of the Street Stencil. New York 2004, S. 13–14. 7 Johannes Stahl (Hg.): An der Wand: Graffiti zwischen Anarchie und Galerie. Köln 1989, S. 162. 8 Ariberto Segàla: I muri del Duce. Lavis 2000; Giovanni Bosca: Duce. La propaganda murale del regime fascista. Boves 2010; Claudio Marsilio: Muri in Camicia Nera. Rom 2012. 9 Nazi-Schablonenpropaganda in Wuppertal, vor 1945, fotografiert 1988 von Volker Anding und abgebildet in Stahl 1989 (wie Anm. 7), S. 30. 10 Bernhard van Treeck: Graffiti-Lexikon. Moers 1993, S. 163. 11 Michael Verhoeven: Die Weiße Rose. Deutschland 1982, 125 min. 12 Wandparole »Nieder mit Hitler« an der Fassade der Münchner Universitätsbibliothek in der Ludwigstraße, vermutlich Fahndungsfoto der Gestapo, Februar 1943, unbekannt, grafisch nachbearbeitet. Illustriert in Weiße Rose Stiftung e.V.: Wandanschriften der Weißen Rose, https://www.weisse-rose-stiftung.de/widerstandsgruppe-weisse-rose/wandanschriften-der-weis sen-rose/. 13 Tomasz Sikorski in einer E-Mail-Konversation mit dem Autor, 02.09.2020. Übersetzung UB. 14 Hans Scholl, Alexander Schmorell in: Ulrich Chaussy, Gerd R. Ueberschär (Hg.): »Es lebe die Freiheit!«: Die Geschichte der Weißen Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten. Frankfurt/Main 2013, S. 286–290, S. 358–359. 15 Chaussy, Ueberschär 2013 (wie Anm. 14), S. 14. 16 Scholl in Gestapo-Verhörprotokolle 20.02.1943, ebd., S. 286. 17 Ebd., S. 286 f. Dies ist auf der Fotorekonstruktion zu sehen, siehe Weiße Rose Stiftung e.V.: White Rose Wall Slogans, https://www.weisse-rose-stiftung.de/widerstandsgruppe-weisserose/wandanschriften-der-weissen-rose/. 18 Schmorell in Gestapo-Verhörprotokolle 25.02.1943, in: Chaussy, Ueberschär 2013 (wie Anm. 14), S. 358; Scholl in Gestapo-Verhörprotokolle 20.02.1943, ebd., S. 286. 19 Wilhelm Geyer, 21.09.1968, in: Inge Scholl: Die Weiße Rose. Frankfurt/Main 1993, S. 167. 20 Scholl in Gestapo-Verhörprotokolle 20.02.1943, ebd., S. 288; Weiße Rose Stiftung e.V.: White Rose Wall Slogans, https://www.weisse-rose-stiftung.de/widerstandsgruppe-weisserose/wandanschriften-der-weissen-rose/. 21 Anklageschrift des Oberreichsanwalts, 21. Februar 1943, in: Chaussy, Ueberschär 2013 (wie Anm. 14), S. 336. 22 Scholl in Gestapo-Verhörprotokolle 20.02.1943, in: ebd., S. 289–290. 23 Laut Hans Scholls Schwester Elisabeth, September 1968, in: Scholl 1993 (wie Anm. 19), S. 164. 24 Anklageschrift des Oberreichsanwalts, 21. Februar 1943, in: Chaussy, Ueberschär 2013 (wie Anm. 14), S. 328 [Zusammenfassung], S. 334 [Langfassung]. 25 Ebd.
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26 Foto und Info, siehe https://www.werkladen.de/wda016-011#158fefc23565802f69058d19ab
92ba26. 27 Lohmann 2018 (wie Anm. 1), S. 11. 28 Dariusz Paczkowski in: Tomasz Sikorski, Marcin Rutkiewicz (Hg.): Graffiti w Polsce. War-
schau 2011, S. 75. Übersetzung UB. 29 Bisher konnte ich nur ein freihand gemaltes Beispiel eines »RAF«-Graffiti in Amsterdam
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finden, kombiniert mit dem V und »Verloren«, siehe: V=verloren voor Hitler. Graffiti op een muur. Amsterdam. Fotocollectie: NIOD, Amsterdam (Beeldbank WO2), https://www.annefrank.org/de/timeline/66/vvictory/. BBC (Hg.): Voici la BBC. London, Juni 1944, S. 50. Ebd.; Heller/Fili erwähnen kurz, dass es auch in Frankreich Anti-Nazi-»V«-SchablonenGraffiti gab. Steven Heller, Louise Fili: Stencil Type. London/New York 2015, S. 6. BBC News: 1940/1941. War prompts naming and campaigning. http://news.bbc.co.uk/ 2/shared/spl/hi/newswatch/history/noflash/html/1940s.stm – H2G2: The V-Sign, 12.05.2006, https://h2g2.com/edited_entry/A11047132. BBC News: 1940/1941 (wie Anm. 32). http://news.bbc.co.uk/2/shared/spl/hi/newswatch/ history/noflash/html/1940s.stm. Mjölnir: Churchill malt den Sieg schon an die Wand. Illustriert in: Friedrich Kellner: Tagebücher. 1939–45. Vol. 2. Göttingen 2011, S. 844. Original: Völkischer Beobachter. Norddeutsche Ausgabe, 23.08.1944, S. 2. Das Nazi-V-Zeichen und die Parole »Deutschland siegt an allen Fronten« war etwa auf dem Palais Bourbon im besetzten Paris im Juli 1941 zu sehen, siehe Bundesarchiv Bild 183-20040216-500, Paris, deutsche Parole am Bourbon-Palast, https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Bundesarchiv_Bild_183-2004-0216-500,_Paris,_deutsche_Parole_am_BourbonPalast.jpg Das gleiche Nazi-V-Zeichen und die Parole »Deutschland siegt an allen Fronten« war auch auf dem norwegischen Parlamentsgebäude unter der Nazi-Besatzung im August 1941 zu sehen, siehe Foto in der Zeitung Aftenposten, Samstag 02.08.1941, https://commons.wiki-media. org/wiki/File:Deutschland_siegt_an_allen_Fronten_p%C3%A5_Stortingsbygningen,_1940-19 45,_OB.F19149c.jpg. BBC 1944 (wie Anm. 30), S. 51. Aftenposten: Europa i V-kampanjens tegn [Europa im Zeichen der V-Kampagne]. Montag 21.07.1941, S. 5. Übersetzung UB. Ich konnte einige Croix de Lorraine-Schablonen ausfindig machen, in Weiß oder Rot, illustriert in Vosges Matin: La croix de Lorraine, vestige historique encore visible dans les rues de Saint-Dié-des-Vosges, 22.08.2018, https://www.vosgesmatin.fr/edition-de-saint-die/2018/08/ 22/la-croix-de-lorraine-vestige-historique-encore-visible-dans-les-rues-de-saint-die-des-vosges LʼEst Républicain: Savez-vous pourquoi il y a des croix de Lorraine rouges sur des façades?, 08.05.2020, https://www.estrepublicain.fr/edition-nancy-et-agglomeration/2020/05/08/savezvous-pourquoi-il-y-a-des-croix-de-lorraine-rouge-sur-des-facades. Dieses Foto wurde in den 1960er Jahren von einem Negativ aus dem polnischen Archiv gedruckt und vom Archiv verteilt. Es befindet sich heute in Marek Tuszyńskis Sammlung von Abzügen aus dem Zweiten Weltkrieg. Scan von Jarekt nach einem Abzug von 5 × 8 cm. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:WWII_graffiti_-_Grunvald_on_a_wall.jpg. Graffiti aus dem Zweiten Weltkrieg – GrunVald auf einem Zaun, Foto (5 × 8 cm), gedruckt in den 1960er Jahren von einem Fotonegativ aus dem polnischen Archiv, jetzt in Marek Tuszyńskis Sammlung von Abzügen aus dem Zweiten Weltkrieg. https://commons.wikimedia.org/
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wiki/File:WWII_graffiti_-_Grunvald_on_a_wall.jpg#/media/File:WWII_graffiti_-_Grunvald _on_a_fence.jpg. Graffiti aus dem Zweiten Weltkrieg – GrunVald an einer Wand in Warschau. Wort »GrunVald«, 5 × 8 cm großes Foto, gedruckt in den 1960er Jahren von einem Fotonegativ aus dem polnischen Archiv, jetzt in Marek Tuszyńskis Sammlung von Abzügen aus dem Zweiten Weltkrieg. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:WWII_graffiti_-_Grunvald_on_a_wall. jpg. Graffiti aus dem Zweiten Weltkrieg – Grunvald an einer Wand in Warschau. Wort »GrunVald«, 5 × 8 cm großes Foto, gedruckt in den 1960er Jahren von einem Fotonegativ aus dem polnischen Archiv, jetzt in Marek Tuszyńskis Sammlung von Abzügen aus dem Zweiten Weltkrieg. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:WWII_graffiti_-_Grunvald_on_a_wall. jpg. Richard C. Lukas: The Forgotten Holocaust. New York 1997, S. 98. Grzegorz Załęski: Satyra w konspiracji 1939–1944. Warschau 1948, S. 112 f. Siehe Foto von Zaturski i Szeliga. Das Graffiti wurde 1943 in Warschau-Zoliborz in der Sułkowski-Straße gemalt, siehe Załęski 1948 (wie Anm. 44). Ich bin Tomasz Sikorski dankbar, dass er mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht hat. Załęski 1948 (wie Anm. 44), S. 112 f. Abgebildet in Andrzej Gladkowski: Kotwica Walczaca. Warschau 2008. Unpaginiert [Illustrationsteil]. Eine norwegische Briefmarke während der deutschen Besatzung aus dem August 1941, auf der das V für Sieg geschrieben steht, gescannt unter https://fr.wikipedia.org/wiki/Campagne _des_V#/media/Fichier:Norgeposthorn2ore1941v.jpg. Haakon 7 auf der Straße gemalt. Foto in einem Umschlag aus dem Kriegsarchiv von NTB (Riksarkivet, National Archives of Norway), der Umschlag ist mit der Aufschrift versehen: »Overalt i Norge kan man finne V-tegn, H7-tegn eller Leve Kongen. De finnes på alle plasser, så det er ikke vanskelig å skjønne hvor nordmennenes hjerter er.« [Überall in Norwegen findet man V-Symbole, H7-Symbole oder »Es lebe der König«. Sie sind überall zu finden, daher ist es nicht schwer zu verstehen, wo die Herzen der Norweger liegen.] Das Foto stammt aus dem Kriegsarchiv des NTB und dokumentiert den Protest der Norweger gegen die NS-Partei und die Besatzungsmacht in den Kriegsjahren 1940–1945. Riskarkivet, PA-1209_Ue110_004, NTBs krigsarkiv, Ue 110. Für das Foto siehe https://no.wikipedia.org/wiki/V-tegn#/media/ Fil:H%C3%A5kon_7._malt_i_veien.jpg. Det hendte. Norwegian News Agency. 26.07.2009. Eine Reihe von Fotos hat sich hier erhalten, etwa Leve Kongen Slogan [von Skifahrern nachgestellt], https://krigsmuseet.no/exhibition/https-krignarvik-krigsmuseums-frigjoringsutstilling /leve-kongen/; einen guten Überblick verschafft eine Bildmontage verschiedener Oppositionsbekundungen gegen das NS Besatzungsregime und für König Haakon 7, Kriegsarchiv von NTB, illustriert in Frode Faroe Islands: Motstandskampen i Norge, Store norske leksikon, 17.09.2021 [letztes Update: 08.02.2022], https://snl.no/motstandskampen_i_Norge. BBC 1944 (wie Anm. 30), S. 51; BBC News: 1940/1941 (wie Anm. 32). http://news. bbc.co.uk/2/shared/spl/hi/newswatch/history/noflash/html/1940s.stm. BBC 1944 (wie Anm. 30), S. 51; Aliette de Laleu: A short history of Beethovenʼs 5th symphony. francemusique.fr 18.10.2016, https://www.francemusique.fr/actualite-musicale/petitehi stoire-de-la-5eme-symphonie-de-beethoven-60. Zu hören auf YouTube, hochgeladen am 14.06.2016, https://www.youtube.com/watch?v= ebOgZtbUV8w. »Sur les murs et Sur les pavés Faites des V«. Die Noten inkl. Illustrationen finden sich in Maurice Van Moppès: Chansons de la B.B.C. Paris 15.12.1944, S. 16, digital unter:
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http://resistancefrancaise.blogspot.com/2016/11/chansons-de-la-bbc-les-francais-parlent.html; Eine frühere Ausgabe wurde per Flugzeug zwischen dem 13.03. und dem 05.08.1943 über Frankreich abgeworfen. 56 Trygve Ellingsen: Et historisk 60-års krigsminne.1941–2001. Hole Historie Lag, September 2001, http://www.hole-historielag.no/gml_side/vivilvinne.pdf. 57 Allen Matkins, Keith Bishop: Court Finds No Cause Of Action Against Officer For Interfering With Shareholder Inspection, jdsupra.com, 17.05.2021, https://www.jdsupra.com/legalnews/ court-finds-no-cause-of-action-against-2412165/. 58 Norway Resists on the home front: »Vi Vil Vinne« We will win! Propaganda-Poster, 57 x 45 cm, 1939–45 [tätsächlich: 1943–45, Anm. UB], Sammlung UC Berkeley, Bancroft Library, https://calisphere.org/item/ark:/28722/bk0007v0k22/. 59 Ellingsen 2001 (wie Anm. 56).
Doris Tophinke »DAS iSt STRASSEN-PoLiTiK!« Politisches »meaning making« im Szene-Graffiti
Problemstellung und Vorüberlegungen Wenn das Szene-Graffiti auch nicht scharf von anderen Formen künstlerischer, informeller oder illegaler (Schrift-)Zeichen im Stadtraum abgrenzbar ist, so bildet es doch eine eigenständige kulturelle Form. Es besitzt eine typische schriftbildliche und schriftsprachliche Gestalt,1 ist identitätsstiftendes Symbol einer Graffiti-Szene und wird in Ausübung einer zu erlernenden kulturellen Praktik hergestellt.2 Szene-Graffitis anzubringen, ist »place making« (Warnke/Busse 2014), Mitgestaltung und Definition des städtischen Raums als Sozialraum (Tophinke 2019: 359 ff.). Szene-Graffitis zeigen die Präsenz einer Graffiti-Szene als soziale Gruppierung innerhalb der Stadtgesellschaft an und markieren deren Aktions- und Bewegungsräume. In diesem Sinne ist das Anbringen von Szene-Graffiti grundsätzlich politisch.3 Es ist – in der im Titel zitierten Formulierung eines Szene-Graffitis – (Abb. 1).4 Im vorliegenden Beitrag geht es allerdings nicht um diese generelle Politizität des Szene-Graffitis, sondern es geht um politisches Szene-Graffiti in einem spezielleren Sinn: Gegenstand sind ›nur‹ solche Szene-Graffitis, die ein politisches »meaning making« zeigen beziehungsweise in ihrer schriftsprachlichen und schriftbildlichen Gestaltung als politische Positionierungen interpretierbar sind. Solche Szene-Graffitis sind nicht die Regel. Denn im Szene-Graffiti, wie es sich in Deutschland seit den 80er Jahren entwickelt hat, geht es vor allem um das Pseudonym der Sprüher:innen oder der Crew, das als linienförmiges Tag oder als großflächiges Graffiti-Writing gestaltet wird (vgl. Radtke 2020). Dennoch gibt es Szene-Graffitis mit politischem Inhalt, wie eine Themenrecherche in der Datenbank INGRID zeigt.5 Sie finden sich in den 80er Jahren, in denen das Szene-Graffiti seine Typik noch sucht und dabei auch als Medium der politischen Artikulation ›erprobt‹ wird (vgl. Abb. 2).6 Sie gibt es aber auch in den späteren Phasen, in denen das Szene-Graffiti schon seine typische Form gefunden hat. Politisches »meaning making« betrifft die Comments7 als Elemente eines komplexen Graffiti-Writings. Es finden sich aber auch selbstständige linienförmige Tags oder großformatige GraffitiWritings, die Wörter mit politischem Inhalt gestalten. Abb. 3 gibt ein Beispiel für einen Comment mit politischem Inhalt.8 Der Beitrag nimmt Szene-Graffitis mit politischem Inhalt mikroperspektivisch in den Blick. Es geht nicht allgemein darum, welche allgemeinen politischen Themen im Szene-Graffiti behandelt werden, sondern darum, wie genau die Szene-Graffitis politische Inhalte durch die Formulierungen, das heißt durch die schriftsprachliche und schriftbildliche Gestaltung, profilieren und so auch den politischen Horizont des Szene-Graffiti
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Doris Tophinke
markieren. Die Analyse zieht dazu kognitiv-linguistische Konzepte zur »meaning construction« (Dancygier/Sweetser 2014: 196) beziehungsweise zum »construal« (Langacker 2008: 55 ff.), das heißt zur (schrift-)sprachlichen Hervorbringung von Bedeutung in Ausübung von kommunikativen Praktiken, heran. Sie stützt sich empirisch auf Graffitis im »Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID)«. Die Datenbasis wird an späterer Stelle in diesem Beitrag vorgestellt. Eine solche mikroperspektivische Analyse, die die Gestaltung von (politischen) Szene-Graffitis – deren Spezifik und Typik – in den Blick nimmt, findet sich in der Forschung zum SzeneGraffiti eher selten.9 Es dominiert eine Makroperspektive, die sich für das Phänomen im Allgemeinen interessiert. Analytischer Ausgangspunkt ist oftmals die »transgressive«10 Qualität von Szene-Graffitis, die darin besteht, dass sie illegal an fremdem Eigentum angebracht Abb. 1: , Weinheim 2014 werden. Dieser Ausgangspunkt könnte ein Grund für den Verzicht auf eine stärker mikroanalytische Vertiefung sein, und zwar dann, wenn sie mit der (impliziten) Annahme verbunden ist, dass Transgressivität tendenziell chaotisch ist und mithin kein strukturiertes »meaning making« vorliegen kann. Diese Annahme könnte auch als Nachwirkung des bis in die Gegenwart der Graffitiforschung immer wieder zitierten Essays von Baudrillard (1978, zuerst 1975) bestehen. Baudrillard ist beeindruckt von der »außerordentlichen GeAbb. 2: , München 1983–85 walt« (Baudrillard 1978, zuerst 1975: 24), mit dem die Tags sich an den Wänden ausbreiten. Er verweist auf deren »symbolische Ladung« (Baudrillard 1978, zuerst 1975: 27) als Zeichen, die den Raum zum »kollektiven Territorium« (Baudrillard 1978, zuerst 1975: 28) machen, erkennt aber keine »syntaktische, poetische und politische Elaboriertheit« (Baudrillard 1978, zuerst 1975: 26) und hält Tags in diesem Sinne für »leere Signifikanten« (Baudrillard 1978, zuerst 1976: 26).11
»DAS iSt STRASSEN-PoLiTiK!« Politisches »meaning making« im Szene-Graffiti
Baudrillard bezieht sich in seinem Essay allerdings – was nicht immer beachtet wird – ausdrücklich nur auf das frühe New Yorker Graffiti vor 1976, das vor allem aus Tags von Sprüheroder Crewnamen besteht (Baudrillard 1978, zuerst 1975: 24). Seine Analyse betrifft nicht die strukturierten und komplexen Formen – vor allem nicht die flächigen Formen, die »Pieces«, »Graffiti Writings« oder »Styles« genannt werden –, die das Szene-Graffiti in Deutschland seit den 80er Jahren entwickelt hat und die, wie die Analyse zeigen wird, ein strukturiertes (politisches) »meaning making« dokumentieren (Tophinke 2016: 225 f., 2019: 3 f.).
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Abb. 3: , Bremen 2002
Zum Konzept des »meaning making« Schriftsprache – wie die Sprache generell – ist in der Kommunikation nicht eine neutrale ›Verpackung‹ von Inhalten beziehungsweise von Informationen. Vielmehr ist sie – ihre schriftbildlichen Eigenschaften eingeschlossen – ein symbolisches Medium, in dem die kommunikativen Inhalte überhaupt erst hergestellt werden, seien sie politischer oder anderer Art. Mit der Bezeichnung »meaning making« ist diese konstruktive Leistung der Sprache angezeigt. Beim Lesen einer konkreten schriftsprachlichen Äußerung wird durch deren spezifische schriftsprachliche und schriftbildliche Gestaltung die Konstruktion von »meaning« im Sinne von mentalen Vorstellungen in spezifischer Weise angeregt und gesteuert.12 Welche mentalen Vorstellungen sich aufbauen und wie dies geschieht, hängt wesentlich von der lexikogrammatischen Gestaltung ab. Die lexikogrammatischen Formen sind wichtige Mittel des »meaning making«. Mit ihnen lässt sich unter anderem fokussieren, perspektivieren und raum-zeitlich verorten; die Inhalte lassen sich mehr oder weniger spezifisch beziehungsweise schematisch zeichnen. Langacker (2008: 55 ff.) weist auf diese konstruktive Leistung – das »construal« (Langacker 2008: 55 ff.) – hin: »An expression´s meaning is not just the conceptual content it evokes – equally important is how that content is construed. As part of its conventional semantic value, every symbolic structure construes its content in a certain fashion« (Langacker 2008: 55).
Grundsätzlich besitzt jede schriftsprachliche und gesprochensprachliche Äußerung ein bestimmtes »construal«. Und natürlich gilt dies ebenfalls für die Schriftsprache der Szene-Graffitis, auch wenn diese minimalistisch (Tophinke 2017) und oftmals kaum lesbar sind. Um die Besonderheit des »construal« bzw. des »meaning making« im SzeneGraffiti zu erfassen, ist es hilfreich, vier Arten des »meaning« zu unterscheiden:
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Doris Tophinke
Das Konzept bzw. die konzeptionelle Bedeutung ist – vereinfacht gesprochen – der begriffliche Inhalt, wie ihn die Szene-Graffitis formseitig ›aufrufen‹. Mit Blick auf die politische Welt des Szene-Graffitis ist nicht nur interessant, welche konzeptionellen Bedeutungen vorkommen, sondern auch, wie schematisch bzw. spezifisch diese sind. Wörter wie etwa (Abb. 4)13 oder (Abb. 5),14 die im Szene-Graffiti verbreitet vorkommen, besitzen eine eher schematische konzeptionelle Bedeutung. Als Substantive konstruieren sie »Dinge«, und sie präsentieren auch dynamische Prozesse, zum Beispiel Kämpfen dinghaft. Konstruktionen, in denen die Semantik des Kampfes »in die Form eines finiten Verbs gegossen wird« (15, 16 oder 17), profilieren diese demgegegenüber als Prozess, wobei hier dann teilweise auch die Akteure des Prozesses – im Beispiel metonymisch »Mannem«, das heißt eine Gruppe aus Mannheim – genannt werden und durch das Verbtempus eine zeitliche Verortung angezeigt wird. Die Referenz18 ist der Bezug einer Äußerung bzw. der Bezug der Wörter, aus denen sie besteht. Referenz liegt nur im konkreten Sprach- bzw. Schriftgebrauch vor, wenn Wörter oder Wortgruppen in einer Kommunikationssituation zum Referieren genutzt werden. Die Referenz eines Wortes wie etwa »Krieg« variiert entsprechend. Es kann gebraucht werden, um auf gegenwärtige, vergangene oder zukünftige, fiktive oder faktuale Kriegsgeschehen zu referieren. Das Erfassen der Referenz ist für das Verstehen wichtig: Worauf – ausgehend vom »ground« (Langacker 2008: 260), das heißt von Zeitpunkt, Ort und Betrachtungssituation – bezieht sich die Äußerung? Ist sie auf den Raum und die Zeit ihrer Anbringung bezogen,19 wie es bei vielen ortsfest angebrachten Formen der Schriftlichkeit im öffentlichen Raum – Verkehrsschildern, Hinweisschildern, Beschriftungen ... – der Fall ist? Oder geht es um etwas, das sich in räumlicher Hinsicht zwar woanders ereignet, aber – zum Zeitpunkt und am Ort der Anbringung – für die Akteure medial-diskursiv präsent ist?20 Schriftsprachliche Äußerungen können so gestaltet sein, dass die Identifizierung des Referenten – dies kann etwa ein Objekt, eine Person, ein Sachverhalt oder ein Ereignis sein – leicht ist. Im Szene-Graffiti ist dies der Fall, wenn auf bekannte Persönlichkeiten mit deren Eigennamen referiert wird: (Abb. 6)21. Die Referenz kann aber auch unbestimmt und unklar bleiben. In Konstruktionen wie 22, 23 oder (Abb. 7)24 etwa referiert »Krieg« jeweils nicht auf ein bestimmtes Kriegsgeschehen. Das Substantiv »Krieg« besitzt in diesen Konstrukten keine konkrete, identifizierbare Referenz. Dies gilt auch für Fälle wie 25 oder 26, die ein in Literatur, Medien und Computerspielen präsentes Formulierungsmuster der Ankündigung von Kriegsgeschehen aufgreifen. Die Referenz erschließt sich für die Betrachter:innen ohne nähere Kenntnis nicht.27
»DAS iSt STRASSEN-PoLiTiK!« Politisches »meaning making« im Szene-Graffiti
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Die Handlungsfunktion betrifft die Frage nach dem Handlungssinn der betreffenden schriftsprachlichen Äußerung: Will sie ermahnen, auffordern, warnen, informieren ...? Die Form der schriftsprachlichen Äußerung kann diese mehr oder weniger klar anzeigen oder auch vage lassen, wobei Abb. 4: , München 2007 Funktionen wie Drohen, Ermahnen, Warnen, wie sie in politischen Kontexten begegnen, ohnehin nur unscharf voneinander abgrenzbar sind. Die Äußerung 28 etwa ist durch die Imperativform »gib« sprachlich als Aufforderung markiert, ist aber auch Ermahnung. Ein Wort wie 29 gibt in seiner Abb. 5: , München 2005 Form als isoliertes Substantiv keinen Hinweis auf die Handlungsfunktion, ist in seiner illegalen Platzierung an der Wand am ehesten wohl als Ankündigung oder Drohung aufzufassen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des »meaning making« betrifft deren Bindung an die Kultur des Szene-Graffitis.30 Es sind vor allem die graffiti-typischen schriftbildlichen Eigenschaften und die (illegale) Anbringung an einer Wand im öffentlichen Stadtraum, die diesen kulturellen Kontext und dessen Sinnschemata im Verstehensprozess aufrufen, das heißt, das Graffiti »kontextualisieren«. Auf diese Weise werden gegebenenfalls auch szene-spezifische Wortbedeutungen beziehungsweise metaphorische Wortverwendungen aktiviert. Dies gilt etwa für das Wort »Bomben«, das im Szene-Graffiti auch als substantiviertes Verb das Anbringen von Tags (»Bomben«) meinen kann, oder das Wort »Krieg«, mit dem (gewalttätige) Auseinandersetzungen der Sprüher mit anderen sozialen Gruppierungen oder auch mit der Polizei bezeichnet werden. Comments wie 31 oder (Abb. 8)32 spielen mit der Mehrdeutigkeit, die daraus resultieren kann.
Die Unterscheidung von Konzept, Referenz, Handlungsfunktion und durch Kontextualisierung relevant gemachte Sinnschemata ist eine analytische. Sie haben ihren gemeinsamen Ursprung im Gebrauch in spezifischen Situationen und Kontexten, das heißt in der Schrift- bzw. Sprachpraxis des »meaning making«. Diese Annahme der Praxisfundierung beziehungsweise Gebrauchsbasiertheit von Sprache – form- und/oder inhalts-
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seitig – ist grundlegend für die kognitive Grammatik (Langacker 2008), deren Konzept des »construal« (Langacker 2008: 55 ff.) hier für die Analyse von Graffitis im weiten Feld der politischen Semantik aufgegriffen wird. Sie ist unter der Bezeichnung »usage based«-Theorie grundlegend für zentrale Strömungen der gegenwärtigen Linguistik. Ähnliche Annahmen, die sich nicht nur auf sprachliche, sondern generell auf kulturelle Formen/Zeichen beziehen, Abb. 6: , Köln finden sich außerhalb der Linguistik 2003 unter anderem in (älteren) phänomenologischen, sozialphänomenologischen/wissenssoziologischen und soziologischen Arbeiten zur Konstitution von sozialer Wirklichkeit (vgl. Waldenfels 1987, Schütz/Luckmann 1979, Luhmann 1992).33 »Politisch« als heuristischer Begriff Eine Analyse des politischen »meaning making« im Szene-Graffiti muss angeben, was unter »politisch« verstanden werden soll. Die Graffiti-Szene kann nicht herangezogen werden, da politisches Graffiti nicht zu den »folk categories« (Taylor 2009: 75) der Graffiti-Kultur gehört, das heißt, Graffitis mit politischem Inhalt in der Szene keine eigene Kategorie bilden. Generell beziehen sich die »folk categories« der Szene, soweit sie sich in der Szene-Terminologie dokumentieren, nicht auf Inhalte, sondern vor allem auf gestalterische Differenzierungen. Nur geringen Aufschluss geben die Vorkommen von Wörtern wie »politisch«, »Politik«, »Politiker« usw. in INGRID.34 Feststellbar ist – wie auch das titelgebende Zitat 35 zeigt –, dass die Graffiti-Szene ein politisches Selbstverständnis besitzt und dies auch explizit mit dem Wort »politisch« markiert. Auch fällt auf, dass Wörter wie »Politik« und »Politiker« genutzt werden, um sich kritisch und/oder invektivisch auf »die Politik« und deren gewählte Akteure zu beziehen (vgl. etwa 36, 37). Der vorliegende Beitrag verfährt in seinem Verständnis des Politischen und damit in der Eingrenzung des Gegenstandsbereichs heuristisch: Er fasst solche Szene-Graffitis als politisch, die Inhalte verhandeln, die von öffentlichem Interesse sind und die sich auf die sozial-gesellschaftlichen Verhältnisse beziehen. Graffitis, die zum Beispiel Gewalt, Armut, Arbeitslosigkeit, Rassismus, Krieg, Frieden, Freiheit thematisieren, werden entsprechend als politisch gefasst. Der Beitrag folgt dabei einer sozial-interaktionistischen38 Annahme und geht davon aus, dass das Politische – wie andere im betreffenden soziokulturellen Kontext relevante Sinnstrukturen auch – in der Kommunikation hervorgebracht wird. Politisches »meaning making« im Szene-Graffiti liegt dann vor, wenn Graffitis in ihrer spezifischen schriftbildlichen und schriftsprachlichen Gestalt von
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den (zeitgenössischen) Betrachter:innen als politische verstanden werden können, das heißt – in Übertragung des Kommunikationskonzepts von Luhmann (2009: 12) auf die Wahrnehmungssituation von Graffitis –, jemand versteht, dass eine politische Information mitgeteilt werden soll. Im Hinblick auf diese Szene-Graffitis geht der Beitrag dann der Frage nach, wie das Politische konstruiert wird: Gibt es spezifische Formulierungsmuster für das politische »meaning making«? Wie ist das »construal«? Welche Welt des Politischen lassen die Szene-Graffitis entstehen? Die Analyse bezieht auch Forschungsergebnisse über die Kultur und die Sinnschemata des Szene-Graffiti mit ein. Dies ist notwendig, da das Szene-Graffiti – wie es die Ethnomethodologie für mündliche Interaktionen beschrieben hat (Garfinkel 1973: 202) – hochgradig indexikalisch39 in dem Sinne ist, dass die Akteure unterstellen, dass das, was sie schreiben, den ÜberAbb. 7: 48 oder 49 präsentieren. Diese
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Graffitis sind nicht eindeutig als politische fassbar, lassen sich aber im Sinne der heuristischen Definition politisch lesen. Mit Blick auf das »meaning making« ist diese Substantiv-Konstruktion in mehrfacher Hinsicht auffällig: Die konzeptionelle Semantik der Substantive ist mehrheitlich unspezifisch, das heißt, sie konstruieren eine stark schematische Vorstellung. Weiter kennAbb. 9: , Mannheim 2003 zeichnet die Substantiv-Konstruktion, dass die Referenz unklar ist. Sie nennt einen Phänomen-Typ (zum Beispiel »Krieg«), liefert aber keine Hinweise, auf welchen konkreten Fall, das heißt auf welche Instanz des Phänomen-Typs, referiert wird (welcher Krieg?). »Words such as run or dog don´t tell us wether they are being used to talk about reality, fiction, or possibility« (Dancygier/Sweetser 2014: 77).
Hinzu kommt, dass die Konstrukte auch nicht – anders als Schilder mit Aufschriften wie »Eingang« oder »Ausgang« – auf ihren Anbringungsort beziehbar sind. Das »meaning making« isolierter Substantive lässt für die Betrachter:innen die Frage der Referenz ungeklärt. Hilfreich in der Beschreibung des »meaning making« der Substantiv-Konstruktion ist die »Mental space theory«, die von Fauconnier (1994, zuerst 1985) eingeführt wurde. Annahme ist, dass Konstrukte beziehungsweise Konstruktionen in der Vorstellung mentale Räume (»mental spaces«, Turner 2015: 212) eröffnen. In Orientierung an dieser Theorie lässt sich die Substantiv-Konstruktion als »space builder« (Zima 2021: 114 ff.) verstehen. Betrachter:innen werden in der Betrachtungssituation – das heißt ausgehend von ihrem »ground« (Langacker 200: 113) – dazu veranlasst, einen schematischen, unspezifizierten Vorstellungsraum zu eröffnen. Dabei bleiben diese Räume ›leer‹, denn die Konstrukte geben nicht an, wie die Räume in der Vorstellung ›auszugestalten‹ sind; dies ist der Assoziation, dem freien Weiterdenken der Betrachter:innen überlassen. Es gibt keine Zeichen, die Hinweise auf die zeitliche und geografische Verortung des eröffneten Raums geben oder die die Modalität erkennen lassen, das heißt, klären, ob es etwa um Reales oder Fiktionales, um Potenzielles oder Irreales, um Erhofftes oder Gewünschtes geht. Allerdings kann das Fehlen von Hinweisen auf die zeitliche Verortung sowie auf die Modalität – in Analogie zu anderen minimalistischen Formen im urbanen Raum – darauf schließen lassen, dass der betreffende Inhalt in der Gegenwart, in der das Graffiti gelesen werden kann, Realität beansprucht. Unbestimmt bleibt weiter der Handlungssinn. Es wird nicht klar, ob die Graffitis etwa mahnen, auffordern oder nur konstatieren wollen. Die Substantiv-Konstruktion zeigt in dieser Eröffnung eines weithin unbestimmten Vorstellungsraums ein »meaning making«, wie es ähnlich auch für die Poesie beschrieben wird (vgl. Tophinke 2019b):
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»A minimalist literary style leaves much to the reader, giving only minimal guide to meaning construction; a maximalist style does rich and complex meaning construction, guiding the reader much more explicitly« (Dancygier/Sweetser (2014: 196).
Handelt es sich um Wörter, die dem semantischen Feld kriegerischer Gewalt zuzuordnen sind, ist auch eine Lesart möglich, die auf die Graffiti-Praxis bezogen ist. Denn die Wörter können auch metaphorisch gelesen werden und das (illegale) Anbringen von Graffitis, den (Wett-)Streit zwischen Crews, die Auseinandersetzungen mit der Polizei usw. meinen. Dies liegt insbesondere dann nahe, wenn die Schrift graffiti-typisch stilisiert ist und dies die Graffiti-Kultur als Deutungshintergrund aufruft. Im Falle der metaphorischen Lesweise liegt ein »blending« (Turner 2015: 212 f.) vor, das Ähnlichkeiten zwischen der Graffiti-Kultur – dem Ausführen von Graffitis oder den Sanktionierungs- und Verfolgungsmaßnahmen – und kriegerisch-gewaltsamen Aktivitäten konstruiert und auf diese Weise zum Bild einer transgressiv-gewaltsamen Kultur beiträgt. Ob die Substantiv-Konstrukte (auch) metaphorisch gelesen werden sollen oder nicht, bleibt aber offen. b)
Distanzieren und Ablehnen
Mit den Substantiv-Konstruktionen verwandt ist eine Gruppe von Konstruktionen, die die Ablehnung des mit einem Substantiv konzeptionell aufgerufenen Phänomens markieren. Sie lassen sich als »space builder« für »negated spaces« (Erläuterung in Zima 2021: 113) fassen. Zu diesen gehören die »kein X«-Konstruktion, die in einfacher oder ausgebauter Form erscheint (50, 51), und als englischsprachige Variante die »no X«-Konstruktion (52, 53, 54). Für diese Konstruktionen gilt im Hinblick auf Konzept und Referenz, was über die Substantiv-Konstruktion gesagt wurde. Der Raum ist zwar negiert und damit die Positionierung/Perspektive markiert, aber auch hier wird nur ein unspezifischer Vorstellungsraum eröffnet und bleibt dessen ›Ausgestaltung‹ den Betrachter:innen überlassen. Zu den Distanzierungs- bzw. Ablehnungskonstruktionen gehört auch die »(X) gegen/against Y«-Konstruktion (vgl. 55, 56), die auch in Kombination mit einer »für X«-Konstruktion erscheinen kann (57).58 Im Unterschied zu den »kein/no X«Konstruktionen erlaubt die Präposition »gegen« einen stärkeren Ausbau zur Bekenntnis/Positionierungsformel, und zwar durch ein Szene-Pseudonym oder ein Pronomen, das selbstreflexiv auf den Sprüher oder die Crew verweist und die X-Position in der Konstruktion einnimmt (59, 60, 61). Auch in einfachen, nicht ausgebauten Konstrukten macht das Funktionswort »gegen«, das als Präposition immer zwei Entitäten relationiert, implizit auch die Akteure, das heißt den Sprüher beziehungsweise die Crew, im Vorstellungsraum präsent. c)
Auffordern und Aufrufen zum politischen Handeln
Eine weitere Gruppe bilden Konstruktionen, die (metaphorisch) zum Kampf gegen beziehungsweise für etwas aufrufen oder zur Zerstörung von etwas aufrufen. Im Zentrum steht hier ein finites Verb im Imperativ, und zwar typischerweise englischsprachiges »fight« oder »destroy«.62 Zu dieser Gruppe gehören die »fight/destroy (the) X«-
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Konstruktion (63, 64, 65, 66, 67) sowie – damit verwandt – die »fight against X«-Konstruktion (68), zu der sich in INGRID auch eine deutschsprachige Variante findet (69). Eine dritte Konstruktion, die in diese Gruppe gehört, ist die »fight for X«Konstruktion, die formseitig wie eine Variante der »fight against X«-Konstruktion erscheint, sich aber semantisch unterscheidet, weil als X Wörter erscheinen, die kulturelle Werte usw. bezeichnen (70). Konzept bzw. Metaphorik der finiten Verben »fight« oder »destroy« variieren in Abhängigkeit davon, wie die XLeerstelle im jeweiligen Konstrukt gefüllt ist. Anders als zum Beispiel »Fight«, »Kampf«, »Zerstörung«, die als Substantive Phänomene ›dinghaft‹ fassen, profilieren die finiten Verben (»fight«, »destroy«) Prozesse, wobei sich im Falle der englischsprachigen Form »fight« erst im Kontext der Konstruktion klärt, ob das Substantiv oder der Imperativ des Verbs gemeint ist. Bei der »fight against X«-Konstruktion bleibt die Mehrdeutigkeit bestehen. Das Wort »fight« lässt sich als Imperativ des Verbs oder als Substantiv lesen. Die Imperativformen haben weitere Effekte auf das »meaning making«. Sie geben den Handlungssinn, die Aufforderung, klar zu erkennen, die sich an die Betrachter:innen richtet. Im Sinne der »mental space«Theorie bedeutet dies, dass mit den Konstruktionen Vorstellungsräume eines verpflichtenden politischen Kämpfens (im metaphorischen Sinne) entworfen werden, in denen die Betrachter:innen die Akteure sind. Zur Gruppe der Aufforderungs- und Aufrufkonstruktionen gehören auch feste Formeln, die keine Leerstelle besitzen, die variabel gefüllt werden kann. Sie werden zwar in unterschiedlicher Weise schriftbildlich gestaltet, sind in ihrer schriftsprachlichen Form aber fixiert. In INGRID belegt ist unter anderem die Formel »Nazis aufs Maul«,71 deren Vorkommen räumlich und zeitlich breit streut. Eine andere Formel ist »Gib Rassismus keine Chance!«,72 die ebenfalls mehrfach in INGRID belegt ist. Während in »Gib Rassismus keine Chance!« das finite Verb »gib« die Betrachter:innen adressiert und dazu auffordert, Rassismus zu verhindern, adressiert die Formel »Nazis aufs Maul« nicht, und auch der Aufforderungscharakter ist schwächer. Die Betrachter:innen sind entsprechend nicht Teil der kognitiven Vorstellung, die die Formel aufruft. Die Akteure, die Zeit und die Modalität73 des Vorstellungsraums werden in der Formel nicht angezeigt. Was die Zeit anbetrifft, so führt dies zu einer präsentischen Lesart. d)
Politiker-Schmähungen
Eine weitere funktionale Gruppe bilden Konstrukte, die der Schmähung von namentlich genannten Politiker:innen dienen. Sie folgen keinem einheitlichen Muster. Erkennbar ist allerdings, dass Formulierungsmuster (spielerisch) aufgegriffen und adaptiert werden (vgl. 74, 75, [Abb. 6]76).
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e)
(Selbstreferentiell) Bekennen und Bewerten
Schließlich lässt sich in funktionaler Hinsicht eine Gruppe von Konstrukten zusammenfassen, die dem selbstreferenziellen Bekenntnis – etwa zum Pazifismus – dienen oder die sich als Bewertung gesellschaftlicher Verhältnisse verstehen lassen. Zu dieser Gruppe gehören einmal Graffitis, die (leicht variierend) medienbekannte Formeln adaptieren (vgl. 77, 78, 79, 80). Dann lassen sich dieser Gruppe auch selbstreferenzielle Konstrukte wie [Abb. 10]81, 82, 83) zuordnen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Selbstreferenz durch die Pronomen »ich« beziehungsweise englisch »we« angezeigt wird. Als selbstreferenziell ist auch das Konstrukt 84 aufzufassen, da die »kein Bock auf X«-Konstruktion typischerweise selbstreferenziell verstanden wird. Alle selbstreferenziellen Konstrukte eröffnen Vorstellungsräume, in denen die Sprüher bzw. die Crewmitglieder sich selbst als Akteure platzieren. Was die konzeptionelle Bedeutung anbetrifft, so ist diese – wie auch im Falle der anderen funktionalen Gruppen – schematisch. Erkennbar ist teilweise ein szene-typisches Spiel mit der Kriegsmetaphorik (85). Verbindende Eigenschaften der Konstrukte und Konstruktionen Die als politisch interpretierbaren Szene-Graffitis markieren den politischen Horizont der Graffiti-Kultur, erzeugen deren politische ›Welt‹. Diese ›Welt‹ ist nicht nur durch die Themen bestimmt, sondern – wie beschrieben – vor allem durch das politische »meaning making« der verschiedenen Konstrukte und Konstruktionen, mit denen politische Inhalte formuliert werden. Unterscheiden sich diese auch in ihrem »meaning making«, so zeigen sich doch auch gemeinsame Eigenschaften:
Konzeptionelle Schematizität und Mehrdeutigkeit: Das »meaning making« ist dadurch bestimmt, dass die konzeptionellen Bedeutungen schematisch sind. Hinzu kommt Mehrdeutigkeit, da die graffiti-typische Stilisierung der Schrift im Falle von Wörtern wie »Krieg« usw. auch auf die Graffiti-Praktik bezogene metaphorische Bedeutungen aufruft. Auch ist nicht immer klar, ob es sich bei den Wörtern nicht (auch) um Pseudonyme der Sprüher oder Crews handelt. Denn die Onymisierung – die Bildung von Namen aus Lexikonwörtern – ist in der Szene nicht unüblich (vgl. Radtke 2020). Eine eindeutig nichtonymische Lesart liegt vor, wenn das politische Konstrukt als Comment zu einem komplexen Graffiti-Writing gestaltet ist. Denn der Comment-Slot nimmt typischerweise keine Namen auf, sondern bietet ›Spielraum‹ für Kommentare, Sprüche, Anmerkungen sowie auch für politische Positionierungen. Nicht zufällig handelt es sich bei politischen Szene-Graffitis häufig um Comments. Vagheit oder Fehlen der Referenz: Auch ist das »meaning making« der Konstrukte und Konstruktionen dadurch bestimmt, dass die Referenz für Betrachter:innen nicht eindeutig ist oder gar nicht erfasst werden kann. Versuche, sie auf die räumliche Umgebung zu beziehen, wie es beim Verstehen ortsfest
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angebrachter Zeichen im öffentlichen Raum oftmals verlangt ist (zum Beispiel bei Hinweisschildern, Beschriftungen, Verkehrszeichen), schlagen fehl. Politische Szene-Graffitis sind zwar typischerweise ortsfest angebracht, referieren aber nicht auf etwas am Ort der Anbringung. Kognitivlinguistisch gesehen fehlt den Szene-Graffitis ohne Referenz das »grounding« (Langacker 2008: 259; Brisard 2021: 343 ff.), das heißt eine Verortung ausgehend vom »ground«, dem Hier und Jetzt der Anbringungs- oder der Betrachtungssituation. Zugänglich wird allein die konzeptionelle Bedeutung und damit ein PhänomenTyp (zum Beispiel »Hass«, »Krieg«), nicht aber eine spezifische Instanz des Phänomen-Typs (Brisard 2021: 343), sei es in einer realen oder fiktiven, möglichen oder irrealen Welt. Dies ist kein Abb. 10: , Unna 2003 sche Eigenschaft dar. Es zeigt die Annahme der überzeitlichen Existenz des betreffenden Phänomen-Typs an, und es veranlasst Betrachter:innen kognitiv – gewissermaßen wider Willen – zur Eröffnung und zur assoziativen Ausgestaltung eines Vorstellungsraums. Aufgreifen und Weiterschreiben (»Transkription«, Jäger 2010: 301) von Protestformeln: Teilweise transkribieren die Konstrukte bekannte Protestformeln. Diese Formeln sind im Hinblick auf ihren Handlungssinn tendenziell vage. Konstruktionen und Formeln wie »kein X« oder »gegen X« sind am ehesten als Positionierungsformeln fassbar, die »an andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen« (Luhmann 1991: 135).86 Generell ähneln die politischen Konstrukte und Konstruktionen des Szene-Graffiti den Formulierungsmustern von Protestbewegungen, wie sie Luhmann (1996) charakterisiert: a) Sie sind in ihrer konzeptionellen Semantik schematisch und nicht komplex (Luhmann 1996: 211); b) Positionen oder Argumente der Gegner werden nicht erkennbar berücksichtigt (»Man versucht nicht zu verstehen. Ansichten auf der anderen Seite werden allenfalls als taktische Momente des eigenen Vorgehens in Rechnung gestellt«, Luhmann 1996: 206); c) die Positionierung konstruiert eine Außenperspektive, wie dies ähnlich in der Protestbewegung der Fall ist: »Die Protestkommunikation erfolgt zwar in der Gesellschaft, sonst wäre sie
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keine Kommunikation, aber so, als ob es von außen wäre. Sie äußert sich aus Verantwortung für die Gesellschaft, aber gegen sie« (Luhmann 1996: 204). Szene-Graffiti als Protestbewegung zu fassen, ist gleichwohl nicht gerechtfertigt. Denn anders als die Protestbewegung ist die Kultur des Szene-Graffiti sozial fundiert. Es gibt eine Graffiti-Szene, die sich über Aktivitäten des »social grounding« als soziale Gruppierung immer wieder konstituiert und bestätigt. Für Protestbewegungen gilt dies nicht (vgl. Luhmann 1996: 201 ff.). Schriftbildliche Techniken des »meaning making« Die Sprache des Szene-Graffiti ist eine Schriftsprache, das heißt eine Sprache, die auf eine Beschreibfläche, zumeist eine Wandfläche im öffentlichen Raum, aufgebracht wird. Schriftsprache hat neben der schriftsprachlichen stets auch eine schriftbildliche Seite.87 Im Szene-Graffiti spielt diese eine wichtige Rolle. Denn Graffitis sind stark von ihrer »Schriftbildlichkeit« (Krämer 2003; Krämer/Cancik-Kirschbaum/Trotzke 2012; Metten 2011) her konzipiert und als visuelle Phänomene ausgearbeitet. Als schriftbildlich lassen sich dabei alle Eigenschaften fassen, die im Zusammenspiel mit der Schriftsprachlichkeit die Ausgestaltung des Graffitis als visuell wahrnehmbares Bild betreffen. Hierzu gehören die graphostilistischen Eigenschaften der Buchstaben (Buchstabentype, Kursivierung ...), aber ebenso Eigenschaften wie etwa die (relative) Größe, die Farbigkeit sowie die Platzierung und die Anordnung des Graffitis auf der Fläche. Sie bestimmen nicht nur die schriftbildliche Ästhetik der Szene-Graffitis, sondern tragen zum »meaning making« bei: Geringe Distanz zwischen schriftsprachlichen Elementen auf der Fläche etwa setzt diese in Beziehung; relative Größe und/oder eine besondere Farbigkeit führen zur Fokussierung der betreffenden schriftsprachlichen Elemente, machen sie gegenüber kleineren Elementen im Umfeld prominent.88 Verschiedene Aspekte der Schriftbildlichkeit sind im Hinblick auf das politische »meaning making« im Szene-Graffiti relevant: a)
Transparenz als Hinweis auf Inhaltsrelevanz
Die verfremdende Stilisierung von Buchstaben führt dazu, dass Szene-Graffitis oftmals nur sehr schwer gelesen werden können (Tophinke 2019: 367). Politische SzeneGraffitis allerdings sind im Unterschied dazu ganz überwiegend leserlich – das heißt »transparent« (Jäger 2010: 318) gestaltet.89 Betrachter:innen erfassen sogleich den unter der gestalteten Oberfläche liegenden Inhalt. Die Wörter – als Elemente der Konstrukte – und deren Bedeutungen werden zugänglich.90 Das Vorliegen von Transparenz ist für das Verständnis des politischen SzeneGraffitis instruktiv. Transparenz unterstützt das Inhaltserfassen, und es lässt sich aus einer transparenten Gestaltung einmal schließen, dass sie um des (politischen) Inhalts willen angebracht werden, sie weniger der Demonstration von Gestaltungs- und Stilisierungskönnen dienen. Transparenz ist zum anderen auch als ein Adressierungshinweis deutbar. Die politischen Graffitis richten sich mutmaßlich nicht nur an Szene-Mitglieder, die gegebenenfalls auch intransparente Stilisierungen entziffern könnten, sondern an alle, die den betreffenden Raum passieren und deren Blick auf das betreffende Graffiti fällt.
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Trifft die Annahme zu, dass die Sprüher:innen nicht nur die Szene-Mitglieder adressieren, so lässt sich weiter schlussfolgern, dass die Sprüher:innen unterstellen, dass alle Betrachter:innen ein Verständnis der politischen Szene-Graffitis herstellen können. Sie halten ihre politischen Botschaften für verständlich, wobei sie mutmaßlich voraussetzen, dass ihre minimalistische »meaning construction« gegebenenfalls weitergedacht und Hintergrundwissen aktiviert wird. Der minimalistischen »meaning construction«, die mit Schematizität, mit dem Fehlen und der Vagheit von Referenz arbeitet, korrespondiert in diesem Sinne ein hohes Maß an »Indexikalität« im Sinne der Ethnomethodologie.91 Das heißt, die Botschaften sind weiterzudenken in der Perspektive, die durch das Formulierungsmuster und dessen »meaning construction« anzeigt wird. Dabei ist typisch für das Szene-Graffiti, dass das Weiterdenken durch die Formulierungsmuster in ihrer »meaning construction« nur wenig gelenkt wird, so dass der Assoziationsspielraum groß bleibt. b)
Graffiti-typische Gestaltung als Kontextualisierungshinweis
Die Schriftbildlichkeit trägt auch in ihrer kontextualisierenden Funktion zum politischen »meaning making« bei. Eine graffiti-typische Gestaltung zeigt ganz allgemein an, dass das betreffende Graffiti ein Szene-Graffiti sein soll und sich die Akteure der GraffitiSzene zuordnen. Sie erlaubt die Identifizierung von Szene-Graffitis im öffentlichen Raum und macht sie von anderen Formen öffentlicher Schriftlichkeit unterscheidbar. Dies betrifft insbesondere die Abgrenzung gegenüber (transgressiven) handschriftlichen Formen, die dem Szene-Graffiti ähneln. Hierzu gehört – wenn auch nur unscharf abgrenzbar – die Street Art, mit der das Szene-Graffiti teilt, dass es um eine künstlerische Gestaltung geht, die die Wandflächen des öffentlichen (urbanen) Raums nutzt.92 Und dies gilt für Protest-Formate, die – wie das Szene-Graffiti – transgressiv an öffentlichen Wänden auftreten und Protestformeln aufgreifen, dabei aber keinen künstlerischen Anspruch und keine besondere schriftbildliche Stilisierung erkennen lassen. Weiter werden bei einer graffiti-typischen Gestaltung kontextualisierend die Sinnschemata und Werte des Szene-Graffiti – sofern Betrachter:innen diese kennen – aktiviert und als Deutungshintergrund für die politischen Botschaften relevant gemacht. Dabei werden auch – wie eingangs erwähnt – szene-spezifische Wortbedeutungen und metaphorische Wortverwendungen zugänglich. Dies betrifft unter anderem Lexik aus dem Bereich von Gewalt und Krieg (vgl. etwa 93, 94). Schließlich kann bei graffiti-typischer schriftbildlicher Gestaltung davon ausgegangen werden, dass das »meaning making« der betreffenden Graffitis auf die Normalitätserwartungen der Graffiti-Szene ausgerichtet ist. Das heißt, dass das »meaning making« nicht (nur) die politische Meinung des individuellen Sprühers oder der individuellen Crew erkennen lässt, sondern dass es sich um politische Meinungen handelt, die in der Graffiti-Szene, der sich die Akteure zugehörig fühlen, vertreten beziehungsweise verhandelt werden.95 Für das Szene-Graffiti gilt hier, was Garfinkel (1967: 281) generell für Alltagsinteraktionen beschreibt: »Within [...] everyday life a correctly used proposition is one for whose the user specifically expects to be supported« (Garfinkel 1967: 281). Dies gilt auch für Positionierungen, die sich zwar widerständig oder kritisch artikulieren, dabei aber immer noch, wie es Dellwing/Prus (2012: 32) aus ethnografischer Sicht beschreiben, eine »reflexive Bezugnahme« (Dellwing/Prus 2012: 32) auf Szene-Meinungen erkennen lassen.
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Fokussierung und Marginalisierung
Schriftbildlichkeit dient auch der Markierung von Prominenz. Die (relative) Größe, auch in ihrem Verhältnis zu den umgebenden Zeichen, und/oder eine hervorhebende Farbigkeit können die politische Äußerung in den Fokus der Wahrnehmung rücken und auf diese Weise anzeigen, welche Relevanz die politische Meinungsäußerung innerhalb eines mehrteiligen Graffitis hat. Sie kann durch Platzierung im Zentrum prominent gemacht werden oder als ›Randnotiz‹ marginalisiert sein. Letzteres ist typischerweise der Fall, wenn der Comment-Slot eines komplexen Graffiti-Writings die politische Botschaft enthält. Mit der Orientierung an dem typischen Aufbau eines Graffiti-Writings ist gleichzeitig auch kontextualisierend markiert, dass es sich um ein Szene-Graffiti handelt, die Akteur:innen als Sprüher:innen und Szene-Mitglieder agieren und die Sinnschemata der Szene-Kultur als Deutungshintergrund zu aktivieren sind. Fazit: (Selbst-)verortung in einer schematisch entworfenen Welt des Politischen Das Anbringen von Szene-Graffiti zielt auf ein intensives körperliches und emotionales (Gruppen-)Erlebnis. Ganz deutlich zeigt sich dies in den sogenannten Writer Storys, in denen die Erlebnisse des Anbringens zum Thema werden und narrativ aufbereitet werden (vgl. Papenbrock/Tophinke 2016). Es läge mithin nahe, die Herstellung von SzeneGraffitis im Anschluss an das Konzept der »Intensität« von Lyotard (1978: 32) als »Intensitätspraktik« zu fassen. Allerdings erkennt Lyotard (1978: 32) Intensität gerade da, wo Aktivitäten spontan und kulturell unartikuliert stattfinden. Mit Blick auf das SzeneGraffiti gilt dies allenfalls für das Anbringen von Tags, das – sofern die Sprüher:innen ihre Stifte oder Dosen dabeihaben – spontan erfolgen kann, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Es gilt keinesfalls für das Anbringen von stärker gestalteten Graffiti-Writings. Dieses erfolgt typischerweise in einer sorgfältig geplanten und organisierten Aktion, lässt eine kontrollierte und gekonnte handwerkliche Ausführung erkennen, ist an Gestaltungs- und Stiltraditionen orientiert, die identitätsstiftendes Moment der (lokalen) Graffiti-Szene sind und an jüngere Sprüher:innen weitergegeben werden. Ein gelungenes Szene-Graffiti bringt den Akteuren soziale Anerkennung und Reputation in der GraffitiSzene. Entsprechend betrifft die filmische, fotografische und textuelle Selbstdokumentation der Szene-Aktivitäten, wie sie in den Sozialen Medien96 stattfindet und fester Bestandteil der Graffiti-Kultur ist, ausschließlich solches Graffiti, das in seiner szenetypischen Gestaltung den Anspruch artikuliert, Szene-Graffiti zu sein. Ein gelungenes Szene-Graffiti führt zu »Resonanz« (Rosa 2016), wird in der Szene gelobt und gefeiert. Politisches »meaning making« steht nicht im Zentrum der Kultur des Szene-Graffiti. Es lässt in seiner Typik aber Spielraum für politisches »meaning-making«. Der Comment-Slot eines komplexen Graffiti-Writings etwa kann vielfältig gefüllt und somit auch für politische Botschaften genutzt werden. Werden Konzepte wie »Krieg« oder »Gewalt« aufgerufen, führt dies teilweise zu einer doppelten Lesart. Es kommt zu einem »Blending« (Fauconnier/Turner 2003), das heißt zu einer Überblendung der politischen Bedeutung, die der Comment profiliert, mit dem Sinnschema (spielerischer) Aggressivität, das die Mediendiskurse über Graffiti vielfach bestimmt und das auch die Szene bedient (Tophinke 2016: 426). Neben die Lesart, die die politische Positionierung erfasst, tritt eine metaphorische Deutung, die das Konzept auf die Graffiti-Praktik bezieht.
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Steht das politische »meaning making« auch nicht im Zentrum, so ist es für die Graffiti-Szene aber dennoch wichtig. Es dient dem »social grounding«, das heißt der Abklärung des politischen Selbstverständnisses der Graffiti-Szene. Politische Vorstellungen werden aufgerufen und für die Graffiti-Kultur relevant gesetzt, dabei aktualisiert und bewertet. Der starke Rückgriff auf Konstruktionen, das heißt auf Muster des politischen »meaning making«, erleichtert die Partizipation am politischen »social grounding«. Er entlastet davon, politische Positionen formulieren zu müssen. Dass die politischen Botschaften leserlich im öffentlichen Raum angebracht sind, verweist darüber hinaus darauf, dass es auch um politische Positionierung nach außen geht. Die Konstruktionen und Konstrukte entwerfen eine stark schematische politische Welt, die mit Blick auf die Abklärung des politischen Selbstverständnisses der GraffitiSzene aber funktional und hinreichend ausdifferenziert ist. Es geht um Typen von Phänomen, die im Sinne der heuristischen Definition gesellschaftliche Relevanz besitzen und insofern als politisch gewertet werden. Diese Phänomen-Typen werden aufgerufen, abgelehnt oder angemahnt. Konkrete politische Ereignisse – Phänomen-Instanzen – finden im »meaning making« des Szene-Graffiti eher selten Widerhall. Konkrete Referenz besitzen nur wenige Konstrukte, so unter anderem die Politikerschmähungen, die politische Akteure namentlich benennen und identifizieren. Literatur Jean Baudrillard: KOOL KILLER oder der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978 (zuerst: Jean Baudrillard: »KOOL KILLER ou l’insurrection par les signes« In: Interferences, 3/1975). Ralf Beuthan: »Vom Geist der Buchstaben. Medienphilosophische Überlegungen im Anschluss an Hegel« In: Rhyosuke Ohashi, Martin Roussel (Hg.): Buchstaben der Welt. Welt der Buchstaben. München 2014, S. 207–220. Andrea Mubi Brighenti: »At the Wall: Graffiti Writers, Urban Territoriality, and the Public Domain« In: Space and Culture, 13/2010, H. 3, S. 315–332. Frank Brisard: »Grounding« In: Xu Wen, John R. Taylor (Hg.): The Routledge Handbook of Cognitive Linguistics, 2021, S. 344–357. Barbara Dancygier, Eve Sweetser: Figurative Language. Cambridge 2014. Michael Dellwing, Robert Prus: Einführung in die interaktionistische Ethnografie. Soziologie im Außendienst. Heidelberg 2012. Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm, Hartmut Stöckl (Hg.): Schrift-Bilder – Über Graffitis und andere Erscheinungsformen der Schriftbildlichkeit. Berlin 2011. Gilles Fauconnier: Mental Spaces. Cambridge 1994 (zuerst 1985). Gilles Fauconnier, Mark Turner: »Polysemy and Conceptual Blending« In: Polysemy: Flexible Patterns of Meaning in Mind and Language. Hg. v. Brigitte Nerlich, Zazie Todd, Vimala Herman et al. Berlin 2003, S. 79–94. Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs 1967. Harold Garfinkel: »Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen« In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 2. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 189–214. Nicole Grothe: InnenStadtAktion. Kunst oder Politik? Künstlerische Praxis in der neoliberalen Stadt. Bielefeld 2005. Ludwig Jäger: »Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität« In: Arnulf Deppermann, Angelika Linke (Hg.): Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin 2010, S. 301–324.
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Doris Tophinke
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Vgl. dazu etwa Papenbrock/Tophinke 2016, S. 88 ff.; Tophinke 2019, S. 356. Zur Analyse von Szene-Graffiti in praxistheoretischer Perspektive vgl. Tophinke 2016. Vgl. dazu Kreuzer 1990, S. 152; Grothe 2005, S. 26; Volland 2010. , Weinheim 2014, #146366. Alle Graffitis, die in diesem Beitrag herangezogen werden, stammen aus der Forschungsdatenbank »Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID)« (Papenbrock/Tophinke/Oevel 2016–). Angegeben sind jeweils der Ort der Anbringung, das Aufnahmejahr sowie die Nummer des Graffiti-Objekts (System-ID), unter der die betreffende Fotografie in INGRID auffindbar ist. Die spitzen Klammern zeigen hier und im Folgenden an, dass das Geklammerte in Formulierung und Schreibweise exakt der schriftsprachlichen Form des betreffenden Graffitis folgt. Die Datenbank INGRID erlaubt unter der Kategorie »Themenbereich« eine gezielte Suche nach Graffitis mit politischem Inhalt. Bei einem weitem Verständnis von Politik können ergänzend die Suchkategorien »Gewalt«, »Frieden«, »Rassismus« gewählt werden. , München 1983–85, #104345. Aufschlussreich ist die Sammlung Kreuzer in INGRID, aus der die Abbildung stammt. Die Sammlung enthält Fotos von Münchner Graffitis der 80er Jahre, die von dem Ethnologen Peter Kreuzer gemacht wurden. Graffiti-Writings besitzen typischerweise eine nichtlineare Textualität mit einem großformatigen Element im Zentrum und einem Randbereich aus mehreren funktionalen Elementen, zu denen unter anderem der Comment gehört (Tophinke 2019: 373 ff.). , Bremen 2002, #154344. Dies gilt auch für die schriftlinguistische Forschung, in deren Gegenstandsbereich Graffitis fallen. Hier liegt dies nicht zuletzt daran, dass es sich bei Graffitis um einfache schriftsprachliche Formen handelt und sich die Schriftlinguistik lange Zeit auf komplexere Formen bzw. Schrifttexte konzentriert hat. Vgl. für diese Makroperspektive etwa Ley/Cybriwsky 1985 [zuerst 1974], Suter 1992, Pennycook 2009, Brighenti 2010. Vgl. dazu Tophinke 2019: 3ff.
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12 Das »meaning making«, das die sprachlichen (lexikogrammatischen) Ausdrücke zu erkennen
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geben und den Verstehensprozess anstößt, lässt sich terminologisch unterscheiden vom kognitiven Verstehensprozess, in dem auf Basis der Ausdrücke – und ggf. unter Rückgriff auf Wissen und Kontextinformationen – Bedeutung konstruiert wird (»meaning constructing«). , München 2007, #35621. , München 2005, #35831. , Mannheim 2006, #42015. , München o. J. (Sammlung Kreuzer), #65927. , Mannheim 1999, #60163. Zur Mehrdeutigkeit von »Referenz« in der Linguistik vgl. Langacker 2008: 269 f. Anders als in der strukturellen Semantik, die sich vor allem für die Konzeption interessiert (unter dem Terminus »intensionale Semantik«), werden in der kognitiven Linguistik Konzeption und Referenz (»extensionale Semantik«) zusammen betrachtet (vgl. Geeraerts 2007). Zur Unterscheidung von Ortsfestigkeit und Ortsbezüglichkeit (Indexikalität) vgl. Tophinke 2017, S. 368–370. In diesem Fall liegt dann vor, was Langacker (2008: 265) »covert grounding« nennt. Die Referenz der sprachlichen Konstruktion ist verständlich, ohne dass es spezielle (sprachliche) Signale gibt, die das Grounding klären. , Köln 2003, #198071. , Comment, Heidelberg 2003, #157305. , Teil eines Comments, Ingolstadt 2001, #157524. , Köln 2019, #180570. , Köln 2015, #80048. , Köln 2019, #180086. Es könnte sich um sogenannte »Abi-Kriege« handeln, das heißt mit gewaltsamen Aktionen verbundene Aktivitäten anlässlich des Abiturs. Für Köln sind diese für die Entstehungsjahre der betreffenden Graffitis in den Printmedien beschrieben. , Köln 2015, #194187. , München 2005, #35831. Dies umfasst die Praxis des Anbringens von Szene-Graffitis sowie alle Aktivitäten rund um das Anbringen, einschließlich aller Werte und Sinnschemata der Graffiti-Szene (vgl. Tophinke 2016: 410 ff.). , Wiesbaden 2000, #196968. , Wiesbaden 2002, #206336. Vgl. zur Anschlussfähigkeit der kognitiv-linguistischen Forschung an diese ältere Forschung etwa Tophinke/Dübbert (im Erscheinen). Suche von »politi*« über das Feld »Text« aller in INGRID zugänglichen Szene-Graffitis. Das Feld »Text« erfasst alle auf einem Foto erkennbaren schriftsprachlichen und symbolischen Zeichen. , Weinheim 2014, #146366. , Wiesbaden 2002, #194526. , Comment, Köln 2003, #160157. Hier in einem soziologischen Sinne verstanden; gemeint ist, dass Objekte und deren Bedeutungen, auch Selbstbilder usw., sozial sind: »Interaktionisten sehen den Menschen nicht als einsames Individuum, das Bedeutungen vorschlägt und mit anderen aushandelt [...], auch
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nicht als Reproduktionsmaschine sozial gegebener Bedeutungen, sondern als Wesen, das sich selbst als Objekt wahrnehmen kann und seine eigene Position kontinuierlich im Zusammenspiel mit anderen ›minded beings‹, selbstbezogen-reflexiven Wesen, in beständiger Anpassung aushandelt. Es spiegelt die möglichen Bedeutungszuschreibungen anderer und beobachtet sich damit selbst [...] im Lichte seiner Unterstellungen, wie andere es beobachten werden (Dellwing/Prus 2012: 31). 39 Indexikalität im Sinne der Ethnomethodologie meint nicht nur das Vorliegen räumlichsituativer und zeitlicher Bezüge, sondern auch die Aktivierung von Sinnschemata als Deutungshintergrund. 40 Zur Konzeption von INGRID vgl. Papenbrock/Tophinke 2018. Breite Informationen zur Forschungsdatenbank bietet die Webseite (https://www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/ ingrid/). 41 Die Webseite bietet auch Zugang zu einem Interface, über das die Daten als »linked open data« nutzbar sind. 42 Vgl. Tophinke 2017. 43 Wenn hier von »Konstruktion« die Rede ist, so ist damit in der Terminologie der Kognitiven Linguistik ein Konstruktions-Muster gemeint. Die Konstruktion ist zu unterscheiden von der einzelnen, konkreten schriftsprachlichen Äußerung, die als »Konstrukt« – alternativ auch als »Instanziierung« oder »Token« – bezeichnet wird. Vgl. dazu etwa Langacker 2008: 134; Ziem/Lasch 2013: 198; Zima 2021: 51. 44 , Writing, Mannheim 2003, #118864; mehrfach, mit variierender Groß-/Kleinschreibung in Mannheim 2003, 2004. 45 , München 2005, #35831. 46 , Comment, Monheim 2000, #199280. 47 , Comment, Ingolstadt 2001, #197027. 48 , Writing, Stuttgart 2001, #164686. 49 , Writing, Wiesbaden 2002, #166928; »Fight« ist hier ambig, da es als Lexikonwort und als Crew-Pseudonym lesbar ist. 50 , Köln 2008, #76687. 51 , Stencil, Hamburg o. J. (1982-1986), #187319. 52 , Comment, Karlsruhe 2002, #200872. 53 , Comment, Wiesbaden 2000, #199016. 54 , Paderborn 2019, #147595, nicht graffiti-typisch stilisiert. 55 , Bremen 2002, #200883. 56 , Mannheim 2006, #99641. 57 , Mannheim 2018, #101545. 58 Wilk (2022: 162) zeigt auf der Basis empirischer Analysen, dass »gegen X«-Konstrukte in verschiedenen Zeiträumen vorkommen und von verschiedenen Akteuren zur Markierung von Widerstand genutzt werden. 59 , Comment, München 2001, #161649. 60 , Comment, Mannheim 2006, #115257. 61 , Comment, Mannheim 2007, #106188. 62 In INGRID findet sich auch ein Konstrukt mit »start« als pazifistischer Variante der »fight (the) X«-Konstruktion (vgl. , #163183). 63 , Tag, München 2006, #39989. 64 , Comment, Mannheim 2006, #105026. 65 , Comment, München 2009, #183724.
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66 , Tag, Köln 2017, #171154. 67 , Köln 2017, #168756, »Destroy« erscheint als Writing (auch
Crew-Pseudonym), »Capitalism« im Tagstyle darunter. , Stencil, Köln 2015, #84699. , München 1983–85 (Sammlung Kreuzer), #65927. , Comment, Würzburg 2000, #167783. »Nazis aufs Maul«, Mannheim 2006, #99641; Paderborn 2022, #206347; Bielefeld 2019, #147835. 72 »Gib Rassismus keine Chance!«, Köln 2015, #194187. 73 Die Medialität betrifft Fragen wie die folgenden: Ist die Aktivität erwünscht, gewollt, gesollt, erhofft? Ist sie real, irreal oder möglich? 74 , München 1983–85 (Sammlung Kreuzer), #66431. 75 , Wiesbaden, 2002, #196562. 76 , Comment, Köln 2003, #198071. 77 , Tag, Köln 2017, #170459. 78 , Comment, Dortmund 2001, #154961. 79 , Comment, Wiesbaden 2002, #200612. 80. , Köln 2013, #92520. 81 , Comment, Unna 2003, #165130. 82 , Comment, Kirchseeon 2003, #196155. 83 , Comment, Leverkusen 1999, #198696. 84 , Karlsruhe 2022, #206185. 85 , Comment, Kirchseeon 2003, #196155. 86 Vgl. dazu mit Blick auf Szene-Graffiti auch Klee 2010: 118. 87 Schriftbildliche Eigenschaften wurden in der Linguistik lange Zeit nicht berücksichtigt, da angenommen wurde, dass sie nicht zur Bedeutung einer schriftsprachlichen Äußerung beitragen. Es sind unter anderem kognitiv-linguistische Ansätze, die auf deren Bedeutsamkeit und linguistische Relevanz hinweisen (vgl. Tophinke 2017). 88 Die schriftbildliche Gestaltung wird in solchen Fällen zum bedeutsamen Zeichen. Sie erzeugt diagrammatische Ikonizität (vgl. Radden 2021). Tophinke/Dübbert (im Erscheinen) zeigen für Widmungskonstruktionen, die als Elemente von Graffiti-Writings erscheinen, dass diese wesentlich auf schriftbildlich erzeugter diagrammatischer Ikonizität basieren. 89 Jäger (2010: 318) geht dabei davon aus, dass Schrifttexte gelesen werden sollen und idealiter eine schriftbildliche Gestaltung besitzen, die die Lesbarkeit unterstützt. Er spricht deshalb von »Störung«, wenn das nicht der Fall ist. Seine Überlegung ist aber auf künstlerischverfremdeten Schriftgebrauch übertragbar: »›Störung‹ soll also jeder Zustand im Verlauf einer Kommunikation heißen, der bewirkt, dass ein Zeichen/Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird, und ›Transparenz‹ jeder Zustand, in dem die Kommunikation nicht ›gestört‹ ist, also das Zeichen/Medium als Medium nicht im Fokus der Aufmerksamkeit steht« (Jäger 2010: 318). 90 Zur Übertragung des Konzepts der Transparenz auf Graffiti vgl. Tophinke (2019: 367–368). 91 Die Ethnomethodologie hat in der Analyse gesprochensprachlicher Interaktionen darauf hingewiesen, dass jede sprachliche Äußerung Indexikalität besitzt. Teilnehmer:innen an Interaktionen müssen grundsätzlich davon ausgehen, dass ihre Äußerungen in dem Sinne, wie man sie normalerweise versteht, weitergedacht werden. Denn es ist grundsätzlich unmöglich, in der In68 69 70 71
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teraktion all das Vor- und Hintergrundwissen zu explizieren, das für das Verstehen notwendig ist (Garfinkel 1973: 202). Zur Abgrenzung und Abgrenzbarkeit von Graffiti und Street Art aus Sicht der Akteure und der Beobachter vgl. ausführlich Lewisohn 2009: 15 ff. , Kirchseeon 2003, #196155. , Monheim 2002, #161166. Politische Graffitis sind in diesem Sinne nicht verkürzend als Entäußerungen der individuellen politischen Meinungen der betreffenden Sprüher zu verstehen. Vgl. dazu auch Gergen (2010: 82), der generell eine soziokulturelle Reinterpretation des »mind« fordert: »Replacing the view of the mind as a private reserve of the bounded being, we move to social process as the origin of all that we take to be mental« (Gergen 2010: 82). Vgl. zu den digitalen Aktionsräumen des Szene-Graffiti Tophinke 2016: 411–412.
Evelyn Ziegler Praktiken des Stancetaking: Politische Graffitis in der Metropole Ruhr
Positionierung des Beitrags Die sprachwissenschaftliche wie auch gesellschaftswissenschaftliche Forschung zu politischen Graffitis hat sich bisher vorrangig mit inhaltsanalytischen Aspekten beschäftigt und dabei politische Graffitis als »Medium der politischen Kommunikation« (Klee 2010: 8) und als Erscheinungsformen »jugendliche(n) Partizipationsverhalten(s)« (Probst/Mertens 2010: 25) in den Blick genommen. In dieser Perspektive wird in der Regel die gesellschaftliche Relevanz politischer Graffitis als öffentlich sichtbare Ausdrucksform einer je spezifischen politischen Positionierung herausgearbeitet, auf ihr Mobilisierungspotenzial verwiesen und ihre Bedeutung für marginalisierte Gruppen (Waldner/Drobratz 2013: 383) hervorgehoben. Auch wenn dabei vielfach von »Redebeiträgen« (Klee 2010: 7), von »micro-level-political discourse« (Hanauer 2011: 311) und einem »dialogical process« (Lynn/Lea 2005: 44) die Rede ist, so wird doch der dialogische Charakter politischer Graffitis in der Regel nicht spezifischer analysiert, in einigen Fällen wird er sogar herabgestuft. So weist Volland (2010: 94) darauf hin, dass »durch die Verhaftung in der Anonymität und Illegalität des Akteurs« kein »fruchtbare[r] Meinungsaustausch« entsteht. Graffitis kann daher nur ein teil-kommunikativer Charakter zugeschrieben werden.« Der kurze Abriss zeigt, dass in der Graffiti-Forschung der Begriff des Dialogischen unterbestimmt ist. Dieses Desiderat möchte der vorliegende Beitrag theoretisch und empirisch bearbeiten, indem ausgehend von der Unterscheidung zwischen Dialog und Dialogizität (vgl. Imo 2016) der in der Soziolinguistik entwickelte Stancetaking-Ansatz (du Bois 2007) eingeführt wird. Die Stancetaking-Heuristik bietet ein Instrument, mit dem sich der dialogische Charakter von politischen Graffitis feinkörnig beschreiben lässt und die sprachlichen und nicht-sprachlichen Mittel zur Kodierung von politischen Botschaften als epistemische, affektive, deontische Stances sowie Style Stances herausgearbeitet werden können. Im Zentrum steht die Illustration des Stancetaking-Ansatzes und damit auch der Mehrwert eines solchen Zugangs gegenüber herkömmlichen, rein inhaltsanalytisch ausgerichteten Zugängen. Zugleich wird argumentiert, dass insbesondere der StancetakingZugang Möglichkeiten eröffnet, inhaltliche und formale Aspekte mit dem Konzept der Dialogizität (Bachtin 1979) zu verbinden und neue Fragestellungen zu formulieren. Der Beitrag nimmt dementsprechend eine dezidiert auf Dialogizität gerichtete Perspektive ein, die offen ist für gesellschaftswissenschaftliche und kunstwissenschaftliche Zugänge und danach fragt, wie politische Graffitis durch Dialogizität geprägt sind und zu Dialo-
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Evelyn Ziegler
gen auffordern. Zur Illustration dieses Zugriffs auf politische Graffitis wird auf empirische Daten aus dem Metropolenzeichen-Projekt1 (Ziegler et al. 2018/2022) zurückgegriffen. Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Beginnen möchte ich mit einer Bestimmung von politischen Graffitis in Abgrenzung zu Graffitis allgemein (Kapitel 1). In Kapitel 2 werden die theoretischen Grundlagen eingeführt. Darauf folgt die Beschreibung der Erhebung der empirischen Daten und der Aufbau des Korpus (Kapitel 3). Im Anschluss wird die Analyse (Kapitel 4) vorgestellt, die quantitativ-distributive und qualitative Zugänge verbindet. Abschließend wird in Kapitel 5 ein Fazit gezogen. Gegenstandsbestimmung Graffiti, so Pennycook (2008: 302), ist »transgressive global art« und doing Graffiti, das heißt das Ausüben dieser an bestimmten Stiltraditionen orientierten Kunstform (vgl. Papenbrock/Tophinke 2016) trägt zur Semiotik des öffentlichen Raums bei. Als »counterliteracy« hinterfragt diese Praktik2 die »relations between text, private ownership, and the control of public space« (Pennycook 2010: 140) und wird deshalb auch in einem weiten Verständnis von politischem Handeln als Ausdruck von politischem Protest3 gefasst, insofern sich darin eine »Wiederaneignung entfremdeten Raumes« (Steinat 2007: 36) zeigt. Von dieser weiten Auslegung, die jegliche Form von Graffiti als politischen Akt begreift, grenzt sich der vorliegende Beitrag ab, wobei die Grenzziehung nicht immer einfach ist, weil sie das Verständnis von »politisch« berührt. Damit ist nicht gemeint, dass das Herstellen von Graffitis unter gewissen Bedingungen nicht als potenziell politische Handlung gedeutet werden kann. Aber ein weites, zum Teil auch überdehntes Verständnis ist theoriestrategisch problematisch. Es erschwert eine sinnvolle Arbeit mit dem Konzept, weil es keine Differenzierung und Abstufung zulässt. Alle Graffitis würden gleichermaßen als »politisch« klassifiziert und damit Differenzen eingeebnet. Das Konzept verliert so an Analysekraft. Gegen ein solch weites Verständnis von politischen Graffitis spricht auch, dass »die politische Dimension [...] von den Sprühern selbst oft nicht bewusst reflektiert wird« (Papenbrock/Tophinke 2012: 180), d.h. aus emischer Perspektive betrachtet oft nicht vorliegt. Entsprechend ist zu überlegen, inwiefern eine Trennung zwischen »politisch gemeint/intendiert« (Perspektive der Sprayer:innen und Writer:innen) und »politisch interpretiert« (Perspektive der Rezipient:innen) sinnvoll ist. In einem engeren Gegenstandsverständnis möchte ich solche Graffitis als politische Graffitis bezeichnen, die durch den visuell gestalteten Ausdruck (zum Beispiel Gestaltung von Anstrichen, Endstrichen, Strichstärke, Abweichung von der BuchstabenGrundform, Spationierung, grafische Elemente4) politischer Meinungsäußerung charakterisiert sind, das heißt alternative, marginalisierte, abweichende, polarisierende oder provozierende politische Meinungen, Informationen und Werte transportieren und so bestimmte politische Ideen oder Gruppen unterstützen beziehungsweise verunglimpfen sowie auch der Protestmobilisierung dienen, um auf politische Entscheidungen und gesellschaftliche Zustände Einfluss zu nehmen (vgl. Hanauer 2004; Waldner/Dobartz 2013; Zaimakis 2015). Diese politischen Meinungsäußerungen können sich gegen Regierungen, Institutionen, Politiker:innen, Parteien, die Mehrheitsgesellschaft und gegen andere Graffiti-Akteur:innen richten, mit denen sie um Aufmerksamkeit konkurrieren.
Praktiken des Stancetaking: Politische Graffitis in der Metropole Ruhr
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Insofern rivalisieren Graffitis mit anderen politischen Äußerungen innerhalb der Graffiti-Szene, aber auch mit Diskursen in anderen Rezeptionskontexten. Als Stimme Einzelner oder einer Gruppe können sie zur Bestätigung und Verfestigung, gegebenenfalls auch zur Änderung von Einstellungen potenzieller Adressat:innen beitragen. In diesem Sinne lassen sich politische Graffitis als »visual activism« (Cappelli 2020: 329) bezeichnen, auch wenn über ihre konkrete Wirksamkeit wenig bekannt ist, weil Untersuchungen zur Rezeption noch weitgehend fehlen. Nach Hanauer (2004: 29–30, 2011: 302, 305) erfüllen politische Graffitis drei Funktionen:
Sie ermöglichen den Eingang von Äußerungen in den öffentlichen Diskurs, die von anderen Medien als marginal angesehen werden. Sie geben dem Einzelnen die Möglichkeit, kontroverse Inhalte öffentlich zu äußern. Sie bieten Randgruppen die Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern.
Es geht also im Wesentlichen darum, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, und zwar durch eine Intervention »jenseits der Konvention« (de Nève/Olteanu 2013: 15). Adressat:innenorientierung ist damit in politische Graffitis eingeschrieben, auch wenn die Akteur:innen nicht absehen können, wer die Adressat:innen de facto sind, ob und wie ihre politischen Botschaften wahrgenommen, bewertet und in politisches Handeln umgesetzt werden. Auch die Wahl der Örtlichkeit und die Platzierung von politischen Graffitis – in der Regel werden politische Graffitis gut sichtbar in frequentierten Stadträumen angebracht – zeigt, wie sehr es um das Sichtbarmachen der eigenen Einstellungsbekundung geht und politische Graffitis als dialogisch aufzufassen sind. Die Adressatenorientierung, die jedem politischen Graffiti inhärent ist, bildet ein – wie unten noch weiter ausgeführt werden soll – wesentliches Merkmal ihrer Dialogizität. Eng mit der Adressat:innenorientierung verbunden ist die Wirkungsabsicht, die die Akteur:innen mit politischen Graffitis verbinden. Drei Subtypen lassen sich je nach Zweck und Funktion unterscheiden (vgl. Zaimakis 2015: 374f.):
Protest Graffiti beziehen sich auf eine Krise und äußern Kritik an politischen Maßnahmen. Revolt Graffiti rufen zu gesellschaftlichem Ungehorsam und Widerstand auf und dienen der Aufstachelung unterdrückter Menschen. Conflict Graffiti beziehen sich auf Themen, die Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und ideologischer Konflikte sind.
Die Themen, die in politischen Graffitis angesprochen werden, sind vielfältig. Sie reichen von »protest voices of outraged individuals to political comments and social criticism, and from obscene suggestions or vulgar expressions to utopian and existential quests« (Zamaikis 2015: 375). Sie können anlassgebunden sein, das heißt auf bestimmte Ereignisse und Entwicklungen Bezug nehmen, wie das etwa bei den politischen Graffitis im Kontext des sogenannten Arabischen Frühlings gewesen ist (vgl. Warnke 2017), sie können aber auch als politische Selbstverortungen im Sinne von identity display gemeint sein, wie Stelzel (2014) mit ihrer Studie zu politischen Graffitis im Baskenland zeigt.
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Theoretische Grundlagen Im Folgenden werden die theoretischen Grundlagen vorgestellt, auf denen die empirische Analyse aufbaut. Zentral sind dabei die Konzepte der Dialogizität und der Ansatz des Stancetaking. Der Vorteil der Stancetaking-Analyse liegt in der konsequent interaktionalen Situierung von politischen Graffitis und damit verbunden auf der Fokussierung prätextueller, intertextueller und posttextueller Aspekte. Dialog und Dialogizität Wie weiter oben gezeigt wurde, ist ein wesentliches Merkmal von politischen Graffitis, dass sie wahrgenommen und gelesen werden wollen und ihnen daher das Moment der Adressat:innenorientierung inhärent ist, auch wenn sie oberflächlich betrachtet scheinbar monologische Kommunikate sind. Anders als direkte Dialoge, wie etwa Face-to-FaceGespräche, werden sichtbare Dialoge im öffentlichen Raum nicht kollaborativ in einem gemeinsam geteilten Interaktionskontext hervorgebracht und sind deshalb auch nicht durch wechselseitige Wahrnehmung der Interaktionsbeteiligten sowie einen gemeinsamen Erwartungshorizont gekennzeichnet. Gleichwohl können Beziehungen zwischen einzelnen Äußerungen, das heißt intertextuelle Bezüge und Rekontextualisierungen, bestehen, indem politische Graffitis zu Reaktionen auffordern oder auf andere, frühere Äußerungen Bezug nehmen. Äußerungen sind also nie als isolierte Hervorbringungen zu betrachten, weil sie immer in einer Beziehung zu Vorgänger- und Nachfolgeäußerungen (als antizipierte Äußerungen) stehen und ihre Bedeutung sich aus diesen Bezügen zusammensetzt. Dies entspricht einem Verständnis von Dialogizität, wie es von Bachtin (1979) vertreten wird. Es ist dadurch definiert, dass Äußerungen, und zwar nicht nur solche, die im Dialog hervorgebracht werden, immer in einer Kette von Äußerungen stehen und auf einen – konkreten oder nicht konkreten Anderen ausgerichtet sind, und zwar auch dann, wenn sie als Monolog/monologische Äußerung konzipiert sind (vgl. Schmitz/Ziegler 2016: 473). Nach Schmitz/Ziegler (2016: 476–477) sind sieben Merkmale für transgressive, ortsfeste Dialoge charakteristisch: (1) Die Beiträge finden sich alle am selben Ort. Dieser ist von seiner Umgebung klar abgegrenzt. Dadurch entsteht Kohäsion. (2) Die Beiträge sind räumlich verteilt, ohne dass sich eine chronologische oder logische Reihenfolge immer eindeutig feststellen lässt. (3) Die Beiträge sind in der Regel (sehr) kurz. (4) Die Beiträge werden spontan und handschriftlich beziehungsweise handwerklich hergestellt. (5) In der Regel erwartet der erste Schreiber/die erste Schreiberin keine semiotisch bemerkbaren Reaktionserscheinungen. Ursprünglich monologisch intendierte Beiträge werden aber durch sichtbare Reaktionen in dialog-initiale Züge transformiert. Gleichwohl findet keine gemeinsame Hervorbringung eines Dialoges, keine Ko-Konstruktion von Äußerungen in der Interaktion statt. (6) Es gibt keinen dialog-beendenden Zug – prinzipiell können sichtbare Dialoge im öffentlichen Raum ad ultimo weitergeführt oder durch ihre Entfernung abrupt zum Ende gebracht werden.
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(7) Es besteht – im Gegensatz zu mündlichen oder schriftlichen Dialogen – keine konkrete soziale Beziehung zwischen den Schreiber:innen. Dementsprechend lassen sich politische Graffitis als potenzieller Initialturn eines schriftlichen Dialogs verstehen. Als solche können sie zu Reaktionen innerhalb der GraffitiSzene und/oder der anonymen Öffentlichkeit führen. Sie sind kommunikativ motiviert, insofern sie Kritik, Protest und Ablehnung oder Zustimmung gegenüber anderen politischen Positionierungen zum Ausdruck bringen. Stancetaking Ausgehend von dem oben genannten Merkmalskatalog lassen sich politische Graffitis mit dem Stancetaking-Ansatz auf die Mittel, das heißt Strategien und Techniken, untersuchen, die ihre interaktionale Einbettung und Dialogizität anzeigen. Mit Stance werden ›Haltungen‹ bezeichnet, die Akteure in der Interaktion zum Ausdruck bringen. Nach du Bois (2007: 169) gilt: »Stance is a public act by a social actor, achieved dialogically through overt communicative means (language, gesture, and other symbolic forms), through which social actors simultaneously evaluate objects, positioning subjects (themselves and others), and align with other subjects, with respect to any salient dimension of value in the sociocultural field.«
Durch den verbalen und/oder nonverbalen Ausdruck einer ›Haltung‹ positionieren sich soziale Akteure einerseits gegenüber bestimmten Objekten (zum Beispiel Handlungen, Personen oder Propositionen) und andererseits zueinander und alignieren sich so. Die Alignierung, das heißt Ausrichtung auf den Anderen, kann affiliativ oder disaffiliativ, direkt/explizit oder indirekt/implizit erfolgen (Walton/Jaffe 2011) oder Grade der Affiliation/Disaffiliation zu erkennen geben. Die Möglichkeiten des Stancetaking werden dabei durch die Bedingungen der kommunikativen Gattung oder Praktik bestimmt. Insofern stellt die Praktik des Herstellens von politischen Graffitis einen spezifischen Rahmen für Stancetaking und Positionierung dar. Mit du Bois (2007) können zwei Typen von Stances unterschieden werden:
Epistemic Stance: Anzeigen von sicherem/unsicherem Wissen, des Grades an Gewissheit oder der Quelle des Wissens. Affective Stance: Anzeigen der emotionalen Haltung gegenüber einem Objekt/Sachverhalt beziehungsweise gegenüber Akteuren.
Diese Differenzierung wird in neueren Arbeiten ergänzt durch zwei weitere StanceTypen (Couper-Kuhlen/Selting 2008; Kiesling 2009; Imo/Ziegler 2022):
Deontic Stance: Anzeigen von Handlungsorientierungen und Handlungsaufforderungen/Handlungsunterlassungen. Deontische Stances haben typischerweise einen Zukunftsbezug, indem sie Dispositionen oder Aufforderungen in Bezug auf bestimmte Handlungen zu erkennen geben. Style Stance: Anzeigen der Haltung einer Sprecher:in/Schreiber:in zu dem, was er/sie sagt/schreibt.
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Style Stances bilden eine Sonderkategorie. Sie dienen der sprachlichen Kodierung von epistemischen, affektiven und deontischen Stances durch Stil-, Varietäten- und Sprachwahl. Dazu zählen standardsprachliche, kolloquiale und regionale Varietäten ebenso wie die Wahl von anderen Sprachen als Deutsch (vgl. Beispiele unten). Hinweise auf StanceTypen können sogenannte Stance Marker (Gray/Biber 2014) geben. Stance Marker sind sprachliche Mittel, mit denen Einstellungen, Urteile oder Einschätzungen über die Aussage bestimmter Botschaften vermittelt werden können. Dazu zählen:
Lexik: bewertende Lexik und epistemische Lexik syntaktische Strukturen: Infinitivkonstruktionen, Imperativkonstruktionen, Konditionalkonstruktionen, Satzmodus ... Modalverben: dürfen, können, müssen, sollen Andersschreibungen (Schuster/Tophinke 2012) und Schriftarten (zum Beispiel Fraktur)
Wie die Analyse zeigen wird, kommen nicht alle Stance-Typen und Stance Marker gleichermaßen in politischen Graffitis vor. Vielmehr zeigen sich Präferenzen und Tendenzen, die mit den spezifischen Bedingungen der Praktik und der Adressat:innenorientierung zusammenhängen. Daten und Korpus Die Analysen basieren auf Daten des Metropolenzeichen-Projekts (Ziegler et al. 2018/2022). Das Metropolenzeichen-Korpus umfasst mehr als 25.000 Bilddaten von Zeichen im öffentlichen Raum der Metropole Ruhr, die im Rahmen einer Querschnittsstudie für die Städte Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund in Stadtteilen nördlich und südlich der Autobahn A 40, dem sogenannten »Sozialäquator« (vgl. Kersting et al. 2009), erhoben wurden. Die A 40 teilt die Städte im Ruhrgebiet in nördliche Stadtteile mit einer ethnisch diverseren, ärmeren und weniger gebildeten Bevölkerung und in südliche Stadtteile mit einer wohlhabenderen, gebildeteren und ethnisch weniger diversen Bevölkerung. Um die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsstruktur und öffentlich sichtbarer Mehrsprachigkeit untersuchen zu können, wurde für jede Stadt ein Stadtteil nördlich und einer südlich der A 40 bestimmt: (a) nördlich der A 40: Duisburg: Marxloh, Essen: Altendorf, Bochum: Hamme, Dortmund: Nordstadt (b) südlich der A 40: Duisburg: Innenstadt, Essen: Rüttenscheid, Bochum: Langendreer, Dortmund: Hörde Zusätzlich wurden zentrale infrastrukturelle Einrichtungen, wie der Hauptbahnhof, je ein Museum und Bürgerbüro sowie eine Kita pro Stadtteil berücksichtigt. Die Fotodaten für das Bildkorpus wurden nach der Regel »ein Zeichen – ein Foto« erhoben, in einer Bilddatenbank archiviert und annotiert, d.h. inhaltlich erfasst. Eine zentrale Annotationskategorie war der Diskurstyp. Es wurden sechs Diskurstypen (vgl. Scollon/Scollon 2003) unterschieden: infrastruktureller Diskurstyp (zum Beispiel Straßenschilder), regulatori-
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scher Diskurstyp (zum Beispiel Verkehrsschilder), kommerzieller Diskurstyp (zum Beispiel Werbeplakate) und transgressiver Diskurstyp (Graffitis, unautorisierte Plakate und Sticker), kommemorativer Diskurstyp (zum Beispiel Gedenktafeln) und künstlerischer Diskurstyp (autorisierte Kunstwerke). Nach Diskurstypen differenziert verteilen sich die Daten wie folgt:
Metropolenzeichen-Korpus infrastrukturell regulatorisch kommerziell transgressiv Graffitis o politisch Sticker o politisch andere andere Diskurstypen5 Gesamt
1.708 1.265 12.559 9.952 4.357 45 5.522 597 73 244 25.728
6,6% 4,9% 48,8% 38,7%
0,9%
Tab. 1: Verteilung der Bilddaten nach Diskurstyp
Wie Tabelle 1 zeigt, entfallen auf den infrastrukturellen und regulatorischen Diskurstyp nur 11,6 % aller Daten, auf den transgressiven Diskurstyp, das heißt alle unautorisierten Zeichen, hingegen 38,7 % aller Daten. Das ist mit fast vier von zehn Zeichen ein vergleichsweise hoher Anteil. Von diesen transgressiven Zeichen entfallen 4.357 Zeichen auf Graffitis und von diesen wiederum 45 Zeichen auf politische Graffitis, d. h. solche Schriftzüge, die einen Bezug zu politischen Themen aufweisen und sich durch eine Stilsprache auszeichnen, sie sich an Szene-Graffitis orientiert. Diese 45 Zeichen bilden die Grundlage der Analyse. Aus der Analyse ausgeklammert wurden alle ACABSchriftzüge inklusive ihrer Variationen (zum Beispiel »a cab«), da es sich bei diesen Schriftzügen um invektive Sprechhandlungen, das heißt um Kollektivbeleidigungen und nicht um politische Äußerungen handelt. Analyse Quantitative Analyse: Städteräumliche Verteilung politischer Graffitis und Sprachenwahl In einem ersten Schritt wurden die Daten quantitativ-distributiv analysiert, das heißt anhand der Geokodierung wurde ausgewertet, wie sich die 45 politischen Graffitis in den einzelnen Untersuchungsräumen (Stadtteile, infrastrukturelle Einrichtungen) verteilen. Wie Karte 1 zeigt, kommen politische Graffitis nicht in allen städtischen Untersu-
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Karte 1: Verteilung politischer Graffitis in der Metropole Ruhr
chungsräumen und an allen infrastrukturellen Einrichtungen vor. So finden sich in den Essener Stadtteilen gar keine und in den Duisburger Stadtteilen auffällig wenig politische Graffitis. Die quantitative Verteilung gibt auch zu erkennen, dass in den nördlich der Autobahn A 40 gelegenen Stadtteilen Bochum-Hamme und Dortmund-Nordstadt der Anteil politischer Graffitis höher ist als in den südlich der A 40 gelegenen Stadtteilen. Warum das so ist, lässt sich nicht so einfach erklären. Es mag zum einen mit der Zusammensetzung der Bewohner:innenschaft in den Stadtteilen zusammenhängen, zum anderen mit der Funktion der Stadtteile. Die Tatsache, dass sich zum Beispiel im südlich der A 40 gelegenen Essen-Rüttenscheid kein einziges politisches Graffiti findet, kann darauf zurückgeführt werden, dass der Stadtteil ein beliebtes Ausgehviertel mit vielen Restaurants, Cafés, Geschäften und Galerien ist und in der Nähe wichtiger Kultureinrichtungen (Museum Folkwang, Philharmonie) sowie der Messe liegt. Der Stadtteil bietet insofern wenige Flächen, die sich zum Besprühen eignen, und auch wenige Gelegenheiten, um unbemerkt ein politisches Graffiti anzubringen. Dagegen fallen die vergleichsweise hohen Werte für Bochum-Hamme und Dortmund-Nordstadt auf. Diese Stadtteile ziehen offensichtlich mehr politisch motivierte Sprayer:innen und Writer:innen an als die anderen Stadtteile nördlich der A 40. Ein Grund für die stärkere Verbreitung von politischen Graffitis in Dortmund-Nordstadt könnte darin liegen, dass der Stadtteil in den letzten Jahren durch Cafés, Szenekneipen und ein Programmkino sowie durch die Nähe zur Innenstadt attraktiver geworden ist für linke und alternative
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Jugendliche als etwa die Stadtteile Duisburg-Marxloh und Essen-Altendorf, in denen diese Entwicklung nicht stattgefunden hat. Darauf deuten auch die eher links-autonomen politischen Botschaften in Dortmund-Nordstadt hin (vgl. Ziegler et al. 2018/22: 123). Die distributive Analyse zeigt zudem, dass im Umfeld von Bahnhöfen, kulturellen Einrichtungen, Bürgerbüros sowie Kindertagesstätten nur wenige bis gar keine politischen Graffitis zu finden sind. Diese Orte werden vermutlich aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Funktion, Nutzung und tendenziell höheren sozialen Kontrolle gemieden. Die Auswertung der Sprachwahlen zeigt (vgl. Tab. 2), dass die Sprayer:innen bevorzugt auf das Deutsche setzen. Dabei werden non-standardsprachliche Formen, zum Beispiel regionalsprachliche und umgangssprachliche Ausdrücke, vermieden. Neben Deutsch findet vergleichsweise häufig Englisch Verwendung. Es kommt vorzugsweise in antifaschistischen Parolen vor (»No Nazis«, »Make Nazis History«). Die Herkunftssprache Türkisch ist dagegen nur einmal belegt (siehe die Diskussion des Beispiels in der nachfolgenden Stancetaking-Analyse). Das ist erstaunlich, denn das Türkische ist die Sprache der größten Zuwanderergruppe im Ruhrgebiet. Insofern wäre zu erwarten gewesen, dass das Türkische hier eine größere Rolle spielt. Spanisch kommt auch nur einmal vor. Es wird – ähnlich wie das Englische – für eine antifaschistische Positionierung verwendet. Die Parole »Zona Antifascista« ist eine sichtbare Drohung an die Adresse rechtsextremer Gruppierungen und weckt durch die Wahl der Sprache Assoziationen an den Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939).
Varietäten / Sprachen Deutsch Englisch Spanisch Türkisch
Häufigkeiten 32 (71,1 %) 11 (24,4 %) 1 (2,2 %) 1 (2,2 %)
Tab. 2: Verwendung von Sprachen
Stancetaking-Analyse Im Folgenden werden exemplarisch einzelne Graffitis einer Stancetaking-Analyse unterzogen. Dabei werden verschiedene Stance-Typen und Stance Marker vorgestellt und diskutiert. Die Analysen zeigen, dass es Grade von mehr oder weniger Dialogizität gibt und dass die jeweiligen Stance-Typen nicht immer trennscharf zu bestimmen sind, sondern sich auch überlagern können. Insofern verdeutlicht die Analyse nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Herausforderungen, die mit einem solchen Verfahren verbunden sind. Das erste Beispiel (Abb. 1) zeigt einen epistemischen Stance. Das auf Türkisch verfasste politische Graffiti (Bildnummer 16413) findet sich in Duisburg-Marxloh, einem im Norden der A 40 gelegenen Stadtteil, der stark türkisch geprägt ist: Knapp 45 % der nichtdeutschen Bevölkerung besitzt eine türkische Staatsangehörigkeit.
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Abb. 1: Epistemischer Stance
Das in Rot mit Lacksprühdose oder einem breiten Lackstift schnell und großflächig aufgetragene Graffiti lautet übersetzt: »Unsere Märtyrer sind unsterblich« TKP (= (Türkiye Komünist Partisi: Türkische Kommunistische Partei) und wurde von türkischen Linksextremisten angebracht. Die Parole richtet sich an die türkisch sprechende Community in Duisburg-Marxloh, das heißt die Zielgruppe wird durch die Sprachwahl eingegrenzt und eine Teilöffentlichkeit adressiert. Die Sprachwahl fungiert so als Stance Marker und indiziert einen Style Stance. Auf der mikrotypographischen Ebene zeigt sich der Style Stance durch die graphische Betonung der Punkte bei den Umlauten und und beim Großbuchstaben 6. Bei den Buchstaben fallen die Proportionen auf. Einen konkreten, in der Gegenwart liegenden Bezug hat die Parole nicht, sie ist aber ein Dauerbrenner der extremen Linken. Der Exklamativmodus – als Stance Marker – weist den Stance als epistemische Einstellung, das heißt genauer contrafaktische Überzeugung der Writerin/des Writers aus. Nach Zifonun et al. (1997: 625) handelt es sich dabei um ein sogenanntes »Kundgabewissen«. Kundgabe bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die geäußerte Überzeugung von einem anderen wahrgenommen werden kann. Mit der Wahl des Präsens erhält die Satzaussage zudem Allgemeingültigkeit, denn sie lässt sich auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen. Zu erkennen ist auch, dass zu einem früheren Zeitpunkt an dieser Stelle schon mal ein Graffiti aufgetragen wurde, und zwar mit weißer Farbe. Inwieweit dieses ältere, jetzt verbli-
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Abb. 2: Ferndialog in Form verschiedener Stance-Typen
chene und überschriebene Graffiti in einem dialogischen Zusammenhang mit dem neueren Graffiti steht, lässt sich nicht sagen ebenso wie offen bleiben muss, aus welchem Grund das neue, von einem türkischen Linksextremen produzierte Graffiti mit weißem Papier überklebt wurde. Beispiel 2 (Abb. 2) illustriert, wie verschiedene politische Graffitis einen »Ferndialog« (Schmitz/Ziegler 2016: 488) konstituieren können. Kennzeichen für visuelle Ferndialoge im öffentlichen Raum sind »wechselseitige Verweise« (a. a. O.). Aber auch solche Zeichen beziehungsweise Graffitis, die unterschiedliche Positionierungen zu einem Thema zu erkennen geben, ohne direkt und explizit aufeinander Bezug zu nehmen, können als Ferndialog bezeichnet werden, insbesondere dann, wenn sie in räumlicher Nähe zueinander angebracht sind. Das Beispiel eines Ferndialogs stammt aus Duisburg-Innenstadt und zeigt drei politische Graffitis, die verschiedene Positionierungen gegenüber Israel zu erkennen geben: Die zwei mit Lackmarker aufgetragenen Parolen »Save Israel« (Bildnummer 13049) und »Fight Terror – Support Israel!« (Bildnummer 12891) nehmen Bezug auf den palästinensisch-israelischen Konflikt und sind in Englisch formuliert, weil dieser Konflikt von transnationalem Interesse ist. Sie sind Ausdruck eines israelsolidarischen, bottom-up Aktivismus. Die im Tag Style verfasste Aufforderung »Save Israel« wird gerahmt durch zwei politische Symbole: Hammer und Sichel in gekreuzter Form (Symbol des Kommunismus) und Davidstern (Symbol des Volkes Israel und des Judentums). Diese Symbole sind gesellschaftlich weit verbreitet, können also von jedem verstanden werden. Sie sind Mittel, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Beide Graffitis alignieren sich damit in Bezug auf das jeweils andere Graffiti durch ihre Positionierung gegenüber Israel. Die mit pinker Ölkreide und nach rechts geneigten Buchstaben geschriebene anti-israelische Hetzparole »FUCK ISRAEL« (Bildnummer15979) drückt dagegen mit ihrer öffentlich zur Schau gestellten Israelfeindlichkeit eine disaffiliative Positionierung aus (vorausgesetzt, es wurde später angebracht als die beiden anderen Graffitis). Gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass israelfeindliche Positionierungen in der Gesellschaft verbreitet sind. Dafür spricht auch die Wahl der Konstruktion »fuck x«, die die Produktivität des sprachlichen Musters und die Popularität der damit verbundenen Einstellungsäußerung zusätzlich betont. Der vulgärsprachliche Ausdruck »fuck« stellt eine Herabwürdigung des Staates Israel dar und fungiert als lexikalischer Marker für einen affektiven Stance. Affektive Stances beschreiben »a mood, attitude, feeling and disposition, as well as degrees of emotional intensity vis-a-vis some focus of concern« (Ochs 1996: 410). Sie
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Abb. 3: Deontischer Stance mit deontischem Infinitiv als Stance Marker
drücken die emotionale Beteiligung des Sprechers/der Schreiberin aus, die hier formal als Aufforderungssatz konstruiert ist. Scharloth (2021: 3) stellt in diesem Zusammenhang fest: »Im Modus von Empörung, Schmähung und Herabwürdigung zu schreiben, verleiht dem Schreiber zudem eine Art street credibility [Kursivierung im Original], signalisiert, dass er zu jenen gehört, die sich trauen, Dinge auszusprechen, die vermeintlich unsagbar sind.«
Die israelsolidarischen Parolen stellen dagegen deontische Stances dar. Diese lassen sich mit Deppermann (2006: 243) wie folgt definieren: »Deontische Aussagen nehmen zu einer Handlungsweise normativ Stellung. Sie kategorisieren sie als geboten, verboten, erlaubt oder normativ indifferent.« Sie haben einen Zukunftsbezug, der sich in Form eines Imperativs äußert, wobei die potenziellen Adressaten vage bleiben. Diese Unterspezifiziertheit gilt auch für die beiden Graffitis hier, die prinzipiell alle adressieren. Aber auch die Semantik der Handlungsaufforderungen bleibt vage: Was genau getan werden soll, um den Terror gegen Israel zu bekämpfen beziehungsweise Israel zu retten, wird nicht zum Ausdruck gebracht, bietet aber aufgrund der Interpretationsoffenheit den Vorteil, dass unterschiedliche Assoziationen freigesetzt und Impulse für Anschlussdiskurse gegeben werden können.
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Abb. 4: Stancetaking als Graffiti-Dialog
Beispiel 3 (Abb. 3) zeigt, wie eng Stance-Typ und Versprachlichung verknüpft sein können. Die mit mattem Acrylspray in Pink aufgetragene Aufforderung »NAZIS TRETEN!« (Bildnummer 7860) beschreibt einen deontischen Stance,7 der mit Hilfe eines deontischen Infinitivs, das heißt eines Verbs im Infinitiv, formuliert ist. Im Gegensatz zu anderen Infinitivkonstruktionen kommen deontische Infinitive ohne die Infinitivpartikel »zu« vor. Sie »denotieren Handlungen, mit denen ein menschlicher Akteur eine intentionale Aktivität ausführt oder durch eine solche eine Zustandsveränderung bewirkt« (Deppermann 2006: 241). Die pragmatische Bedeutung der Konstruktion »ist dabei die normative Stellungnahme zu einer künftigen Handlung« (Deppermann 2006: 243). Die Konstruktion bietet mehrere Vorteile: Sie ist kurz und prägnant und ermöglicht Mehrfachadressierung, weil sie unpersönlich formuliert ist. Agens sind damit alle potenziellen Adressaten. Diese Eigenschaft erklärt, warum deontische Infinitive häufig in ortsfester Schrift für Handlungsaufforderungen oder -unterlassungen, zum Beispiel »Ausfahrt freihalten«, »Abstand halten«, verwendet werden. Deontische Infinitive stellen Imperativäquivalente dar und können insofern als genuine Marker für deontische Stances betrachtet werden. In Beispiel 4 (Abb. 4) konstituieren verschiedene Graffitis einen Graffiti-Dialog (Bildnummer 8175). Die mit Lacksprühdosen und in Versalienschreibung auf eine
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Abb. 5: Deontischer Stance realisert in Form eines Frage-Antwort Schemas als Style Stance
Hausfassade aufgetragenen Graffitis können als politische Debatte verstanden werden, die unter anderem mit den Mitteln des Crossens geführt wird. Vermutlich stand zuerst der in Grün aufgetragene Schriftzug »HAHA!« da.8 Dieser inhaltsleere Schriftzug fungiert als ironisch-witziger Dialogtrigger. Als erste Reaktion schrieb jemand in Schwarz »NAZIS RAUS!« darüber und strich das HAHA! durch. Danach wurde die Forderung »FREIHEIT FÜR PALESTINA«9 (orangefarben) aufgetragen und die Forderung »NAZIS RAUS!« durchgestrichen. Dann wurde die Forderung »FREIHEIT FÜR PALESTINA« durchgestrichen und die Forderung »NAZIS RAUS!« wiederholt, und zwar in Rot. Über alle vier Züge schrieb schließlich jemand in Lila »KRIEG«. Die verschiedenen Stances, die deontischen Stances »NAZIS RAUS!« und »FREIHEIT FÜR PALESTINA« sowie der epistemische Stance »KRIEG«10, zeigen verschiedene Formen des Alignments: zum einen affiliatives Alignment durch Wiederholung einer Forderung und disaffiliatives Alignment, das auf der sprachlichen Ebene durch Setzung eines neuen Themas, auf der nicht-sprachlichen Ebene durch Crossen angezeigt wird. Ein in Duisburg-Innenstadt befindliches politisches Graffiti mit dem Schriftzug »NATIONALER SOZIALISMUS? JETZT« (Bildnummer 15638) realisiert einen deontischen Stance mit einem Style Stance, der zu Reaktionen auffordert. Der Schriftzug ist mit einem breiten Lackstift in Schwarz, als sozial registriertes Indexikal der politisch
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Abb. 6: Typografischer Style Stance
Rechten, aufgetragen. Die Nominalphrase »NATIONALER SOZIALISMUS« ist ein Synonym für Nationalsozialismus. Der Stance realisiert ein etabliertes rhetorisches Muster, und zwar das Frage-Antwort-Schema, auch als subjectio bezeichnet (vgl. Ueding/Steinbrink 1994: 311). Diese Satzfigur stellt »ein parteiisches, fingiertes Frageund-Antwort-Spiel [dar], in dem der Redner vorgebliche, selbst gestellte Fragen und Einwände auch selber beantwortet«. Dieses Frage-Antwort-Schema trägt suggestive Züge und hat insofern auch einen gewissen Aufforderungscharakter, der zu Gegenreaktionen einlädt. Eine solche Gegenreaktion, als disaffiliative Alignierung, folgt prompt, indem das erste Wort mit transparenter roter Lackfarbe (Indexikal der Linken) übermalt wurde, sodass sich der politische Sinn verkehrt und aus einer Parole der politisch Rechten eine Parole der Linken wird. Style Stances können aber nicht nur verbal-sprachlich, sondern auch mit typografischen Ressourcen angezeigt werden (vgl. Wachendorff 2019). So betonen etwa die in Signalrot gesprühten und sich zum Teil berührenden Buchstaben des Verbalgraffitis »BOYKOTT« (Bildnummer 8892 und 28593), die sich über eine riesige Fläche, d.h. die gesamte Fassade einer Commerzbank-Filiale in Dortmund-Nordstadt erstrecken, die hyperbolische Expressivität des deontischen Stances, der sich gegen die Bank richtet und – so kann gemutmaßt werden – konkret auf die Geschäfte der Commerzbank als Gobal Player im Jahr 201311 bezieht. Dabei werden weder die Grenzen einzelner Fassadenelemente (Fenster, Türen, Vordach) noch der Verkehrsraum, das heißt der Gehweg, respektiert. Die Wut und Aggression des Sprayers/der Sprayerin drückt sich insofern nicht nur farblich und in den überdimensionierten Schriftgraden der Buchstaben12 aus, sondern setzt sich im Emplacement fort (vgl. Wachendorff/Ziegler/Schmitz 2017), indem auch die ästhetische Ordnung des öffentlichen Raums gestört wird (vgl. Abb. 6). Fazit Die Analyse hat gezeigt, dass politische Graffitis leicht sichtbar im öffentlichen Raum der Metropole Ruhr angebracht sind, in den nördlich der A 40 gelegenen Stadtteilen häufiger vorkommen als in den südlich der Autobahn gelegenen, eher bürgerlich gepräg-
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ten Stadtteilen, insgesamt aber – im Vergleich zu anderen transgressiven Zeichen wie Tags und Sticker – selten sind. Grund für das geringe Vorkommen ist, dass ihre Herstellung eine erhöhte Risikobereitschaft voraussetzt, denn die untersuchten Stadteile sind Tag wie Nacht stark belebt. Politische Graffitis sind handwerklich einfach gestaltet. Es fehlen weitgehend (typo)grafische Gestaltungselemente, auch wenn sich Style Writing Elemente (Versalienschreibung, Variation der Buchstaben-Grundform) erkennen lassen. Zentrales Moment ist die Lesbarkeit der Schriftzüge, die in der Regel durch sprachliche Ökonomie gekennzeichnet sind. Auffällig ist die sozialdistinktive Verwendung von Farben und Symbolen, auch Fälle von Aneignungen und Rekontextualisierungen lassen sich in diesem Zusammenhang beobachten. Die Stancetaking-Analyse hat gezeigt, dass deontische Stances mit Abstand am häufigsten realisiert werden (die Welt, wie sie sein sollte). Epistemische Stances (die Welt, wie sie ist) kommen dagegen seltener vor. Sie werden in der Regel im Modus der Gewissheit geäußert. Deutlich wurde auch, dass sich die Stance-Typen in einigen Fällen nicht immer eindeutig bestimmen lassen, weil sich die Schriftzüge durch eine gewisse Interpretationsoffenheit auszeichnen. Das betrifft vor allen Dingen die Differenzierung zwischen deontischen und epistemischen Stances sowie zwischen deontischen und affektiven Stances. Diese Problematik ist aber eine generelle in der Einstellungsforschung, insofern sich Meinen, Bewerten und Wollen/Sollen häufig überlagern. Als präferierte Stance Marker konnten Imperativkonstruktionen und deontische Infinitive sowie stark affektgeladene Ausdrucksformen wie die Konstruktion »fuck x« herausgearbeitet werden. Auch typografische Ressourcen, wie Herstellungstechnik und Material, können als Stance Marker fungieren und Hinweise auf die Haltung und damit Positionierung der Sprayer:innen liefern. Insofern kann den politischen Graffitis ein gewisses »Resonanzkalkül« (Scharloth 2021: 4) unterstellt werden, um auf Themen/Konflikte öffentlich aufmerksam zu machen und/oder zu zeigen, dass tabuisierte politische Positionierungen weiterhin existent sind. Wie sehr dieses Resonanzkalkül verfängt, zeigen die Beispiele für Graffiti-Dialoge und Ferndialoge. Literatur Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979, S. 349–356. Judith Bihr: »Graffiti als performativer Akt der Subversion. Die Kairoer Kunstlandschaft des öffentlichen Raums nach den politischen Umschwüngen von 2011« In: kunsttexte.de, Sektion Politische Ikonographie, 2015, Nr. 4, www.kunsttexte.de. Mary L Cappelli: »Black Lives Matter. The Emotional and Racial Dynamics of the George Floyd Protest Graffiti« In: Advances in Applied Sociology, 2020, Nr. 10, S. 323–347. Ibrahim Cindark, Evelyn Ziegler: »Mehrsprachigkeit im Ruhrgebiet: Zur Sichtbarkeit sprachlicher Diversität in Dortmund« In: Stefaniya Ptashnyk, Ronny Beckert, Patrick Wolf-Farré, Matthias Wolny (Hg.), Gegenwärtige Sprachkontakte im Kontext der Migration. Heidelberg 2016, S. 133–156. Elisabeth Couper-Kuhlen, Margret Selting: Interactional Linguistics. Studying Language in Social Interaction. Cambridge 2018. Mark Dang-Anh: »Protest als mediale Praxis: Straßenprotestkommunikation online und offline« In: Sprachreport, 2019, Nr. 35 (4), S. 36–45.
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Evelyn Ziegler
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1 Leitung des Projekts: Evelyn Ziegler/Universität Duisburg-Essen (MERCUR GZ: Pr-2012-
0045, Laufzeit: 01.08.2013–31.08.2018).
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2 Zur Praktik des Szene-Graffiti vgl. Tophinke (2016). 3 Vgl. in diesem Zusammenhang die Begriffsbestimmung von Dang Anh (2019: 42): »Zu pro-
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testieren bedeutet dabei immer auch, sich als politischer Mensch oder Akteur zu zeigen sowie sich politisch zu positionieren, Identität herzustellen oder sich von anderen abzugrenzen.« Vgl. hierzu ausführlicher Wachendorff (2019). In diese Kategorie fallen die Zeichen, die dem kommemorativen und künstlerischen Diskurstyp zugeordnet wurden. Da sie nur einen kleinen Teil der Daten ausmachen, wurden sie hier in der Kategorie »andere Diskurstypen« zusammengefasst. Eine »türkische Besonderheit ist, dass das auch in der Großschreibung einen Punkt erhält . Dies dient der Unterscheidung vom ungerundeten geschlossenen Hinterzungenvokal [ɯ], der als ohne Punkt geschrieben wird: , .« (Cindark/Ziegler 2016: 151). Die Schriftgestaltung spiegelt in gewisser Weise die Proposition durch den nach links geneigten Buchstaben und die Gestaltung des Auslaufs beim Buchstaben . Für die instruktive Diskussion dieses Beispiels möchte ich mich bei den Teilnehmer:innen der Tagung bedanken. Sie hat dazu beigetragen, dass die Interpretation etwas anders ausfällt als in Schmitz/Ziegler (2016: 491–492). Die Schreibung des Namens »PALESTINA« zeigt eine hybride Schreibweise. Die korrekte Schreibweise ist im Deutschen »Palästina« und im Englischen »Palestine«. Die Deutung von »KRIEG« als epistemischer Stance hängt davon ab, ob der Stance als Kommentar zum Dialog oder als Aufforderung zu verstehen ist. Im letzteren Fall würde ein deontischer Stance vorliegen. Die Kontextualisierung ergibt sich aus dem Zeitraum der Datenerhebung in DortmundNordstadt, die 2013 durchgeführt wurde. Zur aggressiven Schriftgestaltung vgl. auch Tophinke/Papenbrock (2014).
Martin Papenbrock ›Message‹ und ›Style‹. Über das Politische im Graffiti und die Graffitisierung des Politischen
Begriffe, Definitionen, Thesen Was ist politisches Graffiti? Ist Graffiti nicht grundsätzlich politisch? Um diese Fragen diskutieren zu können, wären zunächst die verwendeten Begriffe zu klären: Worüber reden wir, wenn wir von Graffiti sprechen? 1 Grenzen wir das Feld auf das sogenannte Style Writing ein, die auffälligste, gestalterisch ambitionierteste und gegenwärtig am meisten verbreitete Form des Graffiti? Schließen wir die künstlerisch verwandte, aber stärker bild- als schriftbasierte Street Art mit ein? Oder beziehen wir uns auf Schablonen-, Parolen- und Spruchgraffiti, wo es in der Regel eher um die Vermittlung von Botschaften als um die Ästhetik von Buchstaben und Schrift geht und das Politische deshalb eher vermutet werden darf?2 Und welchen Politik-Begriff legen wir zugrunde? Orientieren wir uns an den ursprünglichen Bedeutungen der griechischen Polis und den Theorien von Platon und Aristoteles und meinen die Dinge, die im engeren Sinne den Staat betreffen? 3 Grenzen wir das Feld weiter ein und beziehen wir uns auf das Handeln und die Kommunikation politischer Akteure, Institutionen, Organisationen und Gruppierungen? Oder folgen wir einem erweiterten Politikbegriff, der in der Folge der 68er-Bewegung, als auch das Private zum Politischen erklärt wurde, alles als politisch begreift, was gesellschaftlich und sozial relevant und in der öffentlichen Diskussion ist? Nicht zu vergessen ist die historische Dimension. Wir sollten nicht nur davon ausgehen, dass Begriffe wie »politisch«, »Graffiti« und »politisches Graffiti« – je nach Verwendungszusammenhang, Kenntnis und Reflexionsvermögen der Autorinnen und Autoren – unterschiedlich interpretiert und eingesetzt werden, sondern auch in Rechnung stellen, dass sich ihre Bedeutungen im Laufe der Zeit verändern. Hinzu kommt, dass auch die Objekte der Diskussion, das Politische und das Graffiti, naturgemäß einem inhaltlichen und formalen Wandel unterworfen sind. Es gilt also, nach inhaltlichen und formalen, sozialen und historischen Gesichtspunkten zu differenzieren. Deutlich zu machen ist darüber hinaus, dass politisches Graffiti grundsätzlich affirmativ oder kritisch (in Bezug auf das Handeln des Staates, auf hegemoniale Strukturen oder Bedrohungen), Akklamation oder Protest, rechts oder links sein kann. Der seit vielen Jahren in und um Frankfurt herum aktive Writer DENK, ein nicht nur versierter, sondern auch reflektierter Vertreter seiner Zunft, der seinen Namen gut lesbar im Simple Style sprüht und dessen Tags und Pieces entlang der Verkehrswege und Bahnlinien sowohl den Frankfurtern als auch vielen Fernreisenden in Deutschland be-
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kannt sein dürften, sagte 2012 in einem Interview auf die Frage »Ist Graff [sic!] politisch?«: »Jedes Tag, jedes Piece ist ein politischer Akt und eine Form von politischer Performanz. Ich würde unterscheiden zwischen der Form und dem Inhalt. Von der Form her greift Graffiti in die Gesellschaft ein und widersetzt sich bekannten Normen und Gesetzen. Inhaltlich kann Graffiti einen explizit politischen Inhalt haben oder ›nur‹ den jeweiligen Namen pushen. […] Wenn jemand Lust hat jede Woche eine S-Bahn ›gegen Kapitalismus‹, ›gegen Homophobie‹ oder ›gegen Sexismus‹ zu malen, dann würde ich mich freuen. Das ist aber nicht das Graffiti, was mich interessiert. Das wäre ja einfach Graffiti als Agit-Prop. Jean Baudrillard hat in den 1970ern den Aufsatz ›Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen‹ geschrieben. […] Und was er so bemerkenswert an Graffiti findet, ist, dass das Zeichen, das Tag, keine direkte politische Aussage vermittelt und deswegen nicht verhandelbar ist. Dadurch ist das Tag so radikal. Es ist ein Aufbegehren der Zeichen, das sich nicht zur Diskussion stellt. Und das finde ich an Graffiti interessant. Ich bin nicht über die Politik zu Graffiti gekommen und nicht über Graffiti zur Politik. Für mich war immer beides wichtig, aber eben meistens getrennt.«4
Wenn dieses Zitat auch sicherlich nicht als repräsentativ für die politische Haltung der Style Writer reklamiert werden kann, so vermittelt es doch einen Eindruck von einer in der Community verbreiteten Einstellung, sich politisch eher im linken Spektrum zu verorten, ohne dies aber in den Graffitis zu artikulieren. Das Sprühen von Namen wird im Sinne Baudrillards als Protest gegen die Kapitalisierung der Stadt und der Gesellschaft begriffen, indem es Schriftkonventionen und Eigentumsverhältnisse gleichermaßen ignoriert und sich inhaltlichen Diskursen verweigert. Das Politische des Style Writing leitet sich dieser Haltung zufolge nicht aus einer inhaltlichen Positionierung, sondern aus der Radikalisierung der Form ab – ein geradezu avantgardistischer Habitus. Über die Anfänge des Style Writing und seine politischen Hintergründe wissen wir bis heute sehr wenig.5 Es lohnt sich aber, einen Blick in die 70er und frühen 80er Jahre zu werfen, als diese damals neue Form des Graffiti von den USA aus nach Europa kam und hier auf die europäischen Traditionen des Graffiti, das heißt auf das Spruch- und Parolen-Graffiti der Sponti-Szene und das figürliche Graffiti von Künstlern wie Gerard Zlotykamien oder Harald Naegeli traf.6 Es war vermutlich kein Zufall, dass die Kunstund Kulturwissenschaften zur selben Zeit das Politische (neu) entdeckten, ihren Kanon erweiterten, ihre Gegenstandsbereiche ausdehnten und insbesondere das weite Feld populärer Bildkulturen für sich erschlossen. Dazu gehörten Werbung, Comics und eben auch Graffiti, dessen politische und soziale Aspekte in den frühen wissenschaftlichen Arbeiten eine wichtige Rolle spielten.7 Graffiti wurde als Eintrag in das von Harald Olbrich herausgegebene und in den späten 80er und frühen 90er Jahren neubearbeitete Lexikon der Kunst aufgenommen, wobei nicht nur kunst- und kulturhistorische, sondern auch politische Gesichtspunkte Berücksichtigung fanden.8 In den ersten Graffiti-Lexika im deutschsprachigen Raum, die etwa zur selben Zeit erschienen, den Werken von Peter Kreuzer9 und Bernhard van Treeck10, war »politisches Graffiti« ein eigenes Lemma. Es fällt auf, dass bereits die Autoren der frühen Jahre eine Entpolitisierung des Graffiti konstatierten. Peter Kreuzer notierte 1986 unter dem Stichwort »Polit-Graffiti« (bei dem tendenziell – ähnlich wie bei dem in jener Zeit
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häufig verwendeten Begriff der »Polit-Kunst« – eine künstlerische Abwertung mitschwingt): »Polit-Graffiti geben die unterschiedlichen politischen Standorte ihrer Urheber wieder. Es sind in den europäischen Städten Anhänger der großen demokratischen Parteien sowohl als auch kleinerer politischer Gruppierungen und rechts- und linksradikaler Gruppen. Ein Teil der politischen Graffiti (das gilt für Symbole, Bilder und Texte) wird in deutschen Städten sehr rasch von den Wänden entfernt, so daß politische Graffiti nicht mehr so stark in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten wie früher, etwa am Ende der 60er und in den 70er Jahren. Aber es gibt auch allgemein weit weniger Polit-Graffiti. Die Tendenz bei den Graffiti: Abnahme politischer (besonders ideologischer) Graffiti, Zunahme unpolitischer Graffiti; Abnahme verbaler, Zunahme der Bild-Graffiti.«11
Johannes Stahl, der zu den Pionieren der Graffiti-Forschung in Deutschland gehört, kam 1989 zu einem ähnlichen Befund, als er mit Bezug auf Baudrillard, die Popularisierung des modernen Graffiti in den 80er Jahren und dessen zunehmende Vereinnahmung durch den Kunst- und Buchmarkt schrieb: »Es scheint jedoch, daß jede ›Revolution der Zeichen‹, die Graffiti mit sich bringen könnten, immer nur bedingt revolutionär ausfällt. Während in New York die Graffiti auf der Leinwand landeten, sind die politischen Aphorismen der europäischen Spruch-Graffiti ebenfalls weitgehend gezähmt. In den letzten Jahren wurden immer mehr Graffiti-Sammlungen in Buchform veröffentlicht. Hier haben sich die Sprüche inzwischen auf eine immer traditioneller werdende Form witzig-spontaner Sprache verständigt, die überhaupt nicht mehr als ›Gegen‹-Öffentlichkeit auftritt.«12
Bernhard van Treeck konstatierte schließlich in der Neuauflage seines ursprünglich 1993 erschienenen Graffiti Lexikons unter dem Lemma »Politische Graffiti«: »Heute sind politische Graffitis in Deutschland und der westlichen Welt selten. Dies mag daran liegen, dass sich mit reduktionistischen Formeln heutzutage keine Probleme mehr lösen lassen. Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft hat zu einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit politischer Gruppen und damit auch zur Abnahme der entsprechenden Graffitis geführt. Die wenigen Spruchgraffitis, die sich heute in deutschen Städten noch finden, sind das Produkt von politisch [sic!] Gruppen wie Kurden, Hausbesetzern und Frauenrechtlerinnen. […] Die Pieces der Writer sind aufgrund der Wahl des Mediums immer auch in gewisser Hinsicht politisch. Eine darüber hinausgehende politische Botschaft aber fehlt ihnen. Insofern sind die populär gewordenen Äußerungen des französischen Philosophen Baudrillard aus dem Jahre 1973 [sic!], die den New Yorker Sprayern unterschwellige politische Rebellion unterstellten, eher Produkt seines Wunschdenkens als die Folge klarer Beobachtung.«13
Anmerkungen zum Ansatz und zur Methodik Der Eindruck vom Verlust des Politischen im Graffiti, der in diesen frühen Stimmen anklingt, soll im Folgenden aufgenommen und mit eigenen Beobachtungen ergänzt, kommentiert, modifiziert, aber auch relativiert und infrage gestellt werden. Darüber hinaus sollen Anzeichen einer Entwicklung aufgezeigt werden, die man als »Graffitisierung des Politischen« bezeichnen könnte. Darunter wird einerseits eine zunehmende Vereinnahmung der Graffiti-Ästhetik durch gesellschaftliche und politische Akteure,
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Abb. 1: Friedenstaube, München 1983–85
Martin Papenbrock
Abb. 2: A[narchie], München 1983–85
andererseits aber auch eine Stilisierung politischer Botschaften und Selbstpositionierungen der Graffiti-Szene mit den Mitteln des Style Writing verstanden. Um die Entwicklungen deutlich zu machen und zu belegen, werden Sponti-Graffiti der frühen 80er Jahre aus der Sammlung Kreuzer und Tags und Comments aus dem Style Writing der späten 90er bis frühen 10er Jahre, die in »Tatort-Fotos« der Polizei Mannheim und der Polizei Köln dokumentiert sind, in den Blick genommen. Alle drei Foto-Sammlungen befinden sich in der öffentlich zugänglichen INGRID-Datenbank.14 Die Sammlung Kreuzer umfasst Material aus den Jahren 1983 bis 1985. 15 Die Bilder stammen von dem Ethnologen Peter Kreuzer, der sie im Auftrag des Münchner Stadtmuseums fotografierte. Es handelt sich um etwa 5.000 Dias, die im Münchner Stadtarchiv aufbewahrt werden und von INGRID digital erfasst und zugänglich gemacht wurden. Der Bestand dokumentiert die Anfänge des Münchner Style Writing, aber auch das Sponti-Graffiti der frühen 80er Jahre. Die Mannheimer und Kölner Fotos dagegen stammen überwiegend aus der Zeit der Jahrtausendwende und wurden im Rahmen der Ermittlungstätigkeit der Polizei aufgenommen. Für die Polizei führt der Weg zur Täterermittlung in der Regel über die Tags, die Signaturen der Sprüher. Politische Schablonen- und Spruchgraffitis, zu denen es in der Regel keine Signaturen gibt, findet man in diesen Beständen deshalb kaum. Die Mannheimer und Kölner Fotos sind eher eine Quelle für Style Writing, insbesondere für dessen Kleinformen, die Tags und Comments. Wenn im Folgenden politische Graffitis aus den genannten Beständen herausgegriffen und gegenübergestellt werden, geschieht das nicht unter quantitativen Gesichtspunkten. Es werden keine statistischen Auswertungen durchgeführt und keine entsprechenden Vergleiche angestellt. Gleichwohl ist der Zugang empirisch gestützt und bezieht sich auf konkrete, historisch genau zu bestimmende Beispiele, nicht auf das Phänomen Graffiti im Allgemeinen. Es ist ein exemplarisches Vorgehen, das versucht, aus punktuellen Beobachtungen Thesen zu entwickeln und Erkenntnisse zu ziehen. Dabei wird Bezug genommen auf Ansätze der Forschung zur politischen Kunst, insbesondere auf einen Beitrag von Jutta Held, die 1985 mit Blick auf Picassos Guernica danach fragte, wie politische Wirkungen von Bildern zustande kommen.16 Sie hob vor allem die Rezeptionsbedingungen als entscheidende Faktoren hervor: das Vorhandensein einer politischen Kultur, in der das Bild verstanden und zum Symbol werden kann, eine kulturelle Kompetenz sowohl auf Seiten der Künstler:innen als auch der Rezipient:innen, die nicht nur
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Abb. 3: Atom-Bunker = Massengrab, Stoppt die Nato-Kriegspläne, Nur Abrüstung sichert, DKP, US-Raketen raus, München 1983–85
politische Bedeutungen im engeren Sinne, sondern auch die politischen Aspekte kulturgeschichtlicher Semantiken erkennt, und schließlich eine Diskussionskultur, in der die Bedeutung von Werken immer wieder neu ausgehandelt wird und das Werk dadurch aktuell und im Gespräch bleibt. Dieser Ansatz argumentiert ähnlich wie Bourdieus soziologische Theorie der Kunstwahrnehmung, die mit den Begriffen »Emissionsniveau« (des Kunstwerks) und »Rezeptionsniveau« (der Betrachtenden) die sozialen Parameter für das Verstehen (oder Nicht-Verstehen) von Kunst benennt.17 Anknüpfend an diese Überlegungen soll also im Folgenden nach den Rezeptionsbedingungen gefragt werden, nach dem politischen Kontext der Graffitis, nach der Einbindung der Graffiti-Kultur in die sozialen Bewegungen ihrer Zeit. Es geht nicht um die Frage, ob Graffitis (oder auch einzelne Graffiti-Sparten oder -Subgattungen) per se politisch sind oder nicht, sondern eher um eine Historisierung und Kontextualisierung, genauer gesagt um eine historisch differenzierende Sicht auf Graffitis. Politisches Sponti-Graffiti der frühen 80er Jahre aus der Sammlung Kreuzer Das Sponti-Graffiti der frühen 80er Jahre war im linken Protestmilieu der späten 70er Jahre verwurzelt, in der ökologischen Bewegung und der Friedensbewegung, der Gewerkschafts- und der Arbeiterbewegung.18 Die Jugend- und Protestkultur der Studentenbewegung, die getragen wurde von der Hoffnung auf einen gesellschaftlichen und politischen Wandel, hatte spätestens im Zuge des Deutschen Herbstes 1977 ihr friedliches Gesicht verloren. Der sozial-liberale Staat reagierte mit Druck und Härte auf die
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Abb. 4: DKP wählen, München 1983–85
Martin Papenbrock
Abb. 5: RSJ – roter Maulwurf, München 1983–85
Militarisierung der Proteste. Eine neue Angst vor der Autorität des Staates veränderte die Protestkultur, die nicht mehr frei und offen, sondern zunehmend anonym und im Verborgenen und nicht zuletzt auch in Form von Graffiti agierte. Die allgemeine Bedrohungslage hatte sich unterdessen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kaum verändert. Nach wie vor bestimmte die Furcht vor den Risiken der Atomkraft und dem Rüstungsgebaren der Großmächte die gesellschaftlichen Debatten. Wenn in unserem Zusammenhang vom Sponti-Graffiti der späten 70er und frühen 80er Jahre die Rede ist, sind nicht nur das Voluntaristische, das Bunte, das Subversive, der überraschende Witz und der kalkulierte Regelbruch gemeint, sondern im Rahmen der Fragestellung dieses Beitrags vor allem auch das Politische, das Radikale und das Militante, Ausdrucksformen, die ebenfalls zur Kultur der links-alternativen Gruppen gehörten, in denen sich nach dem Ende des SDS dessen versprengte frühere Mitglieder wiederfanden und neu organisierten, bevor sie dann am Ende bei den Grünen eine neue politische Heimat fanden. Zum Repertoire des politischen Graffiti der frühen 80er Jahre gehörten die bekannten Bilder und Zeichen der Friedensbewegung, die Friedenstaube (Abb. 1), 19 das Friedenssymbol20 und das Anarchiesymbol (Abb. 2),21 einzeln, mit zusätzlichem Dekorum oder als umkreister Buchstabe »A« in einem Wort. Diese Bilder und Zeichen gehören bis heute zum Kernbestand des politischen Graffiti in Deutschland. Konkreter wurde es vor allem in ausführlicheren, kombinierten oder aggregierten politischen Spruchgraffitis wie Atom-Bunker = Massengrab, Stoppt die Nato-Kriegspläne, Nur Abrüstung sichert, DKP, US-Raketen raus (Abb. 3).22 Dieses in friedenspolitischer Perspektive erstellte Graffiti-Konvolut in der Größe eines Pieces beansprucht eine ganze Wand für sich. Die Tonlage ist moderat, aber ernsthaft. Dass die DKP als Referenz oder Urheber genannt wird, mag Kreuzer davon abgehalten haben, es in seinem Lexikon zu veröffentlichen. Ähnliches galt vermutlich auch für das Graffiti DKP wählen (Abb. 4),23 das offenbar einen Neo-Nazi dazu provozierte, das »DKP« durchzustreichen und durch »SA« zu ersetzen, was wiederum zur Folge hatte, dass ein Dritter »SA« durchstrich und »Nazis raus« ergänzte. Auf derselben Wand findet man weitere Sprüche, darunter »Arbeit statt Raketen«, »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg« und den Hinweis auf die DKP.24 Neben politischen Forderungen finden sich in der Sammlung Kreuzer vereinzelt auch Schablonengraffitis längst vergessener Organisationen wie der RSJ – roter Maulwurf (Abb. 5),25 der Revolutionären Sozialistischen Jugendorganisation Roter Maulwurf, die
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Abb. 6: Klaus Paier (?): HOCH-SICHERHEITS-TRAKT, München 1983
in der ersten Hälfte der 80er Jahre aktiv war, bevor sie sich 1986 mit der KJD, der älteren »Kommunistischen Jugend Deutschlands« zu den »Autonomen Sozialistischen Jugendgruppen« (ASJG) verband. Auch rechte Graffitis hat Kreuzer dokumentiert, etwa die Info zur Haftentlassung des Neo-Nazis Michael Kühnen als kaum versteckte Drohung,26 und auch für die Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts gibt es, wie oben gezeigt, Beispiele. Rein ästhetisch sind auf den ersten Blick kaum Unterschiede zwischen linken und rechten Graffitis zu erkennen. Es werden zwar unterschiedliche Wörter und Symbole verwendet. Da die politischen Graffitis der frühen 80er Jahre aber nur in den seltensten Fällen ästhetisch markiert sind, gibt es diesbezüglich keine erkennbaren Distinktionen. All diese Graffitis hat Kreuzer nicht veröffentlicht, ebensowenig wie Graffitis, die mit dem RAF-Terrorismus sympathisierten (Buback, Ponto, Schleyer, und der nächste ist ein Bayer ergänzt um den Zusatz Guerilla)27 oder für bessere Haftbedingungen der inhaftierten RAF-Mitglieder eintraten (Zusammenlegung d. Gefangenen aus RAF + Widerstand)28. Möglich schien es ihm dagegen, das Graffiti Hoch-Sicherheits-Trakt (Abb. 6)29 abzubilden, das künstlerisch ambitioniert ist und sich stilistisch an den Graffitis des Aachener Wandmalers Klaus Paier orientiert,30 möglicherweise sogar von ihm selbst stammt, dessen politische Bildstärke aber durch den Spruch »drinnen ist es so wie draussen – nur anders« relativiert, wenn nicht gar gänzlich aufgehoben wird. Es ist also nicht so, dass Kreuzer in seinem Lexikon und in der in den 80er Jahren populären Taschenbuch-Reihe »Scene« des Heyne-Verlags (Untertitel: »Ein Spiegelbild der Szene, in der wir leben. Avantgardistisch, progressiv, alternativ«), der er Bildmate-
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rial zur Verfügung stellte, grundsätzlich auf politisches Graffiti verzichtete. Die politischen Graffitis schafften es in die Bücher, wenn sie frech und witzig waren, wenn sie ein spielerisches Element hatten. Die ›ernsten‹ politischen Graffitis, parteipolitische oder extremistische Botschaften und Parolen blieben dagegen unveröffentlicht. Das galt auch für die Publikationen anderer Autoren, etwa für den von Bernd Thomsen zusammengestellten Abb. 7: »Nur weil Kinder gerne im Dreck Band Polit-Graffiti und Demo-Sprüche spielen«, Plakat, Landtagswahlen NRW 2017 aus der genannten Reihe, der bemerkenswerterweise kaum Abbildungen von politischem Graffiti im engeren Sinne enthält.31 Eine der besten Quellen für politisches Graffiti der frühen 80er Jahre in Deutschland ist der von Helmut Schmitz fotografierte Band Spray-Athen. Graffiti in Berlin,32 der das frühe Berliner Mauer-Graffiti und die Graffitis der Berliner Hausbesetzer-Szene dokumentiert. Aber auch dieser Band, der auf Style Writing und künstlerisches Graffiti verzichtete, vermied die Abbildung von politisch extremen Positionen. Ein erstes Fazit zu den politischen Graffitis der frühen 80er Jahre, das zeigt der Blick in die Sammlung Kreuzer, könnte lauten: Es gab sie durchaus, aber es war offenbar nicht opportun, sie zu veröffentlichen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, weil sie nicht dem damals populären Bild des Graffiti entsprachen, wie bereits Stahl 1989 festgestellt hat.33 Graffiti durfte frech sein, auch spielerisch militant, aber es musste eben im Ungefähren oder Imaginierten bleiben. Sobald es real und radikal wurde, wie bei den Hinweisen auf die DKP und die RAF, wurde es nicht mehr veröffentlicht, konnte es die Medienschwelle nicht mehr überschreiten. Das Bild von der Entpolitisierung des Graffiti, das von den Autoren der 80er und 90er Jahre gezeichnet wurde, ist also zu relativieren. Es waren wohl eher publizistische Konventionen und Grenzziehungen, die zum Eindruck der Entpolitisierung führten. Greift man an dieser Stelle noch einmal auf die Überlegungen von Jutta Held zur politischen Wirksamkeit von Bildern zurück und wirft einen Blick auf die Rezeptionsbedingungen von politischem Graffiti in den frühen 80er Jahren, so kann man feststellen, dass eine politische Kultur, die das Verstehen der Graffitis ermöglicht, durchaus vorhanden war, dass aber vor allem auf Seiten der Sprüher oft die kulturelle Kompetenz fehlte, der eigenen ›Message‹ über die reine Aussage hinaus eine wenn nicht künstlerische, so doch mindestens kreative Note hinzuzufügen und damit eine über das Politische hinausgehende kulturelle Relevanz der verbreiteten Botschaft zu markieren, und dass die Rezeptionsbedingungen eingeschränkt waren, weil sich zumindest die publizierenden Instanzen und Akteure darüber einig waren, die Anliegen und Parolen der DKP und der RAF und ihrer Sympathisant:innen nicht zu thematisieren, selbst wenn es sich (wie im Fall der DKP) um antifaschistische und friedenspolitische Positionen oder (wie im Fall der RAF-Sympathisant:innen) um eine Humanisierung von Haftbedingungen handelte. Aus der Distanz von 40 Jahren spricht und schreibt es sich natürlich leichter über diese
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Themen. Damals berührten diese Felder offenbar ein Tabu. Wenn wir uns aber heute mit politischem Graffiti dieser Zeit beschäftigen, macht es keinen Sinn mehr, diese Bereiche auszublenden. Vielleicht kann gerade auch die Auseinandersetzung mit Graffiti dazu beitragen, das Politische der damaligen Zeit besser verstehen und einschätzen zu können und die sogenannte »Gegenöffentlichkeit« sichtbar zu machen. Graffiti und Politik nach 1990 Der Fall der auf westlicher Seite über und über besprühten Berliner Mauer zog in den 90er Jahren eine politische Neubewertung von Graffiti im deutschsprachigen Raum nach sich. Graffiti galt nach diesem historischen Ereignis nicht mehr ausschließlich als Störfaktor im öffentlichen Raum und als Straftatbestand, sondern zunehmend als Ausdruck und Symbol von Freiheits- und Demokratiebestrebungen und in diesem Zusammenhang als etwas Gutes. Segmente der besprühten Mauer stehen heute als Denkmäler und/oder als künstlerische Objekte überall in der Welt, unter anderem im Skulpturengarten der Vereinten Nationen in New York – als Geschenk des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse. Politiker lassen sich – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – bei Veranstaltungen und im Wahlkampf gern vor Graffiti-Kulissen fotografieren. Die Junge Union ließ 1994 die Bühne für ihren Deutschlandtag in Berlin mit einem Graffiti illustrieren, vermutlich ohne zu wissen, dass sie ausgerechnet ODEM, einen prominenten, von der Polizei gesuchten Berliner Sprüher damit beauftragt hatten. Ein Foto des ›Bühnenbildes‹ mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, der der Hauptredner der Veranstaltung war, veröffentlichte ODEM später in seiner Autobiographie in einer Reihe mit seinen spektakulärsten Pieces.34 Der heutige Bundesfinanzminister Christian Lindner nutzte im Landtagswahlkampf 2017 in Nordrhein-Westfalen ein Graffiti-Motiv für eines seiner Wahlplakate (Abb. 7).35 Es zeigt den damaligen Spitzenkandidaten der FDP, wie er an einer mit Tags übersäten Wand vorbeigeht. Neben ihm ist zu lesen: »Christian Lindner: Nur weil Kinder gerne im Dreck spielen, müssen die Schulen nicht so aussehen«, und darunter, etwas kleiner: »Es geht um unser Land«. Graffiti wird hier zwar abwertend als »Dreck« bezeichnet und als Symptom für ein marodes Bildungssystem und Gefahr für das Vaterland dargestellt. Der Politiker nutzt den Graffiti-Kontext und die Graffiti-Ästhetik auf der anderen Seite aber auch, um seinem biederen, technokratischen Image kontrastierend einen Akzent von Unerschrockenheit, Street-Credibility und Härte hinzuzufügen. Dies ist ein Beispiel für eine von mehreren Formen der eingangs angesprochenen »Graffitisierung des Politischen«. Nicht auf die ›Message‹ des einzelnen Graffitis kommt es bei diesem Bildzitat einer getaggten Wand an, sondern auf den ›Style‹, nicht um die Inhalte geht es, sondern um die Erscheinungsform, die Ästhetik. Politisches Graffiti aus den Beständen der Polizei Mannheim und der Polizei Köln Die Neubewertung von Graffiti nach dem Fall der Berliner Mauer führte in den 90er Jahren und vor und nach der Jahrtausendwende zu einem Anstieg des GraffitiAufkommens und zu einer Professionalisierung der Szene. Auf der anderen Seite wurden Sonderkommissionen gebildet und Gesetze verschärft, um das Phänomen einzudämmen.36 Die Ermittlungsfotos aus den Beständen der Polizei Mannheim (1998–2013)
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und der Polizei Köln (2013– 2020), die in INGRID erfasst und für die Forschung zugänglich sind, dokumentieren vor allem die illegalen Aktivitäten im Bereich des Style Writing. Auch wenn bestimmte, als extremistisch und staatsgefährdend wahrgenommene politische Graffitis in den Zuständigkeitsbereich des StaatsAbb. 8: CLASSWAR, München 2008 schutzes fallen, enthalten die Polizeibestände doch ein breites Spektrum politischer Äußerungen. Was die Themen und Inhalte angeht, so ist im Gegensatz zu den Münchner Graffitis der frühen 80er Jahren auffällig, dass sich in den jüngeren Beständen nationale Themen und Nationalismen häufen, dass politische Konflikte aus den Herkunftsländern von Flüchtlingen und Migranten aufgebracht werden oder dass sich nationale Identitäten beziehungsweise das nationale Bewusstsein der Migrantenmilieus Ausdruck verschaffen. Beispiele aus diesem Themenfeld sind Graffitis wie UÇK,37 Es lebe Serbien,38 Tunesien 4-eva39 oder POLACKE POWER,40 aber auch offen faschistische Graffitis wie USTAŠA CROATIA.41 Die Geschichte der RAF spielt dagegen kaum noch eine Rolle, ist allenfalls noch in Spuren präsent wie in RAF dich auf.42 Ähnliches gilt für die DKP und andere kommunistische Parteien und Organisationen. Stattdessen ist eine Häufung des »Hammer und Sichel«-Symbols zu erkennen, entweder einzeln43 oder in Graffitis wie CLASSWAR (Abb. 8),44 Kommunismus JETZT45 oder HOCH DIE INTERNATIONALE SOLIDARITÄT.46 Auffällig im Vergleich zu den frühen Münchner Graffitis ist auch die Menge an Antifa-Graffitis, nicht selten sogar in Form von großflächigen Pieces.47 Die politischen Botschaften, mit denen wir es in den Polizei-Beständen zu tun haben, stammen nicht selten von Style Writern. Manchmal sind es selbständige Arbeiten, manchmal kommentierendes Beiwerk zu größeren Pieces. Oft ist es dann nicht mehr als ein Akzent, der dem Selbstbild beziehungsweise dem Namen des Sprühers hinzugefügt wird. Das Politische wird von den Style Writern offenbar in erster Linie als Bestandteil einer persönlichen Identität, weniger in seiner gesellschaftlichen Bedeutung und allenfalls dezent als Aufforderung zur Veränderung der Verhältnisse begriffen. Auffällig ist die Häufung von Graffitis, in denen keine konkreten Themen angesprochen werden, sondern in denen sich eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen artikuliert, oft im jugendsprachlichen Modus der Hate Speech. Dazu gehören etwa Graffitis wie Fuck the System48 oder FiCK DeN STAAT (Abb. 9),49 entweder als selbständige Graffitis oder als Comment in einem Piece wie KILL THIS SYSTEM 50 oder HATE THE STATE.51 Bei den Comments ist natürlich zu erwarten, dass sie im TagStyle geschrieben sind, bei den selbständigen Graffitis ist das eher auffällig. Der TagStyle verleiht der Botschaft eine zusätzliche aggressive Note.52 Diese haben wir auch bei Graffitis wie NO G8,53 »ROTE AKTiON« (Abb. 10)54 oder der Aufforderung des rechten Lagers ROTFRONT bekamPFEN [sic!].55 Wenn man den Tag-Style als SzeneMarkierung interpretiert, bedeutet dies, dass die politischen Lager offenbar quer durch die Graffiti-Szene verlaufen. Die auffallend häufige Verwendung des Tag-Styles für
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›Message‹ und ›Style‹
Abb. 9: FiCK DeN STAAT, Mannheim 2007
Abb. 10: »ROTE AKTiON«, Köln 2015
politische Botschaften ist eine weitere Spielart der »Graffitisierung des Politischen«, eine subkulturelle Ästhetisierung der Politik, wenn man so will, der es eher um den ›Style‹ als um die ›Message‹ geht. Greift man zum Schluss noch einmal auf die Ausgangsfrage von Jutta Held zurück, »Wie kommen politische Wirkungen von Bildern zustande?«, so ist auch für das Graffiti der Jahrtausendwende festzuhalten, dass durchaus eine politische Kultur existierte, die ein Verständnis der Graffitis ermöglichte, wenn dies im Hinblick auf die politischen Themen der Migrantenmilieus manchmal auch nur für bestimmte Gruppen der Fall war. Die auffällige ästhetische Markierung einiger politischer Graffitis durch die Verwendung des Tag-Styles könnte man als kreatives Element interpretieren, in dem sich eine gewisse kulturelle Kompetenz artikuliert, die allerdings auf die Graffitikultur begrenzt ist. Kulturelle und geschichtliche Kompetenz kommt natürlich auch in Graffitis wie Hoch die internationale Solidarität mit Hammer und Sichel zum Ausdruck, die eine Vertrautheit mit der Geschichte und den Symbolen der Arbeiterbewegung, vielleicht aber auch nur zeitgenössische Demo-Erfahrung verrät. Bemerkenswert ist, wie bei einigen Themen wie etwa den Jugoslawien-Kriegen um politische Semantiken gerungen wird, indem politisch unterschiedliche Positionen wie UÇK (der bewaffnete Widerstand der albanischen Minderheit in Serbien), USTAŠA CROATIA (der Hinweis auf den kroatischen Faschismus der 20er und 30er Jahre) und »Es lebe Serbien« (in Deutschland eine politische Außenseiterposition, die es aber dank Peter Handtke bis in die Feuilletons geschafft hat) markiert werden. Als vorläufiges Fazit ließe sich festhalten, dass sich im Graffiti immer wieder Positionen, gerade auch politisch radikale Positionen artikulieren, die die mediale Schwelle in der Regel nicht überschreiten und deshalb in der Öffentlichkeit anderweitig kaum wahrgenommen werden. Ob sie allerdings politische Wirkungen entfalten, ist eher zu bezweifeln. Man müsste wohl einräumen, dass den politischen Graffitis in den meisten Fällen sowohl die künstlerische als auch die kulturgeschichtliche Kompetenz fehlt, die es über den engeren Adressatenkreis hinaus für eine größere Gruppe kulturell anschlussfähig machen könnte. Darüber hinaus verhindert die Radikalität ein höheres Maß an medialer Aufmerksamkeit und damit verbunden an öffentlichem Interesse, die sie zum Gegenstand einer breiteren Diskussion werden lassen könnten.
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Während es unter diesen Umständen auch kaum vorstellbar ist, dass einzelne Graffitis eine politische Wirkung entfalten, die etwa mit Picassos Guernica vergleichbar wäre, die also die internationale Aufmerksamkeit dauerhaft auf ein bestimmtes politisches Ereignis lenken und entsprechende Diskussionen provozieren könnten, ist das für einzelne Motive und Symbole wie die Friedenstaube oder das Victory-Zeichen ohne weiteres denkbar. Darüber hinaus kann das Phänomen Graffiti an sich durchaus den Status eines politischen Sinnbilds erlangen. Offenkundig wird dies am Beispiel der Berliner Mauer mit den auf ihr befindlichen Graffitis als Symbol westlicher Freiheits- und Demokratievorstellungen. Ausschlaggebend für die politische Bedeutung ist in diesem Zusammenhang aber nicht die ›Message‹, sondern der ›Style‹ – Symptom einer »Graffitisierung des Politischen«. 1 Zur Geschichte und Typologie des modernen Graffiti und der Street Art vgl. unter anderem
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Johannes Stahl: Street Art. Königswinter 2009; Anna Waclawek: Graffiti and Street Art. London 2011; Jeffrey Ian Ross (Hg.): Routledge Handbook of Graffiti and Street Art. London/New York 2016; Martin Papenbrock, Doris Tophinke: »Graffiti. Formen, Traditionen, Perspektiven« In: Heiko Hausendorf/Marcus Müller (Hg.): Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation. Berlin 2016 (Handbuch Sprachwissen, Bd. 16), 88–109; Johannes Stahl: »Some Defining Aspects in Graffiti, Street Art and Urban Art« In: Ulrich Blanché, Ilaria Hoppe (Hg.): Urban Art: Creating the Urban with Art. Proceedings of the International Conference at the Humboldt-Universität zu Berlin. 15th–16th July 2016. Lissabon 2018, S. 19–28. Zur Geschichte des Schablonengraffitis vgl. Ulrich Blanché (Hg.): Stencil Stories. Geschichte des Schablonen-Graffitis. Heidelberg 2022. Zum (politischen) Parolengraffiti vgl. Christian Grimm: »Anmerkungen zum Phänomen der Wandparolen« In: Bayerische Verwaltungsblätter, 1984, H. 5, S. 134–138. Zur Geschichte des Politikbegriffs vgl. Volker Sellin: »Politik« In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 789–874; Wilfried Nippel: »Polis«; Christian Meier: »Politeia«, Christian Meier, Paul-Ludwig Weinacht, Ernst Vollradt: »Politik«, Ernst Vollrath: »Politisch, das Politische« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 7, Darmstadt 1989, Sp. 1031–1075. »Interview – Denk – Im Zeichen des Aufstands«. https://ilovegraffiti.de/blog/2012/11/21/inter view-denk-im-zeichen-des-aufstands/ (Aufruf 12.10.2022). Bezug genommen wird auf: Jean Baudrillard: »KOOL KILLER ou l’insurrection par les signes« In: Interferences, 3/1975 (dt.: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978). Zum Aufkommen der Graffiti-Bewegung in den USA in den 70er Jahren vgl. Norman Mailer, Jon Naar: The Faith of Graffiti. New York 1974, Neuauflage 2009; David Ley, Roman Cybriwsky: »Urban Graffiti as Territorial Markers« In: Annals of the American Geographers, 64/1974, S. 491-505 (dt.: »Stadt-Graffiti als Territorialmarkierung« In: Siegfried Müller (Hg.): Graffiti. Tätowierte Wände. Bielefeld 1985, S. 175-187; Craig Castleman: Getting Up. Subway Graffiti in New York. Cambridge 1982; Steven Hager: »Unterdrückung und Widerstand: Die kulturellen Ursprünge der New York City Graffiti« In: Coming from the Subway. New York Graffiti Art. Geschichte und Entwicklung einer außergewöhnlichen Bewegung. Erlangen 1992, S. 44–47; Jon Naar: The Birth of Graffiti. München 2007; Jack Stewart: Graffiti Kings.
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New York City Mass Transit Art of the 1970s. New York 2009; Roger Gastman, Caleb Neelon: The History of American Graffiti. New York 2011. 6 Zu den Anfängen und zum Clash der Graffiti-Kulturen in Europa in den frühen 80er Jahren vgl. Martin Papenbrock: »Wie alles anfing. Peter Kreuzer und das Münchner Graffiti der frühen Jahre« In: Kunstforum International, 260/2019, S. 98-109. 7 Zu den frühen Arbeiten über Graffiti, die auch die politischen Aspekte berücksichtigten, gehörten im deutschsprachigen Raum: Harald Naegeli: Mein Revoltieren, mein Sprayen. Bern 1979; Walter Grasskamp (Hg.): Wilde Bilder. Graffiti und Wandbilder. Köln 1982 (= Kunstforum International, 50); Müller 1985 (wie Anm. 5). 8 Vgl. »Graffiti« In: Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie. Begründet von Gerhard Strauss, herausgegeben von Harald Olbrich. Neubearbeitung. 7 Bde. Leipzig 1987 ff., Bd. II (1989), S. 830–831. 9 Peter Kreuzer: Das Graffiti-Lexikon. Wand-Kunst von A bis Z. München 1986. 10 Bernhard van Treeck: Graffiti Lexikon. Street Art – legale und illegale Kunst im öffentlichen Raum. Moers 1993 ff. 11 Kreuzer 1986 (wie Anm. 9), S. 269–270. 12 Johannes Stahl (Hg.): An der Wand. Graffiti zwischen Anarchie und Galerie. Köln 1989, S. 35. 13 Bernhard van Treeck: »Politische Graffiti« In: Ders.: Graffiti Lexikon. Legale und illegale Malerei im Stadtbild. Völlig überarbeitete Neuausgabe. Berlin o.J. [1998], S. 207–210, hier S. 208–209. In der Erstauflage des Lexikons gibt es einen kürzeren Eintrag zum politischen Graffiti noch ohne die zitierte Passage. Vgl. van Treeck 1993 (wie Anm. 10), S. 124–125. In der dritten Auflage ergänzte van Treeck seine Ausführungen zu den Pieces der Writer um ein Zitat des Münchner Sprühers Loomit (»Writing an sich ist schon ein Politikum. Und es gibt ja auch Sprayer, die ihre Bilder politisch nutzen. […]«) und um das Foto eines politischen Pieces des Essener Sprühers DEMON aus dem Jahr 1999 mit dem Comment »Kein Friede mit Kapitalismus und Polizeistaat«. Vgl. Bernhard van Treeck: Das große Graffiti-Lexikon. Stark erweiterte Neuausgabe. Berlin 2001, S. 316, Abb. S. 244. Den Hinweis auf die verschiedenen Ausgaben verdanke ich Ulrich Blanché. 14 Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. 2016–. URL: https://www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/ingrid/. Auf Fotos aus der Datenbank wird mit der Nummer (#) des jeweiligen Graffiti-Objekts (System-ID) verwiesen. Zur Entstehung der Datenbank vgl. Martin Papenbrock, Doris Tophinke: »Graffiti digital. Das Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID)« In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 15 (2018), H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2018/id=5571, Druckausgabe: S. 159–172. 15 Zu Peter Kreuzer und seiner Graffiti-Sammlung vgl. Papenbrock 2019 (wie Anm. 4). 16 Jutta Held: »Wie kommen politische Wirkungen von Bildern zustande? Das Beispiel von Picassos ›Guernica‹« In: Das Argument, 153/1985, S. 701–710. Wiederabgedruckt in: Jutta Held: Avantgarde und Politik in Frankreich. Berlin 2005, S. 170–187. Engl.: Jutta Held: »How Do the Political Effects of Pictures Come About? The Case of Picasso´s Guernica« In: Oxford Art Journal, 11/1988, H. 1, S. 33–39. 17 Vgl. Pierre Bourdieu: »Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung« In: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/Main 1974, S. 159–201. 18 Die nachfolgenden Ausführungen zu den politischen Hintergründen für das Graffiti der 80er Jahre greifen Überlegungen auf, die ich bereits in anderen Zusammenhängen formuliert habe, und führen sie zusammen. Vgl. Papenbrock 2019 (wie Anm. 6) und zuletzt Martin Papen-
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brock: »Tod und Tanz im Graffiti der frühen 1980er Jahre« In: Moritz Woelk (Hg.): Harald Naegeli in Köln. Sprayer und Zeichner. Köln 2022, S. 124–139. Friedenstaube, München 1983–1985, #66982. Vgl. Peace, München 1983–1985, #67619. A[narchie], München 1983–1985, #67353. Atom-Bunker = Massengrab, Stoppt die Nato-Kriegspläne, Nur Abrüstung sichert, DKP, USRaketen raus, München 1983–1985, #69279. DKP wählen, München 1983–1985, #104402. Vgl. Arbeit statt Raketen, München 1983–1985, #104399. RSJ – roter Maulwurf, München 1983–1985, #69646. Vgl. Kühnen kommt wieder! (mit Hakenkreuz), München 1983–1985, #68239. Buback, Ponto, Schleyer, und der nächste ist ein Bayer, München 1983–1985, #68462. Zusammenlegung d. Gefangenen aus RAF + Widerstand, München 1983–1985, #65665. Klaus Paier (?):Hoch-Sicherheits-Trakt, München 1983–1985, INGRID #64723. Auch in: Kreuzer 1986 (wie Anm. 9), S. 161. Kreuzer versieht die Zuschreibung an die Aachener Wandmaler mit einem Fragezeichen. Vgl. ebd. Zu den Aachener Wandmalern vgl. Walter Grasskamp: »Politische Wandbilder: Aachen« In: Grasskamp 1982 (wie Anm. 7), S. 124–133; Walter Grasskamp: »Gegendemonstration. Der Aachener Wandmaler« In: Ders.: Der lange Marsch durch die Illusionen. Über Kunst und Politik. München 1995, S. 154–162. Polit-Graffiti und Demo-Sprüche. Gesammelt von Bernd Thomsen. München 1985. Spray-Athen. Graffiti in Berlin. Fotografiert von Helmut Schmitz mit einem Vorwort von Detlef Michel. Berlin 1982. Vgl. Stahl 1989 (wie Anm. 12), S. 35. Vgl. Jürgen Deppe, ODEM: On the Run. Eine Jugend in der Graffiti-Szene. Berlin 1997, Abb. XVI, S. 161. »Nur weil Kinder gerne im Dreck spielen«, Wahlplakat der FDP, Landtagswahl NRW 2017. 2005 ergänzte der Gesetzgeber den §303 STGB (zur Sachbeschädigung) um den Satz 2, der nicht nur die Beschädigung und Zerstörung, sondern auch die unbefugte Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache unter Strafe stellte und als »Graffitibekämpfungsparagraph« bekannt wurde. Vgl. Jörg Wünschel: »Der Graffitibekämpfungsparagraph – Ein Keulenhieb des Strafrechts gegen die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Kunst?« In: KUR. Kunst und Recht. Journal für Kunstrecht, Urheberrecht und Kulturpolitik, 2008, H. 2, S. 42–45. UÇK, Mannheim 2008, #44562. Es lebe Serbien, Mannheim 1999, #56008. Tunesien-4-eva!, Mannheim 2007, #112760. POLACKE POWER, Mannheim 2006, #98867 USTAŠA CROATIA, Mannheim 2000, #124020. RAF dich auf, Mannheim 1998, #103636. Hammer und Sichel, Mannheim 2006, #42987. CLASSWAR, München 2008, #34071. Dieses Graffiti stammt aus dem Bestand der Polizei München. Kommunismus JETZT, Mannheim 2008, #44107. HOCH DIE INTERNATIONALE SOLIDARITÄT, Mannheim 2011, #103386. Vgl. ANTIFA, Mannheim 2006, #43199. Fuck the System, Köln 2015, #84780. FiCK DeN STAAT, Mannheim 2007, #100971.
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50 NCS mit Comment KILL THIS SYSTEM, Mannheim 2008, #108676. 51 RioT mit Comment HATE THE STATE, Mannheim 2006, #42052. 52 Zum Tag-Style vgl. Martin Papenbrock: »Taggen als Kunstform. Zur Stilistik von Writer-
Signaturen« In: Ludger Lieb, Stephan Müller, Doris Tophinke (Hg.): Graffiti. Deutschsprachige Auf- und Inschriften in sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Wien 2017, S. 109–131. 53 NO G8, Mannheim 2007, #101404. 54 ROTE AKTiON, Köln 2015, #85589. 55 ROTFRONT bekamPFEN, Mannheim 2006, #99694.
Johannes Stahl »Die Wand ist dafür geschaffen.« Anmerkungen zu einem politischen Begriff
Eisenach: Ohne dass ich darauf wirklich vorbereitet bin, erreicht mich eine Botschaft an der Wand. »War« (Abb. 1) steht da, in silbernen, nur leicht in Bewegung versetzten Blocklettern. Oder möchte ich das nur lesen und einer der überaus zahlreichen Writer oder eine Crew ist auf das ausgefallene Wort »HAR« gekommen?1 Im Übrigen weicht der Schriftzug geschickt sowohl der Sockelzone als auch den beiden Fenstern aus. Das ist keineswegs Standard bei solchen Throw-Ups. Erst beim Nähertreten bemerke ich eine in roten Großbuchstaben eingeschriebene Botschaft am oberen Rand des ersten Buchstabens: »Die Wand ist dafür geschaffen.« Der Satz trifft eine Frage, die seit langem eine Nebenstrecke der Diskussion um Graffiti und Street Art bildet. Verheißungen der Wand Es kann unterstellt werden, dass kein Bauherr ein Gebäude und die dazu notwendigen Wände vorrangig errichten lässt, damit jemand anderes darauf schreibt, zeichnet oder malt. Wände bieten zunächst einmal Schutz, vor Eindringlingen, vor ungewollten Einblicken, vor Kälte oder anderen äußeren Einflüssen. Diese Barrieren sind in mehrfacher Hinsicht praktisch: man kann damit das Eigentum schützen, sich von der Umwelt abgrenzen, und sich und das Seine gleichzeitig auch nach außen unterscheiden. Die Gestaltung der Innen- und Außenseiten einer Wand macht sie auch zum Bildträger. Eine Dekoration der Außenseite der römischen Stadtmauer in Köln (Abb. 2) beispielsweise signalisiert nach außen, was sich dahinter (intra muros) verbirgt: Zivilisation und Kultur.2 Solche Dekorationssysteme können übrigens gegebenenfalls verändert und gesellschaftlichen Verhältnissen und Geschmacksvorstellungen angepasst werden. Die entsprechenden Bildprogramme an historischen Rathäusern können hier interessante Aufschlüsse geben. Virulent ist der Umstand der Veränderlichkeit zur Zeit des Historismus geworden, als die Ornamentierung der Fassaden und Innenwände sich an allen möglichen historischen Stilen gleichzeitig orientierte. Der Wiener Architekt Adolf Loos hielt mit seinen Gebäuden, vor allem jedoch mit seinem Aufsehen erregenden Artikel »Ornament und Verbrechen« dagegen: »Das haus hat allen zu gefallen. Zum unterschiede vom kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das kunstwerk ist eine privatangelegenheit des künstlers. Das haus ist es nicht. Das kunstwerk wird in die welt gesetzt, ohne daß ein bedürfnis dafür vorhanden wäre. Das haus deckt ein bedürfnis. Das kunstwerk ist niemandem verantwortlich, das haus jedem.« 3
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Johannes Stahl
Abb. 1: Wandbeschriftung in Eisenach, Aufnahme 2010
Folgt man dieser Argumentation, bleibt zu fragen: Sind die Wand und ihre Gestaltung über ihre schützende Funktion hinaus dafür geschaffen, Verantwortung zu übernehmen? Und wenn ja, wo und wie geschieht das heute, und vor allem wem gegenüber? »Die« Mauer »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« Zwei Monate nachdem Walther Ulbricht seinen berühmten Satz gesagt hatte, entstand die Berliner Mauer (Abb. 3). Dass die Mauer einen Zweck hatte ist heute unbestritten. Allerdings gehen die Interpretationen der Funktionen, Zwecke und Eindrücke weit auseinander: zwischen »antifaschistischem Schutzwall« (so die offizielle Bezeichnung der DDR-Führung) über »chaotisches Gesamtkunstwerk«4 bis zur Brandmarkung als Gefängnismauer reichen die Interpretationen. Zu einem Zeitpunkt, als die Mauer längst eingerissen, filetiert und teilweise verkauft war, geriet ein Aspekt in den Vordergrund, der vormals weniger Beachtung gefunden hatte. Durch die Auflösung des Mauerverbunds und die weltweite Verstreuung der Fragmente5 wuchs den einzelnen Elementen und ihren Beschriftungen eine neue Bedeutung zu. Als Gattung betrachtet, erscheinen die fragmentierten Mauerstücke als Spolien oder gar als Einzelskulpturen. Ein Grund dafür ist zunächst einmal, dass niemand die Funktion als trennenden Wandverbund fortschreiben mochte, sondern dass die ma-
»Die Wand ist dafür geschaffen.« Anmerkungen zu einem politischen Begriff
terielle Auflösung der Mauer durch Abbau oder Mauerspechte gewünscht oder zumindest toleriert worden ist. Zudem sind die Mauerstücke als einzelne Fragmente offensiv vermarktet worden (Abb. 4).6 Durch diese Metamorphose von der Wand zur Spolie kann man diese Fragmente heute zumeist wie viele andere dreidimensionale Denkmale umschreiten – und sie haben die gleichen Herausforderungen, ihre Botschaften in Konkurrenz zu anderen Veröffentlichungen zu überbringen. Die beschriftete Seite erhält dabei in den meisten Aufstellungen endgültig das entscheidende Gewicht für die Deutung – und entsprechende Beschilderungen unterstreichen das. Vormals hatten Vorderund Rückseite unterschiedliche, aber jeweils gewichtige und von der
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Abb. 2: Nordostturm der Römischen Stadtbefestigung von Köln, Zustand 2017
Abb. 3: Das drübensche Berlin: Darstellung Westberlins aus östlicher Perspektive, auf der Westseite der Mauer, 1987
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Abb. 4: Mauerstück in Hannover, Zustand 2016
Abb. 5: Mauerfragment auf dem Terrain der ägyptischen Botschaft in Berlin mit vom Berliner Künstler Andreas von Chrzankowski Aka Case gespraytem Porträt des ägyptischen Aktivisten Khaled Said (1982-2010), 2011, Aufnahme 2014
Johannes Stahl
Perspektive der Betrachtenden abhängige Bedeutungen (wie im übrigen bei jeder Wand). Gleichzeitig zeigt sich, dass die ursprünglich unbeschriftete Rückseite heute selten diesen Zustand behalten hat – und dass damit die vormals deutliche und lesbare Trennung der Sichtweisen aufgeweicht ist. Durch die weit auskragenden Bodenflächen auf der ehedem östlichen Seite der Mauer bleibt allerdings die ehemalige Orientierung erkennbar. Gleichwohl lassen die Beschriftungen und Bemalungen durch ihren Alterungsprozess Rückschlüsse auf den Zustand vor 1989 zu. Die beidseitige Beschriftung geht nicht zuletzt darauf zurück, dass manche Mauerstücke nach 1989 bewusst für Graffiti freigegeben wurden: dafür erschien die Mauer jetzt wie geschaffen. Heute weisen die Nutzungen der Fragmente einen mitunter erstaunlich großen Spielraum auf. Die Lesarten haben sich jedoch neben den üblichen Existenzbehauptungen oder Memorialgraffiti weitgehend auf Aussagen eingependelt, die Freiheitsgedanken in den Mittelpunkt der Deutungen rücken. Einige Nutzungen, wie ein Fragment auf dem Terrain der ägyptischen Botschaft in Berlin (Abb. 5), erweitern die ursprünglichen Kontexte für ein Memorial, das an einen Aktivisten des ägyptischen Frühlings erinnert. Gerade im Fall der Nutzung (und inszenierenden Einfassung) amerikanischer Einrichtungen wie der Ronald Reagan Presidential Library and Museum in Simi Valley7 oder dem General George Patton Museum in Fort Knox8 zeigen sich die Mauerfragmente gewissermaßen als Trophäen aus einem gewonnenen kalten Krieg, in welchem sich die westliche Seite gerne als »frei« darstellt. Historische Narrative wie die Einheit Deutsch-
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lands oder das Schicksal von Berlin, die vormals insbesondere in Deutschland die Inhalte bestimmte, treten bei dem internationalen Auftritt eher zurück. Eine Wandzeichnung Im Jahre 1980 hatte Harald Naegeli auf das vermauerte Westportal der 1956 zum Schnütgen-Museum umfunktionierten ehemaligen St. Caecilienkirche in Köln eine Zeichnung gesprayt (Abb. 6). Sie zeigte ein mannshohes Skelett, das sich breitbeinig in den Eingang stellt und die beiden Arme zu den Pfeilern hin ausstreckt. Der Sprayer hat mit schwarzer Farbe auf einen Untergrund aus Tuffstein gezeichnet. Vor dieser ehemals eher versteckten Situation hinter dem 1980 noch benachbarten Kölnischen Kunstverein erstreckt sich ein grasbewachsener Platz mit einigen Bäumen. Die ausgebreiteten Arme von Naegelis Sprayzeichnung lassen die Deutung Abb. 6: Harald Naegeli: Wandzeichnung am offen: »Das Skelett auf dem zugemauerWestportal der ehemaligen Kirche St. Caeciten Eingang der St. Caecilienkirche lien in Köln; Zustand 1982 öffnet das Portal, um es selbst zu versperren.«9 Dabei ist nicht nur die Bezugnahme auf das vermauerte Portal der profanierten Kirche offensichtlich. Die Wand und ihre Gestaltung ist sichtbarer Bildträger, Bühne und gewissermaßen Rahmenhandlung der Zeichnung. Wie andere Arbeiten von Naegeli auch, entwickelt die Zeichnung ein Narrativ aus der architektonischen Situation. Dabei hat die Wand in dieser Bilderzählung eine mehrfache Rolle: Sie ist Träger der Zeichnung und behält gleichzeitig die Gestaltung ihrer eigenen Struktur. Das unterscheidet Wandzeichnungen auch grundsätzlich von großformatigen Pieces, die den darunter liegenden »Bildträger« zudecken. Im konkreten Fall ist das von Belang. Im Vergleich zum sichtbaren Mauerwerk der Wand außerhalb des Portals nutzt die Vermauerung des Portals andere Steinformate und deutet so auf die historische Veränderung hin. Naegelis Wandzeichnung macht sich das zunutze – egal ob man die Geste des Skeletts als Öffnung verstehen möchte oder als Sperrung. Man kann im Umgang mit diesen bereits durch die Wand gegebenen Informationen eine besondere Qualität der Wandzeichnung sehen – immerhin deckt sie diese Befunde nicht zu, sondern nutzt sie als Ausgangspunkt für ein Spiel mit ihnen. Diese Wandzeichnung ist sehr bekannt geworden und hat rasch das Wohlwollen der Museumsleitung und der Presse erlangt, die wiederholt die Zeichnung erwähnt hat. 1981 gab das auf die Präsentation mittelalterlicher Kirchenkunst spezialisierte Schnütgen-
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Museum die Kleine Festschrift zum dreifachen Jubiläum heraus. Im Zusammenhang mit Memento-Mori-Darstellungen ist als letztes Beispiel Harald Naegelis Wandzeichnung am Westportal angeführt: »Durch ihn erfuhren die Memento mori eine abermalige Bereicherung: ein Totengerippe, das mit seiner Vitalität durchaus an die besten Traditionen der Totentanzholzschnitte des 15. Jahrhunderts anknüpft, scheint seitdem den ohnehin vermauerten westlichen Zugang zur Caecilienkirche zu versperren.«10
2022 ist die Situation eine grundlegend andere. Der ehedem ostwärts gelegene Museumseingang ist aufgegeben, das Museum wird über einen längeren Gang mit dem Eingang des benachbarten neu gebauten Rautenstrauch-Joest-Museums verbunden. Im umfangreichen Foyer dieses Museums ist ein Café untergebracht, das auch über eine Außenterrasse verfügt. Für diese Terrasse bildet Naegelis Zeichnung nun eine Art Point de Vue, den man an der gegenüberliegenden Kirchenfassade sieht. Gleichzeitig ist die Sprayzeichnung stark verblasst. Dass Lacke von Naturstein im Laufe der Jahre absorbiert werden, könnte man Naegelis künstlerischem Umgang mit der Situation und ihrer Erzählung ebenfalls zurechnen. Zumindest hat er sich selbst durchaus bejahend zur Vergänglichkeit seiner Graffiti geäußert. Vielleicht sind Graffiti ja auch dafür da, um allmählich zu verblassen. 1 Nun möchte ich keineswegs in laufende Ermittlungen eingreifen, weder in polizeiliche noch in
journalistische. Eine flüchtige Recherche zeigt, dass es »HAR« auch anderenorts in der Umgebung von Eisenach gibt. 2 Eine Diskussion mit amerikanischen Studierenden über diese Bilder in Köln und ihre Funk-
tion führte 2018 zur Idee, dass McDonalds eventuell die mexikanische Seite der USGrenzbefestigungen werblich nutzen – und finanzieren – könnte. 3 Adolf Loos: »Ornament und Verbrechen« (1908) In: Adolf Loos: Sämtliche Schriften.
Wien/München 1962, S. 276–288.
– also bin ich« In: Elementarzeichen Urformen visueller Information. Ausst.-Kat. Neuer Berliner Kunstverein. Berlin 1985, S. 180. Anna Kaminsky: Die Berliner Mauer in der Welt. Hg. im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur. Berlin 2014. Ronnie Heidenreich: »Beton zu Geld. Das Geschäft mit der Berliner Mauer« In: Kaminsky 2014 (wie Anm. 5), S. 268–291. Kaminsky 2014 (wie Anm. 5), S. 142. Kaminsky 2014 (wie Anm. 5), S. 149. Betty Grünberg, Hubert Maessen: der sprayer von zürich. kölner totentanz. Köln 1982, S. 17. Reiner Diekhoff: »Klappernd Gebein und nagend Gewürm. Memento mori im SchnütgenMuseum« In: Kleine Festschrift zum dreifachen Jubiläum. Hg. vom Schnütgen-Museum. Köln 1981, S.45.
4 Michael Nungesser: »Ich sprühe 5 6 7 8 9 10
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Am 29. April 2020 veröffentlichte die Graffiti-Crew 1UP ein Video mit dem Titel #LEAVENOONEBEHIND auf YouTube1 über den YouTube-Kanal von AGGRO.TV. In dem Video sind zu Beginn vermummte Personen zu sehen, die in eine U-Bahn-Station einsteigen, um hier ein Graffiti anzubringen. Doch statt wie gewohnt den Namen der Crew großflächig auf die U-Bahn zu sprühen, ist der Schriftzug »leave no one behind« auf einer Skizze zu lesen. Im weiteren Verlauf des Videos ist zu sehen, wie der Spruch an mehreren Orten (vermutlich in Berlin) im öffentlichen Raum als großflächiges Graffiti aufgesprüht wird. Die Aktion wird im Video von den Akteuren selbst wie folgt kommentiert: »Mit solchen Aktionen positionieren wir uns klar gegen aufkeimendes rechtes Gedankengut und faschistische Tendenzen in unseren Gesellschaften. Wir haben hier vor 100 Jahren in Deutschland die größte Scheiße erlebt, die man sich nur vorstellen kann, woraus diese Menschenrechte fixiert wurden und die sollten für alle Menschen gelten. Wenn eines Tages hier in Europa die Hütte brennt und dann quasi unsere Enkel oder Kinder hier weg die müssen, dann hoffe ich, dass da auch auf der anderen Seite von dem Zaun jemand da ist, der sich für die einsetzt, der denen über das Wasser hilft oder eine warme Decke und ne Flasche Wasser in die Hand drückt.«2
Mit dem Statement im Video und den Aktionen im öffentlichen Raum positioniert sich die 1UP-Crew gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeiten in der heutigen Gesellschaft. Gleichzeitig kritisieren die Akteure die Zustände der Auffanglager an den Außengrenzen sowie die Migrationspolitik innerhalb der EU. Darüber hinaus stellt die Graffiti-Crew mit der Aktion die Forderung an die Politik und die Gesellschaft, dass die Grundrechte für alle gelten sollten. Weiterhin ruft sie im Video zur Nachahmung und Verbreitung dieser Botschaft im öffentlichen Raum auf. Vergleichbare Aktionen in der deutschen Graffiti-Szene, die gesellschaftskritische Inhalte und politisch relevante Geschehnisse thematisierten, sind auch in Frankfurt, Dresden oder Hanau im Februar 2022 entstanden. Die Graffitis erinnern jeweils an die Ermordung von neun Menschen durch den rechtsextremen Täter Tobias R. in Hanau 2020.3 Auch der Tod von George Floyd, der am 25. Mai 2020 in Minneapolis durch Polizeigewalt starb, ist in unterschiedlichen Aktionen der Szene thematisiert worden.4 Diese einführenden Beispiele verdeutlichen bereits, inwieweit Graffiti eine Form des politischen Protests sein kann. Die Graffitis verweisen auf Themen wie Rassismus, Polizeigewalt und soziale Missstände. Sie stellen klare Forderungen an die Politik und kommentieren das Verhalten und die Einstellung der Gesellschaft zu öffentlich relevan-
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ten Diskursen. Auffällig ist neben den Inhalten auch die visuelle Gestaltung der Buchstaben der Graffitis, die jeweils Gestaltungsmerkmale aufweisen, die sich innerhalb des Szene-Graffiti5 entwickelt haben und typischerweise für die Gestaltung von Crew- und Sprühernamen seit den 1970er Jahren verwendet werden.6 Der Schriftzug »leave no one behind«, den die 1UP-Crew im April 2020 in einer Berliner U-Bahn-Station gemalt hat,7 ist ungefähr zweieinhalb Meter hoch und gut zehn Meter breit. Die Buchstaben sind flächig gestaltet, besitzen ein mehrfarbiges Dekorum und eine Seitenfläche, die eine räumliche Wirkung erzeugt. Innerhalb der Szene werden diese Formen auch als Piece oder Writing bezeichnet, welche sich durch ihre Größe und Komplexität der schriftbildlichen Gestaltung auszeichnen. Der vorliegende Beitrag nimmt das Piece als Ausdruck des politischen Protests in den Blick und geht der Frage nach, inwiefern dieses als Form der Partizipation im öffentlichen Raum gewertet werden kann. Die Beispiele werden im Hinblick auf die graphostilistische Gestaltung, die Akteure und ihre sprachliche Form analysiert. Die Untersuchung basiert auf insgesamt 41 politischen Pieces, die über die Forschungsdatenbank INGRID8 zugänglich sind. Politische Pieces können aufgrund ihrer Typik und der Technik von anderen Protestpraktiken wie Stickern, Plakaten oder Schablonengraffitis im öffentlichen Raum unterschieden werden. Für die Analyse wird zunächst eine Definition der Begriffe »Partizipation« und »Piece« aufgestellt, die anschließend auf die Beispiele exemplarisch übertragen wird. Der Beitrag soll damit auch zeigen, dass die Grenzen zwischen dem Szene-Graffiti und politischen Graffitis nicht trennscharf zu ziehen sind. Vielmehr soll durch die Analyse verdeutlicht werden, dass auf der einen Seite die Akteure der Graffiti-Szene auch politische Graffitis anfertigen und auf der anderen Seite von politischen Akteuren aus der links- und rechtsextremen Szene etablierte GraffitiTechniken adaptiert und als Werbemittel für eigene Zwecke verwendet werden. Politisches Graffiti als Partizipation? Um politisches Graffiti als Form der Partizipation fassen zu können, sollte zunächst ein weites Politikverständnis vorausgesetzt werden, wie es beispielsweise von Kaase (2000) vertreten wird. Unter dem Begriff der Partizipation sind dann Aktionen zu verstehen, die Bürger:innen »alleine oder mit anderen freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen« (Kaase 2000: 473). Innerhalb der Aktionen kann zunächst zwischen verfassten Partizipationsverfahren wie Wahlen und unverfassten Aktionsformen wie Hausbesetzungen unterschieden werden, »die in einem spontanen oder geplanten Mobilisierungsprozess außerhalb eines institutionalisierten Rahmens entstehen« (ebd.). Weiterhin ist in Bezug auf den Partizipationsbegriff zwischen unterschiedlichen Perspektiven zu differenzieren, welche als institutionelle Partizipation, Partizipationsversuche und Partizipation durch Sprache gefasst werden können. Innerhalb der Partizipationsversuche ist wiederum zwischen unterschiedlichen Praktiken, Techniken und Kommunikationsformen wie Plakaten, Stickern oder eben Graffiti zu unterscheiden.9 Diese Differenzierung ist wichtig, da die Kommunikationsbedingungen, unter denen die Kommunikate entstehen, sehr unterschiedlich sind und diese gleichzeitig die visuelle und sprachliche Form derselben konstituieren.
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Niedermayer (2005: 11) unterscheidet in Bezug auf die Partizipation zwischen der Beteiligung an Wahlen, der parteibezogenen Partizipation und sonstigen Beteiligungsformen. Die sonstigen Beteiligungsformen sind wiederum in vier Gruppen aufgeteilt. 1. 2. 3. 4.
Gemeinde-, wahlkampf- und politikerbezogene Aktivitäten Legaler Protest Ziviler Ungehorsam Politische Gewalt
Graffiti kann innerhalb dieser Unterscheidung der dritten Gruppe zugeordnet werden. Niedermayer definiert diese Form der Beteiligung, den zivilen Ungehorsam, wie folgt: »Hierzu zählen aIle nicht gewaltsamen partizipativen Aktivitäten, die gegen geltendes Recht verstoßen und von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung nicht als legitime Art der Beteiligung am politischen Prozess verstanden werden.« (ebd.: 250)
Ein illegal angefertigtes Graffiti erfüllt in der Regel den Tatbestand der Sachbeschädigung nach § 303 II StGB beziehungsweise in bestimmten Fällen den Tatbestand der gemeinschädlichen Sachbeschädigung nach § 304 II StGB. Durch das unbefugte Betreten der U-Bahn-Stationen und Gleisbereiche kann ein Vergehen nach § 123 Abs. 1 StGB in Strafe gestellt werden. Damit verstoßen Graffitis, die ohne Autorisierung erfolgt sind, gegen geltendes Recht. Sie werden auch von der Mehrheit der Gesellschaft nicht als legitime Art der Beteiligung an politischen Prozessen verstanden und können als Form des zivilen Ungehorsams gewertet werden. In bestimmten Fällen ermittelt nicht die Polizei, sondern der Staatsschutz, sofern das Graffiti als verfassungs- oder systemfeindlich eingestuft wird. Das gilt insbesondere für Fälle, in denen verfassungswidrige Symbole und Kennzeichen wie das Hakenkreuz nach § 86a StGB verwendet werden. Diese Graffitis können mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe geahndet werden. Ein weiterer Versuch der Systematisierung von Partizipationspraktiken findet sich bei Pappert/Mell (2018: 238). Politisches Graffiti kann hier als nicht institutionalisierte, illegale, weniger legitimierte und offen zugängliche Partizipationspraktik gefasst werden. Bestimmte Aktionen der 1UP-Crew, die in der Einführung dieses Beitrags beschrieben wurden, können als Teilnahmeversuch an politischen und gesellschaftlichen Prozessen angesehen werden, wie auch die entsprechenden Statements zeigen, die die Künstler:innen in ihren Videos veröffentlichen. »Jetzt müssen wir auf jeden Fall zusammenhalten. Es ist wichtig, dass es anderen Leuten gezeigt wird, damit auch junge Menschen animiert werden, das Gleiche zu tun. Hashtag #leavenoonebehind: Spreaded die Message, nehmt euch Sprühdosen, Kreide, Pinsel, Feuerlöscher. Scheißegal, Hauptsache die Stadt wird bunt, Hauptsache der Spruch ist überall zu lesen. One United Power! Nicht nur im Graffiti, sondern auch in der Politik. Guckt, welche NGOs es gibt, die sich engagieren. Guckt, welchen Support die brauchen, sei es, welche finanziellen Mittel die haben. Und, dass ihr Social-Media-Kanäle unterstützt, informiert euch, geht raus und tut was.«10
Das Statement verdeutlicht das Motto der Crew (One United Power), welches auch auf das Feld der Politik übertragen werden soll. Ein weiteres Ziel der Aktion ist es demnach,
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weitere Menschen zunächst auf ein bestimmtes Thema aufmerksam zu machen, um sie anschließend für eigene Aktionen zu mobilisieren und zum Handeln zu bewegen. Damit kann die Aktion als versuchte Einflussnahme auf politische und gesellschaftliche Prozesse gewertet werden. Die politische Botschaft in den Graffitis der 1Up-Crew wird auch von den Nutzer:innen der Plattform Instagram kommentiert. »Yesss! Really cool that you are political! 💪💪 That is something I missed from 1UP. Makes your work hit even bigger! 🔥« »*LEAVE NO ONE BEHIND* best graffiti ever!« »Keep going! Moria needs every help!« »If you get political the haters will find you... But Fuck that. I love what you’re doing. It’s important. Don’t stop!«
Neben diesen Kommentaren, die die politischen Aktionen der 1UP-Crew positiv bewerten, sind unter den Bildern auch Kommentare zu finden, welche diese Aktionen unter den entsprechenden Postings ablehnen. »Könnt ihr ja auch bald H&M NIKE oder DANONE Bilder machen 😁 traurig das ihr euch so verkauft habt die letzten Jahre...👎« »The gayest thing 1up had ever done, leave no one behind😂😂😂😂 fuck thiiiis«
Zur Typik des Piece Die Einordnung eines Graffitis als Piece basiert im Wesentlichen auf der Komplexität der Gestaltung, der Technik und der visuellen Form der Buchstaben. Im Szene-Graffiti nimmt die visuelle Gestaltung der Buchstaben eine entscheidende Rolle für die Akteure ein. Für die Farbwahl, die Form und den Schwung der Buchstaben und die Kombination bestimmter Stilelemente erhalten die Sprüher:innen Anerkennung. Radtke (2017) untersuchte Pieces als Schrift-Bild-Kompositionen und stellte heraus, dass »für die Gesamtwirkung des Graffitis (…) der Style der Buchstaben, die individuelle Art und Weise, wie die Schriftzeichen realisiert werden« besonders ausschlaggebend ist. Die Verformung der Buchstaben kann so weit gehen, dass insbesondere für Außenstehende der Schriftzug nicht mehr lesbar ist. Die Gestaltung der Buchstaben loten damit nach Tophinke (2019: 365) »im verfremdenden und stilisierenden Spiel mit Buchstaben und Wörtern aber die Grenzen der Schriftlichkeit aus«. Neben der Gestaltung der Buchstaben selbst kennzeichnet sich ein Piece auch durch ein musterhaftes Dekorum (z. B. Arrows, Highlights oder Stars) und kann durch figurative Komponenten ergänzt werden. Im Zentrum steht typischerweise der Name der Sprüher:innen oder einer Crew. Im Zentrum eines Graffitis (Abb. 1)11 auf einem Personenzug in Mannheim, das den Beständen der INGIRD-Datenbank entnommen ist und hier als Piece klassifiziert wird, steht der Name SAY. Die Ausläufer der Buchstaben werden durch die sogenannten Arrows in Form von Pfeilspitzen verlängert. An den Enden der Spitzen wurden Elemente gesprüht, die innerhalb der Szene als Highlights bezeichnet werden und als Glanzpunkte an den Kanten der Buchstaben beschrieben werden können. Weitere Elemente sind der Background, auf dem der Schriftzug liegt, die Sides und die Outline der Buchstaben. Metten (2011: 88) hebt hervor, dass die Pieces durch ihre Größe, die oft bunten Farben und die komplexe Gestaltung »ein hohes Maß an visueller Präsenz« erzeugen.
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Abb. 1: SAY, vermutlich Mannheim 2007
Radkte zeigt auf (2017: 149), dass das Zentrum von Pieces »typischerweise von weiterer Schrift umgeben« ist, die die Namen »in ihrer Funktionalität sinnvoll ergänzen«, »wie die Signatur, die Datierung oder der Comment«. Auch Tophinke (2019: 373) weist darauf hin, dass Pieces ein Zentrum besitzen und »weitere funktionale Einheiten, die kreisförmig um das Zentrum herum angeordnet sind und dessen Peripherie bilden«. Diese kreisförmige Anordnung der Funktionseinheiten führt dazu, dass Pieces »im Unterschied zu typischen Texten einen nicht linearen Aufbau« (ebd.) besitzen. Das vorliegende Beispiel weist insgesamt vier unterschiedliche Funktionseinheiten auf, die um das Zen-trum verteilt sind. Oben links befindet sich eine Datierung (1997), die anzeigt, in welchem Jahr das Piece gesprüht wurde. Rechts oben befindet sich ein Gruß, der typischerweise durch eine to- oder eine yo-Konstruktion realisiert werden kann (TO: cLAY, JEPS, KEY.). Rechts unten befindet sich ein Comment (LOOK MuM, iDiD ANoTHER oNE! .HA HA HA!).12 Unter dem A in der Mitte ist noch eine Signatur mit dem Namen SAY zu erkennen, die teilweise, vermutlich durch das Personal der Deutschen Bahn, entfernt worden ist. Die Klassifizierung unterschiedlicher Graffitiformen ist auch für die Akteure selbst in der Szene relevant. Auf der Plattform Spray City13 wird beispielsweise zwischen unterschiedlichen Kategorien und Typen unterschieden. Die Terminologie der Szene orientiert sich an der Technik, in der das Graffiti an die Wand gebracht wird (z. B. Roll Up, Stencil oder Feuerlöscher), an der räumlichen Platzierung (z. B. Rooftop, Train oder Hall of Fame) oder an der Komplexität der visuellen Gestaltung (z. B. Tag, Throw Up oder Minimalism). Bestimmte Formen wie das Tag, das Throw Up oder das Piece kennzeichnen sich dadurch, dass die Verwendung von Buchstaben die Basis eines Typs darstellt. Dadurch lassen sich diese Formen von eher figürlichen Typen wie dem Mural oder einem Character abgrenzen. Auch der Inhalt oder die Akteure sind für die Szene relevant. Auf Spray City werden Wort-, Politik- oder Fußballgraffiti als eigener Typ erfasst.
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Abb. 2: AFA!, Paderborn 2021
Nachdem die wesentlichen Kennzeichen eines Pieces skizziert wurden, sollen nun im Folgenden die Merkmale dieser Form auf die Beispiele aus der INGRID-Datenbank übertragen werden. Es soll geklärt werden, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei einer Analyse deutlich werden. Mikroanalyse politischer Pieces Die folgende Analyse basiert auf insgesamt 41 Fotografien politischer Pieces, die über die Forschungsdatenbank INGRID zugänglich sind. Die Analyse nimmt zunächst das zentrale Element in den Blick. Hier können aus einer sprachformalen und -funktionalen Perspektive zunächst drei Grundtypen unterschieden werden, die in der Datenbank wiederholt auftreten. Anschließend wird untersucht, ob die politischen Pieces wie im SzeneGraffiti weitere Funktionseinheiten in der Peripherie besitzen. Typ 1 - Objekt und Gruppenamen Typ 1 zeichnet sich dadurch aus, dass im Zentrum des Piece der Name einer politischen Gruppe steht. Hierbei kann es sich um die Namen loser Bewegungen und Gruppen wie der Antifa oder die Namen von Milizen wie der YPG handeln.14 Im Folgenden wird ein Piece, das im Zentrum einen Objektnamen aufweist, im Hinblick auf seine Graphostilistik und die Kombination von Funktionseinheiten analysiert. Das Piece AFA! (Abb. 2)15 befindet sich in einer Unterführung in der Nähe des Bahnhofs in Paderborn und ist ungefähr zweieinhalb Meter hoch und knapp vier Meter
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breit. Im Zentrum des Graffitis befindet sich nicht der Name der beteiligten Sprüher:innen oder der Crew, sondern die Abkürzung »AFA« für Anti-Fascist Action. »AFA« bezeichnet innerhalb der linken und linksextremen Szene eine eher lose Bewegung, die 1985 in London gegründet wurde, mit dem Ziel, ein internationales Netzwerk der Autonomen Antifa zu bilden.16 Auffällig an der Gestaltung des Schriftzugs ist zunächst, dass die Buchstaben wie im Szene-Graffiti verformt sind und sich gegenseitig überlappen. Neben der Verformung der Buchstaben weist das Piece weitere Stilelemente auf, die zuvor als Kennzeichen der Pieces im Szene-Graffiti hervorgehoben wurden. Die Buchstaben sind flächig gestaltet und besitzen ein Fill-In aus Blautönen, eine weiße Inline und schwarze Sides. Der Schriftzug liegt auf einem mehrfarbigen Background, der sich aus einer wolkenförmigen Struktur zusammensetzt und von einer weiteren Rahmung in Gelb umgeben ist. Ein weiteres Merkmal der Gestaltung ist das auffällige Dekorum. Hierzu zählen die Bubbles und die an die Kanten der Buchstaben gesprühten Highlights. Das Zentrum des Pieces ist wie in Abb. 1 von weiterer Schrift umgeben. In diesem Fall befinden sich insgesamt vier Funktionseinheiten in den Fill-Ins der Buchstaben. Auf der linken Fläche des A wurde die Zahlenkombination 161 gesprüht, welche für die Position der Buchstaben AFA im Alphabet steht. Die 161 ist entsprechend keine Signatur im engeren Sinne, sondern steht für den Namen der politischen Gruppierung. Vergleichbar hierzu ist auch die Funktionseinheit »ANTiFA CREW«, die in die obere Hälfte des F gesprüht wurde, keine Signatur. Auffällig ist hierbei, dass neben den Gestaltungsprinzipien der Pieces auch die charakteristische Sprache der Graffitiszene übernommen wird. Das Lexem Crew wird typischerweise in der Hip-Hop-Szene verwendet und bezeichnet ein Kollektiv, dass aus Tänzer:innen, Musiker:innen oder Künstler:innen bestehen kann.17 Die Einheiten »ACAB« (All Cops Are Bastards) und »FCK CPS« (Fuck Cops) sind mit den Comments vergleichbar, wie sie auch im Szenegraffiti zu finden sind. Innerhalb der Comments in der Datenbank INGRID sind unter der Kategorie Thema/Polizei 63 vergleichbare Fälle zu finden (Stand: Juni 2022), die sich durch Beleidigungen oder Drohungen gegen die Polizei auszeichnen. Diese Beobachtungen sind dadurch zu erklären, dass sowohl für die extremen Strömungen politischer Gruppen und Bewegungen als auch für die Graffitiszene die Polizei einen zentralen Feind oder zumindest einen Gegenspieler darstellt. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Comments »Fuck SoKo«, »I hate Cops« oder »FUCK THE POLICE!« genannt. Im Zentrum des Pieces in Abb. 3 steht der Schriftzug »YPJ!«, der auf die Wand einer Paderborner Unterführung gesprüht wurde.18 YPJ ist die Abkürzung für Yekîneyên Parastina Jin und bezeichnet eine Frauenarmee, die seit 2012 in Syrien kämpft. Auch hier orientiert sich die graphostilistische Gestaltung des Graffitis an den Mustern der SzenePieces. Das zentrale Element »YPJ!« setzt sich aus einem gelben Background, roten Sides, grünen Fill-Ins und einer weißen Inline zusammen. Die farbliche Gestaltung kann als Kontextualisierungshinweis eingestuft werden, da die Farben Rot, Grün und Gelb in der kurdischen Flagge und den Flaggen der YPG verwendet werden. Die Buchstaben sind in diesem Beispiel nur leicht verformt und gut lesbar. Der rechte Auslauf des Ypsilons wurde durch einen spitzen Auslauf verlängert und überlappt das P. Die Füße der Buchstaben sind zum Teil angeschliffen und leicht gerundet.
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Abb. 3: YPJ!, Paderborn 2020
Auch dieses Beispiel enthält vier weitere Funktionseinheiten, die in das zentrale Element eingebettet sind. Auf der linken Seite befinden sich die Symbole Hammer und Sichel, die für den Kommunismus und eine marxistisch-leninistische Orientierung der Akteure stehen. Die zweite Funktionseinheit »YPG!« ist eine Abkürzung für Yekîneyên Parastina Gel, eine bewaffnete Einheit, die kurdische Siedlungsgebiete in Nordsyrien kontrolliert. Wie das Graffiti in Abb. 2 enthält auch dieses Beispiel die Einheit »161!«, die die Aktion der Antifa zuordnet. Die vierte Funktionseinheit (»DEFEND ROJAVA«) ist eine Aufforderung, den Kampf in Rojava zu unterstützen und die Stadt zu verteidigen. Typ 2 – politisches Statement Typ 2 enthält eine politische Aussage im Zentrum des Pieces. Innerhalb des Korpus, das dieser Untersuchung zugrunde liegt, können solche Aussagen Forderungen transportieren, Drohungen aussprechen, Beleidigungen gegen Politiker:innen oder Parteien äußern oder Aufforderungen zu einer bestimmten Handlung darstellen. Beispiele für Forderungen als zentrales Element im Piece sind »Freiheit!«, »No War« oder »Power to the People«. Beispiele für Beleidigungen sind »Fuck Bush«, »ACAB« oder »FCK AFD«. Auch die Aktion der 1UP-Crew, die einführend thematisiert wurde, kann dieser Gruppe zugewiesen werden. Im Folgenden wird ein Beispiel detailliert betrachtet. Das Piece »SMASH NATO« (Abb. 4)19 weist in Bezug auf die graphostilistische Gestaltung eine geringere Komplexität als das zweite Beispiel auf. Die Buchstaben sind
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Abb. 4: SMASH NATO, Mannheim 2010
gekennzeichnet durch ein silbernes Fill-In, eine schwarze Outline und eine rote Farbfläche als Background. Auch die Verformung der einzelnen Buchstaben ist weniger stark, und der Schriftzug ist gut lesbar. Bezüglich der Funktionseinheiten in der Peripherie ist auffällig, dass bei der Gestaltung des Graffitis auf weitere Schrift verzichtet wurde. Ergänzt wird das zentrale Element durch zwei symbolische Zeichen. Das Anarchie-A, der Hammer und die Sichel zeigen an, dass das Graffiti einer linken und marxistisch-leninistischen Strömung oder Gruppierung zugeordnet werden soll. Dieser Kontextualisierungshinweis wird auch durch die Farben Rot und Schwarz geleistet. Hier kann Schwarz als Farbe der Autonomen und Rot als die Farbe einer linkspolitischen Orientierung interpretiert werden. Diese Beobachtung verdeutlicht, dass die graphische Gestaltung innerhalb der politischen Pieces nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch motiviert sein kann. Typ 3 – Konzeptaufruf Im Zentrum politischer Pieces kann ein einzelnes Wort stehen, welches zunächst ein Thema oder ein Konzept aufruft. Im Gegensatz zu Typ 2 befindet sich in der Mitte keine politische Aussage. Erst unter Berücksichtigung der Funktionseinheiten in der äußeren Peripherie ist eine Positionierung oder eine Aufforderung zu lesen. Abb. 5 zeigt ein Beispiel für den dritten Typ politischer Pieces, der sich innerhalb des Korpus differenziert betrachten lässt.20 Auch hier sind die Buchstaben mehrfarbig und flächig gestaltet und verfügen über ein szenetypisches Dekorum. Eine weitere Besonderheit der Gestaltung ist das Ersetzen von Buchstaben durch figürliche Elemente. Das erste O wird durch eine figürliche Darstellung des Corona-Virus ersetzt, das zweite O durch einen Smiley. Da die figürlichen Elemente aufgrund ihrer Form und Positionierung auch als Buchstabe gelesen werden, können diese als Allograph bezeichnet werden, da sie eine graphische Variante des Graphems darstellen. Das Graffiti ist im April 2020 in Paderborn im Kontext des ersten Lockdowns entstanden. Durch die Funktionseinheit »STAY HOME!« auf der linken Seite äußert der Sprüher seine Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung und fordert die Rezipient:innen dazu auf, die Regelungen einzuhalten und zu Hause zu bleiben. Die Aufforderung wird durch den Wunsch »…und bleibt gesund« auf der rechten Seite ergänzt. Während die politischen Pieces, welche durch die Verwendung von Gruppennamen oder
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Abb. 5: DOVE: CORONA, Paderborn 2020
politischen Symbolen einer politischen Gruppierung oder Strömung zugeordnet werden können, in der Regel keine Signatur der Sprüher:innen in der Peripherie besitzen,21 wird das Graffiti in Abb. 5 durch eine Signatur mit dem Pseudonym DOVE signiert. Stadträumliche Verortung Bezüglich der stadträumlichen Verteilung der politischen Pieces in Paderborn fällt auf, dass sich insgesamt sieben großflächige Pieces in der unmittelbaren Umgebung des Infoladens befinden. Der Infoladen ist ein zentraler Treffpunkt der linken bis linksextremen Szene in Paderborn. Diese Strategie der stadträumlichen Konzentration politischer Graffitis ist auch in anderen Städten zu beobachten. So berichtete unter anderem die Plattform Tag24 über eine langjährige Auseinandersetzung zwischen der Polizei und der Antifa in Leipzig, wo eine Wand auf einem Basketballplatz im Viertel Connewitz wiederholt über mehrere Jahre durch großflächige Pieces besprüht wurde.22 Auch in der rechtsextremen Szene werden Graffitis dazu verwendet, bestimmte Häuser und Straßen symbolisch zu markieren. Besonders bekannt wurde das sogenannte »braune Haus« in Dortmund-Dorstfeld. Nach einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung wohnen hier ausschließlich Nationalsozialisten.23 An der Fassade gegenüber war jahrelang der Schriftzug »Nazi-Kiez« zu lesen, den unbekannte Personen an die Wand gesprüht hatten. 2019 wurde das Graffiti unter Polizeischutz entfernt. Diese Aktionen in der rechten Szene sind damit Teil einer Strategie, die rechte Parteien und Organisationen wie die NPD, die JN oder die AN bereits seit den 1990ern verfolgen, mit dem Ziel, eine sog. »National befreite Zone« zu erschaffen. Fazit Die Analyse der Pieces hat gezeigt, inwiefern großflächige Graffitis Teil politischer Praktiken sein können. Sie nutzen dabei die visuelle Präsenz im öffentlichen Raum, um politische Entscheidungen und das Verhalten der Bürger:innen zu kommentieren, und
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unternehmen damit den Versuch, diese zu beeinflussen. Entsprechend lassen sich Argumente dafür finden, dass politische Pieces als Form der Partizipation gefasst werden können. Zudem wurde deutlich, dass insbesondere in der links- und rechstextremen Szene großflächige Graffitis dazu genutzt werden, Angsträume und No-Go-Areas zu erzeugen und den Raum konzentriert auf bestimmte Bereiche einer Stadt symbolisch zu besetzen. Dabei werden sowohl die graphostilistischen Muster (z. B. Highlights, Bubbles oder Inlines) als auch die Szene-Terminologie (wie in Anitfa Crew oder Nazi Crew) übernommen. Der Buchstabenstil ist im Wesentlichen eher simple und gut lesbar. Die analysierten Beispiele unterscheiden sich von den Szene-Pieces dadurch, dass im Zentrum nicht der Name der Sprüher:innen oder einer Crew steht. In diesem Zusammenhang konnte aus einer sprachformalen und -funktionalen Perspektive zwischen drei unterschiedlichen Grundtypen unterschieden werden. Das zentrale Element besteht typischerweise aus einem Objekt- oder Grupennamen (Typ 1), einer politischen Aussage oder einem Wort, das ein Konzept oder ein bestimmtes Thema aufruft (Typ 2). Der dritte Typ kann erst durch die Hinzunahme weiterer Funktionseinheiten als Partizipationsversuch eingeordnet werden. Bezüglich der Funktionseinheiten konnte weiterhin herausgearbeitet werden, dass das Element im Zentrum auch innerhalb der politischen Pieces durch weitere Funktionseinheiten in der Peripherie erweitert werden kann. In den Pieces politischer Gruppen wie der Antifa oder der AFA waren in der Regel keine Signaturen im engeren Sinne nachzuweisen. Auch Datierungen oder Grüße, die typischerweise in den Szene-Pieces vorkommen, konnten innerhalb der links- und rechtsextremen Pieces nicht nachgewiesen werden. Hier scheint eine explizite Zuordnung zu einer politischen Gruppe oder Ideologie der individuellen Hervorhebung der Akteure übergeordnet zu sein. Es zeigte sich, inwiefern politische Symbole und die Farbwahl eines Graffitis als Kontextualisierungshinweis gewertet werden können, die den Rezipient:innen anzeigen, wie das Graffiti interpretiert werden soll. Bezüglich der Emittenten kann zwischen den Mitgliedern der Graffiti-Szene wie der 1UP-Crew oder dem Sprüher Dove in Paderborn und Gruppierungen der links- und rechtsextremen Szene unterschieden werden. Literaturverzeichnis Bettina M. Bock, Philipp Dreesen: Sprache und Partizipation in Geschichte und Gegenwart. Bremen 2018. Mark Bray: Antifa: the anti-fascist handbook. London 2017. Jasmina Gherairi: Persuasion durch Protest. Protest als Form erfolgsorientierter, strategischer Kommunikation. Wiesbaden 2015. Max Kaase: »Politische Beteiligung/Politische Partizipation« In: Uwe Andersen, Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2000, S. 473–478. Heidrun Kämper, Martin Wengeler: »Protest – Parteienschelte – Politikverdrossenheit. Historische Beispiele und Versuch einer Einordnung« In: Heidrun Kämper, Martin Wengeler (Hg.): Protest – Parteienschelte – Politikverdrossenheit: Politikkritik in der Demokratie. Bremen 2017, S. 5–18. Thomas Metten: »Schrift-Bilder – Über Graffitis und andere Erscheinungsformen der Schriftbildlichkeit« In: Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm, Hartmut Stöckl (Hg.): Bildlinguistik.
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Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin 2011, S. 73–93 [= Philologische Quellen und andere Studien, Bd. 228). Sascha Michel, Steffen Pappert: »Wahlplakat-Busting. Formen und Funktionen einer (neuen) Textmustermischung« In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, Bd. 68, 2018, S. 3–33. Oskar Niedermayer: Bürger und Politik: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen der Deutschen. Wiesbaden 2005. Martin Papenbrock: »Wie alles anfing. Peter Kreuzer und das Münchner Graffiti der frühen Jahre« In: Kunstforum International, Bd. 260/219, S. 98–109. Martin Papenbrock, Doris Tophinke: »Graffiti. Formen, Traditionen, Perspektiven« In: Heiko Hausendorf, Marcus Müller (Hg.): Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation. Berlin 2017, S. 88–109 [= Handbuch Sprachwissen, Bd. 16]. Julia Radtke: »Comments, Namenlisten, Signaturen: Das Piece als komplexe Schrift-BildKomposition« In: Ludger Lieb, Stephan Müller, Doris Tophinke (Hg.): Graffiti. Deutschsprachige Auf- und Inschriften in sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Wien 2017, S. 132–153. Doris Tophinke: »›All City‹. Graffiti Writings als Kommunikate des Urbanen« In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, Bd. 47, 2019, H. 2, S. 355–385.
1 Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=2sunwkIDOFE&t=62s (Aufruf 30.06.2020). 2 Ebd., 0:50–1:39. 3 Fotos der Aktionen sind auf dem Blog ilovegraffiti zu finden. https://ilovegraffiti.de/ blog/
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2022/02/21/hanau-saytheirnames-wholetrains-wholecars-waende-graffiti-gegen-das-vergessen -videos/ (Aufruf 30.06.2020). Ein Beispiel ist auf der Instagram-Seite der 1UP-Crew zu sehen. Quelle: https://www.insta gram.com/p/CAw_vkWqGCP/ (Aufruf 30.06.2020). Zu den Kennzeichen des Szene-Graffiti vgl. Tophinke (2019) und Radtke (2020). Zur Enstehung des Style Writings in Deutschland vgl. Papenbrock (2019). Ein Foto der Aktion ist auf der Instagramseite der Crew zu sehen. Quelle: https://www.insta gram.com/p/B_mppZLK4fa/. Papenbrock, Martin/Tophinke, Doris/Oevel, Gudrun (2016–): INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. https://www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/ingrid. Zur Unterscheidung von Protesttechniken ausführlich vgl. Gherarir (2015). Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=2sunwkIDOFE. SAY, Fundort und Datum unsicher, vermutlich Mannheim 1998, #61762. Diese und die folgenden Abbildungen (außer Abb. 2) stammen aus der INGRID-Datenbank: Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. 2016–. URL: https://www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/ingrid/. Referiert wird jeweils auf die Nummer des Graffiti-Objekts (System-ID). Ausführlich zu den Comments vgl. den Beitrag von Martin Papenbrock in diesem Band. Quelle: https://spraycity.at. Auf der Seite Straßenkunst.info finden sich auch Pieces rechstextremer Gruppen, Parteien und Personen wie JN, NSBA oder HTLR. AFA!, Paderborn 2021. Nicht in der INGRID-Datenbank. Foto: Sven Niemann. Ausführlich zur Geschichte der Antifa vgl. Bray (2017: 57 ff.) Die Bezeichnung als Crew wird auch in der rechtsextremen Szene von der NSBA (Nationaler Sozialismus Bundesweite Aktion) adaptiert. Ein Beispiel für ein Graffiti der NSBA mit dem
Bomb the System! Politische Pieces als Partizipationspraktik im öffentlichen Raum
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Zusatz Nazi-Crew wurde auf dem Blog nshiphop hochgeladen. https://nshiphop.wordpress. com/2012/12/18/ns-graffiti (Aufruf: 25.06.2022). YPJ!, Paderborn 2020, #149472. SMASH NATO, Mannheim 2010, #45517. Das Piece kann entsprechend der Gestaltung auch als »Chrome Bombing« bezeichnet werden, da auf ein komplexes Dekorum verzichtet wurde und auch das Fill-In nicht vollständig ausgearbeitet ist. Bombings zeichnen sich durch eine kurze Anfertigungszeit aus. DOVE: CORONA, Paderborn 2020, #151697. Eine Ausnahme stellt im Korpus Mannheim ein Antifa-Piece dar, das durch den Sprüher RIOT signiert wurde. Vgl. RIOT: ANTiFA, Mannheim 2006, #98257. Quelle: https://www.tag24.de/leipzig/showdown-im-stadtrat-leipzig-will-graffiti-flaeche-amconnewitzer-kreuz-neu-gestalten-1893766 (Aufruf 30.06.2022). https://www.nzz.ch/international/neonazis-in-dortmund-ein-besuch-im-nazi-kiez-ld.1554465/ (Aufruf 30.06.2022).
Steffen Pappert Plakat-Busting: Vandalismus, Protest oder was?
Einleitung »Vandalismus gibt es vor jedem Wahltag. Plakate von Parteien werden zerfetzt, überklebt oder angemalt, mal kreativ, mal in blinder Zerstörungswut.«1 »Verunstaltet, zerstört oder entfernt: Vor der Bundestagswahl wurden 3.400 Wahlplakate Ziel von Attacken. Die Angreifer kamen oft aus dem linken oder rechten Spektrum.«2 »Kurz vor der Bundestagswahl werden der Polizei in Nordrhein-Westfalen immer mehr zerstörte oder sogar gefälschte Wahlplakate gemeldet.«3 Derlei Headlines lassen sich zu Wahlkampfzeiten mittlerweile kaum noch zählen. Der hier angesprochene Tatbestand beschäftigt nicht nur die betroffenen Parteien, sondern ebenso die Massenmedien sowie diverse Ermittlungsbehörden bis hin zum Bundeskriminalamt. Vor diesem Hintergrund ist schnell ersichtlich, dass es sich bei dem in diesem Beitrag behandelten Tun mitnichten um ein Kavaliersdelikt einzelner Verirrter handelt, zumal die Beschädigung von Wahlplakaten tatsächlich unter Paragraph 303 des Strafgesetzbuches fällt. So drohen den beim unzulässigen Bearbeiten der Plakate Ertappten Geldstrafen oder sogar bis zu zwei Jahre Haft wegen Sachbeschädigung. Obgleich das Plakat-Busting aus juristischer Perspektive eine Spielart von Vandalismus darstellt, ist es in vielen Fällen jedoch auch eine Form der Aneignung von Wahlkampfkommunikation, die zwar so nicht vorgesehen, aber für alle sichtbar ist. Darüber hinaus werden originelle Verfremdungen durchaus auch goutiert, beispielsweise wenn die taz 2013 – ähnlich wie die fr 2021 im obigen Zitat – abwägt: »Viele lassen mit dem Filzstift ihren Frust ab, manche nutzen ihre künstlerische Ader, um politische Botschaften zu verbreiten.«4 In manchen Fällen schaffen es die bearbeiteten Plakate gar in eine Ausstellung, wie etwa im Jahr 2005 in die des Hamburger Fotografen Franz Christian Gundlach mit dem Titel »Wählergunst und Wählerkunst – Die kleine Rache des Souveräns«.5 Unabhängig davon, unter welchen Vorzeichen man Plakat-Busting betrachtet, es handelt sich in jedem Fall um illegale »Akte der Selbstermächtigung« (Ziegler 2013: 336). Ausschlaggebend ist demnach die Frage: Wer darf was wo wann zu welchem Zweck anbringen? Die regelwidrige Zeichensetzung führt letztlich zur Störung der öffentlichen Kommunikationsordnung, was die obigen Beispiele aus den Massenmedien eindrücklich bestätigen. Offenbar wird Wahlplakat-Busting bevorzugt in Deutschland als – mehr oder weniger sinnstiftender – Eingriff in die Wahlkampfkommunikation genutzt (vgl. Gherairi 2015: 506), wenngleich das Phänomen (neuerdings?) auch in anderen Ländern zu beobachten ist (vgl. Luginbühl/Scarvaglieri 2018 zur Verfremdung von Abstimmungsplakaten in der Schweiz sowie Björkvall/Vigsø 2021 zu Bustings in Dänemark und Schweden).6 Im Allgemeinen handelt es sich dabei um eine (illegale) Vorgehensweise, mit der Individu-
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en vorzugsweise ihren Groll gegen Parteien, Politker:innen und ihre Politik zum Ausdruck bringen, wobei die Missfallensäußerungen zwischen subversiv und plakativ, zwischen kreativ und primitiv oszillieren. Die verwendeten Praktiken zielen im Wesentlichen auf die Umformung und Umdeutung der multimodal vermittelten Inhalte und Funktionen der Plakate, wobei hier zweifellos Abstufungen in Betracht gezogen werden müssen, die vor allem mit der jeweils verwendeten Praktik zusammenhängen. Der vorliegende Beitrag wird sich deshalb vor allem mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit Wahlplakat-Busting praktikenabhängig eine Form des Protestes, eine Form von Vandalismus, eine Form der Selbstdarstellung, eine unorthodoxe Art von Partizipation oder gar eine kreativ-künstlerische Ausdrucksform darstellt? Wahlplakat-Busting – eine Form politischen Protestes? Wahlplakat-Busting ist »als Taktik des Umgangs mit den (nicht eigenen) Medien zu verstehen, die als untergründig bezeichnet werden kann« (Smolarski 2017: 361). Es kann als eine spezifische Variante des sogenannten Adbustings aufgefasst werden. Bei Adbusts vor Ort7 handelt es sich um »Umgestaltungen von Werbeplakaten […], die von anonymen Urhebern in einem agonal-spielerischen, mithin kommunikativen Prozess im urbanen Raum sichtbar eingebracht werden« (Smolarski 2013). Neben der Bezeichnung Adbusting werden, teils synonym, teils als Hyperonym bzw. als Hyponym, Ausdrücke wie Culture Jamming, Brandalism, Demarketing, De/Montage, Collage, Rekomposition, Brandjacking, Billboard Banditry verwendet. Dazu zählt sicherlich auch die Praktik des Fakens, die mit der »Zuordnung von Autor und Text« spielt und vor allem dann erfolgreich ist, »wenn sich keine eindeutige Beziehung zwischen beiden mehr herstellten lässt« (Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Blisset, Brünzels 2001: 67). Inwieweit dies bei der ›analogen‹ Verfremdung von Wahlplakaten möglich ist, zeigen beispielsweise die Aktionen der Gruppierung Extinction Rebellion, die mit ihren gefaketen Plakaten für Aufsehen sorgen.8 Anhand derartig ausgeklügelter Verfremdungsfeldzüge kann man sehr gut erkennen, dass der ›Professionalisierungsgrad‹ der Akteure nicht nur die ›Qualität‹ der Plakatumgestaltungen in hohem Maße beeinflusst, sondern ebenso, dass hier ganz gezielt und dezidiert Kritik an den Parteien bzw. ihrer Politik geübt wird. Somit erfüllen derlei Operationen in den meisten Fällen wohl auch andere Funktionen als die der nachtaktiven Nonkonformist:innen. Letztere greifen in aller Regel auf Praktiken zurück, die am ehesten mit den in der Kommunikationsguerilla als Sniping und Subvertising bezeichneten Protesttechniken vergleichbar sind. Sniping nennt man »die Veränderung, Kommentierung, Korrektur oder Verdeutlichung der (häufig unausgesprochenen) Aussagen von Plakaten« (Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Blisset, Brünzels 2001: 94). Subvertising hingegen meint »die Produktion und Verbreitung von Anti-Werbung oder Werbeparodien« (Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Blisset, Brünzels 2001: 104), indem durch die Modifizierung von Text- und/oder Bildelementen die (Wahl-)Werbung dekonstruiert wird. Unabhängig von der Bezeichnung geht es darum, die multimodalen Persuasionsversuche der Parteien zu verfremden, zu entfremden oder umzukodieren, wobei sowohl die Inhalte als auch die abgebildeten Personen bzw. Parteien angegriffen werden können. Dass der/die ›durchschnittliche‹ Wahlplakatbuster:in die hier referierte GuerillaPraxis reflektiert und seine/ihre Aktivitäten darauf ausrichtet, ist eher unwahrscheinlich, gleichwohl aber nicht undenkbar. Immerhin ist das Vorgehen in jedem Fall illegal, dar-
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über hinaus stellt sich aber die in unserem Zusammenhang entscheidende Frage danach, ob es sich beim Wahlplakat-Busting lediglich um Vandalismus oder aber um eine Form des Protests handelt? Die Antwort darauf lautet ganz prinzipiell: Ob und inwieweit es sich bei den Praktiken tatsächlich um Protesthandlungen handelt, muss immer jeweils am Einzelfall gezeigt werden. Als Analyse- und Überprüfungsraster dienen die von Spitzmüller/Bendl (2022: 32; Herv.i.Orig.) aufgelisteten Glückensbedingungen: Um als ›Protesthandlung‹ zu glücken »muss sie (mindestens) 1. 2. 3. 4. 5.
(von den Protestierenden) materiell produziert (wahrnehmbar gemacht) werden (vom adressierten Protestpublikum) wahrgenommen werden (als Protesthandlung) erkannt werden (als Protesthandlung mit einem erkennbaren Ziel) sinnvoll interpretiert werden (als Protesthandlung mit einem erkennbaren und als legitim angesehenen Ziel) akzeptiert werden«.
Wichtig dabei ist die zu zugrunde gelegte pragmalinguistische Perspektive, das heißt, wenn eine kommunikative Handlung als solche glückt, heißt das nicht zwangsläufig, dass das damit verbundene Handlungsziel auch tatsächlich erreicht ist (vgl. ebd.). Entscheidend für die Analyse ist demnach, die Interpretationen der Belege in erster Linie auf plausible Lesarten des materiell Sichtbaren zu beziehen. Inwieweit die unbekannten Rezipierenden die gleichen oder andere Auslegungen anstellen, bleibt in aller Regel verborgen, ausgenommen den Fall, die Bustings werden im Netz ›ausgewertet‹. Vor diesem Hintergrund geht es hauptsächlich darum, ob und in welcher Weise die obigen Bedingungen begründbar erfüllt werden. Dies wiederum ist zum großen Teil abhängig von den verwendeten Ressourcen und Praktiken, die im Folgenden im Fokus stehen. Semiotische Ressourcen und Verfremdungspraktiken: Entwurf einer Typologie Die semiotischen Ressourcen9 für die Verfremdung werden – abgesehen von einzelnen Ausnahmen (s. u.) – im Wesentlichen von den Originalplakaten der Parteien übernommen. Es handelt sich beim Plakat-Busting folglich um eine Art textsortenabhängiger Anschlusskommunikation, realisiert durch eine spezifische Ausprägung von Intertextualität,10 nämlich (schriftlicher) Dialogizität im öffentlichen Raum (vgl. Schmitz/Ziegler 2016), die in Form multimodaler Aneignungsspuren sichtbar wird. Die Herbeiführung einer solchen Intertextualität/Dialogizität habe ich Resemiotisierung genannt und meine damit »eine – mehr oder weniger – komplexe Form von Bedeutungskonstitution, bei der durch die Modifikation bereits vorhandener Zeichen jedweder Ausprägung diesen eine andere als die ursprüngliche Bedeutung zugeschrieben wird« (Pappert 2017b: 56). Die nach ihrer Befestigung ortsgebundenen Wahlplakate eröffnen also Handlungsräume, indem sie eine – wenn auch so nicht intendierte – Möglichkeit zur Interaktion bereitstellen (vgl. Auer 2010: 275). Wird von diesem ›Angebot‹ Gebrauch gemacht, handelt es sich um Dialogizität im Bachtin’schen Sinne,11 die, abhängig von den jeweils genutzten Praktiken und/oder semiotischen Ressourcen mal enger und mal weiter zu fassen ist. In einem ersten Schritt geht es also darum, welche dem Plakat innewohnenden Ressourcen als Zeichen wieder- bzw. anders benutzt werden.
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Abb. 1: Screenshot Wikiausschnitt
Die Originalplakate als statische Sehflächen12 bestehen aus geschriebener Sprache (verbale Zeichen) und stehenden Bildern (nonverbale Zeichen). Hinzu treten Typografie, Schriftgröße und Schriftfarbe (paraverbale Zeichen) sowie Elemente zur FlächenGestaltung wie etwa Design, Layout, Farbe (zur Text-Bild-Sorte Wahlplakat vgl. Pappert 2017a). Aber auch die Medialität, Materialität und Lokalität als außersprachliche »Faktoren, die die sinnliche Wahrnehmbarkeit eines Textes betreffen« (Fix 2008: 344), sind bei einer Erfassung und Systematisierung der Ressourcen zu berücksichtigen, wenn auch hinsichtlich der Materialität13 in einer anderen Lesart, als Fix sie vorschlägt.
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Die Herausarbeitung und Kategorisierung der nun vorgestellten multimodalen Praktiken erfolgte im Anschluss an eine erste Studie (Pappert 2017b) im Wesentlichen auf der Basis eines im Rahmen zweier Kurse an der Universität Duisburg-Essen erstellten nichtöffentlichen Korpus auf Wiki-Basis. Die Studierenden erhielten den Auftrag, während des Landtagswahlkampfes 2017 in Nordrhein-Westfalen Verfremdungen jeglicher Art zu sichten und diese, versehen mit einigen Metadaten (Stadt, Stadtviertel, Kommunikationsform bei digitalen Verfremdungen, Datum), in das Wiki einzupflegen. Dem Phänomen nachgespürt wurde in 18 verschiedenen Orten in NRW sowie im Internet, entdeckt wurden ca. 600 Fundstücke.14 Zusätzlich sollten die jeweiligen Originalplakate recherchiert werden, die sowohl in der Realität (für die Verfremdenden) als auch in der Analyse als Referenztexte dienten, und zwar vor allem dann, wenn die abgebildeten Bilder/Texte der Originale infolge der Verfremdungen nicht mehr rekonstruierbar waren (vgl. Abb. 1). Die Fundstücke wurden in einem ersten Schritt in den Kursen vorgestellt und diskutiert. Im Zuge der Diskussion wurden mehrfach aufgespürte sowie fälschlich zugeordnete Belege aussortiert und die als Busting in Frage kommenden Fälle hinsichtlich der verwendeten Praktiken systematisiert. Als Kategorienbezeichnungen wurden einfache, aber weitgehend selbsterklärende Nominalisierungen gewählt. Auf diese Weise konnten nicht nur die Methoden und Techniken sowie die benutzten Hilfsmittel, sondern auch die zahlenmäßige Verteilung der Praktiken erfasst werden. Die induktiv gewonnenen Kategorien sind als vorläufig aufzufassen, denn sie sind insofern problematisch, als sie a) nicht trennscharf sind, b) in einigen Fällen mehrere Praktiken zur Anwendung kommen und c) sie noch weiter differenziert werden müssten. So gibt es Verfremdungen, die als durchaus prototypisch gelten können, zum Beispiel das sogenannte »Hitlerizing«, also das Anmalen eines »Hitler-Barts« (vgl. Gherairi 2015: 506) als typisches Übermalen. Andere hingegen nehmen eine Art Zwitterstellung zwischen den Kategorien ein. In der folgenden Tabelle werden die Ergebnisse für die Verfremdungen vor Ort zusammengefasst: Praktiken An- oder Abreißen An- oder Überkleben An- oder Übermalen An- oder Überschreiben Verschmutzen
›technische‹ Hilfsmittel keine Aufkleber, Klebeband, Papier Stift, Spray, Kreide, Pinsel Stift, Spray, Kreide, Pinsel Dreck, Zigarettenkippen, Kaugummi
Belege 180 105 111 63 7
Tab. 1: Übersicht analoge Verfremdungspraktiken
Die Zahlen sind keinesfalls repräsentativ, können aber angesichts weitgehend fehlender Untersuchungen zum Wahlplakat-Busting einen ersten Einblick in die quantitative Verteilung der verwendeten Praktiken liefern.15 So zeigt die Übersicht beispielsweise, dass die materielle Zerstörung der Plakate an erster Stelle steht. Das mag daran liegen, dass für diese Praktiken keinerlei mitgeführte Hilfsmittel benötigt werden. Vor allem aber wirft dies bereits die grundsätzliche Frage auf: Handelt es sich bei der Mehrzahl der
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Fälle tatsächlich um eine Form von Protest? Die Antwort darauf ist schwierig, weil die gleichen Praktiken unterschiedlich motiviert sein können. So ist zum Beispiel denkbar, dass Angriffe auf Wahlplakate – und eben nicht auf andere Werbeflächen – in der Mehrzahl politisch motiviert sind, somit also per se eine Form von Protest darstellen. Möglich wäre aber auch die Annahme, dass viele Verfremdungen einfach nur Akte Verdrossener abbilden, denen die massenhaft gehängten Plakate als willkommene Frustabbauflächen dienten. Unabhängig von der Perspektive braucht es für verlässliche Antworten aber größere Korpora. Auf solch einer Basis könnte man folgende Formel zugrunde legen: Je höher die Dialogizität, desto wahrscheinlicher handelt es sich um eine Form des Protestes. Diese Annahme soll im Folgenden anhand der ersten vier Praktiken exemplarisch illustriert werden. An- oder Abreißen Beim Anreißen werden Teile des Plakates durch Muskelkraft entfernt. Unterschieden werden sollten das wahllose und das gezielte Anreißen. Ersteres zeichnet sich dadurch aus, dass das Plakat an irgendeiner Stelle ohne inhaltlichen Bezug deformiert wird. 16 Bei Letzterem werden hingegen gezielt Text- und/oder Bildelemente entfernt, sodass ein bestimmter Bezug zum Original erkennbar wird. So könnten abgerissene Textteile darauf hindeuten, dass sich die Aktion gegen die entfernten Inhalte bzw. die abgebildete Person richtet. Dies geschieht meist vom Rand des Plakates aus, so dass bisweilen angrenzende Teile des Plakates in Mitleidenschaft gezogen werden. Beim Anreißen ist in jedem Fall der Referenztext bzw. die jeweils plakatierende Partei zumindest ansatzweise für die Rezipierenden rekonstruierbar.17 Ein recht eindeutiges Beispiel zeigt sich an einem weitgehend abgerissenen Plakat der Gründen (Abb. 2).18 Dass es sich bei dieser Praktik um eine Protesthandlung handelt, ließe sich zumindest für dieses Beispiel folgendermaßen begründen: Produziert wird der Protest durch das Entfernen des Großteils der Sehfläche. Das Eliminieren des Materials wird nicht nur wahrgenommen, sondern gleichzeitig auch als Protest erkannt und in diesem Sinn auch interpretiert. Freilich wird hier der Protest – zumindest von einer Person – nicht akzeptiert, sondern reaktiv kommentiert. Nichtmaterialität wird auf diese Weise gewissermaßen zum Zeichen, dem nicht nur eine Bedeutung und eine Funktion zugewiesen werden kann. Vielmehr eröffnet diese Art der Nichtmaterialität auch die Möglichkeit zur Anschlusskommunikation bzw. fordert diese sogar heraus. So sehen wir hier ein Beispiel für eine sukzessive Umformung, die sich aus mehreren ›Dialogschritten‹ zusammensetzt (vgl. Michel/Pappert 2018: 25–27), nämlich dem Anreißen und dem auf das Anreißen folgenden Kommentar plus dem Trialog mit den unbeteiligten Betrachter:innen vor Ort und den Leser:innen der Westfalenpost, der das Beispiel entnommen wurde. Etwas anders verhält es sich beim Abreißen, also der vollständigen Entfernung eines Plakates. In der Konsequenz einer solchen Vorgehensweise ist der multimodale Referenztext weder identifizierbar noch rekonstruierbar, das heißt alle im Original enthaltenen Ressourcen werden gleichsam ›entsemiotisiert‹ – es sei denn, das Plakat liegt abseits des ihm zugedachten Platzes herum. Trotz des nicht mehr existenten Referenztextes in solchen Situationen liegt unter gewissen Voraussetzungen immer noch eine Form von Resemiotisierung vor. Nämlich dann, wenn man davon ausgeht, dass alle Phänomene in den Blick genommen werden müssen, die aus Sicht der vor Ort Agieren-
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Abb. 2: »Diese GRÜNEN-Hasser …«
den zur lokalen Sinnkonstituierung beitragen (könnten), selbst wenn diese als Aneignungspraktik politischer Kommunikation aus Sicht der Analysierenden völlig abwegig erscheinen. Wenn beispielweise Anwohner:innen aufgrund ihres täglichen Gangs zur Arbeit wissen, dass zu einem früheren Zeitpunkt an der Stelle, wo sich jetzt nur noch Kabelbinder befinden oder aber gar nichts mehr, ein Wahlplakat einer bestimmten Partei hing, könnten sie dies durchaus symbolisch interpretieren, vermutlich sogar mit derselben Bedeutung, die dem/der Verursachenden der Eliminierung vorschwebte. Auch in solchen Fällen wird Nichtmaterialität zum Zeichen, dem eine Bedeutung zugeschrieben wird oder werden kann (vgl. Pappert/Roth 2022). An- und vor allem Abreißen stellen wohl die Praktiken dar, denen – zumindest auf dem ersten Blick – am wenigsten Dialogizität zuzuschreiben ist. Geht man allerdings davon aus, dass Wahlplakate nicht zufällig Gegenstand solcher Attacken sind, liegt auch bei diesen Praktiken Dialogizität im weiten Sinne vor. Die gezielt ausgewählten Wahlplakate fungieren dann gleichsam als »Ansprechpartner«, denen als eine Art Stellvertreter auf rigide Weise gezeigt werden kann, was man von ihnen (Parteien, Politiker:innen und ihrer Politik) hält. Hier geht es nicht um Argumentation, sondern um das gewalttätige Anzeigen von Unzufriedenheit oder Wut, wobei der Akt der Zerstörung in aller Regel zugleich das Ende des Dialogs markiert (vgl. Schmitz/Ziegler 2016: 477).
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An- oder Überkleben Die Unterscheidung zwischen An- und Überkleben soll darauf abheben, dass auch bei diesen Praktiken zwischen ungerichtetem und gerichtetem Vorgehen zu unterscheiden ist. Hinzu tritt die wichtige Frage, mit welchem Hilfsmittel an- oder überklebt wurde. Unter der Bezeichnung Ankleben werden die Praktiken subsummiert, bei denen bildund/oder textfreie Flächen des Plakats ›genutzt‹ werden. In solchen Fällen wird fast ausnahmslos mit Aufklebern gearbeitet (in einzelnen Fällen auch mit kleinformatigen »Fremdplakaten«19), die in ihrer abgegrenzten Materialität als mehr oder weniger komplexes Zeichen das Original lokal unbestimmt überdecken, wobei »zwischen indexikalischen und nicht-indexikalischen überschichtenden Zeichen zu unterscheiden« ist (Auer 2010: 287). Letzteres ist Abb. 3: »Auftragsbeschaffer der Rüstungsinder Fall, wenn kein semantischer Bezug dustrie« zwischen Plakat und Aufkleber hergestellt werden kann, beispielsweise, wenn ein Aufkleber für eine Biermarke wirbt (vgl. auch Philipps/Schölzel/Richter 2016: 99). Zum indexikalischen Zeichen wird der Aufkleber hingegen, wenn er durch seine von ihm vermittelte Botschaft die Inhalte des Plakats kommentiert, kritisiert oder ad absurdum führt, so wie auf einem Wahlplakat der SPD (Abb. 3).20 Hier wird die ergänzende Botschaft gezielt neben das Konterfei des Kandidaten geklebt, weil der als Rüstungsindustrie-Lakai Gescholtene ja (wieder)erkannt werden soll. Dass es sich bei dieser Praktik um eine Form des Protestes handelt, dürfte auf der Hand liegen, auch wenn die Frage nach der Akzeptanz unbeantwortet bleiben muss. So klassifizieren auch Björkvall/Vigsø (2021) die hier zutage tretende Praktik als »transformation-driven destruction«,21 zumal angesichts des vorbereiteten Klebezettels, der auf allen Kahrs-Plakaten im Umkreis zu finden war, hier wohl »organized activists« am Werke waren. Bei der nicht-indexikalischen Variante haben wir es mit einer sehr schwach (vergleichbar dem wahllosen Anreißen), bei der indexikalischen mit einer mitunter sehr stark ausgeprägten Dialogizität zu tun. Beim Überkleben ist die Dialogizität von vornherein eher stärker ausgeprägt, wobei Aufkleber auch in diesen Positionierungen einen semantischen Mehrwert aufweisen können. Mit dieser Bezeichnung werden Überschichtungen erfasst, die gezielt Textbzw. Bildelemente als Ganzes (im Extremfall das ganze Plakat) oder in Teilen verdecken. Auch diese können indexikalisch oder nicht-indexikalisch sein. In einem anderen Beispiel (Abb. 4)22 finden sich beide Varianten.
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Während mit dem links befindlichen Aufkleber explizit das Plakat als »NaziPropaganda« gebrandmarkt und somit Protest ausgeübt wird, findet sich beim rechten Aufkleber kein Bezug zum Plakat. Gleichwohl wird aber ein Schriftzug des Wahlplakates und nicht irgendeine andere Fläche überklebt. Inwieweit es sich hier um (schwach ausgeprägten) Protest handelt, ist schwer zu beantworten. Neben den allgegenwärtigen Aufklebern finden sich im Wiki-Datenset auch Belege, bei denen einzelne Buchstaben und Silben mit Klebeband verdeckt wurden, um die Inhaltslosigkeit der Gesamtaussage des Plakates zu karikieren. So wird auf einem Plakat der CDU aus »Schneller. Mehr Bewegung. Weniger Stau.« durch Überkleben »Schnee. Mehr weg. Weniger tau.«. Aber auch Bildelemente können gezielt überklebt werden. So finden sich z. B. Abb. 4: »Hier wurde Nazi-Propaganda überklebt!« schwarze Anonymisierungsbalken über den Augen oder ›lustige‹ Münder und Augen auf den entsprechenden Gesichtspartien der Abgebildeten. Letztere Vorgehensweisen gehören nach Björkvall/Vigsø (2021) ebenso wie das folgend illustrierte An- und Übermalen zur Kategorie »expressionistic destruction«,23 wobei es sicherlich auch hier eine ganze Reihe von Grenzfällen gibt. An- und Übermalen Auch bei diesen Praktiken handelt es sich um Überschichtungen. Im Unterschied zum An- und Überkleben bzw. zum An- und Überschreiben operieren die hier angesprochenen Praktiken überwiegend auf der Bildebene. In der Regel werden beim Übermalen dargestellte Personen zeichnerisch entstellt, indem ihren Gesichtern – meist dilettantisch – Brillen, Bärte, Pickel, Narben, Zahnlücken, Penisse etc. hinzugefügt werden. Dialogisch sind diese das Antlitz modifizierenden Praktiken insofern, als sie sich direkt auf die Abgebildeten beziehen und auf diese Weise eine Botschaft vermitteln (sollen). So ist das Bemalen eines SPD-Plakats (Abb. 5)24 ein Beispiel aus einer ›Serie‹ von Anmalereien derselben Person, sodass der Verdacht nahe liegt, dass es sich hier um einen gezielten Angriff auf eben diese Kandidatin handelt und somit ein politisches (persönliches?) Motiv unter Umständen unterstellt werden kann. Inwieweit damit eine Kritik an eben jener Person verbunden ist, muss also immer im Einzelfall überprüft werden. Auch findet sich eine Vielzahl von Fällen des Anmalens, bei denen wahllos Farbe über das Plakat verteilt wurde, meist mittels Spraydose. Kreu-
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ze, Striche, Wellenlinien und andere Formen dienen dabei dem (unbestimmten) Ausdruck von Missbilligung. Von Protest kann hier sicherlich nur bedingt die Rede sein, es sei denn, es lassen sich gewisse Muster erkennen, etwa wenn mit demselben Werkzeug nur die Plakate einer Partei bearbeitet wurden. An- und Überschreiben Im Gegensatz zum An- und Übermalen sind die hier beschriebenen Praktiken ausschließlich der verbalen Ebene zuzuordnen. Unabhängig davon richtet sich die Unterscheidung zwischen Anund Überschreiben aber auch hier nach den in den Praktiken 1–4 (Tab. 1) dargelegten Kriterien, allerdings mit einigen Modifizierungen. Unter Anschreiben werden verbale Äußerungen Abb. 5: Bemalung eines Plakats gefasst, die nicht direkt in die Texte des Originalplakats verwoben sind bzw. diese als Schriftlichkeitsressourcen nutzen. Gleichwohl können sie einen direkten Bezug zu diesen Texten bzw. deren Elementen aufweisen, so dass mitunter »echte schriftliche Dialoge in einem strengen Sinn« (Schmitz/Ziegler 2016: 491) vorliegen. So steht auf einem Plakat, auf dem Oskar Lafontaine abgebildet ist: »Du bist ok doch dein Partei ist zum Kotzen« (Originalschreibung beibehalten). In den häufigsten Fällen finden wir jedoch kurze Unmutsäußerungen wie beispielsweise »Wahl ist Verrat«, »Lüge« oder »Scheiße«, die sowohl direkt auf die durch das jeweilige Plakat repräsentierte Partei bzw. Person Bezug nehmen als auch zum Ausdruck einer allgemeinen Politik- bzw. Parteienverdrossenheit dienen können (bspw. wenn sich die gleiche Aussage in derselben Typografie auf mehreren Plakaten unterschiedlicher Parteien befindet). Daneben gibt es eindeutige Fälle, so, wenn neben dem Konterfei von Sahra Wagenknecht »DDR« und »Stasi« zu lesen ist oder wenn den abgebildeten Personen Sprechblasen angeschrieben werden. Bei den genannten Formen handelt es sich um eine hohe Dialogizität aufgrund semantischer Bezugnahme. Mit Überschreiben werden Modifizierungen des Ursprungstextes bezeichnet, wobei in einigen Fällen versucht wird, Typografie, Schriftund Hintergrundfarbe sowie das Layout weitgehend beizubehalten, jedenfalls soweit dies analog möglich ist. Meist geschieht dies eher punktuell in Form von veränderten Buchstaben, so wird aus »Renner« »Penner« oder aus »Schmiedel« »Schniedel«. Neben diesen doch recht infantilen Varianten finden wir Wortersetzungen, das heißt das Originalwort wird durchgestrichen und durch ein anderes ausgetauscht, das die Gesamtbotschaft ›in einem anderen Licht‹ erscheinen lässt: »Die neue Generation Politik« wird zu »Die alte Generation Politik«. Alles in allem, und das ist nicht überraschend, ist bei den hier aufgeführten verbalen Praktiken der wohl höchste Grad an Dialogizität zu verzeich-
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nen. So gilt unter Bezugnahme auf die oben formulierte Formel: Wenn die bezugnehmende Dialogizität sprachlich konstituiert wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Form des Protestes handelt, sehr hoch. Neben solchen Formen von Dialogizität finden wir aber auch andere. So werden Plakate analog zu Häuserwänden mit Tags (Graffiti-Signaturen) versehen, mit denen unter Umständen angezeigt werden soll, dass die Plakate im Revier XY hängen und dort nicht gerne gesehen werden. Hier handelt es sich wohl eher um eine Form der Selbstdarstellung als um Protest. In Abb. 625 sind die letztgenannten Praktiken noch einmal vereint, so dass die Protestpotenziale der einzelnen Zeichenarten ›auf einen Blick‹ vergleichbar sind. Unabhängig davon, ob eine oder mehrere Personen hier agierten – zumindest sieht es so aus, als ob derselbe Stift benutzt Abb. 6: »AfD ist für´n Arsch« wurde –, werden verschiedene Praktiken mit unterschiedlichem Protestpotenzial zur Anwendung gebracht. Zum einen das Anschreiben als offenkundig indexikalische Zeichensetzung, indem dem AfD-Kandidaten die Worte »AfD ist für’n ARSCH« per Sprechblase in den Mund gelegt werden. Der andere sprachliche Teil »Love TRUMPS Hate!« könnte ob seiner Anordnung rechts unter dem Namen auch indexikalisch zu lesen sein, wäre dann aber grammatisch falsch. Beide sprachlichen Ergänzungen wären somit Kommentare, die – Trump-Anhänger ausgeschlossen – gegen die AfD gerichtet und somit gewissermaßen als Protest aufzufassen sind. Anders verhält sich das bei den hinzugefügten Bildelementen, die fraglos auch indexikalisch sind. So wird der Kandidat durch das Bemalen in jedem Fall persönlich angegriffen. Allerdings sind die hinzugefügten Elemente nicht ganz stimmig. Dreizack, Hörner und Teufelsschwanz sowie vielleicht die geschwärzten Augen sollen wohl darauf hindeuten, dass der abgebildete Kandidat bösartig ist. Inwieweit das ›Ensemble‹ aus Ziegen-, Zwirbel- und Hitlerbart mit dem Bild des Teufels harmoniert bzw. zum Teufel passende Charaktereigenschaften evoziert, sei der Entscheidung der Betrachtenden anheimgestellt. Fazit Ob Wahlplakat-Busting eine multimodale Form des Protestes darstellt, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Ganz allgemein ist davon auszugehen, dass die ›Nutzung‹ der Wahlplakate darauf deutet, dass die gezeigten Praktiken sich – wie andere transgressive Zeichenverwendungen26 auch – zumindest gegen ›die Kolonialisierung des öffentlichen
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Raumes‹ (Auer 2010: 295), hier durch die Parteien während der Wahlkämpfe, richtet. Die zur Resemiotisierung verwendeten ›alltäglichen‹, zuweilen fantasievollen Praktiken zielen jedoch zum großen Teil nicht vorrangig auf gesellschaftsveränderndes Handeln, obzwar dieses durchaus eine Rolle spielen kann, sondern – ähnlich den meisten Graffiti – auf Aufmerksamkeit, die durch das Umformen, das Umdeuten und das Umnutzen der Wahlplakate hervorgerufen wird. Oftmals handelt es sich aber eben auch um eine Spielart politischer Anschlusskommunikation. Die in diesen Fällen unter Verwendung verschiedener semiotischer Ressourcen realisierten (Gegen-)Positionen changieren allerdings zwischen konstruktiv und destruktiv, zwischen anspruchsvoll und einfallslos. Kreativ-künstlerische Bustings sind allerdings die Ausnahme, was angesichts der Illegalität des Vorgehens und der somit fehlenden Produktionsmuße nicht überrascht. Ob und inwieweit es sich bei den jeweils realisierten Praktiken tatsächlich um Protesthandlungen im engeren Sinne handelt, muss – und das ist die Quintessenz dieses Beitrages – stets am Einzelfall überprüft werden. Literatur Peter Auer: »Sprachliche Landschaften. Die Strukturierung des öffentlichen Raums durch die geschriebene Sprache« In: Arnulf Deppermann, Angelika Linke (Hg.): Sprache intermedial – Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin/New York 2010, S. 271–300. Autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blisset & Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla. 4. Aufl. Berlin/Hamburg/Göttingen 2001. Anders Björkvall, Orla Vigsø: »The Semiotics of Destruction of Election Posters« MULTIMODALITY TALKS Series, 28. Mai 2021. https://multimodalforum.org/2021/06/03/ multimodality-talks-series-the-semiotics-of-destruction-of-election-posters/. Anders Björkvall, Arlene Archer: »Semiotics of destruction: traces on the environment« In: Visual Communication, 2021, S. 1–19. https://doi.org/10.1177/1470357220957375. Ulla Fix: »Nichtsprachliches als Textfaktor: Medialität, Materialität, Lokalität« In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 36(3), 2008, S. 343–354. Jasmina Gherairi: Persuasion durch Protest. Protest als Form erfolgsorientierter, strategischer Kommunikation. Wiesbaden 2015. Martin Luginbühl, Claudio Scarvaglieri: »Diskursive Interdependenz im Abstimmungskampf. Die Plakate der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und ihre Verarbeitung in verschiedenen Kommunikationsbereichen« In: Steffen Pappert, Sascha Michel (Hg.): Multimodale Kommunikation in öffentlichen Räumen. Texte und Textsorten zwischen Tradition und Innovation. Stuttgart 2018, S. 159–186. Antonio Marco Martínez: Local elections in Pompeii. http://www.antiquitatem.com/en/pompeiielectoral-graffiti-aedile-iivir/ 2014 (Abruf: 15.03.2022). Sascha Michel, Steffen Pappert: »Wahlplakat-Busting. Formen und Funktionen einer (neuen) Textmustermischung« In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, Bd. 68/2018, S. 3–33. Sascha Michel, Steffen Pappert: Multimodale Protestpraktiken analog und digital: Zur kritischen Aneignung von Wahlplakaten vor Ort und im Netz. In: Mark Dang-Anh, Dorothee Meer, Eva Lia Wyss (Hg.): Protest, Protestieren, Protestkommunikation. Berlin/Boston 2022, S. 167–194. Steffen Pappert: »Wahlplakate« In: Jörg Kilian, Thomas Niehr, Martin Wengeler (Hg.): Handbuch Sprache und Politik. Band 2. Bremen 2017a, S. 607–626. Steffen Pappert: »Plakatbusting: Zur Umwandlung von Wahlplakaten in transgressive Sehflächen« In: Heidrun Kämper, Martin Wengeler (Hg.): Protest – Parteienschelte – Politikverdrossenheit. Politikkritik in der Demokratie. Bremen 2017b, S. 55–75.
Plakat-Busting: Vandalismus, Protest oder was?
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Steffen Pappert, Kersten Sven Roth: »Keine Texte« In: tekst i dyskurs – text und diskurs, 16/2022 (im Erscheinen). Axel Philipps, Hagen Schölzel, Ralph Richter: »Defaced election posters: Between culture jamming and moral outrage. A case study« In: Communication, Politics & Culture, 49 (1), 2016, S. 86–110. Schmitz, Ulrich: »Sehflächenforschung. Eine Einführung« In: Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm, Hartmut Stöckl (Hg.), Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin 2011, S. 23–42. Ulrich Schmitz: »Multimodale Texttypologie« In: Nina-Maria Klug, Hartmut Stöckl (Hg.): Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Berlin/Boston 2016, S. 327–347. Ulrich Schmitz, Evelyn Ziegler: »Sichtbare Dialoge im öffentlichen Raum« In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, 44 (3), 2016, S. 469–502. Ron Scollon, Suzie Wong Scollon: Discourses in Place: Language in the Material World. London 2003. Pierre Smolarski: »Crossing Codes. Zur Rhetorik des Adbust« In: Sprache für die Form, 2/2013. http://www.designrhetorik.de/crossing-codes-zur-rhetorik-des-adbust/ (Abruf: 21.03.2022). Pierre Smolarski: »Undergroundmedien. Entwurf einer Rhetorik der Subversion« In: Arne Scheuermann, Francesca Vidal (Hg.): Handbuch Medienrhetorik. Berlin/Boston 2017, S. 359–385. Jürgen Spitzmüller, Christian Bendl: »Veränderung durch Stabilität. Konturen einer Protest(meta)pragmatik« In: Mark Dang-Anh, Dorothee Meer, Eva Lia Wyss (Hg.): Protest, Protestieren, Protestkommunikation. Berlin/Boston 2022, S. 27–59. Evelyn Ziegler: »Sehflächen im sozialen Kontext« In: Hermann Cölfen, Patrick Voßkamp (Hg.): Unterwegs mit Sprache. Beiträge zur gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Relevanz der Linguistik. Duisburg 2013, S. 321–344.
1 https://www.fr.de/politik/bundestagswahl-zerstoerte-wahlplakate-welche-parteien-betroffen-
sind-91052018.html (22.03.2022). 2 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-10/zerstoerte-wahlplakate-parteien-innenmini-
sterium-bundestagswahl (22.03.2022). 3 https://www1.wdr.de/nachrichten/bundestagswahl-2021/wahlplakate-zerstoert-beschmiert-ge
faelscht-100.html (22.03.2022). 4 https://taz.de/Adbusting-von-Wahlplakaten/!5059270/ (22.03.2022). 5 Vgl. z. B. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/verfremdete-wahlplakate-die-rache-des-
volkes-a-374444.html (22.03.2022). 6 Ob der hier behandelte Umgang mit Wahlplakaten tatsächlich eine neuere Praxis darstellt oder
ob vielleicht die digitalen Medien, die lokale Ereignisse global zugänglich machen, die Aufmerksamkeit auf das Busting verstärkten, sei an dieser Stelle dahingestellt. Vermutet werden darf aber, dass mit dem Verfremden von Wahlkampfbotschaften jeglicher Art seit jeher gerechnet werden musste. So fühlten sich bereits im alten Pompeji die Autoren von Wahlempfehlungen bemüßigt, ihre Textprodukte mit entsprechenden Warnungen zu versehen: »For example a certain Celer reports that ›Aemilius Celer, his neighbor, wrote it‹, and in anticipation that someone erased, he added: ›If you have the evil to erase it, I wish something wrong for you.‹« (Martinez 2014; Herv. i. Orig.). 7 Im Falle digitaler Verfremdung ist der Raum geschützt und zudem ein virtueller. Im Hinblick auf die Produktion und Distribution der Verfremdungen eröffnen sich hier ganz andere Mög-
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lichkeiten, die erheblichen Einfluss auf die »Protesthaftigkeit« des Bustings haben bzw. haben können (vgl. Michel/Pappert 2022: 181–191). 8 Vgl. beispielsweise https://www.ddorf-aktuell.de/2021/08/03/duesseldorf-der-ehrliche-wahl kampf-der-cdu-plakataktion-von-extinction-rebellion/ oder https://www.abendzeitung-muen chen.de/muenchen/suv-partei-aktivisten-ahmen-csu-wahlplakate-nach-art-488861 (beide eingesehen am 22.03.2022). 9 Zu den semiotischen Ressourcen und deren Illustrierung anhand einer Reihe von Beispielen vgl. Pappert (2017b: 63–71). 10 Vgl. Björkvall/Archer (2021: 3): »We argue that traces of destruction are text-like in the sense that they are (partial and fragmental) representations of previous semiotic acts. Acts of destruction often leave traces: composite remnants of the destroyed object, as well as remnants of the act of destruction in the place in which the act took place.« 11 »Darunter sind solche Dialoge zu verstehen, die nicht kollaborativ in einem gemeinsam geteilten Interaktionskontext hervorgebracht werden und nicht durch wechselseitige Wahrnehmung gekennzeichnet sind, gleichwohl aber Beziehungen zwischen Äußerungen, d. h. intertextuelle Bezüge und Rekontextualisierungen, aufweisen, zu Reaktionen auffordern oder als Reaktionen auf andere, frühere Äußerungen zu verstehen sind.« (Schmitz/Ziegler 2016: 472). 12 Zu »Sehfläche« vgl. Schmitz (2011). 13 Im Gegensatz zu Fix (2008: 347), die unter der Bezeichnung Materialität »im Schriftlichen vor allem Typographie und Lesefläche« fasst, wird hier mit Materialität auf die materiellstofflichen Eigenschaften der Wahlplakate Bezug genommen, einschließlich der Frage, was zur Sehfläche gehört und was nicht (vgl. Schmitz 2016: 333). 14 Darüber hinaus bittet der Verfasser seit einigen Jahren Bekannte und Freund:innen, die über ganz Deutschland verteilt sind, anlässlich der jeweils anstehenden Wahlkämpfe Bustings zu fotografisch zu dokumentieren. Auf diese Weise wurden noch einmal ca. 150 Belege aus mindestens 10 Großstädten zusammengetragen. Eine weitere recht ergiebige Quelle ist die anfangs erwähnte massenmediale Berichterstattung, aus der das eine oder andere Beispiel entnommen wurde. 15 Es gibt meines Wissens lediglich eine weitere Studie in Deutschland, die anlässlich der Bundestagswahl 2013 im Leipziger Stadtgebiet durchgeführt wurde. Sowohl das von Philipps/Schölzel/Richter (2016) erarbeitete Kategorieninventar als auch die zahlenmäßige Verteilung der Praktiken entsprechen im Wesentlichen unseren Ergebnissen. 16 Wahllos bezieht sich ausschließlich auf die Teile der Sehfläche, nicht aber auf die Sehfläche Wahlplakat als Ganzes. Es ist davon auszugehen, dass Wahlplakate nicht oder zumindest in den seltensten Fällen zufällig in irgendeiner Art verfremdet werden, das heißt auch der/die Betrunkene oder sonst wie derangierte Passant:in wird mehr oder weniger gezielt das Wahlplakat für die daran zu vollziehenden Akte auswählen. Ob dahinter eine politische Botschaft steckt, steht auf einem anderen Blatt. 17 Die Frage, inwieweit es sich beim Anreißen nicht doch um gescheiterte Abreißversuche handelt, muss aus nachvollziehbaren Gründen offenbleiben. 18 Quelle: https://www.wp.de/staedte/wittgenstein/bad-laasphe-wahlplakate-der-gruenen-systema tisch-zerstoert-id233183067.html (22.03.2022). 19 In einzelnen Fällen sind die Zusatzplakate auch in unmittelbarer Nähe der Originalplakate angebracht, auf die sie dann indexikalisch verweisen (vgl. Pappert 2017b: 65–66). 20 Quelle: Steffen Pappert. 21 »Transformation-driven destruction aims at social, political or ideological change, including revolutionary acts of removing symbols from a landscape.« (Björkvall/Archer 2021: 7).
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22 Quelle: Steffen Pappert. 23 »Expressionistic acts of destruction are often performed by individuals, triggered by interac-
tions with others or objects, and are to be regarded as driven by individual impulses rather than group expectations (whilst acknowledging that the distinction between these two is not clear cut).« (Björkvall/Archer 2021: 3). 24 Quelle: WiKi. 25 Quelle: WiKi. 26 »A transgressive sign is a sign which is in place but which is in some way unauthorized – graffiti, trash, or discarded items are the most common examples of transgressive semiotics.« (Scollon/Scollon 2003: 146).
Katharina Stelzel Graffiti im Baskenland – Seismographen des Konflikts?
Einleitung Das Baskenland ist international bekannt für seine gehobene Küche und für sein Filmfestival, unter Surfer:innen für seine wellenreichen Buchten, bei Kunstliebhaber:innen für das Picasso-Werk Guernica, unter Jesuiten als Wallfahrtsort und politisch für seinen Jahrzehnte andauernden bewaffneten Konflikt. Aber für Graffiti hat es sich keinen Namen geschaffen und wird daher zumeist nicht mit Orten wie New York oder Berlin gleichgesetzt. Wer jedoch einmal im Baskenland war, wird die hohe Dichte an Wandbildern, Sprüchen und Logos an Hauswänden und allgemein an anonymer, visueller und – offensichtlich – politischer Kommunikation im öffentlichen Raum als augenfällig bezeichnen. Diese Werke haben erkennbar keine primär ästhetische Funktion und sind wegen der Verwendung der baskischen Sprache und lokaler Symboliken für Außenstehende schwer zu dechiffrieren. Doch die hohe Anzahl, die mitunter sehr zentrale Positionierung und die Größe der visuellen Kommunikation lassen die Vermutung aufkommen, dass es sich um ein Phänomen handelt, dem innerhalb der baskischen Gesellschaft eine spezifische Funktion zukommt. Sicherlich dienen die politischen Graffiti der politischen Sozialisation und als Austausch- und Informationsorgan, zumal in Zeiten des bewaffneten Konflikts Themen tabuisiert waren. Aber auch die Markierung der territorialen Vorherrschaft einer bestimmten Konfliktpartei mag sich über die Graffiti im Baskenland ausdrücken. Nicht zuletzt bewirkt die Verwendung der baskischen Sprache ein Zugehörigkeitsgefühl bei den einen und einen gesellschaftlichen Ausschluss bei anderen, da nicht jede:r im Baskenland des Euskeras1 mächtig ist. Es stellt sich daher die Frage, welche Inhalte an welchen Orten und auf welche Art kommuniziert werden. Finden sich Unterschiede in verschiedenen Ortschaften? Und falls dem so ist, können die politischen Graffiti einen Einblick in den spanischbaskischen Konflikt bieten? Kann man womöglich anhand der Themen und der Intensität der Darstellungen Rückschlüsse auf die Dynamik und die Perzeption des Konflikts auf Seiten zumindest einer oder gar beider Konfliktparteien ziehen? Was soll hier durch wen und für wen kommuniziert werden? Politische Graffiti werden in diesem Beitrag hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion untersucht. Dabei wird gefragt, ob sie – ähnlich einem Seismographen, wie er auch für Erdbeben eingesetzt wird – in der Lage sind, den subjektiv empfundenen Ist-Zustand des Konflikts auf Seiten der GraffitiProduzent:innen aufzuzeigen. Dieser Beitrag möchte politische Graffiti aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive beleuchten. Der Wert einer Analyse von Wandmalereien und anderen Formen der alternativen Kommunikation (wie Transparente und Plakate) wird hier als Teil einer
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umfassenden Sozial- und Lebensraumanalyse verstanden. Die Wahrnehmung dieser Ausdrucksformen stellt einen bisher wenig praktizierten Weg der Informationsgewinnung dar, weshalb der Forschungsmethodik ein besonderes Augenmerk zufällt. Forschungsdesign Die Datengrundlage für die Ergebnisse, die in diesem Beitrag zusammengefasst werden, bilden Fotografien und Auswertungen von politischen Graffiti, die im Jahr 2006 für eine Studie erhoben wurden. Zu dieser Zeit war der Konflikt noch in einer heißen Phase. Die Befunde aus dieser Zeit sollen im Licht der heutigen politischen Situation, also in Zeiten eines bereits fortgeschrittenen Friedensprozesses, noch einmal bewertet und um neue Eindrücke ergänzt werden. Für die damalige, abduktiv durchgeführte empirische Studie wurde aus Mangel an bereits existierenden quantitativen Graffiti-Forschungen grundlegend eine methodische Vorgehensweise ausgearbeitet. Dies muss jedoch als erster Versuch gewertet werden, Graffiti im öffentlichen Raum wissenschaftlich greifbar zu machen, und bedarf einer sukzessiven Verfeinerung in Folgearbeiten. Die empirische Untersuchung stützt sich auf fotografische Aufnahmen des Forschungsgegenstands, die in einer nicht-teilnehmenden Beobachtung und daher im nicht-reaktiven Verfahren erworben wurden. Im Rahmen von zwei Forschungsaufenthalten im Jahr 2006 wurden insgesamt 186 Exemplare in jeweils sechs Orten zweier baskischer Provinzen erhoben. Die Orte wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Die 186 Exemplare wurden – im Sinne von Diekmann2 – mithilfe eines Beobachtungsleitfadens aufgenommen. Dieser standardisiert im Wesentlichen, dass nur Exemplare im Ortsinneren und hier besonders am Marktplatz sowie jene an den Straßen, die in einen Ort hinein beziehungsweise herausführen, erhoben werden. Lediglich in Donostia-San Sebastián wurde anders vorgegangen. Dort wurden die Graffiti nur in der Altstadt untersucht, dafür aber auch jene in quasi-öffentlichen Innenräumen, wie etwa in den viel frequentierten Pintxo-Bars, für welche die Stadt berühmt ist. Diese Fotografien wurden in der Studie hinsichtlich verschiedener Merkmale sowohl quantifizierend als auch hermeneutisch-deutend untersucht. Die quantitative Untersuchung gliederte sich in zwei Teile: Durch den ersten Teil wurden die Durchschnittswerte der eruierten Merkmale (wie Lage des Exemplars, Darstellungsweise und Inhalt der Aussage) über alle zwölf Orte ermittelt. Dies ermöglichte eine umfassende beschreibende Darstellung des Phänomens. Im zweiten Teil wurden drei exemplarisch gewählte Orte aufgrund der Merkmale der dort befindlichen politischen Graffiti miteinander und mit den Durchschnittswerten verglichen. Durch diesen Schritt wurde ermittelt, ob es ortsspezifische Unterschiede gibt. Im vorliegenden Beitrag wird darauf fokussiert, wie sich die baskischen politischen Graffiti insgesamt darstellen, und pointiert aufgezeigt, dass es durchaus gravierende Unterschiede im Umfang, in der Machart und auch in der inhaltlichen Ausrichtung zwischen den Ortschaften gab. Die Ergebnisse werden in diesem Beitrag zusammenfassend dargestellt und die baskischen politischen Graffiti anhand einiger Beispiele veranschaulicht. Vor diesem Hintergrund wird das Phänomen im Lichte der aktuellen politischen Entwicklungen im Baskenland erneut betrachtet. Vorab gilt es jedoch zu klären, was in diesem Beitrag unter dem Begriff Graffiti subsumiert wird und welche der möglichen Varianten des Baskenlandes der Untersuchung zugrunde gelegt wird.
Graffiti im Baskenland – Seismographen des Konflikts?
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Definition des Begriffs »Graffiti« Das Wort »Graffiti« (beziehungsweise »Graffito« im Singular) geht etymologisch auf das griechische Wort graphein zurück und bedeutet einkratzen oder einritzen. Durch eine Weiterentwicklung über das italienische Wort »sgraffiare« bildete sich das heutige Wort »Graffiti«. 1851 findet der Begriff zum ersten Mal Verwendung zur Beschreibung antiker Wandbilder in Pompeji und seit 1877 wird er für erst kürzlich angefertigte, simple Malereien und Ritzereien verwendet. Hinsichtlich der Technik kann man grob zwischen dem auftragenden und dem abtragenden Verfahren unterscheiden: Beim abtragenden Verfahren wird die Struktur der Oberfläche durch Substanzminimierung verändert wird (wie beispielsweise durch Ritzen, Kratzen oder Bohren). Beim auftragenden Verfahren wird Material hinzugefügt und dadurch die Oberfläche verändert (beispielsweise durch Malen mit Stiften oder flüssigen Farben oder durch die Verwendung von Sprühfarben, aber auch beim Anbringen von Postern, Plakaten, Bannern, Aufklebern etc.). Beim auftragenden Verfahren werden zum Teil Schablonen zur Hilfe genommen, die, übermalt oder übersprüht, ein Exemplar in sehr kurzer Zeit entstehen lassen. Ein entscheidendes Kriterium für den gegenwärtig üblichen Gebrauch des Begriffs ist der inoffizielle Charakter der Darstellung, wobei das technische Vorgehen zweitrangig geworden ist. »Graffiti« ist vielmehr als eine übergeordnete Bezeichnung subkulturaler Visualisierungen im öffentlichen Raum zu verstehen (vgl. Kreuzer3, Harper4 und Siegl5). Im Folgenden wird die Definition von Siegl zugrunde gelegt, der es folgendermaßen formuliert: »Graffiti … ist ein Oberbegriff für viele thematisch und gestalterisch unterschiedliche Erscheinungsformen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass es sich um visuell wahrnehmbare Elemente handelt, welche ›ungefragt‹ und meist anonym von Einzelpersonen oder Gruppen auf fremden oder in öffentlicher Verwaltung befindlichen Oberflächen angebracht werden.«
Siegl erweitert hier die bereits genannten Merkmale durch das der Lage des Exemplars: Der Ort der Platzierung der Graffiti durch die Produzent:innen gehört laut Siegl oftmals nicht in den persönlichen (materiellen) Besitz dieser Personen, sondern findet oft an fremdem Eigentum oder an öffentlichen Plätzen statt. Dieses Merkmal impliziert unter Umständen eine Sachbeschädigung, die strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Definition, Größe und Lage des Baskenlands Kommen wir nun zu der Frage, wo sich das Baskenland eigentlich befindet, was nicht leicht zu beantworten ist. Häufig wird von einer Region ausgegangen, die sieben Provinzen umfasst und auf zwei Staaten verteilt am Atlantik liegt: Drei der Provinzen, nämlich Lapurdi,6 Zuberoa und Behen-Nafarroa, liegen nördlich der Pyrenäen in Frankreich. Die vier Provinzen Gipuzkoa, Bizkaia, Araba und Navarra liegen südlich der Gebirgskette in Spanien. Das Baskenland ist in dieser Konstellation ungefähr so groß wie Slowenien und hat etwa so viele Einwohner wie Berlin, nämlich rund 3 Millionen. Dies ist eine der möglichen Definitionen. Man könnte sie als kulturell geprägte Definition bezeichnen. Sie beruht darauf, dass in diesen sieben Provinzen traditionell baskisches Kulturgut zu
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finden ist und dieses auch heute noch gepflegt wird. Diese Variante ist bei nationalistischen Bask:innen beliebt. Allerdings liegt es auf der Hand, dass es sich hierbei nicht um eine administrative Einheit handeln kann. Administrativ ist die Situation deutlich komplexer: Die drei Provinzen Gipuzkoa, Bizkaia und Araba bilden die administrative Einheit der so genannten »Autonomen Provinzen des Baskenlandes«, die von Seiten der Madrider Regierung genuin als »Baskenland« akzeptiert werden. Navarra mit seiner Hauptstadt Pamplona, die nicht zuletzt durch das Werk von Hemmingway bekannt ist, bildet in Spanien eine eigene Region, nämlich die »Autonome Provinz Navarra«. Die drei in Frankreich liegenden Provinzen gehören administrativ zum französischen Département Pyrenées-Atlantique. Eine dritte Möglichkeit, das Baskenland zu definieren, ist erneut kulturell geprägt: In der baskischen Sprache wird die Region Euskal Herria genannt, was als »das Land der Bask:innen« übersetzt werden kann. Zur Selbstbeschreibung eines Basken oder einer Baskin gibt es in der baskischen Sprache wiederum nur den Ausdruck Euskaldun, was so viel bedeutet wie »Baskisch-Sprecher:in«. Jede:r, die oder der die baskische Sprache spricht, wird somit zur Baskin beziehungsweise zum Basken. In diesem Verständnis ist das Baskenland entsprechend überall dort, wo Baskisch gesprochen wird und somit nicht geografisch begrenzbar. Für den vorliegenden Beitrag ist diese dritte Definition natürlich nicht praktikabel. Letztlich wurde im Rahmen der damaligen Studie entschieden, nur Graffiti in den Provinzen Gipuzkoa und Bizkaia zu untersuchen, da dort der Konflikt besonders ausgeprägt zu spüren war. Dadurch konnte die Studie bei der Definition des Baskenlandes politisch neutral bleiben. Auch in diesem Beitrag steht es den Lesenden offen, ob sie sich einem kulturell geprägten oder einem administrativen Verständnis des Baskenlandes anschließen möchten. Diskurs und Stand der Forschung Im Folgenden werden die Ergebnisse anderer Forschenden zu dieser Thematik zusammengefasst. Es liegt auf der Hand, dass bislang nur wenige empirische Studien explizit zu den baskischen politischen Graffiti unternommen wurden. Ein verbindendes Merkmal dieser Publikationen ist, dass sie eine Darstellung des Studiendesigns und der Forschungsmethodik vermissen lassen, so dass kaum festgestellt werden kann, ob beispielsweise von einem kulturell determinierten Baskenland oder einer administrativ gefassten autonomen Provinz gesprochen wird, geschweige denn, woher das Datenmaterial stammt und wie und in welchem Zeitraum es erhoben wurde. Dennoch sollen hier die Kernergebnisse der einschlägigen Publikationen zusammengefasst werden. Ecker7 untersuchte beispielsweise ganz allgemein politische Graffiti in Konfliktregionen und darunter auch jene im Baskenland. Seiner Analyse zufolge sind »Wandparolen inzwischen fixer Bestandteil der politischen Agitation«. Inhaltlich riefen sie zum bewaffneten Widerstand auf oder sie forderten den Frieden und die Versöhnung oder auch »die Freilassung von (politischen) Gefangenen oder die territoriale Unabhängigkeit«: »Gesprayt wird von den Anhängern der IRA, von korsischen Separatisten in Frankreich, sowie von Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegung ETA in Spanien. Bürgerkriegsparteien und unterdrückte Minderheiten im Freiheitskampf nützen mehr denn je politische Graffiti als Medium, um ihren Überzeugungen Ausdruck zu ver-
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leihen. Dies ist umso wichtiger, je mehr die jeweiligen Interessensgruppen im Untergrund operieren, und kaum einen Zugang zu offiziellen Printmedien, Rundfunk und Fernsehen haben. […] Die Aufnahme von politischen Graffiti in Wort und Bild sind für Redakteure dankbare Symbole, um die Stimmungslage in einem Bürgerkriegsgebiet oder einer Krisenregion zu vermitteln. Das wissen auch die Akteure.«8
Dies soll als eine allgemeine Feststellung zu politischen Graffiti in Konfliktregionen dienen. Ecker spricht bereits an, dass Graffiti die Stimmungslage in einer Region und zu einem bestimmten Zeitpunkt wiederzugeben vermögen. Dies könnte ein Hinweis sein, dass politische Graffiti tatsächlich ähnlich wie Seismographen funktionieren könnten. Hinsichtlich der Forschungsergebnisse, die sich explizit mit den baskischen politischen Graffiti beschäftigen, findet sich als älteste Publikation ein im Jahr 1988 von dem Politikwissenschaftler Chaffee verfasster Artikel mit dem Titel »Social conflict and alternative mass communication: public art and politics in the service of Spanish-Basque nationalism«.9 Chaffee spricht von public art anstelle von politischen Graffiti und geht davon aus, dass diese Form der öffentlichen politischen Kommunikation von den Produzent:innen als effektiv eingestuft wird, was er mit der Zeit, der Energie und der Quantität der Produktion begründet. Er geht von der These aus, dass den baskischen Graffiti sechs Funktionen innewohnen: ein kommunikativer Aspekt, ein Beitrag zur politischen Sozialisation in der Region, eine Visualisierung des Konflikts, der Aufbau und die Mobilisierung einer Massenbewegung, ein Beitrag zur psychologischen Kriegsführung und der Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses.10 Auch vor dem Hintergrund dieser sechs Funktionen kann angenommen werden, dass politische Graffiti wie Seismographen wirken können. Als besonders untersuchenswerte Orte nennt Chaffee Gernika, Pamplona und Bilbao, da diese Städte eine spezielle Rolle innerhalb des baskischen Weltbildes einnähmen und durch ihr urbanes Flair die Produktion öffentlicher, visueller politischer Kommunikation begünstigten.11 In seiner empirischen Untersuchung, die ansonsten methodisch nicht näher erläutert wird, findet Chaffee heraus, dass die meisten Darstellungen inhaltlich eine antiamerikanische Einstellung (insbesondere gegen Reagan), den Umweltschutz und die Anti-Atom-Bewegung thematisieren.12 Das entspricht in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts dem allgemeinen Trend der alternativen und der linken Bewegung weltweit. Als Sender beziehungsweise als Produzenten kommen laut Chaffee lokale Organisationen der politisch linken, sozialen Bewegung im Baskenland in Frage, da es sich seines Erachtens um systematisch angebrachte Aussagen handelt. Aufgrund des Inhalts kommen für ihn insbesondere die damalige Partei Herri Batasuna sowie Umweltschutzgruppen dieser Zeit, wie beispielsweise Sol beziehungsweise Eguzki, als Urheber in Frage.13 Eine weitere Studie ist eher linguistischer Natur. Der Sprachwissenschaftler Haase, der sich vielfältig mit der baskischen Sprache beschäftigt, stellt – bezogen auf die Dichte der Erscheinungen – fest, dass »nach New York und Berlin eine Gegend zu nennen [sei], die man weniger für dieses Phänomen kennt: das Baskenland«.14 Den Grund für das häufige Aufkommen dieser Kommunikationsform sieht Haase in einem »bis heute ungelösten Sprachkonflikt«.15 Dabei nimmt er Bezug auf die Partizipation der Basken an den gängigen Massenmedien (wie Zeitung, Fernsehen und Radio), die ihnen bis in die achtziger Jahre hinein verwehrt gewesen sei. Haase schlussfolgert, dass besonders unter
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Jugendlichen »das Malen von Graffiti zu einer Alternative« geworden sei, der »zusammen mit der baskischen Rockmusik etwa ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre eine wichtige identifikatorische Rolle« zukomme.16 Inhaltlich findet Haase, der Graffiti in den französischen Provinzen und dort zuvorderst in der Stadt Bayonne untersucht hat, folgende Themen: »die Forderung nach Unabhängigkeit und Autonomie«, »die Forderung, Gefangene freizulassen«, das Ersuchen nach »Unterstützung für die baskische Schule«, »die Aufforderung, Baskisch zu lernen«, sowie »allgemein-politische und gesellschaftliche Themen, die oft in einen Zusammenhang mit der baskischen Frage gestellt werden: Ökologie, Befreiung der Frau, Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft« etc.17 In Bezug auf die Verwendung sprachlicher und grafischer Zeichen stellt Haase fest, dass sie eingesetzt würden »sowohl zur Verschlüsselung von Botschaften wie als eigenständige Träger der Kommunikation: Da die Symbole und Siglen weitgehend konventionalisiert sind, ist ihr Effekt bei Außenstehenden der der Verschlüsselung, bei der Zielgruppe befördern sie jedoch umgekehrt die Kommunikation.«18
Die Geografin und Baskologin Raento veröffentlichte ihre Ergebnisse in dem 1997 erschienenen Artikel »Political Mobilisation and Place-specifity: Radical Nationalist Street Campaining in the Spanish Basque Country«.19 Sie geht grundlegend davon aus, dass die politischen Graffiti, die sie neben Demonstrationen zum Street Campaigning zählt, eine Diskussion zwischen moderaten und radikalen Basken darstellen. Für Raento gilt die Straße im Baskenland traditionell als Ort der Mobilisierung. Sie bezieht sich in ihrer Argumentation auf kulturelle Alltagsrituale wie die Ausgehform der Cuadrilla (ein lockerer Zusammenschluss von Menschen zur abendlichen Freizeitgestaltung), aber auch auf historische Gegebenheiten wie die Beschneidung der Meinungsfreiheit während der Franco-Zeit.20 So stellt Raento zum Beispiel Folgendes fest: »Most significantly, the number of active or imprisoned ETA militants in each local community seems to be related directly to the degree of mobilisation. … This confirms that […] any ideological message concerning the national conflict must somehow ›touch the nerve‹ in the local sphere of everyday life where meaning is created.«21
Inhaltlich unterschieden sie sich in radikal nationalistische und moderat nationalistische Aussagen und bezögen sich häufig auf zeitgenössische Themen. In ihrer Wirkung auf die Rezipient:innen seien die Graffiti laut Raento Werkzeuge, um die radikal nationalistische Identität zu stärken.22 Die Funktion der Mobilisierung, die bereits von Chaffee neben anderen Funktionen angesprochen wird, beleuchtet Raento in ihrem Aufsatz ausführlich. Auch Raentos Ausführungen lassen den Schluss zu, dass die baskischen politischen Graffiti als Seismographen des Konflikts nutzbar sein können. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Autor:innen der herangezogenen Literatur das häufige Auftreten von politischen Wandmalereien, Plakaten, Transparenten und ähnlichen, alternativen Ausdrucksformen im Baskenland ursächlich darauf zurückführen, dass ein Konflikt vorherrscht, wobei verschiedene Konflikte angenommen werden: der politische spanisch-baskische Konflikt (nach Chaffee), ein ungelöster Sprachkonflikt (nach Haase) und ein Konflikt zwischen moderaten und radikalen baskischen Nationalist:innen (nach Raento). Dementsprechend werden verschiedene Inhalte von den Autor:innen wahrgenommen und unterschiedliche Produzent:innen hinter den
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Anfertigungen vermutet. Hinsichtlich ihrer Funktion und Wirkung folgen die Autor:innen in ihrer Argumentation der jeweiligen Ursachenannahme. Im Kern steht jedoch immer, dass die baskischen politischen Graffiti eine Art Massenmedium darstellen, das mehr oder weniger chiffriert zur Mobilisierung einer Bewegung beitragen soll. Bevor im Folgenden die Ergebnisse der Studie dargestellt werden, soll die Beschaffenheit, die Größe und die Platzierung der baskischen politischen Graffiti anhand einiger plastischer Beispiele aufgezeigt werden. Veranschaulichung der baskischen politischen Graffiti Nationalistisches Mural in Pasaia-Donibane Bei diesem großflächigen und aufwendig gestalteten Mural (Abb. 1), das zentral in dem kleinen Fischerdorf Pasai-Donibane angebracht ist, sind mehrere typischbaskische Symbole abgebildet: Im Uhrzeigersinn zeigt sich zuoberst das Wappen des Baskenlandes mit sieben Provinzen, sodann das baskische Sonnerad Lauburu als Zeichen der baskischen Kultur, die grün-weiß-rote baskische Flagge Ikurriña mit der Forderung nach Unabhängigkeit (»Independentzia!«). Der schwarze Adler Arano Beltza und der gelbe Hintergrund verstärken die Sichtweise eines sieben Provinzen umfassenden, eigenständigen Basken-landes. Das Mural ist schwarz umrahmt; in der rechten oberen Ecke findet sich – quasi wie eine Autorenschaft oder ein Auftraggeber – die nationalistische und in Spanien verbotene Partei Batasuna. Außerhalb der schwarzen Abb. 1: Nationalistisches Mural in Pasaia-Donibane Umrahmung wurde, vermutlich von anderen Produzenten, der Slogan »E.T.A. – Herria zurekin« (»E.T.A. – das Land mit dir«) ergänzend angebracht sowie der rote Stern als Zeichen des Sozialismus, für den sich ETA neben der Unabhängigkeit des Baskenlandes eingesetzt hat. Unweit von diesem Mural entfernt befindet sich der Dorfplatz mit seiner Fassadenfront (Abb. 2). Die Dichte der Banner als Form der politischen Kommunikation an den Balkonen ist hoch und in dieser Art ein häufiger Anblick im Baskenland. Auch hier findet sich wieder der Arano Beltza und eine gehisste Ikurriña – wohlgemerkt ohne dass daneben die spanische Flagge hängt, wie es formell vorgeschrieben ist. Daneben finden sich sechs Exemplare des landesweit am häufigsten anzutreffenden Banners mit dem Slogan »Euskal Presoak – Euskal Herrira« (»Baskische Gefangene – ins Baskenland«).
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Abb. 2: Fassadenfront mit politischen Graffiti in Pasai-Donibane
Grundform der Darstellung von »Euskal Presoak – Euskal Herrira« Bei diesem Exemplar (Abb. 3)23 wird auf die Politik der Dispersión24 in Spanien und Frankreich verwiesen. Es zeigt in seiner Grundform ein abstrahiertes, sieben Provinzen umfassendes Baskenland vor weißem Hintergrund, auf das zwei rote Pfeile zeigen, die aus dem Nordosten und dem Südwesten kommen. Aus dieser Grundform sind zahlreiche Variationen entstanden, seien es künstlerische, buntere Exemplare oder vereinfachte Sprayarbeiten. Häufig Abb. 3: Grundform der Darstellung von findet sich die Grundform auch mit dem »Euskal Presoak – Euskal Herrira« Slogan »Euskal Presoak eta Iheslariak – Euskal Herrira« (»Baskische Gefangene und Flüchtlinge – ins Baskenland«), womit zusätzlich die aufgrund des spanischbaskischen Konflikts Geflüchteten und Untergetauchten angesprochen werden. Dorffest mit politischen Graffiti in Ondarroa Ein anderes Beispiel (Abb. 4)25 typischer baskischer Graffiti findet sich in Ondarroa. Auf der Aufnahme findet gerade ein Dorffest statt. Die Dorfbewohner:innen sind in der blauen Fischertracht gekleidet und feiern vor dem Hintergrund großer politischer Botschaften. Auf dem größten Transparent steht »Ondarrun Demokrazia Zero«, übersetzt
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Abb. 4: Dorffest mit politischen Graffiti in Ondarroa
also etwa »Null Demokratie in Ondarroa« – ein Hinweis, dass die Dorfbewohner:innen der Demokratie nicht trauen und sich wie zu Zeiten der Diktatur fühlen. Daneben steht die Forderung nach »Independetzia« und »Sozialismoa«. Am Hafenkai sieht man die Buchstaben »AN« in einem Fadenkreuz. »AN« steht vermutlich für die Audiencia Nacional, einem umstrittenen Sondertribunal für Terrorist:innen in Spanien. Die Dorfbewohner:innen bewegen sich entspannt vor diesen Botschaften. Es liegt auf der Hand, dass die Aussagen im öffentlichen Raum einen Einfluss auf die politische Sozialisation haben und die dominante Meinung in einem Ort aufzuzeigen vermögen. »Gora ETA« (»Lang lebe ETA«) in Ondarroa Ähnlich wie das Exemplar mit den Buchstaben »AN« in einem Fadenkreuz, das als gewaltverherrlichend empfunden werden kann, sind Graffiti, die eine positive Einstellung zur ETA transportieren (Abb. 5), häufig als zeiteffizient angebrachte Sprüharbeiten an weniger zentralen Stellen zu finden. Man kann vermuten, dass die Produzenten sich bewusst waren, dass die Gewalt der ETA auch im Baskenland und selbst unter pronationalistischen Basken umstritten war. Ergebnisse der quantitativen Studie In einer übergeordneten Betrachtung der 186 Exemplare zeigen sich einige Ausprägungen, die Aufschluss über das Wesen der baskischen politischen Graffiti bieten. Betrachtet man zuerst die Verteilung der Graffiti auf die zwölf untersuchten Ortschaften (Tab. 1), so findet man eine Spannbreite von zwei Exemplaren im Minimum bis 56 Exemplaren im Maximum. Da die Orte unterschiedlich groß sind, ist eine Stan-
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Abb. 5: »Gora ETA« (»Lang lebe ETA«) in Ondarroa
dardisierung auf 1.000 Einwohner sinnvoll, um eine Vergleichbarkeit der Orte herzustellen. Dabei zeigt sich, dass in den kleinen Orten wie etwa in Zestoa, in Ondarroa und in Pasaia-Donibane die Graffitidichte sehr hoch ist. Dies scheint aber kein generelles Phänomen zu sein, da in anderen kleinen Ortschaften wie Onati oder Eibar die Dichte gering ausfällt. Festgehalten werden kann, dass es merkliche Unterschiede zwischen den Ortschaften gibt, so dass die politischen Graffiti durchaus als Seismographen der Konfliktwahrnehmung gewertet werden können. Die Graffiti sind in 83 % der Fälle zentral im Ort angebracht, was den hohen Stellenwert verdeutlicht, den die Produzent:innen den Graffiti beimessen. In nur 12 % der Fälle befinden sie sich am Ortsrand und in 5 % knapp außerhalb der Ortschaft, gut sichtbar von der Straße. Bemerkenswert ist, dass in 88 % der Fälle der Erhaltungsgrad als neu einzustufen ist; offensichtlich alte oder zerstörte Exemplare finden sich selten. Dahinter mag sich verbergen, dass die Graffiti selten manipuliert werden, etwa mit einer Gegenmeinung, gleichzeitig – wie etwa auf den Bannern in Ondarroa – die Aussagen als tagesaktuelles Statement kommuniziert oder aber die Murale – wie jenes in PasaiaDonibane – erhalten und vielleicht sogar in ihrer Beschaffenheit gepflegt werden. Insgesamt handelt es sich bei den untersuchten Exemplaren in jedem zweiten Fall um eine gepinselte oder gesprayte Wandmalerei und in etwa 40 % der Fälle um Banner, Plakate oder Aufkleber. Ritzereien und andere Macharten finden sich nur selten.
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Anzahl an politischen Graffiti pro 1000 Einwohner
12 10,5 10
8
5,44
6
4
5,0
3,0 1,87
1,8 1,56
2
1,03
0,71
0,31
0,18
0,18
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Ort
Tab. 1: Schaubild zur Graffitidichte in zwölf baskischen Ortschaften
Inhaltlich finden sich gegebenenfalls überwiegend lokal-baskische Symbole (in zwei Dritteln der Fälle) und weniger häufig international bekannte Symbole (in einem Drittel der Exemplare). Gemeinsam mit der fast ausschließlichen Verwendung der baskischen Sprache (in rund 74 %), oder dem Verzicht auf sprachliche Elemente (in 15 % der Fälle), wird deutlich, wer hier mit wem kommunizieren möchte: Es handelt sich genuin um eine intern-baskische Auseinandersetzung. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich die politischen Graffiti thematisch zuvorderst mit den baskischen Anliegen im Konflikt beschäftigen: mit der Unabhängigkeit (in 30 % der Fälle), mit der Zerstreuung der baskischen Gefangenen (in 26 %) und eine Befürwortung von verbotenen Parteien und Organisationen wie etwa Batasuna oder ETA (in 21 % der Fälle). Andere Themen wie etwa der Umweltschutz, die Gleichstellung der Frau oder der Erhalt der baskischen Sprache finden sich in dem untersuchten Material auch, aber in einem weit geringeren Umfang, nämlich insgesamt in nur rund 23 % der Fälle. Eine einzige Aussage gegen ETA war ebenfalls enthalten, doch stellt sie eine Ausnahme dar. Aus Umfragen in der baskischen Bevölkerung ist bekannt, dass die Unterstützung der ETA innerhalb der Bevölkerung zum Zeitpunkt der Aufnahme der Fotografien eher gering und tendenziell weiter rückläufig war.26 Jedoch lassen sich ETA-ablehnende Aussagen über die gängigen Massenmedien kommunizieren, weswegen ein geringer Bedarf für die anonyme Kommunikation im öffentlichen Raum vorliegen mag. Zusammenfassung und Ausblick Die baskischen politischen Graffiti sind zu Zeiten der Erhebung des Studienmaterials im Jahr 2006 als alternatives Massenmedium einzustufen. Mit diesem werden zum einen radikale Meinungen kommuniziert (z.B. eine Befürwortung der ETA), zum anderen moderat-nationalistische Forderungen verstärkt (etwa die Verlegung der Gefangenen in
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heimatnahe Gefängnisse). Die verwendete baskische Sprache und Symbolik verweist darauf, dass hier eine Meinungsverbreitung unter radikalen und moderatnationalistischen Basken stattfindet. Durch die Unterschiedlichkeit der postulierten Themen und der Graffitidichte in den Ortschaften wirken die politischen Graffiti auf die Rezipient:innen wie Seismographen des Konflikts, da sie die Perzeption des politischen Geschehens visualisieren und die politische Sozialisierung innerhalb eines Ortes aufzuzeigen vermögen. Das hier untersuchte Material entstammt aus einer Zeit des aktiven Konflikts. Seit 2014 findet ein Friedensprozess im Baskenland statt, der im Jahr 2017 mit der Abgabe der Waffen der ETA und sodann 2018 mit ihrer Auflösung einherging. Es finden sich zwar auch im Jahr 2022 noch ETA-befürwortende Graffiti. Diese sind jedoch kaum mehr im öffentlichen Raum zu sehen, sondern allenfalls noch in einigen mehr oder weniger öffentlich zugänglichen Toiletten. Die Forderung nach der Verlegung der baskischen Gefangenen ins Baskenland ist hingegen erstarkt und noch deutlicher im öffentlichen Raum sichtbar. Dieser Anspruch wurde im Friedensprozess von Seiten der ETA als Motivation für ihre Auflösung gestellt, jedoch weder von der spanischen noch von der französischen Regierung eingelöst. Insofern verwundert es nicht, dass nach wie vor große Demonstrationen zu dieser Thematik mit mehreren zehntausend Teilnehmenden stattfinden27 und vielerorts entsprechende Visualisierungen zu sehen sind. Der Friedensprozess selbst wird jedoch kaum im öffentlichen Raum in Form anonym angebrachter Botschaften visualisiert – seine Plattform sind die gängigen Massenmedien. Insofern kann festgestellt werden, dass die politischen Graffiti in einer Konfliktregion als Seismographen der radikaleren Perzeption eines aktiven Konfliktgeschehens brauchbar sind und auch in einem Friedensprozess auf die noch offenen Themen hinweisen können. 1 Die baskische Sprache wird wahlweise Euskera oder Euskara genannt. Schon seit der Industri-
2 3 4 5
alisierung und dem damaligen Zuzug von Arbeitskräften aus anderen Teilen der iberischen Halbinsel, konnte nicht mehr jede:r Bewohner:in des Baskenlandes diese Insel-Sprache mit nicht-indogermanischen Wurzeln verstehen. Während der Franco-Diktatur gab es Bemühungen, die baskische Sprache vollständig zu unterbinden. Heute ist sie als zweite Amtssprache wieder zulässig und wird vielerorts gelehrt, was in den letzten Jahrzehnten zu einem Anstieg in der Sprecher:innenanzahl geführt hat. Da es sich jedoch um eine grammatikalisch komplexe Sprache handelt, die schwer zu erlernen ist, spiegelt die baskische Sprachkompetenz zumeist auch die Identifizierung als Baske oder als Baskin und damit einhergehend eine potentielle Nähe zu pro-baskischen Positionen des Konflikts wider, wie etwa eine Bejahung der Unabhängigkeitsbestrebung. Andreas Diekmann: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. 4., durchgesehene Auflage. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 474. Vgl. Peter Kreuzer: Das Graffiti-Lexikon. Wandkunst von A bis Z. München 1986, passim. Vgl. Douglas Harper: »Graffiti« 2001. Online unter: http://www.etymonline.com/index.php? search= graffiti (Aufruf: 24.06.2022), passim. Vgl. Norbert Siegl: »Definition des Begriffs Graffiti« 2008. Online unter: http://www.graffitieuropa.org/definition1.htm (Aufruf: 24.06.2022), passim.
Graffiti im Baskenland – Seismographen des Konflikts?
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6 Aufgrund der Zweisprachigkeit in der Region gibt es für viele Ortsnamen zwei Varianten. In diesem Beitrag werden die im Baskenland üblicheren Namen beziehungsweise Schreibweisen verwendet, was zumeist die baskische Version ist. Daher wird hier beispielsweise Gernika statt Guernica verwendet. 7 Harald Ecker: »Graffiti in modernen Gesellschaften« In: Manfred Hainzel (Hg.): Zeichen an der Wand. Höhlenmalerei – Felsbilder – Graffiti. Wels 2004, S. 81–112, passim. 8 Ebd., S. 91 f. 9 Lyman Chaffee: »Social conflict and alternative mass communication: public art and politics in the service of Spanish-Basque nationalism« In: European Journal of Political Research, 16. Jg. 1988, Nr. 5, S. 545–572. 10 Ebd., S. 545 f. 11 Ebd., S. 564. 12 Ebd., S. 561 ff. 13 Ebd., S. 563. 14 Martin Haase: »›Margolak‹ – Graffiti im Baskenland« In: Wolfgang Asholt, Siegfried Kanngießer (Hg.): Literatur, Sprache, Kultur. Studien zu Ehren von Lothar Knapp. Osnabrück 1996, S. 69–78, S. 70. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 71 f. 18 Ebd., S. 74. 19 Pauliina Raento: »Political Mobilisation and Place-specificity. Radical Nationalist Street Campaigning in the Spanish Basque Country« In: Space & Polity, 1. Jg., 1997, Nr. 2, S. 191–204. 20 Ebd., S. 195 f. 21 Ebd., S. 199. 22 Ebd., S. 202. 23 Grafik entnommen aus: http://2.bp.blogspot.com/-1S8-LjcnkjE/UDsMIyZxPaI/AAAAAAAA DUc/aCWUcTI3TGk/s400/euskal-herrira.jpg. 24 Die Praxis der so genannten Dispersión (Zerstreuung) wird zuvorderst auf jene Gefangene angewendet, die im Zusammenhang mit Terrorismus inhaftiert wurden. Dabei werden die Gefangenen auf alle Gefängnisse des Landes verteilt, weswegen es zu sehr heimatfernen Unterbringungen mit einer Distanz von 1.000 km zum Heimatort und mehr kommen kann. Dabei fühlen sich vor allem die Angehörigen mitbestraft, da es für sie zeit- und kostenintensiv ist, ihr Besuchsrecht wahrzunehmen. 25 Diese Aufnahme ist entnommen aus dem Wikipedia-Artikel zu Ondarroa: https://de.wikipedia.org/wiki/Ondarroa#/media/Datei:Ondarroa,_Zapatu_Azule_1.JPG. 26 Vgl. etwa Universidad del País Vasco (Hg.): »Euskobarometro« Online unter: https://www. ehu.eus/es/web/ euskobarometro/aurkezpenak (Aufruf: 24.06.2022). 27 So zum Beispiel die Demonstration im Jahr 2017 in Bilbao mit rund 70.000 Teilnehmenden. Vgl. Reiner Wandler: »ETA-Gefangene zurück ins Baskenland« In: TAZ vom 15.01.2017. Online unter: https://taz.de/Demonstration-in-Bilbao/!5371668/ (Aufruf: 24.06.2022).
Anna Krüger »Eine einzigartige Visitenkarte unserer Stadt«. Die Entstehung der Hall of Fame in der »Graffiti-Stadt« Marl
Die Rolle der Städte ist in der Graffiti-Forschung noch nicht systematisch untersucht worden. In Deutschland lassen sich auf politischer Ebene schon an kleinen Beispielen Lager bzw. Tendenzen für und wider das Phänomen erkennen. Im Bundestagswahlkampf des Jahres 1990 warb die SPD in Köln beispielsweise mit zahlreichen Tags auf ihren Plakaten für »Oskar« (Abb. 1).1 Um die Jahrtausendwende wendete sich das Blatt, und die Parteien im Deutschen Bundestag diskutierten bei der Vorbereitung des so genannten Graffiti-Bekämpfungsgesetzes das allgemein zu beobachtende »GraffitiUnwesen«.2 Graffiti werden bekanntermaßen oftmals als eine kostspielige Plage empfunden.3 Umso überraschender erscheint die Selbstetikettierung der münsterländischen Stadt Marl. Dort bezeichnete der Bürgermeister Werner Arndt 2017 Graffitis als eine »einzigartige Visitenkarte«.4 Wie es zu dieser offiziell geäußerten Identifikation mit einer doch auch als subversiv geltenden Kunstform kam,5 geht aus einer Sammlung von Presseartikeln, Fotos und Korrespondenzen des Skulpturenmuseums Glaskasten der Stadt Marl hervor, das in den frühen 1990er-Jahren zum Ausgangspunkt dieser lokalen Entwicklung wurde.6 Mit dem Auszug des Museums anlässlich einer umfassenden Sanierung seiner Räumlichkeiten, des Glaskastens im Rathauskomplex, endete im Herbst 2021 womöglich aber auch eine lange Geschichte städtischer Graffiti-Förderung, die von den Kunsthistorikern Uwe Rüth und Karl-Heinz Brosthaus durch eine umsichtige museumspädagogische Arbeit geprägt wurde. Das Beispiel Marl bietet einen interessanten Einblick in die Bildung einer inzwischen landesweit etablierten Hall of Fame. Eine Hall of Fame, manchmal auch Wall of Fame genannt, ist eine in der Regel von den Eigentümer:innen zum Besprühen freigegebene Fläche, die anspruchsvoll gestaltete Graffiti aufweist und regelmäßig übermalt wird.7 In Marl ist sie nicht wie andernorts abseits auf einer Industriebrache, einem ausgedienten Hochbunker oder einer Autobahnbrücke gelegen, sondern an einem äußerst prominenten und symbolisch aufgeladenen Ort inmitten der Stadt platziert: dem Rathaus. Hinzu kommt, dass das Gebäudeensemble des Marler Rathauses, an dessen Turm II sich seit 1991 als eines der ersten dort legal entstandenen Graffitis das Piece Time kills befindet, seit 2015 unter Denkmalschutz steht.8 Offenbar will die vom Skulpturenmuseum initiierte Hall of Fame trotz der Sanierungsmaßnahmen weiter gepflegt werden, denn auf der Website des Museums heißt es: »!!!Da das Rathaus momentan aufwändig saniert wird, steht die große Hall of Fame aktuell leider nicht zur Verfügung. Als kleinen Ersatz können wir einige Abschnitte des Bauzauns zum sprühen freigeben!!! Wir würden uns freuen, wenn euch für die
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Anna Krüger
Bauphase am Rathaus, ein paar ›lokalkoloristsche Motive zum Thema Marl und Rathausumbau etc. einfallen würden‹.9
Die in der Metropolregion Rhein-Ruhr gelegene Arbeiterstadt Marl hatte nach einem aufsehenerregenden Architekturwettbewerb (1958) mit internationaler Beteiligung 1967 durch das niederländische Architekturbüro von Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Berend Bakema ein modernes Rathaus erhalten.10 Der zukünftigen »Krone der Stadt«11 wohnte von Anfang an eine große Symbolkraft inne. Durch den neuen zentral gelegenen Rathauskomplex erfolgte die Zusammenlegung der zuvor über das Stadtgebiet verteilten Verwaltung. Sitzungstrakt, Zentralgebäude, zwei Türme und ein Polizeigebäude bilden im Wesentlichen das Ensemble. Das 1982 gegründete Skulpturenmuseum zog sukzessive in den »Glaskasten« unter dem Sitzungstrakt ein. Eine Besonderheit der Architektur und die Voraussetzung für die spätere Hall of Fame wurde die Organisation des Verkehrsflusses im unmittelbaren Umfeld des Gebäudes. Für den motorisierten Zugang umgibt das ebenerdige Zentralgebäude ringsum ein teils von Betonwänden flankierter Parkiergraben für 120 Fahrzeuge. 12 Auf diesen Betonwänden wurden von der Stadt Marl im Laufe der Jahre insgesamt 35 Wandabschnitte mit jeweils circa 6 mal 3 Metern Fläche für Graffitis freigegeben, die nun wegen der Sanierung nicht mehr zugänglich sind. Angefangen hatte alles mit einer weitaus überschaubareren Fläche und vor allem einer Initiative aus der Szene selbst.13 Nach dem Vorbild der »Euro-Graffiti-Union« (EGU), einem 1986 von dem Volkskundler und Mitarbeiter des Münchener Stadtmuseums Peter Kreuzer gegründeten Verein, hatten sich minderjährige Sprayer auf die Suche nach legalen Wandflächen gemacht und beim Kulturamt der Stadt Marl angefragt.14 Selbsternanntes Ziel war ihre Entkriminalisierung, eine Perspektive, an der Kreuzer zu diesem Zeitpunkt maßgeblich mitwirkte.15 Nachdem es in Marl im Winter 1990/91 zu einem Gerichtsverfahren gegen acht junge Sprayer gekommen war, fing man an, »die wilden Graffitis im Rathausbereich«16 mit legalen Graffitis gezielt zurückzudrängen und damit den Gegner mit den eigenen Mitteln zu schlagen. Dieses Strategie wurde in Marl in den Folgejahren auf andere Orte wie etwa die Wartehäuschen des öffentlichen Nahverkehrs ausgeweitet.17 Mit der Genehmigung des legalen Sprühens auf der Rathausmauer stand das Marler Bürgermeisteramt nicht alleine da. Abb. 1: Wahlplakat der SPD in Köln, Auch in Marburg hatte bereits 1990 ein 1990 Bürgermeister legale Aufträge vergeben.18
Die Entstehung der Hall of Fame in der »Graffiti-Stadt« Marl
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Abb. 2: Rathausmauer in Marl mit ersten genehmigten Graffitis, April 1991
Die Freigabe der Marler Rathausmauer 1991 fiel außerdem zeitlich zusammen mit der Ausstellung Narrenhände …? im Norddeutschen Landesmuseum in Altona, die sich dem Phänomen Graffiti in Hamburg widmete. Schon einige Jahre zuvor hatte die Hamburger Kulturbehörde eine Publikation mit dem vielsagenden Titel Wand Frei. Plädoyer für die Legalisierung der Graffiti-Kunst (1988) veröffentlicht, deren Autor:innen seit 1985 an einer umfassenden Studie gearbeitet hatten. Mit der Auslobung des ersten Graffiti-Wettbewerbs im Mai 1991 übernahm die Stadt Marl geschickt das in der Szene ohnehin verankerte Wetteifern um Ruhm (Fame) als ein Grundmotiv zur Beteiligung. Die Maßnahme fiel in die Zeit des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG), in der sich die Jugendarbeit unter dem Motto »Helfen statt Strafen« strategisch auf die Prävention verlagerte. In Marl konnten die betroffenen Sprayer daher zunächst durch Fürsprache des Jugendamts mit der Gestaltung eines Jugendzentrums Sozialstunden ableisten und ihre Strafe mindern.19 Außerdem, das ist der Lokalpresse zu entnehmen, erbaten sich zwei von ihnen beim Hauptamt der Stadt legale Wandflächen. Dieser Schritt führte zu einem vom städtischen Skulpturenmuseum und vom Kulturamt ausgelobten Graffiti-Wettbewerb an der Rahausmauer, aus dem sich die spätere Hall of Fame entwickelte (Abb. 2).20 Außerhalb der Konkurrenz erhielten die Sprayer im April 1991 die Gelegenheit, mit offizieller Genehmigung der Stadt eine der Wandflächen im Parkraum zu gestalten. Dabei entstand unter anderem das Piece BiG WALL, ein links und rechts von zwei Charactern flankierter Schriftzug vor wolkigem Hintergrund, das die wesentlichen Merkmale des American Graffiti aufweist, in der technischen Ausführung jedoch noch den Anfängerstatus der Sprayer deutlich erkennen lässt. Über die Lokalpresse erfolgte im Mai 1991 ein öffentlicher Aufruf zur Einsendung von Entwürfen an Interessierte aus Marl und den direkt angrenzenden Städten Herten, Haltern, Gelsenkirchen, Dorsten, Erkenschwick und Recklinghausen. Beim zweiten offiziellen Graffiti-Wettbewerb 1995 nahmen wiederholt ausschließlich junge Sprayer
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Anna Krüger
Abb. 3: Wandhohes Piece von ATOM, CAN2 und MOE mit seitlichen Begrenzungslinien, Marl 2001
aus der Region teil. Dennoch etablierte sich das Marler Rathausumfeld zu einer Hall of Fame, an der per Genehmigung der Stadt gemalt werden durfte und das später auch sehr professionelle Szene-Größen wie Can2 oder Atom anzog.21 Ganz ohne Einflussnahme der Politik blieben die Entwürfe in formaler und inhaltlicher Hinsicht nicht. Eine wesentliche Wettbewerbsbedingung war die Reflexion der eigenen Aussage und der Ausbau individueller künstlerischer Fähigkeiten: »Dabei geht es nicht darum, die Gegend mit simplen Tags, also Namenzügen oder -kürzeln zu verschandeln. Nein! Es sollen großflächige, durchkomponierte Bilder entstehen, die den kalten Beton der Parkplatz-Mauer etwas lebendiger wirken lassen. Gefragt ist auch nicht die meist von amerikanischen Vorbildern abgeguckte reine Verwendung der üblichen Stilmittel ohne persönliche Aussage, sondern möglichst eigene Ausdrucksformen und eigener Inhalt jedwelcher Art.«22
Auch eine thematische Lenkung durch die Auslobenden ist anzunehmen, denn bei legalen Flächen in Marl und Umgebung durften unter den Motiven »keine Bilder zur Gewaltanregung« sein, und die Sprayer mussten »bestimmte Themen aufgreifen (gegen Drogen, Krieg, Umweltverschmutzung…)«.23 Mit der Neubesetzung des Bürgermeisteramtes 1999 und den Diskussionen im Deutschen Bundestag erfolgte auch in Marl eine grundsätzliche Hinterfragung der Strategie. Im Zuge dessen wurden weitere formale Ansprüche an die Sprayer formuliert. Gewünscht war nun eine Rezeptionshilfe für die Bürger:innen, etwa durch Informationstafeln vor Ort, die unabhängig vom Erscheinungsbild der Bestätigung dienten, dass es sich an den Rathauswänden um »genehmigte Kunst und nicht um Schmierereien« handele.24 Die Umsetzung der Maßgaben fiel in das Aufgabenfeld des Skulpturenmuseums, das auf Druck des Kulturausschusses Informationsblätter auslegte, mit den Sprayer:innen eine
Die Entstehung der Hall of Fame in der »Graffiti-Stadt« Marl
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Abb. 4: Hall of Fame im S-Bahnhof Hamburg-Langenfelde an der »line«, 1988
Vereinbarung traf und 2001 eine Ausstellung organisierte. Im Zusammenhang der Ausstellung Graffitis im Rathausumfeld25 fiel auch erstmals der Begriff »Hall of Fame«: »Der Ruf der Marler ›Hall of fame‹ – und damit der Ruf Marls als Graffiti-Stadt – ist mittlerweile weit über die Stadtgrenzen hinausgedrungen und selbst außerhalb des Ruhrgebiets wohlbekannt, nicht zuletzt auch, weil hier in der gesamten bundesdeutschen ›Szene‹ bekannte Maler Bilder gestalteten.«26
Die Vereinbarung sah vor, dass die Sprayer:innen ihre Werke optisch deutlich von den illegalen Graffitis im Rathausumfeld mit einem Rahmen abzugrenzen hatten, damit ein geordneter Gesamteindruck entstehe.27 Entlang der Hall of Fame verpflichteten die Sprayer:innen sich dazu, »das gesamte Wandstück so zu gestalten, daß sich das Bild bis zum Ober- und Unterrand der Wand erstreckt, also keine Stücke eines eventuell vorhandenen Vorgängerbildes sichtbar bleiben«. Das in der Szene übliche »Backgrounding«, die Übermalung des Pieces eines anderen Sprayers ohne vorherige optische Neutralisierung durch Übertünchung, wurde damit in Marl von vornherein ausgehebelt. »Ferner«, so die Vereinbarung, sollte das einzelne »Bild an den vertikalen Rändern durch je einen mindestens zehn Zentimeter breiten, auf die Wand gesprühten Streifen«28 vom nächsten abgegrenzt werden. An die Stelle gewellter oder gezackter Einfassungen des Pieces, etwa durch eine szeneübliche »Wolke«, traten saubere Begrenzungslinien (Abb. 3). Dass eine Hall of Fame in den Anfängen der Graffiti-Bewegung in Deutschland formal keineswegs so homogen aussah wie auf den Marler Wänden, zeigt der Vergleich mit
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Anna Krüger
einem Beispiel aus Hamburg. Unter einer Hall of Fame verstand die Szene dort Ende der 1980er-Jahre auch einen Wartebankverschlag mit aggregierten Tags (Abb. 4).29 Wer heute an der Haltestelle Marl-Sinsen aussteigt, wird in gut lesbaren Buchstaben »Herzlich Willkommen« geheißen. Die Idee, die links- und rechtsseitigen Mauern an der Bahnunterführung durch die stadtbekannten Sprayer Markus Becker (aka Herr Orm) und René Breuing umgestalten zu lassen, hatte Helmut Cepa vom Planungs- und Umweltamt. Wo zuvor verwitterte Mauern und zerfetzte Plakatierungen einen »Schandfleck« bildeten, werden Reisende nun von »charakteristischen Marl- und Revier-Motiven« begrüßt, und zwar »bunt und schrill«.30 Neben dem Rathausgebäude und dem Skulpturenmuseum zählen zu den ausgewählten Motiven Wahrzeichen der Metropolregion Rhein-Ruhr: unter anderem der Naturpark »Die Haard«, der Gelsenkirchener Zoo, der Dom zu Münster oder die Zeche Zollverein in Essen. Die Deutsche Bahn sorgte im Vorfeld für die weiße Grundierung der Wände, und die Unternehmer Roland Wübbe und Markus Römer aus der Bauwirtschaft und Immobilienbranche finanzierten den Rest der Wandgestaltung. 1 Torkild Hinrichsen: »Bilder aus der Dose« In: Narrenhände…? Graffiti von Fritz Peyer.
Ausst.-Kat. Altonaer Museum/Norddeutsches Landesmuseum. Hamburg 1991, S. 23 f. 2 Vgl. Deutscher Bundestag: Entwurf eines […] Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches
– Graffiti-Bekämpfungsgesetz –« In: Drucksache, Nr. 14/546, 16. 03. 1999, S. 1. 3 Dies spiegeln die Anti-Graffiti-Kongresse 2005 und 2006 an der Technischen Universität
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Berlin wider. Vgl. Karl Henning (Hg.): NOFITTI 2005. Erster Internationaler Anti-GrafittiKongress. Berlin 2006, und ders. (Hg.): NOFITTI 2006. Zweiter Internationaler Anti-GrafittiKongress. Berlin 2007. https://www.marl.de/rathaus-service/aktuelles/news-detailansicht/news/eine-einzigartige-visitenkarte-unserer-stadt/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=d0b7c86ab1809a78778b7cddba346a11 (Abruf am 30.06.2022). »Solange der Schaden größer ist als die Profite, die die Graffiti der wenigen Stars der Szene für die chemische Industrie und für die Kunst- und Kulturindustrie bringen, bleibt Graffiti eine subversive, antikapitalistische Kunstform.« Martin Papenbrock: »Vom Protest zur Intervention. Grundzüge politischer Kunst im 20. Jahrhundert« In: Doreen Hartmann, Inga Lemke, Jessica Nitsche (Hg.): Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie. München 2012, S. 38. Dankenswerterweise für eine erste Sichtung von Stephan Wolters vom Skulpturenmuseum Glaskasten der Stadt Marl zur Verfügung gestellt. »Hall of Fame« In: Bernhard van Treeck: Graffiti Lexikon. Street Art – legale und illegal Graffiti im öffentlichen Raum. Moers 1993, S. 75. Vgl. den Ankündigungstext zur Ausstellung Graffitis im Rathausumfeld in der Eingangshalle des Rathauses der Stadt Marl, 07.06. bis 17.08.2001, Typoskript. http://www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de/de/museum/geo-karte/artist/1727 (abgerufen am 27.06.2022). Vgl. Stefan Kleineschulte: Das Rathaus in Marl. Zur Bedeutung der Architektur für die politische Sinnstiftung auf kommunaler Ebene. Diss. Bochum 2003. »Rathaus Marl« In: Bauen + Wohnen, 13/1959, H. 1, S. 9. Ebd., S. 10.
Die Entstehung der Hall of Fame in der »Graffiti-Stadt« Marl
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13 Vgl. Karl-Heinz Brosthaus: »Das Marler Graffiti-Projekt« In: Kunibert Bering, Johannes
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Bilstein, Hans Peter Thurn (Hg.): Kultur-Kompetenz. Aspekte der Theorie Probleme der Praxis. Oberhausen 2003, S. 408. Vgl. Andreas Winkelsträter: »Ausstieg ist geglückt: Sprayer ›malen‹ Bilder jetzt auf Bestellung« In: Westfälische Rundschau, 31.05.1991. Vgl. Martin Papenbrock: »Wie alles anfing. Peter Kreuzer und das Münchner Graffiti der frühen Jahre« In: Kunstforum International, Bd. 260/2019, S. 101 f. »Acht Sprayer dürfen an Rathaus-Mauer malen« In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Essen), 03.07.1991. »Häuschen-Paten sprayen bunte Striche« In: Marler Zeitung, 10.06.2008. Hinrichsen 1991 (wie Anm. 1): S. 23 f. Vgl. tosch: »Graffiti-Aktion im HoT Hülsberg: Verschönerung ohne Nervenkitzel« In: Marler Zeitung, 29.07.1992. Vgl. »Farbenpracht gegen tristes Grau« In: Kurier am Sonntag, 20.4.1991. Vgl. das Foto eines Marler Graffitis aus dem Jahr 2000 aus der Sammlung Dirk Kreckel, in: Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland, 2016–, https://media.uni-paderborn.de/forschungsprojekt/ingrid, # 160862. Jam: »Sprayer-Arbeit mal legal: Stadt startet großen Graffiti-Wettbewerb« In: Marler Zeitung, 17.04.1991. Svenja Wendler, Melanie Fricke, Hakim Bouzenita: »Graffitis sind Kunst – Illegalität der ›Kick‹« In: Marler Zeitung, 15.04.1997. »Graffiti-Kunst« In: Marler Zeitung, 12.08.2000. Ankündigungstext zur Ausstellung Graffitis im Rathausumfeld (wie Anm. 8). Karl-Heinz Brosthaus: Graffitis im Rathaus-Umfeld, undatiertes Typoskript, Skulpturenmuseum Glaskasten Stadt Marl. Vgl. »Graffiti-Künstler sollen ihre Werke rahmen« In: Marler Zeitung, 21.09.2000. Entwurf zur Bescheinigung für Graffitis im Rathausumfeld durch das Skulpturenmuseum Marl, 22.02.2000. Vgl. Gabriele Franke, Dieter Thiele: Wand Frei. Plädoyer für die Legalisierung der GraffitiKunst. Hamburg 1988, S. 11, 44. Klaus Wilker: »Marl grüßt bunt und schrill« In: Marler Zeitung, 18.08.2022.
WEITERE BEITRÄGE
Katharina Büttner-Kirschner Propaganda, Patriotismus und Pazifismus. Der Kunsthistoriker Werner Weisbach (18731953) im Ersten Weltkrieg
Propaganda und Krieg Weisbachs Tätigkeit für die »Zentralstelle für Auslandsdienst« Vom Dachgeschoss des ehemaligen Königlich Bayerischen Postamts auf der Bodenseeinsel Lindau kann man über den See zwischen lang gezogenen Grünzügen auf eine Reihe von Villen und Landhäusern im Stile des Historismus blicken – und auf das einstige Kurhotel Bad Schachen.1 Mit seinem emblematisch wirkenden kuppelbedeckten Turm fällt das immer noch in Betrieb befindliche Hotel am nördlichen Bodenseeufer – der sogenannten Bayerischen Riviera – weithin ins Auge (Abb.1). Wenige Jahre nach Abschluss des Hotelneubaus durch das renommierte Karlsruher Architekturbüro von Hermann Billing und Wilhelm Vittali suchte der Kunsthistoriker Werner Weisbach im Sommer 1916 hier nach Erholung von der konfliktreichen Realität mitten im Ersten Weltkrieg. Schnell holte ihn die Wirklichkeit allerdings wieder ein im scheinbar so beschaulich-friedfertigen Dreiländereck mit seinen gleichzeitig scharfen Grenzziehungen zur neutralen Schweiz. Der 42-jährige liberale Berliner Wissenschaftler jüdischer Herkunft ahnte damals noch nicht, dass er unter dem zunehmenden Druck der Nationalsozialisten 1935 zu den Eidgenossen nach Basel emigrieren sollte:2 »Die Abgeschlossenheit Deutschlands kam mir hier so recht zum Bewußtsein, wenn ich auf das nahe aber unzugängliche schweizerische Ufer hinüberblickte. In der Nähe des deutschen Ufers manövrierte ein grau angestrichenes Schiff, das sich wie ein kleines Kriegsschiff ausnahm, und versah die Grenzwacht. Als ich eines Nachmittags auf dem See fuhr, bemerkte ich, wie das deutsche Wachtschiff plötzlich auf mich zuhielt; ich wollte ausweichen, aber man holte mein Boot mit einem Haken heran. Der Kommandant sprang in mein Boot und schrie mich an: ich habe die Grenze überschritten und solle festgenommen werden. Als er weiterschimpfte überreichte ich ihm ruhig die Legitimationskarte meines Amtes, und er musste mich ohne weiteres freilassen.«3
Mit der erwähnten rettenden »Legitimationskarte« lieferte Weisbach wohl den amtlichen Nachweis seiner Tätigkeit für die »Zentralstelle für Auslandsdienst«. Bei der Musterung 1915 als »felddienstuntauglich« eingestuft, wurde der damalige Berliner Privatdozent im März desselben Jahres unerwartet zunächst zum Dienst bei der sogenannten »Schippertruppe« im entfernten ostpreußischen Pillkallen zu »Erd- und Schanzarbeiten« abkom-
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mandiert, um kurz darauf davon wieder freigestellt zu werden.4 Denn mit der einflussreichen Unterstützung von Johannes Lepsius5 nahm Weisbach stattdessen in der vom Zentrumspolitiker Mathias Erzberger geleiteten Nachrichtenstelle beim Auswärtigen Amt seinen Dienst in der italienischen Presseabteilung auf. In seinem Rückblick auf seine patriotisch motivierten Freiwilligendienste während des Kriegsbeginns bemerkt Weisbach: »Ich wäre damals nicht auf den Gedanken gekommen, mir die Frage vorzulegen, wer wohl die Schuld am Ausbruch des Krieges trüge. Nur von dem einen Gedanken war ich getragen: das Vaterland ist in Gefahr, es muß gerettet werden. Erst später […] sind mir Bedenken wegen der gerechten Sache Deutschlands aufgestiegen. Da ich in Anbetracht meines gesundheitlichen Zustandes nicht damit rechnen konnte, zum Felddienst herangezogen zu werden, richtete ich am 4. August ein Schreiben an den Generalstab, um mich freiwillig für irgendeine Verwendung zu melden.«6
Auch wegen Unstimmigkeiten mit dem Erzberger-Büro wechselte Weisbach bereits einige Wochen später zu dem ebenfalls dem Auswärtigen Amt angegliederten Berliner Informationsbüro »Zentralstelle für Auslandsdienst« als Lektoratsleiter für die italienische Presse in Anbetracht seiner ausgezeichneten Kenntnisse der italienischen Sprache, Kunst und Kultur.7 Neben dem für die Zensur verantwortlichen Kriegspresseamt sowie dem »Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes« unter Leitung des Kapitäns zur See Heinrich Löhlein und dem »Büro Berg« von Mathias Erzberger steuerte seit 1914 auch die »Zentralstelle für Auslandsdienst« die Pressepolitik.8 Sie nahm innerhalb der amtlichen Propagandaorganisationen zunächst die Funktion des Beobachtens, Sammelns und Auswertens von Presseartikeln des neutralen und des gegnerischen Auslands wahr. Auch nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 – also kurz nach Weisbachs Amtsübernahme – setzte der Kunsthistoriker seine Berichterstattung über die italienische Presse bzw. Literatur fort, mit dem Ziel, »das Auswärtige Amt über Vorgänge und Stimmungen in der ausländischen Presse auf dem laufenden zu halten«.9 In seinen Memoiren schildert Weisbach seinen Tagesablauf und Aufgabenbereich in der »Zentralstelle« folgendermaßen: »Die Aufgabe war: am morgen eine große Anzahl der neueingegangenen italienischen Zeitungen zu lesen, Stellen und Aufsätze, die mir für unsere Zwecke wichtig schienen, anzustreichen und zum Ausschneiden zu geben und daneben die sonstige italienische Kriegsliteratur zu verfolgen […]. Am späteren Vormittag fand unter der Leitung eines Vertreters des Auswärtigen Amtes eine Sitzung statt, zu der sich sämtliche Lektoren einfanden […]. Außerdem wurden noch gemeinsame Aussprachen mit Rohrbach und Kiliani abgehalten.«10
Dies erinnert an die privat organisierte Inventar- und Sammeltätigkeit Aby Warburgs in der Bibliothek Warburg während der Kriegsjahre von 1914 bis 1918. Dem Hamburger Kunsthistoriker ging es allerdings bei dem komplex kategorisierten Anlegen seiner Kriegskartothek nicht nur um aktuelle Kriegspolitik beziehungsweise um das Kriegsgeschehen in Italien, sondern um die Analyse der spezifischen Text-Bild-Relation von Presseausschnitten unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen anthropologie-, symbol- und mentalitätsgeschichtlichen Gehalts: Aberglaube, Archaismen, Atavismen waren für Warburg relevante kulturanthropologische Teilaspekte.11 Mit Weisbach verband ihn methodisch das bewusste Einbeziehen kultur- und geisteswissenschaftlicher Gesichtspunkte, wie Weisbach über seine Begegnung mit Aby Warburg in seinen 1937
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veröffentlichten Erinnerungen bemerkte.12 Weisbach sah sich sogar durch den sieben Jahre älteren Warburg in seiner »wissenschaftlichen Auffassung gestützt«, die »über die reine Stilkritik« hinausgeht.13 Was die publizistische Sammelarbeit anbetrifft, zeigte Weisbach aber kaum Wertschätzung gegenüber seinem Hamburger Kollegen und dessen Pressedokumentationen und -interpretationen. Dies hängt möglicherweise auch mit den konkurrierenden amtlichen Propagandainstitutionen zusammen, die ›Dublettierungen‹ von Dokumenten, Arbeitsaufwand und Kosten begünstigten:
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Abb. 1: Bad Schachen (Hotel), Ansicht nach 1910
»In Ermangelung eines anderen Betätigungsfeldes stellte er [Warburg] seine Bibliothek auf Kriegsarbeit um […], ließ Zeitungsausschnitte sammeln und nach bestimmten Gesichtspunkten ordnen. Ich selbst, der ich damals im Presseamt des Auswärtigen Amtes die gleiche Aufgabe in weit größerem Umfang zu erfüllen hatte, wurde öfter von ihm zu Rate gezogen, konnte mir aber von seinem Bemühen nicht viel Nutzen versprechen, zumal da auch im Kriegspresseamt des Generalstabes derselbe Stoff bearbeitet wurde und beide Stellen […] regelmäßig gedruckte Berichte über die Presseerscheinungen herausgaben.«14
Projektion und Publikation im Kontext Andererseits fiel in den Zuständigkeitsbereich der »Zentralstelle« – insbesondere in Bezug auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung im neutralen Ausland – die aktive Produktion (kultur-)propagandistischen ›Aufklärungs‹-Materials als Gegenposition zu dem häufig negativ konnotierten, als ›barbarisch‹ und militaristisch-annexionistisch gekennzeichneten Deutschlandbild in der Auslandspresse. Ebenfalls tätig für diese Pressestelle im Auswärtigen Amt war der Journalist und Kunsthistoriker Otto Grautoff, der im französischen Lektorat maßgeblich gegen das durch »Nachahmung, Zerstörungslust und nationale Beschränkheit der Kunsthistoriker«15 typisierte kunst- und kulturgeschichtliche Deutschlandbild des französischen Kunsthistorikers Émile Mâle propagandistisch zu Felde zog.16 Unter dem Eindruck des deutschen Bombenangriffs auf die Kathedrale von Reims und die Zerstörung der Bibliothek im belgischen Löwen 1914 und anderer herausragender Baudenkmäler durch das deutsche Militär trat Mâle gegen den »vandalisme« der ›barbarischen‹ und in ihren künstlerischen Äußerungen nur zur Nachahmung fähigen Deutschen an. 1917 fasste er seine Essays zusammen unter dem Titel »L’Art allemand et l’Art français du Moyen Âge« und löste damit auf deutscher Seite eine anhaltende Debatte beziehungsweise ein Konglomerat publizistischer Gegendarstellungen aus.17 In ihrer ideologiekritischen Publikation charakterisiert Ute Engel diesen binationalen Schlagabtausch desavouierenden kulturellen Kräftemessens pointiert: »Deutsche wie Franzosen rekurrierten in dieser
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Auseinandersetzung auf die althergebrachten Muster des Germanen-Mythos, und Mâle brandmarkte die Deutschen und ihre Kunst als mechanisch, unbeweglich, starr und einfallslos.«18 Mittels rhetorischen Gebrauchs französischer Verurteilungsterminologie betitelte Werner Weisbach 1916 einen seiner Aufsätze in der Wochenschrift Deutsche Politik19 mit einem Montalembert-Zitat von 1831: »Expulsons les Barbares«, das einst »gegen die kunstschänderische und denkmalfeindliche Gesinnung, von der das Frankreich seiner Zeit beherrscht ist«20, gerichtet war. Es handelt sich um eine Art kultur- und geistesgeschichtlich unterfütterte Verteidigungsschrift Weisbachs gegen das Barbaren-Image der Deutschen in Verbindung mit einem Plädoyer für »Deutschland als das Musterland der Denkmalpflege und der Achtung vor allem historisch Gewordenen« im Gegensatz zum antiklerikal-revolutionären Frankreich.21 Implizit legitimiert Weisbach damit auch die Vorgehensweisen des staatlich institutionalisierten »Kunstschutzes«. Explizit stützt er sich bei dem nationalen Vergleich zwischen französischer und deutscher Denkmalpflege beziehungsweise dem allgemeinen Umgang mit historischen Zeugnissen, speziell der jeweiligen Baukunst, auf Grautoffs Veröffentlichung »Kunstverwaltung in Frankreich und Deutschland« von 1915. Die frühen verheerenden deutschen Militäreinsätze in Belgien und Nordfrankreich hatten international Proteste ausgelöst. Zahlreiche prominente Wissenschaftler unterzeichneten in Deutschland daraufhin »gegen die Lügen und Verleumdungen […] in dem Deutschland aufgezwungenen schweren Daseinskampfe«22 den am 11.10.1914 publizierten »Aufruf an die Kulturwelt!« und rechtfertigten auf diese Weise das brutal offensive Vorgehen des Heeres im Modus einer sich als defensiv gerierenden Kriegszielpolitik. Folge dieses Manifestes war die anhaltende Ächtung der deutschen Wissenschaft bis in die 20er Jahre. Weisbachs Aktivitäten für die »Zentralstelle für Auslandsdienst« fügen sich allgemein in den ideologisch-historischen Kontext der ›geistigen Mobilmachung‹ bürgerlichkonservativer bis liberaler Eliten – Intellektuelle beziehungsweise Wissenschaftler und (wenige) Wissenschaftlerinnen im Ersten Weltkrieg –, während der viel beschworene ›Geist von 1914‹ als ideologisches Konstrukt der Klassenverschmelzung und anhaltender Mythos von der »Volksgemeinschaft« die Massen für die Kriegsziele mobilisieren sollte.23 Kulturpropaganda und der sogenannte »Kunstschutz« fungierten als Teilgebiete einer häufig nationalistisch ausgerichteten Kulturpolitik bis hin zum Kulturchauvinismus.24 Gleichzeitig ging es den staatlichen Propagandainstitutionen darum, die Abgrenzung zu dem bereits in der Vorkriegszeit aufkommenden exzessiv-militaristischen Nationalismus und völkischen Pangermanismus »alldeutscher« Agitation25 im Ausland publizistisch zu kommunizieren, um so die »antideutsche Propaganda« durch ›Aufklärung‹ zu entkräften. 1916 sollten Weisbach und Kollegen zu diesem Zwecke bei der »Zentralstelle« »untersuchen und Material dafür beibringen, welcher Art die Wirkungen gewesen seien, die von dem Alldeutschtum und dem nationalistischen Imperialismus seit dem Jahre 1890 auf die mit uns im Kriege stehenden Länder ausgeübt wurden.«26
Die entsprechende Materialsammlung veröffentlichte Weisbach nach dem Krieg 1920 zusammenfassend in den Preußischen Jahrbüchern unter dem Titel »Das moderne Deutschland im Spiegel italienischer Vorstellungen«. Allerdings ist Weisbachs Text
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nicht frei von zeitgenössischen Kulturstereotypen. Auch schreckt der Autor nicht vor Mitteln der Polemik zurück, um aus seiner Sicht ungerechtfertige oder zumindest einseitige Pangermanismus-Vorwürfe abzuwehren und die Seriosität italienischer Quellen in Zweifel zu ziehen. So belegt Weisbach beispielsweise das seiner Meinung nach grotesk entstellte Deutschlandbild der Italiener mit Literaturbeispielen anekdotischen Charakters aus Giuseppe Antonio Borgeses La nuova Germania (Turin 1909). Weisbachs Kritik richtet sich dabei nicht etwa gegen den kruden kolonialistischen Rassismusgehalt des gewählten Textzitats, sondern gegen den Wahrheitsgehalt der Quelle und die sexuell anzügliche als zynisch empfundene Inszenierung des Bürgertums in der Rolle des unkultivierten ›Wilden‹:
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Abb. 2: Diego Velázquez, Die Übergabe von Breda (Detail), 1634/34
»Der pikante Reiz der Anekdote steht ihm [Borgese] höher als objektive Wahrheit. Eine der krassesten Fälle ist wohl der, wo er von einem Kolonialfest, das in Berlin stattgefunden haben soll, erzählt: An dem Abend sei von engagierten Künstlern eine Negerpantomime [!] aufgeführt worden, wobei die Kostümierung […] lediglich in einer dunkeln Bemalung der Körper, wie Gott sie geschaffen, bestand; am Schluss wären diese von der Bühne herabgestiegen und hätten ohne Kostümwechsel mit den Damen der besten Gesellschaft getanzt.«27
Als Reflex auf seine publizistischen Amtsaufgaben während des Krieges thematisiert Weisbach 1921 in »Der Barock als Kunst der Gegenreformation« ohne negative Wertung die suggestive Wirkung einer expansiv-instrumentellen Verbindung von religiöser Kunst und jesuitischer Propaganda im Sinne einer regulierten Wahrnehmungsintensivierung: »Es war der Zweck der Geistlichen Übungen, durch ein allgemein anwendbares psychotechnisches Verfahren ein breites Publikum für eine bestimmte Glaubensform zu präparieren und die religiöse Phantasie in geregelte Bahnen zu lenken […]. Er [Ignatius von Loyola] legte den ganzen von ihm erarbeiteten Apparat als Werkzeug und Kampfmittel der Kirche in die Arme. Alles war darauf abgesehen, eine möglichst weite Expansion zu fördern. Im Kampf gegen den Protestantismus erprobten und bewährten sich die Geistlichen Übungen als ein vornehmliches Mittel der Propaganda.«28
Kritik an der Kriegsschuldfrage und Enttäuschung über die als entwürdigend bewerteten Bedingungen des Versailler Friedensvertrags schwingen hingegen in Weisbachs ArtikelResümee von 1920 mit, wenn er eine »ethische Grundsetzung im zwischenstaatlichen Verkehr« vermisst.29 Weisbach wählt Velazquez’ Gemälde Übergabe von Breda (1634/35) als modellhafte Projektion einer von idealisierter ›Ritterlichkeit‹ geprägten friedfertigen Sieger-Verlierer-Relation (Abb. 2): »[…] wo der spanische Feldherr Spino-
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la dem ihm die Schlüssel der eroberten Stadt übergebenden Kommandanten mit Umarmung und einem fast zärtlich liebevollen Blick entgegengeht« und nach deren »Symbol von Ritterlichkeit« man »unter den Vorgängen des Weltkrieges […] vergebens Ausschau« halte.30 Moderater Pazifismus – Gründung der »Die Vereinigung Gleichgesinnter« Wenige Wochen vor Weisbachs Sommerurlaub 1916 am Bodensee und im oberbayerischen Füssen kam es am 14. Juni 1916 im eleganten Berliner Tiergartenbezirk zu einer denkwürdigen Zusammenkunft deutscher Wissenschaftler, Intellektueller, Publizisten, Vertreter aus der Wirtschaft und der Kirche. Mitten im Ersten Weltkrieg, auf dem Höhepunkt der menschenverachtenden Materialschlachten und Stellungskriege im Westen – an der Marne und der Somme, in der ›Hölle von Verdun‹ – wurde Weisbachs damalige Berliner Stadtvilla in der Margaretenstraße 19 – heute ist das seit den 50er Jahren geräumte Stadtgebiet mit den Kultureinrichtungen des 2019 abermals neu gestalteten Scharounplatzes überbaut – zum Sitzungs- und Gründungsort der auf einen Verständigungsfrieden ausgerichteten »Vereinigung Gleichgesinnter« (Abb. 3): »Inzwischen reifte in mir ein anderer Plan, der ins Auge faßte, eine Sammlung von Menschen herbeizuführen, die, im Widerstand gegen die nationalistischen, annexionistischen und reaktionären Bestrebungen, sich für die internationale Verständigung, Wahrung der Rechtsbegriffe, für freiheitliche Entwicklung im Innern, Freiheit der Wissenschaft einsetzen wollten, um durch gemeinsames Wirken jenem Treiben entgegenzuarbeiten und ein entsprechendes Gedankenmaterial für den Frieden vorzubereiten und zu propagieren.«31
Wie bereits oben ausgeführt, hatte Weisbach als Pressemitarbeiter in der »Zentralstelle für Auslandsdienst« durch seine Beschäftigung insbesondere mit der forcierten, radikalnationalen Agitation des »Alldeutschen Verbands« gute Kenntnisse von den verheerenden politischen Auswirkungen eines von diesem aggressiv-rechten Spektrum propagierten Eroberungskriegs und angestrebten »Siegfriedens«. Trotz seiner deutlich antinationalistischen Gesinnung verortet sich Weisbach selbst »auf Grund meines historischen Bewusstseins« aber nie als Pazifist bzw. Anhänger eines institutionalisierten Pazifismus. Er distanziert sich sogar stellenweise von den offiziellen Friedensbewegungen, wenn er auf eine in einer pazifistischen Schweizer Zeitschrift erschienen Kritik an seiner Anfang 1915 veröffentlichten Broschüre Kriegsziele und deutscher Idealismus32 defensiv reagiert: »In einem Augenblick, da mein Vaterland in Gefahr und in einem Existenzkampf stand, hatte ich nur dieses im Auge und konnte nicht, wie die Pazifisten, in parteilos unbeteiligter Abwägung einen Weg zwischen den Lagern finden.«33
Weisbachs Ablehnung radikaler Kriegszielpolitik und eines demonstrativen staatlichen Machtkultes als Kennzeichen einer allgemeinen moralischen Brutalisierung politischen Handelns während des Kriegsverlaufs basieren auf bürgerlich-liberalen, am Humanismus orientierten Normvorstellungen. Der fast gleichzeitige Wegfall des bürgerlichpazifistischen »Bund Neues Vaterland« (BNV) mit seinen Mitgliedern diverser politisch-ideologischer Ausrichtung war möglicherweise ein weiterer Auslöser, um sich als Initiator der »Vereinigung Gleichgesinnter« zu engagieren.34 Unter dem zunehmenden Druck der Militärbehörden kamen nämlich die öffentlichkeitswirksamen Friedensakti-
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vitäten des 1914 gegründeten Bundes durch das staatlich verordnete Betätigungsverbot im Februar 1916 ganz zum Erliegen. Im Gegensatz zum BNV war die »Vereinigung Gleichgesinnter« im Innern zwar als informeller Zusammenschluss wie ein Verein mit Vorsitz, Ausschüssen, (freiwilligen) Beiträgen, Zielsetzungsprogramm und Anberaumung von Vollversammlungen etc. strukturiert, vermied aber weitgehend Agitationen in der Öffentlichkeit; Argumente gegen einen offiziellen vereinsrechtlichen Status waren, dass
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Abb. 3: Weisbachs Haus in der Margaretenstraße, Berlin, Speisezimmer
»das herrschende Militärregiment […] jeden Verein, der an der Entwicklung vor dem Kriege Kritik übt, als gefährlich betrachten und auch an den Ideen der Vereinigung über die Politik der Zukunft Anstoss nehmen [wird]. Sobald die Vereinigung in die Oeffentlichkeit tritt, ist sie mit Auflösung bedroht und muss sich im besten Falle allen Anforderungen der Militärbehörde unterwerfen. Wird aber auf eine öffentliche Propaganda verzichtet, so besteht kein Interesse an der Vereinsbildung.«35
Außerdem sprächen gegen eine formelle Vereinsgründung auch die »in weiten Kreisen der Gebildeten [bestehende] starke Abneigung gegen alles Vereinswesen […]. Gerade das Lose, Unverbindliche der bisherigen Gemeinschaft macht sie für viele anziehend.« Schließlich wolle man auch nicht in Konkurrenz gehen zu Vereinen »ähnlicher Tendenzen« wie insbesondere dem »Verband für internationale Völkerverständigung«.36 Damit waren dem öffentlichen Aktionsradius der »Vereinigung Gleichgesinnter« von Anfang an Grenzen gesetzt. Innerhalb akademischer Netzwerke ist eine Einflussnahme auf die Meinungsbildung zu den Themen Verständigungsfrieden, Staats- und Bildungsreform sowie internationaler Austausch nach dem Krieg freilich vorstellbar. In seinen Lebenserinnerungen von 1928 spart der Schriftsteller Arthur Holitscher als ehemaliges Mitglied der »Vereinigung Gleichgesinnter« allerdings nicht mit Kritik an der elitären, intellektuell-theoretischen Ausrichtung der Zusammenkünfte: »Erörterungen in diesem Kreise hatten naturgemäß den Charakter von wissenschaftlichen, professoralen Referaten über die möglichen Formationen der inneren wirtschaftlichen Zustände und der auswärtigen Politik nach dem Kriege. Die Gesinnung der ›Gleichgesinnten‹ war gewiss keine umstürzlerische. Jede vernunftgemäße Neuerung wurde theoretisch erwogen, durch die Diskussion der Persönlichkeit bedeutsam […]. Bei den ›Gleichgesinnten‹ des Kunsthistorikers [Weisbach] waren die Diskussionen meist durch wissenschaftlichen Ballast gelähmt […], es war zu viel professoraler Dünkel, zu wenig Kenntnis des wirklichen Volkes, seiner Tendenzen, Ansprüche, Kraft, Verhältnisse vorhanden […].«37
Vortragsthemen der regelmäßig stattfindenden und als ›Diskussionsabende‹ bezeichneten Vollversammlungen bei Weisbach lauteten: »Politische Parteien und geistige Strömungen Englands in der Friedenskrisis« (Carl Brinkmann, 16.10.1917), »Die Bedeutung der Finanz- und Bevölkerungsfrage für den staatlichen und ethischen Wiederaufbau« (René Kuczynski, 07.12.1918), »Praktische Fragen in der Bewährung internationaler
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Ethik« (Friedrich Siegmund-Schultze, 15.01.1918), »Die wirtschaftlichen Grundlagen eines dauernden Friedens« (Lujo Brentano, 26.02.1918).38 Die Mitglieder warb man »aus innenpolitischen Gründen äußerst behutsam und vertraulich an«.39 Aufgrund der unterschiedlichen friedenspolitischen Programmatik und Praxis des BNV und der relativen Geschlossenheit der »Vereinigung Gleichgesinnter« ist es eher unwahrscheinlich, dass Weisbachs Neugründung als Substitut für den BNV fungieren sollte, um mit vergleichbaren Strategien »als politisch wirksame Kraft in Erscheinung« zu treten.40 Die partiellen personellen Schnittmengen zwischen den beiden divergierenden Allianzen Abb. 4: Brief von Albert Einstein an Werner verweisen jedoch auf inhaltliche BerühWeisbach vom 14.10.1916 rungspunkte im Sinne eines antinationalistischen moderaten Pazifismus im Kontext des BVN-Verbots.41 Zu den ausschließlich männlichen Gründungsmitgliedern zählten so auch die drei BNV-Mitglieder: Graf Georg von Arco, Direktor der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie, Berlin, der Münchner Philosophieprofessor Ernst von Aster und der evangelische Theologe und Sozialreformer Friedrich Siegmund-Schultze. Des Weiteren fanden sich anlässlich der konstituierenden Sitzung im Hause Weisbach ein: der Vereinigungsvorsitzende Friedrich Curtius aus Heidelberg, einstiger Oberkonsistorialrat in ElsaßLothringen und Onkel mütterlicherseits von Weisbachs erster Ehefrau Frau Eva geb. Lepsius, Friedrich Wilhelm Foerster, christlich-katholischer Professor für Pädagogik an der Universität München und überzeugter Pazifist, Wilhelm Julius Foerster, Astronom in Berlin, Johannes Lepsius42, Wilhelm Mühlon von den Kruppschen Werken in Essen, Samuel Saenger, Redakteur der Neuen Rundschau, Carl Brinkmann, Privatdozent der Nationalökonomie, Karl Heldmann, Professor für Geschichte an der Universität Halle, und Freiherr Rausch von Traubenberg, Physiker und Privatdozent aus Göttingen.43 Die im Gründungsprotokoll enthaltenen Referate der 13 anwesenden Männer spiegeln bereits Gemeinsamkeiten und Differenzen insbesondere im Hinblick auf die dauerhafte Befriedung und Neuorganisation Europas und Deutschlands nach dem Friedensschluss wider. Hier erstreckt sich ein teilweise unüberbrückbares Spannungsfeld zwischen den Vorstellungen von Internationalismus und »nationalem Selbstbewußtsein«44 bzw. Patriotismus, von Förderalismus und Partikularismus, von realpolitischem Pragmatismus, ethischen Idealen und Reformbestrebungen.45 Ernst von Aster nimmt die Gründungsversammlung zum Anlass einer kritischen Abrechnung mit der eigenen sozialen Gruppe intellektueller Eliten:
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»Eine der erschreckendsten Erfahrungen seit Anfang des Krieges war für mich das völlige Versagen der Mehrzahl unserer Intellektuellen, die vollständig willen- und kritiklos im Gefolge der bestehenden öffentlichen Meinung schwammen und sich ihre Auffassung der Ereignisse diktieren liessen von einer nationalistischen Voreingenommenheit, einer blinden Absolutsetzung der nationalen Güter und Ziele, ohne sich auch nur die Frage vorzulegen, ob diese nationalen Ziele selbst nicht nur eine relative Geltung und Berechtigung haben. Hier für die Zukunft Wandel zu schaffen, scheint mir eine mögliche Aufgabe unserer Vereinigung […], dass sie nicht die bekannte vorsichtig-laue Meinungslosigkeit der grossen Menge unserer Gebildeten, soweit sie nicht gänzlich im alldeutschen Vorurteil befangen sind, verkörpern.«46
Auch bei der Anwerbung weiterer Mitglieder für den Kreis um Weisbach kommen Skepsis und Bedauern gegenüber der eigenen Berufsgruppe zum Ausdruck wie in einem Brief von Werner Weisbach an Friedrich Curtius vom 06.09.1917, in dem er die Mitgliedschaft von René Kuczynski, Direktor des statistischen Amts Berlin-Schöneberg, befürwortet: »Er ist ein höchst vornehm und edel denkender Mensch und besitzt eine große Verstandesschärfe. Deshalb begrüße ich seinen Beitritt mit besonderer Freude, zumal wir an ›Praktikern‹ nicht großen Überfluß haben. – Du hast ganz recht, wir sollten noch mehr auf Männer der Kulturwissenschaften bestehen, aber die sind ja leider zum großen Teil auf einen Nationalismus eingeschworen, und wenn sie es nicht sind, wagen sie zumeist nicht eine gegenteilige Meinung zu äußern. Aber auch Männer des praktischen Lebens tun uns not, damit man uns nicht den billigen Vorwurf ideologischer Ziele machen kann. Jedenfalls beginnt sich unser Kreis allmählich ganz gut zu mischen.«47
Die Mitgliederliste wuchs bis zur Auflösung der Vereinigung 1919 auf insgesamt 37 ausschließlich männliche Teilnehmer an, darunter einige wenige Kulturwissenschaftler wie der Archäologe Walter Amelung und Lucian Schermann, der Direktor des ethnologischen Museums in München; weitere Kunsthistoriker erscheinen weder auf der Mitgliederliste noch im Gästeverzeichnis. Als einziges Mitglied mit Reichstagsmandat trat der SPD-Abgeordnete Albert Südekum der Vereinigung bei. Berühmtestes Mitglied war der friedenspolitisch engagierte Albert Einstein, der von Georg von Arco in den Kreis eingeführt wurde.48 Im Bewusstsein der historischen Kontinuitätslinien von der machtpolitischen Entstehung und Entwicklung des deutschen Kaiserreichs bis hin zum Kriegsausbruch und der Notwendigkeit eines moralischen und staatspolitischen bzw. länderübergreifenden Gegengewichts zum Primat des Gewaltideals stimmt der in Berlin tätige Albert Einstein in seinem Brief an Werner Weisbach vom 14. Oktober 1916 der Aufnahme in die »Vereinigung Gleichgesinnter« zu (Abb. 4): »Hoch geehrter Herr Kollege! / Die Tendenz Ihrer neuen Gründung erscheint mir als über alle Kritik erhaben. Diese Krankheit der Zeit liegt nach meiner Überzeugung darin, dass die moralischen Ideale ihre Kraft fast verloren haben. BismarckTreitschke lautet kurz zusammengefasst die Krankheitsgeschichte. Und jetzt erleben wir die Krise: / Wenn Bismarck-Treitschke mit der Glorie eines äusseren Erfolges abschneiden, dann ist die Erde auf unübersehbare Zeit moralisch verpestet. Eine endlose Kette von Treulosigkeiten und abscheulichen Gewaltthaten wird die Menschheit dann durchmachen müssen. / Wenn aber Bismarck-Treitschke den Erfolg nicht haben, so verlieren die Menschen den Glauben an das öde Machtideal und werden die Grundsätze des Rechtes willig und ehrlich auf die Staaten ausdehnen.
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Dann wird sich unser heiss ersehntes Ziel einer Kriege ausschliessenden Organisation der Staaten (wenigstens Europas und Amerikas) in kurzer Zeit durchsetzen. / Diese Überzeugung vertrete ich offen, trotzdem ich mir wohl bewusst bin, dass durch persönliches Einstehen für diese Überzeugung auf die Massen (auch der Professoren) nur schwach gewirkt werden kann. Der äussere Erfolg oder Misserfolg entscheidet, so betrübend das auch ist; wollen wir uns darüber nicht täuschen! Nehmen Sie mich also auf Ihre Liste, dass nur der Trost bleibt: dixi et salvavi animam meam. / Mit besten Grüssen / Ihr ergebener / A. Einstein.«49
Der künftige Nobelpreisträger bringt hier zwar seine Solidarität und Hoffnung zum Ausdruck; gleichzeitig wird der Desillusionismus des Mahners deutlich, wenn er den Bemühungen der Vereinigung letztendlich die Wirkung der Gewissenserleichterung und eines Trostmittels zuschreibt. »Veredelter Patriotismus« und »Verschwörung für das Gute« im Polizeistaat Nach dem ›Kohlrübenwinter‹ 1916/17 und den vergeblichen offiziellen Friedensbemühungen folgte die Erklärung des uneingeschränkten U-Bootkriegs auf deutscher Seite im Februar 1917 und schließlich der Kriegseintritt der USA im April desselben Jahres. Die richtungweisende Februarrevolution in Russland hatte ebenfalls 1917 die Abdankung des Zaren erzwungen. Im zeitgeschichtlichen Kontext der sich innen- und weltpolitisch zuspitzenden Ereignisse verpflichteten sich die Mitglieder der »Vereinigung Gleichgesinnter« am 30. Mai 1917 im Sitzungssaal der Verlagsbuchhandlung S. Fischer in Berlin unter dem Vorsitz von Friedrich Curtius auf ein gemeinsames Programm. Dieses bestand aus Leitsätzen und Erläuterungen und war zuvor jedem Mitglied als »streng vertraulich« zugestellt worden: »1. Unsere Vereinigung will dafür arbeiten, dass der dem Geiste der Humanität entgegengesetzte Nationalismus überwunden werde, dass der ethische Gedanke mehr und mehr in der Weltpolitik zur Geltung komme, und, im Gegensatz zur einer reinen Machtpolitik, als realpolitischer anerkannt werde. / 2. Das nächste Mittel zur Erreichung dieses Zieles soll eine im Stillen wirkende Werbung von zuverlässigen Gesinnungsgenossen und der geistige Austausch in einem langsam wachsenden Kreise solcher sein. / 3. Auf Grund fortschreitender Klärung der Auffassungen wären dann auch praktische Aktionen zur Vorbereitung der gewonnenen Ueberzeugung und zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu unternehmen.«50
Die dazugehörenden Erläuterungen sind symptomatisch für die traditionell geprägten Mentalitäten der Mitglieder und ihren Rückgriff auf moralische Prinzipien der Aufklärung und des Idealismus: Dem »ungezähmten durch kein höheres sittliches Prinzip beherrschten Nationalismus« wird die beabsichtigte »Veredelung des Patriotismus« gegenübergestellt. Realpolitisch sollten die nationalen Ideale sich von »einem übernationalen, ethischen Prinzip« leiten lassen, »weil der fortgesetzte und verewigte Machtkampf in rettungsloses Verderben führen muss […] « und der »Krieg […] sich über alle Vorstellung böse, Abscheu erregend und kulturvernichtend gezeigt« habe.51 Als »praktische Aktionen« mit Öffentlichkeitswirkung strebte man die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit satzungsnahen antinationalistischen Zeitungen an.52 Ziele einer Bildungsreform wurden zunächst im Sinne eines ›veredelten‹ Patriotismus formuliert: »Die patriotische Erziehung der Jugend darf nicht wie bisher ausschliesslich in dem Kultus kriegerischer Erinnerungen erstrebt werden«, sondern sollte »mit echter
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Abb. 5: Vorladung des Königlichen Landgerichts Halle an Friedrich Curtius vom 07.01.1918 (Detail)
Humanität verbunden« und in der auf Gerechtigkeit basierenden »Gemeinschaft der Kulturstaaten verkündigt werden.«53 Dieser allgemeinen liberaldemokratischen Grundhaltung entspricht auch Weisbachs späterer Einsatz für den Berliner »Demokratischen Studentenbund«. Anfang 1919 hielt Werner Weisbach neben Friedrich Meinecke, Ernst Troeltsch und Hermann Herkner dort einen Vortrag zum Thema »Internationalismus – Übernationale Gemeinschaft – Völkerbund«, in dem er die ideen- und zeitgeschichtlichen sowie die psychologischen Grundlagen für die Vorstellungen von nationalen und übernationalen Idealen skizzierte.54 Zusammenfassend sollte die »Vereinigung […] sozusagen eine Verschwörung für das Gute bilden«55. Dass das Ende der »Vereinigung Gleichgesinnter« mit dem Vorwurf der ›Geheimbündelei‹ bereits Ende 1917 eingeleitet werden sollte, sah noch keines der Mitglieder voraus; doch unter dem autoritären Militärregime beziehungsweise den Restriktionen eines Polizeistaates war die Briefzensur an der Tagesordnung, drohten stets Bespitzelungen, Verhöre und daraus resultierende Anklagen bis hin zu Disziplinarverfahren wegen Landesverrats. Gegen den Hallenser Geschichtsprofessor Karl Heldmann, einstiges Vereinigungsmitglied und Vertreter »großdeutsch-föderalistisch-antipreußischer
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Überzeugungen«56, wurde aufgrund eines von den militärpolizeilichen Behörden missbilligten Briefinhalts »wegen Majestätsbeleidigung nicht nur ein Disziplinarverfahren von Seiten der Universitätsbehörden, sondern auch ein gerichtlicher Prozess eingeleitet«.57 In Heldmanns Briefwechsel mit einem Kasseler Gesinnungsgenossen hatte dieser auf die zusätzliche Lebensmittelverknappung während der Anwesenheit der Kaiserin und ihrer Entourage in Kassel mit den Worten reagiert: »Muß denn das Mensch auch immer in unsere Gegend kommen!«58 Eine Hausdurchsuchung bei Heldmanns Kasseler Korrespondenten förderte Unterlagen über die »Vereinigung Gleichgesinnter« zutage; es folgten weitere Verhöre und Haussuchungsbefehle bei Heldmann in Halle nun auch wegen des Verdachts der ›Geheimbündelei‹ (§ 128 St.G.B.). Inzwischen erging Anfang 1918 auch eine Vorladung an den Vereinigungsvorsitzenden Friedrich Curtius in Heidelberg, deren Termin allerdings möglicherweise durch Südekums Einflussnahme als Reichstagsabgeordneter schließlich aufgehoben wurde (Abb. 5). Diese Eskalation des Prozesses versetzte die »Vereinigung« in Alarmbereitschaft. Zunächst wurde Justizrat Joseph Schwickerath mit Heldmanns Verteidigung beauftragt; das Vereinigungsmitglied und Juraprofessor Kurt Wolzendorff verfasste daraufhin eine detailliert verfassungsrechtlich und -historisch ausgearbeitete Denkschrift: Die rechtlich-politische Situation der sogenannten ›Vereinigung Gleichgesinnter‹59. Diese Expertise diente der Klärung, ob die Militärbehörden grundsätzlich berechtigt seien, die »Vereinigung« wegen Verletzung des Vereinsgesetzes zu belangen. In ihr behandelt der Verfasser auch das angespannte Verhältnis zwischen Militärbehörde, Polizeigewalt und bürgerlicher Freiheit im Verfassungsstaat im Kontext »einer Atmosphäre des Polizeistaates, sehr nahe verwandt derjenigen des 18. Jahrhunderts«60. In dem beiliegenden Anschreiben an Curtius vom 17.04.1918 erklärt Wolzendorff aufgrund der akuten Rechtsunsicherheit des Vereinigungsstatus’ gleichzeitig den Verzicht auf eine weitere Mitgliedschaft, da er »als Beamter und insbesondere Lehrer des Staats- und Verwaltungsrechts die Zugehörigkeit zu der Vereinigung in ihrer jetzigen Gestalt leider praktisch nicht als unbedenklich ansehen kann.«61 Auch Weisbach fürchtete Konsequenzen aus der Heldmann-Affaire, da er durch seine »Beschäftigung im Kriegsdienst eine amtliche Stelle beim Auswärtigen Amt« innehatte, und »das Delikt um so schwerer Folgen nach sich ziehen würde«62. Die Chronik der Vereinigung nennt für den Zeitraum nach dem 26.2.1918 keine weiteren Vollversammlungen bzw. Diskussionsabende mehr, nachdem der Ausschuss in seiner Zusammenkunft vom 19.04.1918 beschlossen hatte, »von der Einladung zu weiteren Zusammenkünften abzusehen« und die einberufene Versammlung für den 25.04.1918 abzusagen.63 Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den eingreifenden gesellschaftspolitischen Umwälzungen bei der Entstehung der Republik und ihrer Parteien seit November 1918 trat zum einen das heterogene politische Spektrum des Kreises immer stärker zutage, zum anderen konnten friedenspolitische Gruppierungen anderweitig wieder legal agieren.64 Die »Vereinigung Gleichgesinnter« löste sich endgültig mit Curtius’ offiziellem Abschiedsschreiben Ende Oktober 1919 auf. Zuvor hatte der Vorsitzende in seinem Brief an Weisbach vom 30.07.1919 bemängelt, »daß die V. G. [Vereinigung Gleichgesinnter], wie man sagt, einfach ›verduftet‹ d.h. sich als Luftgebilde herausstellt.«65 In seinem Anschreiben an Weisbach vom 25.10.1919 artikuliert er offen seine Enttäuschung über das seiner Meinung nach unmotivierte Ende der Vereinigung: »[…] es ist eigentlich nur allgemeine Unlust, woran die Vereinigung zu Grunde geht. Das mag man aber nicht gern sagen […]«.66
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1 Zur Villen- und Hotelarchitektur vgl. Christoph Hölz, Markus Traub: Weite Blicke. Landhäu-
ser und Gärten am bayerischen Bodensee. München 2009. 2 Vgl. Katharina Büttner-Kirschner: »Der Kunsthistoriker Werner Weisbach (18731953) im
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Basler Exil (19351953)« In: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 16, Göttingen 2014, S. 161176; vgl. zu Weisbachs Biographie allgemein dies.: »Werner Weisbach« In: Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 27. Bd., Vockerodt-Wettiner, Berlin 2020, S. 660662. Werner Weisbach: Geist und Gewalt. Wien/München 1956, S. 175. Ebd., S. 134 f.; s. auch NL 91: A. II.1a (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel). Johannes Lepsius (18581926): 1914 war er als entschiedener Gegner genozidaler Gewalt an den Armeniern im Osmanischen Reich Mitbegründer der Deutsch-Armenischen Gesellschaft in Berlin. Weitere Angaben zu seiner Person auf der Webseite des ihm gewidmeten heutigen Lepsius-Hauses in Potsdam: www.lepsiushaus-potsdam.de. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 120. Vgl. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 143; vgl. Weisbachs Veröffentlichungen zu Kunst und Städtebau der italienischen Renaissance, sowie seine zahlreichen Italienaufenthalte und Kontakte zur Bibliotheca Hertziana in Rom und dem Kunsthistorischen Institut in Florenz. Zur Geschichte der Propagandaorganisationen im Ersten Weltkrieg siehe Jürgen von UngernSternberg, Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf ›An die Kulturwelt!‹ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1996, S. 112143. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 145. Ebd.; Paul Rohrbach (18691956) war ehemals als publizistischer Mitarbeiter im Reichsmarineamt beschäftigt und leitete gemeinsam mit dem ehemaligen Generalkonsul in Australien Richard Kiliani (18611927) die »Zentralstelle für Auslandsdienst«. Zu Aby Warburgs Kriegskartographie im Ersten Weltkrieg siehe insbesondere Gottfried Korff (Hg.): Kasten 117. Aby Warburg und der Aberglaube im Ersten Weltkrieg. Tübingen 2007. Vgl. Werner Weisbach: »Und alles ist zerstoben«. Erinnerungen aus der Jahrhundertwende. Wien u.a. 1937, S. 303. Ebd. Ebd., S. 304. Otto Grautoff an den Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Alfred Schmid, Brief vom 22. Januar 1917. R901, Nr. 72243, fol. 75. Bundesarchiv, Berlin, Zit. nach: Evonne Levy: »The German Art Historians of World War I: Grauthoff, Wichert, Weisbach and Brinckmann and the Activities of the Zentralstelle für Auslandsdienst« In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 74, 2011, S. 382, Anm. 30. Vgl. ausführlich ebd., S. 373400; Brinckmann und Wichert waren hauptsächlich im neutralen Ausland der niederländischen Zweigstelle der »Zentralstelle für Auslandsdienst« in Den Haag beschäftigt. Siehe auch Émile Mâle: Studien über die deutsche Kunst. Hg. von Otto Grautoff mit Entgegnungen von Paul Clemen u.a. Leipzig 1917. Ute Engel: Stil und Nation. Barockforschung und deutsche Kunstgeschichte (ca. 1830 1933), Paderborn u.a. 2018, S. 135. Werner Weisbach: »Expulsons les Barbares« In: Deutsche Politik. Wochenschrift für Weltund Kultur-Politik 12, 1916, S. 553559; Herausgeber waren unter anderem Paul Rohrbach
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(18691956) und Ernst Jäckh (18751959). Ernst Friedrich Jäckh betätigte sich unter anderem als Journalist, Publizist und Geschäftsführer des Deutschen Werkbundes. Er engagierte sich während der Nachkriegszeit u.a. für den Liberalismus und war als Hochschullehrer an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin beschäftigt. 1933 emigrierte er nach London und später nach New York. Ebd., S. 553. Ebd., S. 553 f. Ungern-Sternberg 1996 (wie Anm. 8), S. 144, Abb. 3; siehe auch Engel 2018 (wie Anm. 18), S. 132137 mit weiterführenden Literaturangaben in Anm. 464 ff. Vgl. hierzu ausführlich Jeffrey Verhey: Der ›Geist von 1914‹ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000. Dazu ausführlich Robert Born, Beate Störtkuhl (Hg.): Apologeten der Vernichtung oder Kunstschützer. Kunsthistoriker der Mittelmächte im ersten Weltkrieg, Köln u.a. 2017, S. 928. Zur Entstehung, Ideologie und Programmatik des »Alldeutschen Verbands« siehe ausführlich Roger Chickering: We men who feel most German. A cultural study of the Pan-German League 1886-1914. London 1984; Michael Peters: Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (19081914). Ein Beitrag zum völkischen Nationalismus im spätwilhelminischen Deutschland. Frankfurt am Main 1992; Wodruff D. Smith: The Ideological Origins of Nazi Imperialism. New York/Oxford 1986. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 146. Werner Weisbach: »Das moderne Deutschland im Spiegel italienischer Vorstellungen« In: Preussische Jahrbücher Bd. 180, Berlin 1920, S. 200. Werner Weisbach: Der Barock als Kunst der Gegenreformation. Berlin 1921, S. 13 f.; vgl. zu Weisbachs Interesse an der Propagandathematik auch Evonne Levy: Propaganda and the Jesuit Baroque. Berkeley u.a., 2004, S. 39 f.; vgl. hierzu auch Levy 2011 (wie Anm. 15), S. 393; vgl. zur Verbindung von Kunst und Propaganda bei Weisbach auch Engel 2018 (wie Anm. 18), S. 626 ff.; vgl. auch Ungern-Sternberg 1996 (wie Anm.8), S. 120: Möglicherweise hatte Weisbach Kenntnis von den für Mathias Erzberger tätigen jesuitischen Übersetzern. Erzbergers »Büro Berg« wurde deshalb zeitweise als »Heerlager der ecclesia militans« bezeichnet. Weisbach 1920 (wie Anm. 27), S. 214. Ebd.; vgl. auch NL 91: B. II. 10 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel): Weisbach bezieht ebenfalls Velàzquez’ Gemälde 1915 in einem unveröffentlichten Vortragsmanuskript für die Berliner »Mittwochsgesellschaft« über das Schlachtenbild ein: »Ich möchte i. dies. Zushg. nicht an eʼm. der berühmtest. Gemälde aus d. krieger. Leben vorübergehen, wenn es auch keine eigentl.Schlachtendarstellung:Velazquez Übergabe von Breda. Es entstand jedenfalls wohl im Zushg. mit dem Zyklus v. 12 Kriegsstücken, die Haupttaten aus der Regierg. Phil. IV. vorführten u. den Salon de los Reinos i.Retiro schmückten […] Es galt d. Verherrlichg. der Monarchie durch d. bildl. Vergegenwärtigg. der Ruhmestaten […] D. große Menschenmaler hat nicht nur e. offizielles kriegerisches Spektakelstück od. e. Haupt- u. Staatsaktion daraus gemacht, sondern i. d. Gegenüberstellg. der beiden Hauptpersonen e. psychol. Analyse v. ergreifender Tiefe geschaffen«. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 152; Weisbachs politisches Engagement innerhalb liberaler Intellektuellenkreise zeigte sich bereits durch seine Teilnahme an der sog. »Mittwochsgesellschaft« (19101935) und den späteren im Berliner Grunewald stattfindenden »Sonntagsspaziergängen« (19181933) um Friedrich Meinecke als »Ersatz für die unterbundene ›Vereinigung Gleichgesinnter‹«, vgl. hierzu Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 174, und Gerhard Besier: Die Geschichte der Mittwochs-Gesellschaft 18631919, Berlin 1990, S. 297301 (Protokoll
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vom 17.05.1917 zu Weisbachs Vortrag über Matthias Grünewald) u. S. 304306 (Protokoll vom 17.05.1919 zu seinem Vortrag über Lorenzo Bernini); vgl. zu Weisbachs Vortragsthemen auch Anm. 30; gleichzeitig traf sich Weisbach allwöchentlich samstags privat in einem kleinen Kreis, »dessen besonderes Interesse auf künstlerischem Gebiet lag« und der sich unter anderem aus Künstlern, Kunsthistorikern, Museumsleuten, Schriftstellern und Essayisten zusammensetzte; vgl. hierzu Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 183187. 32 Werner Weisbach: Kriegsziele und Deutscher Idealismus. Berlin 1915 (Umfang: 31 S.). 33 Weisbach 1956 (wie Anm. 3)., S. 132. 34 Vgl. Karl Holl: »Die ›Vereinigung Gleichgesinnter‹: ein Berliner Kreis pazifistischer Intellektueller« In: Archiv für Kulturgeschichte 54, 1972, S. 368. 35 Typoskript des Programmentwurfs für die Sitzung am 30.05.1917: NL 91: A. III. b.27 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel), S. 8 f. 36 Ebd., S. 9. 37 Arthur Holitscher: Mein Leben in dieser Zeit. Lebensgeschichte eines Rebellen. Zweiter Band (19071925). Berlin 1928, S. 130 f. 38 Siehe das Typoskript der Chronik: NL 91: A. III. b.29 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel). 39 Karlheinz Lipp: Berliner Friedenspfarrer und der Erste Weltkrieg. Ein Lesebuch. Freiburg 2013, S. 167. Demnach war Weisbach auch Mitglied der im Dezember 1916 in Frankfurt am Main gegründeten Zentralstelle Völkerrecht (ZV). Diese formierte sich wie die »Vereinigung Gleichgesinnter« als Zusammenschluss ohne rechtlichen Vereinsstatus; vgl. auch Gerhard Hirsch u.a. (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2014, S. 510: Die ZV reichte im Sommer 1917 gemeinsam mit dem BNV, der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) unter anderem im Reichstag Beschwerde ein gegen die Übergriffe durch die Militärbehörden. 40 Erwin Gülzow: Der Bund Neues Vaterland. Probleme der bürgerlich-pazifistischen Demokratie im ersten Weltkrieg. Diss. Humboldt-Universität 1969 (Typoskript), S. 271. 41 Vgl. Lipp 2013 (wie Anm. 35) , S. 366 f.; vgl. auch Gülzow 1969 ebd.; allgemein zu Friedensbewegungen und Friedensinitiativen im Ersten Weltkrieg siehe Gerhard Hirsch u.a. 2014 (wie Anm. 35), S. 508512. 42 Siehe Anm. 5. 43 Vgl. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 152 f.; vgl. die Gründungsmitgliederliste als Typoskript NL 91: A III. b. 26 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel) mit Vermerk und Titel: »Streng geheim! Aussprache über die gemeinsamen Ziele. Sitzung im Hause von Dr. Werner Weisbach, in Berlin, am 14. Juni 1916«. 44 Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 156. 45 Vgl. Typoskript der einzelnen Referate unter dem Titel »Aussprache gemeinsamer Ziele«: NL 91: A. III. b.26 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel) ; vgl. auch zusammenfassend Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 152 f. 46 NL 91: A. III. b.26 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel), S. 17 f. 47 Brief von Weisbach an Curtius, Obergrainau, 6.9.1917: NL 91: A. III. b.21 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel). 48 Siehe Mitgliederliste NL 91: A. III. b.31 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel). 49 NL 91: A. III. b.14 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel). 50 NL 91: A. III. b. 27 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel), S. 1; zur Protokollfassung siehe NL 91: A III. b.28, S. 5; siehe auch Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 160f. 51 NL: A. III. b.28 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel), S. 6; siehe auch Weisbach 1956 (wie Anm. 3), ebd.
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52 Weisbachs Projekt der Gründung einer politischen Zeitung in Kooperation mit dem Heidel-
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berger Juraprofessor Fritz Fleiner, dem Verleger Paul Siebeck und Friedrich Curtius durch Übernahme und Reformierung der nationalliberalen kulturpolitischen Preußischen Jahrbücher (Hans Delbrück) scheiterte bereits Anfang 1916 an Finanzierungsschwierigkeiten trotz des Interesses von Walter de Gruyter und seinem Berliner Verlag Georg Reimer. Auch Aby Warburg hatte sich bei seinen Brüdern im Bankhaus M. M. Warburg vergeblich für eine entsprechende Unterstützung eingesetzt; s. hierzu Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 134 ff. und S. 149151; Die Neue Rundschau, für die das Gründungsmitglied Samuel Saenger als Autor und Redakteur zusammen mit S. Fischer verantwortlich war, publizierte mehrere Beiträge zu vereinigungsnahen Themen. Von Werner Weisbach ließ sich für den relevanten Zeitraum nur ein Artikel finden. Dieser ist eng mit seiner Pressearbeit für die »Zentralstelle für Auslandsdienst« verknüpft: Werner Weisbach: »Die italienische Kulturkrisis und der Weltkrieg« in: Die Neue Rundschau Bd. 2, 1916, S. 10551072. NL: A. III. b.28 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel), S. 8. Vgl. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 201f.; vgl. Werner Weis bach: »Internationalismus – Übernationale Gemeinschaft Völkerbund« In: Gerechtigkeit. Monatshefte für Auswärtige Politik, Heft III, März 1919, S. 159181. NL: A. III. b.28 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel), S. 11. Holl 1972 (wie Anm. 34), S. 378. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 166. Zit. nach Weisbach ebd. NL 91: A. III. b.51 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel), S. 1. Ebd., S. 9; in Auszügen auch zitiert bei Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 170. NL 91: A. III. b.51 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel), Brief vom 17.04.1918 an Friedrich Curtius; vgl. zu Wolzendorffs Austrittsargumentation auch Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 171f. Weisbach 1956 (wie Anm. 3), S. 172. NL 91: A. III. b.38 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel). Vgl. Holl 1972 (wie Anm. 34), S. 382 f. NL 91: A. III. b.37 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel). NL 91: A. III. b.39 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel).
BESPRECHUNGEN
Mitja Velikonja: Post-Socialist Political Graffiti in the Balkans and Central Europe. London/ New York: Taylor and Francis E-Book-Version 2020, 182 S., ISBN: 9780-429-32207-5 (ebk) Die visuellen Ideologien von Graffiti und Street Art kritisch zu erforschen, ist das Ziel von Mitja Velikonja. Seine Forschungsgrundlage ist eine Sammlung von rund 25.000 Fotografien. Diese wurden in unterschiedlichen Ländern und in mehr als 20 Jahren Feldforschung, welche mit minimalen Mitteln, nämlich mit einer Kamera und einem Kassettenrecorder, durchgeführt wurde, aufgenommen. Ein großer Teil der untersuchten Graffiti und Street Art stammt aus dem Heimatland des Autors, Slowenien. Mit seiner Studie will er die interdisziplinäre Wissenschaft Graffitologie vorstellen, die sich seit den 1970er Jahren an der Schnittstelle zwischen Subkulturwissenschaft, visueller Kulturwissenschaft, Urban Studies, Kunstgeschichte, Ideologiekritik, Kriminologie und Recht entwickelt hat. Für diesen Zweck ist das Buch zweigeteilt aufgebaut. Der erste Teil liefert in drei Kapiteln die theoretische und methodologische Grundlage. Im zweiten Teil folgen acht Fallstudien, an denen die konkrete Anwendung der zuvor beschriebenen Methoden vollzogen wird. Zum Einstieg werden Definitionen von Graffiti aus diversen Disziplinen vorgestellt. Dies ist in gewisser Weise auch eine Präsentation des Forschungsstandes. Velikonja selbst will keine weitere eigene Definition von Graffiti liefern, da sie seiner Meinung nach nie alle Erscheinungsformen des Phänomens berücksichtigen könne: »I am convinced that none of them could ever cover all forms of occurrence of this phenomenon« (S. 5). Trotzdem gibt er im Verlauf des Kapitels eine persönliche Einschätzung ab, was für ihn Graffiti bedeutet. Außerdem unterscheidet er zwischen Szene-Graffiti und politischem Graffiti. Parallel wird der erkenntnistheoretische Rahmen der Graffitologie festgelegt: Kontext, Absicht und Rezeption von Graffiti. Daran anschließend grenzt Velikonja im zweiten Kapitel Graffiti und Street Art voneinander ab. Geschichte, Typen, Techniken und Akteur:innen werden in separaten Abschnitten vorgestellt, ebenso Begriffe aus dem Graffitijargon sowie das Wertesystem der Graffitisubkultur. Laut Velikonja muss die Graffitologie ihren theoretischen Rahmen und ihre methodologischen Ansätze noch finden. Diese liefert er im folgenden Kapitel: Um Forschungsdaten zu erheben, wählt er den Weg des Fotografierens. Genaue Vorarbeit und Grundkenntnisse sind erforderlich, bevor man zur Tat schreitet. Die Feldforschung wird am besten auf einen langen Zeitraum angelegt und an verschiedenen Orten durchgeführt. Betont wird auch die Wichtigkeit des Kontextes und des Aufnahmedatums. Der Autor gibt weitere Tipps, worauf bei der Erhebung zu achten ist. Danach werden die Analyseebenen festgesteckt. Die Untersuchung erfolgt von vier Seiten. Diese sind der Kontext, der:die Autor:in, das Graffiti selbst und das Publikum. Die endgültige Bedeutung von Graffiti wird zwischen diesen vier Ebenen ausgehandelt. Den vier Bedeutungsebenen werden im Folgenden Methodenbündel zugeordnet. Die
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Methoden wurden in anderen Disziplinen entwickelt und erprobt und werden an die Graffitiforschung angepasst. Die Analyse der ersten und wichtigsten Bedeutungsebene, des Kontextes, beginnt schon vor der Feldforschung mit der Aneignung von Hintergrundwissen. Die Methoden sind die vergleichende historische Methode, Longue dureé und Histoire croisée. Neben der historischen sind eine örtliche und zeitliche Kontextualisierung vorzunehmen. Der:Die Forschende streift wie ein:e Flaneur:in im Sinne Walter Benjamins durch die Straßen und registriert seine Ergebnisse durch Geocoding. Die Seite des Autors beziehungsweise der Autorin wird mithilfe der teilnehmenden und der nicht-teilnehmenden Beobachtung sowie des Führens von Interviews erforscht. Als Modus kann zwischen dem strukturierten, dem halbstrukturierten und dem ausführlichen Interview gewählt werden. Danach müssen die Daten dem Interviewmodus entsprechend aufbereitet werden. Auf der Ebene der Graffiti selbst greifen die kompositorische Analyse, die Inhaltsanalyse und die Sozialsemiotik und innerhalb dieser vor allem die Frage nach Denotation und Konnotation. Zuletzt sind auf der Rezeptionsebene die Methoden auf die Wahrnehmung der Passanten ausgerichtet. Die Publikumsforschung sieht sämtliche Formen von Interviews vor, ebenso Meinungsumfragen mit standardisierten Fragebögen. Als weiterer Teil der Rezeptionsforschung wird die engagierte Forschung angeführt. Vor der Analyse der konkreten Fallbeispiele erfolgt eine kurze historische Einordnung und Bewertung der Situation auf dem Balkan nach der postsozialistischen Wende. Velikonja zeichnet das Bild einer Bevölkerung, die zwischen Resignation, Perspektivlosigkeit, Nostalgie und Widerstand schwankt. Politische Graffiti und Street Art fungieren als Stimmungsbarometer und setzen sich mit den bestehenden Zuständen auseinander. Das Vorgehen des Autors in den analytischen Kapiteln folgt einem Muster: Am Anfang werden die Fragestellungen formuliert und Hintergrundinformationen geliefert. Die Materialgrundlage wird vorgestellt, wobei anzumerken ist, dass diese insgesamt sehr heterogen zusammengesetzt ist: Poster, Sticker, Stencils und andere mit Sprühdose gefertigte Graffiti. Anhand von Beispielen wird die Analyse mithilfe der zuvor genannten Methoden, die nicht alle gleichzeitig, aber in Kombination angewendet werden, durchgeführt. Am Ende wird die einleitende Fragestellung aufgegriffen und mit den gewonnenen Erkenntnissen beantwortet. Zudem gibt der Autor einen Ausblick, wie sich die Graffitiproduktion auf dem jeweiligen Gebiet entwickeln wird. Etliche motivische und textbasierte Beispiele werden beschrieben, jedoch gibt es vergleichsweise wenige und nur schwarz-weiße Abbildungen – genau das, was Velikonja bei anderen wissenschaftlichen Publikationen kritisiert: »Unfortunately and paradoxically, all of these excellent books dealing with visual culture/politics include very limited numbers of photos of actual graffiti, street art, and other visuals – and all of them are in black and white« (S. XVI). Das erste analysierende Kapitel untersucht die Haltung zur sozialistischen Vergangenheit. Über 270 Beispiele von anti-jugoslawischem und pro-jugoslawischem Graffiti sowie von Battles zwischen den Lagern werden nach der Methode der Sozialsemiotik in Kombination mit der Inhaltsanalyse erforscht. Graffiti und Street Art bewerten nicht nur die Vergangenheit, sondern nutzen auf beiden Seiten die Geschichte als Mittel zur Illustration und Bewertung aktueller Konflikte. Eine Zunahme und eine Intensivierung sind nach Velikonja in Zukunft zu erwarten.
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Visuelle Darstellungen der umstrittenen Helden Gavrilo Princip und Rudolf Maister sind Thema des fünften Kapitels. Es erfolgt eine Einordnung der beiden Persönlichkeiten und ihrer zeitgenössischen Repräsentation. Anhand von 43 Beispielen werden Modus und Bedeutung ihrer Darstellung in der postsozialistischen Region aufgezeigt. Es sind Bilder von Held:innen, denen verschiedene Gruppen ihre eigene politische Bedeutung beigeben. Der Autor erwartet eine Zunahme ihres Vorkommens. Das sechste Kapitel behandelt das Motiv des Triglav in Graffiti und Street Art im Zusammenhang mit der ideologischen Selbstkonstruktion der Slowen:innen. 60 Beispiele mit dem Motiv des höchsten slowenischen Gipfels werden nach der semiotischen Methode analysiert. Außerdem erfolgt ein Vergleich mit anderen zeitgenössischen Darstellungen des Berges. Sowohl linke als auch rechte Gruppen verwenden das Motiv, welches durch kleine Modifizierungen mit der gewünschten Bedeutung aufgeladen wird. Und auch in Zukunft wird die ideologische Bedeutung des Triglav nach Velikonjas Einschätzung einem Wandel unterworfen sein. Nationalistische und anti-nationalistische Graffiti und Street Art in der BalkanRegion werden in Kapitel sieben untersucht. Mehrere tausend Beispiele, die in sieben Gruppen eingeteilt sind, werden nach Adornos Thesen zum Jargon der Eigentlichkeit analysiert. So deckt Velikonja die Hauptstrategien nationalistischer Graffiti auf und arbeitet einen Zusammenhang zwischen der Mainstream-Rechtspolitik und den gesprühten Äußerungen der Nationalisten heraus. Daran anknüpfend beleuchtet Kapitel acht den slowenischen Nationalismus und dessen Erscheinungsformen in Graffiti und Street Art. Nahezu 2.000 Beispiele werden untersucht, um die Mechanismen der Konstruktion von Rechtsextremismus aufzudecken. Der Autor erläutert, wie sich die Sprache im offiziellen politischen Diskurs und auf der Straße einander annähern. Anschließend befasst sich das neunte Kapitel mit dem Bild Geflüchteter in Slowenien. Auch hier werden der offizielle politische Diskurs und die Graffiti- und Street-Art-Produktion gemeinsam betrachtet. Velikonja zeigt Mechanismen des Othering auf, wie Geflüchtete auf diversen Ebenen ausgegrenzt werden, welche stereotypen Bilder dadurch von ihnen entstehen, und wie sich Hate Speech gegen sie gestaltet. Er sieht Hass-Graffiti als eine Vorwegnahme des Vorgehens der Behörden und verzeichnet erneut eine Übereinstimmung des offiziellen Diskurses mit extremistischem Graffiti. Die letzten beiden Fallstudien beschäftigen sich mit Fußballgraffiti. Zunächst werden tausende Beispiele aus der gesamten Balkan-Region und aus anderen europäischen Ländern nach der Theorie des Rhizoms von Gilles Deleuze und Félix Guattari und dem Konzept der Metamodernität von Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker untersucht. Die Methoden der Kontexterforschung werden angewendet und eine Inhaltsanalyse wird vorgenommen. Danach wird speziell die Graffiti- und Street-Art-Produktion slowenischer Fußfallfans beleuchtet. Zu diesem Zweck werden Interviews mit Mitgliedern und Beobachter:innen der Fanszene und rund 1.200 Fotos, die nach denselben Fragen analysiert werden, gegenübergestellt. Ergebnis ist, dass die visuelle Ideologie zwar um die Gruppe, den Club und die Heimatstadt kreist, neutral gegenüber der Politik ist sie aber nicht. Als problematisch erweist sich vor allem die Verwendung rechtsextremer Symbole und Begriffe, obwohl die Fangruppen vorgeben, nicht politisch zu sein. Geschlossen wird die Studie mit einem Fazit, welches zugleich einen Ausblick liefert. Der Autor ruft seine eingangs gestellten Fragen erneut auf und beantwortet diese. Das Erreichen der Ziele der Studie wird überprüft und unbearbeitete Aspekte, die Grundlage
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weiterer Analysen werden können, werden genannt. Velikonja will mit seiner Publikation Nachfolger:innen inspirieren und zur kritischen Forschung anregen. Sein abschließender Wunsch ist die Vernetzung der Forschung in einer weltweiten Graffitidatenbank. Anica Nießner
Oliver Nebel, Frank Petering, Mirko Reisser, Andreas Timm (Hg.) (2021): Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980–1999. Hamburg: Double-H Archiv 2021, 560 S., ISBN 978-3-00-069133-1. Oliver Nebel, Frank Petering, Mirko Reisser und Andreas Timm liefern mit ihrem TextBild-Band eine umfassende Dokumentation über die Graffiti-Szene in Hamburg seit ihren Anfängen in den frühen 1980er-Jahren bis zum Ende der 1990er-Jahre. Die Herausgeber widmen sich damit der Phase der Entstehung erster Graffitis in Hamburg nach amerikanischem Vorbild und der Herausbildung einer Graffiti-Szene in den 1980erJahren sowie der Weiterentwicklung und Festigung dieser Szene in den 1990er-Jahren. Die Dokumentation findet mit dem Jahr 1999 ihren Abschluss. Im Vorwort ihrer Publikation stellen die Herausgeber diese Grenzsetzung plausibel dar. Zum einen verändern sich mit dem Ende der 1990er-Jahre die Formen subkultureller Vernetzung. Es geht den Herausgebern gerade darum, aufzuzeigen, auf welche Weise sich die Szene vor dem digitalen Zeitalter vernetzte. Zum anderen setzt Ende der 1990er-Jahre eine Kommerzialisierung von Graffiti ein. Die Hip-Hop-Kultur und damit die Graffiti-Kultur als ein Teil von ihr wandeln sich nach ihrer Aussage von einer subkulturellen zu einer popkulturellen Erscheinung. Wie Mirko Reisser in einem Interview mit MOPOP anführt, ist »[a]b 2000 […] dann alles explodiert und Teil der Pop-Kultur geworden. Ab da begann dann eine ganze andere Zeit.« (Mirko Reisser im Interview mit Frederike Arns, www.mo pop.de, 01.12.2021) Mit ihrer Publikation setzen sich die Herausgeber zum Ziel, diese frühe Phase des Graffiti-Writings in Hamburg genau zu beleuchten, um damit nicht nur zu einem tiefergehenden Verständnis der Graffiti-Szene in Hamburg, sondern der Graffiti-Kultur im Allgemeinen beizutragen. Die Graffiti-Kultur ist, wie die Herausgeber hervorheben, nur vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte zu verstehen. Begleitet wurde das Buchprojekt, so die Herausgeber, aber von Beginn an auch von dem Wunsch, »die Erinnerung an die eigene Geschichte zu bewahren« (S. 7). So sind Oliver Nebel, Frank Petering, Mirko Reisser und Andreas Timm selbst in der Zeit zwischen 1986 und 1989 zum Graffiti-Writing gekommen und bis heute in der Graffiti-Szene als aktive Sprüher, Magazinmacher, Leiter von Graffiti-Workshops und Künstler verankert. Eine Stadt wird bunt ist eine, 560 Seiten umfassende, beeindruckend detaillierte Dokumentation der Graffiti-Szene Hamburgs in den 1980er- und 1990er-Jahren. Über 1.200 Aufnahmen von Graffitis, von Graffiti-Aktionen, von Akteur:innen der frühen Hip-Hop-Kultur sowie Dokumente wie Zeitungsartikel oder Veranstaltungsflyer gewähren Einblick in die Anfänge der Graffiti-Szene Hamburgs. Die Aufnahmen stammen zum Teil von professionellen Fotograf:innen. Den Großteil stellen aber, wie die Herausgeber auf der Webseite zu ihrer Publikation angeben, private Aufnahmen von Mitglie-
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dern der Szene, die im Rahmen der Publikation erstmals veröffentlicht werden (https://ei nestadt-wirdbunt.de/). In insgesamt 18 Beiträgen werden Entstehung und Entwicklung der Graffiti-Szene in Hamburg aus verschiedenen (Fach-)Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen aufgezeigt. Die Beiträge geben dabei tiefe Einblicke in die Strukturen der frühen Graffiti-Szene Hamburgs, erzählen die Geschichten einzelner Akteur:innen oder Gruppen von Akteur:innen, diskutieren Motive von Sprüher:innen, stellen Zusammenhänge zu umliegenden (Jugend-)Szenen her und erläutern die (städtebaulichen und politischen) Rahmenbedingungen, unter denen sich die Hamburger Graffiti-Szene herausbildete. Im ersten Beitrag zum Band zeichnet Sylvia Necker unter der Überschrift »Ungeahnte, ungeplante Zwischenräume« aus einer architekturhistorischen Perspektive die städtebauliche Entwicklung Hamburgs von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart nach. Wie Necker ausführt, lag der Fokus Mitte der 1960er-Jahre auf dem Bau von Großwohnsiedlungen. In Hamburg entstanden, um der durch Kriegszerstörungen ausgelösten Wohnungsnot zu begegnen, die Großwohnsiedlungen Steilshoop und Osdorfer Born. Abgesehen von Wiederaufbauprojekten wie etwa in Altona, wurden die Innenstadtbereiche zunächst kaum Sanierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen unterzogen. Noch Mitte der 1970er-Jahre waren etwa Stadtteile wie Ottensen von Brachen, Abbruchhäusern und verlassenen Industriestätten geprägt. Als »ungeahnte, ungeplante« Orte präsentierten sie sich der sich Anfang der 1980er-Jahre formierenden Graffiti-Szene in Hamburg als »Möglichkeitsräume« (S. 21). In einem weiteren Beitrag skizziert Necker unter der Überschrift »Wenn Utopien verloren gehen« die Entwicklung der Großsiedlung Steilshoop im Nordosten Hamburgs, die Ende der 1960er-Jahre fertiggestellt wurde. Für die Jahre später aufkommende GraffitiBewegung bot die Großsiedlung Steilshoop mit ihren zahlreichen Betonfassaden beste Voraussetzungen für das Sprühen. So ist es nicht verwunderlich, dass hier im Laufe der Jahre sehr viele Graffitis auf die Fassaden der Siedlung aufgetragen wurden. Insgesamt neun Beiträge stammen von Dennis Kraus, der unter Rückgriff auf Berichte der frühen Akteur:innen und mit Skizzierung zahlreicher prägender Ereignisse ein authentisches Bild der frühen Graffiti-Bewegung Hamburgs zeichnet. Im Beitrag mit dem Titel »Freiflächen« skizziert Kraus die Anfänge der Graffiti-Bewegung in Hamburg und blickt damit auf das Jahr 1983, als erste Graffitis nach amerikanischem Vorbild in Hamburg entstanden. Einzelne Jugendliche begannen zu dieser Zeit, inspiriert vom im April 1983 im ZDF ausgestrahlten Film Wild Style, Graffitis zu sprühen. In »Eine Szene entsteht« richtet Kraus seinen Blick auf die Zeit ab 1984, als sich in verschiedenen Stadtteilen einzelne Cliquen von Sprüher:innen und Hip-Hop-Interessierten formierten. Kraus präsentiert in einer Auswahl frühe Akteur:innen und erläutert die Bedeutsamkeit von Treffpunkten von Sprüher:innen verschiedener Cliquen für das Entstehen einer Szene. Als einen wichtigen Treffpunkt für die Graffiti-Szene benennt Kraus den Jungfernstieg, den auch die Breakdance-, die Skateboard- und die BMXSzene für sich nutzten. Die unterschiedlichen Szenen traten über diesen gemeinsamen Ort miteinander in Kontakt und beeinflussten einander. Mit Gründung der Sonderkommission Graffiti im Jahr 1988 verloren hochfrequentierte Treffpunkte wie der Jungfernstieg für die Szene zunehmend an Bedeutung.
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Unter der Überschrift »Der Bomber der Stadt« erzählt Kraus die Geschichte des Writers Amadeus, einem der über mehrere Jahre hinweg aktivsten Sprüher Hamburgs. Nicht allein durch die große Anzahl an Graffitis, die der Sprüher im Stadtraum Hamburgs Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre produzierte, gelangte Amadeus zu großem Ansehen innerhalb der Graffiti-Szene Hamburgs. Er war es auch, der den Simple Style in der Graffiti-Szene Hamburgs etablierte und mit seinen in großen, sauber außergeführten, gut lesbaren Buchstaben zum Vorbild verschiedener Writer wurde. In »Die zweite Welle« blickt Kraus auf die Generation Jugendlicher, die Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre – von den Graffiti-Spuren im Stadtbild Hamburgs inspiriert – zum Graffiti-Writing kam. Wie Kraus darstellt, entwickelte sich Ende der 1980er-Jahre die S-Bahn-Station Rübenkamp als bedeutender Szene-Treffpunkt. Jugendliche aus verschiedenen Stadtteilen brachen von dort aus gemeinsam in großer Zahl zum Taggen und S-Bahn-Surfen auf. Aus dieser Gruppe Jugendlicher gehen, so Kraus, einige sehr aktive Tagger hervor, unter ihnen DRE, der angab, mitunter 200 Tags am Tag produziert zu haben. Die Akteur:innen des Treffpunkts Rübenkamp gerieten schnell ins Visier der Soko Graffiti. Als einen Spot der Großsiedlung Steilshoop weist Kraus in seinem Beitrag »Bunter Beton, rauer Jargon« die Gesamtschule Steilshoop aus. Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre entstanden auf dem Schulgelände und der unmittelbaren Umgebung unzählige Graffitis. Es fanden sich, wie auch die Bilder zum Beitrag zeigen, Tags, Pieces und Character an den Wänden, auf den Böden und den Dächern der Schule. In »Farben und Gewalt« berichtet Kraus vom Konflikt zweier Crews, die sich zunächst als reine Graffiti-Crews formierten, im Laufe der Zeit aber Mitglieder hinzugewannen, die selbst keine Graffitis malten. Es ging diesen großen Zusammenschlüssen (mitunter zählten sie 200 Mitglieder) dabei insbesondere um die Demonstration von Wehrhaftigkeit. Es kam, wie Kraus unter Rückgriff auf die Aussagen ehemaliger Mitglieder berichtet, zu einigen, auch gewaltsamen, Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen. Unter der Überschrift »Das Ahoi« widmet sich Kraus der gleichnamigen Kneipe, gelegen in einem der besetzten Häuser in der Hafenstraße, als einem wichtigen Treffpunkt der Graffiti-Szene ab 1993. Begründer des Treffpunkts war der Writer Eric (dessen Graffiti das Cover der hier besprochenen Publikation ziert), den Kraus als »eine Integrationsfigur der Szene« (S. 375) beschreibt. Jeden Donnerstag veranstaltete Eric mit befreundeten Writern Hip-Hop-Abende. Schnell wurde der Treffpunkt unter Writern verschiedener Stadtteile bekannt. Drei Jahre lang, bis zum Aufkommen einer neuen WriterGeneration ab 1996, blieb das Ahoi ein beliebter Treffpunkt der Graffiti-Szene in Hamburg. Von Beginn an spielte, wie Kraus in seinem Beitrag »Dokumentieren, Publizieren, Kommerzialisieren« hervorhebt, die fotografische Dokumentation von Graffitis in der Graffiti-Szene eine wichtige Rolle. Fotografien eigener Pieces wurden etwa in Blackbooks eingeklebt und im Freundeskreis gezeigt. Mitunter fotografierten Sprüher:innen auch Pieces anderer Sprüher:innen und fertigten Aufnahmen von Graffitis an, wenn sie andere Städte oder Länder bereisten, oder teilten Fotos in städte- sowie länderübergreifenden Briefkontakten. Auf diese Weise entstanden zum Teil beachtliche Fotosammlungen. Aus diesen Sammlungen heraus entstanden Anfang der 1990er-Jahre die ersten Graffiti-Magazine Hamburgs. Kraus stellt in seinem Beitrag die Entwicklung des Mark-
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tes von Graffiti-Magazinen in Hamburg dar, der ab dieser Zeit bis zum Ende der 1990erJahre stetig wuchs. Nach dem Aufkommen des Internets blieben im Jahr 2000 allein zwei der in den 1990er-Jahren entstandenen Magazine bestehen. Mathias Becker fokussiert in vier kurzen Beiträgen einzelne prägende Aktionen und Ereignisse in der Hamburger Graffiti-Szene. Eines dieser Ereignisse ist ein vom Bezirksamt Hamburg-Nord unterstütztes Hip-Hop-Event im Januar 1989 im Haus der Jugend Flachsland in Barmbek, in dessen Zusammenhang 14 Sprüher:innen verhaftet wurden. Unter der Überschrift »Eine Party und 14 Verhaftungen« erinnert Becker an dieses Ereignis. Mit dem Beitrag von Carsten Heinze folgt eine (jugend-)soziologische Auseinandersetzung mit dem »Phänomen Graffiti«. Heinze perspektiviert Graffiti in der Form, wie es sich seit den 1960er-Jahren aus dem amerikanischen Graffiti heraus entwickelt hat: als eine »Jugend(sub)kultur« (S. 65). Wie Heinze ausführt, sind die Graffitis, die seit den 1980er-Jahren das Bild vieler deutscher Städte prägen, soziologisch insbesondere »wegen ihrer Bedeutung für eine bestimmte Gruppe von zumeist jungen oder jung gebliebenen Menschen« (S. 67) interessant. Die Rekonstruktion und Kontextualisierung dieser Bedeutungen und damit die Einnahme einer jugend(sub)kulturellen Perspektive liefert, wie Heinze mit seinem Beitrag zeigt, ein tiefergehendes Verständnis der Graffiti-Kultur. Nachdem Heinze die Begriffe Jugend, Jugendkultur und Subkultur vor dem Hintergrund ihrer historischen Prägungen erläutert und für eine Zusammenführung zum Begriff der Jugend(sub)kultur plädiert, beleuchtet der Autor das Jugendphänomen Graffiti im Hinblick auf die Hamburger Graffiti-Szene und stellt dessen Besonderheiten heraus. Im Beitrag »Spurensuche« richtet KP Flügel seinen Blick auf die Beweggründe der jugendlichen Sprüher:innen Hamburgs und verortet diese »zwischen Fame, Mutprobe und Anerkennung« (S. 348). Dabei stützt er sich auf die Erfahrungen und Erkenntnisse beteiligter Personen aus den Bereichen Jugendarbeit, Museumskunst und Medien, die die jungen Akteur:innen sozialpädagogisch über mehrere Jahre begleiteten oder mit diesen etwa im Rahmen der Konzeption und Durchführung einer Kunstausstellung in Kontakt standen. In seinem Beitrag skizziert Flügel zudem, wie Politik, Gesellschaft und Medien dem Phänomen Graffiti in Hamburg in einer zum Teil widersprüchlichen Weise begegneten. Kathleen Göttsche und Lars Klingenberg widmen sich in ihrem Beitrag »Sprühen = Leben« dem künstlerischen Werk des Graffiti-Künstlers Walter Josef Fischer alias OZ, der von den 1990er-Jahren bis zu seinem Tod im September 2014 viele Tausende Graffitis im Stadtraum Hamburgs hinterließ. Die Autoren beleuchten das breite Formenspektrum der Arbeiten von OZ, das von politischen Sprüchen über Namenszüge (wie dem OZ-Tag) und Smileys bis hin zu abstrakten Wandmalereien reichte, und besprechen seine Arbeiten vor dem Hintergrund ihres Entstehungskontextes (S. 395). Wie Christian Luda im Titel seines Beitrags zum Ausdruck bringt, ist Graffiti »[n]ur ein Teil der Kultur« (S. 431). Als weitere Bestandteile der Hip-Hop-Kultur treten zum Graffiti-Writing die Elemente DJing, MCing und B-Boying hinzu. Mit Fokussierung dieser weiteren Hip-Hop-Elemente zeichnet Luda die Entstehung und Entwicklung der Hip-Hop-Szene in Hamburg nach. Dabei blickt er zunächst zurück auf den Anfang der 1980er-Jahre, als Rap-Musik Hamburg erreichte. Wie Gespräche mit frühen Protagonist:innen offenlegen, fiel es zunächst schwer, Rap-Musik »einem Umfeld oder einer Bewegung zuzuordnen« (Thies Reichhow im Interview mit Christian Luda, S. 435). Das
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änderte sich mit Ausstrahlung des Films Wild Style im Jahr 1983, der Rap-Musik in einen Zusammenhang mit Breakdance und Graffiti stellte und zu einer Popularisierung der Hip-Hop-Kultur beitrug. Wie sich in Hamburg diese Stränge in den Folgejahren entwickelten und einander beeinflussten, beleuchtet Luda detailliert und gewährt damit einen umfassenden Einblick in die Hip-Hop-Szene Hamburgs bis zum Ende der 1990erJahre. Als eine Art Ausblick konzipiert, schließt Rik Reinkings Beitrag »Not Yet Titled« die Publikation ab. Reinking thematisiert den legalen Kontext des Graffiti-Writings in Form von Auftragsarbeiten sowie das Arbeiten von Graffiti-Künstler:innen im Atelier auf Leinwand und der sich daraus entwickelnden Kunstbewegung, die ab den 2000er-Jahren immer stärker in den Kunstmarkt drängte. Alle Beiträge des Bandes sind noch einmal in englischer Sprache der Dokumentation im Anhang des Bandes beigefügt, sodass Eine Stadt wird bunt auch einem internationalen Publikum zugänglich gemacht wird. Im Anhang finden sich außerdem Auflistungen zu Hamburger Graffiti- und Hip-Hop-Magazinen und zu Presseberichten über Graffiti. Zudem werden weitergehende Literaturempfehlungen gegeben. Ein Teil der von den Herausgebern zusammengetragenen Fotografien wurde von Mai bis September 2022 in einer Ausstellung im Stadtteilarchiv Ottensen gezeigt (https://einestadt-wirdbunt.de/ schwerpunkt-altona/). Stephanie Borgolte
Reclaim Your City: BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003– 2021. Berlin/Hamburg: Assoziation A. 2022, 480 S., ISBN 978-3-86241-479-6 Mit der zu besprechenden Publikation legt das Reclaim Your City-Kollektiv eine umfassende und reichhaltig illustrierte Dokumentation der Geschichte und Verflochtenheit von Aktivismus, urbaner Kunst und Subkultur im Berlin der frühen 2000er Jahre vor. Bei Reclaim Your City handelt es sich um ein Netzwerk und Archiv von Künstler:innen und Gruppen, die sich seit 2009 zu gemeinsam organisierten Ausstellungen, Wandmalaktionen oder Kongressen zusammenfinden. Dabei verbinden die Akteur:innen Interventionsformen wie Urban Art, Graffiti oder Raves mit stadtpolitischen Protesten, solidarischen Bewegungen und Aktionismus. Anders als es der Titel vielleicht vermuten lässt, versucht der Band keine allumfassende Darstellung einer bestimmten kulturellen Bewegung zu liefern, sondern versteht sich vielmehr als Zusammenstellung verschiedener künstlerischer und politischer Bewegungen, die im genannten Zeitraum den öffentlichen Raum und das öffentliche Leben mitgestaltet und geprägt haben. Berichtet wird zum einen aus der Perspektive des Kollektivs und zum anderen aus der Perspektive einer Kunstfigur, um einer gelegentlich subjektiven Darstellung gerecht werden zu können. Ausgangspunkt der Dokumentation ist das Entstehen einer subkulturellen Bewegung im Umfeld ehemals besetzter Häuser, selbstverwalteter Projekte und ungenutzter Brachen im Zentrum Berlins. Begünstigt durch unklare Besitzverhältnisse und rechtliche Grauzonen nach dem Mauerfall ergriff eine Vielzahl von Kollektiven die Gelegenheit,
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sich den öffentlichen Stadtraum anzueignen und diesen »[...] jenseits der Spielregeln der kapitalistischen Marktwirtschaft zu nutzen« (S.10). Hinter Aktionen wie Hausbesetzungen, Malaktionen und Open-Air-Raves stand dabei vor allem der Gedanke des Rechts auf einen gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Räumen und auf Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum einer Stadt und damit verbunden der Protest gegen die Gentrifizierung und die Privatisierung ebendieses Raumes. »Sich mit Kunst die Stadt aneignen, Häuser und Plätze zu besetzen – Dahinter steht die Utopie einer alternativen Stadtgesellschaft, in der das Zusammenleben nicht von den Regeln der Marktwirtschaft bestimmt wird« (S.11). Die genannten Aneignungspraktiken haben für die Autor:innen das Potenzial, bestehende Machtverhältnisse und soziale Konflikte aufzuzeigen, eine breite gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf diese zu lenken und schließlich eine Sensibilisierung für bestimmte Themen anzuregen sowie eine Neugestaltung und Konfliktlösung anzustoßen. »Kunst kann die Rolle eines Katalysators einnehmen, um gesellschaftliche, politische und räumliche Veränderungen ins Bewusstsein zu heben« (S. 459). Im Laufe der Jahre wandelten sich die genannten Ausdrucksformen jedoch immer mehr zu einem massentauglichen Phänomen. Urban Art, Graffiti und Open-Air-Veranstaltungen waren längst im popkulturellen Mainstream angekommen. Gleichzeitig rückten die Praktiken des Protests immer mehr in den Fokus von Wirtschaftsunternehmen und wurden zum Standortfaktor im Städtewettbewerb. Mit diesem Wandel änderte sich auch die Wahrnehmung und Wirkung und brachte die Aktivist:innen unweigerlich in die Lage, sich mit den Grenzen der bisher gewählten Ausdrucksformen, die im Laufe der Zeit zumindest ein Stück weit ihre Durchschlagskraft eingebüßt hatten, zu befassen und ein Neudenken politischer Ausdrucksformen in Betracht zu ziehen. In den ersten der insgesamt elf Kapitel des Bandes werden neben einer Einleitung in die Thematik und einer Klärung der Autorenschaft relevante Terminologien erklärt und die Vorgeschichte der Bewegung skizziert. In den späteren Kapiteln werden dann relevante Orte, Kollektive und Ereignisse sowie deren Schauplätze dargelegt. Hierbei verbleiben die Autor:innen nicht nur in Berlin, sondern dokumentieren auch überregionale sowie internationale Formen des Ausdrucks von Protest. In den abschließenden Kapiteln finden sich ein Resümee nebst kritischer Auseinandersetzung mit den aufgezeigten Entwicklungen sowie ein Ausblick in die Zukunft. Die Dokumentation erfolgt chronologisch innerhalb der einzelnen Kapitel. Zeitsprünge innerhalb des Geschriebenen über die Kapitelgrenzen hinaus lassen sich bei einer derartigen Strukturierung nur schwerlich vermeiden und führen bei der Rezeption mit dem Beginn jedes neuen Kapitels notwendigerweise zu einer zeitlichen Neuorientierung der Leser:innen. Um diese zu gewährleisten, findet sich im Anhang des Buches eine umfangreiche Chronologie, die alle relevanten Ereignisse tabellarisch auflistet. Sämtliche Kapitel des Werkes sind reichhaltig bebildert. Die abgebildeten Fotos sind dabei durchweg treffend gewählt und vermögen es auf eindrucksvolle Art und Weise, Eindrücke vom Geschilderten zu vermitteln, wie es eine rein textliche Darstellung nur schwerlich hätte gewährleisten können. Neben Fotografien sind zudem auch Flugblätter, Zeitungsartikel und andere Dokumente abgebildet, die das Geschriebene um wertvolle Hintergrundinformationen ergänzen. Weiterhin finden sich in regelmäßigen Abständen detaillierte Karten, die relevante Orte und Eventschauplätze räumlich verorten und in Relation setzen.
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Die Autor:innen weisen explizit darauf hin, dass es sich bei der getroffenen Auswahl der Aktionen, Gruppierungen, Fotos und der gewählten Perspektive der Sprecher:innen um nur eine von vielen möglichen Sichtweisen auf die Jahre 2003 bis 2021 handelt (S. 14). Die selektive Darstellung beeinflusst die abschließende kritische Auseinandersetzung mit den Grenzen von Ausdrucksformen des Aktivismus vor dem Hintergrund zunehmender Vereinnahmung durch neoliberalistisch motivierte Akteur:innen aber zu keiner Zeit negativ. Insgesamt vermag die Publikation auf gelungene Art, Einblicke in den gelebten politischen Aktivismus und dessen Ausdrucksformen zu vermitteln. Dabei verbindet sie einen niedrigschwelligen Zugang mit einem hohen Detailgrad und einer intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik, sodass es sowohl für interessierte Laien als auch für die interdisziplinäre Kultur- und Gesellschaftswissenschaft von Relevanz sein dürfte. Kevin Messing
Richard Hambleton – der vergessene Schattenmann. Ausstellung im Museum of Urban and Contemporary Art (MUCA) in München von Herbst 2020 bis Sommer 2022 (zeitweise unterbrochen durch die Corona-Pandemie) Das private MUCA in München, welches sich im Zentrum Münchens in einem ehemaligen Umspannwerk der Stadtwerke München befindet und von dem Ehepaar Stephanie und Christian Utz gegründet wurde,1 hat sich der Präsentation von Street und Urban Art, basierend auf der hauseigenen Sammlung, verschrieben. Im Erdgeschoss wurde 2022 in einem großen Raum die Ausstellung Icons of Urban Art mit Arbeiten von Banksy, Barry McGee, Invader, JR, KAWS, Os Gemeos, Shepard Fairey, Swoon und Vhils gezeigt.2 Im Kellergeschoss war als Sonderausstellung Richard Hambleton – der vergessene Schattenmann zu sehen. Bereits am Ende des oberen Raumes, quasi als Überleitung zur eigentlichen Ausstellung, wurden mehrere lebensgroße Silhouetten mit schwarzer Farbe und breitem Pinsel expressiv und gestisch gestaltet und auf Papier beziehungsweise an eine Telefonzelle geworfen präsentiert. Über eine Treppe gelangte man in das dunkel gehaltene Kellergeschoss, in welchem einem sofort weitere Shadowmen, welche aus dem Einzelraum heraus auf den:die Herunterkommende:n gerichtet sind, ins Auge fielen. Der Einzelraum wurde an den Wänden entlang bespielt sowie durch in der Mitte des Raumes aufgestellte Stellwände und einen Spielautomaten aufgeteilt. Die Ausstellung umfasst Arbeiten Hambletons im Zeitraum von 1980 bis zu seinem Todesjahr 2017 aus fast allen seiner Werkgruppen. Den Raum beherrschen die Darstellungen der Shadowmen, insbesondere drei Arbeiten an der Rückwand aus verschiedenen Jahren (Jumping Shadow, 1984, 2007, 1986, Acryl auf Leinwand) und drei gestaffelt hintereinander aufgebaute Shadowmen auf der linken Seite des Raumes (Standing Shadow Metallic, 2013, Acryl auf Leinwand). Die ganzfigurigen Shadowmen werden ergänzt durch zahlreiche gesichtslose Kopfdarstellungen, den sogenannten Shadow Heads, die sowohl auf Straßenschildern als auch auf Leinwand oder Holz angebracht sind und dem:der Betrachter:in meist frontal entgegentreten.
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Die Shadowmen, ein Motiv, welches Hambleton seit Anfang der 1980erJahre darstellt, sind lebensgroße männliche Figuren, die Hambleton mit schwarzer Acrylfarbe und einem 15 cm breiten Pinsel schnell, sicher und expressiv ausgeführt auf den verschiedensten Trägermaterialien anbringt. Die Figuren nehmen die unterschiedlichsten Haltungen beziehungsweise Posen statisch und dynamisch ein. Sie stehen einfach nur da, haben ihre Hüfte lässig abgeknickt oder vorgestreckt, sind zur Seite gedreht, sitzen breitbeinig in der Hocke, springen in die Höhe oder scheinen zu tanzen. Ihre Köpfe scheinen aufgrund der abspritzenden Farbe zu explodieren, abtropfende Farbe rinnt an ihren Silhouetten herab. Von weitem eher abgegrenzt, wie Stencils aussehend, werden ihre unscharfen Umrisse beim näheren Betrachten sofort sichtbar. Neben den Shadowmen und den Shadow Heads sind vier großformatige Abb. 1: Richard Hambleton, Shadowman, Bilder aus Hambletons Marlboro ManMünchen, frühe 1980er Jahre Serie zu sehen, in welcher er den amerikanischen Mythos des weißen Cowboys, den die Werbung der Zigarettenmarke Marlboro benutzt, aufgreift, appropriiert und durch die Darstellung in schwarzer Farbe abändert. Dynamisch stellt er auf den vier in der Ausstellung gezeigten Rodeo-Bildern (den beiden Negative Rodeo, 2013, Silver Horse & Rider, 2012, Purple Blue Iridescence, 2013) einen Reiter dar, der sich auf einem sich aufbäumenden Pferd virtuos in einer Art Gegenbewegung im Sattel hält. Sowohl die Bewegung des Pferdes als auch des Reiters sind dabei aufs Äußerste gesteigert. Vervollständigt wird die Ausstellung durch ein Gemälde aus der Serie Beautiful Paintings, einer Meerlandschaft mit Wellengang und atmosphärischem Himmel, sowie vier Aquarelle, zum einen filigrane Pflanzendarstellungen (Blood Flowers/Untitled, 2003), zum anderen zwei sogenannte Blood Paintings (1994), abstrakte Darstellungen mit menschlichem Blut auf Wasserfarbenpapier, die an eine verschwimmende Landschaft erinnern. In der Ausstellung nicht erwähnt bzw. nicht im Medium der Fotografie gezeigt, wird die Serie Image Mass Murder, mit welcher Hambleton seine Arbeiten Ende der 1970erJahre im öffentlichen Raum begann. Hierbei brachte er auf öffentlichen Straßen bzw. Gehwegen mit weißer Kreide oder Farbe die Umrisse einer Person an und schüttete dann blutrote Farbe dazu, womit der Eindruck eines öffentlichen Tatortes erweckt werden sollte.
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Hambleton wird immer wieder als der »Godfather der Street Art« bezeichnet. Einen Eindruck seiner frühen Arbeiten, die ihn bekannt gemacht haben, vermitteln drei Shadowmen auf den Sperrholzplatten eines Bauzauns in New York aus dem Jahr 1980 (Post No Bills, 1980): drei schwarze Gestalten, auf dem Bauzaun jeweils neben einer POST NO BILLS-Aufschrift platziert, die eine stehend, den rechten Arm nach hinten gewandt, die andere breitbeinig in der Hocke mit erhobenen Armen, eine Art Drohgebärde, die dritte nach links gewandt mit am Körper anliegenden Armen. Der in Kanada geborene Hambleton war Anfang der 1980er-Jahre nach New York gekommen und hatte sich dort sofort der Underground-Downtown-Szene, zu welcher auch Jean-Michel Basquiat und Keith Haring zählten und welche insbesondere in Clubs wie dem Mudd Club, dem CBGB, vor allem aber im Club 57,3 einem Keller in einer Kirche am St. Mark’s Place, kreative, avantgardistische Kunst in den verschiedensten Medien (Film, Performance, Malerei, Musik, Mode) ausprobierte, angeschlossen. Die Stadt New York befand sich Anfang der 1980er-Jahre in großen Teilen, insbesondere im East Village und an der Lower East Side, in einem völlig heruntergekommenen Zustand. Im Zuge des ökonomischen Kollapses der Stadt in den 1970er-Jahren waren Gebäude verlassen und dem Verfall preisgegeben worden. Der Drogenhandel beherrschte die Straße, und nicht nur im Rahmen von Beschaffungskriminalität hatte die Mordrate einen Höhepunkt erreicht. Bestimmte Straßen wurden nach Abendeinbruch nicht mehr betreten. In diesem Umfeld traten die schwarzen Shadowmen Hambletons überall in der Stadt im öffentlichen Raum, an Wänden, Türen, Bauzäunen, in Nischen, Ecken, Seitenstraßen auf. Er zog nachts los, um mit einem Eimer schwarzer Farbe und breitem Pinsel seine Silhouetten anzubringen, was zuvor noch nie geschehen war. Auf diese dunklen Gestalten traf der:die Vorbeigehende unerwartet, sie konnten ihn oder sie erschrecken und, angesichts der beschriebenen Umstände, Angst einflößen oder zumindest bedrohlich wirken. Nach Hambletons eigenen Worten konnten die Shadowmen »Wachmänner, Gefahr oder die Schatten eines menschlichen Körpers nach einer Nuklearkatastrophe oder seinen eigenen Schatten« darstellen.4 Ähnlich wie Haring, der seine Strichfiguren an den Wänden der Subways hinterließ, verbreitete Hambleton seine mehreren hundert Shadowmen überall in New York, von der South Bronx bis zur South Ferry, und erlangte dadurch in der Downtown-Szene schnell Berühmtheit. Diese Szene unterschied sich von der sich seit den 1970er-Jahren in New York immer stärker entwickelnden Graffiti-Szene, die auch illegal im öffentlichen Raum sprühte, dadurch, dass die Künstler:innen der Downtown-Szene eher dem priviligierten Bildungsbürgertum angehörten und oft an einer Kunstschule ausgebildet waren (Hambleton hatte einen Abschluss von der Emily Carr University of Art and Design in Vancouver aus dem Jahr 1975), während die Graffiti-Szene aus der Unterschicht stammte und im Gang-Milieu beheimatet war. Insofern war man auch durchaus kunstmarkt- bzw. ausstellungsaffin. Hambleton hat zwischen 1980 und 1985 an vielen Ausstellungen mit seinen auch auf Papier oder Leinwand im Studio hergestellten Arbeiten teilgenommen, u. a. im PS1, in der Gracie Mansion Gallery, in der Fashion Moda Gallery und im Club 57.5 Aufgrund der dadurch erreichten Bekanntheit wurde Hambleton auch 1984 zur Biennale in Venedig eingeladen und bereiste in diesem Zusammenhang einige Städte in Europa, in welchen er auch seine
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Shadowmen im öffentlichen Raum anbrachte, so unter anderem in München (Abb. 1),6 an der Berliner Mauer oder in Basel. Da sich Hambleton, der seine Drogenprobleme nie in den Griff bekam, Ende der 1980er-Jahre verstärkt der Beautiful Paintings-Serie zuwandte, erlahmte das Interesse des Kunstmarktes an ihm. Er erlebte ein Revival im Jahr 2009, als sich die Kunsthändler Vladimir Restoin Roitfeld und Andy Valmorbida für ihn interessierten und eine Retrospektive in New York, gesponsert von dem Modedesigner Giorgio Armani, organisierten, welche auch in einigen europäischen Städten zu sehen war. Nach seinem Tod im Jahr 2017 erwacht nun wieder das Interesse an dem »Godfather of Street Art« und seinen fast vergessenen Shadowmen, wie die Ausstellungen in München oder in Basel im Artstübli7 zeigen. Mit seinen lebensgroßen Figuren im öffentlichen Raum ist Hambleton ein Vorläufer von Street-Art-Künstlern wie unter anderem Banksy oder Blek Le Rat, die mit exakten Stencil-Schablonen arbeiten, oder JR mit seinen großformatigen Porträts an Häuserwänden – trotz unterschiedlicher Arbeitsweisen. Blek Le Rat, der mit Stencils in Paris begann, hatte die Arbeiten von Hambleton dort gesehen.8 Die Ausstellung bietet einen guten Überblick über das Schaffen von Richard Hambleton, insbesondere da seine unterschiedlichen Serien zu sehen sind. Die Arbeit aus dem Jahr 1980 aus dem öffentlichen Raum vermittelt einen kleinen Eindruck der Arbeiten zur damaligen Zeit und zeigt in ihrem leicht verblichenen Farbton das Ephemere, das jeder Street Art und jedem Graffiti eigen ist. Die Reduktion auf wenige Motive mag etwas eintönig erscheinen, umso mehr hätte eine über den kurzen Einleitungstext an der Treppe zum Keller hinausgehende Erläuterung zum Schaffen Hambletons, ein kleiner Katalog oder eine Broschüre hilfreich bzw. wünschenswert sein können. Elke Wüst-Kralowetz 1 Die Fassade wurde von dem Graffitikünstler Stohead gestaltet. 2 Dazu ist ein Katalog erschienen, unter anderem mit Texten von Ulrich Blanché. Icons of Ur-
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ban Art. Ausstellungskatalog. MUCA Museum of Urban and Contemporary Art. München 2021. Zu Hambleton vgl. Peter Kreuzer: Das Graffiti-Lexikon. Wand-Kunst von A bis Z. München 1986, S. 138–139; Bernhard van Treeck: Das große Graffiti Lexikon. Stark erweiterte Neuausgabe. Berlin 2001, S. 146–147. Vgl. dazu ausführlich: Club 57: Film, Performance and Art in the East Village 1078-1983. Ausstellungskatalog. The Museum of Modern Art, New York. Hg. von Sarah Resnick. New York 2017. Vgl. Michael Small: »Headed for the Galleries. Richard Hambleton Casts His Painted Shadows on New York’s Nightlife« In: People, 04.06.1984 https://people.com/archive/headed-forthe-galleries-richard-hambleton-casts-his-painted-shadows-on-new-yorks-nightlife-vol-21-no22/ (26.07.2022). Vgl. die Auflistung auf https://www.richardhambletonofficial.com/exhibitions (26.07.2022). Richard Hambleton, Shadowman, München, frühe 1980er-Jahre. Abb. aus: Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland.
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Paderborn 2016– https://www.uni-paderborn/forschungsprojekt/ingrid, # 69656. Zu Hambleton in München vgl. Martin Papenbrock: »Wie alles anfing. Peter Kreuzer und das Münchner Graffiti der frühen Jahre« In: Kunstforum International, Bd. 260, Mai/Juni 2019, S. 98–109, hier S. 108. 7 Shadowman – Richard Hambleton. Ausstellung im Artstübli Basel vom 08.04. bis zum 25.06.2022, mit Fotografien von Vera Isler und Thomas Christ von 1980 bis 1984. 8 Vgl. Raquel Laneri: »The Epic Rise and Disgusting Flameout of the Artist who Ruled 80s New York« In: New York Post, 15.04.2017 https://nypost.com/2017/04/15/nycs-banksy-ruledthe-city-in-the-80s-until-he-lost-everything/ (26.07.2022).
ANHANG Autorinnen und Autoren ULRICH BLANCHÉ ist Street Art-Forscher und Banksy-Experte, seit 2012 an der Universität Heidelberg und schließt dort derzeit sein Forschungsprojekt A Street Art History of Stencils (Fritz Thyssen Stiftung) mit einer Publikation und einem Doku-Film-Projekt ab. Für 2024 kuratiert er eine Urban Art-Ausstellung im Historischen Museum Saar. 2021 habilitiert in Heidelberg, zum Thema »Affen in Bildern seit 1859«. Blanché ist (Co-) Editor der Anthologie Urban Art. Creating the Urban with Art (Lissabon 2018) sowie des Ausstellungskataloges Stencil Stories: A Stencil History of Street Art (2022). Seine Dissertation zur Konsumkunst bei Damien Hirst und Banksy (Transcript, 2012) wurde auch auf Englisch veröffentlicht (Tectum, 2016; 2018). Ulrich Blanché hat einen Master of Communication (University of Wester Sydney) und ist Magister der Kunstgeschichte und der Theater-und Medienwissenschaften (Universität Erlangen-Nürnberg). STEPHANIE BORGOLTE, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt INGRID (Informationssystem Graffiti in Deutschland) an der Universität Paderborn, Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft. KATHARINA BÜTTNER-KIRSCHNER, geb. 1961, Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft in Bielefeld, Pisa, Venedig, Utrecht. 2000 bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am damaligen Institut für Kunstgeschichte der Universität Karlsruhe (TH). Promotion mit der Dissertation zum Thema »Das Motiv der ›femina ludens‹ im Werk von Lucas van Leyden« (Karlsruhe 2007). Von 2008 bis 2012 Forschungen und Publikationen zur Künstlerin Marie Ellenrieder (1791–1963) unter anderem in der Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom und im Kunsthistorischen Institut in Florenz. Seit 2012 Publikationen und Archivrecherchen in der UB Basel zum Nachlass des Kunsthistorikers Werner Weisbach (1873–1953). Seit 2019 unter anderem Recherchen zum Frühwerk der belgischen Künstlerin Edith Campendonk-van Leckwyck (1899–1987). Mai bis August 2019: Ausstellung Edith Campendonk-van Leckwyck. Zeichnungen. 1925–1933 (»La petite France«, Lindau). Freiberufliche Kunsthistorikerin mit Sitz in Lindau (Insel) und Vence (Frankreich). Aktuell: Recherchen zum Thema »Kaethe von Porada (1891–1985). Trabantin und Triebfeder der Künste« (Arbeitstitel). ANNA KRÜGER, Akademische Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Baugeschichte des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Seit 2020 tätig im DFG-Projekt Informationssystem Graffiti in Deutschland – INGRID. 2018–2020 tätig im DFGProjekt Nachlass Myra Warhaftig – Emanzipatorisches Wohnen und Architektur im Exil. 2018 Promotion im Fach Kunstgeschichte. 2012–2018 Bearbeitung des Nachlasses von Alexander Camaro und Werkverzeichnis seiner Gemälde. Aktuelle Publikationen: Emanzipatorisches Wohnen. Myra Warhaftigs Beitrag zur Internationalen Bauausstellung 1984/87, Karlsruhe 2022; Alexander Camaro (1901–1992). Leben und Werk. Dissertation, Karlsruhe 2021.
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KEVIN MESSING ist seit seinem Masterabschluss in Linguistik im Jahr 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Paderborn beschäftigt und gehört seit Juni 2020 zum Team des Forschungsprojekts INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich Text- und Kommunikationsanalyse sowie digitaler und multimodaler Kommunikation. In diesem Forschungsfeld ist auch auch seine Masterarbeit mit dem Titel Von »ich lieeeebe dieses Outfit« bis »Boah...wie lecker«. Eine Untersuchung der sprachlichen Muster des Bewertens in Instagram-Userkommentaren zu verorten, in der Sprachgebrauchsmuster des Bewertens auf der Social Media-Plattform Instagram in den Blick genommen/analysiert/untersucht wurden. SVEN NIEMANN ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Graffiti-Forschungsprojekt INGRID und Doktorand am Institut für Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Seine Forschungssinteressen sind politisches Graffiti, Soziolinguistik und Schriftlinguistik. Seit 2014 arbeitet er freiberuflich als DJ, Journalist und gibt Workshops in den Bereichen DJing, Musikproduktion und Podcasting. Für die Tourist Information in Paderborn leitet er seit 2018 öffentliche GraffitiFührungen und entwickelte zuletzt einen digitalen Graffiti-Rundgang. Als Mitglied des Künstler:innen-Kollektivs Generation Arts fördert er aktiv Urban Art und die Sichtbarkeit von Graffiti im öffentlichen Raum. ANICA NIEßNER, 2012–2017 Studium der Kunstgeschichte und Medientheorie und – praxis am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Masterarbeit 2017 zum Thema Graffiti als Motiv in der Malerei Pieter Saenredams. Zurzeit als akademische Mitarbeiterin im DFG-geförderten Projekt INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland beschäftigt. Eine Dissertation zum Thema Graffiti und Inschriften in den niederländischen Kircheninterieurs des 17. Jahrhunderts ist in Arbeit. MARTIN PAPENBROCK, apl. Professor am Institut für Kunst- und Baugeschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Promotion 1991 an der Universität Osnabrück (bei Jutta Held) mit einer Dissertation über Funktionen christlicher Ikonographie in der Kunst der frühen Nachkriegszeit (1945–49), Habilitation 1999 mit einer Arbeit über die Kunst der niederländischen Glaubensflüchtlinge im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert (erschienen als Landschaften des Exils. Gillis van Coninxloo und die Frankenthaler Maler, Köln 2001). Forschungsschwerpunkte: Niederländische Malerei der frühen Neuzeit, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert (Nationalsozialismus, Exil, Studentenbewegung), Urban Art (Graffiti, Kreative Interventionen, Aktivismus), Theorieund Fachgeschichte der neueren Kunstwissenschaft, Digitale Kunstgeschichte. Aktuelle Projekte: Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID), zusammen mit Doris Tophinke (Universität Paderborn); Nachlass Myra Warhaftig. Emanzipatorisches Wohnen und Architektur im Exil. STEFFEN PAPPERT, PD Dr. phil., M.A., studierte an der Universität Leipzig Politikwissenschaft und Allgemeine Sprachwissenschaft. Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Linguistik an der Universität Leipzig, wo er 2003 promovierte. Im Anschluss war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der
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Universität Augsburg sowie am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig. Seit 2008 arbeitet er am Institut für Germanistik an der Universität Duisburg-Essen, wo er 2017 habilitierte. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Textkommunikation, Politische Sprache und Internetbasierte Kommuni-kation. Weitere Informationen zu Steffen Pappert: https://www.uni-due.de/germanistik/pappert/Start seite.shtml. DR. JOHANNES STAHL, geboren 1958, Kurator, Kulturberater und Autor, spezialisiert auf Fragen der Kunstvermittlung und des öffentlichen Raums. Seit 1991 Lehraufträge für Universitäten und Akademien in Bochum, Bonn, Halle und Mainz, Buchveröffentlichungen zu Graffiti, Kunst am Bau und zu Interaktionsszenarien; Beiträge zu Lexika, Katalogen und der Zeitschrift Kunstforum international. Stahl kuratierte Kunstprojekte und Ausstellungen für den Bonner Kunstverein, das Land Sachsen-Anhalt, den Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln, das Edwin Scharff-Museum NeuUlm, das Serigrafiemuseum Filderstadt, das Museum für Gegenwartskunst Siegen und das CAPC Bordeaux. KATHARINA STELZEL studierte Erziehungswissenschaft und Kriminologie an der Universität Tübingen, wo sie seitdem als Kriminologin forscht und lehrt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Terrorismusforschung, Jugendkriminalität und Strafvollzugsforschung sowie Kriminalpädagogik und Friedenspädagogik. Außerdem interessiert sie sich für das Baskenland und untersucht gern dessen Kultur und zeitgeschichtliche Entwicklung. DORIS TOPHINKE ist Professorin für Allgemeine und Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Paderborn. 1991 Promotion im Fach Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Osnabrück. 1997 Habilitation im Fach Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Freiburg. 2001 Habilitation im Fach Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Freiburg. Zentrale Interessensgebiete bilden die Schriftlinguistik, die (grammatische) Sprachgeschichte des Niederdeutschen sowie auch die Varietätenlinguistik des Deutschen. Ihr theoretisch-methodischer Zugang basiert auf der Annahme einer grundsätzlichen Fundierung von Sprache beziehungsweise Schrift in einer multimodalen Kommunikationspraxis. Aktuelle Forschungsarbeiten: Beteiligung am Kooperationsprojekt Dialektatlas Mittleres Westdeutschland (DMW) sowie am Projekt Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID), zusammen mit Martin Papenbrock (KIT). Zahlreiche Publikationen zum Graffiti als schriftbildlichem Phänomen; vgl. dazu die Publikationsliste (https://www.uni-paderborn.de/person/16277/). ELKE WÜST-KRALOWETZ, 1979–1985 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg, 1986-1987 an der University of Pittsburgh School of Law. Tätigkeit als Rechtsanwältin. Von 2007–2014 Studium der Kunstgeschichte und der angewandten Kulturwissenschaften an der Universität Karlsruhe (TH) bzw. dem KIT. Masterabschluss mit einem Thema zu den Yes Men. Ab 2016 Akademische Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Baugeschichte des KIT im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojektes INGRID (Informationssystem Graffiti in Deutschland) bei Prof.
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Doris Tophinke (Universität Paderborn)/Prof. Martin Papenbrock (KIT). Promotion zum Thema der Preisvergabe auf der Biennale di Venezia. EVELYN ZIEGLER, ist Professorin für Germanistische Linguistik mit dem Schwerpunkt Soziolinguistik an der Universität Duisburg-Essen. Promotion 1994 an der Universität Heidelberg. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Sprachvariation, Mehrsprachigkeit, Spracheinstellung, Kommunikation in den Neuen Medien, neuere Sprachgeschichte und Linguistic Landscapes. Aktuelle Publikationen: Community Ma(r)king in the Linguistic Landscape of the Ruhr Metropolis (2020, mit Ulrich Schmitz und Haci-Halil Uslucan in Linguistic Landscape); Themenheft Die Stadt als öffentlicher Kommunikationsraum (2019, Hg. mit Doris Tophinke, in Zeitschrift für germanistische Linguistik), Metropolenzeichen: Atlas zur visuellen Mehrsprachigkeit der Metropole Ruhr (Ziegler et al. 2018/2022) und Language and Identity in Migration Contexts (2022, Hg. mit Patricia Ronan).
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Abbildungsverzeichnis und -nachweis Beitrag Ulrich Blanché: Abbildung 1:
Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4:
Abbildung 5: Abbildung 6:
Die Weiße Rose, Nieder mit Hitler, Fassade der Münchner Universitätsbibliothek in der Ludwigstraße, vermutlich Fahndungsfoto der Gestapo, Februar 1943, unbekannt, grafisch nachbearbeitet. Illustriert in Weiße Rose Stiftung e.V.: Wandanschriften der Weißen Rose, https://www.weisse-rose-stiftung.de/widerstandsgruppe-weisserose/wandanschriften-der-wei-ssen-rose/ Weg mit der Nazipest, Schablonengraffiti, Köln, Nordstadt, 1946. Foto: Walter Dick. RAF und V=verloren voor Hitler, Graffiti auf einer Mauer in Amsterdam, ca. 1941 GrunVald, Graffiti aus dem Zweiten Weltkrieg an einer Wand in Warschau, 5 × 8 cm großes Foto, gedruckt in den 1960er Jahren von einem Fotonegativ aus dem polnischen Archiv, jetzt in Marek Tuszyńskis Sammlung von Abzügen aus dem Zweiten Weltkrieg. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:WWII_graffiti__Grunvald_on_a_wall. jpg V-Zeichen, H[aakon] 7, und V als Morsezeichen auf eine Straße in Norwegen gemalt, ca. 1940─45 Vi Vil Vinne, Graffiti, gemalt auf einer Straße nahe Sundvollen, Norwegen von Henrik Aubert, Egil Breenog und Frans Aubert im Sommer 1941
Beitrag Doris Tophinke: Abbildung 1:
Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8:
, Weinheim 2014. Aus: Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. Paderborn 2016–, https://www.unipaderborn/forschungsprojekt/ingrid, #146366. Foto: Polizei Mannheim , München 1983–85, INGRID #104345. Foto: Peter Kreuzer, Stadtarchiv München , Bremen 2002, INGRID #154344. Foto: Dirk Kreckel , München 2007, INGRID #35621. Foto: Polizei München , München 2005, INGRID #35831. Foto: Polizei München , Köln 2003, INGRID #198071. Foto: Dirk Kreckel , Köln 2019, INGRID #180570. Foto: Polizei Köln , Wiesbaden 2002, INGRID #206336. Foto: Dirk Kreckel
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Abbildung 9: Abbildung 10:
, Writing, Mannheim 2003, INGRID #118604. Foto: Polizei Mannheim , Comment, Unna 2003, INGRID #165130. Foto: Dirk Kreckel
Beitrag Evelyn Ziegler: Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3:
Abbildung 4: Abbildung 5:
Abbildung 6:
Epistemischer Stance. Quelle: Projekt »Metropolenzeichen«, Universität Duisburg-Essen (2013–2018) Ferndialog in Form verschiedener Stance-Typen. Quelle: Projekt »Metropolenzeichen«, Universität Duisburg-Essen (2013–2018) Deontischer Stance mit deontischem Infinitiv als Stance Marker. Quelle: Projekt »Metropolenzeichen«, Universität Duisburg-Essen (2013– 2018) Stancetaking als Graffiti-Dialog. Quelle: Projekt »Metropolenzeichen«, Universität Duisburg-Essen (2013–2018) Deontischer Stance realisert in Form eines Frage-Antwort Schemas als Style Stance. Quelle: Projekt »Metropolenzeichen«, Universität Duisburg-Essen (2013–2018) Typografischer Style Stance. Quelle: Projekt »Metropolenzeichen«, Universität Duisburg-Essen (2013–2018)
Beitrag Martin Papenbrock: Abbildung 1:
Abbildung 2: Abbildung 3:
Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10:
Friedenstaube, München 1983–1985. Aus: Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. Paderborn 2016–, https://www.unipaderborn/forschungsprojekt/ingrid, #66982. Foto: Peter Kreuzer, Stadtarchiv München A[narchie], München 1983–1985, INGRID #67353. Foto: Peter Kreuzer, Stadtarchiv München Atom-Bunker = Massengrab, Stoppt die Nato-Kriegspläne, Nur Abrüstung sichert, DKP, US-Raketen raus, München 1983–1985, INGRID #69279. Foto: Peter Kreuzer, Stadtarchiv München DKP wählen, München 1983–1985, INGRID #104402. Foto: Peter Kreuzer, Stadtarchiv München RSJ – roter Maulwurf, München 1983–1985, INGRID #69646. Foto: Peter Kreuzer, Stadtarchiv München Klaus Paier (?): Hoch-Sicherheits-Trakt, München 1983–1985, INGRID #64723. Foto: Peter Kreuzer, Stadtarchiv München »Nur weil Kinder gerne im Dreck spielen«, Wahlplakat der FDP, Landtagswahl NRW 2017 CLASSWAR, München 2008, INGRID #34071. Foto: Polizei München FiCK DeN STAAT, Mannheim 2007, INGRID #100971. Foto: Polizei Mannheim ROTE AKTiON, Köln 2015, INGRID #85589. Foto: Polizei Köln
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Beitrag Johannes Stahl: Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5:
Abbildung 6:
Wandbeschriftung in Eisenach, Aufnahme 2010 Nordostturm der Römischen Stadtbefestigung von Köln, Zustand 2017 Das drübensche Berlin: Darstellung Westberlins aus östlicher Perspektive, auf der Westseite der Mauer, 1987 Mauerstück in Hannover, Zustand 2016 Mauerfragment auf dem Terrain der ägyptischen Botschaft in Berlin mit vom Berliner Künstler Andreas von Chrzankowski Aka Case gespraytem Porträt des ägyptischen Aktivisten Khaled Said (19822010), 2011, Aufnahme 2014 Harald Naegeli: Wandzeichnung am Westportal der ehemaligen Kirche St. Caecilien in Köln; Zustand 1982
Beitrag Sven Niemann: Abbildung 1:
Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5:
SAY, Mannheim 2007. Aus: Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. Paderborn 2016–, https://www.uni-paderborn/forschungsprojekt/ ingrid, #61762. Foto: Polizei Mannheim AFA!, Paderborn 2020, INGRID #149428. Foto: Sven Niemann YPJ!, Paderborn 2020, INGRID #149472. Foto: Sven Niemann SMASH NATO, Mannheim 2010, INGRID #45517. Foto: Polizei Mannheim DOVE: CORONA, Paderborn 2020, INGRID #151700. Foto: Sven Niemann
Beitrag Steffen Pappert: Abbildung 1: Abbildung 2:
Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6:
Screenshot Wikiausschnitt. Quelle: Steffen Pappert »Diese GRÜNEN-Hasser …«, abgerissenes Wahlplakat. Aus: https://www.wp.de/staedte/wittgenstein/bad-laasphe-wahlplakate-dergruenen-syste-matisch-zerstoert-id233183067.html »Auftragsbeschaffer der Rüstungsindustrie«, Wahlplakat der SPD. Foto: Steffen Pappert »Hier wurde Nazi-Propaganda überklebt!« Foto: Steffen Pappert Bemalung eines Plakats. Quelle: Steffen Pappert »AfD ist für´n Arsch«. Quelle: Steffen Pappert
Beitrag Katharina Stelzel: Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3:
Nationalistisches Mural in Pasaia-Donibane, 2006. Foto: Katharina Stelzel Fassadenfront mit politischen Graffiti in Pasai-Donibane, 2006. Foto: Katharina Stelzel Grundform der Darstellung von »Euskal Presoak – Euskal Herrira«. Aus: http://2.bp.blogspot.com/-1S8-LjcnkjE/UDsMIyZxPaI/ AAAAAAAA DUc/aCWUcTI3TGk/s400/euskal-herrira.jpg
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Abbildung 4: Abbildung 5:
Dorffest mit politischen Graffiti in Ondarroa, 2006. Foto: Katharina Stelzel »Gora ETA« (»Lang lebe ETA«) in Ondarroa, 2006. Foto: Katharina Stelzel
Beitrag Anna Krüger: Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3:
Abbildung 4:
Wahlplakat der SPD in Köln, 1990. Foto: Torkild Hinrichsen Rathausmauer in Marl mit ersten genehmigten Graffitis, 1991. Foto: Karl-Heinz Brosthaus Wandhohes Piece von ATOM, CAN2 und MOE mit seitlichen Begrenzungslinien in Marl, 2001. Aus: Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. Paderborn 2016– https://www.unipaderborn/forschungsprojekt/ingrid, #160863. Foto: Dirk Kreckel Hall of Fame auf dem S-Bahnhof Hamburg-Langenfelde an der »line«, 1988. Foto: Regina Scheller, Geschichtswerkstatt Barmbek
Beitrag Katharina Büttner-Kirschner: Abbildung 1:
Abbildung 2:
Abbildung 3:
Abbildung 4: Abbildung 5:
Bad Schachen (Hotel), Ansicht nach 1910, Hotelarchiv Bad Schachen. Aus: Lucrezia Hartmann: »Schau an der schönen Gärten Zier«. Historische Gartenanlagen und Villen in Lindau mit einem Beitrag von Maria Weininger. Lindau 2011 Diego Velázquez, Die Lanzen oder die Übergabe von Breda (Detail), 1634/34, Öl auf Leinwand, 307 x 367 cm, Museo del Prado Madrid. Aus: Führer Museo del Prado (Mar Sánchez Ramón), Madrid 2004, S. 97 Weisbachs Haus in der Margaretenstraße, Berlin, Speisezimmer. Aus: Werner Weisbach: Geist und Gewalt. Wien/München 1956, S. 48 (gegenüber) Brief von Albert Einstein an Werner Weisbach vom 14.10.1916. Aus: NL 91: A. III. b.14 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel) Vorladung des Königlichen Landgerichts Halle an Friedrich Curtius vom 7.1.1918 (Detail). Aus: NL 91: A. III. b.34 (Nachlass Werner Weisbach, UB Basel)
Beitrag Elke Wüst-Kralowetz: Abbildung 1:
Richard Hambleton, Shadowman, München, frühe 1980er Jahre. Aus: Martin Papenbrock, Doris Tophinke, Gudrun Oevel: INGRID – Informationssystem Graffiti in Deutschland. Paderborn 2016– https://www.uni-paderborn/forschungsprojekt/ingrid, # 69656
Themenschwerpunkt des nächsten Bandes: Antirassistisches Kuratieren: Wie geht das?