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German Pages 218 Year 2014
Christiane Arndt, Silke Brodersen (Hg.) Organismus und Gesellschaft
Lettre
Christiane Arndt, Silke Brodersen (Hg.)
Organismus und Gesellschaft Der Körper in der deutschsprachigen Literatur des Realismus (1830-1930)
Gefördert vom Office of Research Services und vom Department of German der Queen’s University, Kingston, Kanada.
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Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Alois Löcherer: Ludwig von Schwanthaler, Ferdinand von Miller, Johann Babtist Stiglmaier und Arbeiter der Erzgießerei nach dem Guß des Bavaria-Rumpfes, 1850, 240 x 270 mm, Talbotypie, München, Stadtmuseum, Graphische Sammlung. Lektorat & Satz: Christiane Arndt, Silke Brodersen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1417-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 7 Physiologische Körperfigurationen bei Adalbert Stifter Silke Brodersen | 23 »Es ist ein seltsam, furchtbar erhabenes Ding, der Mensch«: Verdinglichung, absoluter Mehrwert und das perverse Erhabene in Adalbert Stifters proto-benjaminischen Stadtbildern Joseph Metz | 49 Der Schmer des Realismus: Der Körper in Kellers Spiegel, das Kätzchen Paul Fleming | 69 »Und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen.« Erosion der Wahrnehmung in Theodor Storms Der Schimmelreiter Elisabeth Strowick | 93 Blut, Fleischextrakt, Kräuterlikör – Krankheit in Wilhelm Raabes Zum wilden Mann Christiane Arndt | 123 Der weibliche Körper als Pflanze: Evolution und weibliche Individuation bei Gabriele Reuter und Hedwig Dohm Susanne Balmer | 153 Ektoplasma, Kunst und Begehren. Der spiritistische Roman, der Körper und die moderne Befindlichkeit bei Carl du Prel, Wilhelm Bölsche und Artur Dinter Nicholas Saul | 179 Autorinnen und Autoren | 211
Einleitung
Es ist ein weiter Weg vom Körperbild des 18. Jahrhunderts, das die kulturelle und politische Zeichenhaftigkeit des Leibes in den Mittelpunkt gestellt hatte,1 zu einer Rekonzeptualisierung des menschlichen Körpers als Beobachtungsfeld medizinischer Fallstudien im 19. Jahrhundert. Um so erstaunlicher ist die Kürze der Zeit, in der sich die Verwissenschaftlichung des Körpers vollzieht: Setzt man das Ende der Romantik – bei aller Datierungsunschärfe – für die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts an, dann folgt auf diese Zeit der philosophischen Entgrenzung des Leiblichen in der Mitte des Jahrhunderts quasi unmittelbar eine wissenschaftliche Perspektive, die den materiellen Körper zum Gegenstand eines modernen, sezierenden Blickes macht.2 Diese Verschiebung der Körperwahrnehmung ist dabei zugleich Teil größerer epistemischer Verwerfungen, innerhalb derer dieser ›wissenschaftliche Blick‹ auch symptomatisch für umfassende politische, soziale und kulturelle Veränderungen der menschlichen Lebenswelt ein-
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Zum Köperbegriff der Romantik vgl. zum Beispiel Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg i.Br.: Rombach 1999.
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Mit »modern« sind hier neue beobachtende Verfahren der Wissenschaften im 19. Jahrhundert gemeint, die auf einer Wiederholbarkeit und Isolierbarkeit der experimentellen Situation basieren. Vgl. zu dieser Definition Philip Sarasin/Silvia Berger/Marianne Hänseler/Myriam Spörri: Bakteriologie und Moderne: Eine Einleitung, in: dies., Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920, Frankfurt a.M: Suhrkamp 2007, S. 8-43, hier: S. 20-21.
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steht. Der Beginn der Industrialisierung, das Aufkommen eines »allgemeinen Verkehrs«, einer »Allberührung« des Waren- und Wissensstromes, in den der Mensch »gerissen« wird,3 bindet den Körper in neue Zusammenhänge ein, die den Anthropos nicht mehr zum Mittelpunkt haben, sondern ihn anderen Zweckregimen unterstellen: Im wissenschaftlichen Blick erscheint der Leib zerteilt, mikroskopisch vergrößert und verfremdet. Statt der schönen Gestalt, die im 18. Jahrhundert den idealen Charakter noch unmittelbar auszudrücken vermochte, wird der Körper im physiologischen Diskurs als Ensemble elementarer Funktionen konzeptualisiert. Er erscheint als industrielle Kraftmaschine, die zugeführten Nährstoff in Arbeit und Produktion umsetzt und durch das Zusammenspiel der Nerven gelenkt wird. Industrialisierung und Verwissenschaftlichung spiegeln einander schließlich auch sprachlich im öffentlichen Diskurs: Neue, in der Sinnesphysiologie erarbeitete Modelle zur kognitiven Verarbeitung4 werden in der populärwissenschaftlichen Literatur zum Beispiel als »Telegraphenstationen« imaginiert, welche mittels Chiffren Nachrichten an die »Centralbatterie« des Gehirns übermitteln.5 Das neue Bild des Körpers bleibt dabei nicht ohne Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, denn so wie der einzelne Körper sowohl Kommunikationszentrale als auch nahrungsphysiologische Produktionsstätte ist, werden auch die Körper der Industriearbeiter in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu bloßen Funktionsträgern, die von ihren menschlichen Besitzern abstrahiert und industriell verfügbar gemacht werden können, ein Umstand, den
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Adalbert Stifter: Der Nachsommer, in: Werke u. Briefe. Historischkritische Gesamtausgabe Bd. 4.2, hg. von Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald, Stuttgart: Kohlhammer 1978, S. 227-228.
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Vgl. insbesondere Hermann von Helmholtz’ »Zeichentheorie der Wahrnehmung«, die dieser 1867 in seinem Standardwerk Handbuch der physiologischen Optik publik gemacht hatte.
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Johann Hermann Baas: »Pflege des Gehöres«, zitiert in: Die Gartenlaube (1886), S. 780-783 (zitiert in: Jae-Baek Ko: Wissenschaftspopularisierung und Frauenberuf. Diskurs um Gesundheit, hygienische Familie und Frauenrolle im Spiegel der Familienzeitschrift Die Gartenlaube in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M: Peter Lang 2008, S. 181).
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nicht zuletzt Karl Marx in seiner ökonomischer Theorie kritisch vermerkt hat.6 Die neuen Techniken (die Fotografie, die Eisenbahn, die Einheitszeit und die künstliche Helligkeit erzeugende Elektrizität) schaffen einen an allgemein nachvollziehbaren Kriterien orientierten und reglementierten Rhythmus, der die Lebenswelt des Menschen auf revolutionäre Weise transformiert und eine Modernisierung und Normierung der Körperwahrnehmung unausweichlich macht. So wie der Körper der Technik ausgesetzt ist, von ihr belichtet, getaktet, beschleunigt und klassifiziert wird, erscheint er selbst als Ensemble chemischer, mechanischer, biologischer und psychologischer Funktionen. Seit den 1820er Jahren ist es nicht nur die Physiologie, die anhand der Erforschung von Verdauungs-, Blutbildungs- und Nervenprozessen das Körperbild revolutioniert. Parallel zu ihr entstehen die Disziplinen der Bakteriologie, der Hygiene und der Pathologie, die den Körper als Verbund kleinster autonomer Zellen beschreiben, die sich eines Ansturms fremder ›Körper‹ von Bakterien und Viren erwehren müssen.7 Während die Medizin im 19. Jahrhundert bei der Körperbeschreibung und Krankheitsbekämpfung (vor allem mit der Entwicklung der ersten Impfstoffe) kaum zu übersehende Fortschritte macht, gewinnen an ihrem Rand reformistische Bestrebungen Zulauf – oft als Ausdruck eines Begehrens nach verlorener Ganzheitlichkeit: Homöopathie, Makrobiotik und Vegetarismus sind hier ebenso zu nennen wie die ebenfalls im weitesten Sinne gesundheitlich ausgerichtete Freiköperkultur, die Kleiderreform, die Landkommunen und die Reformpädagogik. Die Idee einer Beherrschung des Körpers durch Diätetik, Reinigung, Mäßigung, Impfung, Sport und – ins Extrem gesteigert – auch durch sozialdarwinistische Eugenik, Rassenhygiene
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Vgl. Karl Marx’ Definition der Arbeitskraft als Ware in Das Kapital. Karl Marx: Das Kapital, in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin: Dietz Verlag 1968, zum Beispiel: S. 181-182.
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Zum Diskurs der Bakteriologie im 19. Jahrhundert vgl. Laura Otis: Organic Memory. History and the Body in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, Lincoln: University of Nebraska Press 1994; dies.: Membranes. Metaphors of Invasion in Nineteenth Century Literature, Science, and Politics, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1999.
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und präventive Kriminologie durchzieht den gesamten öffentlichen Diskurs: Philipp Sarrasin spricht insbesondere in Bezug auf das Bürgertum von einer »Kultur des Körperwissens«, die ab 1850 im Rahmen der Hygienebewegung das »Erkenne dich selbst!« der antiken Philosophen in ein bürgerliches Bildungsgut verwandelt.8 Den bürgerlichen Körperbeherrschungsdiskursen steht ein Abgrund des Kontrollverlusts gegenüber, der sich durch die Entdeckung der Mikroben als ›feindlicher‹ äußerer Faktoren auftut. Es stellt sich die Frage, ob die Normierungsvorgänge, die für Medizin, Soziologie, Psychologie und Kriminologie (mit ihren ›Hilfsmitteln‹ Fotografie und Statistik) feststellbar sind, auch als Reaktion auf die Verrückung des Menschen aus dem Zentrum seiner Lebenswelt zu lesen sind und diese nicht zu allererst bewirken. Wird die Person zur bloßen Wirkfläche von Umgebungseinflüssen, dann hilft die Etablierung von Normen dabei, vormals religiöse Vorstellungen von der Stellung des Menschen in der Schöpfung zu säkularisieren und auf neue Weise mit Sinn aufzuladen. Das neu entstehende Narrativ des Darwinismus etwa ließe sich als wissenschaftliche Erzählung der Verschiebung des menschlichen Standpunkts in der Natur beschreiben: An die Stelle einer religiös motivierten Ewigkeit tritt die Materialität und Geschichtlichkeit des Körpers. Als Produkt der Evolution wird der Körper zum Ort der Ablagerung der Art-, Rassen- und Familiengeschichte, an der sich vergangenes Körpergeschehen entweder direkt ablesen lässt oder als verborgene erbliche Latenz entschlüsselt werden muss. Das Subjekt wird vor die Aufgabe gestellt, mit seinen fremden und historischen Anteilen in Kontakt zu treten und diese entweder aus seiner Person auszuschließen oder sie in die Konstruktion seiner Subjektivität zu integrieren.9 Tatsächlich führt dies häufig zu realen Ausschlussbewegungen
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Philipp Sarasin: Reizbare Menschen. Eine Geschichte des Körpers 1765-
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Zur Konzeption des ›Fremden im Selbst‹ in der deutschsprachigen Litera-
1914, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S.121. tur des Realismus vgl. Friederike Meyer: Gefährliche Psyche. Figurenpsychologie in der Erzählliteratur des Realismus. Frankfurt a.M./New York: Peter Lang 1992; Horst Thomé: Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914), Tübingen: Niemeyer 1993; Marianne Wünsch:
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›fremder‹ Körper: Kolonialismus und Nationalismus inszenieren Ausgrenzung und Beherrschung als fremd empfundener anderer Rassen und Minderheiten (insbesondere der Juden),10 ebenso wie die Abwertung des weiblichen Körpers und die Stigmatisierung Kranker in Abgrenzung zu einem normierten und als männlich konstruierten gesunden ›Volkskörper‹.Während die festgestellte evolutionäre Dezentrierung des (männlichen) Körpers ein Bedürfnis nach Transzendenz des Biologischen und Materiellen bewirkt, das im nationalistischen Diskurs politisch reaktionäre Formen annimmt, entstehen aber gleichzeitig progressive Gegendiskurse, zum Beispiel auf den Gebieten der Frauenfrage und der Kleiderreform, in denen eine Akzeptanz des biologischen Körpers propagiert wird, ohne diesen zunächst machtpolitisch zu instrumentalisieren. Es ist schließlich gerade diese Hinwendung zur Materialität des Körpers, zur Leiblichkeit, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den paradoxen Wunsch des Subjekts bestimmt, das Geistige und Spirituelle materiell fassbar zu machen, um an ihm selbst körperlich-entgrenzend teilzuhaben: Die Parapsychologie und der Spiritismus mit seinen durch Geisterfotografie und Ektoplasma erzeugten Materialisationsphänomenen zeugen von einer ›Physiologisierung‹ noch des Jenseits als absoluter Instanz der Körperlosigkeit. Angesichts der genannten umfassenden wissenschafts- und kulturhistorischen Entwicklungen stellt sich die Frage, wie die Literatur auf die kulturellen Veränderungen des Körpers reagiert, wie sie die Leerstellen und Möglichkeitsfelder besetzt und die Herausforderungen an-
»Die Erfahrung des Fremden im Selbst. Der Kampf mit dem Unbewußten in der Literatur zwischen Goethezeit und Jahrhundertwende«, in: Eijiro Iwasaki (Hg.), Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, München: Iudicum 1991 (= Akten des Internationalen Germanisten-Kongresses 8 1990, Bd. 11), S. 169-176. 10 Insbesondere Michel Foucault hat in Sexualtiät und Wahrheit die Stigmatisierung von Körper und Arbeit, die Ausgrenzung von Instinkten und Leidenschaften als Abgrenzungsmechanismen der Herrschenden beschrieben. Der ›Körperlosigkeit‹ der männlichen europäischen Eliten steht in den rassistischen und kolonialistischen Diskursen des 19. Jahrhunderts die Reduktion des Menschen auf seinen (bloßen) Körper gegenüber.
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nimmt, die sich etwa aus der weiterhin ungeklärten Frage der Verbindung von biologischen und geistigen Anteilen im Selbst ergeben. Einen Begriff von Subjektivität an den Schnittstellen solcher körperlichen Module sichtbar zu machen und entgegen aller Fragmentierungen des Leibes als eine Gesamtheit zu denken, die sich noch als soziale und psychologische Einheit begreifen kann, scheint das vordringliche Anliegen literarischen Schreibens über den Körper in dieser Epoche zu sein, ohne dass dabei die Seele im religiösen Sinne noch eine nennenswerte Ordnungsfunktion bereitgestellt hätte. Die in diesem Band vorgestellten Beiträge machen in diesem Sinne deutlich, dass literarische Texte nicht nur die neuen materiellen Leitvorstellungen des wissenschaftlichen und industriellen Diskurses übernehmen, sondern vielmehr das neue materielle Körperbild entscheidend mitformen: Sie sind nicht bloße Zeugen eines historischen Prozesses, sondern bilden im Medium des Literarischen eine wissenspoetische Suchbewegung ab.11 Dies gelingt der Literatur vor allem deshalb, weil durch die Institutionalisierung der Naturwissenschaften in der modernen Universität die Natur- und Geisteswissenschaften zum einen diskursiv aufgespalten werden, aber andererseits gerade um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch noch starke Interferenzen zwischen beiden Feldern vorhanden sind. Dies bringt spezifische Übersetzungsprobleme, aber auch Möglichkeiten der kreativen und kritischen Aneignung zwischen beiden Diskursen mit sich: Die Literatur kann, in der Terminologie der Systemtheorie, den Wissenschaftsdis-
11 Zur wissenspoetischen Beobachtungsfunktion der Literatur vgl. Joseph Vogl: »Für eine Poetologie des Wissens«, in: Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann, Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930, Stuttgart: M&P 1997, S.107-127; ders.: Einleitung, in: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München: Fink 1999, S. 7-16; Nicolas Pethes: »Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers«, in: Gerhard Neumann/Gabriele Brandstetter (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und Wissenschaften um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 341-372.
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kurs ›beobachten‹ und daher zumindest bedingt dessen ›blinden Fleck‹ in den Blick nehmen.12 Ergebnis dieses Beobachtungsprozesses ist eine poetologische Inszenierung des materiellen Körpers, die sich weniger topologisch, als vielmehr in der stilistischen, rhetorischen und gattungsmäßigen Verfassung der Texte niederschlägt. Der Realismus, so die These dieses Bandes, inszeniert den Körper in seiner biologischen Materialität, erforscht seine physiologische Fragmentierung und stellt auf dieser Basis die Frage nach dem Körper als Ort und Einheit von Leben und Subjektivität. Letztlich zielen die Texte auf eine anthropologische Neuverortung des Menschen zwischen Natur- und Gesellschaftswesen. Körperliches Leben wird dabei sowohl in seinen physiologischen Bausteinen (Moleküle, Zellen, Nervenleitungen) aufgespürt, als auch in den sozialen Einheiten von Familie, Volksgemeinschaft und Nation: Der Körper wird also einerseits in seiner Nähe zum Toten und Nichtmenschlichen, auch Tierischen wahrgenommen, andererseits erscheint die Sphäre des Geistigen zunehmend materialisiert und biologisiert. Sprachlich produktiv ist in dieser Hinsicht nicht zuletzt die dem wissenschaftlichen Körperbegriff selbst inhärente Unschärfe (in seiner Verwendung sowohl für physikalische wie biologische ›Körper‹), der sich mit dem älteren Begriff des kulturellen, sinnlichen, im religiösen Sinne auch sündigen Körpers auflädt und immer wieder metaphorische Verwirbelungen in literarischen wie (populär-)wissenschaftlichen Texten erzeugt. Die Untersuchung des Körperbegriffs in der realistischen Literatur schließt eine Forschungslücke in der Literaturwissenschaft, die bisher vorwiegend Körper-Konzepte des 18. Jahrhunderts sowie der Moderne betrachtet und dabei den deutschsprachigen Realismus weitgehend
12 Die Beobachtungsleistung des literarischen Realismus ließe sich mit Luhmann systemtheoretisch als Beobachtung dritter Ordnung beschreiben, vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995 zum Beispiel auch ders.: »Weltkunst«, in: ders./Frederik D. Bunsen/Dirk Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 7-45, hier: S. 30.
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ausgespart hat.13 Mit Blick auf das 19. Jahrhundert zeigt sich aber eine Kontinuität der Körpergeschichte, die auch für die historische Perspektive auf den Körper bis ins 20. und 21. Jahrhundert bedeutsam ist.14 Die Autoren des Realismus verarbeiten die Spannungen, welche die neuen wissenschaftlichen Konzepte vom Körper aufwerfen, und zeigen deren inneren Zusammenhang mit den anderen großen Fragen der »aufgeregten Zeit«.15 In den wissenschaftlichen Praktiken der physiologischen Differenzierung und medizinischen Meliorisation, in der normativen Erfassung sowie in Bezug auf die Einbindung in den
13 So widmete die Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte ihre Ausgabe 83.1 (2009) vollständig dem Körperthema, beschränkte den Fokus aber auf die Zeit bis 1800. In Anbetracht der Fülle der Beiträge zur literarischen Anthropologie seien für das 18. Jahrhundert und die Romantik ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgende einschlägige Beiträge genannt: Roland Galle (Hg.): Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 1993; Veronica Kelly/Dorothea v. Mücke (Hg.): Body and Text in the Eighteenth Century, Stanford: Stanford University Press 1994; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink 1999; Nicholas Saul (Hg.): The Body in German Literature around 1800, Special Number of German Life and Letters (1999). 14 Für das 19. Jahrhundert wurde das Körperthema bisher vor allem im Bereich des anglo-amerikanischen und französischen Kulturraums erforscht. Vgl. einschlägige Themenkomplexe bei Émile Zola, Thomas Hardy, Charles Dickens und Arthur Conan-Doyle und die sich anschließende Sekundärliteratur: Gillian Beer: Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot, and Nineteenth Century Fiction, London: Routledge & Kegan Paul 1983; Thomas Laqueur/Catherine Gallagher (Hg.): The Making of the Modern Body. Sexuality and Society in the Nineteenth Century, Berkeley: University of California Press 1986; Laura Otis: Organic Memory. History and the Body (1994); dies.: Membranes. Metaphors of Invasion (1999). 15 Theodor Storm: »Abseits«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd 1, Gedichte. Novellen 1848-1867, hg. von Dieter Lohmeier, Frankfurt a.M.: Klassiker Verlag 1987, S. 12.
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Strom von Warenzirkulation und Kommunikation wird der Körper im 19. Jahrhundert modern. Ein Grund für die relative Vernachlässigung des Körperthemas in der Forschungsliteratur mag die vielfältige Tabuisierung des Körpers in der Literatur der Zeit zwischen 1830 und 1900 überhaupt sein.16 Tatsächlich sind direkte Köperdarstellungen in der deutschen Literatur des Realismus selten und kehren eigentlich erst mit dem Naturalismus zurück, der sich dann dezidiert auf französische Vorbilder wie Gustave Flaubert und Émile Zola bezieht. Entsprechend fällt die Forschungsliteratur besonders für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz der seit Foucaults Sexualität und Wahrheit17 andauernden Körperkonjunktur der Disziplin18 eher mager aus.19 In den hier vorgestell-
16 Gallagher/Laqueur konstatieren zum Beispiel eine Diskrepanz zwischen oberflächlicher Abwesenheit und diskursiver Vorrangstellung von Körperinszenierungen für die Literatur des angelsächsischen Victorianismus, vgl. Gallagher/Laqueur: Introduction, in: dies. (Hg.), The Making of the Modern Body, S. vii-xv, hier: S. vii. 17 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, 3 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983-1989. 18 Neben den Studien zur wichtigen Epochenschwelle um 1800 vgl. vor allem Bände zur historischen Anthropologie: Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen: Edition Diskord 2000; Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914 (2001); Ursula Hennigfeld: Der ruinierte Körper. Petrarkistische Sonette in transkultureller Perspektive. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. Wegweisend auch für die deutschsprachige Körperdiskussion in Hinblick auf den Gender-Diskurs natürlich insbesondere Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. In jüngerer Zeit belebt ein »somatic turn« die Körperdiskussion in den Literaturwissenschaften von Seiten der Soziologie ausgehend erneut. Vgl. zum Beispiel Marcus Schroer: Soziologie des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Mariam Fraser/Monica Greco (Hg.): The Body. A Reader. Oxford: Routledge 2005. 19 Für den Kontext der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts liegen vor allem Studien zu einzelnen Autoren vor, die auf verschiedene anthropologische Themenkomplexe fokussieren. Vgl. zum Beispiel Eberhard Rohse:
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ten Beiträgen wird jedoch deutlich, dass die Absenz des Körpers sich auf den zweiten Blick als eine bloß oberflächliche erweist. Auch wenn der Körper nur selten als tatsächliche Leiblichkeit zur Darstellung kommt, wird er im Realismus als »Projektionsfläche« par excellence zum Ort spezifischer historischer Wissensformationen, anhand derer sich soziale, religiöse und politische Unsicherheiten ablesen lassen.20 Der Körper fungiert als sinnlicher Ort der rhetorischen Verschränkung zentraler Diskurse des 19. Jahrhunderts, die sich an seine Materialität anschließen: Er vermittelt Vorstellungen von Natürlichkeit und Künstlichkeit, Fragment und Einheit, wirkt zur gleichen Zeit gesellschaftlich stabilisierend und subvertierend. Als metaphorische Verbindung zwischen literarischen, medizinischen und kunsthistorischen Diskursen situiert sich der Körper als Stelle sowohl des Übergangs semantischer
»Hominisation als Huminisation? Die Figur des Affen als anthropologische Herausforderung in Werken der Literatur seit Darwin − Wilhelm Busch, Wilhelm Raabe, Franz Kafka, Aldous Huxley«, in: Studium generale: Vorträge zum Thema Mensch und Tier. Bd. 6. Hannover: Tierärztliche Hochschule Hannover 1989, S. 22-56; Lilo Weber: »Fliegen und Zittern«. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky, Bielefeld: Aisthesis 1996; Helmut MüllerSievers: Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner, Göttingen: Wallstein 2003; Nicholas Saul: Gypsies and Orientalism in German Literature and Anthropology of the Long Nineteenth Century, London: Legenda 2007; Rita Morrien: Sinn und Sinnlichkeit. Der weibliche Körper in der deutschen Literatur der Bürgerzeit, Köln: Böhlau 2001; Andrea Gnam: »Die prekäre Wechselbeziehung von Körper und Sprache in den Romanen Theodor Fontanes«, in: Hanna Delf von Wolzogen/Helmut Nürnberger (Hg.), Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, Bd. 2, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 69-79. Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur allgemein vgl. Bernhard J. Dotzler: »Neuere deutsche Literatur«, in: Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 103-123. 20 So die Hauptthese bei Hennigfeld: Der ruinierte Körper, S. 42.
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Bedeutungskomplexe als auch des Eintritts des Anderen und Fremden.21 Damit lassen sich im Vergleich zum 18. Jahrhundert deutliche historische Brüche beschreiben: Der Körper ist im 19. Jahrhundert vor allem durch seine ›institutionellen‹ Funktionen charakterisiert: Als Besitz, Erziehungsobjekt und Forschungsfeld repräsentiert der Organismus den sich modernisierenden gesellschaftlichen Diskurs. Der Abgeschlossenheit der schönen Gestalt und ›klassischen‹ Konturlinie, die im 18. Jahrhundert bei Winckelmann als Basis für das Bildungserlebnis einer anschaulichen Ganzheit gedient hatte22, steht eine Differenzierung des Körpers in einzelne Zonen und Subkreisläufe gegenüber, von denen sich seit der Konzeption des dynamischen Unbewussten durch Sigmund Freud und seine Vorläufer einige nun sogar außerhalb der Kontrolle des Bewusstseins befinden. Der Realismus interessiert sich insbesondere für diese bereits in der Romantik imaginierten, aber nun erstmals schrittweise wissenschaftlich ausgewiesenen (Körper-)Zonen des Unbekannten im Selbst; er begreift den Körper als Gebiet des materiellen Anderen, sogar des Unheimlichen, zu dem sich das Ich erst in Kontakt setzen muss, um zum bürgerlichen Ideal einer imaginierten subjektiven Ganzheit (zurück) zu gelangen. Die einzelnen Textbeiträge dieses Bandes analysieren die literarischen Körperinszenierungen im Licht der historischen Brüche und sich verändernden wissenschaftlichen und kulturellen Bezugsfelder. So zeigt Silke Brodersen in ihrem Beitrag zu Adalbert Stifters Berg-
21 Vgl. zum subversiven Potential des Körpers Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. Nach Luhmann unterläuft der Körper die Kommunikation, indem er als nichtlogisches Element in der Sprache des Individuums stets mitsymbolisiert werden muss. Zugleich ergänzt und konkretisiert er aber auch sprachliche Äußerungen (vgl. dazu Hennigfeld: Der ruinierte Körper, S. 45). 22 Vgl. Helmut J. Schneider: »Selbsterschaffung im Bild. Zur Funktion der Skulptur im klassischen Bildungsdiskurs« in: Axel E. Walter (Hg.), Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber, Chloe: Beihefte zum Daphnis, Bd. 36. Amsterdam/New York: Rodopi 2005, S. 851-871, hier: S. 857.
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kristall, wie realistische Literatur das neue physiologische Körperbild über den postromantischen Diskurs der Naturlandschaft einführt. Anstelle der Entgrenzung und Vergeistigung des Ichs in der Natur steht in Stifters Novelle der Schock der Begegnung mit dem physiologischen und materiellen Körper als Gebiet des absolut Widerständigen, Subjekt- und Lebensfeindlichen, das dennoch als Eigenes erkannt werden muss. Die Eingliederung der fremden körperlichen und psychischen Bereiche in das individuelle Bewusstsein lässt sich als kollektive Aufgabe der Enkulturation von ›elementarer‹ Materialität durch das Setzen kultureller Zeichen im Körper-/Naturraum lesen. Ebenfalls mit der Beschreibung des materiellen Körpers (die Gebeine unter dem Wiener Stephansdom) beschäftigt sich der Aufsatz von Joseph Metz zu Stifters »Ein Gang durch die Katakomben«. Anders als bei Brodersen verweisen die toten Körper in diesem Aufsatz von Metz aber nicht auf eine Auseinandersetzung mit dem vorsprachlichen Realen/Physiologischen in der menschlichen Natur, sondern nehmen ältere Traditionen kultureller Körperdarstellungen, vor allem die Figur des Exzesses barocker Körper auf und inszenieren diese neu. Metz zeigt, wie Stifter insbesondere den Diskurs des kantischen Erhabenen subvertiert, um auf den protomodernen Verfall des Körperlichen im Kapitalismus aufmerksam zu machen. Indem sich der barockexzessive, ›abjekte‹, »perverse« Körper dem kapitalistischen Warenfetischismus widersetzt, weist der Text in dieser kritischen Geste zugleich auf moderne Denker des 20. Jahrhunderts wie Walter Benjamin und Georges Bataille voraus. Auch Paul Flemings Aufsatz zu Gottfried Kellers Spiegel, das Kätzchen beschäftigt sich mit dem Wert des Körpers in einem kapitalistischen Warentauschgeschäft. Flemings Analyse zeigt Kellers Novelle als Versuch, die materiellen Bedürfnisse des Körpers als Voraussetzung der Moral und die Unmäßigkeit als Voraussetzung der Mäßigung herauszustellen. Ludwig Feuerbachs Diktum vom »Dasein als Beleibtsein« erfährt damit bei Keller eine literarische Umsetzung, wenn nur in der Anerkennung der physiologischen Funktionsweise für den Protagonisten die Möglichkeit besteht, die Materialität des Körpers zu überwinden. Die »›Magie‹ der Verdauung« und ihre Bemeisterung wird in diesem realistischen Märchen als die »wahre« Zauber-
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kunst begriffen. Aus ihr folgt die Aufwertung des biologischen Körpers in den Rang des Geistigen. Hatten sich Stifter und Keller am Materiellen des Körpers abgearbeitet, so zeigt Elisabeth Strowick den Körper in Theodor Storms Schimmelreiter als einen wahrnehmenden, dessen Verbindung zur eigenen Materialität und zur Realität der Außenwelt prekär ist. Strowick zufolge inszeniert Storms Novelle auf ihren verschiedenen Erzählebenen jeweils Brüche in der Wahrnehmung, die dem zentralen Ereignis des Deichbruchs parallelisiert sind. Das Oszillieren von »Form« und »Unform« eröffnet dabei ein »Aisthetisch-Unbewusstes«, das als unheimlich konnotiert ist. Die von Storm im Schimmelreiter inszenierte epistemische Erschütterung betrifft damit nicht nur die Figuren der Novelle, sondern resultiert letztlich in einer radikal modernen Aushöhlung des realistischen Novellenkörpers selbst. In Christiane Arndts Beitrag zu Wilhelm Raabes Novelle Zum Wilden Mann steht der in der zweiten Jahrhunderthälfte stark an Popularität gewinnende Diskurs der Bakteriologie im Mittelpunkt, der bei Raabe, wie Arndt argumentiert, als literarische Verarbeitung der bedrohlichen Erfahrungen der Moderne instrumentalisiert wird. Signifikant ist dabei der metaphorische Gebrauch des Körperbegriffes, der in Raabes Text um die Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft durch das Eindringen von parasitären ›Fremdkörpern‹ kreist: Der fremde Gast korrumpiert, ähnlich wie ein bakterieller Krankheitserreger, die Gemeinschaft gerade durch seine vermeintliche Vertrautheit, verwandelt aber, nachdem er einmal Zugang erhalten hat, überlieferte Heilmittel in Gifte und ›verkörpert‹ so buchstäblich einen profitorientierten Kapitalismus. Auch in Susanne Balmers Aufsatz zum »weiblichen Körper als Pflanze« in Gabriele Reuters Christa Ruland und Hedwig Dohms Aus guter Familie stehen Prozesse der metaphorischen Biologisierung des Körpers im Vordergrund. Balmer argumentiert, dass es in den Texten jeweils um eine wahrgenommene Essenzialisierung von Weiblichkeit und die gleichzeitige Überwindung biologisch festgeschriebener weiblicher Rollen- und Körperbilder geht. Der Geschlechter-Diskurs wird anhand eines Pflanzen-Tier-Diskurses, beziehungsweise den Merkmalen Konstanz (weiblich) und Variabilität (männlich) verhandelt, wobei die Autorinnen jüngere Evolutionsdiskurse (Lamarck, Haeckel) gegen
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ältere Vorstellungen der Unveränderlichkeit ins Feld führen, um moderne Möglichkeiten weiblicher Individuierung und körperlicher Autonomie vorzuführen. Dass der Körper trotz der Auflösung starrer Rollenmuster auch über den Tod hinaus materiell manifest bleibt, zeigt der letzte Beitrag des vorliegenden Bandes von Nicholas Saul zu »Ektoplasma, Kunst und Begehren« im spiritistischen Roman der Jahrhundertwende. Saul beschreibt die Materialisationen des Körpers in literarischen Auseinandersetzungen mit dem Spiritismus bei Carl du Prel, Wilhelm Bölsche und Artur Dinter als Projektionen idealistischer, quasi-religiöser und antisemitischer Visionen vor dem Hintergrund neuerer Wissenschaftszweige wie der Psychophysik. In den Texten kommt dabei der Wunsch nach erneuertem leiblichem Sinn zum Ausdruck und nach einer Ästhetik, die die in der Verwissenschaftlichung verlorengegangene postromantische Entgrenzung des Körpers als leibliche Präsenz festzuhalten vermag. Saul versteht den in den Texten verhandelten Spiritismus als »modernen Pygmalionismus«, der über eine Phase der Erotisierung schließlich bei Dinter im völkischen Rassismus endet. Der kurze Überblick über die Beiträge lässt, trotz der schlaglichtartigen Beleuchtung der Epoche, thematische Linien erkennen, die auf sehr verschiedene Art und Weise Prozesse der Modernisierung des Körpers sichtbar machen. Die realistischen Texte holen den Körper ins Diesseits und machen ihn zu einem Erlebnis- und Wissensraum, in dem Materialität erkennbar und beschreibbar wird. Damit wird der Körper in der Literatur auch zum Erkundungsfeld für Sphären des gesellschaftlich Ausgeklammerten – Grenzerfahrungen des Vorsprachlichen, Sinnlichen und Sexuellen, die sich der Vereinnahmung durch gesellschaftliche Ideologien widersetzen, aber durch ihre Behandlung in der Literatur eine geschichtliche Vertiefung und philosophische Aufwertung erhalten. Die Beschäftigung mit dem Körper spiegelt in den Texten also keine Verfallenheit an eine ›geistlose‹ Materie, wie sie der Naturalismus zum Kern seiner literarischen Aussage über bestimmte soziale Milieus macht. Vielmehr werden physiologische Abläufe als Voraussetzungen geistiger und moralischer Prozesse beschrieben. Dennoch, bei aller Domestizierung, bleibt der Körper im Realismus ein Rätsel, ein Topos des Unentscheidbaren, Brüchigen, Unheim-
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lichen, schlechthin Nichtbeherrschbaren, das ihn als Chiffre der Moderne im bürgerlichen Diskurs ausweist. Als grundsätzlich Bedeutungsoffenes bietet der Körper dem bürgerlichen Selbst einen Möglichkeitsraum, in dem es sich von seinen gesellschaftlich determinierten Rollen lösen und die dem Körper eigene Modularität für dauernde Neuentwürfe nutzen kann. Die Sehnsucht nach Leiblichkeit spiegelt damit eine Sehnsucht nach Selbstausdruck außerhalb der Gesellschaft, wobei der Rückzug ins Stoffliche gleichermaßen eine als lustvoll empfundene Negation von Subjektivität bedeuten mag, die das Ich noch einmal postromantisch in die ›kosmischen‹ Zusammenhänge der Natur einbindet. Die Beiträge dieses Bandes machen einen ersten Anfang dazu, literarische Texte des 19. Jahrhundert als Auseinandersetzungen des Selbst mit dem Körper zu lesen, dessen äußere Konturen sich in den gesellschaftlichen Bewegungen der Zeit zunächst verlieren, bevor sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Texten der Frühen Moderne zurückkehren. Christiane Arndt/Silke Brodersen
Physiologische Körperfigurationen bei Adalbert Stifter S ILKE B RODERSEN
Im Jahr 1863 würdigte der böhmische Philosoph und Hegelforscher Franz Thomas Bratranek seinen Landsmann Stifter als einen »Mikroskopiker« und »modernen Physiologen«1 – eine Einschätzung, die angesichts Stifters Image eines rückwärtsgewandten Naturdichters erstaunen dürfte.2 Stifters Zeitgenosse Friedrich Hebbel hatte dem Autor schließlich bekanntermaßen vorgeworfen ein »Diminutiv-Talent« zu sein, das beim »Zerbröckeln und Zerkrümeln der Materie« »den Menschen ganz aus dem Auge [verloren habe]«.3 Bratranek dagegen würdigt gerade Stifters Kleinsicht, seinen Umgang mit dem Stofflichen, das dem Autor gestatte, ein »wirkliches Lebensbild« zu erhalten.4 Wie
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Franz Thomas Bratranek, »Adalbert Stifter. Eine literarhistorische Skiz-
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Vgl. stellvertretend für diese Einstellung Johann Lachinger: »Adalbert
ze«, in: Österreichische Revue 6 (1863), S. 62-76, hier S. 68. Stifter: Natur-Anschauungen. Zwischen Faszination und Reflexion«, in: Hartmut Laufhütte/Karl Möseneder (Hg.), Adalbert Stifter: Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk, Tübingen: Niemeyer 1996. S. 96-104. 3
Friedrich Hebbel, »Das Komma im Frack«, in: ders., Werke, Bd. 3, hg. von Gerhard Fricke/Werner Keller/Karl Pörnbacher, München: Hanser 1963, S. 684-687, hier S. 686-687.
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Bratranek, »Adalbert Stifter«, S. 67.
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lässt sich diese Diskrepanz in der Beurteilung erklären? Verliert Stifter den Menschen aus den Augen, wie Hebbel meint, oder bekommt er ihn gerade in den Blick? Stifters Vorliebe für das Kleine und Stoffliche zeichnet wichtige Veränderungen des Menschenbildes nach, die sich seit den 1820er Jahren in der sich neu etablierenden Wissenschaft der Physiologie vollziehen. In der Physiologie wird der Mensch nicht mehr in erster Linie als selbstbestimmte Subjekt-Leib-Einheit gedacht, sondern als Aggregat von Zellen, Nerven, und Geweben, die sich zu Organen und Stoffkreisläufen organisieren und mit ihrer organischen und anorganischen Umwelt in beständigem Austausch stehen. Der Mensch wird also einerseits als Körper gedacht, der sich von unten nach oben bis in die höheren Sphären des Bewusstseins organisiert, und andererseits als ein Organismus, der zugleich von der materiellen Natur abgegrenzt und mit ihr vernetzt ist. Im Folgenden möchte ich »Lebensbilder« in drei von Stifters Texten besprechen, die auf verschiedene Weise zugleich physiologische Körperbilder sind und damit das sich neu entwickelnde wissenschaftliche Menschenbild in die Literatur hineintragen. Die Texte nähern sich dem physiologischen Körper auf unterschiedliche Weise: zum einen aus der Sicht eines distanzierten wissenschaftlichen Beobachters wie in »Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansthurmes (1841)«,5 der die Großstadt Wien als metabolisierendes Ungetüm ›unter dem Mikroskop‹ zeigt, zum anderen aus der Nahperspektive der introspektiven Körpererkundung in der Novelle Bergkristall (1853), in der die Kinder Konrad und Sanna zu einer Wanderung in das Hochgebirge aufbrechen, die einen metaphorischen Grenzübertritt in den eigenen Körper abbildet. Die autobiographische Schrift »Mein Leben« (1866) schließlich, zwei Jahre vor Stifters Tod entstanden, wendet sich dem Körper direkt zu, ohne Umweg über die metaphorische Landschaftsbeschreibung. Hier verfolgt Stifter die Entstehung des eigenen Lebens zurück bis zu dessen materiellem Anfang im Mutterleib. Stifters differierende Perspektiven auf den Körper sind integraler Teil der poetologischen Konzeption der Texte: Mein Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie Stifter phy-
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Erschienen in dem von Stifter 1844 herausgegebenen Sammelband Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben bei Gustav Heckenast in Pesth.
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siologische Verfahren und Sichtweisen auf den Körper literarisch abbildet, geht aber darüber hinaus auch den philosophischen und psychologischen Konsequenzen in den Texten nach, die sich aus diesem ›Blick von unten‹ für den Menschen ergeben. Zu diesem Zweck möchte ich zunächst einige Kernfragen des wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Körperdiskurses um 1850 behandeln. Ich unterstelle dabei nicht, dass Stifter aktuelle physiologische Theoreme direkt in seine literarischen Texte übernommen hat,6 argumentiere aber, dass die großen Fragestellungen der Physiologie, ihre Problemfelder und Schlagworte die kulturellen Leifragen der Zeit wesentlich bestimmen und einen neuen Körperdiskurs prägen.7 Stifter arbeitet sich an den zentralen Fragestellungen der Physiologie dieser Zeit ab: Was ist Leben? Was ist der Zusammenhang von organischem und anorganischem, tierischem, pflanzlichem und menschlichem Dasein?
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Die unmittelbare Lektüre aktueller wissenschaftlicher Texte zur Physiologie ist, soweit mir bekannt, für Stifter nicht nachgewiesen worden. Allerdings sind Stifters naturwissenschaftliche Kenntnisse vor allem in der Physik (hauptsächlich vermittelt durch die Naturlehre (1823-1831) seines Mentors Andreas Freiherr von Baumgartner), aber auch auf anderen Gebieten der älteren Naturwissenschaft weitreichend (die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, Humboldts und des Physiologen Albrecht v. Haller). Zudem ist Stifter mit idealistischer Philosophie bekannt (Kant und die physiologischen Theoreme Herders) sowie mit Pädagogik und Entwicklungspsychologie (Rousseau, Schiller, Herder). Durch die Freundschaft mit dem österreichischen Arzt und Populärphilosophen Ernst von Feuchtersleben, dessen psychosomatisch orientierte Heilkunst Zur Diätetik der Seele (1838) sich gegen die streng naturwissenschaftlich-empirisch ausgerichtete Wiener medizinische Schule richtete, könnte Stifter aber auch mit den wichtigen physiologischen Debatten direkt vertraut gewesen sein. Zu Stifters Bildungsgang vgl. zum Beispiel Peter A. Schoenborn: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk, 2. Aufl., Tübingen: Francke 1999.
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Vgl. dazu Philipp Sarasin/Jacob Tanner: »Physiologie und industrielle Gesellschaft. Bemerkungen zum Konzept und zu den Beiträgen dieses Sammelbandes«, in: dies. (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 12-43.
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Welche Beziehungen bestehen zwischen dem (somatischen) Körper eines Menschen und seinem Bewusstsein? Inwiefern entsprechen Sinneswahrnehmungen und Bewusstseinsinhalte des Menschen der (physikalischen, chemischen, physiologischen) Realität der stofflichen Welt? Schließlich – und diese Frage betrifft die Schnittstelle zur Psychologie und Anthropologie – wie tritt der körperliche Mensch in Verbindung zur Natur und zu anderen Menschen, um seinen wesensmäßigen Kern (Subjektivität) zu formulieren und andererseits seine materielle Isolation zu überwinden? Trotz rapider Fortschritte in der Forschung (vor allem durch neue experimentelle Techniken am lebenden Organismus und den Einsatz verbesserter Mikroskope), ist die Frage nach den Grundvorgängen des Lebens bis in die 1830er Jahre hinein von der Debatte um eine metaphysisch konzeptualisierte Lebenskraft geprägt.8 Erst allmählich setzt sich die Überzeugung einer materiellen Basis des Lebens durch. Dabei wird die Grenze zwischen organischem und anorganischem Leben zunehmend aufgeweicht, die physiologische Schnittstelle zwischen Körper und Bewusstsein und der mit ihr einhergehende Qualitätssprung des Lebens9 findet in der neuen Wissenschaft aber kaum eine adäquate Beschreibung. Die Materialisten um Jacob Moleschott, Carl Vogt und
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Die Lebenskraft (vis vitalis) war ein Grundbegriff der Physiologen des 18. Jahrhunderts (so zum Beispiel bei Christoph Wilhelm Hufeland, Georg Ernst Stahl, Albrecht von Haller) und diente wesentlich zur Erklärung des nicht verstandenen Unterschieds zwischen organischem und anorganischem Leben. Im 19. Jahrhundert wird die Lebenskrafttheorie noch von den einflussreichen Physiologen der älteren Generation wie Johannes Müller und Justus v. Liebig vertreten, zunehmend aber mit Vorwürfen der Unwissenschaftlichkeit konfrontiert (vgl. Emil du Bois-Reymonds Polemik gegen von Liebig in »Über die Lebenskraft«, 1848).
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Die frühe Physiologie nimmt damit das traditionelle Leib-Seele-Problem der Philosophie, das zuvor etwa in der kartesischen Unterscheidung der res cogitans und res extensa behandelt worden war, zunächst unter veränderten Vorzeichen wieder auf. Erst mit der Zurückweisung des ›Lebenskraft‹-Konzeptes durch Emil Du Bois-Reymond, Hermann v. Helmholtz u.a. wird der kartesische Dualismus in der Physiologie zur Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig überwunden.
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Ludwig Büchner hatten mit ihrer Reduktion der Gehirntätigkeit auf Stoffwechselprozesse – auf die Formel von »Kraft und Stoff«10 – nur eine krude Antwort auf das Bewusstseinsproblem geben können. Aber selbst etablierte Physiologen wie Emil Du Bois-Reymond gehen noch 1848 in ähnlicher Weise davon aus, dass »die analytische Mechanik im Grunde bis zum Problem der persönlichen Freiheit [reichen würde]« – dass also psychologische, kulturelle, ja selbst moralische Fragestellungen als einfache Stoffreaktionen abgebildet werden könnten.11 In die sich aus dieser Argumentationsweise ergebende Erklärungslücke können populärwissenschaftliche Diskurse mit naturwissenschaftlich inspirierten Ideologieangeboten stoßen. So behauptet etwa Otto Ule, seit 1851 Herausgeber der populären Zeitschrift Die Natur, in umgekehrter Stoßrichtung, dass die Materie als Spiegelbild menschlicher Rationalität vernünftige naturwissenschaftliche Gesetze für das geistige Leben der Menschen bereitstelle. Andersherum besteht für Ule ein solch harmonischer Zusammenhang von Stoff und Idee, dass »selbst im höheren Geistesleben die Beziehungen der [...] niederen Natur wieder[gefunden] [werden können]«.12 In Ules programmatischen Beschreibungen, die er der Erstausgabe seiner Zeitschrift voranstellt, löst sich die Natur ganz in Geist auf; entsprechend könne sie mit den Mitteln »geistiger Anschauung« erkannt werden.13 Einen Mittelweg zwischen dem reduktionistischen Materialismus des reinen Stoffdenkens und der religiös eingefärbten Metaphysik vieler Populärwissenschaftler bietet schließlich die empirische Zeichentheo-
10 Vgl. Ludwig Büchners mit einundzwanzig Auflagen enorm populäres gleichnamiges Werk Kraft und Stoff von 1855. 11 Emil Du Bois-Reymond: »Über die Lebenskraft«, in: ders., Reden, Bd. 1, Leipzig: Veit 1912, S. 1-26, hier S. 9. 12 Otto Ule: Die Natur. Ihre Kräfte, Gesetze, Erscheinungen im Geiste kosmischer Anschauungen, Halle: H.W. Schmidt 1851, S. 72. Für eine umfassende Diskussion der populärwissenschaftlichen Schriften der Jahrhundertwende vgl. Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914, München: R. Oldenbourg 1998. 13 Otto Ule: »Die Aufgabe der Naturwissenschaft«, in: Die Natur 1 (1852), S. 1-4, hier S. 4.
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rie Hermann von Helmholtz’, welche das Problem des Bewusstseins als Kombination physischer, physiologischer und symbolischer Operationen zeigt. Nach Helmholtz entstehen Wahrnehmungen, indem physische Signale der Außenwelt in physiologische Nervenreize umgewandelt werden, die wiederum als Symbole (in Analogie zu sprachlichen Symbolen) zur Erstellung von Realitätshypothesen im Gehirn dienen. Die Kontinuität des Bewusstseins – die Repräsentation von Wirklichkeit – wird durch die empirische Bestätigung der Realitätshypothesen gewährleistet, also indem die Beziehung zwischen einem äußerlichen Reiz und seinem Zeichenwert als stabil erfahren wird.14 Die Vermittlung des neuen Körperdenkens und damit die Anerkennung der Physiologie im öffentlichen Diskurs stellt sich nun als eine nicht unerhebliche kommunikative Herausforderung dar. Populärwissenschaftliche wie wissenschaftliche Autoren begegnen ihr mit rhetorischen Strategien der Anknüpfung an bestehende kulturelle Semantiken, insbesondere mit bildlichen Referenzen auf die bürgerliche Alltagswelt. Besonders fruchtbare Bereiche des Transfers sind dabei Metaphern aus der Ökonomie und Arbeitswelt, vor allem das Bild des Körpers als ›Kraftmaschine‹, die Arbeit und Wärme produziert, sowie die Vorstellung vom Kreisen der Stoffe im Sinne von Verkehr und Handel in der Körperwelt. Moleschott dreht die Blickrichtung dieses Vergleiches aber auch um, wenn er die »freie und richtige Vertheilung von Kraft und Stoff« zur politischen Forderung macht.15 Ebenso beliebt ist der Vergleich mit dem gerade errichteten Telegraphennetz, das genau wie das menschliche Gehirn elektrische Datenströme von einer zentralen Nachrichtenstelle über ein Leitungsnetz (die Nervenbahnen des Körpers) in die Peripherie versendet.16 Dabei führt die Nä-
14 Helmholtz entwickelt seine Zeichentheorie in einer Reihe von Schriften während der 1850er 1860er Jahre, darunter: »Ueber die Natur der menschlichen Sinnesempfindungen« (1852), »Ueber das Sehen des Menschen« (1855) sowie als ausformulierte Theorie im Handbuch der physiologischen Optik (1856-1867). 15 Jacob Moleschott: Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe, Mainz: Victor von Zabern 1857, S. 478. 16 Vgl. die einschlägigen Telegraphenmetaphern bei Carl Ernst Bock, Das Buch vom gesunden und kranken Menschen (1855), Hermann Klencke,
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he zu alltagssprachlichen Konzepten immer wieder zu wissenschaftlichen Missverständnissen, die gerade den populären Autoren als Grundlage umfassender Sinnstiftungsprogramme dienen. So nimmt die naturwissenschaftliche ›Kraft‹, eigentlich eine vom Stoff untrennbare Eigenschaft der Materie, gerade in populärwissenschaftlichen Texten eine Tendenz zur Personifikation an. Sowohl beeinflusst vom überkommenen Lebenskraft-Begriff als auch von Assoziationen zu gesellschaftlichen und körperlichen Kräften werden den Naturkräften unabhängige aktive Verhaltensweisen zugeschrieben. Solchermaßen werden sie zu Hauptprojektionsfeldern metaphysischer Vorstellungen von Harmonie und göttlicher Rationalität. So zum Beispiel bei Ule, dessen Kraftbegriff zwischen physikalischer, ökonomischer und sittlicher Verwendungsweise oszilliert und auf diese Weise zum Garanten eines umfassenden Versöhnungsmodells zwischen Naturwissenschaft und menschlicher Subjektivität wird.17 Eine weitere Sinnstiftungsstrategie populärwissenschaftlicher Autoren ist die Übertragung älterer naturphilosophischer Konzepte auf die modernen Naturwissenschaften. Im Zuge dessen greifen die Autoren insbesondere Alexander von Humboldts zweibändiges KosmosProjekt von 1845/47 auf. So wie Humboldt den Makrokosmos exotischer Landschaften im Geist des 18. Jahrhunderts als ästhetischen und auf den Menschen bezogenen Naturraum beschreibt, wenden sich die Populärwissenschaftler der Betrachtung physiologischer Präparate zu. Entlang der antiken Mikro-/Makrokosmosvorstellung erscheint so die mikroskopische Welt als Abbild der Natur im Großen und neuer po-
Mikroskopische Bilder (1853) und Hermann v. Helmholtz, »Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens« (1868). 17 »Die Aufgabe der Naturwissenschaft«, S. 3: »Es ist eine lebendige und vernünftige Natur, die uns umgiebt [...]. Wir finden diese Einheit in der Fülle schaffender Kräfte [...]. Die Materie ist Kraft, und Kraft ist Leben, aber das Leben ist eins. Die Schwere zieht den Stein zur Erde und fesselt den Planeten an seine Sonne. Wärme, Licht, Magnetismus und Electricität schaffen das chemische Leben des Steines, wie das organische der Pflanzen und Thiere [...]. Wir selbst vermögen kein Glied zu rühren, keinen Gedanken zu fassen, ohne diese Kräfte wachzurufen. Die Kräfte unserer Seele führen nur andere Namen.«
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tenzieller Zugang zum Ganzen der Erscheinungen, das ein Zeitalter der Entdeckungen im heimischen Labor einleitet. Der populärwissenschaftliche Autor Hermann Klencke zum Beispiel nennt die »kleinsten Räume« des Mikroskopischen die »eigentliche Werkstatt [...], aus welcher die Schöpferhand das große Gemälde der Natur hervorwachsen lässt«.18 In Anlehnung an die Reisen Humboldts in ferne Länder bietet sich der Autor als Führer an, der seinen Leser mithilfe des Mikroskops als »Compas« durch die »neue[n] Gegenden« der exotischen Welt des Mikrokosmos begleitet.19 Den populärwissenschaftlichen Gestus des Reisenden in exotische Landschaften macht sich auch Stifter in seinen literarischen Texten zu Eigen. Zwar reisen Stifters Protagonisten nicht in tropische Länder, aber sie betreten heimische Gebirgs- und Hochgebirgslandschaften, die vom Vertrauten und Idyllischen oft jäh ins Fremde, Bedrohliche und Todesnahe umschlagen. Die Perspektive der Texte wechselt dabei von distanziertem Forscher- bzw. Erzähler-Überblick zu einer Art Überwältigung durch die Materie, die Kritiker wie der marxistische Philosoph und Literaturwissenschaftler Georg Lukács als von der Erzählung isolierte Exzesse der Verdinglichung beschrieben haben. Nach Lukács ziehen Stifters Landschaftsbeschreibungen den Menschen »auf das Niveau der toten Gegenstände herab«, sie verlieren also angeblich, wie bereits Hebbel argumentiert hatte, den Blick für den Menschen als lebendigen Körper.20 Dagegen möchte ich argumentieren, dass Stifters Beschreibungen ›toter‹ Landschaften gerade auf eine Neudefinition menschlichen Lebens im Sinne der zeitgenössischen Physiologie abzielen und dabei in ihrem philosophischen Erkenntniswert deutlich über die Versöhnungsrhetorik der populärwis-
18 Hermann Klencke: Mikroskopische Bilder. Naturansichten aus dem kleinsten Raume. Ein Gemälde des Mikrokosmos in seinen Gestalten und Gesetzen, Leipzig: J.J. Weber 1853, S. viii. 19 Ebd., S. 425. 20 Georg Lukács: »Erzählen oder Beschreiben?«, in: ders., Werke, Bd. 4, Neuwied: Hermann Luchterhand 1971, S. 197-243, hier S. 220. Vgl. auch die Diskussion des Beschreibungsproblems in Stifters Texten bei Eva Geulen: »Depicting Description: Lukács and Stifter«, in: The Germanic Review 73.3 (1998), S. 267-79.
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senschaftlichen Autoren hinausgehen. Meine These lautet, dass der Landschaftsdiskurs einiger Stiftertexte metaphorisch an die Stelle eines physiologischen Körperdiskurses tritt. Die Landschaft als Körper beziehungsweise der Körper als Landschaft ist bei Stifter dabei kein bloßer Fall uneigentlichen Sprechens, sondern zitiert in konkreter Weise die Mikro-/Makrokosmos-Idee in der Nachfolge Humboldts. So wie Klencke das Mikroskopische als unentdeckte Landschaft schildert, erzählt Stifter Landschaft als physikalisch-physiologischen Körperraum in mikroskopischer Vergrößerung. Der Körper wird zum literarischen Erlebnisraum, in dem für das bloße Auge unsichtbare physiologische Vorgänge nun sinnlich-literarisch erfahrbar werden, ohne dass Stifter jedoch auf eine einfache Identitätsbehauptung zwischen Mikro- und Makrokosmos verfallen würde. Bereits in dem frühen Text »Aussicht und Betrachtung von der Spitze des St. Stephansturms« (1841) wird diese poetische Figur der Landschafts-/Körpermetaphorik deutlich. In der kurzen literarischen Skizze lässt der Erzähler ein Fernrohr über das Wiener Stadtpanorama schweifen, das ihm bei Bedarf das Geschehen in der mikroskopischen Nahperspektive heranholt. Stifter beschreibt den Strom der Menschen im täglichen Verkehr des Waren- und Stoffaustausches als Funktionsträger des Stadtorgans, welches seinerseits das Zentralorgan des größeren Monarchiekörpers vorstellt: [D]er Mensch, die Tausende, die hier strömen, arbeiten, sorgen, sich vergnügen [...] sie fühlen es nicht, daß hier der Herzschlag einer großen Monarchie ist, [...] und daß von diesem Herzschlage die Frische und Gesundheit der andern Glieder abhängt [...] – das Blut der einfach rothe Balsam strömt fröhlich durch alle Adern des ganzen Körpers, und ahnt nicht, daß es selbst dieß Wunderwerk von Körper aufgebauet hat [...].21
Natürlich hat dieses Körper-Stadtbild auch eine politische Dimension, denn anders als im Herrscherkörper der Aufklärung oder im Volks-
21 Adalbert Stifter: Historisch Kritische Gesamtausgabe [Im Folgenden abgekürzt als HKG] Bd. 9.1, S. v.
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körper der Romantik22 ist nun der tätige Bürger die Grundeinheit der Erhaltung – physiologisch formuliert das rote Blutkörperchen, das den Nährstoff transportiert. Auch sonst stehen Stoffwechselprozesse, der Auf- und Abbau von Stoffen, im Mittelpunkt des Textes. So vergleicht Stifter die Stadt mit einem »ungeheuren Magen«, dem kontinuierlich Nahrung (buchstäblich in »Fleischerwägen«), aber auch Waren und Baumaterialien aus der Peripherie zugeführt werden.23 Die Stadt verbraucht Nähr- und Baustoff und setzt damit einen kapitalistischen Menschen- und Warenstrom in Gang, der im zirkulierenden Strom des Geldes zeichenhaft verdoppelt wird. Stifter bezeichnet die kapitalistische Energie der Stadt als »wirre[s] Babel« – eine Vorstellung, die neben der Idee des chaotischen Durcheinanders frei strömender Einzelelemente auch das verwandte Körperbild der Hure Babylon suggeriert: die Stadt als fleischlicher Sündenleib.24 So bietet die Stadt ein ambivalentes Bild von bewundernswerter Effizienz und gedankenloser Brutalität: »Da fahren die Wagen und bringen in tausend kleinern Gefäßen das Weltmeer ›Milch‹, das heute verzehrt werden soll [...]. Eine Million Thiere ist heute Nachts gestorben, daß alle diese unten zu essen haben; ein Wald von Pflanzen wurde abgemähet und hereingebracht [...].«25 Der ungeheure Stoffumsatz entspricht der Leistung des Stadtkörpers als industrielle Kraftmaschine: Die Stadt »wogt und wallt und kocht und sprüht«; sie ist ein »brodelnder Kessel«, der »treibt und quirlt«.26 Die Rauchsäulen der Fabriken sind die »Athemzüge« der
22 Zur Idee des Volkskörpers in der Romantik vgl. Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Körper: Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der politischen Romantik, Freiburg i. Br.: Rombach, 1999. 23 Stifter, HKG 9.1, S. viii. 24 Ebd., S. ix. Hinter der Stadt als biblischer Sünderin verbirgt sich vor allem eine Kapitalismuskritik, die etwas später auch klar formuliert wird: Das Geld sei »statt Bild der Dinge« zum »einzig Ding« selbst geworden, das in seiner Scheinhaftigkeit eine Spirale des Begehrens, eine »Wechselmarter« des »Erwerben[s] und Verzehren[s]« von weltpolitischen Abmessungen auslöse (ebd., S. xii-xiii). 25 Ebd., S. xvi-xvii. 26 Ebd., S. vi und S. xvii.
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Metropole, in denen sie die ihr zugeführte Energie metabolisiert.27 Darüber hinaus weist der Stadtkörper eine differenzierte Morphologie mit Landmarken und »Grenzen« auf: So sondert zum Beispiel das zu einer Parklandschaft umgewandelte Glacis die innere Stadt von den sich umlagernden Vorstädten ab. Der ehemalige Festungswall lässt die Menschen- und Warenströme passieren, bildet aber einen Trenngürtel gegen die expandierende Bautätigkeit der äußeren Bezirke: [I]n ungeheurem Kreise herumgeschlungen, breit hinausgelagert, liegt [...] die Masse der Vorstädte [...] − mit größtentheils sehr schönen Fronten stellen sie sich im Kreise gegen das Glacis auf, gleichsam in ihrem Hereinschieben gegen die Stadt hier an einer unsichtbaren Grenze anhaltend und sich anstauend; denn weiter dürfen sie gegen den [...] Glacis nicht vordringen [...].28
Der Wall ist also genau wie die Wand einer Zellmembran durchlässig für bestimmte kleinere Elemente, während andere größere zurückbleiben und sich an den Rändern anstauen. Das im Titel des Textes angekündigte »Lebensbild« bietet sich dem Beobachter also gerade aus der Distanz, die es erlaubt über die menschlichen Alltagsszenen hinaus neue ›physiologische‹ Strukturen zu erkennen. Stifters Beobachter wechselt dabei immer wieder – wie ein Naturforscher an der Stellschraube seines optischen Instruments drehend – zwischen verschiedenen Vergrößerungseinstellungen. Wo zunächst auf das Strömen und Atmen der Verdauungs- und Kreislaufsysteme fokussiert wurde, dringt der Blick schließlich in die Tiefe anorganischer, ›kristalliner‹ Stoffe ein: Wir sehen [die Stadt] wie eine Scheibe um unsern Thurm herumliegen, ein Gewimmel und Geschiebe von Dächern [...], ein Durcheinanderliegen von Prismen, Würfeln, Pyramiden, Parallelopipeden, Kuppeln, als sei alles in toller Kristallisation an einander geschossen, und starre da nun so fort. [...] Wie eine ungeheure Wabe von Bienen liegt sie unten, durchbrochen und gegittert allenthalben, und doch allenthalben zusammenhängend [...].29
27 Ebd., S. viii. 28 Ebd., S. x. 29 Ebd., S. ix.
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Das organische Leben der Stadt erscheint damit gleichzeitig als ›tote‹ kristalline und als lebendige organische Struktur, nämlich indem sich die charakteristische Gitterstruktur der Kristalle im Hexagon der Bienenwabe wiederholt und somit den Bereich des Anorganischen mit dem des Organischen nicht nur (von höherer zu niedriger Vergrößerung) optisch überlagert, sondern auch motivisch verbindet.30 Tatsächlich ist der Text wesentlich von Perspektivwechseln geprägt: Die Betrachtung wechselt von »Einzelbild[ern]« zu »Gruppen und Massen« und von der Nahperspektive des überwältigten Stadtgängers zur Distanzschau des Beobachters vom Turm, der die Stadt zur »Scheibe« verkleinert wahrnimmt.31 Das Besondere an Stifters Stadtansicht liegt dabei gerade nicht in der fotografischen Nebeneinanderstellung der Bilder, die von der Forschung auf mediale Techniken der Blickerzeugung in Panoramas und Dioramas bezogen worden ist,32 sondern in der vertikalen Integration von makro- und mikroskopischen Bildern, die den Ab- und Aufbau der Stoffe in der mikroskopischen Nahsicht mit den Kreislaufsystemen des physiologischen
30 Diese Beispiele kristalliner Formationen werden in ähnlicher Weise bereits in Goethes naturwissenschaftlicher Schrift von der »Entstehung unorganischer Formen« genannt (in: ders., Goethes Werke, Bd. 10, Weimar: Böhlau 1894, S. 75-77, hier S. 77). Die Faszination der Goethezeit für die Kristalle ist nicht zuletzt auf deren Eigenschaft zurückzuführen, ihre geometrische Bindungsstruktur auf der Mikroebene im Großen zu wiederholen; zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind die Kristalle das Paradigma anorganischer Natur im Gegensatz zu den komplexeren und im Labor zunächst nicht zu synthetisierenden organischen Stoffen. Als solches gelten sie den Vertretern der älteren Lebenskrafttheorie lange Zeit als Beweis des kategorischen Unterschieds beider Stoffklassen. 31 Stifter, HKG 9.1, S. xxi. 32 Vgl. die Aufsätze von Peter Plener: »›Mit der Klarheit eines Cameraobscurabildes‹: Stifters Blicke vom St. Stephansturme«, in: Maria Luisa Roli (Hg.), Adalbert Stifter. Tra filologia e studi culturali: atti del convegno die Milano, 11 e 12 novembre 1999, Mailand: Cuem 2001, S. 129-42 sowie von Christiane Zintzen: »Wien in poetisch-fotografischer Parallelaktion: Adalbert Stifters Stadtpanorama vom St. Stephansturm«, in: Fotogeschichte: Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 93 (2004), S. 3-10.
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Körpers überblenden. Diese vertikale Integration reicht über den physiologischen Bereich hinauf bis zur Schilderung psychologischer und ökonomischer Systeme. So sind die beobachteten Menschen wahlweise wertschaffende Beiträger der kapitalistischen Volkswirtschaft, treten psychologisch als anekdotische Einzelschicksale auf oder agieren als ›Zellen‹ im differenzierten Gewebe der Stadt, die dem Gesamtorganismus Nahrungsgüter zuführen oder Abfallstoffe von ihm wegführen. Der Text markiert aber bei aller Integration auch gerade die Differenz zwischen der gedankenlosen Energie des Stadtkörpers und der bewussten Subjektivität des Beobachters auf dem Turm. Die Abwesenheit von Bewusstsein im sich ständig wandelnden Stadtkörper wird vom Subjekt bei aller Bewunderung für das »Zusammenströmen[] großartiger Bestrebungen« als vehemente Bedrohung empfunden: Es empfindet sich als »Fremdling« in einer »tosenden Wüstenei«.33 Letztlich erscheint der unbewusste (Stadt-)Körper aber positiv als eine den Tod um den Preis der Subjektivität integrierende organische Kraft, die sowohl psychische Beschädigungen des Einzelnen als auch physische Unglücksfälle und Katastrophen heilen kann. So heißt es zum Beispiel über die 1830 durch eine Eisstauung überschwemmte und wieder aufgebaute Leopoldstadt: »[D]ie Inselstadt steht wieder heiter und glänzend da, und die Fluth von Leben, die hier wogt, schloß sich über jene verlorne, wie die Luft an jener Stelle wieder zusammenfließt, wo man sie verwundet hat.«34 Ein ganz anderes und doch verwandtes physiologisches Lebensbild zeichnet Stifter ein Vierteljahrhundert später in dem autobiographischen Fragment »Mein Leben« (1866), in welchem er den eigenen Körper im Mutterleib imaginiert und die Entstehung von Subjektivität bis zur Entwicklung der Sprache verfolgt. Dabei konnte die Kontrastfolie, auf der Stifter sein autobiographisches Projekt unternimmt, nicht deutlicher ausfallen. Goethes Dichtung und Wahrheit (1811-1831) hatte zuvor das Genre der Autobiographie als geordnete und symbo-
33 Stifter, HKG 9.1, S. vi. 34 Ebd., S. xv.
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lisch überhöhte Darstellung des Selbst als Lebenswerks geprägt.35 Stifter hingegen gestaltet den Akt der Selbstbeschreibung als zurückerinnernde Reise zu den Anfängen des Ichs. Sein Interesse gilt nicht dem Werden der Persönlichkeit, sondern der Entstehung des Bewusstseins aus den ersten Wahrnehmungen des Körpers: Der Text stellt den Versuch dar, die Grenze zwischen Bewusstsein und Körper fiktional zu beschreiben und geistiges Bewusstsein im subjektivitätslosen somatischen Körper zu verankern. »Mein Leben« bildet damit auch einen Kontrapunkt zu einem anderen berühmten autobiographischen Schreibprojekt, Jean Pauls Selberlebensbeschreibung (1818/1819), einem Text, der sich ebenfalls bis an die Anfangsgründe der Subjektivität zurückträumt, allerdings mit dem umgekehrten Ziel, das haltlos gewordene Ich in einem fiktiven Ursprung bewusst vor das Körperliche zu setzen. Bei Jean Paul erreicht die Wanderung zurück an den Lebensanfang das paradiesische Traumreich genialistischer Subjektivität. Bei Stifter führt sie dagegen in die Zustände des Vorsprachlichen und nichtsagbaren Leiblichen. Der Körper ist hier zunächst ein Raum innerer Wahrnehmung, die von rein affektiver Gestimmtheit (»Wonne«, »Entzücken«) zu distinkten Sensationen (»weich«) und akustischen Formen (»Klänge«) übergeht, bevor sie schließlich auf die dingliche Welt außerhalb des Ichs trifft. Die Erfahrung des Selbst ist dabei im doppelten Sinn dunkel: Nicht nur verhindert die Abwesenheit des Lichts in der Leibhöhle visuelle Sensationen, das Erfahrene präsentiert sich dem Ich außerdem als »Gewühl« aus verschiedenen undifferenzierten Sinnesleistungen und unklarer räumlicher Orientierung.36 Stifters Beschreibung erster Wahrnehmungen ruft damit Herders Konzept der »dunklen Ideen« auf, wonach die sinnliche – körperliche – Wahrnehmung der empirische Unterbau der bewussten Rationalität und
35 Vgl. Helmut Pfotenhauer: Nachwort, in: ders. (Hg.): Jean Paul: Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene Schriften, München: Carl Hanser 2004, S. 462-489, hier S. 462. 36 Stifter: »Mein Leben«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 25, hg. von August Sauer, Prag/Reichenberg 1908. Hildesheim: H.A. Gerstenberg, 1972. [Prag/Reichenberger-Ausgabe; im Folgenden abgekürzt als PRA], S. 177.
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nicht getrennt von höheren Bewusstseinsvorgängen ist.37 Man könnte sagen, dass Stifter Herders »dunkle Ideen« hier gewissermaßen wörtlich nimmt und ihre Wirkungsweise als Vorstufe des Bewusstseins anschaulich macht. Dabei geht der Text aber deutlich über den Wahrnehmungsdiskurs des 18. Jahrhunderts hinaus, indem die Bilder konkret an physiologische Systeme wie den Blutstrom und die mütterliche Plazenta anknüpfen. Empfindungen des »Fächelnden« suggerieren umgebendes Fruchtwasser, das Pumpen des Blutstroms durch die Herzklappen, aber auch die Hin- und Herbewegung des Luftstroms beim Atmen.38 Erst auf dieser physiologischen Körperbasis beginnt sich in der Wahrnehmung eine klar abgegrenzte Dingwelt abzuzeichnen, in der Gestalten und Handlungszusammenhänge erkennbar werden: Hierauf erhob sich die Außenwelt vor mir, da bisher nur Empfindungen wahrgenommen worden waren. Selbst Mam, Augen, Stimme, Arme, waren nur als Empfindung in mir gewesen, [...]. Mam, was ich jetzt Mutter nannte, stand nun als Gestalt vor mir auf, und ich unterschied ihre Bewegungen, dann der Vater, der Großvater, die Großmutter, die Tante [...].39
37 Während Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) die Sphäre des rationalen Bewusstseins streng von den passiven sinnlichen Wahrnehmungen trennt, hatte Herder zuvor in den Kritischen Wäldern (1769) dazu aufgefordert, »die Integralteile der menschlichen Seele körperlich [zu denken]«. Der entsprechende Passus im »Vierten Kritischen Wäldchen« lautet: »Der ganze Grund unsrer Seele sind dunkle Ideen, die lebhaftesten, die meisten, die Masse, aus der die Seele die feinern bereitet, die stärksten Triebfedern ihres Lebens [...]. Man denke sich die Integralteile der menschlichen Seele körperlich, und sie hat [...] an Kräften mehr spezifische Masse zu einem sinnlichen Geschöpf als zu einem reinen Geiste: sie ist also einem menschlichen Körper beschieden; sie ist Mensch.« Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 2, Hg. Günter Arnold, Martin Bollacher Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 273. 38 Stifter, PRA 25, S. 177. 39 Ebd., S. 178-9.
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Signifikanterweise kommt Stifter in seinem Lebensbericht auf das Ereignis der Geburt, das den einschneidenden Anfangspunkt autobiographischen Schreibens bei Goethe gesetzt hatte, gar nicht zu sprechen. Alle Veränderungen vollziehen sich vielmehr in einem Kontinuum von vereinzelten Sensationen, dessen Endpunkt die Kohärenz des Subjekts in der Sprache ist. Das Beherrschen der Sprache, nicht die Geburt, markiert den Punkt des Eintritts in die Welt, weshalb Spracherwerb und Sprachverlust auch zum eigentlichen Gegenstand der Lebenserzählung werden. Insbesondere ein von der Mutter als Strafe für ein zerbrochenes Fenster erlassenes Kommunikationsverbot bedroht die frisch gewonnene Subjektivität des Kindes. Es kommt einer Vernichtung des Ichs gleich, das dadurch wieder auf die Inkohärenz seiner vorsprachlichen Körperlichkeit zurückgeworfen wird. Der Ausschluss aus dem Symbolischen der Sprache bedeutet aber auch den Verlust der ›objektiven‹, dinglichen Welt, die damit als Ergebnis sprachlicher Differenzierung in der Wahrnehmung des Subjekts erscheint.40 In dem Moment, als die Sprache entzogen wird, begegnet das kindliche Ich seiner Außenwelt als etwas »ganz Ungeheure[m]«, Gewaltigen und Gestaltlosen; es droht in das Amorphe und VorSubjektive zurückzufallen. Erst der Anblick eines klar geformten manifesten Objekts, nämlich das wie »in reinlichen Farben auf Porzellan gemalte« Bild eines Kornhalms wird zum rettenden (Stroh-)Halm gegen die Anbrandung des gestaltlosen Physiologischen.41 Stifter zeigt damit sowohl die Erzeugung der Dingwelt durch die Sprache als auch deren Rückbindung an materielle Erfahrungen, ohne die sie nicht exis-
40 Zur Bedeutung der Sprache bei Stifter vgl. u.a. Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart: Metzler, 1995 sowie Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München: Iudicum, 1992. Begemann und Geulen gehen allerdings von einer »sprachlichen Verfasstheit der Wirklichkeit« aus, die in Stifters Texten geleugnet werde. Demgegenüber erscheint in meiner Argumentation die Sprache als Teil einer weiter gefassten physiologischen Perspektive, welche die (mangelnde) Integration des Subjekts in seine Umgebungswirklichkeit anzeigt und in den Texten häufig auf Wahrnehmungs- und Körperkrisen verweist. 41 Stifter, PRA 25, S. 179.
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tieren kann. Tatsächlich ist Sprache in Stifters autobiographischem Fragment selbst ein körperliches Objekt, das für das Kind zum sinnlichen Experimentierfeld wird. Das kindliche Ich konstruiert Sätze, kombiniert Wörter rhythmisch und paradigmatisch (also hinsichtlich der Austauschbarkeit des Lexikons), verbindet Begriffe mit physischen Objekten und arrangiert diese zu komplexeren Bildern: Auf [dem] Fensterbrette sah ich [...], was draußen vorging, und ich sagte sehr oft: ›Da geht ein Mann nach Schwarzbach, da fährt ein Mann nach Schwarzbach, da geht ein Weib nach Schwarzbach, da geht ein Hund nach Schwarzbach, da geht eine Gans nach Schwarzbach.‹ Auf diesem Fensterbrette legte ich auch Kienspäne ihrer Länge nach an einander hin, verband sie wohl auch durch Querspäne, und sagte: ›Ich mache Schwarzbach.‹42
Die sprachliche Initiation, verbunden mit traumatischen Erfahrungen von Schuld und Strafe (wie nach dem Zerbrechen der Fensterscheibe), markieren den Übergang vom physiologischen und sinnlichen Körperwesen zum Kultursubjekt. Subjektwerdung gelingt letztlich nur, wie Stifter anhand des vom kindischen Selbst nicht verstandenen Begriffs der »Conscription« deutlich macht, wenn sich das Ich in gesellschaftliche Ordnungssysteme einzuschreiben vermag, auch wenn dies um den Preis der gesellschaftlichen Einschränkung durch die Autorität der Familie und des Staates geschieht.43 Mit dem Erwerb der Sprache tritt das Kind also gleichzeitig in die Machtverhältnisse der Gesellschaft ein, die für den Rest des Lebens einen unvermeidlichen Teil seiner Realität bilden. Für Stifter ist Subjektivität ohne die Eingliederung in gesellschaftliche Symbolregime schlichtweg nicht denkbar – einzige Alternative wäre die Exilierung des Ichs zurück in die Dunkelheit des amorphen Körpers. Dennoch verzichtet Stifters autobiographische Schrift bewusst auf die typischen Schilderungen von Erziehung und Jugenderlebnissen,
42 Ebd., S. 181 (meine Hervorhebungen). 43 Ebd., S. 180. Wörtlich bedeutet »Conscription« die Einberufung zum Dienst in der Armee durch Einschreibung in ein Register.
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wie sie im Bildungsroman vorgeprägt waren.44 Nur gleichsam im Vorübergehen gibt der Text einen kurzen Ausblick auf die spätere Schriftstellertätigkeit des Autors und zwar im Zusammenhang mit dem Kornhalm, an dessen Erinnerung sich nun – stellvertretend für die gesamte Dingwelt – der künstlerische Schreibakt des erwachsenen Ichs entzündet: »Ich sehe den hohen schlanken Kornhalm so deutlich, als ob er neben meinem Schreibtische stände [...].« 45 Dieser Ausgriff verdeutlicht, worum es im Text geht, nämlich um die Schnittstellen zwischen subjektivem Bewusstsein, Körper und Materie. Einerseits muss sich das Ich vom subjektfeindlichen Chaos der Materie befreien, andererseits an der Welt des Dinglichen rückversichern, die in der Mitte zwischen abstrakter Sprachlichkeit und chaotischer Materie steht. Diese Rückversicherung bringt den metaphysischen Lohn der Anbindung an das allgemeine Lebensprinzip. Gleichzeitig aber gestaltet der Text die Subjektwerdung als Erlebnis einer traumatischen Differenzerfahrung zwischen körperlichem und sprachlichem Selbst, da subjektive Kohärenz nur um den Preis der Einschreibung des Fremden (nämlich der kollektivierenden Sprache) in das eigene Ich gewonnen werden kann. In Stifters berühmter Novelle Bergkristall aus der Sammlung Bunte Steine geht es, wie ich im Folgenden zeigen möchte, ebenfalls um die prekäre Stellung des Körpers zwischen Natur und kultureller Gemeinschaft: Die Kinder Konrad und Sanna, deren Mutter aus dem Nachbartal stammt, werden erst zum Bestandteil der Dorfgemeinschaft, nachdem sie am Weihnachtsabend auf dem Berg in einen Schneesturm geraten, sich verirren und am folgenden Tag durch die
44 Nicht zuletzt deshalb ist der Text in der Forschung als Fragment bezeichnet worden. So geht zum Beispiel Franz Hüller im Kommentar der Prag/Reichenberger-Ausgabe aus den frühen 1940er Jahren noch selbstverständlich von einer geplanten Weiterführung des Textes im Sinne einer klassischen Autobiographie aus (vgl. PRA 25, lxxi ff.). 45 Ebd., S. 179. Zur Bedeutung des Schreibens als »Mythos der Sprachwerdung des Dichters« bei Stifter vgl. Helmut Pfotenhauer: »›Einfach wie ein Halm‹. Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63.1 (1990), S. 134-148, hier S. 142.
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Dorfbewohner gerettet werden. Das entscheidende Moment des Textes besteht aber nicht in der dörflichen Rettungsaktion, sondern in den Erlebnissen der Kinder auf dem Berg. Der Gang über den Bergpass (zurück vom Besuch der Großmutter im Nachbartal) ist für die Kinder ein körperliches Initiationserlebnis: eine Begegnung mit dem Tod, aber – und darauf kommt es an – nicht als einer außen stehenden Schicksalsmacht, sondern mit ›dem Toten‹ als anorganischem des eigenen Körpers, das als Teil des Lebens erkennbar wird. Mit der Aufnahme der Kinder in die Dorfgemeinschaft wird dann schließlich neues physiologisches Wissen in traditionelle Vorstellungen vom Berg (-Körper) integriert. Vorstellungen vom Körper erscheinen in Bergkristall vom Beginn des Textes als Merkmale der Landschaft: Der Weg der Kinder führt vom »Beken« des Tales über den »Hals« hinauf zu den »Hörner[n]« der Bergspitze, die selbst im Sommer ihre »schöne[n] weiße[n] Äderchen und Sprenkeln auf ihrem Rüken« nicht verliert.46 Der Text zeigt zunächst einen differenzierten und markierten Körper: Überall durchziehen »Grenzen« den Berg: die »Grenzen der Wiesen«, die »Grenze des Holzes«, vor allem aber die »Unglüksäule«, eine im Gedenken an einen verunglückten Bäcker aufgestellte Warnsäule, die den verkehrssicheren, kulturierten Teil des Berges von der gefahrvollen, menschenfeindlichen Zone des Gletschers trennt.47 Sie demarkiert ein Gebiet, in dem kulturelle Zeichen operieren (Glockentöne und Lichter aus dem Dorf, Warnschilder und abgesteckte Wege) von einer Zone, in der solche Zeichen der Orientierung fehlen. Die Kinder verirren sich nicht zuletzt deshalb in die Gletscherzone, weil das traditionelle Warnzeichen der Unglückssäule umgefallen und von den Kindern als Grenzmarkierung des Kulturellen unter dem Schnee nicht mehr erkannt werden kann. Das Verlassen des kulturellen Körperraums geht mit einem Verlust der äußeren Wahrnehmung einher. Im Schneesturm verliert der Raum seine Tiefe, Objekte lassen sich im monotonen Weiß des Flockenwirbels nicht mehr voneinander unterscheiden und Orientierungen können nicht erkannt werden:
46 Stifter, HKG 2.2, S. 188-192. 47 Ebd., S. 204-205.
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Es war wieder nichts um sie als das Weiß [...]. Es schien eine große Lichtfülle zu sein, und doch konnte man nicht drei Schritte vor sich sehen; alles war [...] in eine einzige weiße Finsternis gehüllt, und weil kein Schatten war, so war kein Urteil über die Größe der Dinge, und die Kinder konnten nicht wissen, ob sie aufwärts oder abwärts gehen würden [...]
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Da die äußere Wahrnehmung ausfällt (es ist zudem vor dem Einsetzten des Sturms vollkommen still im Wald), richten die Sinne ihre Aufmerksamkeit von nun an introspektiv auf den eigenen Körper. Das Fortgehen der Kinder gleicht einem Gang in den Leib des Berges, in seine »Gr[ä]ben«, »Krümmung[en]« und »Höhlung[en]«, der zugleich eine Bewegung in die Körper der Kinder selbst hinein darstellt – und zwar in ihren unbewussten, somatischen Teil: Die Kinder gehen »mit der Unablässigkeit und Kraft, die Kinder und Thiere haben«, ohne ihren Anstrengungen noch eine bewusste Richtung geben zu können.49 Dabei ist die Begegnung mit dem somatischen Körper von absoluter Fremdheit geprägt; die vertrauten Landschaftsbilder des ›kulturierten‹ Körpers verschwinden und an ihre Stelle tritt – stellvertretend für den mikroskopischen Bereich des chemischen Stoffaustausches – die Welt des elementaren und chaotischen Gletschereises: Es lagen Platten da, die mit Schnee bedekt waren, an deren Seitenwänden aber das glatte grünliche Eis sichtbar war, es lagen Hügel da, die wie zusammengeschobener Schaum aussahen, an deren Seiten es aber matt nach einwärts flimmerte und glänzte, als wären Balken und Stangen von Edelsteinen durch einander geworfen worden, es lagen ferner gerundete Kugeln da, die ganz mit Schnee umhüllt waren, es standen Platten und andere Körper auch schief oder 50
gerade aufwärts [...].
Die elementaren Grundformen der Platten, Balken, Stangen und anderer geometrischer »Körper« wiederholen die ›kristallinen‹ Figurationen in Stifters »Aussichten und Betrachtungen«, die für die Welt des Anorganischen im Allgemeinen gestanden hatten (nicht zuletzt auch
48 Ebd., S. 215-216. 49 Ebd., S. 214. 50 Ebd., S. 217 (meine Hervorhebungen).
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deshalb der Titel Bergkristall). Allerdings ist die Beschreibung im Bergkristall ungleich spannungsreicher. Sie zeigt das Wirken und Schieben elementarer Stoffe gegeneinander: Es gibt Verwerfungen und Einschlüsse fremden Materials im Eis (»ein großer schrekhaft schwarzer Stein [...] lag unter dem Eise, und war empor gestellt, daß er auf der Spize stand [...]«);51 ebenso treten im ungebenden Schnee junge und ältere Strukturen (Neuschnee und der harte Firnschnee des Vorjahrs) nebeneinander auf.52 Damit bietet der Gletscher insgesamt das festgestellte Bild enormer gegeneinander gerichteter physischer Kräfte im Medium ›geologischer‹, für Menschen unendlich langsamer Zeit. Dennoch wird die Figuration auch als Körperbild innerhalb einer Topographie des Physiologischen intelligibel: Zerkleinerung, Dislokation und Aufnahme eines Stoffes (Fels) durch einen anderen (Eis) im Feld des Geologischen stehen bildhaft für die viel schnelleren, kontinuierlichen Absorptionsvorgänge in pflanzlichen und tierischen Zellen. Wie in Stifters Wien-Beschreibung wechseln auch in Bergkristall die Körperbilder zwischen mikroskopischer und makroskopischer Perspektive. So betreten die Kinder Konrad und Sanna, nachdem sie das Gletscherfeld hinter sich gelassen haben, ein Eisgewölbe, das in seinen bizarren architektonischen Formationen an das anatomische Gefüge der menschlichen Körperhöhle (Rippenbögen, Darmzotten u. ä.) erinnert: »Es waren dikere und dünnere Bogen, es hingen Zaken, Spizen und Troddeln herab. Der Gang wäre noch tiefer zurückgegangen, sie wußten nicht wie tief, aber sie gingen nicht mehr weiter.«53 Obwohl die Höhle warm und trocken ist, herrscht aber auch hier aufgrund der »schrekhaft blaue[n]« Farbe das Gefühl der Fremdheit vor, so dass die Kinder schnell wieder hinauslaufen.54
51 Ebd. 52 Vgl. ebd., S. 216: »Sie merkten auch, daß ihr Fuß, wo er tiefer durch den jungen Schnee einsank, nicht erdigen Boden unter sich empfand, sondern etwas anderes, das wie älterer gefrorener Schnee war [...]« (meine Hervorhebungen). 53 Ebd., S. 219. 54 Ebd.
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Tatsächlich übt der (Gletscher-)Körper einen ambivalenten Reiz auf die Kinder aus: Einerseits ist er im höchsten Maße fremd und bedrohlich, andererseits lockt er die Kinder immer weiter in sein Inneres; sie folgen dem »Trieb« des vegetativen Körpers, »Obdach« und Erholung zu suchen: »[D]ie unermeßliche Anstrengung, von der die Kinder nicht einmal gewußt hatten, wie groß sie gewesen sei, ließ ihnen das Sizen süß unsäglich süß erscheinen, und sie gaben sich hin.«55 Die Novelle inszeniert damit einen Kampf des Bewusstseins gegen die Überwältigung durch den vegetativen Körper, dessen Schlaf- und Ruhebedürfnis in diesem Fall den Erfrierungstod der Kinder bedeuten würde. Die Rettung liegt dabei sowohl in einer subjektiven Anstrengung des Willens (Konrads Ermahnung an Sanna, nicht einzuschlafen) als auch in einer Aktivierung der Wahrnehmung, welche die Rückkehr des Bewusstseins mittels einer dreifachen Stimulanz der Nerven einleitet: Die Kinder trinken zunächst einen Kaffeeabsud der Großmutter, der ein »Fieber« der Nerven verursacht, dann hören sie ein Krachen des Eises, welches die Distanz des Bewusstseins zum Körper als schmerzhaften, aber heilsamen Riss markiert (»als ob die Erde entzwei gesprungen wäre«).56 Schließlich erscheint ein Nordlicht in der Gestalt eines elektrischen Himmelsbogens mit »grünliche[m] Schimmer«.57 Dieses unvermutete Auftreten im Raum wabernder Elektrizität – es schimmert, fließt, sprüht und zuckt – von den Kindern als säkulares Himmelszeichen in der Weihnachtsnacht verstanden, kann im Rahmen der Körpertopographie als magnetische und elektrische Tätigkeit der Nerven gelesen werden.58
55 Ebd., S. 219 und S. 222. 56 Ebd., S.227-228. 57 Ebd., S. 228. 58 Bereits im 18. Jahrhundert hatten Luigi Galvanis Experimente an Froschschenkeln den elektrischen Funken als antreibende Kraft des Nervenreizes beschrieben, von wo aus auch spekulative Diskurse über ›tierische Elektrizität‹ und ›tierischen Magnetismus‹, die in enger Verwandtschaft mit der ›Lebenskraft‹ gedachten wurden, ihren Ausgangspunkt genommen hatten. Vgl. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1756-1914, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S.66.
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Das spektakuläre Naturerlebnis der Kinder kommt damit einer Selbstrettung des somatischen Körpers aus dem Zustand der Todesnähe gleich, wobei die erwachende Nervenaktivität in der Bewegung des Gletscherkörpers verdoppelt wird: »Was das Starrste scheint, und doch das Regsamste und Lebendigste ist, der Gletscher, hatte die Töne hervorgebracht. Dreimal hörten sie hinter sich den Schall, [...] der sich nach allen Richtungen im Eise verbreitete, und gleichsam durch alle Aderchen des Eises lief.«59 Die Selbstrettung der Kinder aus dem Zustand der Bewusstseinslähmung wird am folgenden Tag von der Suchaktion der Dorfbewohner vollendet. Diese ist vor allem von der Verwendung zahlreicher Zeichen begleitet (Fahnen, Hirtenhörner, Glockenläuten, Rauchfeuer), welche den Wiedereintritt der Kinder in den Kulturraum der dörflichen Gemeinschaft markieren. Besonders auffällig ist dabei eine rote Fahne, die ein Wissenschaftler nach einer Expedition im Dorf zurückgelassen hatte und welche die Kinder bei ihrer Rettung nun zuerst erblicken. Die Fahne als Zeichen für den wissenschaftlichen Diskurs signalisiert im Kontext der traditionellen bildund anekdotenhaften Dorferzählungen von der Natur deren blinden Fleck: Während der Berg für die Dorfbewohner ein vertrauter Teil ihres Alltagslebens ist, tritt der Bergkörper den Kindern als autonomer und radikal fremder – wissenschaftlicher – Gegenstandsbereich entgegen. Konrad und Sanna erleben die Fremdheit des Berges als unmittelbar bedrohlich und erschütternd, erfahren aber auch die rettende Potenz, die im Wissen um dieses Fremde liegt. Die Rettung der Kinder kann damit als zeichenhafte Integration neuer physiologischer Erfahrungen in die traditionellen Vorstellungen der Dorfgemeinschaft und als harmonische Entwicklung eines neuen Körperverständnisses innerhalb bestehender Kulturzusammenhänge gedeutet werden. Stifters physiologische Lebensbilder machen insgesamt eine versöhnliche Einstellung des Autors gegenüber den Naturwissenschaften deutlich, wie sie auch den populärwissenschaftlichen Autoren wichtig war. Es geht Stifter um ein Neubegreifen des Menschen und der Natur im Interesse eines ›wahren‹ Realismus, der die von den Naturwissenschaften aufgeworfenen neuen Fakten und Bilder miteinbezieht. Gleichzeitig aber soll der Anschluss an die sinnstiftende Tradition
59 Stifter, HKG 2.2, S. 227-228.
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menschlichen Wissens von der Natur und vom Ich gewährleistet bleiben, indem diese einer behutsamen Neuinterpretation unterzogen wird. Das neue Naturverständnis, welches den Körper zu seinem stofflichen Anfang in eine Welt elementarer Kräfte verfolgt, erzeugt zudem ein Lebenspathos der Erneuerung, welches den Körper von seiner überbürdenden Ich-Last befreit und auf die Ganzheit der Natur bezieht. Dabei wird das Vorhandensein naturhafter, vegetativer und anorganischer – ›toter‹ – Anteile in der menschlichen Person eingestanden und in einen erweiterten Lebensbegriff integriert. Gleichzeitig diagnostizieren die Texte den entgrenzten Körper aber auch als Gefahr: In allen vorgestellten Texten wird die Bedrohung und Entfremdung, die vom vegetativen Körper für das bewusste Subjekt ausgeht, physisch greifbar – die Unterordnung des Bewusstseins unter die Materie faktisch mit dem Tod der Person gleichgesetzt. Der Schlüssel für die Bewahrung des Subjekts liegt für Stifter dagegen in der Eingliederung in den sozialen Verband der Gemeinschaft: die symbolischen Ordnungen der Familie, Sprache und Kultur. Außerhalb dieser Zeichenordnungen droht dem Subjekt letztlich der Untergang in der Masse, der Rückfall in Zustände des amorphen Körperlichen oder der starre Tod im fremden Nichts des Eises. Wo Thomas Manns Hans Castorp sich im »Schnee-Kapitel« des Zauberbergs willentlich dem Schlaf hingibt und dem Tod als Lebensprinzip in der Momenteinsicht des allegorischen Traums begegnet,60 versuchen Stifters Texte eine dauerhafte Rückbezüglichkeit zwischen den physischen Erscheinungsformen belebter und unbelebter Materie herzustellen, indem sie das Anorganische in einer bildlichen Überblendung von Leben und Tod als Teil des Lebens ausweisen und ihm damit eine dauerhafte stoffliche Präsenz in den Erzählungen verleihen.
60 »Wer aber den Körper, das Leben erkennt, erkennt den Tod [...]. [A]lles Interesse für Tod und Krankheit [ist] [...] nichts als eine Art von Ausdruck für das am Leben [...].« Thomas Mann: Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Fischer 1960, S. 684. Auch im Zauberberg ist die Schneeregion eine Zone des Physiologischen: Der Schnee tritt Castorp in seiner kristallinen Regelmäßigkeit als »Teilchen [...] der anorganischen Substanz« gegenüber, »die auch das Lebensplasma, den Pflanzen-, den Menschenleib quellen mach[t]«. Ebd., S. 663.
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Stifters Körperlandschaften sind, das sei am Ende noch einmal betont, grundsätzlich verschieden von romantischen Seelenlandschaften. Anders als in romantischen Texten, in welchen Figuren psychologische Vorstellungswelten in die Natur hineinprojizieren, ist die Natur bei Stifter kein Bereich seelischer Identität, sondern vielmehr ein Gebiet radikaler Kontingenz: In der materiellen Welt des physiologischen Körpers kommt der sinnliche Zeichenverkehr zum Erliegen und beugt sich den Funktionsmechanismen des Stofflichen; das Subjekt erlischt, wo es den abgesteckten Bereich des Bewusstseins verlässt; der Versuch, sich romantisch in der Natur abzuspiegeln, wird von vornherein zum krisenhaften Missverständnis des Scheiterns am Realen. Anders als die populärwissenschaftlichen und materialistischen Autoren der Zeit vermeidet Stifter auch jede vereinfachende Gleichsetzung von Stoff- und Gedankenbewegungen. Vielmehr erkunden die Texte poetologisch die Verzahnung stofflicher und symbolischer Abläufe in der Bewusstseinsbildung, wie sie Helmholtz ebenfalls in den 1850er und 60er Jahren in seiner Zeichentheorie der Wahrnehmung aus wissenschaftlich-physiologischer Perspektive angeregt hatte. Stifters Interesse am Körper reflektiert das Bemühen der realistischen Kunst, die stoffliche Seite der Wirklichkeit zu bemeistern, ohne dabei das Geistige einem heillosen Materialismus preiszugeben. Die Körpererfahrung ist vor allem eine Differenzerfahrung; die symbolischen Sprachen der Wissenschaft und Kunst, so machen die Texte deutlich, können aber helfen, diese Differenz zu bewältigen und das bürgerliche Subjekt, in der nachromantischen Zeit philosophisch und politisch desillusioniert, in den stofflichen Grundlagen einer expansiven Natur zu verankern.
»Es ist ein seltsam, furchtbar erhabenes Ding, der Mensch«: Verdinglichung, absoluter Mehrwert und das perverse Erhabene in Adalbert Stifters proto-benjaminischen Stadtbildern J OSEPH M ETZ
Der im Österreich des 19. Jahrhunderts schreibende konservative Autor Adalbert Stifter und der im 20. Jahrhundert wirkende deutschjüdische Literaturkritiker und Marxist Walter Benjamin werden selten als Geistesbrüder betrachtet. Und tatsächlich klafft eine beträchtliche Lücke sowohl zwischen Stifters manchmal reaktionärer Nostalgie als auch seinen gemäßigteren klassisch-liberalen Äußerungen und dem revolutionären Energiepotential von Benjamins »explosiven« Einmischungen in das »Nachleben« von Zeiten und Dingen.1 Nichtsdestoweniger sind es die Gemeinsamkeiten beider Autoren, ihr unheimlich ähnliches Interesse für ein identisches Set an Koordinaten zur Beschreibung der Beziehung von Gegenwart und Vergangenheit – nämlich Sammeln, Melancholie und barocke Ästhetik – die den Leser zu der Frage ermuntern, ob (und wenn ja, welche) Affinitäten zwischen
1
Zu Benjamin und dem Konzept des »Nachlebens« sowie des Sprengens der Dinge aus ihren Kontexten vgl. Graeme Gilloch: Walter Benjamin. Critical Constellations, Cambridge: Polity 2002, S. 4-5.
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ihren jeweiligen Perspektiven bestehen.2 Um ein besonders auffälliges Beispiel zu nennen: Stifters nur wenig bekannter Essay-Band Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben (1844) antizipiert mit seiner Schilderung des Urbanen und seiner Darstellung von Verkaufsständen, Markthallen und dem verführerischen Schauspiel der Warenauslagen Benjamins eigene Faszination mit solchen Schauplätzen und Vorgängen in der Fragment gebliebenen »Urgeschichte der Moderne«, dem Passagen-Werk.3
2
Eine kurze Zusammenschau einiger Werke beider Autoren sollte die gemeinsamen Koordinaten deutlich machen. In Benjamins Werk finden sich zahlreiche Essays, die das Phänomen des Sammelns behandeln (zum Beispiel die Exposés für das Passagenwerk von 1935 beziehungsweise 1939 und der Essay »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker«); in Stifters Werk gibt es eine Fülle von Texten, deren Protagonisten Sammler sind (zum Beispiel Die Narrenburg, Der Nachsommer) sowie die Erzähl›Sammlung‹ Bunte Steine, die als tatsächliche Sammlung von Steinen imaginiert wird. Auf Benjamins Seite gibt es die Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels mit ihrer durchgängigen Diskussion der Welt in Ruinen; bei Stifter teilt die Erzählung Der Hochwald nicht nur den Fokus der Trauerspiel-Abhandlung auf das 17. Jahrhundert, sondern auch deren Verständnis des Barocks als einer der Trauer, dem Tod und dem Verfall zugeneigten »Naturgeschichte«. Bei beiden Autoren begegnet der Leser einer durchdringenden Atmosphäre der Melancholie zusätzlich zu den speziellen Darstellungen von Melancholie, deren Zahl zu groß ist, um sie vollständig zu benennen.
3
Wien und die Wiener, welches ursprünglich als Anthologie mit vierundfünfzig von Stifter edierten Aufsätzen erschienen war, enthielt auch zwölf Texte aus der eigenen Feder des Autors. Diese zwölf Texte wurden 1870 posthum unter dem leicht veränderten Titel Aus dem alten Wien neu veröffentlicht. An mehreren Stellen finden sich darin Bezüge zum ökonomischen Leben der Stadt Wien, vgl. zum Beispiel: »Warenauslagen und Ankündigungen«, in: ders.: Aus dem alten Wien. Gesammelte Werke in vierzehn Bänden, Bd. 13, hg. von Konrad Steffen, Basel: Birkhäuser 1969, S. 158-171. Zu Benjamins Gebrauch des Begriffes »Urgeschichte der Moderne« vgl. Gilloch, Walter Benjamin, S. 123-24.
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Ich bin nicht der erste, der diese Verbindung bemerkt hat (obgleich diese in der Tat weitgehend unkommentiert geblieben ist).4 In seinem 1982 erschienenen Essay »Die sozialgeschichtliche Bedeutung der ästhetischen Wahrnehmung bei Adalbert Stifter« untersucht Hans Höller thematische Parallelen zwischen Stifter, Benjamin und Marx (dessen Kommunistisches Manifest nur vier Jahre nach Wien und die Wiener erscheint und dessen ökonomische Hauptwerke Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie und Das Kapital noch zu Stifters Lebzeiten entstehen). Er erwähnt dabei kurz die Bedeutung der stifterschen Stadtbeschreibungen für ein Proto-Marxistisches Verständnis der Beziehung zwischen Ökonomie und Ästhetik: Und wenn auch die »gespannte Beziehung« zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs der Marxschen Analyse der Warenform und der spezifischen ästhetischen Form, in welcher bei Adalbert Stifter die Dinge erscheinen, im ersten Moment ungewöhnlich sich ausnimmt, so greift sie doch nur auf andere Weise die Auseinandersetzung auf, die Stifter etwa in seiner Stadtbeschreibung aus dem »alten Wien« vorgegeben hat.5
Auf Szenen des Sammelns und der Ästhetisierung in Stifters späterem Bildungsroman Der Nachsommer (1857) und seiner ›Sammlung‹ von Erzählungen Bunte Steine (1853) Bezug nehmend (und anscheinend
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Vielleicht ist dies nicht überraschend: Politische Trennlinien zwischen Kritikern, die traditionell Stifter gewogen sind und solchen, die sich zu Benjamin hingezogen fühlen, haben unterschiedliche ›Kanons‹ produziert, die kaum je miteinander kommunizieren zu scheinen. Benjamin selbst hat wesentlich zu diesen Trennlinien beigetragen, indem er in seinem 1918 geschriebenen, posthum erschienenen Essay zu Stifter die Art des Biedermeier-Autors, »die sittliche Welt und das Schicksal mit der Natur zu verbinden«, als »untermenschlich dämonisch und gespenstisch« kritisierte. Vgl. Walter Benjamin: »Stifter«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.2.2, Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 608-610, hier S. 609.
5
Hans Höller: »Die sozialgeschichtliche Bedeutung der ästhetischen Wahrnehmung bei Adalbert Stifter,« in: Wirkendes Wort 32.4 (1982), S. 25567, hier S. 264.
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durch die vorherrschenden Deutungen der Biedermeier-Ästhetik geprägt), liest Höller diese Momente als Versuche, erlösende »Gegenentwürfe« zur Entfremdung durch die industrielle Revolution und den zur Mitte des 19. Jahrhunderts sich im Aufschwung befindlichen Warenkapitalismus zu entwickeln.6 Höller zufolge sind Objekte in Stifters Textwelten keine »Teile eines gewerblichen oder industriellen Verwertungszusammenhangs [...] [und] keine Ware[n] [...] – in der Welt des Sammlers sind sie ›frei‹ ›von der Fron‹ ›nützlich zu sein‹«.7 Wenn Höllers Argument Theodor Adornos berühmte Behauptung in seiner »Rede über Lyrik und Gesellschaft« (1951) in Erinnerung ruft, wonach der literarische Versuch, eine rein ästhetische Sphäre zu schaffen, gerade diejenigen Kräfte der ökonomischen Instrumentalisierung indiziert, die eine solche Sphäre sowohl begehrenswert als auch unmöglich machen – eine Idee, die wiederum in Benjamins Spekulationen über einen »Liebhaberwert«, der den »Warencharakter« der Dinge »abstreifen« könnte, anklingt – dann erinnert der Sprachduktus dieser drei Kritiker, der die Autonomie, Interesselosigkeit und Zweckfreiheit ästhetischer Objekte beschwört, nicht zuletzt, wenn auch uneingestanden, an Kant: ein Denker, dessen Spuren sich auch in Stifters Nachaufklärungsästhetik finden.8 Eine Analyse eines der
6
Vgl. ebd., S. 255-256.
7
Ebd., S. 256. Das Ende von Höllers Satz (»›frei‹ ›von der Fron‹ ›nützlich zu sein‹«) zitiert Benjamins Exposé für das Passagen-Werk, »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« von 1935. Vgl. Walter Benjamin: »Paris, Capital of the Nineteenth Century (Exposé of 1935)«, in: ders.: The Arcades Project, hg. von Rolf Tiedemann, übers. von. Howard Eiland und Kevin McLaughlin, Cambridge: Belknap Press of Harvard University Press 1999, S. 3-13, hier S. 9.
8
Vgl. Höller: »Die sozialgeschichtliche Bedeutung«, S. 263 und Benjamin: »Paris, Capital«, S. 9. Vgl. außerdem Theodor W. Adorno: »Rede über Lyrik und Gesellschaft«, in: ders.: Noten zur Literatur, Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 49-68, hier S. 51-52: »Sie empfinden die Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes, Individuelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß […] der lyrische Ausdruck, gegenständlicher Schwere entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre, das frei sei vom Zwang der herrschenden Praxis, der Nützlichkeit [...]. Diese For-
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Wien-Essays, den Höller nicht erwähnt, »Ein Gang durch die Katakomben«, macht die Anklänge an Kant deutlich, legt weitere Aspekte von Stifters proleptischem Dialog mit Benjamin frei und zeigt, dass bei Stifter beide Elemente – das kantische und das benjaminische – in ein noch radikaleres oder sogar erhabenes Jenseits versetzt werden, indem die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein Ding oder Objekt gelenkt wird, das in Höllers Analyse nicht vorkommt: nämlich den Körper und zwar besonders den toten Körper. Denn, wenn das aus ökonomischen und ästhetischen Metaphern zusammengesetzte semantische Feld in Höllers Essay (Zwecklosigkeit, »ästhetischer Wert«)9 sowie die Bezugspunkte einer ›Realismus-Konstellation‹ im 19. Jahrhundert, welcher sein Essay nachspürt, ebenfalls in auffallender Weise in »Ein Gang« vorhanden sind,10 dann ist es der tote Körper, der den unheimlichen Locus oder die signifizierende Schnittstelle dieses Feldes und dieser Konstellation formt. Dieser Essay fragt deshalb nach dem Status des Leichnams in »Ein Gang durch die Katakomben«, indem er Wiens menschliche Überreste am Schnittpunkt dreier zentraler Diskurse des 19. Jahrhunderts situ-
derung an die Lyrik jedoch [...] ist in sich selbst gesellschaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt [...]. [...] Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre. Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat.« Der Fokus der kantischen Ästhetik auf die »interesselose« Rezeption des »autonomen« Kunstwerks ist wohl bekannt: Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 (Wiesbaden: Insel 1957). 9
Vgl.Höller: »Die sozialgeschichtliche Bedeutung«, S. 262.
10 Die Realismus-Konstellation, die ich meine und die beiden Essays gemein ist, besteht aus einer verwobenen Thematik von industrieller Revolution, Verstädterung, Kommodifizierung, dem Aufstieg der utilitaristischen Naturwissenschaften, dem Fortschrittsglauben und – nur scheinbar paradox – dem Kulturpessimismus und der aufkeimenden Angst vor dem Nihilismus.
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iert: der Aufstieg des Kapitalismus, die Optik der Naturwissenschaften und die (leichenhaften) Überreste des Erhabenen. Auf welche Weise deuten Stifters Leichen auf die Artikulation eines neuen – utopischen oder transgressiven – Erhabenen hin angesichts gerade derjenigen modernen Kräfte, die das Menschliche zum Kadaver gemacht haben? Wie erlangen die Energien eines bestimmten Verständnisses von – und Widerstands gegen – das soziokulturelle und ökonomische System des Realismus im 19. Jahrhundert ihre Apotheose im Realen des toten Körpers: in der Leerstelle, die der tote Körper gerade in seiner Unfähigkeit zu signifizieren bezeichnet und in den Exzessen, die er insbesondere durch seine Geschlechtlichkeit und Erotisierung paradoxerweise freisetzt? »Ein Gang durch die Katakomben« erzählt Stifters unterirdischen Streifzug durch die mit Leichen gefüllten Katakomben des Wiener Stephansdoms.11 Wie in vielen Novellen des Autors beginnt das autobiographische Stück mit allgemeinen philosophischen Überlegungen: Der Verlust der »tiefe[n] Gemütskraft und Glaubenstreue unserer Voreltern« wird beklagt und der bloß »materiell-nützliche« Charakter der zeitgenössischen »Wissenschaft«, der »Industrie« und des »Fortschritt[s]« werden scharf kritisiert – also genau diejenigen Elemente der Moderne um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Höller oben auflistet.12 In auffallender Weise öffnen sich Stifters Katakomben auf eine Welt des immer stärker werdenden Verkehrs, Handels und Warenkapitalismus. Der frühere Stephansfriedhof ist durch »ein[en] geräumige[n] Stadtplatz mit schönen Häusern und Warenauslagen« ersetzt worden, und »glänzende Karossen rollen über das Pflaster, unter dem die Reste unserer Vorfahren ruhen«.13 »Eisenbahnen und Fabriken« ersetzen »Dome und Altäre«, und Kirchen, sofern sie überhaupt noch
11 Adalbert Stifter: »Ein Gang durch die Katakomben«, in: ders.: Aus dem alten Wien. Gesammelte Werke in vierzehn Bänden, Bd. 13, hg. von Konrad Steffen, Basel: Birkhäuser 1969, S. 39-60. 12 Ebd., S. 39-41. 13 Ebd., S. 43. In der Passage heißt es weiter: »[D]ie Denkmale, die sie einst gründeten, um die Stätte ihrer Angehörigen auf ewige Zeiten zu bezeichnen, sind von unserer Industrie und unserem Verkehre bis hart an die Mauern der Kirche gedrängt worden.«
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gebaut werden, entstehen in einem kapitalistisch-utilitaristischen Stil, der »sehr nützlich [...], einem Zinshause ähnlich« ist.14 Sogar der Eingang der titelgebenden Katakomben ist nicht, wie Stifter das zunächst vermutet, unter dem Stephansdom lokalisiert, sondern in einem »Haus des Platzes, das [...] Handelsgewölbe enthält«.15 Die Passage durch diese Einkaufspassagen stellt selbst den katabatischen Abstieg in die Unterwelt unter das Zeichen der Kommerzialisierung. Die Katakomben lassen eine makabre Welt von Skeletten und »lauter Leichen und lauter Mumien« erkennen, »wie Holz aufgeschichtet, viele Klafter lang und hoch« – »ein fabelhaft Gebiet des Todes«, »immer fortgesetzt und immer fortgesetzt«. 16 Die Verbindungen zu den klassischen Barockmotiven von vanitas, Vergänglichkeit und memento mori sind offensichtlich, und Stifter macht sich ohne Verzug daran, die didaktische Dimension des barocken Subtextes zu verwerten: »Wer mag die Tote vor meinen Augen – wer mag sie einst gewesen sein? Welchen Unterschied auch die Menschen im Leben machen, wie nichtigem Flitter sie auch Wert geben [...]: der Tod macht alles gleich, und vor ihm sinkt lächerlich nieder, was wir uns hienieden bemühen, wichtig zu finden.«17 Was aber faszinierender ist: Der Leser betritt hier den Bereich dessen, was Eric Santner, Walter Benjamins Interesse an ausrangiertem Plunder diskutierend, als »objects that have survived the form of life in which they had their meaning, in which their concept was still alive« beschreibt.18 Diese Leichname/Objekte nehmen nicht nur Benjamins Faszination für barocke Melancholie vorweg, sondern auch seine Faszination für das, was er als den quintessenziell melancholischen Modus des De- und Rekontextualisierens im Barock versteht: nämlich die Allegorie mit ihren willkürlichen Inventarlisten ›toter‹ Signifikanten.19
14 Ebd., S. 41. 15 Ebd., S. 45-46. 16 Ebd., S. 51, S. 46, S. 52, S 56. 17 Ebd., S. 49. 18 Eric L. Santner: On Creaturely Life. Rilke, Benjamin, Sebald, Chicago: University of Chicago Press 2006, S. 78. 19 Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 204-205: »Wird der Ge-
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Stifters dekontextualisierte Körper betrachtend mag sich der Leser zu Recht fragen: Wofür stehen diese denn nun eigentlich allegorisch? Eine Antwort lautet natürlich: die Moderne selbst, zu der die toten Körper eine komplexe Beziehung aufweisen. Denn, wenn die Nekropole unter der Erde als unheimlicher Spiegel für die Metropole über der Erde fungiert, dann sind es die lange Verstorbenen, die als Vertreter einer zwar vergangenen, aber immer noch vitalen »fromme[n] Kraft« hervortreten, während die lebenden Bewohner der Stadt gerade durch die entmenschlichenden Kräfte des Warenverkehrs, der Industrie und des Fortschritts – das heißt durch den Inbegriff des hektischen Treibens des modernen Wien – ironischerweise in die wirklichen »Toten« oder die spirituell »verflachten« Figuren lebender Toter verwandelt werden: »In der Glätte und Verflachung unserer Zeit ging alle tiefe Gemütskraft [...] unserer Voreltern unter [...];« »und von denen, die sich in den Besitz des [in unserer Zeit] menschlich Erworbenen setzen, [...] bei wie vielen ist es zuletzt [...] ein wirklich Menschliches (Humanes)? Oder tragen sie es nicht als toten Schatz [...] in sich?«20 Und dennoch geht hier noch etwas anderes, im eigentlicheren Sinne ›Benjaminisches‹ vor sich. In den auffälligen und wiederholten Beschreibungen der Leichen in den Katakomben als »wertlos[e] Ding[e]« (»wie das wertloseste Ding«; »eine wertlose, schauererregende Masse«; »ein wertlos Ding [...], hingeworfen in das Kehricht, daß es liege wie ein anderer Unrat«) – also in der Figuration der Leichname gleichzeitig in Bezug auf ihre ›Dinghaftigkeit‹ als auch auf ihren ›Wert‹ (hier Wertlosigkeit) – findet der Leser eine weitere Dimension,
genstand unterm Blick der Melancholie allegorisch, läßt sie das Leben von ihm abfließen, bleibt er als toter, doch in Ewigkeit gesicherter zurück, so liegt er vor dem Allegoriker, auf Gnade und Ungnade ihm überliefert. Das heißt: eine Bedeutung, einen Sinn auszustrahlen, ist er von nun an ganz unfähig; an Bedeutung kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm verleiht.« Als tote Materie, die von ihrem lebenden Kontext abgelöst und vollständig der sinngebenden Macht ihres Betrachters überantwortet wurde, ist die Leiche ein besonders passendes Bild, nicht nur für die Melancholie, sondern für die Allegorie selbst; vgl. Gilloch: Walter Benjamin, S. 209: »Allegory is at home with the grinning skull and the corpse.« 20 Stifter: »Ein Gang«, S. 39-40.
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nicht nur der Rhetorik der Verdinglichung oder Objektifizierung, sondern auch der Kommodifizierung: eine Rhetorik, welche die für Stifters Blick ausgestellten Leichname noch einmal (wenn auch auf andere Art und Weise) als unheimliche Parallelen zu den direkt darüber liegenden, in den »Warenauslagen« ausgestellten Produkten positioniert.21 Hier treten die Katakomben als eine Art unterirdische ›überdachte Arkade‹ hervor, deren Inhalt Benjamins Gedankengang im Passagen-Werk vorwegnimmt. Denn in beiden Passagen ist es die Entwertung unzeitgemäßer Objekte – in Benjamins Fall Waren, die ihren modischen Tauschwert durch das Vergehen der Zeit verloren haben und nun als aus dem Zusammenhang gerissener Abfall erscheinen, in Stifters Fall Körper »hingeworfen in das Kehricht, daß [sie] lieg[en] wie ein anderer Unrat«22, welche es diesen Objekten erlaubt, in einem anderen allegorischen, potentiell utopischen Licht zu erscheinen. Bevor wir nun diese »Dinge« weiter verfolgen, gilt es, zwei weitere rhetorische Strategien aufzudecken, die in Stifters Katakomben ausgestellt sind: die Rhetorik der Naturwissenschaften und die des Erhabenen. Denn beide erweisen sich als entscheidend für Stifters speziel-
21 Ebd., S. 44, S. 47, S. 52. Was die Parallelen zwischen den ›ausgestellten‹ Leichen und den Warenauslagen der Geschäfte betrifft, vgl. außerdem den oben erwähnten Abstieg in die Katakomben von einem Gebäude aus, in dem sich ein »Handelsgewölbe« befindet (ebd., S. 45-46). Auf eine gewisse Art und Weise können die Leichen auch als inverse oder fotonegative Parallelen zu den Waren der Geschäfte verstanden werden. Wie Marx’ »fetischisierte« Waren verbergen die Leichen das, was man ihre ›Arbeitsgeschichte‹ nennen könnte: Sie erscheinen in den Katakomben gleichsam ohne Vergangenheit. Anstatt aber eine Mystifikation des Tauschwerts zu produzieren, platziert diese ›Verschwiegenheit‹ die Leichen (natürlich zusammen mit ihrem Status als Tote) allerdings jenseits allen Tausch- und Gebrauchswerts: Sie sind Anti-Waren, wie unten noch zu zeigen sein wird. Zu Warenfetischismus, Gebrauchswert und Tauschwert vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd.1.1: Der Produktionsprozess des Kapitals, hg. von Friedrich Engels, Berlin: Dietz 1951, S. 39-89. 22 Stifter: »Ein Gang«, S. 52.
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len frührealistischen Moment; beide umkreisen, konvergieren in und verkomplifizieren diesen seltsam überdeterminierten toten Körper und seine Werterhetorik noch weiter. Der experimentelle Blick (und die Berührung) des ›Anatomen‹ Stifter befördert »Ein Gang« ohnehin über eine traditionelle Kontemplation des Todes hinaus in den Bereich der wissenschaftlichen Untersuchung: Es ist, als wenn der Autor mitten in seiner »[i]nnerste[n] [E]rschütter[ung]« nicht anders kann, als mit der Begeisterung des Forschers festzustellen: [D]ie Haut [der Leichen] war sanft getrocknet und [...] anzufühlen wie weichgegerbtes Leder, das Zellgewebe des Fleisches war ebenfalls ausgetrocknet und füllte die Haut wie eingestopfte Sägespäne, so daß selbst die Muskeln elastisch blieben, dem Drucke unserer Stöcke wichen und wieder sachte emporschwollen, wenn der Druck nachließ.23
Aber die naturwissenschaftliche Rhetorik ist da besonders deutlich und relevant für Stifters Resemantisierung der Leiche, wo der Essay vanitas als Astronomie inszeniert: [D]ie Erde selber wird von den nächsten Sonnen nicht mehr gesehen, und hätten sie dort auch Röhre, die zehntausendmal mehr vergrößerten als die unsern. Und wenn in jener Nacht, wo unsere Erde auf ewig aufhört, ein Siriusbewohner den schönen Sternenhimmel ansieht, so weiß er nicht, daß ein Stern weniger ist [...]. Und tausend Milchstraßen weiter außer dem Sirius wissen sie auch von seinem Untergange nichts, ja sie wissen nichts von unserm ganzen Sternenhimmel; nicht einmal ein Nebelfleck, nicht einmal ein lichttrübes Pünktchen erscheint er in ihrem Rohre, wenn sie damit ihren nächtlichen Himmel durchforschen.24
Hier evozieren die apokalyptische mise-en-abîme und der unendliche Regress des Universums weniger eine religiöse als eine physikalischmaterielle und säkular-wissenschaftliche (also im Sinne des 19. Jahrhunderts ›realistische‹) Weltsicht und transportieren außerdem einen
23 Stifter: »Ein Gang«, S. 51-52. 24 Ebd., S. 54.
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Anflug von Nihilismus. Dies lässt sich am beunruhigenden Hin und Her des Essays zwischen Gott und dem sinnlosen Naturgesetz ablesen: Ach! welch eine furchtbare, eine ungeheure Gewalt muß es sein, der wir dahingegeben sind, daß sie über uns verfüge – und [...] daß vor ihr millionenfach ein Kunstwerk zugrunde geht, das sie selbst mit solcher Liebe baute, und zwar gleichgültig zugrunde geht, als wäre es eben nichts! – Oder gefällt sich jene Macht darin, im öden Kreislaufe immer dasselbe zu erzeugen und zu zerstören? – es wäre gräßlich absurd!25
Die im Essay verwendete Rhetorik des Erhabenen verweist auf einen ähnlichen Zusammenfluss von Tod, säkularem Realismus, proto-existentialistischem Grauen und einem Wertediskurs, an dessen Brennpunkt sich der tote Körper befindet. Ich habe weiter oben von kantischen Resonanzen in dieser Rhetorik gesprochen und diesbezüglich ist es nun Zeit für einige Klarstellungen. Wie vielfach von der Forschung angemerkt worden ist, war kantisches Gedankengut im katholischen, von der Gegenreformation geprägten Österreich weitaus weniger populär als in den deutschen Staaten außerhalb des habsburgischen Herrschaftsgebietes; Stifter mag den Philosophen deshalb weitgehend aus zweiter Hand gekannt haben.26 Dennoch schwingt in wichtigen Bildund Themenbereichen in »Ein Gang« Kants hochgradig einflussreiche »Analytik des Erhabenen« aus der Kritik der Urteilskraft (1790) mit ihrer Unterscheidung zwischen »mathematischem« und »dynamischem« Erhabenen mit. Der aufschlussreichste Aspekt dieser Resonanz liegt aber vielleicht gerade in der Beobachtung, dass sich das Erhabene bei Stifter als gefährlich un-kantisch herausstellt. Um Kants Argument in aller Kürze zusammenzufassen: Das Erhabene – niemals ein Aspekt der Natur als solcher, sondern des menschlichen Geistes, der die Natur wahrnimmt – wird evoziert, wenn Phä-
25 Ebd., S. 52. Vgl. die Vorwegnahme eines existentialistischen Lexikons (»absurd«). All diese Profanation macht Stifters Anspruch auf die »innigste[] Unsterblichkeitsüberzeugung« (ebd.) weniger (als) glaubhaft. 26 Vgl. Helena Ragg-Kirkby: Adalbert Stifter’s Late Prose. The Mania for Moderation, Rochester, New York: Camden 2000, S. 32, Fußn. 15.
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nomene das Fassungsvermögen der Einbildungskraft oder der Sinne übersteigen (das »mathematisch-Erhabene« wie in der Idee des Unendlichen) oder wenn Phänomene das Subjekt vollständig zu vernichten drohen (das »dynamisch-Erhabene«, evident in solchen Manifestationen der Macht der Natur wie Wirbelstürme oder Erdbeben). In beiden Fällen ist das Erhabene im eigentlichen Sinne die Antwort des Vernunftvermögens auf die wahrgenommene Gefahr: Im Fall des mathematisch-Erhabenen bestätigt gerade die Fähigkeit der Vernunft, die Idee des Unendlichen zu postulieren, die Existenz einer den Sinnen und der Einbildungskraft überlegenen Kraft im menschlichen Geist (also einer der »bloßen« Natur überlegenen Instanz); im Fall des dynamisch-Erhabenen bestätigt die Fähigkeit, ethische Prinzipien selbst im Angesicht drohender Vernichtung aufrechtzuerhalten, die Existenz einer korrespondierenden »moralischen« Kraft, die der physischen Natur gleichfalls überlegen ist.27 Der beiden Fällen gemeinsame springende Punkt ist der Triumph der Vernunft nach ihrer momentanen Störung. Ob sie dem grenzenlosen Raum gegenübersteht (ein Bild, das sowohl in Kants Kritik als auch in Stifters Essay auftaucht) oder einem Vulkanausbruch: Die Vernunft gerät ins Wanken, um am Ende umso machtvoller zurückzukehren.28 Stifters Essay inszeniert eine seltsame Mischung von Bedingungen für die Erfahrung des dynamischen und mathematischen Erhabenen. Tatsächlich handelt es sich bei der extravaganten, hyperbolischen und letztlich undurchführbaren Darstellung der Unzahl der toten Körper in den Katakomben um eine Apotheose des Todes selbst – die zerstörerischste »dynamische« Kraft von allen – die unter der Maßgabe des mathematischen Erhabenen beschrieben wird. Ein kurzer Blick auf Stifters Gewölbe unzählbarer Leichen, »wieder andere und wieder andere«, sollte dies klar machen: »Immer weiter, immer verwickelter und größer entfaltete sich diese Stadt der Grüfte; immer neue Tote waren zu treffen; Trümmer von Särgen, Hügel und Wälle von getrocknetem Moder, dann kommen wieder Knochen, dann leere Gewölbe und Gänge – und wie weit sich dies alles hinerstreckte, weiß man jetzt gar nicht mit Gewissheit«; »eine Unzahl Särge [...], klafterhoch aufeinan-
27 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 164-204. 28 Vgl. ebd., S. 179-80 und Stifter: »Ein Gang«, S. 54.
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dergeschichtet«; »immer fortgesetzt und immer fortgesetzt«; »durch Gänge und Gewölbe, die sich ewig ineinander münden«.29 Obgleich nichts Irdisches jemals dem gleichen könnte, was Kant »das schlechthin Große« nennt, dessen einziger Vergleichsmaßstab das Universum selbst in seiner Gesamtheit ist (»Es ist eine Größe, die bloß sich selber gleich ist«),30 scheint es so, dass Stifters Essay, »vollgestopft mit Toten«,31 gerade diesen Effekt zu generieren versucht: Die Katakomben und ihre Darstellung durch Stifter enthalten mehr Leichen, als jemals in sie hineinpassen könnten. Das Resultat ist nicht nur ein (wiederum durch die Astronomie beeinflusstes) Bild der ausgebrannten Erde, das nihilistisch den gesamten Planeten zu einer kosmischen Katakombe/Leiche reduziert (»ja ist nicht am Ende [die Erde] selber vergänglich und wird eine Leiche, so wie die, die man jetzt so sorglich in ihrem Bauche verbirgt?«).32 Es ist zudem nicht nur ein Erlebnis, das »überwältigend für Gefühl und Phantasie« ist,33 das aber noch innerhalb eines kantischen »mathematischen« Rahmens verbliebe (überwältigend für die Sinne und die Einbildungskraft), sondern etwas, was »riesenhaft, all unser Denken vernichtend« auftritt – ein vollständiges und unumkehrbares Versagen des Verstehens und der Vernunft, so dass »alles andere abfällt und vor seiner Gewalt nichtig wird«.34 Hier bewegt sich Stifters Essay auf die Formulierung eines neuen Erhabenen hin, das den ›desublimierenden‹ und profanisierenden Kräften der Moderne entspricht: ein Erhabenes, dass sowohl zu Benjamin zurück- als auch über ihn hinausführt. Denn in der vollstän-
29 Ebd., S. 50-51, S. 54, S. 55, S. 56, S. 58. Dabei ist zu beachten, dass Stifters Beschreibungen die endlosen Leichenhaufen in eine alpine oder arktische Landschaft verwandeln, den erhabenen Bildlandschaften eines Caspar David Friedrich oder Joseph Turner nicht unähnlich: »Ein Berg von Moder stieg gegen die Gewölbemauer empor; aus ihm ragten Lappen von Gewändern heraus« (ebd., S. 51); »mit gräßlichen Trümmern und Splittern herausragend aus der Finsternis des Gewölbes« (ebd., S. 55). 30 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 169-171. 31 Stifter: »Ein Gang«, S. 58. 32 Ebd., S. 53. 33 Ebd., S. 51. 34 Ebd., S. 52 (meine Hervorhebung).
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digen Entleerung, die Stifter in den Phrasen »all unser Denken vernichtend« und »alles andere abfällt« andeutet, wird das Selbst in eine Art Ek-stasis und Ab-jektion getrieben (»Ich war so aus mir selber getreten«)35 – von einem pseudo-kantischen zu einem proto-bataillschen Erhabenen.36 Im Folgenden sollen beide Aspekte dieser stifterschen Bewegung, die auf Denkfiguren Benjamins und Batailles hinführen, untersucht werden. Um der benjaminischen Bewegungsrichtung von Stifters Essay Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen wir sowohl Stifters ›ökonomische‹ Inskribierung des toten Körpers in eine überdeterminierte Werterhetorik im Auge behalten als auch die oben suggerierte Beziehung zwischen der hektischen Welt der Industrie und des Warenkapitalismus über der Erde und der totenstillen Welt der ausgestellten Leichnam-Objekte unter der Erde in Betracht ziehen. In diesem Zusammenhang ist es eine vielsagende Koinzidenz, wenn Santner in einer Erörterung des Themas ›Benjamin und die Ökonomie des 19. Jahrhunderts‹ anmerkt, dass Gebrauchs- und Tauschwert von Waren unter dem Druck des Marktes »verrotten« (»decompose under pressures from the market«).37 »Ein Gang durch die Katakomben« mit seinen »wertlose[n] Dinge[n]«, die buchstäblich unter dem nieder-
35 Ebd. 36 Vgl. Georges Bataille: »Preface« to Madame Edwarda, in: ders.: My Mother, Madame Edwarda, The Dead Man, übers. von Austryn Wainhouse, London: Marion Boyars 1989, S. 137-146, hier S. 140-141: »There seems to exist a domain where death signifies not only decease and disappearance, but the unbearable process whereby we disappear despite ourselves and everything we can do, even though, at all costs, we must not disappear. It is precisely this despite ourselves, this at all costs which distinguish the moment of extreme joy and of indescribable but miraculous ecstasy. If there is nothing that surpasses our powers and our understanding, if we do not acknowledge something greater than ourselves, greater than we are despite ourselves, something which at all costs must not be, then we do not reach the insensate moment towards which we strive with all that is in our power and which at the same time we exert all our power to stave off.« 37 Santer: On Creaturely Life, S. 77.
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drückenden Gewicht der »Warenauslagen« zerfallen, macht diese Abstraktion konkret. Die menschliche Leiche wird zum Objekt gemacht, bedeutungslos, wertlos, Grauen einflößend und erhaben, so wie es Stifter in einem Satz zusammenfasst, der als Motto für den gesamten Essay dienen könnte: »Es ist ein seltsam, furchtbar erhabenes Ding, der Mensch!!«38 Aber, wenn es die kollektiven Kräfte der Moderne im 19. Jahrhundert sind, die konvergieren, um diese ›tropische‹ Leiche (unter anderem für das durch den Warenkapitalismus und die Wissenschaften abgetötete Leben stehend) zu manifestieren, dann stellt sich die Frage, ob Stifter, wie Benjamin Jahrzehnte später, auch einen Weg eröffnet, um mit seinen eigenen ›nutzlosen Dingen‹ die Kräfte der Verdinglichung, Kommodifizierung und Entwertung gegen sich selbst zu richten: ein Weg nämlich, der das utopische Potential der Leichen entfesselt.39 Denn, indem er die Leiche als »das wertloseste Ding«40 darstellt – also, als das Ultimative in Sachen Dinghaftigkeit jenseits von Gebrauchs- und Tauschwert – verleiht Stifter dem toten Körper paradoxerweise so etwas wie absoluten Wert. Gerade in ihrer Wertlosigkeit, Nutzlosigkeit und Bedeutungslosigkeit werden Stifters Leichen – buchstäblich ›aus dem Umlauf gezogen‹ und außerhalb aller (kapitalistischen, utilitaristischen und signifizierenden) Ökonomien, welche sie fassen oder begrenzen würden – gleichzeitig zu exzessiven Signifikanten (und Signifikanten des Exzesses) genau so wie die zufälligen und armseligen ›toten‹ Signifikanten in Benjamins Theorie der Allegorie: Vollkom-
38 Stifter: »Ein Gang«, S. 40. 39 Zu Benjamins Bestreben, das in den »fetischisierten« Waren inhärente utopische Potential zu entfesseln vgl. Gilloch: Walter Benjamin, S. 127128: »[According to Benjamin], [c]ommodities [...] are nothing other than ›wishimages‹, disguised representations of genuine wants and aspirations that remain thwarted under capitalism. [...] The fetishized commodity is not rejected as a mere product of ideological mystification attending economic exploitation. Rather, it is seen as a complex, contradictory entity possessing both negative and positive moments – capitalist deceptions, but also utopian aspirations.« 40 Stifter: »Ein Gang«, S. 44.
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men still signifizieren sie gleichzeitig alles und nichts.41 Aber die Leichen in den Katakomben entfesseln diesen ›erhabenen‹ Exzess auch noch auf andere Art und Weise, welche der bereits erwähnten benjaminischen parallel ist, sie aber auch kompliziert und transzendiert. Um dies zu zeigen, müssen wir uns einer Passage zuwenden, die auf mehr als eine Art den Höhepunkt des stifterschen Essays bildet. Ungefähr zur Hälfte des Textes begegnet Stifter einer weiblichen Leiche (die Geschlechtszugehörigkeit ist nicht unerheblich hier) »bloßgegeben dem Blicke jedes Beschauers« und »unverwahrt vor rohen Händen«.42 Mit dieser Vorwegnahme der freudschen Diskussion von der Ausgeliefertheit der Leiche an die Launen der Lebenden in Totem und Tabu43 – und der radikalen Inszenierung der klassischen symbolischen Position des weiblichen Körpers gegenüber dem männlichen Blick in der patriarchalischen Kultur – wird Stifters Phantasie in Gang gesetzt. Er schreibt: »[D]ie Züge des Gesichts sind erkennbar, die Glieder des Körpers sind da, aber die züchtige Hülle desselben ist verstaubt und zerrissen, nur einige schmutzig schwarze Lappen liegen um die Glieder und verhüllen sie dürftig, auf einem Fuße schlottert ein
41 Zu Benjamin, Allegorie und der Aufladung dekontextualisierter Überbleibsel der Vergangenheit mit einem Exzess an Signifikation vgl. Santner: On Creaturely Life, S. 78-79. Zur Verbindung von Allegorie und Warenform bei Benjamin – eine Verbindung, in der die rhetorische Einschreibung der stifterschen Leichen in den Katakomben nachklingt – vgl. Gilloch: Walter Benjamin, S. 209: »[T]he eventual fate of the commodity is disintegration, obsolescence and ridicule. The afterlife of the object is exactly that process of decay and decomposition in which the spell of the fetishized commodity, resplendent in the fashionable arcades, is broken. [...]. Just as allegory hollows out language and tumbles into the abyss of meaninglessness, so the commodity empties out use-value and circulates within the dizzying vertigo of the market.« Eben in dieser Entleerung (»emptying out«) besteht das utopische Potential der Leichen. 42 Stifter: »Ein Gang«, S. 48. 43 Vgl. Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Bd. 9, hg. von Anna Freud, Edward Bibring und Ernst Kris, London: Imago 1940, S. 78.
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schwarzer seidener Strumpf, der andere ist nackt, die Haare liegen wirr [...].«44 Das auffällig erotische Vokabular der Passage liest sich wie die Beschreibung einer zur Wende des 20. Jahrhunderts von Egon Schiele gemalten Prostituierten (»züchtig«, »schmutzig«, »verhüllen [die Glieder] dürftig«, »schwarzer seidener Strumpf«, »nackt[er Fuß]« [= österreichisch für »Bein«], »die Haare liegen wirr«). Tatsächlich findet Stifter in der »Zerfetzung des Anzuges und [...] Unordnung [der Leiche] [...] eine Art von Liederlichkeit« – ein Wort, dessen Bedeutungsspektrum von einfacher Unordentlichkeit bis hin zu sexueller Ausschweifung reicht.45 Die gesamte Szene der durch das Schauen verursachten Schändung endet in einer Explosion gewalttätigen, zugleich entsetzten und ekstatischen Begehrens: »[W]er weiß, ob nicht bald eine mutwillige Hand erscheint, sie aus dem Sarge reißt und nackt und zerrissen dort auf jenen Haufen namenlosen Moders wirft, wo sie dann jeder, der diese Keller besucht, emporreißt, anleuchtet, herumdreht und wieder hinwirft.«46 Auffallend an diesem imaginierten danse macabre und der gleichzeitigen nekrophilen Massenvergewaltigung ist ihr bloßer, zwanghafter und spektakulärer Exzess: Einfach »jeder«, der die Katakomben betritt, muss die Leiche aus dem Sarg oder Haufen namenlosen Moders »reißen«, sie »herumdrehen« und den »nackt[en] und zerrissen[en]« Körper zurückwerfen, damit er erneut »zerrissen« werden kann. Nach dieser Beschreibung wäre man wohl auch nicht überrascht, wenn »jeder, der diese Keller besucht« auch damit anfangen würde, Stücke aus der Leiche zu reißen und sie aufzuessen. Und trotz Stifters Versicherungen, dass er die tote Frau vor solcher Schändung schützen möchte, wird der Leser den Eindruck nicht los, dass das Begehren der libidinös aufgeladenen Passage Stifters eigenes ist – dass er nicht nur in der Kleidung der Leiche mit der vielsagend symbolischen »Spitze [seines] Stockes« herumstochert, um die Dinge, wie er behauptet »anständig[er]« zu machen.47 In dieser entscheidenden Szene wird der Mangel in eine Art radikalen, absoluten oder obszönen Überschuss verwandelt. In einem An-
44 Stifter: »Ein Gang«, S. 48. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 49. 47 Ebd., S. 48.
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fall von dem, was ich das perverse Erhabene nennen würde, wird die »wertlose« Leiche – sichtbar sexualisiert und weiblich – zum »furchtbar erhabene[n] Ding«, das eine unkontrollierbare Flut (männlichen) Begehrens, angewiderter Erotik und quasi-dionysischen Rausches auslöst. Es wäre verlockend, obschon historisch inkorrekt, in utopischer Lesart hinzuzufügen: Und das Menschliche selbst, seiner Abwertung durch Wissenschaft, Säkularisation und Kapitalismus entkommend, wird in eine Ökonomie des radikalen Überschusses jenseits von instrumentalem ›Marktwert‹ freigesetzt, gleichsam re-sakralisiert – obgleich das vielleicht das unbewusste Begehren des Textes ist. Nichtsdestoweniger: In ihrer Vermischung von Tod und Sexualität, ihrer Mitteilung lustvoll entsetzter jouissance, ihrer Katalysierung von Überschuss und Exzess und – kaum nötig hinzuzufügen – ihrer Komplizenschaft in einer misogynistischen ›Ökonomie‹, schaut Stifters Figur der erhabenen weiblichen Leiche nicht so sehr auf das kantische Universum zurück, nicht einmal antizipiert sie (in diesem Fall) ein benjaminisches. Stattdessen, wie ich bereits vorgeschlagen habe, ahnt sie die erotischen Transgressionen von Georges Bataille voraus, der, um noch einmal daran zu erinnern, ebenfalls ein radikales Überdenken der Ökonomie vorschlug (basierend auf der Annahme, dass Exzess, nicht Knappheit das fundamentale menschliche Problem sei) – und der gerade in der Konvergenz von Tod, Erotik und dem Grauen, das er mit dem weiblichen Körper assoziierte, die Anwesenheit und das Beharren des Heiligen sah.48 Im Lichte all dessen ist es zugleich
48 Zu Batailles ökonomischer Theorie vgl. Georges Bataille: The Accursed Share. An Essay on General Economy. Bd.1: Consumption, übers. v. Robert Hurley, New York: Zone 1991. Zur Konvergenz von Tod, Erotik, Grauen, dem weiblichen Körper und dem Heiligen vgl. Georges Bataille: Erotism: Death and Sensuality, übers. von Mary Dalwood, San Fransisco: City Lights 1986. Wenn man Stifters »liederliche« weibliche Leiche als eine Art Prostituierte liest (vgl. die oben genannten Ähnlichkeiten zwischen Stifters Repräsentation der Leiche und Schieles Skizzen), gelangt man interessanterweise zu einem weiteren Schnittpunkt zwischen Benjamin und Bataille. Beide Denker waren zutiefst interessiert an der Figur der Prostituierten: Für Benjamin diente sie der Verkörperung seiner Theorie der »verfallenden« Ware (vgl. Gilloch: Walter Benjamin, S. 210); Bataille
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erhellend und beunruhigend zu erkennen, dass sich Stifter, in der Vermischung von historischer Scharfsinnigkeit, Blindheit gegenüber der Gewalttätigkeit seines sexualisierten Blickes, unterirdischer Subversion und ökonomischer Einsicht, seiner Zeit so erstaunlich bewusst und voraus war, ihr aber auch in erschreckender Weise verhaftet blieb. (Übersetzt von Silke Brodersen)
sah in ihr die die Figur des »schmutzigen« und »grauenhaften« Heiligen selbst (vgl. Georges Bataille: »Madame Edwarda«, in: ders.: My Mother, Madame Edwarda, The Dead Man, S. 135-59). Die Gesellschaftstheoretiker Benjamin und Bataille waren Freunde: Es war Bataille, der die Notizen für Benjamins Passagen-Werk in der Bibliothèque Nationale versteckte, um sie vor den vorrückenden Nazis zu schützen. Dass der ›konservative‹ Stifter ein unerkannter intellektueller Ahnherr beider sein könnte, ist ein faszinierender Gedanke.
Der Schmer des Realismus: Der Körper in Kellers Spiegel, das Kätzchen P AUL F LEMING
»Manna ist Manna, Krammetvogel ist Krammetvogel.« MARTIN LUTHER1
Einer der zahlreichen Zugänge zur Figuration des Körpers im deutschsprachigen Realismus besteht in der Vermessung der Strecke, die in nur wenigen Jahren zurückgelegt wurde zwischen den Höhen des spekulativen Idealismus, der den Geist im absoluten Wissen zu sich selbst kommen ließ, und den nüchterneren Ebenen der Jahrhundertmitte. In einem Diktum Ludwig Feuerbachs aus dem Jahre 1850 findet diese Distanz ihren vielleicht prägnantesten Ausdruck: »Der Mensch ist, was er ißt.«2 Dasein als ›Beleibtsein‹ – »[i]m Leib sein heißt in der
1
Martin Luther: »Die Colloquia oder Tischreden«, in: Karl Eduard Förstemann (Hg.), Martin Luther. Sämmtliche Schriften. Bd. 12, Leipzig: Gebauersche Buchhandlung, 1844, S. 181.
2
Ludwig Feuerbach: »Die Naturwissenschaft und die Revolution«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Ludwig Feuerbach. Anthropologischer Materialismus. Ausgewählte Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M.: Ullstein 1985, S. 212-30, hier S. 229. Vgl. Hans Blumenbergs Überlegungen zu diesem feuerbachschen Satz in: Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1987, S. 20-22.
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Welt sein«3 – wird konstituiert und aufrechterhalten durch die Aufnahme von Nahrung, durch die Inkorporation und ›Verinnerlichung‹ von Teilen der äußeren Welt. Mit anderen Worten, die Beziehung zwischen Selbst und Welt wird bei Feuerbach vermittelt durch die älteste und notwendigste Ausformung dieses Verhältnisses – das Essen, den Konsum der Welt da draußen: »Das Sein ist eins mit dem Essen: Sein heißt Essen; was ist, isst und wird gegessen.«4 Zu sein bedeutet ein Körper zu sein, der – damit der Mensch ein Mensch sei – sich kontinuierlich nähren muss. Wenn Feuerbach Sein und Essen gleichsetzt, wird nicht nur Nahrung als das den Menschen wesentlich Bestimmende postuliert, sondern der Körper in den Rang des Geistes erhoben, indem beide fortan untrennbar verbunden sind.5 Mit Feuerbach wird der Leib das Zentrum der Existenz: Wir sind, was wir essen, weil wir vor allem und zuerst einmal immer Körper sind.6
3
Die Passage, in der sich dieser wichtige Satz bei Feuerbach findet, lautet: »Allein das Ich ist keineswegs ›durch sich selbst‹ als solches, sondern durch sich als leibliches Wesen also durch den Leib, der ›Welt offen‹. […] Durch den Leib ist Ich nicht Ich, sondern Objekt. Im Leib sein heißt in der Welt sein. Soviel Sinne – soviel Poren, soviel Blößen. Der Leib ist nichts als das poröse Ich.« Feuerbach: »Einige Bemerkungen über den ›Anfang der Philosophie‹ von Dr. J. F. Reiff«, in: Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke. Bd. 10. Kleinere Schriften 2, hg. von Werner Schuffenhauer, Berlin: Akademie Verlag 1990, S. 143-53, hier S. 151.
4 5
Feuerbach: »Die Naturwissenschaft und die Revolution«, S. 222. »Die Trennung des Menschen in Leib und Seele, in ein sinnliches and ein nicht-sinnliches Wesen, ist nur eine theoretische: in der Praxis, im Leben verneinen wir sie.« Feuerbach: »Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist«, in: Ludwig Feuerbach. Gesammelte Werke. Bd. 10. Kleinere Schriften 3, hg. von Werner Schuffenhauer, Berlin: Akademie Verlag 1990, S. 122-150, hier S.140.
6
In »Wider den Dualismus von Leib und Seele« schreibt Feuerbach: »So abstrahierst du denn auch als Psycholog in Gedanken von deinem Leibe, aber gleichwohl bist du im Wesen aufs innigste mit ihm verbunden, d.h., du denkst dich unterschieden von ihm, aber du bist deswegen noch lange nicht von ihm wirklich unterschieden.« Vgl. ebd., S. 127.
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Angesichts der Tatsache, dass Gottfried Keller 1848/49 in Heidelberg bei Feuerbach studierte, sollte es daher nicht überraschen, dass Keller wiederum einer derjenigen deutschsprachigen Realisten war, die zuerst auf poetische Weise dem Zusammenhang von Körper und Sein, von Nahrung und Denken nachspürten. Zweifellos hatte die Begegnung mit Feuerbach tiefgreifende Folgen für Kellers Denken und Schreiben.7 In einem Brief an Wilhelm Baumgartner vom 28. Januar 1849 distanziert sich Keller von seiner früheren kritischen Haltung Feuerbach gegenüber, mit dem er nun, zu seiner eigenen Überraschung, »fast alle Abende« Bier trinke und dabei »auf sein Worte lausche«.8 Die von ihm belegte Vorlesung Feuerbachs über das Wesen der Religion bewegt ihn zu der radikalen Schlussfolgerung: »Ich werde tabula rasa machen (oder es ist vielmehr schon geschehen) mit allen meinen bisherigen religiösen Vorstellungen, bis ich auf dem Feuerbachischen Niveau bin.«9 Feuerbach bekehrt Keller buchstäblich zum Atheismus, zur Aufgabe des Glaubens an Gott, an Jenseits und die Unsterblichkeit der Seele. Alles, was bleibt, wenn die Seele dahingeht, ist der endliche Körper, der den Anfangspunkt der feuerbachschen materialistischen Anthropologie bildet. Die Vorstellung eines absolut vergänglichen Körpers bewirkt dabei in Keller nicht Verzweiflung oder Desillusionierung, sondern bietet im Gegenteil die Gelegenheit, zum ersten Mal die Endlichkeit vollkommen zu begrüßen. So schreibt Keller in dem Brief an Baumgartner weiter: »Für mich ist die Hauptfrage die: Wird die Welt, wird das Leben prosaischer und gemeiner nach Feuerbach? Bis jetzt muß ich des bestimmtesten antworten: Nein! im Gegentheil, es wird alles klarer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher.«10 Kellers radikale Bejahung der Religionskri-
7
Zum Einfluss Feuerbachs auf Keller im Allgemeinen und Die Leute von Seldwyla im Besonderen vgl. Bernd Neumann: »›Ganzer Mensch‹ und ›innerweltliche Askese‹: Zum Verhältnis von Citoyen-Utopie und Bourgeoiser Wirklichkeit in Gottfried Kellers Seldwyla-Novellen«, in: Monatshefte 71.2 (1979), S. 145-60.
8
Gottfried Keller: Gesammelte Briefe in vier Bänden, hg. von Carl Helb-
9
Vgl. ebd.
ling, Bern: Benteli 1950-54, Bd. 1, S. 273. 10 Vgl. ebd.
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tik und materialistischen Anthropologie Feuerbachs entspricht dabei explizit die Ablehnung von Hegels ästhetischer Skepsis gegenüber der prosaischen Realität: Gegen die Welt der Prosa kämpfen heißt, Materialist werden – denn nur aus einer materialistisch-anthropologischen Perspektive kann Realität »glühender und sinnlicher« werden. Es sollte daher nicht überraschen, dass Feuerbach, nachdem er Keller eine tabula rasa bereitet hat, dessen zukünftiges Schreiben, besonders im Falle der Leute von Seldwyla, infiziert. Es mutet allerdings seltsam an, dass eine der ersten literarischen Konjugationen des Satzes »Der Mensch ist, was er ißt« nicht einen Menschen zum Subjekt hat, sondern eine Katze. Und tatsächlich scheint Spiegel, das Kätzchen, die letzte Geschichte im ersten Band von Kellers Die Leute von Seldwyla (1856), in Ermangelung eines ›anthropos‹ als Hauptfigur ebenso weit entfernt von jeglicher materialistischer Anthropologie zu sein wie, bedenkt man den Untertitel »Ein Märchen«, von jeglichem Realismus. Die Märchenhaftigkeit des Textes wird des Weiteren unterstrichen dadurch, dass die Geschichte im Mittelalter angesiedelt ist, einen Hexenmeister und eine Hexe aufweist und als Protagonisten eine sprechende Katze einführt. Zusammengenommen lässt all dies Spiegel als eine Novelle erscheinen, die zwar in der Epoche des Realismus verfasst wurde, mit Realismus jedoch nichts zu tun hat. Allerdings war es ebenfalls Keller, der bekanntermaßen von der »Reichsunmittelbarkeit der Poesie« sprach, das heißt von dem »Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte und Fabelmäßige anzuknüpfen«.11 Wolfgang Preisendanz nennt diese kellersche Metapher »die Grundformel des poetischen Realismus« und betont als »die bleibende Aufgabe aller Dichtung« – inklusive der realistischen Dichtung –, »erst zu erschließen, was eigentlich Wirklichkeit sei«.12 Aus dieser Warte betrachtet ist das ästhetische Projekt des
11 Keller in einem Brief an Paul Heyse vom 27.7.1881, zitiert nach Wolfgang Preisendanz: »Voraussetzungen des poetischen Realismus in der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts«, in: Richard Brinkmann (Hg.), Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 453-479, hier S. 466. 12 Vgl. ebd., S. 466 und 461.
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deutschsprachigen Realismus nicht, die Welt widerzuspiegeln, sondern sie zu erforschen, zu entwerfen und mitzugestalten. Der Name der Hauptfigur – Spiegel – kann deshalb als eine Allegorie für Kellers realistisches Schreiben angesehen werden. So heißt es bei Walter Benjamin: »Eine Spiegelwelt ist die Welt der kellerschen Schriften.«13 Diese »Spiegelwelt« zeichnet sich weder durch die unendliche Spiegelung der Romantik aus, noch durch die Ab- oder Widerspiegelung der mimesis. Um eine Spiegelwelt handelt es sich bei Keller vielmehr, insofern diese einer Logik der Inversion folgt, in der – so Benjamin – »rechts und links vertauscht« sind.14 Kellers Welt ist, mit anderen Worten, spiegelverkehrt: »Während das Tätige, Gewichtige in ihr scheinbar unangetastet seine Ordnung wahrt«, schreibt Benjamin, »wechselt das Männliche ins Weibliche, das Weibliche ins Männliche unmerklich hinüber«.15 Diese unmerkliche Bewegung der Inversion unterhalb der Oberfläche des Gewöhnlichen ereignet sich nicht nur zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen (wie Eric Downing dies paradigmatisch an »Eugenia« gezeigt hat16) oder zwischen reich und arm (zum Beispiel in »Kleider machen Leute«), sondern im Falle von Spiegel, das Kätzchen zwischen Mensch und Tier. Spiegel, das Kätzchen, redet nicht nur, es redet und philosophiert wie ein Mensch. Und Pineiß, der Hexenmeister, tritt trotz seiner angeblichen Macht und Intelligenz immer wieder in dieselbe Falle, verfällt immer wieder demselben Denkfehler, der verhindert, dass er jemals den Schmer erhalten wird, den er meint, sich erhandelt zu haben. Auf Kellers Talent, die scheinbare Stabilität der bestehenden Ordnung durch den subtilen, kontinuierlichen Austausch von polaren Ko-
13 Walter Benjamin: »Gottfried Keller«, in: Alexander Honold (Hg.), Walter Benjamin. Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 46. 14 Vgl. ebd., S. 46. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Eric Downing: »Double Takes. Genre and Gender in Keller’s TwiceTold Tales, The Seven Legends«, in: ders.: Double Exposures. Repetition and Realism in Nineteenth Century German Fiction, Stanford University Press: Stanford 2000, S. 91-128.
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ordinaten zu unterlaufen weist Benjamin im Zuge seiner Darstellung von Kellers eigentümlicher Vorstellung der Antike hin: Naturauslegung und Sonntagspredigt sind nicht sein Fall. Nur wirkend greift die Landschaft mit ihren Kräften in die Ökonomie des Menschendaseins ein. Das gibt den Vorgängen etwas Antikes. Oft glaubten in der beginnenden Renaissance Maler und Dichter die Antike darzustellen und charakterisieren doch nur ihre Zeit. Für Keller gilt beinahe das Umgekehrte. Er glaubte seine Zeit zu geben und in ihr gab er Antike. Es geht aber mit Erfahrungen der Menschheit – und die Antike ist eine Menschheitserfahrung – nicht anders wie mit denen des einzelnen. Ihr Formgesetz ist ein Gesetz der Schrumpfung, ihr Lakonismus nicht der des Scharfsinns sondern der eingezogenen Trockenheit alter Früchte, alter Menschengesichter. Das weissagende orphische Haupt ist zum hohlen Puppenkopfe geschrumpft, aus dem das Brummen der gefangen Fliege tönt – wie man in einer kellerschen Novelle ihn findet. Von dieser echten und verhutzelten Antike sind Kellers Schriften randvoll.17
Benjamin legt auf die ihm eigene scharfsinnige und fast intuitive Weise möglicherweise den Finger auf das Geheimnis von Kellers Werk. Es geht hierbei nicht so sehr um Kellers idiosynkratisches Verhältnis zur Antike – auch wenn dieser Beobachtung Benjamins zuzustimmen ist –, sondern darum, wie dieses Verhältnis Ausdruck findet.18 Für
17 Benjamin: »Gottfried Keller«, S. 44. 18 Fontane berührt in seiner Kritik an Keller ein ähnliches Problem wie Benjamin, ohne jedoch den folgerichtigen nächsten Schritt zu nehmen. In seiner nicht zu Lebzeiten veröffentlichten Rezension von Leute von Seldwyla schreibt Fontane 1874 über Keller: »Er erzählt nicht aus einem bestimmten Jahrhundert, kaum aus einem bestimmten Lande […], sondern hat für seine Darstellung eine im wesentlichen sich gleichbleibende Märchensprache, an der alte und neue Zeit, vornehm und gering gleichmäßig partizipieren.« Zitiert in: Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2006, S. 643-644. Die entscheidende Differenz zwischen Fontanes Kritik und Benjamins Lob besteht darin, dass Fontane Kellers Sprache für undifferenziert, für die monotone Sprache des Märchens hält, während Benjamin auf eine Schichtung hinweist, eine Duplizität von Modernem und Antikem, von Antikem im Modernen.
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Keller ist die Welt der Antike eingebettet in die moderne Welt, und zwar nicht einfach als eine Reliquie oder ein archäologischer Fund, sondern als etwas Alterndes, sich mit der Zeit Veränderndes – seine Antike ist eine in der gegenwärtigen Welt noch lebende und alternde Antike. Mit anderen Worten: Sie ist weder eine Idee noch eine Epoche, sondern ein Körper. Wenn die Antike altert – und Benjamin deutet an, dass das Altertum nicht einfach in der Vergangenheit liegt, sondern altert –, dann »schrumpft« sie, sie vertrocknet und wird schrumpelig. Was bleibt, sind nicht die Überreste der Antike, sondern eine Antike, die am Körper gelesen werden muss, aus einem Körper, der mit der Zeit Spuren und Linien annimmt. An dem Vergangen haftet etwas Körperliches. Genauso, wie Kellers Welt spiegelverkehrt ist, ist seine geschichtliche Welt eine Welt der Körper. Keller zu lesen heißt deshalb, Körper zu lesen, allerdings nicht mehr im Sinne der Physiognomie, die den strikten Dualismus von Seele und Körper beibehält und daher den Körper als Transkription der Seele versteht, die sich an und in den Körper presst und sich auf diese Weise einschreibt. In Kellers Welt gibt es nur Körper, nur Oberflächen, und selbst wo es um ›Inneres‹ geht – Mägen, Gedärm, Verdauungsorgane –, ist die Innerlichkeit körperlich. Wenn aber Kellers Welt – zumindest die Welt, wie sie in »Spiegel« ›reflektiert‹ wird – eine immanente, materiale Welt, eine Welt von Körpern ist, wie liest man Körper? Wie sieht das Lesen von Körpern im Zeitalter des Realismus aus? Vorliegendes Essay nähert sich dieser Frage durch die Betrachtung von drei klassischen Motiven in Spiegel, das Kätzchen: die Philosophie der Mäßigung, den Handel mit der Seele (›Teufelspakt‹) und die Eingeweideschau – die Kunst, Zeichen zu lesen, die sich nur in den Innereien offenbaren.19
Zu Fontanes Äußerung über Kellers »Märchensprache« vgl. Roy C. Cowen: »Spiegel und Widerspiegelung: Zu Kellers Märchen ›Spiegel, das Kätzchen‹«, in: Hartmut Steinecke (Hg.), Zu Gottfried Keller, Stuttgart: Klett 1984, S. 68-78, hier S. 68 und 72-73. 19 Ich möchte an dieser Stelle Zhenya Pomerantsev danken, dessen Dissertation Enchanted Truths: Romantic and Post-Romantic Models of Poetic Knowledge (New York University, 2008) ein ausgezeichnetes Kapitel über Spiegel, das Kätzchen enthält, sowie Carmen Bartl, die einen hervorragen-
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In Der Gebrauch der Lüste führt Michel Foucault aus, der Funktionsmechanismus der westlichen Doktrin der Mäßigung bestehe darin, eine Hierarchie herzustellen, in der die Vernunft über den Körper und seine Bedürfnisse herrscht. Die Ethik der Mäßigung ist demnach wesentlich eine Doktrin der Vernunft und ihrer notwendigen Priorität dem Körper gegenüber: [D]ie Mäßigung impliziert, dass der lógos im Menschenwesen in eine souveräne Stellung gebracht wird, damit er sich die Begierden unterwerfen und das Verhalten regulieren kann. Während beim Unmäßigen die begehrende Macht die Vorherrschaft an sich reißt und die Tyrannei ausübt, ist es beim sóphron die Vernunft, die befiehlt und vorschreibt […]. 20
Die Doktrin der Mäßigung wurde zum ersten Mal von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik systematisiert, wo Extreme, sei es des Mangels oder des Exzesses, als destruktiv definiert werden, während das »Zwischen« oder das »Mittlere« nähren und so die Quelle von »Vortrefflichkeit« bilden soll. Laut Foucault ist diese Lehre nur unter dem Diktat der Vernunft zu denken, die Bedürfnisse kontrolliert. Mäßigung setzt das Wählen und die Auswahl voraus; der Logos herrscht, indem er die Extreme richtig kalkuliert und das Mittlere wählt. Der unmäßige Mensch dagegen wird von seinem Begehren beherrscht; er wählt nicht, sondern ist getrieben. Auf den ersten Blick scheint Spiegel diese Dichotomie von Herrschaft des Logos einerseits, Herrschaft des Begehrens andererseits zu bestätigen, eine Dichotomie, die der Vernunft die Autorität im maßvollen Menschen zuspricht. Von Anfang an wird Spiegel als eine philosophische, vernünftige Katze vorgeführt, als eine Kreatur, die die Ethik der Mäßigung befolgt: »Seine einzige Leidenschaft war die
den, bisher unveröffentlichten Aufsatz über Spiegel und die Poetik des Aufschubs verfasst hat. 20 Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd. 2., übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 114-15.
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Jagd, welche es jedoch mit Vernunft und Mäßigung befriedigte.«21 Leidenschaften, auch für die Jagd, werden dabei nicht beseitigt, sondern den Regeln der Vernunft, das heißt der Mäßigung, entsprechend befriedigt.22 Tatsächlich erhält Spiegel seinen Namen aufgrund eines solchen Lebens gesunder Mäßigung: »Spiegel, so war der Name des Kätzchens wegen seines glatten und glänzenden Pelzes, lebte so seine Tage […] in anständiger Wohlhabenheit und ohne Überhebung.«23 Spiegels Name ist somit signifikant nicht als Metapher für mimesis oder Widerspiegelung, sondern als der körperliche Ausdruck seines gemäßigten Lebens. Von diesem Lebensstil der ›goldenen Mitte‹ scheint Spiegel nur zweimal pro Jahr für die »bedenklichsten Abendteuer« als »ein rechter Don Juan« abzuweichen – im Wesentlichen handelt es sich bei diesen nur scheinbaren Abweichungen um je eine Woche der Promiskuität, dies »bei Tag und Nacht«, von der er mit einem »verwegenen, burschikosen, ja liederlichen und zerzaus’ten Aussehen« nach Hause zurückkehrt.24 Seine Herrin, die weniger aufgeklärt zu sein scheint als ihre Katze, ermahnt Spiegel, er solle sich für solche Exzesse schämen, worauf der Erzähler antwortet:
21 Keller: Spiegel, das Kätzchen, in: Thomas Böning (Hg.), Gottfried Keller. Die Leute von Seldwyla, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2006, S. 240-79, hier S. 240. Hier ist Gerhard Kaiser zu widersprechen, wenn er über Spiegel, das Kätzchen schreibt: »Hier zum einzigen Mal bei Keller erscheint die Natur originär im Mann und da in ihrem Recht als eine Natur frei von Normen und Restriktionen. So märchenhaft ist dieses Märchen, dass der freie Mann als Offenbarung von Natur ins Tierreich versetzt wird.« Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt a.M.: Insel 1981, S. 332. 22 Foucault schreibt zu Aristoteles’ Ethik: »Selbst die sóphrosyne, die Aristoteles als einen Zustand der Tugend definiert, impliziert nicht die Unterdrückung der Begierden, sondern ihre Beherrschung […]; der Mäßige ist nicht der, der keine Begierden mehr hat, sondern ›mit Maß‹ begehrt.« Foucault: Der Gebrauch der Lüste, S. 93. 23 Keller: Spiegel, S. 241. 24 Vgl. ebd.
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Wer sich aber nicht schämte, war Spiegel; als ein Mann von Grundsätzen, der wohl wußte, was er sich zur wohltätigen Abwechslung erlauben durfte, beschäftigte er sich ganz ruhig damit, die Glätte seines Pelzes und die unschuldige Munterkeit seines Aussehens wiederherzustellen, und er fuhr sich so unbefangen mit dem feuchten Pfötchen über die Nase, als ob gar nichts geschehen wäre.25
Entscheidend ist hier die Tatsache, dass solch ein scheinbarer Schritt vom maßvollen Wege – im exzessiven Ausleben sexuellen Begehrens – durchaus nicht Spiegels Grundsätze (die, so muss angenommen werden, die Prinzipien der Mäßigung sind) außer Kraft setzt, da ein gewisses Maß, eine kontrollierte Dosis an Maßlosigkeit als diachrones Gegengewicht zur nur synchron gedachten Mäßigung gehört. Ein dialektischer Aspekt der Mäßigung ist die Einräumung der Maßlosigkeit (je eine Woche im Frühjahr und im Herbst) als eine Form der »wohltätigen Abwechslung« zwischen der übermächtigen Vernunft und dem Körper. Spiegel führt somit nicht trotz, sondern gerade wegen einer kontrollierten körperlichen Unmäßigkeit ein »gleichmäßiges Leben«.26 Dieses Leben des Maßes – im Jagen, Essen und im Befriedigen sexueller Bedürfnisse – findet sein Ende mit dem Tod von Spiegels Herrin. Ja, der Rest der ersten Hälfte der Geschichte (das heißt bis Spiegel zum Erzähler und zum Spin-Doctor seiner Geschichte wird) kann als Test und Neufassung der klassischen Doktrin der Mäßigung unter den Bedingungen der Körperlichkeit gelesen werden. Nachdem Spiegel seine »Vernunft und Philosophie« vergebens einsetzt, um die Erben des Hauses für sich zu gewinnen, landet er verlassen und obdachlos auf der Straße. Sofort gerät hier nun die Doktrin der Mäßigung aus dem Gleichgewicht. Spiegel, der sich im Dunkeln versteckt und nur ans Licht geht, um Nahrung zu erbetteln, verliert die Fähigkeit, das Mittlere zu wählen: »Je seltener dies [dass ein Maulvoll geringer Nahrung sich zeigte, PF] geschah, desto aufmerksamer wurde der gute Spiegel, und alle seine moralischen Eigenschaften gingen in dieser Aufmerksamkeit auf, so daß er sehr bald sich selber nicht mehr
25 Vgl. ebd. 26 Vgl. ebd., S. 242.
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gleichsah.«27 Je verzweifelter, je hungriger Spiegel wird, umso mehr entzieht sich sein ›moralischer Kompass‹; dennoch kann man anscheinend auch ohne Moral gut sein, wie die liebevolle Bezeichnung »der gute Spiegel« nahelegt. Das Resultat von Spiegels Not ist aber, dass dieser nicht länger seinen Namen verkörpert, dass er nicht mehr glänzt. Dieser Verlust des Glanzes aber ist nicht mehr durch einige säubernde Striche mit der Tatze wettzumachen, wie einst nach seinen sexuellen Eskapaden. Etwas Grundsätzliches hat sich verändert, da Spiegels ganzer mentaler Apparat – seine Philosophie, seine Moral, seine Vernunft – an seine Grenzen stößt: »Er wurde Tag zu Tag magerer und zerzaus’ter, dabei gierig, kriechend und feig; all’ sein Mut, seine zierliche Katzenwürde, seine Vernunft und Philosophie waren dahin.«28 An dieser Stelle wird der feuerbachsche Subtext der Geschichte greifbar, die materiellen Voraussetzungen nämlich für Spiegels Leben der Mäßigung: Die Vernunft hat nicht allein die Zügel in der Hand, ist nicht die einzige Fundierung oder Möglichkeitsbedingung der Mäßigung; vielmehr sind Vernunft und Mäßigung Effekte, Produkte des Essens, der Befriedigung von körperlichen Bedürfnissen. Man ist, was man isst, und bevor man etwas zu essen hat, sind weder Vernunft noch Philosophie noch Mäßigung oder Ähnliches zu erwarten. Brecht war es vorbehalten, den hier impliziten Gedanken prägnant zu fassen und berühmt zu machen: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Feuerbach gab demselben Gedanken 1850 folgendermaßen Ausdruck: »Der Kopf ist das Vermögen zu schließen, aber die Vordersätze, die Elemente zu diesen Schlüssen liegen in den Speisen und Getränken. Der Geist ist Licht, verzehrendes Feuer, aber der Brennstoff ist der Nahrungsstoff.«29 Anders ausgedrückt: Erst kommen die Spiesen, dann die Gedanken.30 Dies gilt auch für Spiegel. In Kellers Neu-
27 Vgl. ebd., S. 243. 28 Vgl. ebd. 29 Feuerbach: »Die Naturwissenschaft und die Revolution«, S. 222. 30 Das eingangs zitierte berühmte Diktum Feuerbachs fällt im Kontext seiner Ausführungen zur ethischen und politischen Bedeutung von Nahrung: »Wir sehen zugleich hieraus, von welcher wichtigen ethischen sowohl als politischen Bedeutung die Lehre von den Nahrungsmitteln für das Volk
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bestimmung der Doktrin der Mäßigung, gelesen durch den Körper, ist Mäßigung nicht, oder zumindest nicht vorrangig, eine Frage der Vernunft – des Verlusts, Aussetzens oder Mangels an Vernunft. Vielmehr beginnt die Mäßigung beim Magen: Nur ein gut genährter Körper kann ein gemäßigter Körper werden. Mit dieser Betonung des Genährtseins als Basis und Fundierung guten Denkens gehört Spiegel, auch wenn die Geschichte im Mittelalter spielt, zweifellos in den Bereich eines materialistisch-anthropologischen Realismus feuerbachscher Provenienz und distanziert sich von Kants fünfzig Jahre älterer idealistischer Anthropologie. Wenn Mäßigung ein Effekt der vorgängigen Befriedigung von Bedürfnissen ist, erfordert sie notwendigerweise einen anfänglichen Moment außerhalb des Maßes, das heißt außerhalb der Vernunft. Diese kann nicht von Anfang an herrschen, sondern hängt selbst vom Magen ab, von einer Sättigung, die nicht unter der Herrschaft der Vernunft steht. Die Vernunft kann nur nachträglich sich zu Wort melden, nachdem gewisse körperliche Bedürfnisse und Nöte beseitigt sind, und beseitigt sind diese nie ein für alle Mal. So wird deutlich, dass – erinnert man sich an Foucaults Deutung eines strengen Dualismus von zwei ethischen Typen, einerseits den von der Vernunft beherrschten Moderaten, andererseits den vom Begehren beherrschten Unmäßigen – Keller in seiner von Feuerbach beeinflussten Sicht des Körpers eine dritte Alternative offeriert: Der Körper bedarf der Sorge; erst danach ist es möglich, über den Logos zu sprechen. Der Körper ist somit buchstäblich doppelt besetzt: Zum einen wohnt ihm immer ein Potential für Unmäßigkeit inne (da etwa von einem unterernährten Körper keine Mäßigung verlangt werden kann); zum anderen ist der Körper die Bedingung der Möglichkeit der Mäßigung, da diese erst nachträglich erscheint, wenn der Körper ernährt worden ist. Deshalb
ist. Die Speisen werden zu Blut, das Blut zu Herz und Hirn, zu Gedanken und Gesinnungsstoff. Menschliche Kost ist die Grundlage menschlicher Bildung und Gesinnung. Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen. Der Mensch ist, was er ißt. Wer nur Pflanzenkost genießt, ist auch nur ein vegetierendes Wesen, hat keine Tatkraft.« Vgl. ebd., S. 229.
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setzt Spiegels Begriff der Mäßigung beim Magen und dessen Bedürfnis, gefüllt zu werden, an und wird gleichzeitig von diesem bedroht. Wenn die Mäßigung immer nur unter der Voraussetzung ›Erst kommt das Fressen, dann die Vernunft‹ herrscht, dann liegt ihre Bedingung der Möglichkeit außerhalb der Herrschaft der Vernunft. Spiegel, der seine Vernunft und Philosophie zusammen mit seiner Nahrung verloren hat, kann einen Ausweg aus seiner Malaise, und das heißt einen Weg zurück zur Vernunft, nur auf unmäßigen Wegen finden, indem er nämlich einen Vertrag unterzeichnet, der im Zeitalter der materialistischen Anthropologie eine Variante des Teufelspaktes darstellt. Denn in Kellers spiegelverkehrter Welt werden nicht länger Seelen ge- und verkauft; stattdessen ist der Einsatz nun entschieden endlich, wenn auch weiterhin tödlich: Es geht um Körper und Körperteile. Spiegel ist zu Beginn seiner Obdachlosigkeit so heruntergekommen, so abgemagert, dass er das ursprüngliche Angebot des Hexenmeisters – »Na, Katze! Soll ich dir deinen Schmer abkaufen?«31 – als einen Witz auffasst, als Versuch, denjenigen, der kein Fett zu verkaufen hat, zu verspotten. Erst als deutlich wird, dass der Vertrag den Tausch von nahrhafter Speise gegen zukünftiges Fett stipuliert, kann Spiegel darüber nachdenken, ob es klug ist, diesen modifizierten, von Keller säkularisierten Teufelspakt zu unterschreiben. Bei dem Pakt zwischen Spiegel und Pineiß geht es nicht mehr um den Tausch von Elementen aus zwei (inkommensurablen) Bereichen (Körper – Seele, endlich – unendlich, historisch – ewig). Vielmehr geschieht der Tausch nun in der Sphäre des Endlichen, ja, der Austausch geht durch den Magen und wird letztlich im Körper manifest. Spiegels Ausweg aus seiner verzweifelten Not und seine etwaige Rückkehr zu seiner Ethik der Mäßigung findet somit mithilfe unmäßiger Mittel statt: Um zu leben, muss er sein Leben aufgeben; der Preis für ein paar Mahlzeiten in der Gegenwart ist das Fett, das er durch das (Über-)Leben produzieren würde. Spiegel wird die Verdauungsmaschine, die den von
31 Keller: Spiegel, S. 244.
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Pineiß für die Ausübung seiner angeblichen magischen Gewalt benötigten Schmer produziert.32 Als Spiegel in die vertragliche Beziehung zu Pineiß einwilligt, ist er so verwahrlost, dass er nichts anderes tun kann, als gierig all das zu essen, was Pineiß ihm vorsetzt. Pineiß wiederum, überzeugt von einem schnellen Ertrag aus dem Vertrag, da Spiegels unmäßige Begierde nach Nahrung seinen Ruin bedeutet, versucht den Prozess noch weiter zu beschleunigen, indem er eine »Fresslandschaft«,33 ein buchstäbliches frittiertes Schlaraffenland für Spiegel erschafft: Er baute daher für Spiegel eine ordentliche Landschaft in seiner Stube, indem er ein Wäldchen von Tannenbäumchen aufstellte, kleine Hügel von Steinen und Moos errichtete und einen kleinen See anlegte. Auf die Bäumchen setzte er duftig gebratene Lerchen, Finken, Meisen und Sperlinge, je nach der Jahrszeit, so daß da Spiegel immer etwas herunterzuholen und zu knabbern vorfand. In die kleinen Berge versteckte er in künstlichen Mauslöchern herrliche Mäuse, welche er sorgfältig mit Weizenmehl gemästet, dann ausgeweidet, mit zarten Speckriemchen gespickt und gebraten hatte. [...] Das Becken des Sees aber füllte Pineiß alle Tage mit frischer Milch, damit Spiegel in der süßen seinen Durst lösche, und ließ gebratene Gründlinge darin schwimmen, da er wußte, daß Katzen zuweilen auch die Fischerei lieben.34
Dies ist eine entscheidende Passage für das Verständnis dessen, welcher Einsatz nicht nur in dieser Geschichte, sondern in Die Leute von Seldwyla auf dem Spiel steht. Die »Lustbarkeit einer nachgeahmten Jagd«35 scheint auf den ersten Blick die Parodie eines säkularen Jenseits zu sein, ein modifiziertes Satyrikon, das eine Dekadenz ausstellt,
32 ›Angeblich‹, da Pineiß’ Macht als Zauberer auch dem Gesetz der Umkehrung in Kellers »Spiegelwelt« unterstellt ist. Obwohl er noch einen Rest von Schmer vorrätig hat, zeigt sich kein Schimmer des Übernatürlichen in seinen Handlungen. Pineiß ist, wie bereits bemerkt wurde, eher Verwalter als Zauberer. 33 Diese treffende Wortschöpfung ist geliehen von Gerhard Kaiser: Gottfried Keller, S. 33. 34 Keller: Spiegel, S. 246-47. 35 Vgl. ebd., S. 247.
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in der Jagd durch ihre Simulation ersetzt wird – denn, was gejagt wird, sind tote, bereits zubereitete Körper. Was aber, wenn diese PseudoJagdlandschaft anders zu lesen wäre? Sind dies die Jagdreviere für die Faulen? Für die Unfähigen? Die Gierigen? Oder aber für diejenigen, die zu erschöpft, zu verhungert sind, um auf andere Weise zu überleben? Die Sorge, die Pineiß auf das Herrichten dieses Spielplatzes für den Magen verwendet, sollte nicht unterschätzt werden, verweist diese Sorge doch auf Pineiß’ eigene Lust nicht nur an der Vorwegnahme des zukünftigen Schmers (und gleichsam dessen jetzige Zubereitung), sondern vielleicht mehr noch an dem Akt, Spiegel zu mästen. Pineiß hat Freude daran, einen Garten der Freude zu fertigen. Mit anderen Worten: Es ist ein Genuss, für den Körper zu sorgen, eine Lust, die von Koch und Gast genossen wird. Tatsächlich ist darüber hinaus die Bereitung dieser essbaren Spielwiese vielleicht der einzige ›magische‹ Akt, den Pineiß in dieser Geschichte vollbringt. Der gebratene Naturpark soll dabei sogar exzessiv und übertrieben sein – nicht als Parodie einer falschen, säkularisierten Vorstellung vom Paradies, sondern als klare und konkrete Markierung der Unmäßigkeit, die häufig notwendigerweise jeder Möglichkeit zur Mäßigung vorausgeht. Die maßlose Sorgfalt, die in die Formung dieses körperlichen Paradieses fließt, ist Kellers Projekt in Die Leute von Seldwyla nicht äußerlich. Wie der Erzähler in seiner Einführung zum ersten Band der Sammlung ankündigt, ist Seldwyla eine Stadt, die sich außerhalb der Profitökonomie, der Ökonomie von Erfolgen und positiven Erträgen befindet. Die Gründer der Stadt, so heißt es da, hätten diese mit Absicht »eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden solle«.36 Von Anfang an ist das Ziel von Seldwyla nicht, ›etwas‹ zu werden, sondern, wenn auch nur für eine kurze Zeit, ein Paradies zu sein – ein »Paradies des Kredites«.37 Wenn es aber in dieser Sammlung eine Fi-
36 Keller: Leute von Seldwyla, S. 11. 37 Vgl. ebd., S. 12. Seldwyla kann als ein solches Paradies bezeichnet werden, denn die Seldwyler »lassen, so lange es geht, fremde Leute für sich arbeiten und benutzen ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehres«. Vgl. ebd., S. 11.
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gur gibt, die die Maxime des Ortes – eben »ein Paradies des Kredits« zu sein – wahrhaft verkörpert, so ist es Spiegel, wenn vielleicht auch nur für die kurze Zeit, während der er sich buchstäblich durch eine gebratene Landschaft frisst. Indem Spiegel diese Welt aufzehrt, gewinnt er zwar seine Gesundheit zurück, nähert sich jedoch gleichzeitig dem Punkt, an dem die Rechnung, der Schmer, fällig sein wird. Glücklicherweise findet – paradoxerweise dank Pineiß – mit dem regenerierten Körper auch Spiegels Geist wieder zu seiner alten Schärfe: [A]ber zugleich nahm er, da sich seine Geisteskräfte in gleichem Maße wieder ansammelten, bessere Sitten an; die wilde Gier legte sich, und weil er jetzt eine traurige Erfahrung hinter sich hatte, so wurde er nun klüger als zuvor. Er mäßigte sich in seinen Gelüsten und fraß nicht mehr, als ihm zuträglich war, indem er zugleich wieder vernünftigen und tiefsinnigen Betrachtungen nachging und die Dinge wieder durchschaute.38
Diese Stelle ist wesentlich für das Verständnis einer körperlich fundierten Anthropologie, in der der Magen die Schwelle zum Geist bildet, und die Passage findet nur wenige Seiten später ihr Echo, als Spiegel zum ersten Mal dem vertragsmäßigen Tod entrinnt. Nachdem er, wie ehemals, eine Woche promiskuitiv und scheinbar ohne Nahrung verbracht hat, ist Spiegel wieder so mager und nutzlos für den
38 Keller: Spiegel, S. 247. Im Gegensatz zu Spiegel, der durch Nahrungsaufnahme sein Maß wieder- und so zur körperlichen und geistigen Gesundheit zurückfindet, kennt Wilhelm Raabes Stopfkuchen kein Maßhalten und wird umso scharfsinniger, je mehr er isst. In seiner ausgezeichneten Studie Fat Boys schreibt Sander Gilman über Heinrich Schaumann, dessen Spitzname »Stopfkuchen« lautet, es sei zum Ende des 19. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel zu beobachten – der wissenschaftliche Beobachter sei nun nicht länger zur körperlichen Mäßigung gezwungen: »In the process of unraveling the mystery Tubby’s [Stopfkuchens, PF] fat body is his most powerful ally. He is invisible in his bulk, and he is tenacious in his powers of observation. He is the scientist-observer that the late nineteenth century detective story used to great effect.« Sander Gilman: Fat Boys, A Slim Book, Lincoln: University of Nevada Press 2004, S. 158.
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Schmer, dass Pineiß ihn in einen Käfig sperrt, um ihn erneut zu mästen. Das Resultat bleibt allerdings dasselbe. Sobald Spiegel wieder aufgefüttert wird, ist auch sein Geist genährt: »Aber der gute Hexenmeister nährte mit dem Leibe Spiegels dessen Geist immer wieder mit, und es war durchaus nicht von dieser unbequemen Zutat loszukommen, weshalb auch seine Hexerei sich hier als lückenhaft erwies.«39 Pineiß’ Kalkulation, in der sein Naturalien-Kredit in Naturalien, Fett für Fett zurückbezahlt werden soll, kann, wie nun deutlich wird, nicht aufgehen. Der Stadthexenmeister rechnet damit, dass der Hunger und die Fresslust die Oberhand behalten und Spiegels Paradies – ein Paradies für den hungrigen Körper – ein notwendiges Ende bereiten werden. In seiner Erwartung würde die anfängliche (und notwendige) Maßlosigkeit anhalten und den Untergang Spiegels herbeiführen. Die feuerbachsche Katze aber wird mit jedem Bissen klüger und erkennt, dass jedes Gramm Fett sie ihrer Gesundheit und gleichzeitig ihrem Tode näherbringt. Erneut sei hier auf die Affinität von Kellers Text zu Feuerbachs Axiomen hingewiesen: »Hirn werden die Speisen erst«, schreibt Feuerbach, »wenn sie verdaut, wenn sie Blut geworden sind. Der ›volle Bauch‹ ist also ein alberner Einwand. Es bleibt dabei: der Nahrungsstoff ist Gedankenstoff.«40 Wie bei Feuerbach wird im Falle Spiegels Nahrung zum Treibstoff für den Geist, was wiederum zu »bessere[n] Sitten« führt, das heißt zu einer Rückkehr der Mäßigung, die »die wilde Gier« besänftigt. Wenn der genährte Spiegel wieder seinen »tiefsinnigen Betrachtungen« nachgeht, ist das Erste, was er »durchschaut«, buchstäblich der Magen seiner nächsten Mahlzeit: So holte er eines Tages einen hübschen Krammetsvogel von den Ästen herunter, und als er denselben nachdenklich zerlegte, fand er dessen kleinen Magen ganz kugelrund angefüllt mit frischer unversehrter Speise. Grüne Kräutchen, artig zusammengerollt, schwarze und weiße Samenkörner und eine glänzend rote Beere waren da so niedlich und dicht ineinandergepfropft, als ob ein Müt-
39 Keller: Spiegel, S. 253. 40 Feuerbach: »Die Naturwissenschaft und die Revolution«, S. 222.
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terchen für ihren Sohn das Ränzchen zur Reise gepackt hätte. Als Spiegel den Vogel langsam verzehrt und das so vergnüglich gefüllte Mäglein an seine Klaue hing und philosophisch betrachtete, rührte ihn das Schicksal des armen Vogels, welcher nach so friedlich verbrachtem Geschäft so schnell sein Leben lassen gemußt, daß er nicht einmal die eingepackten Sachen verdauen konnte. »Was hat er nun davon gehabt, der arme Kerl«, sagte Spiegel, »daß er sich so fleißig und eifrig genährt hat, daß dies kleine Säckchen aussieht wie ein wohlvollbrachtes Tagewerk? Diese rote Beere ist es, die ihn aus dem freien Walde in die Schlinge des Vogelstellers gelockt hat. Aber er dachte doch, seine Sache noch besser zu machen und sein Leben an solchen Beeren zu fristen, während ich, der ich soeben den unglücklichen Vogel gegessen, daran mich nur um einen Schritt näher zum Tode gegessen habe! Kann man einen elendern und feigern Vertrag abschließen, als sein Leben noch ein Weilchen fristen zu lassen, um es dann um diesen Preis doch zu verlieren? Wäre nicht ein freiwilliger und schneller Tod vorzuziehen gewesen für einen entschlossenen Kater? Aber ich habe keine Gedanken gehabt, und nun, da ich wieder solche habe, sehe ich nichts vor mir als das Schicksal dieses Krammetsvogels; wenn ich rund genug bin, so muß ich von hinnen, aus keinem andern Grunde, als weil ich rund bin. Ein schöner Grund für einen lebenslustigen und gedankenreichen Katzmann! Ach, könnte ich aus dieser Schlinge kommen!«41
Das ist die Krux, der Dreh- und Angelpunkt von Spiegel, das Kätzchen hinsichtlich des Körpers und dessen Lektüre. In Kellers Text geht es um einen schlichtweg entromantisierten Körper, der die medizinische Leiche in Benns Morgue-Gedichten vorwegnimmt. Der Körper als medizinisches Beweisstück bricht mit der physiognomischen Semiotik: Nicht länger ist er, wie in Lavaters Physiognomik, das Zeichen, die Transkription von Innerlichkeit, der buchstäbliche Ausdruck der solchermaßen lesbaren Seele. So heißt es bei Lavater: Dieß Aeußerliche und Innere stehen offenbar in einem genauen, unmittelbaren Zusammenhang. Das Aeußerliche ist nichts, als die Endung, die Grenzen des Innern, und das Innere eine unmittelbare Fortsetzung des Aueßern. Es ist also
41 Keller: Spiegel, S. 247-248.
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ein wesentliches Verhältniß zwischen seiner Außenseite und seinem Inwendigen.42
Offenbart der Körper bei Lavater die Seele und wird damit zum lesbaren Text für das, was unter seiner Oberfläche versteckt liegt, so nimmt Spiegel nun nicht mehr den Körper als Hülle oder Futteral, sondern liest buchstäblich »das Innere« der Wacholderdrossel. Ob innen oder außen – überall ist hier Körper. Der Akt des Lesens, den Spiegel vollzieht, ist der Eingeweideschau der Antike, der Interpretationen der Eingeweide eines Opfertieres durch einen Seher, verwandt. Benjamins Diagnose, bei Keller werde die Antike körperlich und altere, findet hier Bestätigung, werden doch die Innereien nicht mehr als Symbole oder göttliche Zeichen gewertet. Nichts interveniert im Raum des Weltlichen als das Weltliche selbst, wenn der Magen des Vogels einfach ein getreues Verzeichnis seiner letzten Momente bietet. Wie ein Pathologe liest Spiegel den Mageninhalt: Die »Kräutchen«, »Samenkörner« und besonders die »glänzend rote Beere« sind Spuren der letzten Stunden des Vogels. Ausgehend von diesem Sachbeweis – dem Inhalt des Magens und dem Faktum der noch nicht vollzogenen Verdauung der Nahrung – erweisen sich Spiegels interpretatorische Fähigkeiten: eine Mutter, die Nahrung gesammelt hat, um sie später für ihre Jungen wieder von sich zu geben; die Beere als Köder, der den Vogel in eine Falle lockte; ein emsiger Tag, der plötzlich sein Ende fand, und so fort. Angesichts dieses memento mori und angesichts eines Magens, der so »kugelrund« ist wie Spiegel, erkennt dieser, welche Torheit, welch einen Mangel an Vernunft der von ihm unterzeichnete Vertrag bedeutet. Gleichzeitig aber erkennt Spiegel auch, dass er kaum eine andere Wahl hatte, da er nicht in der Position – nicht in der körperlichen Verfassung – war, zu wählen: »[A]ber ich habe keine Gedanken gehabt«.43 Man muss diese Zeile absolut wörtlich nehmen: Spiegel war
42 Johann Kaspar Lavater: Ausgewählte Schriften, Bd. 3. Physiognomische Fragmente zur Beforderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775), hg. von Johann Kaspar Orelli, Zürich: Fr. Schultheß Verlag 1844, S. 23. 43 Keller: Spiegel, S. 248.
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so verhungert, so heruntergekommen, dass er nicht denken konnte. Nun aber, da er wieder denken kann, da er über den ›Nahrungsstoff für den Gedankenstoff‹ verfügt, kann er damit beginnen, sich einen Ausweg aus der »Schlinge« zusammenzudenken. Als Spiegel zu seinem Leben der Mäßigung und der »Selbstbeherrschung« zurückkehrt, die weichen Kissen und bereiteten Mahlzeiten der Fresslandschaft zurücklässt und die wirkliche Jagd wieder aufnimmt, erhält er sich eine »gewisse[] Stufe der Beleibtheit«,44 die Pineiß überrascht. Der Erzähler merkt nun, mithilfe einer verblüffenden Kontrastierung, den ausschlaggebenden Denkfehler des Hexenmeisters an: Aber hierin hatte sich seine Hexerei eben geirrt, und er wußte bei aller Schlauheit nicht, daß, wenn man einen Esel füttert, derselbe ein Esel bleibt, wenn man aber einen Fuchsen speiset, derselbe nichts anders wird als ein Fuchs; denn jede Kreatur wächst sich nach ihrer Weise aus.45
Bedenkt man Feuerbachs Diktum »Der Mensch ist, was er ißt«, dann ist dieser Reflexion über den Unterschied zwischen einem Esel und einem Fuchs eine zentrale Rolle in Kellers Novelle beizumessen. Die Bedeutung dieses Gedankens ist jedoch nicht so einfach zu fassen, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn man einen Esel füttert, wird dieser immer ein Esel bleiben – ein Esel ist ein Esel ist ein Esel – aber (und hier setzt die Schwierigkeit ein) wenn man einen Fuchs füttert, wird dieser zuallererst Fuchs. Worin besteht der Unterschied zwischen Esel und Fuchs, zwischen Bleiben und Werden? Wenn ein schlecht genährter Fuchs gefüttert wird, so eine mögliche Deutung, gewinnt der Fuchs seine Klugheit, seine List und all seine anderen geistigen Kapazitäten (zurück). Ein hungriger Fuchs wäre noch kein Fuchs, wäre noch nicht bei seiner ›Fuchsheit‹ angekommen. Ebenso könnte spekuliert werden, dass eine ungefütterte Katze, die ihren Glanz – ihren Spiegel – verloren hat, nicht länger Katze ist, zumindest nicht im vollen Sinne dessen, was eine Katze sein kann und sein sollte. Nahrung bedeutet in diesem Fall einen ontologischen Un-
44 Vgl. ebd., S. 249. 45 Vgl. ebd.
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terschied. Ein Fuchs wird erst, was er ist, indem er isst. Ein Esel dagegen bleibt immer ein Esel, gefüttert oder ungefüttert. Die ›wahre‹ Hexerei ist keine, sondern wäre eine materialistische Zauberkunst, die aus dem schöpft, was Feuerbach zur neuen Wissenschaft erklärt: »Jetzt wissen wir aus wissenschaftlichen Gründen, was längst das Volk aus der Erfahrung wusste, dass Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhält, dass das gesuchte Band also die Nahrung ist.«46 Pineiß erweist sich insofern als schlechter oder inkompetenter Zauberer, als er die Vergeblichkeit oder Widersprüchlichkeit seines Projektes nicht erkennt: Je mehr er Spiegel füttert, umso klarer formt sich in Spiegel der Gedanke, dass er sich nicht überfressen darf. Eines bleibt hinzuzufügen: Auch wenn Spiegel die Fresslandschaft verlassen muss, um seinem vertraglichen Schicksal, Schmer zu werden, zu entkommen, darf das »Paradies des Kredites« nicht als ein verlorenes Paradies verstanden werden. Die Fresslandschaft ist zwar kein Ideal, kann aber auch nicht einfach zurückgewiesen werden: Ohne das fettreiche Paradies auf Kredit wäre Spiegel, der keine andere Wahl hatte, buchstäblich nie wieder zu Sinnen gekommen und hätte seine Mäßigung nicht zurückgewonnen. Da der Geist sich seinen Weg durch den Verdauungstrakt bahnt, kann Spiegel erst, wenn der Magen den Geist genährt hat, einen Ausweg aus der Klemme des Vertrags mit Pineiß finden. Spiegel springt dem Tod von der Schippe – immer und immer wieder. In Seldwylas »Paradies des Kredites« muss Spiegel seine Rechnung niemals bezahlen. Zuerst entkommt er dem Hungertod dank Pineiß und dessen buchstäblichem Schlaraffenland. Dann, bereits an die vertraglichen Regularien gebunden, vermeidet er den Tod per Kontrakt vorerst eher zufällig als planmäßig. Als Pineiß das Wiederaufleben der Ethik der Mäßigung bemerkt, trifft er die zwar arbiträre, doch vertragsmäßige Entscheidung, Spiegel sei nun »fett genug«.47 Der Vertrag gewährt ihm allerdings eine Karenzzeit bis zum nächsten Vollmond, und Spiegel verbringt diese Zeit, fünf Tage und Nächte, mit
46 Feuerbach: »Die Naturwissenschaft und die Revolution«, S. 220. 47 Keller: Spiegel, S. 250.
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einer »schneeweiße(n) Kätzin«.48 In den Kämpfen mit seinen Konkurrenten lässt er dann so viele Pfunde, dass er am Ende zwar pünktlich zu Pineiß zurückkehrt, aber ohne Schmer, »in all’ seiner Magerkeit und Zerzaus’theit«.49 Zwei Aspekte sind hier hervorzuheben: Erstens führt Keller wiederholt vor, wie ein Maß an Übermaß Spiegel das Leben rettet, schlagen doch gerade der Verzicht auf Mäßigung und die Affirmation des Körpers dem Tod ein Schnippchen. Zweitens, da es Spiegel gelingt, innerhalb von nur fünf Tagen bis auf die Haut abzumagern, vermutet Pineiß, dass der Kater selbst ein Zauberer ist, »›da er nach Gefallen über sein Leibliches gebieten und genau so beleibt werden kann, als es ihm angenehm dünkt‹«.50 Die von Pineiß angenommene ›Magie‹ aber besteht einzig und allein aus dem Metabolismus des Körpers, der sich, je nachdem, wie viel Nahrung ihm zugeführt und wie viel Bewegung ihm gewährt wird, verändert. Gerade diese Verschiebung des Übernatürlichen ins Körperliche ist eine der wesentlichen Umkehrungen, die die Erzählung strukturieren: Der Zauber wird entzaubert, während der Körper verzaubert wird, wobei – das ist entscheidend – dem Körper kein Zauber innewohnt. Unter der Oberfläche eines Märchens, in dem es darum geht, den für die Magie notwendigen Schmer aufzutreiben, wird jedweder Zauber unmerklich in einen körperlichen Effekt überführt. Diese Beobachtung verweist auf den profunden Witz der Geschichte: Pineiß schließt einen modifizierten Teufelspakt – einen Körperpakt – mit Spiegel, um dessen Schmer als wesentliche Zutat für seine Zauberkunst zu erhalten. Die Magie hängt von Körperteilen, von Körperlichem ab, und doch wird Pineiß immer wieder von der dem Körper eigenen, ›normalen‹ Magie überlistet: Essen, Verdauen, die Bereitstellung von Nahrung für den Geist und so fort. Noch Pineiß’ letzter Versuch, Spiegels Zunahme zu erzwingen, scheitert an seinem eigenen körperlichen Begehren. Nachdem Pineiß Spiegel in einen Käfig gesperrt hat, bleibt diesem keine Möglichkeit der körperlichen Bewegung oder anderer körperlicher Genüsse, die ihm erlaubten, gegen den wachsenden Schmer anzukämpfen. Spiegels Befreiungsver-
48 Vgl. ebd. 49 Vgl. ebd., S. 251. 50 Vgl. ebd., S. 252.
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such besteht nun bekanntermaßen darin, eine Lügengeschichte von zehntausend Goldgülden, einem Fluch und einer schönen Ehefrau zu erzählen. Pineiß genießt dieses ›Märchen‹ mit der gleichen Lust wie einst Spiegel die Fresslandschaft. Es ist aber weniger das Versprechen des Goldes – auch wenn dies eine Rolle spielen mag –, das Pineiß in Entzücken versetzt, als die Aussicht auf eine Ehefrau, Begehren also: »Denn die Aufzählung aller dieser Herrlichkeiten und Verrichtungen, die mit einem Weibergute verbunden sind, hatte dem dürren Hexenmeister den Mund nur noch wässeriger gemacht.«51 Wenn es um gewisse körperliche Gelüste geht, dann erscheint der »dürre[]« Pineiß so ausgehungert wie der anfangs nach Nahrung hungernde Spiegel. Und so wie Spiegel sich auf einen Körperpakt einließ, um sein Bedürfnis zu stillen, verfällt Pineiß dem Versprechen der Erfüllung seines sexuellen Begehrens. Was Spiegel letztlich von dem Vertrag befreit und damit sein Leben rettet, ist Pineiß’ Begehren des Körpers, das größer ist als sein Begehren der Zauberei. Der Körper als Selbstzweck (nicht als Mittel zu einem Zweck) ist hier, wie in der ganzen Erzählung, der eigentliche Fokus. Es überrascht daher nicht, dass, sobald Pineiß das Märchen ›gekauft‹ und Spiegel aus dem Kontrakt entlassen hat, letzterer das Geschäft besiegelt, das heißt den Vertrag rückgängig macht, indem er die vertragsmäßige Herrschaft über seinen Körper durch einen Akt der Einverleibung rückgängig macht: Kaum lag das Papier dort, so schnappte es Spiegel auf und verschlang es; und obgleich er heftig daran zu würgen hatte, so dünkte es ihn doch die beste und gedeihlichste Speise zu sein, die er je genossen, und er hoffte, daß sie ihm noch auf lange wohl bekommen und ihn rundlich und munter machen würde.52
In einer gänzlich säkularisierten Welt, in der Welt des Körpers, besteht der letzte Rest von Magie darin, den Vertrag in derjenigen Ökonomie und Macht verschwinden zu lassen, die sich wie ein roter Faden durch die ganze Novelle zieht: die ›Magie‹ der Verdauung. Wenn Spiegel den Pakt dadurch annulliert, dass er ihn sich einverleibt, ihn
51 Vgl. ebd., S. 269. 52 Vgl. ebd., S. 271.
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eins mit dem Körper – ja, mit dem Schmer – werden lässt, so verweist dies auf die letzte Ruhestätte des Übernatürlichen in dem Märchen Spiegel, das Kätzchen und vielleicht in Kellers ganzem Werk: Es wird verschlungen, verdaut, einverleibt, es wird ein Teil des Körpers. (Übersetzt von Elke Siegel)
»Und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen.« Erosion der Wahrnehmung in Theodor Storms Der Schimmelreiter E LISABETH S TROWICK
In seinem Essay über Theodor Storm charakterisiert Lukács »Storms Welt«1 anhand folgender Beschreibung: An den Ufern hört man das Brausen der Nordseewogen und gegen die wilde Wucht der Winterstürme schützen die Dämme kaum das Land, doch die reine Luft und noch mehr der dichte Nebel fassen Wiesen, sandige Küsten und Städte zu weichen Flächen zusammen. […] Einfach, ruhig, grau und eintönig ist alles, und Schönheit können hier nur einheimische Augen finden. In dieser grauen Monotonie sieht nur ein solches Auge viele Farben, dem jeder Baum und jeder Strauch von großen und tiefen Erlebnissen erzählt […].2
Wenigstens zweierlei ist an Lukács’ Analyse von »Storms Welt«, die ja eine ›Text-Welt‹ ist, auffällig: Sie erfolgt im Modus von Mimesis – eine Landschaftsbeschreibung, wie sie sich unschwer bei Storm selbst
1
Georg Lukács: »Bürgerlichkeit und L’art pour l’art: Theodor Storm«, in: Die Seele und die Formen, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1971, S. 82-116, hier S. 95.
2
Ebd.
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finden könnte: Wer dächte beim »Brausen der Nordseewogen«, der Gefahr des Dammbruchs, den »dichte[n] Nebeln«, der »grauen Monotonie« nicht an den Schimmelreiter? Zudem stellt sich die Landschaftsbeschreibung als Wahrnehmungsereignis dar; Storms Welt begegnet im Modus von Präsens/z: man »hört« und »sieht«. Dabei differenziert Lukács das sensorische Geschehen poetologisch im Spannungsfeld von Beschreiben und Erzählen, welches sein späterer Essay »Erzählen oder beschreiben?«3 so scharf konturieren wird: Es ist die Erzählung, welche das Wahrnehmungsereignis aus der »grauen Monotonie« – der Beschreibung? –, in welcher es gleichwohl seine Statt hat, zu heben vermag. Wenn Lukács’ kritische Mimesis die poetologische Analyse von Storms Text-Welten im Modus von Beschreibung betreibt, verweist sie zugleich auf die implizite Poetologie/Theorie von Storms Darstellungsverfahren. Die »unaufhörlich« mit »Wutgebrüll« an den Deich schlagenden »gelbgrauen Wellen«,4 wie sie sich dem Reisenden und inneren Rahmenerzähler zusammen mit dem Leser darbieten, sind weit davon entfernt, die Erzählungen im Schimmelreiter lediglich monoton zu grundieren; vielmehr fungiert Beschreibung dezidiert als Inszenierung von Wahrnehmung, Analyse von Bedingungen und Modi von Wahrnehmung mit literarischen Mitteln. Lukács’ Beobachtung der Verschränkung von Darstellung und Wahrnehmung bei Storm aufnehmend, untersucht meine nachfolgende Lektüre wahrnehmungspoetologische Aspekte von Storms letzter Novelle. Insofern Monotonie, »Unform«, Wahrnehmungstäuschung und -ausfall strukturelle Aspekte von Storms Poetologie der Wahrnehmung sind, trägt diese deutlich moderne Züge. Wie interferiert sie mit der Ordnung des Erzählens? Und was sind die epistemologischen und realismustheoretischen Konsequenzen dieses literarischen Experiments für ›wahrgenommene Wirklichkeit‹?
3
Georg Lukács: »Erzählen oder beschreiben? Zur Diskussion über den Naturalismus und Formalismus«, in: Werke, Bd. 4: Essays über Realismus, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1971, S. 197-242.
4
Theodor Storm: Der Schimmelreiter, in: Sämtliche Werke in vier Bänden, hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Bd. 3, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1987/88, S. 634-755, hier S. 634.
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Unheimliche Wahrnehmung Eröffnet die erste Rahmenerzählung der Novelle eine Leseszene im Innern des Hauses der Großmutter, könnte die Szene, mit welcher die innere Rahmenerzählung einsetzt, nicht unbehauster sein. Der Erzähler reitet »bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischen Deich entlang«.5 Der dramatische Erzähleinstieg gestaltet sich nahezu durchgängig im Modus von Wahrnehmung, wobei Wahrnehmungen expositorisch eingeführt werden, welche in der Binnenerzählung wiederkehren. Die Darstellung des sensorischen Geschehens erfolgt in auffälligem Gestus: Wahrnehmung ist wesentlich in Bezug auf ihren Ausfall sowie auf Undeutlichkeit beschrieben. [Z]war sollte man vom Deiche aus auf Halligen und Inseln sehen können; aber ich sah nichts als die gelbgrauen Wellen, die unaufhörlich mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlugen […]; dahinter wüste Dämmerung, die Himmel und Erde nicht unterscheiden ließ; denn auch der halbe Mond, der jetzt in der Höhe stand, war meist von treibendem Wolkendunkel überzogen. […] Die Nachtdämmerung hatte begonnen, und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen; keine Menschenseele war mir begegnet, ich hörte nichts als das Geschrei der Vögel, wenn sie mich oder meine treue Stute fast mit ihren langen Flügeln streiften, und das Toben von Wind und Wasser.6
Monotonie und Ununterscheidbarkeit sind die Koordinaten dieses Raumes der Wahrnehmung. Unaufhörliches Schlagen der Wellen, Wutgebrüll, Geschrei und Toben bilden eine Geräuschkulisse, einen gleichsam ohrenbetäubenden Lärm, der einen Wahrnehmungsausfall inmitten akustischer Wahrnehmung selbst artikuliert: »[I]ch hörte nichts als das Geschrei«. Auch visuelle Wahrnehmung ist wesentlich durch Differenz-/Konturlosigkeit gekennzeichnet, sprich: von ihrem Ausfall her in Szene gesetzt. Man sieht nicht, was man sehen sollte, keine Halligen und Inseln; vielmehr ziehen »gelbgraue Wellen« und »wüste Dämmerung« den Unterschied zwischen Himmel und Erde
5
Ebd. S. 634.
6
Ebd., S. 634-635.
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ein, suspendieren mit dem Horizont jede sichtbare Grenze, das Sichtbare als Grenze, und weisen zugleich auf die konstitutiven Bedingungen dieses Nicht-Sehens zurück: Es ist die »Nachtdämmerung«, das das Licht verdeckende »treibende[] Wolkendunkel«, das Wahrnehmung und Erkennen unmöglich macht. Kurz: Die Beschreibung suspendiert jeglichen sichtbaren Gegenstand und verschiebt den Fokus auf den prekären Akt visueller Wahrnehmung selbst. Vor diesem Hintergrund kommt es zur Wahrnehmung einer Gestalt, welche ihrerseits mit einem Zweifel behaftet bleiben wird. Der Gegenstand der Wahrnehmung wird auch hier niemals getrennt vom Wahrnehmungsakt beschrieben; dieser ist erneut auf einen Wahrnehmungsausfall hin – eine Lautlosigkeit – thematisiert. Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an. [...] [I]ch hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen […]; aber ich hatte nicht lange Zeit zum Denken; schon fuhr es von rückwärts wieder an mir vorbei; mir war, als streifte mich der fliegende Mantel, und die Erscheinung war, wie das erste Mal, lautlos an mir vorüber gestoben. Dann sah ich sie fern und ferner vor mir; dann war’s, als säh ich plötzlich ihren Schatten an der Binnenseite des Deiches hinuntergehen.7
Die Beleuchtung wechselt: Das »treibende Wolkendunkel« gewährt temporäre Sichtbarkeit, welche eingeschränkt bleibt, da der halbe Mond nur »karge[s] Licht« wirft. Die Dämmerung, das Zwielicht, erscheint als bevorzugte Bedingung visueller Wahrnehmung, unter der sich das Erscheinen und Verschwinden der Gestalt vollzieht.8 Das
7
Ebd., S. 635-636.
8
Vgl. auch Albert Meier: »›Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?‹ Die Subversion des Realismus in Theodor Storms Der Schimmelreiter«, in: Hans Krah/Claus-Michael Ort (Hg.), Weltentwürfe in Literatur und Me-
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»etwas«, welches dem Erzähler entgegenkommt, wird »immer deutlicher«, wird zur »dunklen Gestalt« – in der das Wolken»dunkel« der ersten Szene wiederbegegnen mag –, die näherkommt, vorbeifliegt, bis »es« von rückwärts erneut an dem Erzähler vorbeifährt, der die »Erscheinung« bald »fern und ferner« vor sich sieht, bis es ihm ist, als sähe er ihren »Schatten« am Deich hinuntergehen. Die strikte Fokussierung der Beschreibung auf das Wahrnehmungsgeschehen ist auffällig. Nicht etwa entfernt sich die Erscheinung, sondern der Erzähler sieht sie »fern und ferner« vor sich. Einzig, wo der Text in den Modus von Reflexion wechselt, der Erzähler – unterbrochen von dem zweiten Auftauchen der Gestalt – noch über die erste Begegnung nachdenkt, erfährt die Gestalt eine Spezifizierung als »Reiter«.9 Die übrige Darstellung ist differenzierte Beobachtung von Wahrnehmung selbst: das Gestaltwerden und ihre Auflösung, Formierung und Deformation von Wahrnehmung, ihre Zeitlichkeit und Veränderung. Wo der Erzähler »etwas«, eine »Gestalt«, »Erscheinung oder »es« sieht (»sah ich es«) wird ein Wahrnehmungsprozess beschrieben, kein Gegenstand erkannt.10 Unsicherheit, Unzuverlässigkeit, Nicht-Erkennen sind grundlegende Elemente dieses Wahrnehmungsprozesses, der die Frage nach Glaubwürdigkeit in radikaler Weise aufwirft und Täuschung zu seiner strukturellen Mitgift hat. Die sprachlichen Indikatoren dafür könnten nicht zahlreicher sein: »glaubte ich […] zu erkennen«, »mir war als streifte mich«, »als säh ich«. Lukács hebt zwar den sensorischen Charakter von Storms Welt hervor, diese spezifische Struktur der stormschen Wahrnehmungsinszenierung bleibt jedoch unbedacht. Neben Monotonie, Konturlosigkeit, ›als ob‹-Charakter und Täuschung ist in dieser Szene der zweimalige, mit jeder Begegnung einhergehende Ausfall von Wahrnehmung eklatant: »ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen«, »die Erscheinung war, wie das erste Mal, lautlos an mir vorüber gestoben«. Diese Lautlosigkeit trägt entscheidend zum Unheimlichen, Gespenstischen dieser Szene bei. Angesichts der konsequenten Ansiedlung der Beschreibung auf der
dien. Phantastische Wirklichkeiten – Realistische Imaginationen, Kiel: Ludwig 2002, S. 167-179, hier S. 172. 9
Storm: Schimmelreiter, S. 636.
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Ebene von Wahrnehmung kommt das Unheimliche weniger der Figur, dem mutmaßlichen Reiter, als dem Wahrnehmungsakt selbst zu. Inwieweit die Verschränkung von Anästhetischem, Gestalt-/Formwahrnehmung und Unheimlichem der Wahrnehmung die gesamte Novelle durchzieht, wird meine Lektüre zeigen. Was der innere Erzählrahmen expositorisch als Ambivalenz von Wahrnehmung inszeniert, wird nachfolgend als Spannung zwischen Aufklärung und Aberglauben verhandelt. Der als »Aufklärer« bekannte Schulmeister erhält das Wort, wobei auch seine Rede sich nicht vom abergläubischen »Geschwätz des ganzen Marschdorfes« trennen lässt, welches von unheimlichen Wahrnehmungen – so etwa einem Pferd auf Jevershallig – zu berichten weiß.11 Auf die Bemerkung des Schulmeisters, »[e]s ist viel Aberglaube dazwischen, und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen«, entgegnet der reisende Ich-Erzähler, dass er »schon selbst die Spreu vom Weizen trennen werde«.12 Einer solchen Zuversicht erteilt der neue Deichgraf am Ende der Erzählung eine unzweifelhafte Absage, wenn er den Reisenden an seine eigene Wahrnehmung verweist: »[A]ber Sie können Ihren eigenen Augen doch nicht mißtrauen«.13 Was der Reisende im aufklärerischen Gestus auf unterschiedliche Positionen zu verteilen sucht, ist in seiner eigenen Wahrnehmung längst kontaminiert. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Wahrnehmung ist in die Aporie gleichzeitiger Unmöglichkeit und Unausweichlichkeit geführt: Weder ist es möglich, seinen Augen zu trauen, noch, seinen Augen zu misstrauen. Wo Storms Novelle Täuschung als strukturelles Moment von Wahrnehmung inszeniert, formuliert sie nicht nur eine radikale Aufklärungskritik, sondern öffnet jegliche ›wahrgenommene Wirklichkeit‹ hin auf Aporien der Moderne. Dieser Konsequenz von Storms sensorischem Apparat entgeht keine der Positionen: nicht der Schulmeister als Erzähler, nicht der Reisende als Erzähler, nicht der Leser. Die Lichtverhältnisse spiegeln die aporetische Struktur der Wahrnehmung auf ihre Weise: Storms Novelle wird nicht müde, Dämmerung zu beschreiben und damit visuelle Wahrnehmung als immer
11 Ebd., S. 755 und S. 695. 12 Ebd., S. 639. 13 Ebd., S. 755.
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schon eingeschränkte zu inszenieren. Doch auch wo das Sonnenlicht – im Kontext der Novelle nicht vom Topos der Aufklärung zu trennen – das Zwielicht der Dämmerung aufzuklaren/aufzuklären verspricht, produziert es seinerseits nur weitere Täuschung und Blendung/Blindheit: Der erste Wurf Hauke Haiens beim Eisboseln verunglückt, weil ihn ein Sonnenstrahl blendet: »[A]ls er eben den Arm hinten aufschwang, um die Kugel fortzuschleudern, war eine Wolke von der Sonne fortgezogen, die sie vorhin bedeckt hatte, und diese traf mit ihrem vollen Strahl in seine Augen; der Wurf wurde zu kurz«.14 An späterer Stelle in der Novelle zeitigt das Sonnenlicht noch verheerendere Wirkung: Es ist zunächst in der Dämmerung, dass Hauke Haien die erodierte Stelle entdeckt, an welcher der Deich schließlich brechen wird. Als er sie am nächsten Vormittag erneut in Augenschein nehmen will, herrscht »lichte Frühlingssonne«, in deren Schein Hauke Haien das neue Bett des Prieles zunächst nicht einmal findet. »[E]rst da er gegen die blendenden Strahlen seine Augen mit der Hand beschattet, konnte er es nicht verkennen; aber dennoch, die Schatten in der gestrigen Dämmerung mußten ihn getäuscht haben; es kennzeichnete sich jetzt nur schwach«.15 Erscheint hier zunächst die Dämmerung als Auslöser von Täuschung, welche sich im Sonnenlicht korrigieren lässt, so stellt der Text gerade diese ›Wahrheit‹ später als Betrug heraus. Mit Blick auf das Sonnenlicht heißt es: »Hauke, der nicht wußte, wie uns die Natur mit ihrem Reiz betrügen kann«.16 Und in der Tat wird die in der Dämmerung gemachte Wahrnehmung, die Erkenntnis aus Zwielicht/zwielichtige Erkenntnis, Recht behalten. – Vor diesem Hintergrund erscheint auch der Sonnenschein der letzten Szene der Novelle in anderem Licht: War der innere Rahmen mit dem Ritt des Reisenden im Unwetter in der Dämmerung eröffnet worden, schließt er mit dessen Wegritt: »Am andern Morgen, beim goldensten Sonnenlichte, das über einer weiten Verwüstung aufgegangen war, ritt ich über den Hauke-Haien-Deich zur Stadt hinunter.«17 Wie ließe sich dieser Szenenwechsel von Dämmerung zum »goldenste[n] Sonnen-
14 Ebd., S. 667. 15 Ebd., S. 739. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 755.
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lichte« am Schluss der Novelle jenseits des Unheimlichen lesen, welches frühere Szenenwechsel bedeutet hatten? Die gerade aus der Binnenerzählung zitierte Szene des Betrugs der Sinne war ihrerseits durch einen Szenenwechsel eingeleitet worden, der sich – rahmenübergreifend – parallel zum Schlusssatz lesen lässt: Am folgenden Vormittag, als er wieder auf den Deich hinauskam, war die Welt eine andere, als wie er sie Tags zuvor gefunden hatte; […] eine lichte Frühlingssonne ließ ihre Strahlen fast senkrecht auf die unabsehbaren Watten fallen; die weißen Möwen schwebten ruhig hin und wider, und unsichtbar über ihnen, hoch unter dem azurblauen Himmel, sangen die Lerchen ihre ewige Melodie.18
Dämmerung und Sonnenlicht fungieren gerade nicht als Opposition; das Sonnenlicht selbst trügt, kehrt sich ins Unheimliche. Ist also auch das letzte Bild der Novelle weniger eines der Befriedung als eines der Blendung, durch welche jeder Wurf notwendig fehlgehen muss? Das »uns« der Täuschung, von welchem der Binnenerzähler gesprochen hatte (»wie uns die Natur mit ihrem Reiz betrügen kann«), mag hier als Leserreferenz gelten: Wäre das »goldenste[] Sonnenlichte« eine Blendung des Lesers, mit welcher der Text schließt? Noch der letzte Satz der Novelle also eine »unheimliche Stelle«, über die sich der Leser nur täuschen, die er nur »verkennen« kann?19 Was ausgehend von der inneren Rahmenerzählung über das Unheimliche der Wahrnehmung gesagt wurde, findet Resonanz in der Binnenerzählung: Auch die »unheimliche Stelle«, als welche die von Erosion zerstörte Grasnarbe bezeichnet wird, ist grundlegend mit der Beschreibung ihrer Wahrnehmung verknüpft.20 Das Unheimliche liegt mithin auch hier nicht im Gegenstand der Wahrnehmung, der sich vielmehr entzieht, sondern im Wahrnehmungsakt selbst. An der »unheimlichen Stelle« erodiert visuelle Wahrnehmung hin auf ihr Unheimliches: ein Schwanken zwischen Sehen und Nicht-Sehen, eine
18 Ebd., S. 739. 19 Ebd., S. 739-740. 20 Ebd., S. 740.
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radikale Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung bei wiederholter In-Augenschein-Nahme. Wiederholung ist ein weiteres Moment des Wahrnehmungsprozesses, der hierdurch auf eine strukturelle Unreliabilität hin geöffnet wird. Die erste Wahrnehmung erfolgt in der Dämmerung: Hauke »sah […] in großer Breite die Grasnarbe zerstört und fortgerissen und in dem Körper des Deiches eine von der Flut gewühlte Höhlung, durch welche überdies ein Gewirr von Mäusegängen bloßgelegt war.«21 Hauke Haien kann seine Augen nicht von der Stelle lassen, die sich in dieser ersten Szene »deutlich genug« darstellt: »Noch einmal ritt er auf dem neuen Deich bis an die äußerste Nord-Westecke, dann wieder rückwärts, die Augen unablässig auf das neu gewühlte Bett des Prieles heftend, der ihm zur Seite sich deutlich genug in dem bloßgelegten Schlickgrund abzeichnete.«22 Der nächste Tag zeitigt den überraschenden Szenenwechsel. Hauke findet die Stelle zunächst nicht; erst als er die Augen gegen die Sonnenstrahlen beschattet, zeichnet sich diese »schwach« ab: Hauke […] suchte nach dem neuen Bett des Prieles, das ihn gestern so erschreckt hatte; aber bei dem vom Zenit herabschießenden Sonnenlicht fand er es anfänglich nicht einmal; erst da er gegen die blendenden Strahlen seine Augen mit der Hand beschattete, konnte er es nicht verkennen; […] es kennzeichnete sich jetzt nur schwach […].23
Die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung, das Alterieren von An- und Abwesenheit, Fort-Da der Stelle, hält an. Die Stelle lässt Hauke Haien keine Ruhe; der Text stellt diese Situation auf Dauer; nach Monaten sieht er sie »plötzlich wieder« und zwar »schärfer« als je zuvor: Das Jahr ging weiter, aber je weiter es ging […], um so unruhiger ging oder ritt Hauke an dieser Stelle vorüber, er wandte die Augen ab […]; ein paar Mal,
21 Ebd., S. 736. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 739. Vgl. zu dieser Stelle auch Andrew J. Webber: The Doppelgänger: Double Visions in German Literature, Oxford: Clarendon Press 1996, S. 312.
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wo er dort hätte vorüber müssen, ließ er sein schon gesatteltes Pferd wieder in den Stall zurückführen; dann wieder, wo er nichts dort zu tun hatte, wanderte er, um nur rasch und ungesehen von seiner Werfte fortzukommen, plötzlich und zu Fuß dahin; manchmal auch war er umgekehrt, er hatte es sich nicht zumuten können, die unheimliche Stelle aufs Neue zu betrachten; und endlich, mit den Händen hätte er Alles wieder aufreißen mögen, denn wie ein Gewissensbiß, der außer ihm Gestalt gewonnen hatte, lag dies Stück des Deiches ihm vor Augen. […] So war der September gekommen; Nachts hatte ein mäßiger Sturm getobt […] An trübem Vormittag danach […] ritt Hauke auf den Deich hinaus, und es durchfuhr ihn, als er seine Augen über die Watten schweifen ließ; dort, von Nordwest herauf, sah er plötzlich wieder, und schärfer und tiefer ausgewühlt, das gespenstische neue Bett des Prieles; so sehr er seine Augen anstrengte, es wollte nicht mehr weichen.24
Die Stelle verfolgt Hauke, schlägt ihn in Bann, macht ihn die Augen abwenden, reißt sie an sich. Es ist erst hier, dass die Stelle als »unheimlich«, das neue Bett des Priels als »gespenstisch« beschrieben wird. Die Dauer mag für die Erosion gesorgt haben – nicht nur des Prieles, sondern vor allem auch der Wahrnehmung hin auf ihr Unheimliches: In einer strikten Lektüre ist es nicht die Stelle, sondern das Unheimliche der Stelle, nicht das Bett des Prieles, sondern das Gespenstische dieses Bettes, welches Hauke Haien »plötzlich« und in aller Schärfe vor Augen steht und nicht mehr weichen will. Im Unheimlichen/Gespenstischen artikuliert sich die Verkehrung des Wahrnehmungsaktes: Hauke strengt seine Augen an, nicht um etwas zu sehen, sondern um nicht zu sehen. Nicht er blickt, sondern die Stelle blickt ihn an und will nicht mehr weichen. Was in diesem vexierbildlichen Akt visueller Wahrnehmung Schärfe gewinnt, ist die schwindelerregende Kehrseite des Sichtbaren, das Andere der Gestalt, ein Gespenstisch-Amorphes. Das in der Novelle inszenierte Unheimliche der Wahrnehmung ließe sich wohl also als Auslotung hin auf einen unmöglichen Wahrnehmungsakt, auf die unsichtbare Kehrseite des Blicks, auf die Aushöhlung visueller Wahrnehmung auf das Andere der Gestalt, kurz: als Inszenierung der zugleich konstitutiven und erodierenden Bedingungen von Wahrnehmung, bezeichnen.
24 Storm: Schimmelreiter, S. 740.
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Die strukturelle Parallele der Szenen um die »unheimliche Stelle« zur Eingangsszene der inneren Rahmenerzählung, der wiederholten Begegnung mit der reitenden Gestalt, ist augenfällig: Auch in dieser war die Beschreibung gänzlich auf die Wahrnehmung von Form/Gestalt ausgerichtet, auf ihr Deutlicher-Werden, Sich-Entfernen. In Konstellation mit der »unheimlichen Stelle« aus der Binnenerzählung lässt sich das Unheimliche dieser ersten Szene ebenfalls hin auf eine Verkehrung des Wahrnehmungsaktes lesen: Weniger ist die gespenstische Gestalt Gegenstand von Wahrnehmung, als dass das Gespenstische der Gestalt, das unheimliche Andere der Form, den Erzähler anblickt: »sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an«.25 Lukács spricht von den »einheimischen Augen«26, welche allein in der grauen Monotonie Farben zu sehen vermögen. Erkennt er damit die Bedeutung der Sphäre des Heimischen für Storms Welt, »the home-bound catchment of Storms fictional world«,27 so verkennt er doch gleichzeitig den Einsatz der heimischen Augen für das Unheimliche der Wahrnehmung. Wie man seit Storm wissen könnte und seit Freud weiß, hat das Unheimliche keinen anderen ›Ort‹ als das Heimische/Heimliche.28 Storms Welt produziert weniger sensorische Erkenntnis, als dass sie die Verfremdung des einheimischen Blicks betreibt. Bezüge zwischen Unheimlichem und Visualität in Storms Schimmelreiter wurden in der Forschung verschiedentlich herausgearbeitet. Andrew Webber etwa weist auf Hauke Haiens Ausrichtung auf das »›canny eye‹« hin, das gleichwohl von unheimlichen Illusionen umlagert ist: »Haien’s acute vision is shrouded by a ›net of steam and fog‹, and his sharp eyes accordingly undergo a metamorphosis to ›starr‹ […] pre-viewing the stark staring look of his ghostly alter ego.«29 Wo der ›canny‹ Blick ins Starren kippt, trägt sich Blindheit in visuelle
25 Ebd., S. 636. 26 Lukács: »Bürgerlichkeit und L’art pour l’art«, S. 95 (meine Hervorhebung). 27 Webber: The Doppelgänger, S. 284. 28 Vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, in: Studienausgabe, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Fischer 1970, S. 264 und S. 267. 29 Webber: The Doppelgänger, S. 311.
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Wahrnehmung ein; Webber spricht von »the blind stare of the uncanny«.30 Eine ähnliche Ambivalenz des Sehens konstatiert Anette Schwarz in ihrer Analyse des Unheimlichen im Schimmelreiter: »Hauke insists in the integrity of perception and the reliable power of vision. […] His defense against visual delusions, however, also proves that he is highly susceptible to the phantom-like dance of sea birds and the play of light and fog.«31 Die Farbe Weiß und die an diese geknüpften Effekte des Scheinens liest Schwarz mit Blick auf eine Krise der Wahrnehmung: »[F]or what is revealed is exactly the fact that objects cannot be grasped or secured by perception. Thus ›shimmering‹ reveals a crisis of perception«.32 Wenn ich hier den Einsatz des Unheimlichen ebenfalls wahrnehmungstheoretisch lese, so weniger in Hinsicht auf eine spezifische Figur, etwa Hauke Haien, als mit Bezug auf die Frage nach der Form/Gestalt von Wahrnehmung, wie sie Storms Novelle unablässig inszeniert. Haue Haien mag versuchen, dem Unheimlichen zu entgehen, der Text selbst kennt diesbezüglich kein Refugium: Wahrgenommene Wirklichkeit ist immer schon vom Unheimlichen affiziert; gerade insofern Wahrnehmung auf Gestalthaftigkeit/Form angewiesen ist, wird sie zur Produktionsstätte eines Amorph-Gespenstischen. Gestalt und Gestaltlosigkeit bilden im Schimmelreiter keine Opposition, sondern verschränken sich im Akt visueller Wahrnehmung strukturell: Formierung schlägt ins Andere der Gestalt um. Das Unheimliche markiert die Ent-Formung der Form, die Einlassung der im Text allgegenwärtigen »Unform«,33 die Ent-Staltung der Gestalt – wo anders als im Akt der Gestaltung selbst. Es ist diese prekäre Doppelstruktur der Wahrnehmung, welche der Text in wiederkehrenden, Erzählrahmen transgredierenden Wahrnehmungsakten inszeniert und damit noch die Form der Novelle selbst herausfordert.
30 Ebd., S. 314. 31 Anette Schwarz: »Social Subjects and Tragic Legacies: The Uncanny in Theodor Storm’s Der Schimmelreiter«, in: The Germanic Review 73 (1998), S. 251-266, hier S. 257-258. 32 Ebd., S. 262. 33 Ebd., S. 646.
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Insofern ich das Unheimliche als grundlegende Kategorie von Storms Poetologie der Wahrnehmung profiliere, ergibt sich ein spezifischer Zugang zum psychoanalytischen Konzept des Unheimlichen. Wenn Freud zu Beginn seines Aufsatzes über Das Unheimliche dieses als ein vernachlässigtes »Gebiet der Ästhetik«34 charakterisiert, so ist es hier in seiner aisthetischen Qualität von Interesse: als Erosion des »heimischen« Blicks, von Wahrnehmungskonventionen sowie von Grenzen der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit. In diesem wahrnehmungstheoretischen Sinne ruft meine Analyse nicht zuletzt Benjamins Begrifflichkeit des »Optisch-Unbewußten« auf, welche sich anhand von »Storms Welt« poetologisch reformulieren lässt. In Benjamins Kleiner Geschichte der Photographie heißt es: Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil der »Ausschreitens«. Die Fotografie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.35
Das Optisch-Unbewusste, welches Benjamin anhand optischer Techniken wie Fotografie und Film und ihren Möglichkeiten von Vergrößerung und Zeitlupe formuliert, ließe sich mit Blick auf Storms Novelle poetologisch spezifizieren: Qua Techniken der Inszenierung und Beschreibung erzeugt der Schimmelreiter alternative Räume und Zeiten visueller (und akustischer) Wahrnehmung, macht er Unsichtbares sichtbar/Sichtbares unsichtbar, verkehrt er Wahrnehmungsakte hin auf eine »Unform«,36 das Andere der Gestalt. Storm Poetologie der
34 Freud: »Das Unheimliche«, S. 243. 35 Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. 2.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 368-396, hier S. 371. 36 Storm: Schimmelreiter, S. 646.
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Wahrnehmung generiert ein anderes Wissen – ein Aisthetisch-Unbewusstes –, das als unheimlich konnotiert ist. Der innere Rahmenerzähler und Hauke Haien sind keineswegs die einzigen, die Unheimliches »schauen«.37 Das Unheimliche der Wahrnehmung wird noch in einer weiteren Szene eklatant, die wohl wie keine andere der Novelle als literarische Inszenierung des AisthetischUnbewussten gelten kann. Es ist dies die von dem Knecht, Iven Johns, und dem Dienstjungen des Deichgrafen Carsten wahrgenommene beziehungsweise nicht-wahrgenommene Erscheinung eines Pferdes auf Jevershallig. Die Szene ist als Betrachtungsszene ausgewiesen: Zunächst stehen Iven Johns, der Knecht des Deichgrafen, und ein namenloser Tagelöhner »nebeneinander« auf dem Deich und »starren« »unbeweglich nach der im trüben Mondduft kaum erkennbaren Hallig hinüber«.38 Klingt das Unheimliche der Wahrnehmung bereits im »Starren« an, wird der Banncharakter des Sehens noch deutlicher, wenn es heißt, dass »etwas Auffälliges […] sie dort so festzuhalten« schien.39 Noch nachdem der Tagelöhner gegangen ist, kann der Knecht den Blick nicht von der Erscheinung lösen: »Der Knecht sah sich ein paar Mal nach dem Fortlaufenden um; aber die Begier, Unheimliches zu schauen, hielt ihn noch fest.«40 Der hinzukommende Dienstjunge des Deichgrafen, Carsten, tritt hinzu und in den gemeinschaftlichen Bann des Betrachtens ein: »Beide standen eine Weile schweigend, die Augen nur nach dem gerichtet, was sie drüben undeutlich vor sich gehen sahen.«41 Ist einerseits auffällig, was man sieht: ein Pferd, das auf Jevershallig umhergeht, so andererseits zugleich, was man nicht sieht: das Pferdegerippe, welches dort gewöhnlich bei den Schafsgerippen liegt: »›[D]as Pferdsgerippe, das sonst dabei lag, wo ist es? Ich kann’s nicht sehen!‹ ›Ich seh es auch nicht! Seltsam!‹ sagte der Knecht.«42 Die Frage, die der Text aufwirft, ist mithin nicht, ob Pferd oder Gerip-
37 Ebd., S. 696. 38 Ebd. 39 Ebd.. Wenig später heißt es: »Der Knecht sah wie gebannt hinüber.« Ebd., S. 699 (meine Hervorhebung). 40 Ebd., S. 696. 41 Ebd., S. 697. 42 Ebd.
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pe da sind oder nicht, sondern die nach dem Status von Wahrnehmung beziehungsweise ›wahrgenommener Wirklichkeit‹, nach dem also, was man sieht beziehungsweise nicht sieht. Dass dies radikal unzuverlässig ist, zeigt sich am nächsten Tag erneut: »›Da geht es wieder‹, sagt der Knecht; ›nach Mittag war ich hier, da war’s nicht da; aber ich sah deutlich das weiße Pferdsgerippe liegen!‹ Der Junge reckte den Hals: ›Das ist jetzt nicht da, Iven‹, flüsterte er.«43 Und so ist denn auch die Erkundungstour auf die Hallig, welche Carsten bei Mondlicht unternimmt, während Iven auf dem Deich bleibt und das Geschehen von Ferne beobachtet, weniger eine Untersuchung44 der irdischen oder überirdischen Pferdenatur, als vielmehr eine Expedition ins Unheimliche der Wahrnehmung. Während Iven das lebendige Pferd auf der Hallig und Carsten auf selbiges zugehen sieht, sieht Carsten dieses nicht, dafür jedoch das Gerippe. Der Text berichtet die Beobachtungen zeitlich versetzt, zunächst im Modus der Beschreibung aus der Perspektive Ivens: Mehrere hundert Schritte nordwärts sah er [Iven, E.S.], was sie für einen Schimmel angesehen hatten; und jetzt! – ja, die Gestalt des Jungen kam gerade darauf zugegangen. Nun hob es den Kopf, als ob es stutzte; und der Junge – es war deutlich jetzt zu hören – klatschte mit der Peitsche. Aber – was fiel ihm ein? er kehrte um, er ging den Weg zurück, den er gekommen war. Das drüben schien unablässig fortzuweiden […].45
Anschließend als Erzählung Carstens: »Nun, Carsten«, frug er, »was war es?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Nichts war es!« sagte er. »Noch kurz vom Boot aus hatt ich es gesehen; dann aber, als ich auf der Hallig war – weiß der Henker, wo sich das Tier verkrochen hatte; der Mond schien doch hell genug; aber als ich an die Stelle kam, war nichts da als die bleichen Knochen von einem halben Dutzend Schafen,
43 Ebd., S. 698. 44 »[I]ch glaub, du möchtest das am liebsten selber untersuchen!« Ebd. 45 Ebd., S. 699.
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und etwas weiter lag auch das Pferdsgerippe mit seinem weißen, langen Schädel und ließ den Mond in seine leeren Augenhöhlen scheinen!«46
Die Szene betreibt buchstäblich eine Anatomie des Blicks: Das Pferdegerippe markiert Blicklosigkeit, denn warum sonst schiene der Mond ausgerechnet in die »leeren Augenhöhlen«? Wie die doppelte Wahrnehmung zeigt, ist die Blicklosigkeit jedoch nicht stabil zu verorten. Offensichtlich geht jede Perspektive mit einem Blickausfall einher: Iven sieht das lebendige Pferd, nicht jedoch das Gerippe; Carsten das Gerippe, nicht jedoch das lebendige Pferd. Damit inszeniert der Text allerdings weniger einen Perspektivismus von Wahrnehmung, als dass er über die Gleichzeitigkeit sich wechselseitig ausschließender Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung den unmöglichen Blick konstruiert. Die unterschiedlichen Blickpositionen produzieren nicht verschiedene Ansichten des Geschehens, sondern verschalten Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung, schließen das im Akt der Wahrnehmung konstitutiv Ausgeschlossene und Wahrgenommenes kurz. Lebendiges Pferd und Pferdegerippe sind nicht zwei gleichzeitig mögliche Perspektiven, sondern schließen einander wie lebendig und tot, bewegt und unbewegt aus. Als vollbrächte die doppelte Blickszene das Unmögliche, die beiden einander ausschließenden und sich qua Ausschließung wechselseitig konstituierenden Bilder eines Vexierbildes, Gestalt und Anderes der Gestalt, gleichzeitig zu aktivieren. Und einzig in Bezug hierauf wäre vom Aisthetisch-Unbewussten, vom Unheimlichen der Wahrnehmung, zu sprechen. Was Carsten nach seiner Rückkehr als Verschwinden (»weiß der Henker, wo sich das Tier verkrochen hatte«)47 und Wiedererscheinen des Wahrnehmungsgegenstandes zu erklären sucht, stellt sich als aporetische Struktur des Wahrnehmungsaktes selbst heraus: »– ›Wahrhaftig, da geht’s ja wieder!‹ ›Wieder?‹ sagte der Knecht; ›ich hab die ganze Zeit hinübergeschaut; aber es ist gar nicht fortgewesen; du gingst ja gerade auf das Unwesen los!‹ Der Junge starrte ihn an; ein Entsetzen lag plötzlich auf seinem sonst so kecken Angesicht«.48
46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 700.
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Es ist die Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Wahrnehmungsausfall, Blick und Blicklosigkeit, die das Entsetzen macht. »Der Junge starrte ihn an«49 – als sähe er nicht Iven, sondern ein Gespenst, beziehungsweise als hätte er selbst »leere Augenhöhlen«.50 Radikaler kann die Erschütterung des Wahrnehmungsapparates nicht sein: Wie der Wahrnehmung trauen, wie ihr nicht trauen, wo die »leeren Augenhöhlen« eines Pferdegerippes in den »einheimischen« Blick gewandert sind? Mit der unheimlichen Exzentrik des Blicks, dem Eintreten der toten, »leeren Augenhöhle« in den Blick, gestaltet Storms Novelle einen wahrhaft gespenstischen Blick, der Wahrnehmung hin auf das sie zugleich konstituierende wie erodierende Andere ausreizt: das Andere der Gestalt, die »Unform«, das »Unwesen«.51 Auch in dieser Szene also siedelt der Schimmelreiter das Gespenstische nicht im Objektbereich realistischer Literatur an, sondern verhandelt es dezidiert wahrnehmungstheoretisch als Aisthetisch-Unbewusstes. Die epistemologische und poetologische Relevanz des Gespenstischen/Unheimlichen für Storms Realismus liegt denn auch nicht in dessen vorgeblichem Charakter des Überirdischen oder Unwirklichen, sondern auf der Ebene ›wahrgenommener Wirklichkeit‹.52
49 Ebd. (meine Hervorhebungen). 50 Ebd., S. 699. 51 Ebd., S. 646 und S. 700. 52 Vgl. auch die Analyse von Anette Schwarz, welche allerdings eine andere, als die hier entwickelte Argumentation verfolgt: »A collector of ghost stories, and well versed in the literature and tradition of the uncanny, Storms draws a sharp line between the uncanny and the supernatural. In a letter to Gottfried Keller, he emphasizes that the realm of the natural or familiar cannot be apprehended by everyday perception and that unperceived forces and phenomena reveal their hidden existence in uncanny tales.« Schwarz: »Social Subjets and Tragic Legacies«, S. 253. Storm »[situates] the uncanny in a realm that is inaccessible to us not because of its supernatural quality but due to the limits of perception« Ebd. Theodor Storm schreibt am 4. August 1882 an Gottfried Keller: »[N]icht daß ich Un- oder Uebernatürliches glaubte, wohl aber, daß das Natürliche, was nicht unter die alltäglichen Wahrnehmungen fällt, bei Weitem noch nicht erkannt ist.«
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Mit Paul de Man lässt sich Storms literarisches Wahrnehmungsexperiment in rhetorischer Hinsicht lesen: Wenn de Man Rhetorik als Unmöglichkeit bestimmt, »zwei einander wechselseitig ausschließende Bedeutungen«53 zugunsten einer von beiden mit sprachlichen Mitteln aufzulösen, so tun sich weitreichende strukturelle Korrespondenzen zu Storms Blickszenarien auf: Die Gleichzeitigkeit einander ausschließender Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung, die der Schimmelreiter auf so gespenstische Weise inszeniert, ließe sich als rhetorische »Struktur der wechselseitigen Suspendierung«54 charakterisieren. Es wäre mithin die Rhetorizität von Wahrnehmung, an welcher Storms Poetologie arbeitet, und die es erlaubt, Expeditionen ins Unheimliche zu unternehmen. Strukturell entfaltet sich das Unheimliche der Wahrnehmung damit auf zwei Weisen: zum einen in der hier als Rhetorizität der Wahrnehmung gelesenen Struktur wechselseitiger Suspendierung von Wahrnehmung, der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und NichtWahrnehmung; zum anderen – wie die wiederholte Wahrnehmung/Nicht-Wahrnehmung der »unheimlichen Stelle« gezeigt hatte – in zeitlicher Dimension: in der Wiederholung, welche Erosion als Zeitlichkeit akzentuiert. Erst über die Wiederholung gewinnt Storms Poetologie der Wahrnehmung erzähltechnisches Potential. Der Schimmelreiter entwickelt ein poetologisches Verfahren – von mir im Folgenden Parallelszenenverfahren genannt –, welches beide Weisen verbindet: Über die Wiederholung strukturell paralleler Szenen verschaltet der Text einander ausschließende, sich invertierende Wahrnehmungsformen im Modus von Gleichzeitigkeit. Wie dies im Einzelnen geschieht, wird anhand der Analyse von Parallelszenen beziehungsweise -stellen zu zeigen sein.
Theodor Storm – Gottfried Keller: Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. von Karl Ernst Laage, Berlin: Erich Schmidt 1992, S. 92. 53 Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens, aus dem Amerikanischen übers. von Werner Hamacher und Peter Krumme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 39-40, S. 42. 54 Werner Hamacher: »Unlesbarkeit«, in: de Man, Allegorien des Lesens, S. 7-26, hier S. 15.
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Form/»Unform« Storms Poetologie der Wahrnehmung ist dem ›un‹ verpflichtet: dem Unheimlichen (»unheimlich«, »unheimliche Stelle«),55 Unsichtbaren (»unsichtbar«),56 Unabsehbaren (»unabsehbare eisbedeckte Fläche der Watten«, »der unabsehbare Strand«),57 dem »Unwesen«,58 der »Unform«.59 Insbesondere in dem letzten Wort wird die Frage der Form explizit, anhand derer Storm Wahrnehmungsprozesse verhandelt, und die es erlaubt, die Erosion der Wahrnehmung auf die Form der Novelle selbst zu beziehen. Eine der ersten Szene, in welcher Hauke Haien vorgestellt wird, weist signifikante Parallelen zur Eingangsszene des inneren Erzählrahmens auf. Es ist auch dies eine Wahrnehmungsszene, wobei Hauke Haiens Wahrnehmung diejenige des Erzählers regelrecht invertiert: Er hörte weder das Klatschen des Wassers noch das Geschrei der Möwen und Strandvögel, die um oder über ihm flogen und ihn fast mit ihren Flügeln streiften, mit den schwarzen Augen in die seinen blitzend; er sah auch nicht, wie vor ihm über die weite, wilde Wasserwüste sich die Nacht ausbreitete; was er allein hier sah, war der brandende Saum des Wassers, der, als die Flut stand, mit hartem Schlage immer wieder dieselbe Stelle traf und vor seinen Augen die Grasnarbe des steilen Deiches auswusch. Nach langem Hinstarren nickte er wohl langsam mit dem Kopf oder zeichnete, ohne aufzusehen, mit der Hand eine weiche Linie in die Luft, als ob er dem Deiche damit einen sanfteren Abfall geben wollte.60
Wahrnehmung wird über Nicht-Wahrnehmung konturiert: Hauke hört nicht das »Klatschen des Wassers«, nicht das »Geschrei« der Vögel, die ihn »fast mit ihren Flügeln streiften«, er sieht nicht die »wilde Wasserwüste«, nicht die Dämmerung. Der Kontrast zwischen seiner
55 Storm: Schimmelreiter, S. 644 und S. 740. 56 Ebd., S. 644, S. 736 und S. 739. 57 Ebd., S. 643-644. 58 Ebd., S. 645 und S. 700. 59 Ebd., S. 646. 60 Ebd., S. 641.
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Wahrnehmung und der des inneren Rahmenerzählers könnte nicht schärfer sein: Dessen Wahrnehmung war nahezu vollständig auf Atmosphärisches ausgerichtet. Er registriert den Einfall der Nachtdämmerung, hört »nichts als das Geschrei der Vögel«, wenn sie ihn »fast mit ihren […] Flügeln streiften«, nichts als das »Toben von Wind und Wasser«.61 Noch wo die schwarzen Augen der Vögel in die seinen blitzen, kennt Hauke Haien keine gespenstische Verkehrung des Blicks; seiner ist der des Technikers, der einzig den »Saum des Wassers«, die bewegte Linie, sprich: die Form sieht. Um diese Form zu sehen – dies macht diese Passage deutlich –, braucht es die Ausgrenzung der in der Wahrnehmung des Erzählers hervortretenden »Unform«. Auffällig ist auch die Zeitlichkeit des Geschehens respektive der Wahrnehmung: Wenn es heißt, dass der Saum des Wassers »mit hartem Schlage immer wieder dieselbe Stelle traf und vor seinen Augen die Grasnarbe des steilen Deiches auswusch« kann an der unermesslichen Dauer der Beobachtung/Wahrnehmung kein Zweifel bestehen. Erosion vollzieht sich eben gerade nicht vor den Augen, sondern allmählich, unwahrnehmbar, in unendlicher Wiederholung, mit Stifter gesprochen: im Kleinen. Im poetologischen Zeitraffer werden Dauer und Wiederholung in visuelle Wahrnehmung eingetragen. Hätte die »Unform« mithin auch eine zeitliche Dimension? Und würde die zeitraffende Form der Darstellung, die auffällige Nicht-Beschreibung dieser unmerklichen Wiederholung/Dauer – Hauke Haiens Formwahrnehmung entsprechend – ihrerseits die Abschottung gegen die erodierende »Unform« betreiben? Findet sich Erosion als zeitliche Struktur in der (Un-)Form der Darstellung selbst, etwa in Gestalt wiederholter harter Schläge, die unmerklich vor den Augen des Lesers noch die Form der Novelle selbst auswaschen? Die Formwahrnehmung Hauke Haiens zeichnet sich auch in einer der nächsten Szenen ab, welche allerdings kurz darauf in den bereits bekannten Modus gespenstischer Wahrnehmung umschlägt. Hatte Hauke den Deich als »Linie« in die Luft gezeichnet, so tritt im Folgenden die Linie, das heißt die formale Repräsentation des Wirklichen, an die Stelle des Wirklichen. Wahrnehmungsform und Repräsentation des Wirklichen fallen in der Wahrnehmung Hauke Haiens,
61 Ebd., S. 635 (meine Hervorhebungen).
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der Linien sieht, in eins: »[A]ber von Toten war nichts mehr zu sehen; nur wo die unsichtbaren Wattströme sich darunter drängten, hob und senkte die Eisfläche sich in stromartigen Linien«.62 Wie über die »unheimliche Stelle« (der Wahrnehmung) der Deichbruch dem Deich, so ist der Linienbruch der Formwahrnehmung eingetragen. An einem der nächsten Abende ist Hauke wieder dort. Wo sich die Linien gefunden hatten, ist die Eisdecke gebrochen und es gebiert sich eine Wahrnehmung ganz anderer Art: Auf jenen Stellen war jetzt das Eis gespalten; wie Rauchwolken stieg es aus den Rissen, und über das ganze Watt spann sich ein Netz von Dampf und Nebel, das sich seltsam mit der Dämmerung des Abends mischte. Hauke sah mit starren Augen darauf hin; denn in dem Nebel schritten dunkle Gestalten auf und ab, sie schienen ihm so groß wie Menschen. […] [P]lötzlich begannen sie wie Narren unheimlich auf und ab zu springen […]; dann breiteten sie sich aus und verloren alle Form. [...] [Hauke, E.S.] sah starr dem possenhaften Unwesen zu, das in der einfallenden Dämmerung vor seinen Augen fortspielte.63
Das Gespenstische/Unheimliche ist auch hier nicht nur im figurativen Sinne, sondern als Wahrnehmungsereignis in Szene gesetzt: Mit »starren Augen« »sah« Hauke »dem […] Unwesen zu, das in der einfallenden Dämmerung vor seinen Augen fortspielte«. Es ist ein spezifischer Blick – das bereits bekannte Starren –, über welchen sich Hauke Haiens Wahrnehmung derjenigen des inneren Rahmenerzählers angleicht: Atmosphärisches, Nebulöses (Wolken, Dampf, Nebel) stellt sich als Ereignis von (Nicht-)Wahrnehmung dar, das in dieser Passage explizit auf die Frage der Form bezogen ist: »verloren alle Form«.64 Das amorph-gespenstische Andere der Gestalt erfährt hier seine Spezifizierung als Formverlust/»Unform« von Wahrnehmung. In diesem Kontext gewinnt auch die »Unform von einem Kater«65 Signifikanz, als welcher der Kater von Trien’ Jans beschrieben wird. Haukes Mord an dem Kater wäre entsprechend weniger als Mord an der Kreatur, denn
62 Ebd., S. 644. 63 Ebd., S. 644-645. 64 Ebd., S. 645. 65 Ebd., S. 646.
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als gewaltsame (Deich-)Befestigung von Wahrnehmung gegen die dauerhaft-erodierende Provokation der Linie/Form durch das ihr Andere der »Unform« zu lesen. Wahrnehmung bewegt sich im ›vexierbildlichen‹ Verhältnis zwischen Form und »Unform«. Storms Novelle arbeitet dieses Verhältnis anhand einer rahmenübergreifenden Serie von Szenen und Parallelszenen aus, der zuletzt auch die dramatische Beschreibung von Sturmflut und Deichbruch zuzurechnen ist. Nicht nur weist sie zahlreiche Parallelen beziehungsweise Inversionen früherer Inszenierungen von Wahrnehmung auf, sie ist zudem explizit als Wahrnehmungsereignis qualifiziert. Auch Sturmflut und Deichbruch wären mithin nicht allein in ihrer figurativen Wucht, sondern überdies wahrnehmungspoetologisch, in Hinsicht auf ›wahrgenommene Wirklichkeit‹ zu lesen: »[E]s war ja Sturmflut; nur hatte er sie selbst noch nie so gesehen«.66 Eine furchtbare Böe kam brüllend vom Meer herüber, und ihr entgegen stürmten Roß und Reiter den schmalen Akt zum Deich hinan. Als sie oben waren, stoppte Hauke mit Gewalt sein Pferd. Aber wo war das Meer? […] Wo blieb das Ufer drüben? ---- Nur Berge von Wasser sah er vor sich, die dräuend gegen den nächtlichen Himmel stiegen, die in der furchtbaren Dämmerung sich über einander zu türmen suchten und über einander gegen das feste Land schlugen. Mit weißen Kronen kamen sie daher, heulend, als sei in ihnen der Schrei alles furchtbaren Raubgetiers der Wildnis. Der Schimmel schlug mit den Vorderhufen und schnob mit seinen Nüstern in den Lärm hinaus […].67
Zahllos sind die Parallelen zu früheren (Wahrnehmungs-)Szenen: In »Roß«, »Reiter« und Hufen lässt sich die Ankunft des inneren Rahmenerzählers ebenso wiedererkennen wie die diesem begegnende Gestalt. Beiden Szenen ist der Bruch mit Wahrnehmungskonvention und -erfahrung eingetragen: Sieht der Erzähler nur »gelbgraue Wellen«, wo er »Halligen und Inseln« erwartet hatte, zeichnet sich auch in Hauke Haiens Wahrnehmung kein »Ufer«, kein »Meer« ab, sondern »Berge von Wasser«.68 (Wo Hauke »Berge von Wasser« sieht, kann
66 Ebd., S. 748 (meine Hervorhebung). 67 Ebd. 68 Ebd., S. 634.
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erneut von der Rhetorizität von Wahrnehmung – einem oxymoralen Wahrnehmungsakt – gesprochen werden.) Die »fürchterliche Dämmerung« lässt sich als Echo der »wüste[n] Dämmerung« der Eingangsszene lesen. Das Schlagen des Wassers (»gegen das feste Land schlugen«, »an den Deich hinaufschlugen«), »Schrei« und »Lärm« sind weitere beide Szenen beherrschende ästhetische Sensationen.69 Angesichts dieser Parallelstruktur lässt sich sagen, dass der Deichbruch bereits in der Rahmensetzung vorformuliert, ja, in sie eingetragen ist – was dies für die Form der Novelle bedeutet, wird im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes zu diskutieren sein. Doch noch andere Szenen werden von der Sturmflut aufgerufen. In aisthetischer Hinsicht stellt sich diese nachgerade als Inversion der Wahrnehmung des jungen Hauke Haien dar: Hatte dieser, ganz auf den »Saum des Wassers« konzentriert, das »Klatschen des Wassers« und »Geschrei der Möwen« nicht wahrgenommen,70 verschlingt der »Lärm« jetzt alles: »nur ein Brausen wie vom Weltenuntergang füllte ihre Ohren und ließ keinen andern Laut hinein«.71 Der Schimmelreiter inszeniert Sturmflut/Deichbruch als unerhörtes Ereignis von Wahrnehmung: »sinnverwirrenden Strudel«.72 Der Deichbruch beziehungsweise Durchbruch der »Unform« vollzieht sich als Auslöschung von Wahrnehmung, Differenzlosigkeit, mit welcher auch Erzählen ans Ende kommt: »[V]on ihr zu ihm, von ihm zu ihr waren die Worte all verloren; nur ein Brausen wie vom Weltenuntergang füllte ihre Ohren«.73 »Aber Sturm und Meer waren nicht barmherzig, ihr Toben zerwehte seine Worte.«74 In welcher Weise – so sei abschließend gefragt – affiziert der von Beginn an allgegenwärtige Deichbruch, das Übergreifen der »Unform«, die Form der Novelle selbst?
69 Ebd., S. 634. Zum »sound-track« beziehungsweise zur »storm-symphony« im Schimmelreiter vgl. Walter Silz: »Theodor Storm’s ›Schimmelreiter‹«, in: PMLA 61. 3 (1946), S. 762-783, hier besonders S. 774-775. 70 Storm: Schimmelreiter, S. 641. 71 Ebd., S. 753. 72 Ebd., S. 752. 73 Ebd., S. 753. 74 Ebd., S. 752.
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»Unform« der Novelle: Rahmen-Erosion Die strukturelle Beziehung zwischen dem Deichbruch und der Form der Novelle75 zeichnet sich verschiedentlich in Storms Text ab, insbesondere in der Verhandlung des Verhältnisses von innerer Rahmenund Binnenerzählung. Zweimal wird die Rede des Schulmeisters unterbrochen, bricht die Wahrnehmung des Äußeren ins Innere der Schimmelreitererzählung ein: Alle wandten sich dem Fenster zu. Draußen – man sah es durch die unverhangenen Fenster – trieb der Sturm die Wolken, und Licht und Dunkel jagten durcheinander; aber auch mir war es, als hätte ich den hageren Reiter auf seinem Schimmel vorbeisausen gesehen.76 Der Erzähler hielt inne und blickte sich um. Ein Möwenschrei war gegen das Fenster geschlagen […].77
Beide Unterbrechungen der Binnenerzählung sind einem Geschehen am Fenster geschuldet, welches insofern als Figuration des Erzählrahmens gelten kann. Dabei weisen auch diese beiden Szenen, in ihrem Verhältnis zueinander keine Parallelszenen, sondern sich wechselseitig unterstützend, Parallelen zu anderen auf: Das ›als ob‹ der Wahrnehmung – »mir war es, als hätte ich den hageren Reiter auf sei-
75 Zur Gattungs-Diskussion des Schimmelreiters als Novelle oder Roman vgl. Heribert Kuhn: »Kommentar«, in: Theodor Storm: Der Schimmelreiter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 163-167; weiter: Wolfgang Preisendanz: »Theodor Storm: Novellistik im Zeitalter des Romans«, in: Brian Coghlan/Karl Ernst Laage (Hg.), Theodor Storm und das neunzehnte Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internationalen Storm-Symposions aus Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms, Berlin: Erich Schmidt 1989, S. 12-17. Zum Bezug zwischen Deichbruch und novellistischem Erzählen vgl. auch Philipp Theisohn: »›Der Schimmelreiter‹. Gespenstisches Erzählen«, in: Theodor Storm. Novellen, hg. von Christoph Deupmann, Stuttgart: Reclam 2008, S. 104-125, hier besonders S. 105-106. 76 Storm: Schimmelreiter, S. 646. 77 Ebd., S. 678.
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nem Schimmel vorbeisausen gesehen« – ist bereits von der Ankunft des inneren Rahmenerzählers bekannt. Das »unverhangene Fenster« – der Rahmen – fungiert hier weniger als trennendes Element zwischen Innen und Außen, als dass es/er Transparenz für den Blick und Permeabilität für das Erzählen ermöglicht. Die zweite Unterbrechung – der gegen das Fenster schlagende Möwenschrei – zeigt die strukturelle Verbindung zwischen Deich und Rahmen aufs deutlichste: »Schrei« und »Schlagen« kehren unablässig wieder, wenn es um die prekäre Grenze zwischen Wasser und Land, die Linie des Deiches und seinen späteren Bruch geht: angefangen mit den den inneren Rahmenerzähler empfangenden »gelbrauen Wellen, die unaufhörlich mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlugen« und dem sie begleitenden »Geschrei der Vögel«,78 weiter zum »Geschrei der Möwen«, welches Hauke Haien nicht hört, da er nur Augen hat für den »Saum des Wassers, der […] mit hartem Schlage immer wieder dieselbe Stelle« trifft,79 bis hin zur Sturmflut, bei welcher die »Berge von Wasser« »gegen das feste Land schlugen […] heulend, als sei in ihnen der Schrei alles furchtbaren Raubgetiers der Wildnis«.80 Wenn »Schrei« und »Schlag« am Fenster wiederbegegnen, enthüllen sie den Rahmen als prekäre Grenze, »unheimliche Stelle« der Ordnung des Erzählens. Der spätere Bruch des Deiches ließe sich poetologisch als Rahmenbruch, Hereinbrechen der »Unform« in die Form der Novelle lesen. Noch etwas anderes ist an der zweiten Fensterszene auffällig: Wo der Möwenschrei gegen das Fenster »schlägt«, gewinnt akustische Wahrnehmung eine materiale Dimension, überlagern sich Wahrnehmungs- und Erzählraum. Der Schimmelreiter knüpft Wahrnehmung/Erzählen an eine parergonale Struktur, die Innen und Außen, Form und »Unform« in ein Verhältnis setzt, das prekärer nicht sein kann. Der Deichbruch geschieht nicht unvorbereitet, sondern ist – qua Parallelszenenverfahren – bereits in die Wahrnehmung des inneren Rahmenerzählers, das heißt in die Rahmensetzung selbst eingetragen. Wie die bisherige Lektüre gezeigt hat, sind rahmenübergreifende Parallelszenen strukturell grundlegend für Storms Erzählverfahren. Was
78 Ebd., S. 634 und S. 635. 79 Ebd., S. 641. 80 Ebd., S. 748.
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impliziert dies für die Frage nach der Form/»Unform« der Novelle? In Bezug auf Deich- und Rahmenbruch tut sich eine Differenz zwischen intradiegetischer und poetologischer Ebene auf: Beschreibt die Binnenerzählung eine Dynamik, in welcher der Deichbruch aus der Erosion der »unheimlichen Stelle« resultiert, stellt sich das Verhältnis von Erosion und Bruch auf poetologischer Ebene, bezüglich des Rahmenstruktur, anders dar: Durch die rahmenübergreifende Wiederholungsstruktur sind sich überbordende Parallelstellen einander wechselseitig eingetragen, ist die »Unform« der Form strukturell inhärent, der (Deich-/Rahmen-)Bruch kein einmaliges Geschehen, sondern immer schon vollzogen und mit jedem »Schrei«, jedem »Schlag« wieder praktiziert. Der Rahmen ist Ort von Erosion, das heißt qua Gleichzeitigkeit von Bruch und Aufschub des Bruchs in Kraft gesetzt. Der Rahmen existiert einzig im Modus von Erosion, als »unheimliche Stelle«, die den Bruch auf Dauer stellt. Mit dem Parallelstellenverfahren betreibt Storm eine Vervielfältigung ›unheimlicher Stellen‹, die die Form der Novelle vor den Augen des Lesers unmerklich auswaschen. Nach der zweiten Unterbrechung der Erzählung, dem Möwenschrei, heißt es: Ein starker Mann […] war eingetreten. »Herr«, sagte er, »wir Beide haben es gesehen, Hans Nickels und ich: der Schimmelreiter hat sich in den Bruch gestürzt!« […] »Saht Ihr’s nur einmal?« – »Nur einmal; es war auch nur wie Schatten; aber es braucht drum nicht das erste Mal gewesen zu sein.«81
Die Frage nach der Wiederholung ist dezidiert auf der Ebene von Wahrnehmung angesiedelt: »Saht Ihr’s nur einmal?«82 Was die Stellenwiederholung installiert, ist die wiederholte Wahrnehmung. Diese ist nicht die des eintretenden Mannes, noch die des Erzählers, der die Gestalt beziehungsweise »ihren Schatten an der Binnenseite des Deiches« zu einem Bruch »hinuntergehen« sieht, sondern einzig die des Lesers.83 Die unerhörte Begebenheit, dass sich der Schimmelreiter in
81 Ebd., S. 678. 82 Ebd. (meine Hervorhebung). 83 Ebd., S. 636.
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den Bruch stürzt, ist in die Wiederholung/Erosion der Lektüre eingespannt. Auch der Leser findet mithin seinen Platz im Zeichen der Erosion: als Leser unheimlicher Stellen. Die hier analysierten Parallelstellen sind Inszenierungen von Wahrnehmungen, welche einander invertieren: Der innere Rahmenerzähler sieht/hört, was Hauke – auf den »Saum des Wassers« fixiert – gerade nicht wahrnimmt und umgekehrt. Beide Wahrnehmungen schließen einander aus, die eine ist die Kehrseite der anderen, ihr Verhältnis das von Form zu »Unform«. Strukturell korrespondiert dies mit dem gespenstischen Blickszenario angesichts des Pferdes auf Jevershallig: Während Iven das lebendige Pferd sieht, sieht Carsten das Pferdegerippe. Was sich hier dramatisch vollzieht, bewerkstelligt auch das Verfahren der Parallelszenen: die Inszenierung der Gleichzeitigkeit sich wechselseitig ausschließender Wahrnehmungen, des unmöglichen Blicks. Auch die Parallelstellen – dies ein weiterer Aspekt ihrer Unheimlichkeit – schalten Invertiertes gespenstisch zusammen, betreiben seine Aktualisierung im Modus der Gleichzeitigkeit, das heißt die »wechselseitige[] Suspendierung«84 von Form und »Unform«, Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung. Die unmögliche Aufgabe, die Storms Poetologie der Wahrnehmung an den Leser stellt, wäre mithin nichts Geringeres, als mit »leeren Augenhöhlen« zu lesen.85 Noch in einer andern Hinsicht interferieren Form/»Unform« der Novelle und rahmenübergreifende Parallelszenen: Die Form der Novelle wird von Storm als eine mit vier Beinen bestimmt: »›Der Schimmelreiter‹, eine Deichgeschichte; ein böser Block, da es gilt eine Deichgespenstsage auf die vier Beine einer Novelle zu stellen, ohne den Charakter des Unheimlichen zu verwischen.«86 Die Forschung hat verschiedentlich einen Bezug zwischen den »vier Beine[n] einer Novelle« und denen des gespenstischen Schimmels hergestellt87 und darin das Moment des Unheimlichen, ja, die Öffnung der Novelle hin auf
84 Hamacher: »Unlesbarkeit«, S. 15. 85 Storm: Schimmelreiter, S. 699. 86 Theodor Storm: Brief an Paul Heyse vom 29. August 1886, in: Theodor Storm – Paul Heyse: Briefwechsel. Kritische Ausgabe, Bd. 3: 1882-1888, hg. von Clifford Albrecht Bernd, Berlin: Erich Schmidt 1974, S. 140. 87 Vgl. Webber: The Doppelgänger, S. 315.
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eine »non-form«88 gesehen. Hieran anknüpfend sei abschließend das Verhältnis zwischen Form/»Unform« der Novelle und Form/»Unform« der Wahrnehmung, wie es sich anhand der »vier Beine« darstellt, betrachtet: Diese begegnen – in Form von Hufen – ebenfalls bereits in der ersten Szene der inneren Rahmenerzählung. Die Frage nach der Form der Novelle (»vier Beine«) ist mithin mit der Eröffnung des zweiten Rahmens virulent: Es sind hier zunächst die Hufe des Pferdes des Erzählers, die sich zudem wesentlich als Wahrnehmungsproblem darstellen: »Die Nachtdämmerung hatte begonnen, und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen«.89 Die Unsicherheit ist vielfach gelagert: Nicht nur schränkt die Dämmerung die visuelle Wahrnehmung ein, auch ist es keineswegs ausgemacht, dass es die Hufe des eigenen Pferdes sind (»nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen«). In der Tat lässt die Doppelgänger-Szene, in welcher der Erzähler in Erscheinung tritt – dem reitenden Erzähler kommt eine unheimliche reitende Gestalt auf einem »hochbeinigen« Schimmel entgegen – eine Lesart zu, nach der Figur und Hufe von vornherein verdoppelt und mithin nicht umstandslos als eigene zu erkennen sind. Für eine solche unheimliche Lesart spricht zudem, dass der Erzähler »keinen Hufschlag« des anderen Pferdes hört.90 Sind es also von Beginn an andere Hufe, die Hufe eines gespenstisch-anderen Pferdes, die den Erzähler tragen – aber wer ist es dann, der erzählt? Die Ordnung des Erzählens, welche durch die Rahmenstruktur der Novelle installiert wird, wird in der Metaphorik der Form der Novelle (»vier Beine«) von in-sich-verdoppelten Hufen buchstäblich unterlaufen: Etabliert die Rahmenordnung eine Erzählgenealogie, die vom »Geschwätz des […] Marschdorfes«,91 über den Schulmeister weiter zum inneren Rahmenerzähler und schließlich hin zum Journal lesenden Urenkel verläuft, so stiften die Hufe das unheimliche Andere dieser Form: Innerer Rahmenerzähler und Schimmelreiter, Erzähler und Figur der Erzählung, gehen eine Doppelgänger-Beziehung ein. Auch in dieser Hinsicht schließt der
88 Schwarz: »Social Subjects and Tragic Legacies«, S. 252. 89 Storm: Schimmelreiter, S. 635. 90 Ebd., S. 636. 91 Ebd., S. 695.
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Text einander Ausschließendes kurz: Erzähler und Figur werden in einem rahmenübergreifenden Wiedergänger-Szenario miteinander verschaltet, in welchem der Erzähler als Wiedergänger der Figur, diese als Wiedergänger des Erzählers erscheint. Auch hier also die »Struktur der wechselseitigen Suspendierung«:92 von Erzähler und Figur, »vier Beine[n]« und doppelten Hufen, von Form und »Unform« der Novelle. Angesichts der durch den Text hindurch betriebenen Erosion von Wahrnehmung, Inszenierung des unmöglichen Blicks, lässt sich »nicht […] mit Sicherheit […] erkennen«, wer das Ich des letzten Satzes der Novelle ist, das am »anderen Morgen […] über den Hauke Haien-Deich zur Stadt hinunter[reitet]«,93 noch, wessen Hufe es sind, die den Deich unter sich haben (»wenn Sie morgen nach der Stadt reiten […] so werden sie ihn [den Hauke-Haiendeich, E.S.] unter den Hufen Ihres Pferdes haben.«)94 Es mag der Erzähler oder der wiedergängernde Schimmelreiter, der Erzähler auf den Hufen des Schimmels, als Schimmelreiter, oder der Schimmelreiter als Erzähler sein. Die Unentscheidbarkeit ist strukturelle Mitgift von Storms »double vision«95 und damit auch die Unentscheidbarkeit, ob sich der Rahmen schließt oder ob der Leser mit der den Rahmen transgredierenden Figur wieder in die Geschichte eintritt. Storm schließt diese beiden sich wechselseitig ausschließenden Möglichkeiten in der »Unform« der Novelle zusammen. Mit Storms Poetologie der Wahrnehmung erfährt der Realismus seine rückhaltlose epistemische Erschütterung. Mit den Mitteln literarischer Darstellung betreibt der Schimmelreiter die Erosion von Wahrnehmung, von Erzählen sowie der Form der Novelle. ›Wahrgenommene Wirklichkeit‹ sieht sich in ihr Unheimliches ausgesetzt, und eben hierin liegt – und zwar ausdrücklich entgegen Lukács’ Diktum, dass bei Storm die »Welt der Modernen im Bereich des Unverarbeiteten bleibt«96 – die radikale Modernität Storms.
92 Hamacher: »Unlesbarkeit«, S. 15. 93 Storm: Schimmelreiter, S. 755. 94 Ebd., S. 754. 95 Webber: The Doppelgänger, S. 315. 96 Lukács: »Bürgerlichkeit und L’art pour l’art«, S. 112.
Blut, Fleischextrakt, Kräuterlikör – Krankheit in Wilhelm Raabes Zum wilden Mann C HRISTIANE A RNDT
Bei Raabes ist eigentlich immer jemand krank. Der Briefwechsel von Bertha und Wilhelm Raabe mit dem befreundeten Paar Marie und Wilhelm Jensen1 dokumentiert eine Auseinandersetzung mit Gesundheitsproblemen bei beiden Familien, die typisch für das Bürgertum der Zeit ist. In den drei Jahren zwischen dem Umzug Raabes nach Braunschweig und der Entstehung der Novelle Zum wilden Mann berichten die Briefe Raabes zum Beispiel von wiederkehrenden asthmatischen Erkrankungen bei Raabe selbst.2 Diese traten jedoch in der Zeit häufig in den Hintergrund angesichts der Krankheiten der damals noch kleinen Kinder. Nach dem typischen krankheitsreichen Winter 1872/
1
Briefwechsel Raabe-Jensen, in: Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke. Ergänzungsbd. 3, hg. von Karl Hoppe, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1970.
2
Ein Beispiel von vielen stammt aus dem August 1871: »Seit dem 12. Juli leide ich ununterbrochen an Asthma und schlinge jede Nacht Salpeterdämpfe ein.« Brief Raabes an Jensen vom 24. August 1871, Briefwechsel Raabe-Jensen, S. 143. Ebenso der Brief Raabes vom 3. April 1872: »Ich muß seit drei Wochen allnächtlich wieder die Lunge mit Salpeterdämpfen ausräuchern: was will dagegen ein einfacher Lungenschlag sagen?! ---« Ebd., S. 171.
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18733 stellt Raabe fest, »daß [die Familie] ihren Verkehr mit Doctor und Apotheker auch im verflossenen Jahre ziemlich aufrecht erhalten ha[t]« und setzt auf die Sommerfrische im Harz, die Erholung und Abhärtung verspricht.4 Doch der Sommerurlaub der Familie im Jahre 1873 in Bad Harzburg erweist sich als wenig erholsam, wie im Rückblick aus einem Brief Raabes an Edmund Sträter deutlich wird: »Das war so eine Sommerfrische mit kleinen Kindern und der rothen Ruhr!«5 Die Kinder Margarethe, Elisabeth und Klara sind zu der Zeit neun, fünf und noch nicht ganz ein Jahr alt. Während sie krank sind, schreibt Raabe seine Apothekennovelle Zum wilden Mann;6 seinem Brief an Sträter ist zu entnehmen, dass Raabes Arbeit von zahlreichen persönlichen Besuchen einer nahegelegenen Apotheke gleichen Namens inspiriert wurde.7 Der Text erzählt die Geschichte vom finanziellen Ruin des alternden Apothekergeschwisterpaares Philipp und Dorette Kristeller. Der Jugendfreund des Apothekers, der inzwischen seinen Namen von Au-
3
Vgl. Brief von Marie Jensen an Bertha Raabe vom 1. November 1870, ebd., S. 121: »Wie weit guckt Ihr denn noch Heraus aus dem Wasser? – Auch wir haben während der letzten Wochen tief drinnen gesessen, wenn auch nicht im Wasser. Unsere Kinder sind mit genauer Noth der Diphteritis entgangen. Laryngitis granulata nannte der Doctor ihre Krankheit und suchte dazu nach ›verstecktem Scharlach‹«. Brief Raabes an Jensens vom 16. November 1872, ebd., S. 181-82.
4
Brief der Raabes an Jensens vom 13. Februar 1873, ebd., S. 186, S. 191.
5
Brief Raabes an Edmund Sträter vom 13. September 1897. Wilhelm Raabe: Briefe. In: ders., Sämtliche Werke. Ergänzungsbd. 2, hg. von Karl Hoppe, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1975, S. 396.
6
Raabe vermerkt im Tagebuch vom 27.7. und 3.8. scharfe Arbeit am »wilden Mann«. Wilhelm Raabe: Zum wilden Mann, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 11, hg. von Karl Hoppe, Freiburg.i.Br./Braunschweig: Verlagsanstalt Hermann Klemm 1956, S. 159-256, hier: Kommentar S. 473.
7
Vgl. ebd. S. 472. Über die Apotheke »Zum wilden Mann« schreibt Raabe, er habe sie »anfangs der siebenziger Jahre […] aus eigener bitterer Erfahrung kennen gelernt und den stundenlangen Weg von den Harzburger Eichen aus nur zu häufig zu ihr gemacht«. Brief Raabes an Edmund Sträter vom 13. September 1897. Raabe: Briefe, S. 396.
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gustin Mördling zu Agostin Agonista geändert hat, besucht die beiden am Tag des dreißigsten Jubiläums der Apotheke. Er trifft auf eine Runde gut situierter bürgerlicher Gäste – Pfarrer, Förster und Doktor8 – , denen Kristeller soeben bei einer Runde Punsch die Gründungsgeschichte der Apotheke erzählt. Es stellt sich heraus, dass Augustin Teil hatte an der Geschichte der Apotheke: Als Angehöriger einer Henkersfamilie lehnt er in seiner Jugend den Erbberuf ab, gibt den aus den Einkünften der Tätigkeit stammenden Familienbesitz an den ahnungslosen Kristeller weiter und wandert nach Brasilien aus, wo er als Viehzüchter und Staatsbediensteter Kariere macht. Die Novelle setzt zu dem Zeitpunkt ein, an dem Agonista der alten Heimat einen Besuch abstattet und das Geld zurückverlangt, das für Kristeller seinerzeit das Grund- und Startkapital der Apotheke bildete. Der Apotheker leistet der Forderung Folge, und mit diesem Kapitalverlust findet die Kulisse gemütlich-plüschiger Bürgerlichkeit ein jähes Ende in der Aussicht des Geschwisterpaares auf eine karge Zukunft. Raabes Novelle führt mit der Apotheke als Schauplatz der Handlung, dem Apotheker als zentraler Figur und dem Doktor als Teilnehmer der Jubiläumspunschrunde und weiterem Opfer des Entrepreneurs Agonista nicht nur Repräsentanten des Bürgertums, sondern auch das Personal einer sich zu der Zeit herausbildenden modernen institutionalisierten Medizin vor.9 Die Veränderungen des medizinischen Diskur-
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Die Figur des Doktors vertritt symbolisch die moderne Medizin. Sigrid Thielking ordnet sie in die Reihe des mit Büchners Woyzeck etablierten Typus der »egozentrisch brutalen Medizinerfiguren« ein. Sigrid Thielking: »›Du hast sozusagen der ganzen Gegend die Phantasie verdorben‹. Raabeskes Erzählen am Beispiel der Fallgeschichte ›Zum wilden Mann‹ (1873)«, in: Der Deutschunterricht 59.6 (2007), S. 36-49, hier S. 38. Zu differenzieren wäre hier allerdings, dass der Doktor ebenso Opfer Agonistas ist wie Kristeller.
9
Rosemarie Henzler zeigt die vielfältigen Thematisierungen des medizinischen Diskurses in Raabes Werk auf. Trotz einzelner Anbindungen an die zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Theorien fokussiert ihre Untersuchung allerdings auf einer Lektüre raabescher Texte vor dem Hintergrund psychotherapeutischer Konzepte aus dem 20. Jahrhundert. Daraus resultiert zwar ein ergiebiger Katalog medizinischer Themen in Raabes
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ses werden dabei in der Bildsprache der Novelle exemplifiziert. So erweist sich zum Beispiel der zunächst als ›ökonomischer Eindringling‹ vorgestellte Agonista in seiner Eigenschaft, die Punschrundenteilnehmer mit seinen Vorstellungen anzustecken und den Wirtschaftsorganismus des Dorfes zu verändern, als metaphorischer Virus. Er personifiziert das im Zuge einer voranschreitenden Hygienewissenschaft wachsende Bewusstsein individueller Bedrohung von außen, das von der Mikrobenforschung noch weiter potenziert wird. Letztere löst seit den 1860er Jahren (vor allem in Folge der Forschungen Louis Pasteurs) die Erklärung der Entstehung von Krankheiten durch Umgebungsfaktoren (Miasmentheorie) ab und führt sie stattdessen auf Kleinstlebewesen zurück, die sich durch Übertragung ausbreiten.10 Die Hygienewissenschaft mit ihrer Technologie der »hygienischen Sorge um sich« hatte im 19. Jahrhundert zunächst ein Gefühl von Kontrolle über den eigenen Körper vermittelt.11 Das Empfinden von Macht über das eigene Leben und Sterben stand allerdings einem mit der Industrialisierung voranschreitenden Verlust der Macht über die eigene Arbeitskraft gegenüber, wie sie auch Kristeller in Zum wilden Mann erfährt, wenn er mit dem Verlust der Apotheke die Folgen der ökonomischen Denkweise Agonistas tragen muss. Mit dem Hygienediskurs und der Bakteriologie treten zwei medizinische Forschungszweige in den Vordergrund, die im Zuge der Popularisierung der Wissenschaften auch den öffentlichen Meinungsaustausch stark prägen,
Spätwerk, eine ästhetisch-formale Aussage gewinnt Henzler jedoch nicht. Vgl. Rosemarie Henzler: Krankheit und Medizin im erzählten Text. Eine Untersuchung zu Raabes Spätwerk, Würzburg: Königshausen und Neumann 1990. Zu Raabes Zum wilden Mann vgl. bei Henzler die eine Seite umfassende Darstellung auf S. 38. 10 Philipp Sarasin/Silvia Berger/Marianne Hänseler/Myriam Spörri: »Bakteriologie und Moderne. Eine Einleitung«, in: dies. (Hg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920, Frankfurt a.M: Suhrkamp 2007, S. 8-43, hier S. 18. Vgl. auch Harold M. Malkin: Out of the Mist. The Foundation of Modern Pathology and Medicine during the Nineteenth Century, Berkeley: Vesalius 1993, S. 10. 11 Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 17651914, Frankfurt a.M: Suhrkamp 2001, S. 26.
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wodurch ihr Einfluss auf den Bildbereich von Raabes Novelle nachvollziehbar wird. Der Text greift in der Darstellung der veränderten Wirtschaftsordnung auf die Metaphorik der Bakteriologie zurück und inszeniert dadurch ein Zusammenspiel von medizinischem und ökonomischem Diskurs. Beide Diskurse sind durch die Dichotomie von individueller Kontrolle und Kontrollverlust geprägt, wie sie auch in der Spannung von hygienischen und bakteriologischen Körpermodellen zum Ausdruck kommt. Neben dem medizinischen wird in Raabes Text also auch der ökonomische Diskurs am Körper inszeniert. Konkret sind es die Flüssigkeiten Fleischextrakt, Kräuterlikör und Blut, die die Kreisläufe von Leben und Ökonomie verbildlichen und über den Körper miteinander verbinden. Extrakt und Likör zeigen dabei die Verschränkung von Nahrungsmittelphysiologie und kolonialistisch-kapitalistischer Wirtschaftsordnung. Diese Substanzen, denen in der Novelle wirtschaftliches Erneuerungspotential zugeschrieben wird, verweisen gleichzeitig über die Wirkung des Alkohols und den medikamentösen Einsatz des Nahrungsersatzmittels Fleischextrakt auf die physiologische wie medizinische Abhängigkeit der unteren Gesellschaftsschichten. Vor allem anhand des Kräuterlikörs wirft der Text Zweifel an einer ausschließlich positiven Sicht auf die rasante Entwicklung der modernen Wissenschaften vom Körper auf. Wie das Geld, das als Medium wirtschaftlicher Prozesse hinter der industriellen Nahrungsmittel- und Medikamentenproduktion steht, zirkuliert in Raabes Text auf physiologischer Ebene das Blut. Anhand des Blutthemas stellt der Text mit der vormodernen Humoralpathologie (Säftelehre) dem Hygienediskurs und der Mikrobentheorie eine dezidiert vormoderne Körperauffassung gegenüber.12 Die Humoral-
12 Medizingeschichtlich schließt die Mikrobentheorie nicht unmittelbar chronologisch an die antike Säftelehre an. Die Abwendung von der Humoralpathologie und die Entwicklung einer Sichtweise auf Krankheiten, die nicht auf einer ›Austreibung‹ vermeintlich krankmachender Substanzen basiert, ist vielmehr ein Prozess, der bereits in der Aufklärung beginnt und sich bis in die Romantik fortsetzt. Vgl. zum Beispiel Albrecht Koschorke: »Poiesis des Leibes. Johann Christian Reils romantische Medizin« (20.08.2004). In: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/
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pathologie hatte das Blut noch als homogene Substanz betrachtet, die gemeinsam mit anderen Körperflüssigkeiten die Befindlichkeit des Menschen steuert. Insbesondere wenn nahe gelegt wird, dass die Blutzugehörigkeit auch die letztlich vom Erbberuf abhängige melancholische Befindlichkeit Agonistas bedingt, spielt Raabes Novelle auf diese mythische Blutvorstellung der Säftelehre an. Der Bildbereich der zeitgenössischen Mikrobentheorie hingegen steht im Text in Opposition zur humoralpathologischen Rhetorik und vertritt gegenüber einer von innen kommenden Krankheitsentwicklung die gegenteilige Systematik der Ansteckung von außen – und diesem Bildbereich wird in Zum wilden Mann auch die neue Wirtschaftsordnung zugeordnet. Im Verlauf seines Lebens entwickelt Agonista seine Selbstdefinition abwechselnd entlang beider Bluttheorien, und diese Verschiebung der theoretischen Bezugspunkte hat neben lebenspraktischen Folgen auch Auswirkungen auf die formal-ästhetische Darstellung der Wirklichkeit: Wie im Folgenden deutlich wird, steht die veränderte Blutrhetorik für die Verschiebung von Metonymien im Text (zum Beispiel die verwandtschaftlichen Blutsbeziehungen) hin zu Metaphern, und diese Verschiebung deutet einen Substanzverlust der (ökonomischen) Wirklichkeit an. Insbesondere die Experimentalwissenschaften werden im Text zum negativen Symbolträger der aufziehenden Moderne. Die Reduktion und Isolation wissenschaftlicher Phänomene im Labor, ihre Abkopplung von der Umgebung, wie sie der zeitgenössische Bakteriologe Robert Koch als Voraussetzung von Wissenschaft in seinen »Forschungspostulaten« forderte, ist Ausdruck eines Umweltfaktoren ausklammernden Denkens, das Raabes Novelle als Gefahr identifiziert.13 Krankheit ist hier also sowohl Forschungsgegenstand der modernen
db/wiss/reil/koschorke.pdf (11.08.2010). Die letzten Ausläufer der Säftelehre können mit der Krasentheorie (Blutmischungsleere) des Freiherrn Carl v. Rokitansky bis in den Hygiene- und Dietätikdiskurse des 19. Jahrhunderts verfolgt werden. 13 Sarasin bezeichnet Kochs Postulate als »kleine[n], ins Naturwissenschaftliche gewendete[n] Kriterienkatalog von Modernität überhaupt«. Sarasin/Berger/Hänseler/Spörri: Bakteriologie und Moderne. Einleitung, S. 2021.
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Experimentalwissenschaften als auch Metapher einer ›kranken‹ Moderne, die es seitens der Novelle zu besprechen gilt. In Zum wilden Mann wird ihr zerstörerisches Potential vor allem dann deutlich, wenn die durch Rückgriff auf eine Krankheitsmetaphorik beschriebene kapitalistische Wirtschaft jegliches soziale Gefüge ignoriert und die Gesellschaft nach den ihr eigenen Prinzipien neu ordnet. Mit dieser Modernekritik verbildlicht Raabes Text nicht nur einen Mangel an einem vernetzten Denken, welches die Phänomene in ihrer Umgebung betrachtet, sondern er aktualisiert weiterhin den Begriffsbereich des Organischen – zwei Komponenten, die auch die Grundlage der Kybernetik und von Teilen der Systemtheorie bilden.14 Die Novelle entwickelt damit in ihrer Überblendung des biologischen und ökonomischen Bildbereichs im weitesten Sinne eine systemische Kritik der zweckorientierten Konzentration auf ein Einzelproblem. Fleischextrakt und Kräuterlikör Als Agostin Agonista das Apothekergeschwisterpaar Kristeller im Harz aufsucht, präsentiert er sich als kolonialistischer Großunternehmer und schlägt dem Apotheker eine Zusammenarbeit vor, die die eigene Rinderzucht mit den pharmazeutischen Kenntnissen Kristellers verbinden soll: Philipp, und vor vierzehn Tagen war ich bei Liebig in München – annähernd derselbe Geruch und Duft wie bei dir, nur noch ein bißchen metallischer; – Kristeller, da können wir einander gleichfalls gebrauchen – ich liefere dir das Vieh, und du lieferst mir den Extrakt; – Philipp, ich gebe dir mein Ehrenwort
14 Hier sind vor allem die Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela zu nennen, die die Autopoiesis als Grundlage biologischer Systemik beschrieben haben, ebenso wie die an sie anschließenden Ausprägungen der Systemtheorie. Vgl. zum Beispiel Humberto R. Maturana: »Kognition«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 89-118 und Francisco J. Varela, »Autonomie und Autopoiesis«, ebd., S. 119-132.
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darauf, in drei Jahren machen wir den Herren zu Fray Bentos eine Konkurrenz, die sie zu Tränen rühren soll.15
Indem Agonista den Giessener Chemieprofessor Justus Liebig erwähnt, thematisiert der Text die Anfänge der Zusammenarbeit von Industrie und Chemie in der Nahrungsmittelproduktion.16 Die Herstellung von Fleischextrakt aus südamerikanischem Rindfleisch war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein vielversprechender Industriezweig und das Modell des Zusammenschlusses von Rinderzüchtern und Chemikern in Raabes Text entspricht dem wirtschaftlichen Engagement Liebigs, der sich in den 1860er Jahren gemeinsam mit dem Eisenbahningenieur Georg Christian Giebert ebenfalls auf dem brasilianischen Markt betätigte.17 Die Fleischextraktproduktion verweist dabei auf die komplexen wirtschaftlichen und politischen Verstrickungen zwischen Europa und seinen Kolonien: Das in Brasilien selbst im Überfluss produzierte Rindfleisch (dort fanden hauptsächlich die Häute Verwendung) konnte durch Liebigs Extraktionsverfahren exportiert werden, ohne auf dem Transportweg zu verderben. Damit sollte die in Europa und vor allem in England herrschende Mangelversorgung behoben werden. Diese insbesondere auf die unteren Gesellschaftsklassen gerichtete Ernährungspolitik stellte aber zugleich eine Lösung für die Krise des südamerikanischen Rindfleischmarktes dar, der zu dieser Zeit einen historischen Preiseinbruch zu verzeichnen hatte.18 Der Besuch des Rinderzüchters Agonista im Harz findet damit vor dem Hintergrund unternehmerischer Probleme statt, wodurch die historische wirtschaftliche Entwicklung als Motivation für Agonistas Einstieg in die Fleischextraktproduktion gesehen werden kann. In der Art der Siedler- und Söldnerwerbung, die in Europa für die südameri-
15 Raabe: Zum wilden Mann, S. 235. 16 Weitere Beispiele für diese Zusammenarbeit sind Liebigs Entwicklung des Kunstdüngers und der künstlichen Säuglingsernährung. 17 Vgl. William H. Brock: Justus von Liebig. Eine Biographie des großen Wissenschaftlers und Europäers, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1999, S. 183 und S. 187. 18 Vgl. ebd., S. 183 und S. 186.
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kanischen Kolonien aggressiv betrieben wurde,19 eruiert der Entrepreneur neue Möglichkeiten, Profit aus seinem Unternehmen zu schlagen, indem er Kristeller – und en passant auch den Doktor – mit verbalen Strategien in seine Geschäfte einzuspannen versucht. Liebig war aber nicht nur Wegbereiter der ernährungsphysiologischen und wirtschaftlichen Nutzbarmachung des südamerikanischen Rindfleischs, er sorgte auch für dessen erfolgreiche Vermarktung in Europa, indem er den Extrakt als Stärkungsmittel bei Durchfallerkrankungen vorstellte. An dieser Stelle zeigt sich die komplexe Positionierung des Frischfleischersatzes am Schnittpunkt von ökonomischem, medizinischem und sozialem Diskurs, da der Extrakt vor allem diejenigen Gesellschaftsschichten ansprechen sollte, für die die Herstellung entsprechender Stärkungskost aus teurem Frischfleisch nicht erschwinglich war. Die Tatsache, dass dem Fleisch durch die extrahierende Behandlung die meisten seiner ernährungsphysiologisch wertvollen Bestandteile entzogen wurden, verschärfte die sozial-ökonomische Problematik.20 Als Raabe im Sommer 1873 auf der Bank in der Harzer Apotheke »Zum wilden Mann« auf Durchfallmedikamente wartete, war unmittelbar vorher die medizinische Wirkungslosigkeit des Fleischextraktes nachgewiesen worden.21 Der Fleischextrakt illustriert damit nicht nur die problematischen Unterschiede der Gesellschaftsschichten hinsichtlich des Zugangs zur medizinischen Versorgung, sondern verknüpft diese Problematik mit der Fragwürdigkeit von Medikamenten überhaupt. In Raabes Text stellt auch der Kräuterlikör »Kristeller«, den der Apotheker entwickelt hat, im Eigenbetrieb herstellt und mit bescheidenem wirtschaftlichem Erfolg von seiner Apotheke aus vertreibt, ein solcherart fragwürdiges Medikament dar;
19 Florian Krobb: »Die Ordnungen der alten Heimat« – Historisches Erzählen aus der Zeitgeschichte in Wilhelm Raabes ›Zum wilden Mann‹«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2009, S. 100-112, hier S. 108. 20 Vgl. Brock: Liebig, S. 185. 21 Vgl. ebd., S. 189. Wenige Monate bevor der ehemalige Apothekerlehrling Liebig im April des gleichen Jahres stirbt, schreibt Max von Pettenkofer, der Begründer der Hygienewissenschaften, dem Extrakt lediglich eine Wirkung als Würzmittel zu. In den 1940er und 50er Jahren wurden diese Forschungsergebnisse allerdings revidiert.
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abgesehen vom Alkohol ist die unmittelbare medizinische Wirkung des Likörs ebenso zweifelhaft wie die des Fleischextrakts. Indem Agonista das Rezept zur Vermarktung an sich bringt,22 verschiebt sich die Funktion des »Kristellers« im Text von einer pharmazeutischen zu einer gesellschaftspolitischen, denn in der brasilianischen Heimat des Obersts Agonista wird das alkoholische Getränk potentiell zur Ruhigstellung des benachteiligten Arbeiterstandes eingesetzt werden. Florian Krobb bringt die sozialökonomische Bedeutung dieses kapitalistisch-kolonialistischen Sachverhalts auf den Punkt, wenn er schreibt, hier werde »ein Nexus […] zwischen industrieller Massenproduktion (ob nun Magenbitter oder Fleischextrakt), Herrschaftsbildung und Ausbeutung [angedeutet]«.23 Kristellers Produkt dient also dem kapitalistischen Herrschaftserhalt; als Apotheker vertritt Kristeller allerdings weiterhin den bürgerlichen Mittelstand, für den die Wirtschaftsentwicklung der Industrieländer nur vorteilhaft war, sofern der einzelne Mittelständler auf die veränderte Situation mit wirtschaftlicher Anpassung statt mit Beharrung auf Althergebrachtem reagierte. Ökonomisch erfolgreiche, mittelständische Pharmaunternehmer nahmen zumindest in begrenztem Umfang eine wirtschaftliche Machtposition im sich entwickelnden Gesundheitswesen ein und waren damit nicht auf der Seite der Ausgebeuteten zu finden. Kristellers gesellschaftlicher Abstieg widerspricht diesen mittelständischen Entwicklungsmöglichkeiten und ist damit eben nicht als unabwendbare Tragik des Schicksals zu lesen, sondern illustriert vielmehr, wie umgekehrt der gesellschaftliche Aufstieg Agonistas, die neue Durchlässigkeit der sozialen Schichten. Der Kräuterlikör »Kristeller« ist allerdings über diese Verbindung zum Kapitalismus hinaus zugleich auch ein Symbol des Vormodernen, das wie die Sagengestalt des ›Wilden Manns‹, nach der die Apotheke benannt ist, einen mythischen Gegenpol zum naturwissenschaftlichen, industriellen und ökonomischen Fortschritt bildet.24 Indem der
22 Vgl. Raabe: Zum wilden Mann, S. 248. 23 Krobb: »Die Ordnungen der alten Heimat«, S. 109. 24 Den Gegensatz zwischen Naturheilkunde und moderner Medizin in Zum wilden Mann erwähnt auch Henzler, ohne jedoch auf das metaphorische
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Kräuterlikör auf die Praxis des Kräutersammelns und die Assoziation mit Kräuterweiblein und Hexen verweist, symbolisiert er gemeinsam mit dem »nackte[n] Riese[n], Eichenzweige um die Hüften, der sich auf einen Baumstamm wie auf eine Keule stützt«,25 einen retardierenden Gegendiskurs zur sich wandelnden Gesellschaft.26 Die so entstehende Opposition von moderner Medizin und vormodernen Heilmethoden, aus deren Fundus sich Raabes Bildsprache eklektisch bedient, wird durch die Lokalisierung des Geschehens in der Nähe des als Hexentanzplatz bekannten Brockens, durch die Zeitangabe »gegen das Ende des Oktobers« (nämlich die Zeit des Halloween) sowie durch das unheimliche Wetter noch verstärkt.27 Der Schauplatz der bürgerlichen Apotheke bildet somit den Punkt, an dem beide Traditionen, die Naturheilkunde und die wissenschaftliche Medizin, miteinander in Kontakt treten. Die Apotheke muss zwar zunächst »jedermann das höchste Vertrauen einflößen«, wie es in der Eingangsbeschreibung des
Reflexionspotential der Novelle einzugehen. Vgl. Henzler, »Krankheit und Medizin«, S. 38. 25 Raabe: Zum wilden Mann, Kommentar S. 473. 26 Irmgard Roebling sieht in Agonista den »wilden Mann«, also eher einen Vertreter des Sagenhaften als des Modernen. Meiner Einschätzung nach passt diese Charakterisierung nicht zum Auftreten des Obersts, der sich von seinen mythischen, vormodernen Bindungen dezidiert losgesagt hat, um sich zum Kapitalisten zu entwickeln. Vgl. Irmgard Roebling: Wilhelm Raabes doppelte Buchführung. Paradigma einer Spaltung, Tübingen: Niemeyer 1988, S. 63. 27 Raabe: Zum wilden Mann, S. 161. Am letzten Tag des Monats Oktober, dem Vorabend von Allerheiligen, wird von Irland ausgehend bis heute vor allem in den angelsächsischen Ländern der All Hallows Even – also Halloween – gefeiert. Die Geister der Toten, derer am darauffolgenden Allerheiligen gedacht wird, sind dem Volksglauben zufolge in diesen Tagen unruhig und ziehen um die Häuser. Zudem verstärkt die Witterung die unheimliche Stimmung, wenn in Zum wilden Mann beschrieben wird, dass es »stoßweise in die nahende Dunkelheit hinein« regnet und ebenso stoßweise »ein scharfer, beißender Nordwind, ein geborener Isländer oder gar Spitzbergener, aus der Norddeutschen Tiefebene her die Lüfte, die Schlöte und die Ohren« durchgellt. Ebd.
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Novellenschauplatzes heißt, doch mit der Kritik an der Kapitalisierung wirkungsloser Medikamente schränkt der Text diese oberflächlich positive Darstellung moderner Medizin ein. So zeigt die Allmacht der modernen Pharmazie ihre Grenzen, wenn die Angst dessen geschildert wird, der auf der Bank der Apotheke Platz nimmt und auf seine Medikamentenbestellung wartet: »Wäre die schreckliche Bank, auf welcher die meisten von uns schon einmal in fiebernder Angst und Beklemmung saßen und warteten, nicht gewesen […]. Aber die böse Bank!«28 Insbesondere als Agonista von seiner magischen Heilung erzählt, zeigt sich, wie groß die Sehnsucht nach solcherart alternativer ›Wundermedizin‹ ist: »In diesem gottverdammten Schiffsraume, dem schwärzesten, stinkendsten Loche, das je auf dem Wasser schwamm, lernte ich einen Arzt kennen, der eine Kur an mir verrichtete, wie sie keinem europäischen Mediziner gelungen wäre –«.29 Die Sehnsucht nach Wunderheilung, zur Not in Opposition zur modernen Wissenschaft, wird auch für Raabe im Sommer 1873, mit den kranken Kindern daheim auf der »bösen Bank« der Harzapotheke sitzend, sehr real gewesen sein. Während der Kräuterlikör zunächst zumindest noch als Extrakt der naturheilkundlichen Epoche übrig bleibt, wird er durch seine Vermarktung und die Abgabe des Rezepts an Agonista endgültig Teil der industriellen Nahrungsmittelindustrie. Eine vergleichbare Entwicklung wie der Kräuterlikör durchläuft der angehende Großunternehmer Agonista, der die eigene jugendliche Affinität zum Kräutersammeln ebenso wie die ›Blutzugehörigkeit‹ zum Henkersberuf aufgegeben hat und sich nun als Gegenfigur zum Kräuter sammelnden Dorfapotheker präsentiert.30 Wie unheilvoll die Verbindung von Kräutern und Geld
28 Ebd., S. 163. 29 Ebd., S. 205. 30 Rolf Parrs Darstellung der ökonomischen Strukturen des Textes basiert dagegen auf einer Gegenüberstellung des Idealismus, verkörpert von Kristeller, mit dem praktischen Ökonomismus Agonistas. Die bei mir zentrale medizinische Metaphorik ebenso wie die Dichotomie von Moderne und Vormoderne spielen in Parrs Darstellung ökonomischer Tauschprozesse keine Rolle. Rolf Parr: »Materielle und semantische Tauschprozesse in Wilhelm Raabes Erzählung Zum wilden Mann«, in: Georg Mein/Fran-
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ist, wird in der Zukunftsvision deutlich, die Kristeller beschäftigt, als er in seiner Jugend das Geld von Mördling bekommt. Damals befürchtet er, die Wertpapiere könnten sich »in gelbe Klettenblätter« verwandeln. Diese Befürchtung bewahrheitet sich, wenn nach der Rückkehr Agonistas das Geld dann tatsächlich verschwunden ist und nur die Kräuter, die bildgerecht als »Blüten und Blätter« bezeichnet werden, das wertlose Restinventar der verarmten Apotheke bilden.31 Der überschaubare, zurückhaltend vermarktete Familienbetrieb muss der industriellen Großproduktion letztlich unterliegen. So bleibt in der Novelle sowohl der Zweifel am medizinisch-pharmazeutischen Fortschritt wie die Verzweiflung angesichts der fortgesetzten gesundheitlichen Bedrohung spürbar; trotz des medikamentösen Eingreifens in den Organismus und des kapitalistischen Einflusses auf die ökonomischen Prozesse diagnostiziert die Novelle keine Verbesserung für das Leben der Hauptfiguren – ganz im Gegenteil verschlechtert sich ihre materielle Lebensqualität entscheidend. Diese Kritik am mit der Wirtschaftsentwicklung verschränkten medizinischen Fortschritt zeigt sich konkret an der Wirkung der Medikamente, die zur Behandlung der Melancholie des jungen Kristellers eingesetzt werden, als er aufgrund seiner Mittellosigkeit die geliebte Braut Johanne nicht heiraten kann. In dieser Situation verweist sein Lehrherr den jungen Philipp »wohlmeinend und besorgt an verschiedene nerven- und magenstärkende Drogen unserer Materialkammer«, doch anstatt umstandslos die Depression zu beseitigen, leiten die Nebenwirkungen dieser Pharmaka ihn mit umnebelten Sinnen zu Augustin Mördling: Ich schritt rasch zu und tauchte mehrmals das Taschentuch in einen kalten Waldbach, um es mir dann auf die heiße, übernächtigte Stirn und die fiebernden Schläfen zu drücken. Um sah ich mich nicht, und es ist ein Irrtum oder gar eine Lüge, wenn man behaupten will, daß einem unglücklichen oder von Not und Sorge bedrängten Menschen eine schöne Gegend und herrlich-erhabene
ziska Schößler (Hg.), Tauschprozesse. Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen, Bielefeld: transcript 2005, S. 275-290. 31 Raabe: Zum wilden Mann, S. 197. Der Kommentar schreibt dieses Motiv der Harzer Sagensammlung um den ›Wilden Mann‹ zu, ebd., S. 473.
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Aussicht zum Heil und zur Genesung gereiche. Es ist einfach nicht wahr! [...] Mühselig in meiner vergeblichen Bemühung hatte ich mich so ziemlich bis an die Basis der obenerwähnten abgeplatteten Gipfelfelsmasse, der eigentlichen Opferklippe, emporgearbeitet, als plötzlich ein Mensch, wie es schien im hastigen Aufklimmen von der entgegengesetzten Seite her, auf der Platte erschien und einen Schrei ausstieß, der mich erschreckt zurückfahren ließ.32
Die im Zitat beschriebene Fiebrigkeit, Schlaflosigkeit und Unruhe können als Nebenwirkungen von Kristellers Medikamentierung gelesen werden, die diesen auf den scheinbar richtigen Weg führt.33 Philipp erlebt, wie die durch die Medikamente gesteigerte Verwirrung und der Nebel im Zusammenspiel mit der verwunschen wirkenden Landschaft ihre Wirkung entfalten. Eine medikamentös bedingte Wahrnehmungsstörung liegt spätestens dann nahe, wenn Kristeller feststellt, dass er »Lebensverwirrung und schlimme Ratlosigkeit […] außer [sich] wie in [sich]« vorfindet.34 Die Sinnestäuschung exemplifiziert die ursprüngliche antike Doppelbedeutung des pharmakon als Heilmittel und Gift, welche Derrida in »Platons Pharmazie« erläu-
32 Raabe: Zum wilden Mann, S. 180; S. 189-192. Die Novelle steht hier direkt Parrs Urteil entgegen, nach dem in der Szene auf dem Blutstuhl die psychische Unordnung bei Kristeller durch die Ordnung der Natur wieder »eingerichtet« werde. Die Landschaft steigert im Gegenteil die Verwirrung. Vgl. Parr: Tauschprozesse, S. 283. 33 Der im Text geschilderte Zustand Philipps entspricht Raabes eigenen Erfahrungen mit Asthmamedikamenten, vor allem mit Chlorhydrat, dessen Nebenwirkungen Werner Fuld in seiner Raabe-Biographie mit »Schlaflosigkeit, Gedächtnisschwund und Halluzinationen [,] [...] akustische[n] und optische[n] Wahrnehmungsstörungen, zeitweilige[m] Verwirrtsein« angibt. Werner Fuld: Wilhem Raabe. Eine Biographie, München: Hanser 1993, S. 276-77. 34 Raabe: Zum wilden Mann, S. 190. Der Nebel wird in der Höhe zum »leichte[n], alles in ein Zaubertuch wickelnde[n] Dunst«. Ebd., S. 191. »Die Gestalt, vom Dunst wie alles umher leicht verschleiert, …« Ebd., S. 192. Diese Äußerung schildert sowohl den medikamentösen Einfluss auf die Wahrnehmung Kristellers als auch die Spiegelung seines Seelenzustands in der mythischen, ›verwunschenen‹ Landschaft um den Blutstuhl.
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tert:35 Einerseits wirkt das Medikament auf Philipp wie ein Gift, wenn es seine Sinne benebelt, andererseits ›heilt‹ es zunächst sein Lebensproblem, indem es ihn zu Agonista führt. In vergleichbarer Weise vetritt auch Agonista selbst die Doppelbedeutung des pharmakon, wenn er Kristeller gegenüber zunächst als der ersehnte Heiler auftritt: »Ach kein Arzneistoff konnte mir wieder zu volleren Leibesrundungen verhelfen! Zwischen Hypochondrie und gutem Lebensmut hin und her geworfen, schweifte ich umher, bis ich den Mann fand, der mir half!«36 Später wird Agonista jedoch zum ›lebensvergiftenden‹ Zerstörer, dessen frühere gesellschaftliche Stellung als Henker bereits auf die ursprüngliche Bedeutung von pharmakos hindeutete: den von der Gesellschaft marginalisierten Sündenbock. Sowohl Agonista als auch das Medikament heilen daher nicht uneingeschränkt, sondern an ihre positive Wirkung ist unmittelbar eine negative gebunden. Nicht nur
35 Jacques Derrida: »Platons Pharmazie«, in: ders., Dissemination, Wien: Passagen Verlag 1995, S. 69-190, hier: S. 78. Cizik Marshall greift Derridas Deutung der Schrift als pharmakon auf und bezieht sie vor allem auf die Geldgabe Agonistas, die sich sowohl als Heilmittel als auch als Gift erweist. Ich erweitere diese Funktion sowohl auf die Wirkung des Medikaments als auch auf Agonista selbst. Jennifer Cizik Marshall: »Wilhelm Raabe’s Apothecary. Two Texts Tracing the Pharmako-logy of the Wild Man«, in: Colloquia Germanica, 34.1, (2001), S. 27-40, hier S. 29. 36 Raabe: Zum wilden Mann, S. 180. Die kritische Haltung den Errungenschaften der pharmazeutisch-medizinischen Forschung gegenüber wird auch in Raabes Briefen deutlich. So kommentiert er in einem Brief an Jensens aus dem April 1872 spöttisch das Impfen: »Habt Ihr Euch Impfen lassen? Frau Marie für ›denkende Geschöpfe, die aus lauter Schauder vor dem Tode vor der Zeit sterben‹, ist die Revaccinierung unbedingt zu empfehlen. Man geht nachher mit vieler größerer Beruhigung in die Grube.« Raabe an Jensens, Brief vom 3. April 1872, Briefwechsel Raabe-Jensen. S. 171-72. Ähnlich skeptisch beurteilt Raabe die ihm gegen das Asthma verordneten Medikamente »Chlorhydrat, Fenchelwasser und Syrup«, und 1877 reihen sich die Salpeterdämpfe in die briefliche Aufzählung medizinisch-pharmazeutischer Wirkungslosigkeiten ein. Brief Raabes an Jensens vom 7. September 1871, ebd., S. 144, und Brief Raabes and Jensens vom 1. September 1877, ebd., S. 279.
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Agonista wird dabei als gesellschaftlicher Außenseiter vorgestellt, sondern auch der eingangs wie am Schluss des Textes mittellose Kristeller. Über solche Außenseiterfiguren thematisiert der Text letztlich die Grenzen des bürgerlichen Wirklichkeitsverständnisses,37 das im Spannungsfeld von moderner medizinischer Wissenschaft, vormoderner Naturheilkunde, Dokumenten und Volkssagen immer stärker unter Druck gerät. Blut Während die Krankheit der Kinder 1873 die sommerliche Erholung der Familie Raabe im Harz zunichte macht, sitzen die befreundeten Jensens in Italien fest. Eine Choleraepidemie war ausgebrochen, und man hatte Korridore eingerichtet, die die Ausbreitung der Krankheit verhindern sollten.38 Doch trotz der Abriegelungspolitik erreicht die
37 Vgl. dazu Oliver Jahraus, der die Außenseiterfigur zu den Phänomenen zählt, die in realistischen Texten »die Bedingungen der Möglichkeit einer bürgerlichen in einer sozialen Realität offen [...] legen.« Nach Jahraus liegen »[d]iese Bedingungen […] vorrangig in Bereichen, die aus dem bürgerlichen Realismusverständnis ausgeschlossen werden und außerhalb der psychischen sowie der sozialen Norm liegen, zum Beispiel in der nicht sanktionierten Sexualität, im Tod oder im Übersinnlichen, aber auch in den Auswirkungen des aufkommenden Kapitalismus [...]«. Oliver Jahraus: »Unrealistisches Erzählen und die Macht des Erzählers. Zum Zusammenhang von Realitätskonzeption und Erzählinstanz im Realismus am Beispiel zweier Novellen von Raabe und Meyer«, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie Band 122.2 (2003), S. 218-236, hier S. 223. 38 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck 2009, S. 288-289. Als Raabe 1873 seine Novelle schrieb, hatte Filippo Pacini zwar den Choleraerreger bereits mikroskopisch nachgewiesen (1854), diese Entdeckung war jedoch weder öffentlich noch medizinisch angemessen wahrgenommen worden. Vgl. Olaf Briese: Angst in den Zeiten der Cholera. Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums. Seuchen-Cordon I, Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 360. Trotz dieser wissenschaftsgeschichtlichen Wahrnehmungslücke ver-
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Cholera wenig später auch Braunschweig, wie Raabe an Jensen schreibt.39 Gerade die Cholera ist in der Zeit Sinnbild aller Infektionskrankheiten, auf welche damals zwei Drittel aller Todesfälle zurückzuführen sind.40 Olaf Briese bezeichnet sie daher als eine »reale und imaginative Leitkrankheit« des späten 19. Jahrhunderts: Mit Blick auf die Statistiken und Todeszahlen mag die praktische Relevanz der Seuche zwar geringer als allgemein vermutet gewesen sein. Aber kulturelle Gewichtungen ergeben sich jenseits statistischer Faktizität. In der kollektiven Imagination, sowohl der Öffentlichkeit als auch der Wissenschaft, avancierte die Cholera zur zivilisatorischen Bedrohung schlechthin.41
Die Hochkonjunktur der Cholera verschärft die öffentliche Diskussion um die neue Wissenschaft der Bakteriologie.42 Während noch im 19. Jahrhundert der Wiener Pathophysiologe Carl von Rokitansky mit seiner an die Säftelehre angelehnten Blutmischungstheorie, der sogenannten Krasenlehre, die Dominanz des Blutes bei der Krankheitsentwicklung wiederaufleben ließ, widersprachen die Ergebnisse der mikrobiologischen Forschung, die bis zur Jahrhundertwende die Erreger von Cholera, Lepra, Milzbrand, Gonokokken, Typhus, Tuberkulose
mutete man auch im Fall der Cholera bereits zur Zeit der Entstehung von Raabes Novelle eine Mikrobe als Krankheitsauslöser. 39 Brief Raabes an Jensens vom 7. September 1873, Briefwechsel RaabeJensen, S. 202-203. 40 Sarasin/Berger/Hänseler/Spörri: Einleitung, in: dies., Bakteriologie und Moderne, S. 25. 41 Olaf Briese: »›Der mikroskopische Gegenstand zeichnet sich selbst.‹ Robert Kochs Konzept bakterieller Repräsentation«, in: Jörn Ahrens/Stephan Braese (Hg.), Im Zauber der Zeichen. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mediums, Berlin: Vorwerk8 2007, S. 117-132, hier S. 118. 42 Zur Popularisierung der medizinischen Wissenschaften vgl. Sarasin/Berger/Hänseler/Spörri: Einleitung, in: dies., Bakteriologie und Moderne, S. 31-32 und Philipp Sarasin: »Feind im Blut: Die Bedeutung des Bluts in der deutschen Bakteriologie, 1870-1900«, in: Christina von Braun/Christoph Wulf (Hg.), Mythen des Blutes, Frankfurt a.M./New York: Campus 2007, S. 296-310.
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und Wundstarrkrampf entdeckte, der Vorstellung vom Blut als homogener Einheit:43 Philipp Sarasin fasst die Entwicklung zusammen und macht gleichzeitig auf die damit einhergehende Säkularisierung des Blutbegriffes aufmerksam: »Die Rede vom ›Blut‹ als einem Signifikanten, der auf etwas Einheitliches, Ganzes, Selbstverständliches verweist, verliert […] mit dem Aufstieg der Bakteriologie um 1880 seine alte Evidenz und Fraglosigkeit – und damit auch weitgehend sein mythisches Potential.«44 Während das Blut an mythischem Potential einbüßt, gewinnt der bakteriologische Diskurs dagegen an kultureller Signifikanz: Das Motiv der Unabdingbarkeit und Nützlichkeit bakteriologischen Knowhows taucht in fast allen populärwissenschaftlichen Schriften auf. So betonten viele dieser Texte bereits zu Beginn ihrer Ausführungen, daß der Einfluß der »Kleinwesen« auf das »moderne Kulturleben« der Menschen geradezu umfassend sei und daß man deshalb gar nicht umhinkomme, sich mit ihnen zu beschäftigen.45
Zum wilden Mann setzt gerade die von Sarasin angesprochene ›Säkularisierung‹ des Blutes durch die Mikrobiologie in Szene, um sie der Vier-Säfte-Lehre gegenüberzustellen.46 Im Text verweist nicht nur der »Blutstuhl« mit seiner wörtlichen Bedeutung des blutigen Stuhls auf die entsprechenden Infektionskrankheiten, sondern der Text thematisiert auf umfassende Weise eine Gesellschaft an der Grenze zur medi-
43 Wolfgang U. Eckart: »Aufbruch in die Moderne – die Medizin des 19. Jahrhunderts«, in: ders., Geschichte der Medizin, Berlin: Springer 2008, S. 181-240, hier: S. 190-191 und S. 207-215. 44 Philipp Sarasin: »Feind im Blut«, S. 297. 45 Sarasin/Berger/Hänseler/Spörri: Einleitung, in: dies., Bakteriologie und Moderne, S. 35. 46 Vgl. zum Säkularisierungsbegriff auch Owsei Temkin: »Eine historische Analyse des Infektionsbegriffs«, in: Sarasin/Berger/Hänseler/Spörri (Hg.), Bakteriologie und Moderne, S. 44- 67, hier S. 65. Damit widerspreche ich Irmgard Roebling, die die im Text allumfassende Melancholie durch den Kräuterlikör geheilt sieht und hier Anklänge an die Humoralpathologie erkennt. Roebling: Raabes doppelte Buchführung, S. 75-76.
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zinischen Rationalisierung. Mit der Abwendung von der Säftepathologie und damit auch von der Wahrnehmung ansteckender Krankheiten als Strafe geht eine rhetorische Verschiebung einher, die nun den wirtschaftlichen Niedergang als neue Bestrafungsmöglichkeit identifiziert. Während zuvor die Ursache der Krankheit direkt im sozialen Verhalten des Individuums lokalisiert wurde,47 zeigt Raabes Novelle, wie die vormals körperliche Stigmatisierung als gesellschaftliche Pauperisierung erscheint, ohne dass übrigens eine moralische Verfehlung als Grund angegeben werden könnte – Kristeller ist sogar im Gegenteil eine besonders skrupulös handelnde Figur. Auf diese Weise wird eine Perspektive auf Krankheit aufgerufen, die über eine sozial gewendete Krankheitsmetaphorik von der Gesellschaft Verantwortung einfordert. Raabes Text greift damit eine Verbindung von medizinischer und sozialer Problematik auf, die Rudolf Virchow seinem Aufsatz »Die Epidemien von 1848« bereits 1851 zu Grunde gelegt hatte. Virchow stellt einen Zusammenhang zwischen den verheerenden Epidemien seiner Zeit und dem pathologischen Zustand der Gesellschaft her: »Epidemien gleichen großen Warnungstafeln, an denen der Staatsmann von großem Styl lesen kann, daß in dem Entwicklungsgange seines Volkes eine Störung eingetreten ist, welche selbst eine sorglose Politik nicht länger übersehen kann.«48 Diese Störung betrifft vor allem die sozialen Unterschiede der Gesellschaft, die durch die ökonomische Entwicklung verstärkt werden: Mag man sich immerhin auf Witterungsverhältnisse, auf allgemeine kosmische Veränderungen und Aehnliches beziehen, niemals machen diese an und
47 Vgl. Fritz B. Simon: »Die andere Seite der Krankheit«, in: Dirk Bäcker (Hg.), Probleme der Form, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 266-289, hier: S. 273. 48 Rudolf Virchow: »Die Epidemien von 1848«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin. Bd. 3 (1851), S. 312, hier: S. 6. Raabe waren die Schriften Virchows mit einiger Wahrscheinlichkeit bekannt. Roebling verweist auf deren Präsenz in einer von Raabe frequentierten Braunschweiger Bibliothek sowie auf das Interesse Raabes an der Abstammungsdebatte, an der sich Virchow beteiligte. Vgl. Roebling: Raabes doppelte Buchführung, S. 86, dort auch Fußn. 52.
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für sich Epidemien, sondern sie erzeugen sie immer nur da, wo durch die schlechten socialen Verhältnisse die Menschen sich längere Zeit unter abnormen Bedingungen befanden.49
Virchow sieht die Krankheit demnach als Ausdruck einer Gesellschaft, die man auch in sozialer Hinsicht als ›krank‹ bezeichnen kann. Zum wilden Mann greift die Idee einer Krankheit der Gesellschaft auf und reflektiert diese nun als Ergebnis der veränderten Wirtschaftsordnung, wie sie durch die einbrechende Moderne herbeigeführt wird. Wo Virchows Aufforderung, die Krankheit zu überwinden, als soziale Parallele der medizinischen Krankheitsbekämpfung die Revolution nahe legt,50 endet Raabes Novelle allerdings in einer bewegungslosen, negativen Starre, aus der heraus eine als positiv empfundene revolutionäre Befreiung nur schwer vorstellbar ist.51 An die Stelle der virtuellen Revolution tritt in Zum wilden Mann eine passive Reaktion der gesellschaftlichen Verlierer. Sie überlassen das Feld mit Agonista einer Figur, bei der im Hinblick auf die bei Virchow angedeutete Verschränkung somatischer und sozialer Perspektiven zunächst der familiäre Hintergrund von Interesse ist. Die Blutsverwandtschaft, die diesen an den gesellschaftlich problematischen Beruf des Henkers bindet, reaktiviert anfangs die ältere Vorstellung vom Blut als mythischer Instanz. Die daraus abgeleitete familiäre Gebundenheit durch das Blut ist unmittelbarer Auslöser der Ereignisse, die die Novelle schildert; die angeborene Aggressivität, das »unglück-
49 Virchow: »Epidemien«, S. 10. 50 Dies wird deutlich Formulierungen wie der Folgenden: »Wozu ist denn der Typhus und die Cholera dagewesen? Wozu sind alle diese Tausende von Proletariern gefallen, während die wohlhabenden Klassen des Volks nur vereinzelte Opfer bringen mußten?« Ebd., S. 9. 51 Damit bringt Raabes Text eine zu der Zeit vielfach vertretene Einschätzung der politisch-sozialen Lage zum Ausdruck, wie sie Eric Hobsbawm beschreibt: »As capitalism and bourgeois society triumphed, the prospects of alternatives to it receded, in spite of the emergence of popular politics and labour movements. These prospects could hardly have seemed less promising in, say 1872-73.« Eric Hobsbawm: The Age of Capital. 18481875, London: Weidenfeld and Nicholson 1962, S. 155.
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liche Blut«, das er »von seinen Vorfahren geerbt« hat,52 lernt Agonista allerdings im Laufe des Textes zu seinem Vorteil einzusetzen. Von der mythischen Blutbindung an die mit dem Familienerbe verbundenen Pflichten und Stigmata spricht er sich mit seiner Flucht nach Brasilien frei. Sein Auftreten im Harzdorf entspricht daraufhin einer Systematik, die auf das neuere Konzept mikrobiologischer Ansteckung anspielt: Er bricht wie ein Virus oder Parasit in das Leben des Apothekergeschwisterpaares ein.53 Gerade die aktuell zur Entstehungszeit der Novelle grassierende Cholera ist dabei als epidemischer Hintergrund mitzudenken. Da sich diese von Indien ausgehend nach Westen ausbreitete, wurde sie faktisch wie mythologisch mit der Kolonialisierung assoziiert und Agonistas Auftreten als Fremder, wenn auch aus dem Westen, ist in gleicher Weise mit der Verbreitung von Krankheiten verbunden.54 Die Bildsprache der Blutbindung wird im Laufe des Textes abgelöst von einem biologistischen Denken, in das Agonista auch menschliche Charakterzüge miteinbezieht: »Je früher der Mensch herausfindet, in welche Klasse er nach Linné oder Buffon gehört, desto besser ist es für ihn und desto schneller kommt er zur Ruhe und zur Zu-
52 Raabe: Zum wilden Mann, S. 184. 53 Vgl. Rolf Parr: »Unruhige Gäste bei Wilhelm Raabe«, in: »Der Gast in der Moderne. Typen und Formen erzählter Gastlichkeit«, 25.-27.4.2007, www.uni-bielefeld.de/(de)/ZIF/Publikationen/07-4-Parr.pdf, abgerufen am 25.2.2010, S. 4. Allgemein zum bakteriologischen Diskurs auch Christoph Gradmann: »Die popularisierte Bakteriologie des späten 19. Jahrhunderts erscheint als semantisches Reservoir eines Freund-Feind-Denkens und seiner spezifischen Metaphern im 20. Jahrhundert.« Christoph Gradmann: »Unsichtbare Feinde. Bakteriologie und politische Sprache im deutschen Kaiserreich«, in: Sarasin/Berger/Hänseler/Spörri (Hg.), Bakteriologie und Moderne, S. 327-353, hier: S. 349. 54 Zur Mythologisierung der Cholera siehe zum Beispiel Laura Otis: »Thomas Mann. The Tigers of Wrath and the Origin of Cholera«, in: dies.: Membranes. Metaphors of Invasion in Nineteenth-Century Literature, Science, and Politics, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1999, S. 148-167. Vgl. ebenso Briese: »›Der mikroskopische Gegenstand zeichnet sich selbst.‹« sowie ders., Angst in den Zeiten der Cholera.
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friedenheit mit seinen Zuständen.«55 Der so angedeutete Übergang zu einer naturwissenschaftlich geprägten Perspektive verläuft in der Novelle parallel zur Verschiebung der Gesellschaftsordnung von einer festgelegten, tradierten Klassenhierarchie zum sozialdarwinistischen ›Kampf ums Dasein‹. In Bezug auf diesen Kampf fungiert Agonista als Beispiel dafür, wie man in einer sich verändernden Welt das eigene Schicksal bestimmen kann. Die darwinistische Sichtweise rückt den Text ebenso in die Nähe der Moderne wie die ihm zugrunde liegende Krankheitsmetapher.56 Wer aus dem Kampf ums Dasein als Sieger hervorgeht, ist wiederum an der Blutmetaphorik ablesbar: Wenn der Oberst Agonista dem Doktor eine wirtschaftliche Zusammenarbeit anbietet, bringt er damit dessen »Blut in Wallung«, im Gegensatz dazu bleiben Kristeller und seine Schwester nach dem Entzug des Kapitals wie nach einem Aderlass blutleer und »abgemattet« zu-
55 Raabe: Zum wilden Mann, S. 206. Ein weiteres Zitat zum evolutionären Bildbereich: »Wenn jemand seinen alten Adam so vollständig wie ich im Graben ablegt, dann hält er auch etwas auf seinen neuen Rock.« Ebd., S. 231. 56 Die darwinistische Sichtweise wurde für Raabe inzwischen ausführlich untersucht: Vgl. Eberhard Rohse: »Hominisation als Huminisation? Die Figur des Affen als anthropologische Herausforderung in Werken der Literatur seit Darwin – Wilhelm Busch, Wilhelm Raabe, Franz Kafka, Aldous Huxley.« In: Studium generale: Vorträge zum Thema Mensch und Tier. Bd. 6. Hannover: Tierärztliche Hochschule Hannover 1989, S. 22-56; Peter Sprengel: »Herr German Fell und seine Brüder: Darwinismus-Phantasien von Raabe bis Canetti«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1998, S. 11-31; Katharina Brundieck: Raabes Antworten auf Darwin: Beobachtungen an der Schnittstelle von Diskursen. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2005; Silke Brodersen: »Scandalous Family Relations: Dealing with Darwinism in Wilhelm Raabe’s Der Lar«, in: German Quarterly 81.2 (2008), S. 152-169. Jürgen Link zählt unter anderem die epidemische Ansteckung zu den »exponentiellen« Tendenzen der Moderne. Vgl. Jürgen Link: »Tendenz Normalisierung oder Tendenz Normalität? Zur Massensymbolik im 19. Jahrhundert«, in: Michael Gamper/Peter Schnyder (Hg.), Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, Freiburg i.Br.: Rombach 2006, S. 157-169, hier S. 167-168.
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rück.57 Ausgehend vom Motiv des heidnischen Opfersteins, dem »Blutstuhl«, zeigt die Entwicklung eine Übertragung von Vitalität und Lebenskraft von Kristeller auf Agonista: Und während der Oberst nicht das geringste von seiner stattlichen Rundung einbüßte, wurde Fräulein Dorette Kristeller, die doch wenig einzubüßen hatte, von Tag zu Tag magerer, und auch der Apotheker fiel ab, soviel das noch möglich war. Das Geschwisterpaar wurde immer gelber und gelber; was den Dom Agostin betraf, so fingen die Leute an, ihm zu sagen: »Herr Oberst, die Luft hier scheint Ihnen gottlob recht gut zu bekommen.«58
Der Niedergang Kristellers bezeichnet eine Entwicklung zwischen den Markierungspunkten »Blutstuhl« und Blutarmut. Der symbolische Einsatz des Blutes als Bild für ökonomische ›Flüssigkeit‹ ist dabei zurückzuführen auf die vergleichbare Eigenschaft von Blut und Geld zu zirkulieren. Entsprechend fließt nach langer Verzögerung mit dem zurückgegebenen Geld wieder das symbolische Blut, nachdem Philipp und August dreißig Jahre zuvor ihren Pakt geschlossen haben, der spätestens mit dem Ausruf des Oberst, dass sie stets »alle eine Familie« blieben, die Blutsbrüderschaft nahelegt.59 Indem sich wirtschaftliches System und Organismus überlagern und reflektieren, wird auch die Möglichkeit geschaffen, neue gesellschaftliche Kommunikationsprozesse in Gang zu setzen, die letztlich zur Überwindung von sozialen Strukturgrenzen führen. Eine solche soziale Beweglichkeit, wie sie der Text durch Agonistas gesellschaftlichen Aufstieg und Kristellers Statusverlust veranschaulicht, ist Merkmal einer modernen Gesellschaft.60
57 Raabe: Zum wilden Mann, S. 253. 58 Ebd., S. 249. Zudem kann der Oberst »beneidenswert wohlkonservierte Zähne« vorweisen – ein weiteres Symbol von Gesundheit und biologischer Überlegenheit. Ebd., S. 230. 59 Ebd., S. 239. 60 Andrea Krauß sieht in der Zirkulationsstruktur eine Möglichkeit, innerhalb einer segmentierten Gesellschaft Kommunikation über Diskursgrenzen hinweg zu ermöglichen. Vgl. Andrea Krauß: »Gespenstische Zirkulation.
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Im Zusammenhang mit dem zirkulierenden Blut ist der »Blutstuhl« als Sinnbild der Körpergebundenheit des Ausbeutungsverhältnisses in seinem Bezug zum Ehrensessel zu betrachten, den Kristeller für den abwesenden Freund bereithält. Während Agonista bei Kristellers Ankunft an der Felsformation auf dem »Blutstuhl« liegt und diesen damit körperlich einnimmt, vermeidet er beim Besuch in der Apotheke den Ehrensessel zunächst und setzt sich erst darauf, als Kristeller ihn hinein »drückt«.61 In dieser Verhaltensänderung zeigt sich erneut die Verschiebung der Gesellschaftsordnung, denn der Widerstand des Obersts kann als Ablehnung des bürgerlichen Wertes der Gastfreundschaft gelesen werden. Nachdem er schließlich doch im Ehrensessel Platz nimmt, fühlt Agonista sich immerhin genötigt, die Ablehnung der traditionellen Ordnung zumindest durch die Zurückweisung seines alten Namens August Mördling noch einmal zu betonen.62 »Blutstuhl« und Ehrensessel sind semantisch aufeinander bezogen; während der erste Begriff allerdings durch die Verbindung mit den der Sage nach auf ihm zelebrierten Opferhandlungen metonymisch gebildet wird, funktioniert der Ehrensessel als rein abstrakter Platzhalter. Er steht metaphorisch für die virtuelle Anwesenheit des Wohltäters, der ›freie Platz‹ ist durch das Tertium Comparationis der Ehre an den Stifter der Apotheke gebunden: Auf den, dem die Ehre gebührt, wartet hier ein Ehrenplatz.63 Die referentiell unmittelbarere Trope der Metonymie, bei der die bildliche Repräsentanz noch auf die Nähe zum Repräsentierten zurückgreift, wird abgelöst durch das Abstrakte, durch das reine, referentiell mittelbare Bild.
Eine Metapher der Kulturwissenschaften«, in: Gamper/Schnyder (Hg.), Kollektive Gespenster, S. 373-400, hier S. 376-377. 61 Vgl. Raabe: Zum wilden Mann, S. 192, S. 208, S. 229. 62 Vgl. ebd., S. 231.Vgl. Parr: Tauschprozesse, S. 289. 63 Adolf Muschg schreibt, auf etwas andere Weise an den Topos der Ökonomie anschließend, als dies in meiner Darstellung der Fall ist, dass die Leere des Ehrensessels einen symbolischen Platz bereithält für den »Geist der Ware«, der in der Novelle den Heldenplatz einnehme. »Der leere Blutstuhl: ›Zum wilden Mann‹«, in: Jahrbuch der Raabe Gesellschaft 1994, S. 85-93, hier: S. 89.
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Damit entspricht die Verschiebung der Blut-Trope der rhetorischen Verschiebung zentraler Motive der Novelle: Die (metonymische) Blutsverwandtschaft weicht der (metaphorischen) Blutsbrüderschaft, wenn die Schwester Dorette durch Agostin in ihrer Bedeutung für Kristeller verdrängt wird. Während die biologische Familienzugehörigkeit einen direkten metonymischen Zusammenhang darstellt, ist die Verbindung zwischen Kristeller und Agonista eine symbolische, metaphorische. Kristellers Verlobte Johanne bringt deren eigentlich ökonomischen Charakter auf den Punkt, wenn sie das Verhältnis zu Agonista als wirtschaftsrechtliches Prinzip der »stillen Teilhabe« beschreibt.64 Mit dieser Beschreibung tritt die rechtliche Körperschaft an die Stelle der biologischen Verwandtschaft und die Unmöglichkeit einer biologischen Reproduktion des Geschwisterpaares wird durch die (re)produzierende Macht des Kapitals ersetzt: Es ist letztlich das Geld, das Agonista die Heirat mit dem vermögenden »Prachtweib« Julia Fuentalacunas ermöglicht – genau wie es seinerzeit die Heirat Kristellers verhindert hatte.65 Mit der Ankündigung der Heirat deutet Agonista die Möglichkeit einer biologischen Reproduktion an, was das Bild einer potentiellen Ausbreitung des virulenten Eindringlings verstärkt. Dieses Eindringen in den ›Organismus‹ des Harzdorfes und die folgende Grundlegung des eigenen Überlebens und der Verbreitung eigenen Erbmaterials auf Kosten der Vitalität seiner ›Opfer‹ macht das Parasitäre, Virenhafte des Obersts aus. Der Gast gefährdet, wie Parr schreibt, »Leib und Leben« der anderen Figuren, und hier sind nicht nur die Kristellers betroffen, sondern auch der Doktor, den Agonista ebenfalls in seine Geschäfte einspannen will.66 Das Gespenstische an der unsichtbaren
64 Raabe: Zum wilden Mann, S. 197. 65 Ebd., S. 234. 66 Vgl. ebd., S. 242 und S. 250-253. Vgl. auch Parr: Unruhige Gäste, S. 12: »Die Konflikte beruhen dabei auf den Verwerfungen zwischen einem ›noch‹ auf idealistischer Herzensbildung basierenden Gastlichkeitsgebot und einem Gast, der ausschließlich nach den neuen gründerzeitlichen Maximen harter Ökonomie handelt, was in der Folge zwar (noch) nicht zu einem Tausch der Positionen von Gast und Gastgeber, aber doch zur Domi-
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Ausbreitung von Krankheiten wie der 1873 in Raabes Umfeld grassierenden Cholera verschiebt sich in der Gesellschaftskritik67 und in der Figur Agonistas konkret auf den Kapitalismus, der sich wie eine Krankheit schleichend ausbreitet, die Gesellschaftsstrukturen verändert und zur eigenen Ausbreitung nutzt. Dabei ist der Organismus der bürgerlichen Gesellschaft nicht immun gegen den Angreifer, sondern beheimatet ihn und passt schließlich sogar seine Funktionsweise an ihn an. Diese unheimlich anmutende »Immunschwäche«68 gegen die zerstörerische Macht der Ökonomie hat Cizik Marshall als Übertragung des Gespensts des Kommunismus aus Marx’ Kommunistischem Manifest identifiziert,69 das in Raabes Text nun auf den Kapitalismus bezogen erscheint. Wie dem Kommunistischen Manifest geht es der Novelle darum zu zeigen, dass Geld und Tauschprozessen grundsätzlich ein unheimlicher, gefährlicher und in ihrer Ausbreitung unkontrollierbarer Aspekt innewohnt.70 Die pathologische Qualität des Geldes und die virale Verbreitung des Kapitalismus, die für Marx die
nanz des Gastes führt.« Ebd., S. 3. Vgl. zu den Methoden des Obersts weiterhin Krobb: »Die Ordnungen der alten Heimat«, S. 107. 67 Raabes auf die wirtschaftliche Veränderungen gerichtete Gesellschaftskritik beschreiben bereits Parr: Tauschprozesse, S. 275 und Cizik Marshall: »Wilhelm Raabe’s Apothecary«, S. 27. Parr liest diese Kritik verschränkt mit der Thematik der Gastlichkeit und des Tauschs. Vgl. Parr: »Unruhige Gäste«, S. 4. Vgl. auch Thielking: »Du hast sozusagen der ganzen Gegend die Phantasie verdorben«, S. 40. 68 Muschg: »Der leere Blutstuhl«, S. 93. 69 Vgl. den berühmten Anfangssatz des Kommunistischen Manifests: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.« Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest (Manifest der Kommunistischen Partei) - Von der Erstausgabe zur Leseausgabe, Tier: Karl Marx Haus 1995, S. 3. 70 Cizik Marshall schreibt in Bezug auf das Kommunistische Manifest: »Money and exchange structures in general have an uncanny, dangerous aspect, as well as some deeper sinister connections that are the primary concerns of the Manifest: power relationships, class structure, and colonial domination of the inferior other.« Cizik Marshall, »Raabe’s Apothecary«, S. 28.
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Notwendigkeit einer revolutionären Gegenbewegung fordern, zerstören allerdings bei Raabe die dörflich-bürgerliche Idylle widerstandslos. Die Überschneidung von physiologischem und ökonomischem Diskurs liegt dabei in der Figur des Gastes begründet, der darin dem Virus gleicht, dass beide weder dazugehören noch fremd sind: So wie der Gast die fremde Gemeinschaft besucht, sucht der Virus den fremden Organismus heim, zu dem er nicht gehört, ohne den er aber auch nicht existieren kann.71 Deutlich wird der schwächende Einfluss des Virus/Gastes aber vor allem, wenn er letztlich die Apotheke zu Grunde richtet. Den genannten Prozessen – der Auflösung der bürgerlichen Gemeinschaft und der blutbedingten Familienstrukturen durch den Kapitalismus sowie der Entwicklung der Mikrobenforschung, die letztlich die Körpertechnik der Impfung ermöglichte – ist gemeinsam, dass sie als Mechanismen des Eingreifens in einen organischen Zusammenhang beschrieben werden können, welche Raabes Novelle in ihrer Bildsprache als problematisch darstellt. Solcherart zweckorientierte Eingriffsmechanismen, wie sie auch in der Kybernetik behandelt werden, stellen den ersten Schritt zur Etablierung eines zweckgebundenen Kontrollmechanismus dar, der die Veränderung der Organisation eines Systems von außen zum Ziel hat, dessen umfassende systemische Vernetzung aber unbeachtet lässt. In seinem Aufsatz »Conscious Purpose versus Nature« (1968) nennt der Anthropologe und Kybernetiker Gregory Bateson gerade die auch von Raabe in seinen Briefen kommen-
71 Ralf Simon bestimmt die Rolle des Gastes im Verhältnis zur Ökonomie: »Geld wird gegeben und im Gegenzug ein Gesetz in Anspruch genommen: das der Gastfreundschaft. Es bestimmt, daß man einen Gast, zumal wenn er sich durch Geld seine Rolle erkauft hat, nicht abweist. Der Gast, als solcher, ist unverneinbar: zirkuliert einmal sein Geld, herrscht das Gesetz, ihn nicht vertreiben zu dürfen. Andererseits aber ist der Gast auch nicht integrierbar. Wäre er es, dann würde er seine Fremdheit aufgeben, sich in die herrschenden Sitten einordnen und aufhören, Gast zu sein.« Ralf Simon: »Gespenster des Realismus. Moderne-Konstellationen in den Spätwerken von Raabe, Stifter und C.F. Meyer«, in: Gerhart von Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 202-233, hier S. 218.
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tierte Entwicklung der Impfung als Beispiel für ein solcherart problembezogenes Eingreifen:72 Consider the state of medicine today. What happens is that doctors think it would be nice to get rid of polio, or typhoid, or cancer. So they devote research money and effort to focusing on these ›problems‹, or purposes. At a certain point Dr. Salk and others ›solve‹ the problem of polio. […] Within this science there is extraordinarily little knowledge of the rot of things I’m talking about; that is, of the body as a systemically cybernetically organized selfcorrective system. Its internal interdependencies are minimally understood. What has happened is that purpose has determined what will come under the inspection of consciousness of medical science.73
Bateson stellt hier an einem medizinischen Beispiel dar, wie der Fokus auf das individuelle Problem das Gesamtsystem aus der Balance bringt. Alternativ zu einem solchen Eingreifen in einen Organismus steht das systemische Denken, das an die Stelle der Individualisierung eines Problems eine Systembeschreibung setzt, die ein Zusammenspiel aller beteiligen Faktoren anstrebt. Für die in Raabes Novelle beschriebene Gesellschaft ist ein solches Zusammenspiel aus dem Blick geraten und einem zweckorientierten Denken gewichen, das Agonista verkörpert und das sich am Ende in der durch die virologische Bildlichkeit geprägten Gesellschaftsbeschreibung des Textes durchsetzt. Während Bateson in der zweckorientierten Gesellschaft auf Hilfe von Seiten der Kunst hofft,74 bleibt diese allerdings in Zum wilden
72 Vgl. Fußn. 36. 73 Gregory Bateson: »Conscious Purpose versus Nature«, in: ders., Steps to an Ecology of Mind, Chicago: University of Chicago Press 2000, S. 432445, hier S. 439. (Hervorhebung bei Bateson.) 74 In ihr, schreibt er, sei die vollkommene Selbsterfahrung möglich, die die Zweckorientierung erkennbar und damit zumindest potentiell kontrollierbar mache. »We may say that in creative art man must experience himself – his total self – as a cybernetic mode.« Ebd., S. 443. Parr schreibt eine solchermaßen idealistische Einschätzung der Kunst auch Kristeller zu, wenn dieser seinen Kräuterlikör als Apothekerkunst bezeichnet. Die Rolle der Kunst in der Novelle geht jedoch meiner Ansicht nach über diese dem
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Mann machtlos gegen die Vorherrschaft des Kapitals. Wenn am Ende der Novelle Kristellers Gemäldesammlung versteigert wird, zeigt sich, dass selbst die Kunst Teil der kapitalistischen Zweckorientierung wird. Nach der geselligen Punschrunde des Anfangs endet der Text in Ernüchterung. Die Novelle als Kunstprodukt zeigt hier die Ausweglosigkeit der gesellschaftlichen Veränderung, indem sie keine Alternative zum eingriffsorientierten, ökonomistischen Denken bietet. Auch der unter Umständen als reinigende Heilung lesbare Verlust aller irdischen Güter ermöglicht in Zum wilden Mann keinen neuen Anfang, sondern ist im Gegenteil gerahmt vom metaphorischen Tod des Winters.75 Damit drückt die Novelle eine Skepsis aus, die sicherlich angebracht erscheint, angesichts der Lage, in der sich vor allem auch die schriftstellerische Kunst zum Beginn des Zeitalters der Massenmedien in der anbrechenden Moderne befindet.76 Die Vorherrschaft des Kapitals betrifft also auch die Kunst, und mit der Durchsetzung der kapitalistischen Geldwirtschaft gegenüber der traditionellen, zumindest indirekt noch immer auf Tauschbeziehungen basierenden Dorfökonomie, findet, wie Andrea Krauß formuliert, eine weitere Verschiebung der textuellen Bildsprache hin zur Metapher statt: Weil in der modernen Gesellschaft Ware nur gegen Geld getauscht werden kann, Geld umgekehrt gegen jegliche Ware, wird Geld zum »absoluten Mittel« der Übertragung, wir könnten auch sagen: zu einer Art ›objektiven‹ Metapher,
Praktisch-Ökonomischen opponierende Funktion hinaus. Vgl. Parr, Tauschprozesse, S. 285. 75 In den Akten des Vogelsangs ist hingegen eine solcherart ›reinigende Heilung‹ beschrieben, wenn Velten Andres seine irdischen Güter verbrennt. Vgl. Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 19, hg. von Karl Hoppe, Freiburg.i.Br./Braunschweig: Verlagsanstalt Hermann Klemm 1957, S. 211-408, hier: S. 393-345. 76 Siehe dazu zum Beispiel Hans-Jürgen Schrader: »Autorfedern unter PreßAutorität. Mitformende Marktfaktoren der realistischen Erzählkunst – an Beispielen Storms, Raabes und Kellers«, in: Jahrbuch der Raabe Gesellschaft 2001, S. 1-40, für Raabes »Drei Federn« vgl. S. 22-34.
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die den Transport sozialer (Wert-)Bedeutung auf die bloße Konvention möglicher Stellvertretung reduziert.77
Nicht die Kunst sondern das Geld besetzt damit zunächst diejenige Position, die durch die Suche nach einem Heilmittel in Raabes Novelle eröffnet wird. Die Versuchung, Geld als Allheilmittel zu betrachten, ist groß, und Raabes Novelle führt das negative Resultat in ökonomischer Hinsicht vor. Aber auch innerhalb der körperbezogenen Bildsprache des Textes ist der vitale Kreislauf der Selbstregeneration unterbrochen, wenn am Schluss der Novelle die ›erkrankte‹ Gesellschaft im ewigen Winter zu erstarren scheint. Doch obwohl das Geld oberflächlich als Heilmittel eingeführt wird, wirkt es als Materialisierung des »Gespensts des Kapitalismus« innerhalb der Erzählung wie ein langsam wirkendes Gift auf diese Erstarrung hin. Als Grundkapital der Apotheke arbeitet das Gift langsam, dreißig Jahre lang akkumuliert es sozusagen Zinsen, bis der Organismus der Apotheke letztendlich der Vergiftung erliegt. Damit wird durch die ambivalente Struktur von Gabe und Gift eine Doppelung von oberflächlichem Fortschritt und unterschwellig unkontrollierbaren Kräfteverhältnissen offengelegt. Dem am Ende geschwächten Körper Kristellers kann das eigene pharmazeutische Wissen nicht helfen, denn die Krankheit der Gesellschaft bleibt.
77 Krauß: »Gespenstische Zirkulation«, S. 379.
Der weibliche Körper als Pflanze: Evolution und weibliche Individuation bei Gabriele Reuter und Hedwig Dohm S USANNE B ALMER
Im 19. Jahrhundert gewinnt eine Dichotomisierung der Geschlechter in der Anatomie und Medizin an Bedeutung, welche das gesellschaftliche Rollenverständnis von Mann und Frau entscheidend prägt. Der weibliche Körper wird im Zuge dieser Entwicklung zum Ausdruck essenzieller weiblicher Sexualität, einer Sexualität, die das Wesen der Frau genuin bestimmt. Um 1800 beschäftigen sich Ärzte und Naturwissenschaftler wie zum Beispiel Ernst Georg Stahl oder Albrecht von Haller eingehend mit der Frage nach der den Körpern innewohnenden Kraft. Zunehmend gehen sie dabei von einer Dominanz der Sensibilität der Nerven über die Irritabilität der Muskeln als Grundkräfte des Lebendigen aus. Die Bevorzugung der Sensibilität hat direkte Auswirkungen auf den Geschlechterdiskurs.1 Die unhinterfragte Annahme der Dominanz von Sensibilität im weiblichen Körper führt zu einer psycho-physiologischen Sonderanthropologie. Obwohl der männliche Körper schon bald »komplexeren Analyseverfahren und reflexiveren kognitiven Strategien«2 unterworfen wird, setzt sich für die Erklärung
1
Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter – Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850, München: Campus Verlag 1991, S. 133.
2
Ebd., vgl. auch S. 150-151.
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und Bestimmung der weiblichen Organisation ein konsequenter Monismus durch, der bei der Frau alle Aspekte der Existenz auf das Geschlecht zurückführt. Ausschlaggebend für den Unterschied zwischen den Geschlechtern wird die ›Trieb‹-Differenz, die sexologisch an der Anordnung der Geschlechtsorgane festgemacht wird. Im Gegensatz zur konzentrierten männlichen Sexualität zeichnet sich die weibliche durch eine diffuse innere Zerstreuung aus. Die Frau erscheint als »durch und durch ›sexualisiert‹«, der »sexuellen Erlösung« jedoch kaum mächtig.3 Die männliche Sexualität dagegen funktioniert, so die Vorstellung, nur »punktuell, quasi mechanisch« und eröffnet dem Mann so – »neben den begrenzten voluptösen Ekstasen« – Zeiten und Räume, »sich auf andere Dinge zu konzentrieren«.4 Diese Deutung der weiblichen Sexualität hat zur Folge, dass die überhöhte Empfindsamkeit des weiblichen Körpers als Folge der sexuellen Determinierung der Frau verstanden wird und sie in die Nähe einer genuin pathologischen Existenzform rückt: »Ohne die Möglichkeit unmittelbarer Befriedigung bleibt sie ein Leben lang umgetrieben von vagen Sehnsüchten, Lüsten und Begierden.«5 Auf diese Weise wird die sexuelle Determinierung der Frau für ihre gesamte psychische Verfasstheit verantwortlich gemacht. Alle weiblichen Funktionen und damit auch die Mechanismen, welche die Lebensphasen der Frau steuern, sind gemäß dieser Auffassung nicht im Willen der Frau oder ihrer Vernunft begründet, sondern werden von der spezifischen ›weiblichen Natur‹ bestimmt.6 Indem nicht nur einfach der Körper die Seele bedingt, sondern die Seele im Fall des weiblichen Geschlechts zugleich »gesättigt von gattungserhaltender Sittlichkeit« selbst den Körper determiniert, wird die Frau um 1800 zunehmend als physio-moralische Einheit verstanden.
3
Ebd., S. 142.
4
Ebd.
5
Ebd.
6
Vgl. Edith Stolzenberg-Bader: »Weibliche Schwäche – Männliche Stärke. Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert«, in: Jochen Martin/Renate Zoepffel (Hg.), Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann, Bd. 2., Freiburg i.Br./München: K.A. Freiburg 1989, S. 751-818, hier S. 813.
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Die Mutterschaft und damit die Funktionen der Gattin und Hausfrau werden geradezu zur »bio-ethischen Notwendigkeit«.7 Soziologische Dimensionen des Geschlechterunterschieds werden in diesem Diskurs fast gänzlich ausgeblendet. Die ›weibliche Bestimmung‹ durch die Sexualität lässt die Frau als Gattungswesen in Erscheinung treten, dessen Leben ganz der Biologie unterstellt ist. Diese Polarisierung männlicher Individuation und weiblicher Gattungsbestimmung dominiert den Geschlechterdiskurs des ganzen 19. Jahrhunderts.8 Dies zeigt etwa ein Zitat aus einem populären medizinischen Ratgeberwerk von Hermann Klencke, erschienen 1872: Um aber auch in den höheren Thieren, wo die völlige Trennung der Geschlechter auch der höheren Ausbildung der Individualität entspricht, das universelle oder Gattungsleben geltend zu machen, schuf sie [die Natur] das weibliche Wesen mit der vorwaltenden Tendenz, der Gattung zu dienen, die Art zu erhalten.9
Die Reduktion des weiblichen Körpers auf seine Sexualität beziehungsweise auf seine sexuelle Funktion sieht keine individuelle Entwicklung der Frau vor, sondern legt sie auf ihre arterhaltende Rolle als Tochter, Ehefrau und Mutter fest. Im Gegensatz dazu garantiert die männliche Individuierung die Fortentwicklung der menschlichen Gattung. Die unterschiedliche Konzeption des männlichen und weiblichen Entwicklungsverlaufs wird im literarischen Genre des Entwicklungsromans reflektiert, welches im 19. Jahrhundert sowohl ›männliche‹ als auch ›weibliche‹ Entwicklungsnarrative ausbildet, wobei besonders die biologisch begründete Unmöglichkeit weiblicher Individuierung ein Kernthema im weiblichen Entwicklungsroman des 19. Jahrhun-
7
Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 144-145.
8
Vgl. ebd., S. 188-189.
9
Hermann Klencke: Das Weib als Gattin – Lehrbuch über die physischen, seelischen und sittlichen Pflichten, Rechte und Gesundheitsregeln der deutschen Frau im Eheleben zur Begründung der leiblichen und sittlichen Wohlfahrt ihrer selbst und ihrer Familie, Leipzig: E. Kummer 3. Aufl. 1879, S. 9. (Hervorhebungen im Original).
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derts ist.10 Mithilfe verschiedener narrativer Strategien versuchen Romane den Widerspruch zwischen einem Weiblichkeitsentwurf jenseits der biologischen Funktionen des Gattungswesens und der Integration der Frau in die bürgerliche Gesellschaft darzustellen, zu kritisieren und zu unterlaufen. Zu denken ist dabei an Romane wie Gabriele von Johanna Schopenhauer (1821), Die letzte Reckenburgerin (1871) von Louise von François sowie die beiden hier besprochenen Romane Aus guter Familie (1896) von Gabriele Reuter und Christa Ruland (1902) von Hedwig Dohm. Der Darstellung des weiblichen Körpers als genuinem Ausdruck der weiblichen Sexualität kommt in den genannten Texten eine entscheidende Bedeutung zu. Anhand der beiden Romane von Reuter und Dohm soll gezeigt werden, wie der Körper der Frau im weiblichen Entwicklungsroman zum Angelpunkt der Kritik an der Biologisierung der weiblichen Geschlechterrolle wird. Beide Romane setzen eine vielfältige Pflanzenmetaphorik ein, um den Körper der jeweiligen weiblichen Hauptfigur zu inszenieren. Sie greifen damit auf eine Bildlichkeit zurück, welche im weiblichen Entwicklungsroman eine lange Tradition hat, setzen diese aber mit Verweis auf den evolutionstheoretischen Diskurs der Zeit neu ein, um die Essenzialisierung der weiblichen Sexualität zu verhindern und zu kritisieren. Blumenhafte Töchter aus gutbürgerlichem Haus In Aus guter Familie verwendet die Hauptfigur Agathe für sich selbst das Bild einer faulenden Knospe.11 Zu Beginn des Romans Christa Ruland vergleicht die auktoriale Erzählinstanz die Hauptfigur Christa ebenfalls mit einer Pflanze: »Aus dieser leuchtenden bunten Stickerei stieg blumenhaft der schlanke, etwas zu lange Hals, auf dem wie auf einem zarten Stil das kleine Köpfchen zu schwanken schien.«12 In
10 Susanne Balmer: »Als Ich – entwickele ich Mich.« Weibliche Entwicklungsnarrative im Kontext der bürgerlichen Geschlechterdichotomisierung, Dissertation Zürich 2010 [unpubliziert]. 11 Gabriele Reuter: Aus guter Familie, Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft 2006, S. 219. 12 Hedwig Dohm: Christa Ruland, Berlin: Fischer 1902, S. 7-8.
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beiden Romanen scheint die verwendete Pflanzenmetaphorik das wenig originelle Bild weiblicher Schönheit, Zartheit und Reinheit sowie ihrer Vergänglichkeit zu entwerfen. Gisela Brinker-Gabler konstatiert, dass eine solche Bildlichkeit nicht in der Lage ist, eine Differenzierung des »Geschlechtswesens Weib« in Individuen zu erreichen.13 Der kulturhistorische Hintergrund der Pflanzenmetaphorik scheint Brinker-Gabler zunächst Recht zu geben. Seit der Antike ist der Personifikation einer Pflanze eine geschlechterspezifische Deutung immanent. Dem Bild der ›weiblichen‹, sesshaften Pflanze wird das des männlichen, umherziehenden Tiers entgegengestellt und in ihrer Gegensätzlichkeit verweisen sie auf die Dichotomie der Geschlechter. Schönheit, Zartheit, Duldsamkeit und Passivität gelten dabei als genuin weibliche Eigenschaften und generieren ein eher ›charakterloses‹ Bild der Frau als Vertreterin ihres Geschlechts. Mit eben dieser Konnotation wird das Bild der Frau als Pflanze etwa bei Friedrich Wilhelm Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Novalis zum Ausdruck einer bürgerlichen Geschlechterkonzeption, welche die Frau als Gattungswesen zunehmend auf ihre biologisch-soziale Funktion zu reduzieren versucht.14 Ab dem 18. Jahrhundert sind Pflanzenmetaphern beliebte rhetorische Figuren für die Darstellung menschlicher Entwicklung. Zu denken ist dabei zum Beispiel an den Begriff »Pflanzschule«15 als Bezeichnung für Bildungsanstalten oder an das Lehrgedicht Die Metamorphose der Pflanzen von 1798, in dem Goethe den Prozess des pflanzlichen Wachstums parallel führt mit der Individualentwicklung des Menschen.16 Die Metaphorik dieser Texte verweist hier in erster Linie auf das ›Naturgegebene‹ menschlicher Entwicklung, genauer auf ein vorevolutionäres Verständnis von Entwicklungsprozessen, das auf
13 Gisela Brinker-Gabler: »Die Frau ohne Eigenschaften – Hedwig Dohms Roman Christa Ruland«, in: Feministische Studien 3.1 (1984), S. 117127, hier S. 118. 14 Vgl. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 187-188. 15 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig: Breitkopf 1798, S. 735. 16 Johann Wolfgang Goethe: Naturwissenschaftliche Schriften 1, Goethes Werke Bd. 13, Hamburg: Christian Wegner 1966, S. 577.
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dem Prinzip der physischen und psychischen Perfektibilität des Einzelnen beruht. Ein Beispiel, in dem sich diese beiden Aspekte pflanzlicher Bilder ineinander verschränken, ist der Roman Julchen Grünthal von 1798, verfasst von der Berliner Schriftstellerin und Verlegerin Friederike Helene Unger. Er gehört zu den frühen weiblichen Entwicklungsromanen.17 Julchen Grünthal erzählt die Entwicklungsgeschichte der gleichnamigen Hauptfigur, ihren abenteuerlichen Lebensweg von der behüteten Tochter eines Gutsbesitzers zur übermütigen Pensionsschülerin, leichtsinnigen Ehebrecherin, verschuldeten Spielsüchtigen, flüchtigen Tochter und Hofdame in Russland. Im Roman beschreibt der Ich-Erzähler Amtmann Grünthal seine Tochter als »liebe, zarte, unverdorbene Pflanze«.18 Er ist überzeugt von ihrem vielversprechenden Entwicklungspotential: »Ihre schöne Natur bedurfte nur einer liebreichen Hülfe sich zu entwickeln; jede weibliche Tugend lag im zarten Keime vor mir, und brach an dem warmen Vaterherzen zur lieblichsten Blüthe auf.«19 Das Bild des aufbrechenden Keims referiert im Roman auf eine Entwicklungsvorstellung, derzufolge die Anlagen eines Individuums präformiert sind und sich im Zusammenspiel mit äußeren Kräften quasi zur ›Ent-faltung‹ bringen. Die Prämisse des zu körperlicher, intellektueller und sittlicher Vervollkommnung fähigen und bestimmten Menschen prägt in Deutschland um 1800 nicht nur die Vorstellung des einzelnen Individuums, sondern die der ganzen menschlichen Gattung.20 Im Unterschied zum Tier ist der Mensch – und damit auch die Menschheit – mit seinem freien Willen bei der Geburt weit von der möglichen Vollkommenheit entfernt und muss diese daher aktiv anstreben, indem er seine Anlagen bestmöglich realisiert.21
17 Friederike Unger: Julchen Grünthal, Berlin: Zenodot 2007. 18 Ebd., S. 22. 19 Ebd., S. 9. 20 Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Fortschritt, Basel/Stuttgart: Schwabe 1972, S. 1041-1042. 21 Vgl. ebd. Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 7, Perfektibilität, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1989, S. 241.
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Die vielversprechenden Anlagen Julchens, ihre »schöne Natur«, finden, so die Sicht ihres Vaters, an seinem »warmen Vaterherzen«, das durch die Metapher als eine Art Sonne inszeniert wird, die optimalen Bedingungen sich zu ent-falten. Das Ziel, das Grünthal für die Entwicklung seiner Tochter formuliert, ist jedoch kein allgemeinmenschliches: »Sie wäre, was sie seyn müsse, wenn sie eine kluge, fromme Hausfrau würde, der es nicht an Verstand und Bildung fehlte, einem gescheuten Manne das Leben zu versüßen, und in ihren Kindern dem Staat nützliche Bürger zu erziehen.«22 Die für Julchen vom Vater bestimmte Zukunft ist eine dezidiert geschlechterspezifische ohne Spielraum für individuelle Entscheidungen. Die Vollkommenheit ihrer Entwicklung misst sich für den Vater einzig daran, ob sie ihre Gattungsfunktion erfüllt oder nicht. Indem der Roman Grünthals bürgerlich-patriarchale Position samt seiner Pflanzenmetaphorik widersprüchlich erscheinen lässt, ist Julchen Grünthal ein frühes Beispiel dafür, wie in weiblichen Entwicklungsnarrativen eine derartige Reduktion der Frau auf ihre biologischen Funktionen kritisiert wird. Grünthal fürchtet, dass Julchen ihrer ›natürlichen Bestimmung‹ untreu werden könnte, wenn sie, anstatt von ihm, in einer Pension erzogen wird. Dieser Aufenthalt könnte, so seine Sorge, in Julchen andere, unerwünschte Anlagen zur ›Ent-wicklung‹ bringen. Grünthals Angst ist diejenige vor der Korruptibilität der menschlichen Entwicklung, die sich zwangsläufig aus dessen freiem Willen ergibt. Seine Aversion gegen die Pension zeigt, dass Grünthal Julchen nur durch »die Abschottung gegen jegliche Alternative« zu ihrer angeblichen Natur als Ehefrau, Hausfrau und Mutter zwingen zu können meint.23 Damit stellt er aber die Determinierung der Frau durch ihre Sexualität in Frage und gesteht ihr die Möglichkeit einer Individuierung zu. Der Widerspruch wird dadurch kaschiert, dass die mögliche Individuierung negativ bewertet wird. Grünthal vergleicht die Pension, in die Julchen, die »liebe, zarte, unverdorbene Pflanze«, gehen will, mit einem »Treibhaus«.24 Damit stellt er der ›natürlichen‹,
22 Unger: Julchen Grünthal, S. 10. 23 Birte Giesler: Literatursprünge. Das erzählerische Werk von Friederike Helene Unger, Göttingen: Wallstein 2003, S. 101. 24 Unger: Julchen Grünthal, S. 22.
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positiven Kraft seines »Vaterherzens« eine künstliche gegenüber, die Julchens Entwicklung entsprechend negativ beeinträchtigen muss. Der Roman Julchen Grünthal entlarvt anhand der Figurenperspektive des Amtmanns die Inkonsistenz, welche der Argumentation rund um die ›natürliche Bestimmung‹ der Frau innewohnt. Grünthals Versuch scheitert, Julchens Flucht von der väterlichen Brust im ersten Teil als Negativteleologie zu erzählen. Sowohl auf der Ebene der Darstellung als auch auf der Handlungsebene wird seine Perspektive im zweiten Teil revidiert und Julchens Entwicklung als ein geglückter Vervollkommnungsprozess dargestellt. Damit entwirft der Roman die Möglichkeit weiblicher Vervollkommnung mittels einer Individuierung jenseits der ›weiblichen Bestimmung‹. Die patriarchale Ordnung wird im Roman jedoch nicht grundlegend angegriffen. Die intakte gesellschaftliche Ordnung ist vielmehr der Beweis für die prästabilisierte Harmonie der ganzen Schöpfung, die wiederum Julchens vordergründig devianten Entwicklungsverlauf als ›natürlich‹ legitimiert.25 Der Roman proklamiert auf diese Weise ein allgemeinmenschliches Entwicklungskonzept, wonach sich männliche und weibliche Individuen nur durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt ›ent-wickeln‹ können und dabei zwangsläufig individuelle Wege gehen, die nicht immer gesellschaftskonform sind. Mit zunehmender Dichotomisierung der Geschlechter nach 1800 verlieren solche egalitären Vorstellungen jedoch zusehends an Deutungsmacht und gleichzeitig büßt auch das Paradigma der Perfektibilität seine Dominanz ein. Reuter und Dohm greifen ein Jahrhundert später das Bild des passiven, weiblichen Pflanzenkörpers erneut auf, um es ein weiteres Mal zu kritisieren und zu dekonstruieren. Für sie bildet jedoch nicht das Perfektibilitätsparadigma den entwicklungstheoretischen Referenzpunkt, sondern die Evolutionstheorie, die nach der Veröffentlichung von Charles Darwins On the Origin of Species 1858 vor allem durch die Vermittlung Ernst Haeckels in Deutschland breit diskutiert wurde.
25 Vgl. Susanne Balmer: »Der weibliche Entwicklungsroman als widerspenstiges Narrativ«, in: Christa Binswanger u.a. (Hg.), Gender Scripts. Widerspenstige Aneignungen von Geschlechternormen, Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 205-226, hier S. 216-217.
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Aus guter Familie – Die Frau als Gattungswesen Agathe Heidling, die Hauptfigur aus Reuters Bestseller von 1896, ist eine Tochter aus gutbürgerlicher Familie, die von ihren Eltern als zukünftige Ehefrau und Mutter erzogen wird. Als sich abzeichnet, dass sich für sie kein Ehemann findet – unter anderem deshalb, weil Herr Heidling die Mitgift seiner Tochter zur Begleichung der Spielschulden seines Sohnes ausgibt – bleibt ihr nur die Rolle der braven Tochter. Alle Individuierungsversuche werden im Roman systematisch unterbunden. Der weibliche Körper tritt im Text ein erstes Mal als Pflanzenkörper in Erscheinung, als Agathes erster Ballbesuch beschrieben wird: Da standen die jungen Mädchen in langen Reihen und in kleinen Gruppen – wie ein riesenhaftes Beet zartabgetönter Frühlingshyazinten – rosenrot, bläulich, maisgelb, weiß, hellgrün. Die Hände über dem Fächer gekreuzt, die Ellbogen der entblößten, fröstelnden Arme eng an die Hüfte gedrückt, vorsichtig mit einander flüsternd und die blumengeschmückten blonden und braunen Köpfe zu schüchternem Gruße neigend.
26
Passiv, still, zart und schön stehen die verschüchterten Mädchen im Ballsaal. Die jungen Frauen treten in dieser Beschreibung nicht als Individuen, sondern als Exemplare ihrer Art auf, deren Wert sich nur auf ihre äußerliche Erscheinung beläuft. Die typische Inszenierung von Frauen als Gattungswesen im Zitat wird durch die weitere Schilderung des Ballbesuches als Kritik lesbar. Die Aufmachung der Mädchen erscheint als Waffe im Kampf um eine gute Partie, der Ball als Schlacht und die Frauen selbst als Trophäe: Die Knaben musterten den Saal mit spöttischem Siegerblick und wagten sich leichten, tanzenden Schrittes über den fürchterlich leeren Raum zu dem Hyazinthenbeet, durch welches dann jedesmal ein leises Zittern und Bewegen lief. […] Und dann schmetterten die Fanfaren zum Angriff, und die Schwarzen
26 Reuter: Aus guter Familie, S. 63-64.
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stürzten sich auf die Hellen, alles wirbelte durcheinander und die Schlacht konnte beginnen.27
Agathe leidet unter dieser herabsetzenden Situation, kann sich aber nicht zur Wehr setzen, sondern verbleibt in ihrer Passivität: »Agathe biss die Zähne in die Lippe. Etwas Abscheuliches quoll in ihr auf: ein Haß – eine Bitterkeit − ein Schmerz …. Sie hätte mögen zu ihrer Mutter stürzen und schreien: Warum hast du mich hier hergebracht?«28 Agathes Verhalten ist symptomatisch für ihren weiteren Entwicklungsweg. Sie erkennt die Eingeschränktheit ihres weiblichen Handlungsspielraums, findet aber keinen Weg, sich dagegen zu wehren oder damit umzugehen. Als unverheiratete Tochter bleibt Agathe im Haus ihrer Eltern wohnen. Eine Berufstätigkeit kommt nicht in Frage. Die Eltern schränken ihre Freiheit auch in Bezug auf ihren sozialen Umgang ein und untersagen ihr ebenfalls, sich nach eigenem Gutdünken wissenschaftlich weiterzubilden oder in der Religion eine Erfüllung zu finden. Ihre verhinderte Individuierung erscheint Agathe als regelrechte Folter: »Wußte denn keiner, daß es grausam war, eine Blume, die nach Entfaltung strebte, durch ein seidenes Band zu umschnüren, damit sie Knospe bleiben sollte. Wußte keiner, daß sie dann im Inneren des Kelches verrottete und faulte?«29 Die biologisch-soziale Bestimmung der Frau entspricht, so die Metapher, gerade nicht einer natürlichen Entwicklung, sondern ist vielmehr soziale Abrichtung, die zur Zerstörung der Frau und ihres Körpers führt. Der Widerstreit zwischen einer individuellen Entwicklung und der Situation der gutbürgerlichen Tochter wird im Roman auch anhand der Beschäftigung mit dem Werk Ernst Haeckels ausgetragen. Bei der großen Herbstreinigung in der väterlichen Bibliothek fällt Agathe dessen Natürliche Schöpfungsgeschichte in die Hände.30 Sie fühlt sich nach der Lektüre
27 Ebd., S. 64-65. 28 Ebd., S. 67. 29 Ebd., S. 219. 30 Nach Tatlock ist belegt, dass Reuter selbst sowohl Darwin als auch Haeckel gelesen hat. Vgl. Lynne Tatlock: »Introduction to From a Good Fa-
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aufgerüttelt vom »geistigen Halbschlaf, dem missmutigen Hindämmern«31 ihres trostlosen Lebens und wünscht sich weitere naturwissenschaftliche Werke zu Weihnachten. Der Vater verbietet der erwachsenen Tochter die weitere Lektüre Haeckels, wie er ihr einst als Konfirmandin die Lektüre des Vormärzdichters Georg Herwegh untersagt hatte. An Stelle der gewünschten Bücher schenkt er ihr ein Werk über die Flora Mitteldeutschlands. An Haeckel interessiert Agathe nicht nur »the cruelty and grandeur of nature«.32 Enttäuscht und verbittert fragt sich Agathe nach dem Leseverbot des Vaters: »Entwickelten sich denn alle Wesen in dieser Welt zu höheren Daseinsformen und nur sie und ihresgleichen blieben davon ausgeschlossen?«33 Sie verweist damit auf die Evolutionstheorie und stellt ihre eigene verhinderte Entwicklung in deren Kontext. Die Bezugnahme auf »ihresgleichen« kann auf zweifache Weise verstanden werden. Zum einen betrifft die Bezeichnung alle unverheirateten Töchter »aus guter Familie«; diese fallen gewissermaßen der ›natürlichen Selektion‹ zum Opfer, da ihnen die Fortpflanzungsmöglichkeit verweigert wird. Zum anderen kann die Bezeichnung auch auf die Frau im Allgemeinen ausgeweitet werden. Damit wird der Satz als eine kritische Anspielung auf die Geschlechterdichotomisierung lesbar, wie sie in Teilen der Darwinrezeption und auch bei Darwin selbst bis zu einem gewissen Grad weiterlebt. Denn mit dem Theorem der sexual selection identifiziert Darwin neben der natural selection einen zweiten wichtigen Evolutionsmechanismus. Die sexual selection hänge nicht vom struggle for life ab, sondern vom struggle for reproduction: »This [sexual selection] depends on the advantage which certain individuals have over others of the same sex
mily«, in: Gabriele Reuter: From a Good Family, Rochester NY/ Woodbridge: Camden House 1999, S. ix-xviii, hier S. xxvi. 31 Reuter: Aus guter Familie, S. 214. 32 Richard L. Johnson: »Gabriele Reuter: Romantic and Realist«, in: Susan L. Cocalis/Kay Goodman (Hg.), Beyond the Eternal Feminine. Critical Essays on Women and German Literature, Stuttgart: Akademie Verlag 1982, S. 225-244, hier S. 232. 33 Reuter: Aus guter Familie, S. 219.
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and species solely in respect of reproduction.«34 Indem Darwin in The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex von 1871 das weibliche Wahlverhalten allerdings überhaupt zum wichtigen Moment der sexual selection erklärt, schreibt er dem weiblichen Individuum eine wichtige und aktive Rolle im Evolutionsprozess zu.35 Mit dem weiblichen Wahlverhalten erklärt er die Evolution sekundärer Geschlechtsmerkmale beim Männchen, die nicht mit der natural selection erklärt werden können, da sie fürs Überleben eher hinderlich sind, wie beispielsweise die langen, bunten Schwanzfedern beim Pfau.36 Die Theorie des weiblichen Wahlverhaltens wird, anders als der männliche Kampf ums Weibchen, von den evolutionär eingestellten Zeitgenossen Darwins abgelehnt und nach seinem Tod vernachlässigt: »After Darwin’s death, female agency had been removed from the ›mask of theory‹.«37 Haeckel beispielsweise konzentriert sich in Natürliche Schöpfungsgeschichte und Die Welträthsel ganz auf den »Kampf ums Dasein«, also die natural selection als Erklärung für die Evolution und geht nicht auf die sexual selection und die Geschlechterdifferenz ein.38 Vor diesem Hintergrund ist der Vorwurf, Darwin reduziere in seinem Werk die Frau auf die Rolle der Arterhalterin und behalte dem
34 Charles Darwin: The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, New York: D. Appleton and Company, 2. Aufl. 1877, S. 209. 35 Vgl. Griet Vandermassen: Who’s Afraid of Charles Darwin? Debating Feminism and Evolutionary Theory, Lanham/Boulder/New York/Toronto/ Oxford: Roman and Littlefield Publishers 2005, S. 70 und S. 222. 36 Ebd., S. 67. Darwins Vorstellung der sexuellen Wahl des Weibchens wird heute als zu eng verstanden. Neben der weiblichen Wahl des Sexualpartners und dem männlichen Wettstreit ums Weibchen werden auch der weibliche Wettstreit ums Männchen und die männliche Wahl der Sexualpartnerin als Teil der sexual selection angesehen, vgl. ebd., S. 69. 37 Ebd., S. 74. 38 Ernst Haeckel: Die Welträthsel – Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Bonn: Emil Strauß 1899; Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte – Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, Berlin: Georg, Reimer 4. Aufl. 1873.
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Mann dagegen die Rolle des Artentwicklers vor, wie ihn Elvira Scheich erhebt, in dieser Form nicht gerechtfertigt.39 Allerdings sieht Darwin die Evolution des Mannes stärker durch die sexual selection beeinflusst als durch die natürliche Auslese: »We learn that the advantages which favoured males derive from conquering other males in battle or courtship, and thus leaving a numerous progeny, are in the long run greater than those derived from better adaptations to their conditions of life.«40 Da er für das Weibchen keinen vergleichbaren Mechanismus beschreibt, gesteht er den Männchen in gewissem Sinn aber tatsächlich eine größere Evolutionsfähigkeit zu.41 In der Rezeption Darwins gibt es allerdings ganz dezidierte Vertreter der Vorstellung, dass das Männchen für die Artentwicklung und das Weibchen für die Arterhaltung zuständig ist. Paul Julius Möbius, Cesare Lombroso und Guglielmo Ferrero gehören um 1900 zu ihren expliziten Anhängern und ordnen sich damit in den bürgerlichen Geschlechterdiskurs ein, der die Frau auf ihre Funktion als Gattungswesen festlegt. Paul Julius Möbius spricht in Der physiologische Schwachsinn des Weibes (1894) der Frau jede Entwicklungsfähigkeit ab und konstatiert: »Aller Fortschritt geht vom Manne aus.«42 In Donna Delinquente (1893) verweisen Cesare Lombroso und Guglielmo Ferrero explizit auf Darwin. Für sie kommt jegliche Variation vom Mann, die Frau erhält die Art: »The male gives variation, the female the species.«43 Auf diese Auslegung der Evolutionstheorie verweist
39 Vgl. Elvira Scheich: »Klassifiziert nach Geschlecht« – Die Funktionalisierung des Weiblichen für die Genealogie des Lebendigen in Darwins Abstammungslehre«, in: Barbara Orland/Elvira Scheich (Hg.), Das Geschlecht der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 270-288, hier S. 274-275. 40 Vandermassen: Who’s Afraid of Charles Darwin, S. 227. 41 Vgl. ebd. 42 Paul Julius Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Halle: Marhold 8. Aufl. 1907, S. 19. 43 Cesare Lombroso/Guglielmo Ferrero: Criminal Woman, the Prostitute, and the Normal Woman, Durham/London: Duke University Press 2004, S. 44.
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Agathe im Zitat und problematisiert ihre Folgen für das weibliche Geschlecht. Agathe sieht sich als »welkende Form ohne Inhalt, ohne Seele«.44 Sie beschreibt die Schwierigkeit ihrer Existenz, die ihr nichts, wie sie es nennt, »Werdendes« ermöglicht: »Etwas Werdendes… Ein Kind – oder ein Werk – meinetwegen ein Wahn, jedenfalls etwas, das Erwartungen erregt und Freude verspricht, mit dem man der Zukunft etwas zu schenken hofft – das braucht der Mensch, und das braucht darum auch die Frau!«45 Ihre Forderung nach einer zukunftsgerichteten Aufgabe macht deutlich, dass sie sich nicht in erster Linie nach der Verwirklichung der ›weiblichen Bestimmung‹ sehnt. Agathe erkennt die Mutterschaft als eine von mehreren Formen an, teilzuhaben an etwas Werdendem, neben einer künstlerischen Betätigung oder einem »Wahn«.46 Agathes Leiden im Roman kann nicht einseitig auf ihre unterdrückte Sexualität zurückgeführt werden. Es verweist umfassender auf die Forderung nach einem sinnerfüllten und selbst bestimmten Leben.47 Agathes Körper wird in der Reaktion auf ihre verhinderte Individuierung zum sprechenden Körper, der dort kommuniziert, wo ihm in der Gesellschaft keine eigene Sprache zugestanden wird. Mit hysterischen Symptomen rebelliert sie gegen die Essenzialisierung der weiblichen Sexualität. Während eines Aufenthalts in der Schweiz erfolgt der völlige Zusammenbruch, der in einer Attacke auf ihre erfolgreiche und allseits beliebte Schwägerin Eugenie gipfelt. Agathes Wut richtet
44 Reuter: Aus guter Familie, S. 195. 45 Ebd., S. 251. 46 In diesem Zusammenhang scheint die Gleichsetzung von Wahn mit Wahnsinn nicht gegeben, also auch nicht zwangsläufig mit Agathes eigenem Schicksal. Der Begriff »Wahn« als etwas, das »Erwartung erregt und Freude verspricht«, als etwas, das sich auf die Zukunft richtet, verweist nicht in erster Linie auf einen generell krankhaften Zustand. Die Verwendung des unbestimmten Artikels lässt eher an eine auf etwas Bestimmtes gerichtete Selbsttäuschung denken, auf eine Verblendung, die sich nur auf einzelne Ideen richtet. Vgl. auch Friedrich A. Brockhaus (Hg.): Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Bd. 4, Wahn, Leipzig 1841, S. 638. 47 Tatlock: Introduction, S. XXV.
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sich jedoch weniger gegen die Gesellschaft, von der sie sich betrogen sieht, als gegen den eigenen Selbstbetrug, dem Eugenie nicht erlegen ist. Agathes Symptome werden auf der Handlungsebene als Folge ihrer Anpassung an die bürgerliche Geschlechternorm gezeigt, die ihr die Doppelmoral, welche ihr überall begegnet, unerträglich macht. In dem Moment, in dem Agathe ihren Versuch, ein »anständiges Mädchen«48 zu sein, als Grund für ihr Unglück erkennt, verliert sie die Kontrolle über sich. Anders als im dominanten medizinischen Diskurs wird weiblicher Wahnsinn bei Reuter nicht als Folge unkontrollierter, sondern vielmehr unterdrückter Sexualität dargestellt, nicht als Folge von Rebellion, sondern vielmehr als Folge der Adaption an die bürgerliche Geschlechterdichotomie.49 Agathes Körper und Geist werden krank gemacht durch exakt das Entsagungsprogramm, das die Medizin zur Heilung von Hysterie vorschlägt: »einfaches Leben ohne gesteigerte Ansprüche und Vergnügungssucht, […] Anspruchslosigkeit, Demuth, Zufriedenheit, echte Religiosität.«50 Die Pathologisierung der Hauptfigur durch die Erzählinstanz unterläuft die im Text durch die Perspektive Agathes implizierten Ätiologiekonzepte für Hysterie beziehungsweise Nervenleiden.51 Die medizinische Therapie wird in der Handlungslogik selbst Teil einer sozialen Ätiologie der Krankheit. Agathe liefert sich mit ihrem Angriff auf Eugenie der Medizin aus und verliert ihren Anspruch auf Individuierung vollends: »Sobald Agathe ihre Aggression nicht nur gegen sich selbst, sondern gegen ihre Mitmenschen richtet, wird ihr letzter revoltierender Nerv getötet. Den Körper aber darf sie behalten: Die Hysterikerin, die ihre Schmerzen und ihren Widerstand auf den Körper schiebt, wird zum Körper
48 Reuter: Aus guter Familie, S. 259. 49 Vgl. Elaine Showalter: The Female Malady – Women, Madness, and English Culture 1830-1980, New York: Pantheon 1985, S. 74; Linda Worley, Girls from Good Families: Tony Buddenbrook and Agathe Heidling, in: German Quarterly 76.2 (2003), S. 195-211, hier S. 201. 50 Carl Herloßon (Hg.): Damen Conversations Lexikon, Bd. 4, Geisteskrankheiten, Leipzig 1835, S. 356. 51 Vgl. Reuter: Aus guter Familie, S. 11 und S. 224.
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gemacht.«52 Die Reduktion auf den Körper besiegelt Agathes Leidensgeschichte, ihre Leidensgeschichte wiederum kritisiert genau diese Reduktion der Frau auf ihren Körper. Christa Ruland – Individuierung und Evolution Auch der Roman Christa Ruland erzählt die Geschichte einer weiblichen Hauptfigur aus guter Familie. Christa wächst im Berliner Großbürgertum des Fin de siècle auf, heiratet einen Adligen und lässt sich schließlich scheiden, um von ihrer ungeliebten Mutter wegzukommen. Sie distanziert sich von Familie und Gesellschaft und konzentriert sich selbstbewusst auf ihr eigenes Leben und ihre eigene Entwicklung. Wie Reuter rekurriert auch Dohm mittels verschiedener Textelemente auf den evolutionären Entwicklungsdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ganz explizit wird im Handlungsverlauf auf Haeckels Welträthsel verwiesen, die Christa gelesen und aufgeschlossen rezipiert hat.53 Die Protagonistin setzt sich mit der Frage der Vererbung auseinander: Es wird im Roman unterschieden zwischen kontinuierlicher Vererbung von den Eltern auf die Kinder, latenter Vererbung von den Großeltern auf die Enkelkinder und zwischen der Vererbung erworbener oder ererbter Eigenschaften im Sinne des Lamarckismus.54
52 Lilo Weber: »Fliegen und Zittern« Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky, Bielefeld: Aisthesis 1996, S. 231. 53 Vgl. Dohm: Christa Ruland, S. 38. 54 Vgl. ebd., S. 14, S. 18 und S. 25. Christa setzt ihr Schulwissen über Vererbung spielerisch ein, um ihre eigene Unordentlichkeit durch die Vererbung erworbener Eigenschaften zu erklären: »Der Lehrer in der Schule hat doch gesagt, die Kinder erben alles, auch alle Fehler, von den Eltern, oder auch von den Großeltern. Warum schimpfst Du mich denn so aus? Die Großmutter wird sich im Grabe umdrehen, weil du mich wegen ihrer Unordnung so heruntermachst«, ebd., S. 18. Christa gibt sich mit dem Wissensstand der Zeit bezüglich Vererbung nicht zufrieden und zieht die Möglichkeit von noch unbekannten Vererbungsfaktoren in Betracht: »Es konnte doch nicht wahr sein, daß die Kinder die Eigenschafte ihrer Eltern erben. Sie fand in sich nichts Verwandtes. […] Es mußte da wohl noch
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Folgende Aussage der Hauptfigur in erlebter Rede zeigt, dass sich ihr Konzept von Entwicklung grundlegend von demjenigen Agathes und auch Julchens unterscheidet: »Lässt die Natur nicht auf allen Gebieten unendliche, immer neue Variationen zu? Auch in der Brust des Menschen liegen goldene Felder brach für neue psychische Entdeckungen.«55 Verwiesen wird hier auf die darwinistische Vorstellung einer immer neuen Variantenbildung innerhalb einer Art, die dem Prozess der natürlichen Selektion zu Grunde liegt. Während Darwin mit seinem Theorem der Mutation und natürlichen Selektion in erster Linie die Phylogenese, also die Stammesgeschichte der Arten fokussiert, beschäftigen sich Sozialdarwinisten wie Ernst Haeckel auch mit der Ontogenese, der Entwicklung des einzelnen Individuums. Im Anschluss an Jean Baptiste Lamarck geht Haeckel wie viele andere seiner Zeit davon aus, dass das Individuum im Laufe seines Lebens die Möglichkeit hat, neue Eigenschaften zu erwerben, die dann zusammen mit den ererbten Eigenschaften an die nächste Generation weitergegeben werden.56 Von Haeckel wird die Anpassung beziehungsweise Variabilität oder Veränderlichkeit des einzelnen Individuums, seine Fähigkeit, »neue Eigenschaften unter dem Einflusse der Außenwelt zu erwerben«,57 als molekulares Wechselspiel zwischen äußeren Einwirkungen, der sogenannten »Ernährung«,58 und der Selbsttätigkeit des Organismus gesehen: »[D]ie Anpassung oder Abänderung [ist] lediglich die Folge der materiellen Einwirkung, welche die Materie des Organismus durch die denselben umgebende Materie erfährt […]. Die äußeren Einwirkungen der letzteren werden vermittelt durch die mo-
etwas anderes geben, wovon selbst die Allergelehrtesten nichts wissen.« Ebd., S. 25-26. Auch anhand der Figur Frank Richters problematisiert der Roman die Auswirkung der Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften. So geht Frank Richter fast daran zu Grunde, dass er nicht weiß, ob er der Sohn seines Vaters oder derjenige eines Vergewaltigers ist. Voller Angst und Misstrauen belauert er deshalb seine »Instinkte und Handlungen«, ebd., S. 261. 55 Ebd., S. 303. 56 Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 197. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 198.
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lekularen Ernährungsvorgänge in den einzelnen Körpertheilen.«59 Zusammen mit den ererbten Eigenschaften werden auch diese neu erworbenen Anpassungen, so Haeckel, an die nächsten Generationen weitervererbt und bewirken auf diese Weise eine langsame Veränderung der Art. Haeckel nennt die beiden Varianten »erhaltende« und »fortschreitende« Vererbung.60 Für die Vererbung erworbener Eigenschaften gilt, dass diese umso besser funktioniert, je länger »die Ursachen jener Abänderung einwirkten«.61 Bedeutet die Deszendenztheorie einen schweren Angriff auf das menschliche Selbstverständnis als die Krone der göttlichen Schöpfung, wird mit der Vorstellung der Veränderbarkeit der Arten und der Variabilität des Individuums die Idee einer prinzipiell unendlichen Veränderungsmöglichkeit des Menschen als Gattung und als Individuum denkbar. Die Vorstellung des Erwerbs neuer Eigenschaften tritt im 19. Jahrhundert in Konkurrenz zum Paradigma der Perfektibilität. Die klassische Vorstellung eines sich lediglich entfaltenden festen Wesenskerns wird durch die Variabilität und Anpassungsfähigkeit, durch die Fähigkeit neue Eigenschaften zu erwerben und diese weiterzuvererben, in Frage gestellt. Während das Perfektibilitätsparadigma von einem präformierten Prozess ausgeht, impliziert der Erwerb neuer Eigenschaften einen letztlich kontingenten Verlauf individueller und gattungsmäßiger Entwicklung. Christa versteht die fortschreitende Emanzipation der Frau als ›natürliche‹ historische Entwicklung, entwirft sich jedoch als zu früh Geborene, die selbst das Resultat dieser Entwicklung nicht miterleben wird.62 Als »Übergangsgeschöpf«63 hat sie wenig Lust, der Zukunft »Kastanien aus dem Feuer zu holen«64. Christas Variabilität wird im Roman anhand verschiedener sprachlicher Bilder illustriert. Sie selbst spricht, auf Goethes Faust verweisend, von einer Vielzahl von Seelen, die in ihrer Brust wohnen: »Ich sage: wie halte ich es aus, immer dieselbe zu sein, wenn es so viele
59 Ebd., S. 143, vgl. auch S. 212. (Hervorhebung im Original). 60 Vgl. ebd., S. 183. (Hervorhebungen im Original). 61 Ebd., S. 194. 62 Vgl. Dohm: Christa Ruland, S. 31-32. 63 Ebd., S. 307. 64 Ebd., S. 224.
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herrliche Seelengegenden giebt, und man möchte sich doch um keine bringen. […] Zwei Seelen? nein, in meiner Brust wohnen mindestens ein Dutzend, eine ganze Kollektion von Seelen.«65 Ihre Mutter und ihre Freundinnen nennen sie ein Chamäleon, ihr Vater vergleicht sie mit einer Libelle, welche fast nur aus Flügeln und kaum aus Körper besteht.66 Der Entwicklungsverlauf der Hauptfigur zeigt diesen Erwerb immer neuer psychischer und physischer Eigenschaften in Auseinandersetzung mit der Umwelt. Während ihrer Ehe mit Adrian von Lützow, die Christa vor allem eingeht, um dem Elternhaus zu entfliehen, merkt sie, dass sie sich ihrem Gatten mehr und mehr »anpasst«:67 »[I]ch erwerbe sogar einige schlechte Eigenschaften, die ich früher nicht hatte. Ich werde trotzig, rachsüchtig, hinterlistig und boshaft.«68 Während ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk des Individualisten Max Stirners wird Christa nach eigner Einschätzung erst »schöner, elastischer«,69 eine »kühle Vornehmheit«70 kommt in ihr Wesen. Unter dem Einfluss des Priesters Daniel dagegen verfeinert sich Christa immer mehr und wird »nervenzart«.71 Immer selbstbestimmter wählt Christa im Verlaufe ihrer Entwicklung ihren jeweiligen »Standort« und entscheidet damit über die Umweltbedingungen, denen sie sich aussetzt. Auf diese Weise gelingt es ihr letztlich, die Kontrolle für ihre eigene Entwicklung zu übernehmen, wie sie selbst konstatiert: »Als Ich − entwickele ich Mich«.72 Der weibliche Körper wird damit bei Dohm zum »sprechenden« Körper, der nicht nur als Produkt der Evolution Auskunft über seine Naturgeschichte gibt, sondern auch als wichtiges Glied in der Evolutionskette die Zukunft ankündigt, welche mit seiner Unterstützung in eine emanzipierte Gesellschaft führt. Systematisch wird die Individuierung Christas in der Pflanzenmetaphorik des Romans umgesetzt. Der Bildspender der Metapher, das
65 Ebd., S. 143. 66 Vgl. ebd., S. 38 und S. 77. 67 Ebd., S. 200. 68 Ebd., S. 123. 69 Ebd., S. 227. 70 Ebd., S. 243. 71 Ebd., S. 296. 72 Ebd., S. 312.
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Pflanzenreich, garantiert dabei die ›Natürlichkeit‹ oder das ›Naturgegebene‹ der dargestellten Entwicklungsvorstellungen und verweist auf botanische Versuche, welche im 19. Jahrhundert die Variabilität des Phänotyps durch das Einpflanzen einzelner Gewächse an verschiedenen Standorten nachweisen. Diese Pflanzenmetaphorik macht deutlich, dass Christa die bürgerliche Geschlechterdichotomisierung nicht als Ausdruck einer höheren Ordnung versteht, sondern quasi als das Resultat einer künstlichen Zuchtwahl. Christa fühlt sich nach ihrer Heirat für alle Zeit an einem bestimmten »Ort eingepflanzt«,73 vergleicht sich, wie bereits zitiert, mit »Obst am Spalier«74 und fühlt, dass sie im »Garten der Ehe noch nicht hinaufgewachsen ist«.75 Mit diesen Bildern wird die Idee einer ›natürlichen weiblichen Bestimmung‹ zur Ehefrau und Mutter wie in Aus guter Familie als gesellschaftlicher Zwang entlarvt, als eine ›künstliche‹ Normierung, die die Frau in ihrer Entwicklung behindert. Anders als Agathe setzt sich Christa schon auf ihrem ersten Ball über das Gesellschaftsspiel mit seinen harten Regeln hinweg, indem sie gerade durch das Befolgen der Regeln ihre Ablehnung deutlich macht. Auf Kommando ihrer Mutter macht sie Konversation mit einem jungen Mann: »Sie marschiert auf ihn los, pflanzt sich gerade vor ihm auf, donnert ihn an: ›wie gefällt es Ihnen in Berlin?‹ und – schwenkt wieder ab.«76 Als Erwachsene zeigt sich Christa fasziniert vom blumenhaften Auftreten der Damen der Gesellschaft: Diese schlanken Gestalten – Unterkleider sind ja ziemlich abgeschafft – sehen wie Blumen aus, die aus schlanken Stengeln emporgewachsen sind, und man hat die Wahl zwischen weißen Lilien, roten Mohnblumen, seltsam verschnörkelten Orchideen oder wild tollen Chrysanthemen. Ich hatte mich auch einmal entzückend phantastisch blumenhaft angethan. Als aber Adrian fragte, ob ich mich für einen wohltätigen Zweck verkleidet hätte, rüstete ich wieder ab.77
73 Ebd., S. 119. 74 Ebd., S. 73. 75 Ebd., S. 123. 76 Ebd., S. 15. 77 Ebd., S. 129.
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Christas Versuch, eine blumenhafte Weiblichkeit zu verkörpern, endet in einem lächerlichen Verkleidungsversuch. Anstatt Ausdruck der natürlichen Weiblichkeit zu sein, werden die Ballroben als Kampfausrüstung entlarvt, als bewusste Inszenierung, zu der eine sich emanzipierende Frau wie Christa nicht mehr in der Lage ist. Christas Hoffnung auf eine besser Zukunft mit mehr Chancen auch oder vor allem für die Frau drückt sich in einer weiteren Pflanzenmetapher aus: »Jene königliche Blume, die bisher nur alle hundert Jahre einmal blühte, ob sie bei anderen Bedingungen, bei einer anderen Kultur nicht alljährlich blühen wird?«78 Das Bild verweist auf die Zukunftshoffnung, darauf, dass die Evolution die bestehende Ordnung zu verändern mag. Auch die Handlungsstruktur des Romans adaptiert ein evolutionäres Theorem. Die einzelnen Lebensentwürfe Christas und ihrer Freundinnen werden in Konkurrenz zueinander gesetzt. Analog zur natürlichen Auslese Darwins erweisen sich nur wenige der porträtierten ›Varianten‹ im Roman als angepasst beziehungsweise variabel genug, um überleben zu können. Christa mit ihrer ausgeprägten Variabilität ist eine davon. Wenn Christa im Gegensatz zu ihrer Schwester und zu ihren Freundinnen Anselma und Julia ein Lebensentwurf innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Berlins gelingt, so läuft dieser doch ständig Gefahr zu scheitern. Das Motiv der nach Nahrung suchenden Pflanze verdeutlicht im Roman Christas prekäre Situation: Es gibt Menschen, die eigentlich für ein anderes geistiges Klima als das ihnen vom Schicksal zugewiesene geboren wurden, und sie experimentieren nun und zerquälen und verrenken sich die Seele, um zu den Quellen zu gelangen, wo ihre Lebenswasser rinnen. Aus dem ungeeigneten Erdreich ziehen sie nicht Mark und Kraft genug, um auch widrigen Winden entgegen gerade emporzuwachsen; sie lassen sich vielmehr von ihnen da und dorthin treiben, bald steigen, bald fallen sie, oder sie halten sich schwebend wie verloren im leeren, unendlichen Raum. Solch ein Mensch war Christa.
79
Das Motiv der Pflanze, die sich der Umwelt anpassen muss, um genügend Nahrung beziehungsweise Wasser aufnehmen zu können, findet
78 Ebd., S. 303. 79 Ebd., S. 46.
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sich auch bei Haeckel.80 Es verweist im Roman auf die schwierigen Existenzbedingungen der porträtierten Frauengeneration. Es überleben diejenigen, die wie Christa in der Lage sind, im »leeren Raum« ohne soziale und geistige Verwurzelung zurechtzukommen. Im Vorteil sind Individuen, die durch ihre Variabilität in der Lage sind, überall zu überleben, und die die einzelnen sozialen oder gesellschaftlichen Standorte stetig wechseln können, ohne daran zu Grunde zu gehen. Christas Identitätskonzeption basiert entsprechend nicht auf der Vorstellung eines festen Wesenskerns, wie sie sich im Perfektibilitätsparadigma findet, sondern auf ihrer Fähigkeit zum Erwerb neuer Eigenschaften. Die Variabilität beziehungsweise ihre Anpassungsfähigkeit, die sich in allen besprochenen Metaphern ausdrückt, ist Christas einzige Chance gesellschaftlich zu bestehen und macht ihre Individualität aus. Indem Christa aktiv ihre Anpassung an ihr soziales Umfeld kontrolliert und lenkt, gelingt es ihr, sich zu entwickeln und gleichzeitig Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft zu nehmen. Trotzdem erweist sich Christas Kampf ums Überleben bis zum Schluss als prekär: Angesichts ihrer hoffnungslosen Situation als Übergangsgeschöpf denkt Christa am Ende des Romans sogar an Selbstmord. In einem entscheidenden (Entwicklungs-)Schritt ändert sie jedoch ihre Haltung und verwirft die Idee des Suizids als paradox: »Früher wurden die Ketzer verbrannt, jetzt verbrennen sie sich selbst.«81 Sie schreibt sich eine Rolle als »Ketzer«, als Vorkämpferin für eine neue Gesellschaftsordnung zu und opfert dieser ihre Selbstmordabsichten, die sie als egoistisch erkennt.82 Gerade weil Christa ihr individuiertes Leben für unwichtig hält, verwirft sie ihre Selbstmordgedanken. Sie akzeptiert ihre Rolle als Übergangsgeschöpf: »Auch feine und duftende Stoffe wie die Lupinen werden als Dünger für neue Ernten in den Boden gepflügt. Sie würde sich mit ihnen vergleichen, hätte sie so duftend geblüht wie sie.«83 Christa übernimmt ihren Part im langsamen Prozess der Evolution, ohne darauf zu rechnen, dass sie in ihrer Individualentwicklung die Früchte der Emanzipation der Frau
80 Vgl. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 148. 81 Dohm: Christa Ruland, S. 308. 82 Ebd., S. 309. 83 Ebd., S. 310.
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ernten kann. Sie beschließt, ihr Leben einer altruistischen Arbeit mit Kindern zu widmen und damit an der Zukunft genauso wie an sich selbst zu arbeiten: »Wer weiß, vielleicht würde sie nun mit den Kindern gleich einem Kinde sein, das sich erst noch entwickeln soll.«84 Die Arbeit mit Kindern oder die Gründung eines Kinderheims kann als die Idee einer nichtentfremdeten Arbeit verstanden werden, die jenseits der ›weiblichen Bestimmung‹ zur Mutterschaft, aber gleichzeitig zukunftsgerichtet die Möglichkeit eröffnet, ihre Werte und ihre erworbenen Eigenschaften auf dem Weg der Tradition in einer Gemeinschaft weiterzugeben.85 Christas Entwicklung findet im Roman keinen Abschluss – kann, verstanden als Evolution, keinen Abschluss finden – aber genau darin besteht ihre Individuierung. Denn, was Christa im Verlaufe des Romans erwirbt, ist weniger ein Ziel- als ein Selbstbewusstsein, das auf der Variabilität ihrer Persönlichkeit basiert ebenso wie auf dem Umstand, dass Christa die Kontrolle über ihre eigene Entwicklung übernimmt. Ihre Variabilität garantiert Christa das Überleben und eine schier unendliche Entwicklungsfähigkeit. Gesellschaftlich eröffnet sich die Möglichkeit eines Wandels in Bezug auf die Geschlechterordnung, die nicht als eine präformierte, sondern als eine evolutionär gewachsene verstanden wird. Im Zusammenhang mit dem Prinzip des Romans Christa Ruland, die ›männliche‹ Codierung der Kultur und der Geschlechterordnung zu entlarven und dominante Festschreibungen zu verwerfen, verweist Gaby Pailer auf den von Brinker-Gabler geprägten Begriff der »Frau ohne Eigenschaften«86 und beschreibt ihren Entwicklungsverlauf entsprechend:
84 Ebd., S. 312. 85 Vgl. auch Gaby Pailer: Schreibe, die du bist – Die Gestaltung weiblicher »Autorschaft« im erzählerischen Werk Hedwig Dohms, Pfaffenweiler: Centaurus 1994, S. 136. Pailer bezeichnet Christas Entschluss weder als Weg noch als Irrweg und verweist damit auf die Offenheit des Romanendes. Vgl. ebd., S. 136. 86 Brinker-Gabler: »Die Frau ohne Eigenschaften«.
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Christa durchläuft einen Zickzack-Kurs von Ein- und Austritt aus der väterlichen Symbolik; damit entspricht die Art ihres Weges der weiblichen Verunsicherung in einer Kultur, die ihr keine positive Geschlechtssymbolik bereitstellt. Das Aufsuchen und Verwerfen von Idealen, weil sie als ›fremd‹ erkannt werden, gerät so zum weiblichen Weg, möglichst unbeschrieben zu werden. 87
Vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie lässt sich Christas »Eigenschaftslosigkeit« im Sinne einer Anpassungsfähigkeit und Variabilität verstehen, als Fähigkeit, auf Reize der Umwelt mit dem Erwerb neuer Eigenschaften zu reagieren und sich anzupassen.88 Im Roman ermöglicht diese Fähigkeit Christa, sich in der patriarchalen Gesellschaft mit ihrer ›männlich‹ codierten Sprach- und Bildwelt zu behaupten, ohne sich der Fremdbestimmung auszuliefern. Weiblichkeit und Körper um 1900 Die Romane von Reuter und Dohm vollziehen in ihrer Darstellung vom weiblichen Körper eine Neubesetzung der Pflanzenmetaphorik in doppelter Hinsicht. Nicht das Naturgegebene des weiblichen Entwicklungsprozesses wird ausgedrückt, sondern es geht bei Reuter und Dohm im Gegenteil um eine gezielte De-essenzialisierung bürgerlicher Weiblichkeit. Die Vorstellung der Frau als Gattungswesen wird als gesellschaftliche Normierung entlarvt. Das seidene Band, das die Blüte zuschnürt oder das Spalier, an dem der Obstbaum wächst, stellen die entsagende, gattungsmäßige Weiblichkeit künstlich her und verhindern gleichzeitig eine ›natürliche‹ Individuierung. Die Darstellung des weiblichen Körpers mittels Pflanzenmetaphern markiert in den untersuchten Romanen einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Nicht ›naturgegebene Perfektibilität‹ wie in Julchen Grünthal bildet den Bezugsrahmen des Bildes, sondern die Vorstellung evolutiver Entwicklung. Agathes Beurteilung ihrer eigenen Verhältnisse liest sich als kritischer Kommentar derjenigen Darwinrezeption, die das männliche Individuum auf Artentwicklung und das weibliche auf die Arterhaltung festlegt. In Christa Ruland wird der
87 Pailer: Schreibe die du bist, S. 136. 88 Vgl. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 197.
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weibliche Körper mithilfe der Pflanzenmetaphorik als vorläufiges Produkt der Evolution inszeniert und gewinnt dadurch die Möglichkeit zukünftiger Veränderungen. Die Entwicklung der Hauptfigur im Roman geht von der Möglichkeit des Erwerbs neuer Eigenschaften aus, also von einer Variabilität des Phänotyps. Diese eröffnet ein schier unendliches Entwicklungspotential, das sich für Christa als entscheidende Überlebensstrategie erweist. Der Gegenentwurf weiblicher Individuierung, der mit seiner Pflanzenmetaphorik auf den Schnittpunkt von Entwicklungs- und Geschlechterdiskurs abzielt und den Dohm durch aktuelle naturwissenschaftliche Theoreme legitimiert, reagiert wirkungsvoll auf die Verwissenschaftlichung der Geschlechterdichotomie. Beide Romane reflektieren den naturwissenschaftlichen Diskurs und beziehen dessen geschlechterpolitisches Potential mit ein. Sie zeigen den weiblichen Körper als Teil des darwinistischen Diskurssystems, als Produkt der gesellschaftlichen Evolution in seiner Vorgeschichte und Zukunft. Die Romane stellen sich damit einerseits gegen die Konstruktion einer essenziellen weiblichen Sexualität, wie sie den ökonomischen und wirtschaftlichen Herrschaftsvorstellungen des Bürgertums im 19. Jahrhundert zu Grunde liegt. Andererseits steht vor allem bei Dohm die Entwicklungsvorstellung in Opposition zum Modell des klassischen Körpers, welches die »Abgeschlossenheit der schönen Gestalt […] als Basis für das Bildungserlebnis einer anschaulichen Ganzheit« inszeniert hat.89 Während Aus guter Familie die soziale Konstruktion von Weiblichkeit lediglich entlarvt, kann man bei Christa Ruland von einem subversiven Umgang mit dem Modell der bürgerlichen Weiblichkeit sprechen. Dem Roman gelingt es, die Einforderung weiblicher Individuierung und die Neukonzeption des modernen Individuums miteinander zu vereinen. Beide Romane zeigen, dass die Problematik des weiblichen Körpers und der weiblichen Identität um 1900 grundlegend verschieden ist von der männlichen Individuierung. Führt der Verlust körperlicher Autonomie durch das neue Diskurssystem für den Mann zum Bedürfnis nach Rettung und nochmaliger Aufladung des subjektiven Körpers mit Transzendenz, kämpfen Frauen noch immer um die Anerkennung
89 Vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 17.
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ihrer körperlichen Autonomie.90 Vor allem im Roman Dohms steht nicht die Verteidigung oder die Aufgabe des Autonomiepostulats zur Diskussion. Gezeigt wird vielmehr die Überwindung dieser Dichotomie in der Konstitution eines modernen weiblichen Körpers, der Teil eines allumfassenden Evolutionsprozesses ist, durch den er einerseits bestimmt wird, den er aber andererseits auch mitbestimmt.
90 Vgl. ebd., S. 11.
Ektoplasma, Kunst und Begehren. Der spiritistische Roman, der Körper und die moderne Befindlichkeit bei Carl du Prel, Wilhelm Bölsche und Artur Dinter N ICHOLAS S AUL
Es mutet vielleicht paradox an, in einem Band, dessen Erkenntnisinteresse es ist, die Präsenz der Körperlichkeit in der Literatur des Realismus und Naturalismus neu zu erfassen, einen Beitrag ausgerechnet über den spiritistischen Roman schreiben zu wollen. Denn der Spiritismus ist ja kulturgeschichtlich nichts anderes als eine bewusste Reaktion auf den erklärten Materialismus der offiziellen Naturwissenschaft im Stil Ludwig Büchners oder Jacob Moleschotts: der strategische Versuch, eine postulierte geistige Essenz des Menschen jenseits der materiell-körperlichen Verfaßtheit der Person zu erkennen und dies quasi-positivistisch, experimentell zu demonstrieren. Doch gilt es hier zu zeigen, dass sowohl der Spiritismus (als projektierte neue Volksreligion) wie der Okkultismus (als naturwissenschaftlich orientiertes Parallelunternehmen)1 geradezu von diesem Anderen des Geistes, dem Problem der Leiblichkeit des Menschen, besessen waren.
1
Vgl. zur Differenzierung Spiritismus-Okkultismus Carl Kiesewetter: Geschichte des neueren Okkultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Agrippa von Nettesheim bis Carl du Prel. Wiesbaden: Marix 2007 [1. Aufl. 1891-1895, 2. Aufl. 1909], S. 13-16.
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Diesem Phänomen hat nun die Forschung in den letzten Jahren einiges Interesse entgegengebracht. So hat Pryska Pytlik in einer luziden Untersuchung der einschlägigen Texte von Schlaf, Rilke, Döblin und Thomas Mann gezeigt, wie sehr die Literaten und Dichter der anbrechenden Moderne ihre Produktionsästhetik und ihr philosophisches Selbstverständnis von den Spekulationen okkulter Theoretiker wie Carl du Prel über die Grenzen des Bewußtseins und das automatische Schreiben der Medien inspirieren ließen.2 Desgleichen konnte Hans Richard Brittnacher in einer etwas früheren Untersuchung zeigen, wie sehr Thomas Mann seine Teilnahme an den experimentellen Sitzungen des Münchner Geheimwissenschaftlers Albert Freiherr von Schrenck-Notzing für die Auslotung der Präsenz unbewusster sexueller Energien im Spiritismus-Kapitel ›Fragwürdigstes‹ des Zauberberg ausgebeutet hat.3 Auch auf sozial- bzw. kulturgeschichtlicher Seite ist man neuerdings auf die Signifikanz des Phänomens Spiritismus/ Okkultismus in Deutschland aufmerksam geworden. So konnten Ulrich Linse, Diethard Sowicki und Nils Freytag nicht nur die bisher un-
2
Vgl. Pryska Pytlik: Okkultismus und Moderne. Ein kulturelles Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900. Paderborn/Wien/München/Zürich: Schöningh 2005. Ferner: Georg Braungart: »Spiritismus und Literatur um 1900«, in: Wolfgang Braungart/Gotthard Fricke/Manfred Koch (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwende. 3 Bde. Paderborn/Wien/München/Zürich: Schöningh 1998, Bd. 2: Um 1900, S. 85-93. Vgl. ferner Pryska Pytliks wertvolle Anthologie: Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare. Tübingen/Basel: Francke 2006. Nach wie vor instruktiv ist die Pionierabeit von Moritz Baßler: »›Lehnstühle werden verrückt‹. Spiritismus und emphatische Moderne: Zu einer Fußnote bei Wassily Kandinsky«, in: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne, 1 (1993), S. 287-308.
3
Hans Richard Brittnacher: »Gespenster im Rotlicht. Zum Spiritismus in Thomas Manns ›Der Zauberberg‹«, in: Wiebke Amthor/Hans R. Brittnacher/Anja Hallacker (Hg.), Profane Mystik? Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts. Berlin: Weidler 2002, S. 385412. Dort auch weiterführende Literatur zu Thomas Manns Beschäftigung mit dem Okkultismus.
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geahnte soziale Breitenwirkung des Spiritismus in deutschen Landen bei Gebildeten wie Ungebildeten erkennen, sondern auch deren überraschend emanzipatorische Energie in Sachen Sexualität und genderAnthropologie.4 Umso befremdlicher wirkte vor diesem Hintergrund die bekannte These George L. Mosses über den inneren Zusammenhang der nationalsozialistischen Ideologie mit (Varianten) der spiritischen Lehre, eine These, welche in jüngeren Jahren durch Corinna Treitels Untersuchung doch erheblich differenziert werden konnte. Und schließlich hat Heather Wolffram wissenschaftsgeschichtlich eine Lanze gebrochen für die Würde der psychischen Forschungen als halblegitimer aber (eben deswegen) produktiver Grenzdisziplin im Kontext des zeitgenössischen Epistems.5 Doch wurden, wie der kurze Überblick trotz dieser erfreulichen Leistungen suggeriert, die eigentlich literarischen Zeugnisse über das Phänomen des Spiritismus bisher nur punktuell erforscht – besonders diejenigen, die selbst aus dem Umfeld des offiziellen Spiritismus/Okkultismus kamen. Hier gilt es also am Leitfaden des Leibes drei Romane aus dem Umfeld des Spiritismus zu erforschen, welche alle den fragwürden Tatbestand mehr oder minder sympathisch und eingehend behandeln: Carl du Prels Das Kreuz am Ferner (1891), Wilhelm Bölsches Die Mittagsgöttin (1891)
4
Ulrich Linse: »Der Spiritismus in Deutschland um 1900«, in: Moritz Baßler/Hildegard Châtellier (Hg.), Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Straßburg: Presses Universitaires de Strasbourg 1998, S. 95-113; Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entwicklung des Spiritismus in Deutschland 1770-1990. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 2002, bes. S. 297-353; Nils Freytag: Aberglauben im 19. Jahrhundert. Preußen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1805-1918). Berlin: Duncker + Humblot 2003, bes. S. 252-315.
5
George L. Mosse: The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich. New York: Schocken 1981 [1. Aufl. 1964], bes. 126-145, S. 294-311; Corinna Treitel: A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 2004, bes. S. 3-28, S. 108-131; Heather Wolffram: The Stepchildren of Science. Psychical Research and Parapsychology in Germany, c. 1870-1939. Amsterdam/New York: Rodopi 2009.
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und Artur Dinters Die Sünde wider den Geist (1921). Heuristische These der Untersuchung ist, dass alle drei spiritismuszentrierten Texte in Wahrheit Zeugnisse eines Krypto-Diskurses über den Leib sind. In einer Epoche, in der der Körper durch die überwältigenden Fortschritte seiner medizinisch-technischen Erfassung seinem Inhaber zunehmend entfremdet wird, zeugen alle drei Texte von einer genuin modernen Sehnsucht nach einer neuen Erfahrung des Leiblichen, nach erneuertem leiblichem Sinn, der die Flüchtigkeit der Existenz als einverleibtes Ich doch wenigstens ästhetisch festzuhalten vermag.6 So sind alle drei Texte bestrebt, mit ästhetischen Mitteln die verlorene leibliche Präsenz der Geliebten zu restaurieren oder neu zu erschaffen. Und so schließlich entlarvt sich hinter allen drei Romanen in je individueller Modalität die mythische Geste des Pygmalion.7 Die Werke von du Prel, Bölsche und Dinter exemplifizieren damit drei Entwicklungsphasen des modernen Pygmalionismus, vom Kult des spiritistischen Leibes, zu seiner bewusst erotischen Umwertung und schließlich zu seiner Indienstnahme durch den völkischen Rassismus. Carl du Prel (1839-1899) ist wohl der prominenteste Vertreter der spiritistischen Theorie.8 Eigentlich ein Privatgelehrter, wurde er einerseits durch den Darwinismus, andererseits durch Schopenhauers Lehre
6
Vgl. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen: Niemeyer 1995.
7
Vgl. Gerhard Neumann: »Der Körper des Menschen und die belebte Statue. Zu einer Grundformel in Gottfried Kellers ›Sinngedicht‹«, in: Mathias Meyer/Gerhard Neumann (Hg.), Pygmalion. Geschichte des Mythos in der abendländlischen Kultur. Freiburg i.Br.: Rombach 1997, S. 555-591.
8
Vgl. zu du Prels Biographie, Publikationen und Lehre ausführlich Kiesewetter: Geschichte des neueren Okkultismus, S. 631-672; Tomas Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus. (Bildwissenschaftliche) Quellen zum Werk des Carl du Prel. Phil. diss. Universität Lüneburg o.J.; Pytlik: Okkultismus und Moderne, S. 48-63; Pryska Pytlik: »›Bürger zweier Welten‹. Metaphysischer Individualismus und die Neubewertung von Diesseits und Jenseits. Carl du Prels Spiritismus-Theorie«, in: Moritz Baßler/Bettina Gruber/Marion Wagner-Egelhaaf (Hg.), Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 141-152.
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vom Willen und Hartmanns Lehre vom teleologisch schaffenden Unbewussten beeinflusst. Er promovierte (in absentia) an der Universität Tübingen über die Traumtheorie.9 Anschließend, von der universellen Geltung und der daraus hervorgehenden uneingeschränkten Anwendbarkeit der darwinistischen Theorie jenseits der überkommenen disziplinären Grenzen überzeugt, versuchte er den Darwinismus auf die Theorie der Kosmogonie auszudehnen.10 Literarisch interessiert, versuchte er sich schon früh als Novellenschreiber, aber sein wichtigster Beitrag zur Literaturgeschichte ist zweifelsohne die Studie zur Psychologie der Lyrik,11 in der er 1880 aufgrund einer neuen Theorie der literarischen Kreativität als paläontologisch-anschaulicher Einfühlung in die Natur für die Erneuerung der von Abstraktion und exzessiver Reflexivität verdorbenen modernen Lyrik plädierte. Erst Mitte der 80er Jahre schlug sich sein Interesse für die Neubestimmung der psychologischen Grenzen des Bewussteins in förmliche Studien der Mystik und schließlich des Spiritismus als nach seinem Dafürhalten höchsten Ausdrucks der Mystik um. Auch hier, zunächst in der Philosophie der Mystik (1885),12 setzt du Prel, der auf diesem Bereich von keinem Geringeren als Sigmund Freud gelobt wird,13 beim Traum an. In der Erkundung des somnambulistischen Traumzustandes, also in einem vorbewussten und vorsinnlichen Reich der Seele, sind Anhaltspunkte zu finden, die die Existenz des sogenannten transzendentalen Ichs beweisen. So ist es zum Beispiel für du Prel logisch unwiderlegbar, dass ein Etwas, welches denkt, aber nicht mit dem bewussten Ich
9
Carl du Prel: »Oneirokritikon. Der Traum vom Standpunkte des transcendentalen Idealismus«, in: Deutsche Vierteljahres-Schrift (1869), S. 188– 241.
10 Carl du Prel: Der Kampf ums Dasein am Himmel. Die darwinsche Formel nachgewiesen in der Mechanik der Sternenwelt. Berlin: Denicke 1874. Später: Entwicklungsgeschichte des Weltalls. Entwurf einer Philosophie der Astronomie. Leipzig: Günther, 3. Aufl. 1882. 11 Carl du Prel: Psychologie der Lyrik. Beiträge zur Analyse der dichterischen Phantasie. Leipzig: Günther 1880. 12 Carl du Prel: Die Philosophie der Mystik. Leipzig: Günther 1885. 13 Vgl. dazu Treitel: A Science for the Soul, S. 48; Prytlik: Okkultismus und Literatur, S. 91.
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identisch sein kann, die unbewussten Vorstellungen in der somnambulen Seele begleitet und registriert. So kann die Seele keineswegs nur mit dem bewussten Ich identisch sein, das Ich ist eben größer und komplexer.14 Für du Prel existiert diese Instanz auch jenseits des materiellen Ich, mithin transzendental, und stellt die Verbindung des Individuuums mit Hartmanns pantheistisch gedachtem Unbewussten dar. Dieses transzendentale Ich überdauert alle Änderungen im Zustand des verkörperten Ich, auch den Tod; es ist die Essenz des Menschen.15 Es wäre aber ein grundlegender Irrtum, daraus unmittelbar zu folgern, dass hier mit der Reduktion des leibgeistigen Ich auf ein singulär geistiges Prinzip ein krass dualistisches System der Psychologie vorliegt. Denn du Prel argumentiert zwar durchweg gegen den vulgären Materialismus, aber doch im Zeichen des modernen Materiebegriffs, welches die letztendliche Identität von Stoff und (immaterieller) Kraft setzt, und somit den Weg für eine monistische Aufhebung von Geist und Leib im Reich des Immateriellen ebnet. In Die monistische Seelenlehre (1888)16 besitzt deswegen nach du Prel jene Seele, die mehr ist als nur das bewusste Denken, ein wesentliches, im modernen Sinne des Wortes materielles Verhältnis zum Leib des Menschen, indem sie ihn nach Art der aristotelischen Entelechie ganz konkret formt.17 Die Seele ist also gewissermaßen selbst, in einem subtilen Sinne, als materiell zu betrachten, und sie ist zudem auch nicht als einfaches Wesen, sondern insofern als morphologisch binnendifferenziert zu verstehen, als sie den materiellen Leib einer komplexen formalen Entwicklung unterzieht, die die äußere Struktur der Seele, den sogenannten Astralleib, widerspiegelt. Der Seele wohnt mithin eine plastische oder bildende Kraft inne, anhand derer sie sich den eigenen Leib formt. Inso-
14 Vgl. zu genau diesem Punkt Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1899], in: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.), S.F.: Studienausgabe 12 Bde. Frankfurt a.M.: Fischer 1969-1979, Bd. 2 (1972), bes. S. 579-580 (Zusatz von 1914) . 15 Vgl. du Prel: Philosophie der Mystik, S. 391-400; Kiesewetter: Geschichte des neueren Okkultismus, S. 640-647. 16 Die monistische Seelenlehre. Ein Beitrag zur Lösung des Menschenrätsels. Leipzig: Günther 1888. 17 Folgendes aus: du Prel: Monistische Seelenlehre, S. 128-158.
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fern ist die alte Lehre der Physiognomik durchaus zu bestätigen; das Gesicht ist nichts anderes als die Signatur der Seele, und das gilt weiterhin für den ganzen Leib. Diese Lehre ist für du Prel natürlich auch mit dem Darwinismus (qua transzendentalem Darwinismus) kompatibel. Denn während sich die Person (etwa im Mutterleib) nach der inneren Form der Entelechie entwickelt, so muß sich die äußere Form des materiellen Leibes den bekannten Umweltbedingungen im Kampf ums Dasein anpassen. Das Ausmaß des Astralleibes deckt sich in der Regel mit dem äußeren materiellen Leib. Dass es den Astralleib tatsächlich gibt, wissen wir dank der sogenannten Integritätsgefühle, wenn zum Beispiel Amputierte noch Sensationen im fehlenden Glied empfinden, oder durch die sichtbare Manifestation eines Doppelgängers als eines von der Person kurzfristig entäußerten Astralleibes. Auch Ernst Kapps damals brandneue Theorie der Technikentwicklungen18 – derzufolge neue Maschinen (zum Beispiel die Kamera) nur als unbewusste Projektionen der inneren Organe des Menschen (hier zum Beispiel des Auges) zu erklären sind – dient du Prel zum Beweis der Existenz des Astralleibes und der unbewussten Kreativität im Menschen.19 So endlich sind nach diesen neuergründeten Naturgesetzen auch die sensationellen Phänomene des Spiritismus zu erklären. Dank ihres organisierenden Prinzips bzw. ihrer plastischen Gestaltungskraft stellt sich die Seele in einer ungeheuerlichen Verdichtung in der äußerlichen Materie des organischen Zellenstoffes dar.20 Aber sie ist nicht auf diese Wahl einer schon sehr intensiv kondensierten Materie beschränkt, sie kann auch andere, weniger dichte Stoffe nehmen, zum
18 Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik: zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig: Westermann 1877, bes. S. 80-84. Vgl. zur Signifikanz Kapps für Anthropologie und Ästhetik des späten 19. Jahrhunderts ausführlich Jutta MüllerTamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur in der frühen Moderne. Freiburg i.Br.: Rombach 2005, bes. S. 146-165. 19 du Prel: Monistische Seelenlehre, S. 148. 20 Ebd., S. 147 und S. 155.
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Beispiel Lehm, Gips oder Marmor.21 Das, so du Prel, erklärt die sogenannten Materialisationsphänomene. Besonders günstig veranlagten Personen ist es im Trancezustand möglich, sich mit der Geisterwelt in Verbindung zu setzen, ja unter Umständen die plastische Gestaltungskraft entkörperter Seelen zu kanalisieren, so dass es zu materiellen Wirkungen kommen kann: zum Tischrücken, zum automatischen Schreiben, zum Transport von Gegenständen aus fernen Bereichen (apport). Ja, es kann auf diesem Wege auch zu Materialisationen von Körperteilen oder ganzen Personen kommen. Du Prel, gewiss von einem säkularisierten missionarischen Eifer erfüllt, hat seine neue Lehre unermüdlich in zahlreichen großen und kleinen Werken verschiedenster Gattungen propagiert. Dazu zählte für den literarisch erfahrenen Mann natürlich auch der Roman. Das Kreuz am Ferner (1891)22 sollte die spiritistische Weltanschauung populärfiktiv einkleiden, und so die neue Lehre in dieser kommunikativen Modalität verbreiten.23 Wollte man nun nach den axiologischen Prinzipien der Kanonbestimmung urteilen, so gehörte dieses Werk (um es mit Hermann Broch zu sagen) zweifelsohne in den literaturwissenschaftlichen Orkus der Trivialliteratur. Doch ist es in ästhetischer Hinsicht klug genug auf seine propagandistische Wirkung konzipiert. Das hauptsächlich im erhabenen Gebirge Südtirols spielende, in formaler Hinsicht eigentümlich hybride Werk zerfällt in zwei Teile. In einem ersten Teil wird eine Vorgeschichte erzählt, die sich um schicksalhafte Liebe und Missheirat, ein außereheliches Kind, den (erzählstrategisch notwendigen) Tod der Geliebten durch einen tragischen Unfall im Gletscher, und den Verlust des Kindes Emanuel dreht. Aus diesem Doppelverlust entspinnt sich die Sehnsucht des Hauptprotagonisten, dem zwanzig Jahre alten Grafen Alfred von Karlstein, seine tote Ge-
21 Ebd., S. 147. 22 Zitiert aus: Carl du Prel: Das Kreuz am Ferner. Ein hypnotisch-spiritistischer Roman. Stuttgart: Cotta 2. Aufl. 1897 [1. Aufl.1891]. Der Roman (nach Kaiser, S. 134) erfuhr bis 1928 sieben Auflagen (14000 Exemplare), zudem erschien in den USA ein Raubdruck. (›Ferner‹ ist ein dialektaler Ausdruck für ›Gletscher‹.) 23 Vgl. Pytlik: Okkultismus und Moderne, S. 54-55; Kaiser: S. 67, S. 76-77 und S. 89.
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liebte, das mignonhafte Landei Moidele, sowie auch seinen verlorenen Sohn, den nie gesehenen Emanuel, auf okkult-spiritistischem Wege wiederzugewinnen. Alfreds Freund, dem Okkultphilosophen Morhof, gelingt es schließlich, eine Weissagung zu erhalten, des Inhalts, dass er, Alfred, erst an seinem, Moideles, zwanzigsten Todestag, also in neunzehn Jahren, den verlorenen Sohn gewinnen soll.24 Im achtzehn Jahre später einsetzenden zweiten Teil wird der Knoten gelöst. Besteht der erste Teil aber bildungsromanmäßig aus weitschweifigen, kaum fiktiv verkleideten Lehrgesprächen, die den Inhalt der neuesten spiritistischen Lehre sowie auch deren esoterische Tradition in Form von längeren, didaktisch orientierten Dialogen zwischen Führer- und Schülergestalten darstellen, so beinhaltet der zweite Teil eine sich rasch und spannungsreich entwickelnde, sensationelle Intrige, die in der nachkommenden Generation spielt, und das dénouement fristgemäß herbeiführt. Hier entlarvt sich ein neu gewonnener Freund des aus jahrelangen mystischen Studien in Indien zurückehrenden Grafen Alfred, der studierte Mediziner Somirof, als egoistischer Materialist und Bösewicht. Dieser hat es auf Albertine, Adoptiv-Nichte des Grafen und Verlobte des jungen Chemikers (und Dichters) Tiedemann, abgesehen. Tiedemann weilt in Karlstein, um die Heilquelle des Karlstein-Bergs auf kommerzielle Tauglichkeit zu prüfen, und ist in Wahrheit, ohne dass er davon weiß, Alfreds verlorener Sohn Emanuel. Durch die Ehe mit Albertine und durch die Ermordung seiner Gegner und Rivalen will Somirof einen Plan in Bewegung setzen, der ihn endlich zum Besitzer des Schlosses machen soll. Das Komplott kann verhindert werden. Aber Somirof kann sich doch am Grafen rächen, gerade in dem Augenblick, als dieser sich mit Emanuel beim Kreuz am Gletscher wieder trifft. Der Vater trifft seinen verlorenen Sohn, und die Liebenden, Alfred und Moidele, sind zum Schluss wenigstens im Tode wieder vereinigt, so dass sich die schicksalhafte Prophezeiung Moideles aus dem Jenseits vollauf bewahrheitet hat. Spiritistisch-mystische Visionen, Kommunikationen und Materialisationen, die du Prels Ideen aus den theoretischen Schriften in die imaginative Praxis des poetischen Realismus übersetzen, spielen natürlich durch ihr schwer deutbares aber entscheidendes Eingreifen in
24 du Prel: Kreuz am Ferner, S. 251.
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das irdische Geschehen die Hauptrolle in der Entfaltung der Fabel, so dass zum Schluss die materielle Wirklichkeit als geisterdurchdrungen dargestellt wird. So wird Alfreds Intimus, der Philosoph Morhof, langsam förmlich zum Faust beziehungsweise Zauberlehrling des Spiritismus.25 Er kritisiert die moderne Naturwissenschaft, weil sie sich weigert, über den gemeinen Materialismusbegriff hinauszugehen, um die Frage nach dem Leben und dem Ursprung zu stellen.26 Mit Leonore und Alfred zusammen bildet er einen Dreibund, um zum Trost des Grafen auf experimentelle Weise den Geist des verstorbenen Moidele materiell wieder heraufzubeschwören.27 Wie ein Schrenck-Notzing avant la lettre richtet er sich zu diesem Zweck im ehemaligen Zauberlabor im Turm eines von Alfreds nekromantisch interessierten Ahnen ein.28 Leider, wie der Erzähler bemerkt, kennt Morhof den Begriff der ›Mediumität‹ nicht,29 so dass er auf indirektem Wege zu seinem Ziel gelangen muss, was zu seinem Verhängnis wird. So gelingt es ihm nach einer langwierigen Reihe von systematischen Versuchen zwar nie die richtige, rauchhafte Materie zu finden, in der sich der Astralleib Moideles zum Teil materialisieren kann – doch kann er sie orten, und sie kommuniziert zunächst als geheimnisvoller Windzug, dann als Klopfgeist, schließlich als Autorin von automatisch geschriebenen Nachrichten und Weissagungen.30 Am Ende wird der moderne Faust ein Opfer des eigenen Ehrgeizes, wenn er durch sein neuestes Rezept zur Materialisierung Moideles vergiftet wird und selbst stirbt – um nur später als Geist wieder zu erscheinen.31 Während Morhof das Geisterreich zu sich herabzuziehen versucht, geht Alfred den umgekehrten Weg, versucht sich durch Experimente mit richtigen Medien ins Geisterreich zu erheben. Auf diese Weise ermutigt durch seine Kenntnisse von Lanes Beschreibung der ägyptischen Zauberer in dessen damals
25 Ebd., S. 223. 26 Ebd., S. 160. 27 Ebd., S. 163 und S. 173. 28 Ebd., S. 183-184. 29 Ebd., S. 238. 30 Ebd., S. 237-252. 31 Ebd., S. 268-269 und S. 276-281.
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vielgelesenem Reisebericht,32 fährt Alfred zunächst nach Alexandria, wo er eine erste Vision von seiner Zukunft erhält. Der Magier Hassan erteilt Anweisung, einen beliebigen zwölfjährigen Jungen von der Straße zu holen. In dessen Handteller werden magische Zeichen geschrieben, schließlich eine kleine Menge Tinte dareingegossen, und in Trance versetzt schaut der Knabe Jussuf im Tintenspiegel Geheimnisse in Zukunft und Vergangenheit:33 Morhof im Labor, Alfred auf dem Weg im Gebirge zum Treffen mit seinem unbekannten Sohn beim Kreuz auf dem Gletscher, die Gefahr, die von dem Mann mit der Narbe (Somirof) ausgeht, sein Treffen mit demselben auf der Rückreise nach Europa in Venedig, Moidele mit dem Kind auf dem Arm im Gebirge. Durch die Unbestimmtheit dieser Geisternachrichten frustriert, fährt Alfred nach Indien, wo er glaubt, einen höheren Meister zu finden: den Brahmanen Cowindasamay. Erst dort, als dieser in Trance fällt, materialisiert sich aus einer phosphoreszierenden Wolke erkennbar Moideles Hand, mit einem ihm bekannten Ring am Finger, dann, auf seinen Wunsch nach stärkeren Beweisen der Echtheit, liefert ihm die gleiche Hand durch apport ein taufrisches Edelweiß aus dem heimischen Südtiroler Gebirge an das Ufer des Ganges, schließlich liefert sie ihm die selbst geschriebene Nachricht, er werde Emanuel finden;34 desgleichen erscheint die Hand des nunmehr verstorbenen Morhof mit der Nachricht seines Todes.35 Weiterhin lernt er in Indien nur, dass er nichts mehr erfahren darf und sein Schicksal zu ertragen hat.36 Im Kontext dieses erbaulich-spekulativen Abenteuerromans verfolgt nun du Prel offensichtlich die Strategie, das fixierte modernmaterialistische Selbstbewusstsein des Lesers aus den Fugen zu heben, ihn also für die Botschaft des Spiritismus ästhetisch rezeptiv zu machen. Zum Teil geschieht dies (leider) durch langwierige didaktische Argumente, aber zum Teil auch durch ästhetische Mittel: Erstens
32 Vgl. Edward William Lane: An Account of the Manners and Customs of the Modern Egyptians. 3 Bde. London: Knight 1846, bes. Bd. 2, S. 90-99. Vgl. du Prel, S. 133, S. 194, S. 227-233 und S. 535. 33 du Prel: Kreuz am Ferner, S. 227-235 und S. 255-258. 34 Ebd., S. 265-266. 35 Ebd., S. 269. 36 Ebd., S. 297-306.
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nutzt er die durch eine aktuelle Diskussion um die Hypnose als Therapie motivierte Intrige im zweiten Teil, und zweitens zitiert er beide Teile übergreifend den romantischen Diskurs über den Leib. Zunächst zum Hypnose-Motiv. Hier verwendet du Prel, wie er selbst ausführlich berichtet,37 Argumente aus William Preyers Darstellung der neu erkannten therapeutischen, aber auch für Mißbrauch anfälligen Möglichkeiten posthypnotischer Suggestion (wonach der Hypnotisierte in der Lage sein soll, seine eigene Krankheit durch innere Schau zu diagnostizieren). Am Neuen Pitaval geschult, aber in seiner abgrundtiefen Bosheit längst darüber hinausgewachsen, will Somirof, ein Künstler des Verbrechens, nichts weniger als das perfekte »Verbrechen der Zukunft« begehen.38 Dabei soll der Verbrecher »sich lediglich auf die Rolle des intellektuellen Urhebers beschränk[en]« und »als ausführendes Werkzeug [...] eine beliebige Person benutz[en], der die That anbefohlen wird«.39 So übt er zunächst seine aus Preyer und Braid erworbenen hypnotischen Fähigkeiten durch ein therapeutisches Experiment, indem er einen Säufer durch posthypnotische Suggestion von seinem Laster heilt.40 Danach aber wird die heilbringende Lehre zweckentfremdet. Der unbescholtene junge Förster Theodor wird auf der Basis von Somirofs Erkenntnissen hypnotisiert, durch mehrfache und subtile Suggestionen gegen seinen Willen und seine Überzeugungen zu einer Vergiftungstat verleitet und sogar soweit gebracht, dass er sich weiterer Hypnotisierung widersetzt – denn im somnambulen Zustand erwachen die verschütteten Erinnerungen wieder, was den intellektuellen Urheber des Verbrechens notwendig verraten hätte. So wird Leonore, die Befürworterin von Tiedemanns Heirat mit Albertine, vergiftet, und Theodor, durch Zeugenaussagen
37 Vgl. William Preyer: Die Entdeckung des Hypnotismus. Dargestellt von W. Preyer. Nebst einer ungedruckten Original-Abhandlung von [James] Braid in Deutscher Uebersetzung. Berlin: Paetel 1881. Vgl. du Prel: Kreuz am Ferner, S. 337-338 Des Weiteren: Anm. 16, S. 540. Du Prel setzt sich an dieser Stelle extensiv mit dem Phänomen der posthypnotischen Suggestion auseinander (S. 540-547). 38 du Prel: Kreuz am Ferner, S. 361 und S. 474. 39 Ebd., S. 474. 40 Ebd., S. 88-89.
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unwiderlegbar belastet, muss sich zu seiner eigenen Verwunderung vor Gericht verantworten. Die Verurteilung kann aber der poeta doctus und werdende Detektiv in petto Tiedemann-Emanuel verhindern. Anhand fragmentarischer Spuren aus Somirofs Notizen in der Bibliothek kann er dessen Studien und damit dessen Methode plausibel rekonstruieren, um vor Gericht Theodors verworrene Nacherzählung als Konsequenz der tiefenstrukturellen Manipulation wieder lesbar zu machen.41 Durch die angenehm-erhabene Schockwirkung dieses aufgeklärten Sensationsverbrechens sollen also dem Leser offenbar die ungeahnt engen Grenzen seiner Willensfreiheit sowie auch seines theoretischen Erkenntnisvermögens bewusst gemacht werden. Dieser Textstrang erweist damit deutlich genug du Prels klug kalkulierte Anverwandlung der Praxis des in deutschen Lesebibliotheken enorm populären englischen sogenannten Sensationsromans im Stil von Wilkie Collins. Collins Pionierleistung war es, den Leser seiner Detektivromane zunächst durch die Beschreibung eines anscheinend unmöglichen, ja vielleicht durch Eingreifen übernatürlicher Kräfte erwirkten und insofern für die szientistische Mentalität des 19. Jahrhunderts sensationellen Verbrechens zu faszinieren, welches im Laufe der analytischen Erzählung anhand neuester psychologischer Theorie doch aufgeklärt werden konnte. Dabei spielte das in der Psychologie des 19. Jahrhunderts neu entdeckte Reich des Unbewussten oft eine zentrale Rolle. Im Monddiamant (1868) wird zum Beispiel aus einem fest verschlossenen Raum ein Diamant spurlos entfernt. Erst der naturwissenschaftlich ausgebildete Hauptprotagonist Jennings kann erkennen, dass der Dieb in Wahrheit der Besitzer des Schlüssels selbst ist. Dank einer zu starken Dosis Opiums, die ihm sein Arzt verabreichte, ist er in eine somnambule Trance gefallen. Sein Eifer, den Juwel zu schützen, wird zunächst durch das Mittel gesteigert, so dass er auf der Basis dieser Autosuggestion selbst unbewusst den Diamanten stiehlt und an einem anderen Ort versteckt. Leider erlöschen beim Erwachen dank der narkotischen Nachwirkung der Droge alle Spuren der Tat aus seinem manifesten Gedächtnis, so dass er sich selbst genau wie du Prels Theodor für unschuldig hält und dies vehement bezeugt. Nur die brillante Deduktion des in der neuesten psychologi-
41 Ebd., S. 478-492.
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schen Theorie geschulten Arztes kann eine Hypothese zur Lösung des Falles aufstellen. Ein Experiment – die erneuerte Narkotisierung des Subjektes – deckt die verlorene Erinnerungsspur wieder auf, und auf dieser Basis wird die somnambule Tat zum Beweis rekonstruiert. So wird bei Collins zwar aller Verdacht auf das Eingreifen einer okkulten Macht beseitigt, aber im gleichen Zug wird durch das Somnambulismus-Motiv ein verborgenes, vorbewusstes Reich im Subjekt freigelegt und dessen traditionell behauptete Autonomie des Denkens und Willens zum ironischen Vergnügen der Leser radikal unterminiert. Bei du Prel findet sich das gleiche Erzählmuster.42 Wichtiger noch als die Verwendung des Somnambulismus-Motivs ist die Präsenz zitierter Romantik in diesem Roman, wie zum Beispiel das Motiv des Nebels in der romantischen Konnotation eines epistemologischen Schleiers. Man weiß: Alle Geisternachrichten über Afreds Schicksal werden schließlich in mystischen Nebel gehüllt, bevor sie definitive Aufklärung liefern können.43 Auch die schreibenden Geisterhände Moideles und Morhofs verschwinden schnell wieder in die Wolkensäule, aus der sie gekommen sind. Am Schluss des Romans, als Alfred auf dem schneebedeckten Berggipfel endlich seinem Schicksal entgegengeht, erweist sich der Nebel dann doch als echt. Denn genau in dem Augenblick, in dem das erwartete, so erhabene wie bekannte Bergpanorama dem focaliser auf dem Joch sichtbar werden sollte, erkennt er wieder nichts: Ein Ausruf des Erstaunens und der Bewunderung entfuhr ihm. Ein Anblick, wie er ihn noch nie gesehen, öffnete sich vor seinen Blicken, die nach allen Seiten in ungehinderte Fernen schweiften. In ungeheurer Dehnung sich ausbreitend, lag vor ihm ein milchweißer Ozean, aus dem in weiten Zwischenräumen schwarze Felseninseln und, im intensivsten Sonnenlicht erglänzend,
42 Ein weiter Hinweis auf du Prels mögliche Kenntnis von Collins wäre das auch (siehe oben) bei du Prel eingesetzte Motiv der sogenannten indischen Gaukler, welche Erkenntnisse aus dem schreibenden Spiegel einer kleinen Tintenpfütze im Handteller divinieren. Vgl. Wilkie Collins: The Moonstone. London: Penguin 1994, S. 27-28. Freilich werden beide Lanes Reisebericht gekannt haben. 43 Ebd., S. 233-234.
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breitgewölbte schneebedeckte Kuppen emporragten. Glatt wie ein Spiegel lag die weiße See vor ihm [...]44
Erst am Glockenklang kann sich Alfred im »Nebelmeer« orientieren. 45 Die Szene ist natürlich ein ekphrastisches Zitat von Caspar David Friedrichs berühmtem Wanderer über dem Nebelmeer (1818), mit dem, als sich der Schleier endlich lüftet, offensichtlich Alfreds Schicksal identifiziert werden soll. Wichtiger aber ist die intertextuelle Bezugnahme auf Hoffmanns Bergwerke zu Falun. Bei du Prel wird betont, dass Alfreds Sehnsucht nach Moidele nur im platonischen Sinne des Wortes erotisch motiviert sein soll. Zwar ist sein irdisches Verhältnis zu ihr nicht frei von fleischlicher Begierde, aber auch die spontane Erfüllung dieser Begierde während des Sturmes in einer Berghütte wird von du Prel durch diaphan-klassische Anspielungen auf das höhere Recht ihrer mignonhaften Naivität sowie auf die Begegnung von Dido und Aeneas in der Höhle moralisch abgefedert.46 Entscheidend für diese Lesart ist eben die schicksalhafte Begegnung beim Kreuz am Ferner. Denn hier soll Alfred jenseits des Nebels nicht nur seinen verlorenen Sohn (Emanuel-Tiedemann) wieder finden, sondern auch das leibhafte Moidele.47 Somirofs heimtückische Absichten nicht ahnend, wird der Graf von hinten in einen tiefen Gletscherspalt gestoßen, wo er schwer verletzt liegen muss, bis er durch herbeieilende Helfer langsam wieder an die Oberfläche heraufgezogen wird. Aber dieser Gletscher ist natürlich genau der Ort, an dem vor zwanzig Jahren Moidele – Alfred entgegeneilend – verunglückt war und seitdem nicht wieder aufgefunden werden konnte.48 Alfred wird gerettet. Aber zuerst findet man Moideles durch das Eis konservierte Leiche: »Die eisige Kälte ihres Grabes hatte sie vor der Verwesung bewahrt, und der seit einer Reihe von Jahren stetig abschmelzende Gletscher hatte die Leiche aus ihrer Umklammerung befreit«.49 So
44 Ebd., S. 515. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 45-46. 47 Ebd., S. 523. 48 Ebd., S. 99-100. 49 Ebd., S. 530.
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kommen die beiden Liebenden nach einer langen Reihe von Jahren unvermutet wieder zusammen. Man hätte nun ein freilich pathetisches aber auch trostreiches Wiedersehen erwartet, wie in Hoffmanns Bergwerke zu Falun, auf die damit kontrafaktisch Bezug genommen wird. Denn dort erfährt bekanntlich Ulla, die treue Geliebte des durch die dämonische Bergkönigin verführten und durch einen symbolischen Erdsturz verschütteten Elis Fröboms, den späten Trost eines Wiedersehens. Fünfzig Jahre nach dem Unfall wird zufällig Elis’ durch die chemische Wirkung des Vitriolwassers perfekt konservierte Leiche zu Tage gefördert, die so aussieht, als ob er nur schlafen würde. Ulla fasst seine Hand, zieht diese an ihre welke Brust, umarmt ihn heftig, stirbt neben ihm im Augenblick später Liebeserfüllung, und der materiell so fest scheinende Körper des Jünglings zerfällt zu Staub. So stellt Hoffmann nicht nur das Pathos nicht ausgelebter Liebe dar, sondern er ironisiert durch das Motiv des zerfallenden Leibes auch die metaphysische Leidenschaft romantischer Liebe, die den Ewigkeitsanspruch nicht erfüllen kann. Anders aber wird das Motiv bei du Prel verwendet: Eine unkenntliche Bürde, und doch eine Leiche. Dichte Flechten von goldenem Haare hingen hernieder, und da nun alle hinsahen, blickten sie in das mumienhaft verschrumpfte Antlitz eines Mädchens. Die Gewänder waren zerrissen [...] Noch war das schwarze Mieder kenntlich, der rotwollene Rock und die Bergschuhe, die an den eingeschrumpften Füße schlotterten.50
Moideles Vater kann sie auch in diesem Zustand umarmen. Aber der im Sterben liegende Graf kann den Anblick nicht ertragen. Als der Vater ihm schluchzend »die Mumienhand« entgegenhält, weicht er »[e]ntsetzt« aus, obwohl er den Ring erkennt (es ist ja die gleiche Hand, mit dem gleichen Ring am Finger, die ihm vor achtzehn Jahren aus der Wolke erschien und ihm das taufrische Edelweiß schenkte).51 Er kann nur die Goldflechte an seine Lippen drücken, dann sinkt er bewusstlos zurück. Hier findet also weniger ein trostreiches Wiedersehen statt, als eine Lektion darin, dass der irdische Leib – im Gegen-
50 Ebd. 51 Ebd., S. 533.
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satz zum Astralleib – vergeht, dass die Wirklichkeit des Ich geistiger Natur ist. Allerdings ist das ein Kult des Leibes, der auf pygmalionhafte – ästhetizistische – Negation und konsequente Verherrlichung des eigentlichen, materiellen Leibes hinausläuft. In seiner Psychologie der Lyrik hatte du Prel Schillers Verfahren der lyrischen Idealisierung durch Personifikation des Unbeseelten in Die Ideale – dort expressis verbis symbolisiert durch die Gestalt Pygmalions – als Modell gelobt und ausführlich zitiert.52 In Die monistische Seelenlehre wird dieser relativ vorsichtig geäußerte spekulative Vergleich später zu einer positiven metaphysischen Tatsache. Das Unbewusste im menschlichen Geist, heißt es dort, ist identisch mit dem organisierenden Prinzip des Körpers, und dies macht (unter anderem) auch die Beseelung des Körpers in der Kunst erst möglich. So ist der Künstler als kreativer Formgeber der Materie im Sinne der natura naturans der wahrhafte Prophet vom Schicksal des Leiblichen: Die Vergeistigung ist es, auf der die Schönheit des Leiblichen in der Kunst beruht. In der Erhöhung der Leiblichkeit, in der Idealisierung der Menschengestalt durch den Künstler, liegt keine Nachahmung der Natur, sondern als biologischer Prophet antizipiert der Künstler die Formen, die im Schosse der Zukunft liegen. In der Tätigkeit des Künstlers ist die Seele organisierend und vorstellend. Weil aber die biologische Entwicklungsreihe und die transcendentale, deren unser eigenes Subjekt im Sinne eines metaphysischen Darwinismus fähig ist, parallel laufen und sich verhalten wie das organisierende Prinzip zu seinen äusseren Erscheinungsformen, muss der Künstler auch im transcendentalen Sinne als Prophet angesehen werden, er antizipiert seine eigene Zukunft.53
Vor diesem Hintergrund ist es wohl in Das Kreuz am Ferner kein Zufall, dass alle männlichen Hauptgestalten nicht nur Spiritisten, sondern auch Künstler sind: Nicht nur Alfred ist ein eifriger Maler, sondern
52 Vgl du Prel: Psychologie der Lyrik, S. 123. 53 Vgl. du Prel: Monistische Seelenlehre, S. 155.
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auch Morhof.54 Letzterer ist zudem auch ein Bewunderer von Moideles Schönheit und wohlgemerkt der Erste, dem es gelingt, ihren Geist zu beschwören. Sogar Alfreds Sohn Emanuel ist Dichter, der für die Darstellung seiner eigenen Ästhetik in einem der vielen Lehrgepräche halbe Zitate aus du Prels Psychologie der Lyrik bringt.55 So gesehen ist Das Kreuz am Ferner nicht nur ein spiritistischer Roman, sondern auch die Apotheose Pygmalions. Auf dem Schreibtisch von Wilhelm, dem Hauptprotagonisten in Wilhelm Bölsches ebenfalls 1891 erschienenen spiritistischen Roman Die Mittagsgöttin,56 liegt irgendwo ein unaufgeschnittenes Exemplar von Sphinx herum, der wissenschaftlichen Zeitschrift, die aus du Prels Kreis hervorging.57 Freilich wird Wilhelms lebhaftes Interesse am Spiritismus im Laufe des Geschehens schnell geweckt, und es kommt in diesem Roman zu einer gründlichen, wenn auch letztendlich skepti-
54 du Prel: Kreuz am Ferner, S. 34 (Alfred) sowie S. 188, S. 274 und S. 24 (Moorhof). 55 Vgl. du Prel: Psychologie der Lyrik, S. 24 mit Das Kreuz am Ferner, S. 411; desgleichen Psychologie der Lyrik, S. 110-111 und S. 124 mit Das Kreuz am Ferner, S. 412-413. 56 Vgl. Wilhelm Bölsche: Die Mittagsgöttin. Ein Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart. 2 Bde. Jena: Diederichs 3. Aufl. 1905. [Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1. Aufl. 1891]. Vgl. zur Mittagsgöttin Nicholas Saul: »Modernity’s Dark Side. Wilhelm Bölsche: Die Mittagsgöttin. Darwinism, Evolutionary Aesthetics and Spiritualism«, in: Jerome Carroll/Steve Giles/Maike Oergel (Hg.), Aesthetics and Modernity from Schiller to Marcuse. London: Institute of Germanic and Romance Studies 2011 (im Druck). Weiterhin grundlegend dazu: Wolfram Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 152-182; Horst Thomé: Autonomes Ich und inneres Ausland. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten 18481914. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 241-256; Lothar Schneider: »Die alte und die neue Fremde. Zu Wilhelm Bölsches Roman ›Die Mittagsgöttin‹«, in: Joanna Jablkowska/Erwin Leibfried (Hg.), Fremde und Fremdes in der Literatur. Frankfurt a.M.: Peter Lang 1996, S. 139-158. 57 Vgl. Bölsche: Die Mittagsgöttin, Bd. 1, S. 42.
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schen Prüfung der spiritistischen Hauptthesen, welche schließlich als erotisch-künstlerische Phantasien pathologischer, moderner Seelen diagnostiziert werden. Bölsche (1869-1931) gehört gewissermaßen zum gleichen Typus des freien Schriftstellers um 1900 wie du Prel. Allerdings kommt er aus der oppositionellen Schule. Sein Vater war mit Ludwig Büchner und Jacob Moleschott befreundet. Er selbst, immer literarisch interessiert, war ein Darwinist der ersten Stunde, hatte ein Studium der Naturwissenschaften angefangen aber doch nicht abgeschlossen und anschließend eine erfolgreiche Laufbahn als Literat, Dichter und Kritiker begonnen. Er war Mitglied des Literaturvereins Durch!, ein enger Freund von Julius und Heinrich Hart sowie der Hauptmanns und auch Bruno Willes und gestaltete mit diesen Hauptvertretern der Berliner Moderne zusammen den Übergang vom poetischen Realismus zum Naturalismus und Impressionismus des Fin de siècle. 1890-1893 leitete er Die Freie Bühne in Berlin. Seine Romane – Paulus (1885), Der Zauber des Königs Arpus (1887) und Die Mittagsgöttin – verkauften sich gut genug. Aber einen Namen machte er sich erst durch seine populärwissenschaftlichen Schriften, die allesamt den Zweck hatten, die Botschaft des Darwinismus zu verbreiten. Dabei wurde Bölsche zu einem der engsten Freunde und Weggefährten Ernst Haeckels und verfocht dessen naturphilosophisch verbrämten Darwinismus mit, der unter dem Namen Monismus bekannt wurde. Am bekanntesten sind Bölsches Ausführungen zum Liebesleben der Natur (1898-1902),58 welche – wohl durch Darwins Lehre der sexuellen Zuchtwahl angeregt – die Entwicklungslehre Darwins in idealisierter und teleologisierter Form vortragen als Selbstentfaltung eines universellen Liebesprinzips und Basis einer neuen, für die Lebensform der Moderne adäquaten postchristlichen Religion. Auch Die Mittagsgöttin kann man als Versuch sehen, an den Erfolg der englischen sensation novel à la Collins anzuknüpfen, denn auch hier müssen in einem selbstbewusst realistisch-naturalistisch verfassten Roman sensationell anmutende Ereignisse erklärt werden, die vor der Hand das Eingreifen des Übernatürlichen in die empirische Welt zu beweisen scheinen. Und natürlich greift hier Bölsche das
58 Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe. 3 Bde. Florenz/Leipzig: Diederichs 1898-1902.
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brandaktuelle Motiv der Sinnsuche moderner Menschen im Zeichen des triumphierenden Materialismus der offiziellen Naturwissenschaft auf. Am Anfang des Romans ist Wilhelm, ein Berliner Literat, der große Ähnlichkeit mit dem Verfasser des Romans hat und ein Anhänger der offiziellen materialistischen Variante des Darwinismus ist, eben Opfer einer typisch modernen Sinnkrise geworden. Seine halbherzige Liebesaffäre mit der blassen Therese scheint im Sand zu verlaufen. Sein Kampf ums Dasein im Körper des Riesenorganismus Berlin erschöpft sich anscheinend im schieren Überleben. Sein Ich scheint höchstens ein Kräftezentrum zur Ordnung von lebensnotwendigen Funktionen zu sein. So erwacht ein gewisses Interesse am Sinnangebot des Spiritismus. Er akzeptiert die zufällige Einladung, an einer Sitzung im Zirkel einer vornehmen Berliner Dame teilzunehmen, wie das damals gang und gäbe war, ist aber nicht überrascht, als das Medium, ein Engländer namens Thomas, als plumper Betrüger entlarvt wird. Damit scheint die kaum angehobene Erzählung ein vorzeitiges Ende erreicht zu haben. Es ist aber lediglich das erste von zwei kunstvoll gestalteten ritardandi im Roman. Denn im Zirkel hat Wilhelm die Bekanntschaft eines exzentrischen Adeligen mit Sitz im Spreewald, hundert Kilometer südöstlich von Berlin, gemacht. Dieser Graf teilt voll und ganz seine Skepsis gegenüber dem Spiritismus. Umso überraschender ist es für Wilhelm, als er erfährt, dass der Graf zu Hause im Spreewald sein eigenes Medium hält. Diese junge Dame, eine Amerikanerin namens Lilly Jackson,59 ermöglicht es dem Grafen anscheinend, den Kontakt zu seiner nach wie vor herzlich geliebten, aber verstorbenen Gattin Nelly auf spiritistische Weise aufrechtzuerhalten. Damit ist das zweite ritardando vorbereitet. Angeregt durch die verlockende Kombination von Skepsis und spiritistischer Gläubigkeit nimmt Wilhelm auf Einladung des Grafen an einer Séance im Spreewald teil, nur um – noch einmal – seine Skepsis bestätigt zu finden. Lilly Jackson, vorgebend die materialisierte Nelly zu sein, wird
59 Einer der amerikanischen Begründer der spiritistischen Bewegung hieß bekanntlich Andrew Jackson Davis. Vgl. eine der damals besten philosophischen Auseinandersetzungen mit der Lehre, Fritz Schultze: Die Grundgedanken des Spiritismus und die Kritik derselben. Drei Vorträge zur Aufklärung. Leipzig: Günther 1883, S. 6.
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von ihm selbst entlarvt als in weißem Tüll verkleidete Betrügerin. Erst jetzt ist Wilhelm aber erzählstrategisch auf eine richtige Offenbarung des Spiritismus vorbereitet. Nach Berlin zurückgekehrt, in einem Zustand völliger Erschöpfung, erlebt er auf sich allein gestellt in seiner Moabiter Privatwohnung eine sensationelle, ihn vollkommen überzeugende spiritistische Vision.60 Dabei handelt es sich um Thereses Bruder Edmund, der in einem Duell in Magdeburg erschossen worden ist, und zwar, wie Wilhelm hastig kalkulierend zu erkennen glaubt, genau zu dem Zeitpunkt der Berliner Vision. So wird Wilhelm, sehr zum Leidwesen seines Mentors, eines berühmten Professors der Naturwissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität, zum passionierten Studenten und Anhänger des Spiritismus, der nicht nur du Prel, sondern auch Allan Kardec, Friedrich Zöllner, Alfred Wallace, William Crookes und zahlreiche andere esoterische und weniger esoterische Texte in der reich ausgestatteten Bibliothek des Spreewaldgrafen liest. Er wird Mitglied des Zirkels, und Lilly scheint ihre Fähigkeiten nun doch unter Beweis stellen zu können. Dann aber wird er selber in eine erotische Liebesaffäre mit ihr verstrickt, und muss zu seiner Enttäuschung feststellen, dass ihre angebliche spiritistische Leistung im umgekehrten Verhältnis zur sinnlichen Intensität ihrer erotischen Beziehung zu ihm steht. Als es zur Materialisierung der (mythischen) Mittagsgöttin selbst kommen soll, werden alle Requisiten des Betrugs bei Lilly im Zimmer entdeckt. Der Betrug fliegt auf, der Graf erschießt zunächst Lilly, dann sich selbst, und Wilhelm, um eine Erfahrung reicher, kehrt zu Therese nach Berlin zurück. Er sucht nach wie vor nach Sinn, findet diesen aber in einer neuen Kombination von erotischer Lust und modern-materialistischer Lebensweise mit der nunmehr aufgeweckten Therese. So ist Bölsches Roman als eine freilich sympathisierende aber doch entschiedene Depotenzierung des Phänomens Spiritismus zu lesen, eine merkwürdige Parallelerscheinung zu du Prels Roman und gleichzeitig, als Aufklärung über die wahre, psychologische Motivation der Anhänger des Spiritismus, die profane Antwort auf dessen Thesen. Bölsches Diagnose zufolge lautet diese Motivation: ästhetische Kompensation der verlorenen Liebe, Bedürfnis nach pygmalion-
60 Bölsche: Mittagsgöttin, Bd.1, S. 278-308.
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hafter Wiedervergegenwärtigung der leibhaften Geliebten. Der Spreewaldgraf verehrt seine Nelly (eine Helena-Figur und damit Repräsentantin des Ewig-Weiblichen) abgöttisch, ist nicht bereit, ihr zu entsagen, verlangt kompensatorisch nach ihrer wiederauferstandenen leiblichen Präsenz dank der mediumistischen Vermittlung Lillys, und öffnet sich auf diesem Weg dem ästhetischen Betrug. Lilly ihrerseits ist nur zum Teil eine willige Komplizin. Der Graf hat sie völlig verarmt und verlassen in Paris entdeckt.61 In Wahrheit liebt sie ihn, wird aber von ihm ignoriert,62 und rächt sich an ihm aus eben diesem Grund mit vampirischer Hingabe durch ihren systematischen Betrug, Nelly überzeugend materialisieren zu können – Nellys Tagebücher sind in ihrem Besitz.63 Auf die betrügerische Materialisation ist Lilly auch gut vorbereitet. Denn sie heißt in Wahrheit nicht Lilly, sondern entstammt einer deutschen, noch immer im Musiktheater an der Friedrichstraße aktiven Schauspielerfamilie und stützt sich – in ihrer materiellen Not – für den jahrelangen Betrug des Grafen auf ihre Theater-Ausbildung.64 Aber Lilly ist auch eine genuin tragische Gestalt,65 denn sie ist in einer theatralischen Scheinexistenz verfangen, in der sie nie sie selbst sein darf. Bölsche macht schließlich die eigentlich erotische Motivation für die Produktion spiritistischer Illusionen deutlich. Ebenso wie Thomas Mann im dreiunddreißig Jahre später erschienenen Zauberberg macht Bölsches Schilderung der kramphaften Zuckungen Lillys im mediumistischer Trance die Parallele zwischen sexueller Ekstase (bzw. Geburt) und ektoplasmatischer Materialisierung unübersehbar: Ein matter Aufschrei, ein Beugen und Krümmen des Körpers, als laufe eine erregende Reflexwelle das Rückenmark entlang, wobei der blonde Zopf sich
61 Ebd., Bd. 1, S. 110 und S. 137. 62 Ebd., Bd. 2, S. 415. 63 Ebd., Bd. 2, S. 390 und S. 391. 64 Ebd., Bd. 2, S. 414. 65 Bölsche assoziiert Lilly immer mit der tragischen Muse Euterpe, deren Büste in der Musikhalle in der Friedrichstrasse auf ihrem Porträt basiert, vgl. Mittagsgöttin Bd. 2, S. 201, S. 281, S. 307, S. 400. S. 413-414 und S. 419.
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mehrere Sekunden lang scharf an der Holzlehne einklemmte, dann ein zweiter lauter und kraftvoller Schrei, mit dem zugleich beide Arme so emporzuckten, daß der Bleistift in weitem Bogen aus den gespreizten Fingern ins Gemach hinausflog, – und die Augen öffneten sich, groß, starr, mit einem Ausdruck namenlosen Entsetzens. [...] Der Paroxysmus hatte mehr noch als alles Voraufgehende etwas Beängstigendes in seiner Wildheit, man glaubte unwillkürlich den ganzen Orkan mit anzusehen, der das Nervensystem des jungen Mädchens innerlich durchtobte.66
Dass Lillys erotische Erfüllung dank der Affäre mit Wilhelm auch ihre Leistungen als Medium deutlich abschwächen muss, ist vor diesem Hintergrund nur logisch.67 Und Wilhelms Vision? Objektiv steht fest, dass die Vision nicht echt spiritistisch gewesen sein kann, denn Wilhelm hat, wie sich in seiner Analyse herausstellt,68 peinlicherweise den (im 19. Jahrhundert noch geltenden) Zeitunterschied zwischen Magdeburg und Berlin vollkommen außer Acht gelassen. »[H]ochgradige, nervöse Überreizung«, »mystische Seelenstimmung«,69 Erschöpfung, die suggestive Kraft der aufregenden Geschehnisse der letzten Tage, der Gedanke an den Tod – Wilhelm kann nur retrospektiv an seiner eigenen Fähigkeit zweifeln, objektiv-empirisch zu beobachten, so dass sich seine angebliche Vision als ein autosuggestives Halbschlafbild im Sinne von Johannes Müller entlarvt: eine innere Projektion der optischen Nerven, welche mithilfe der Phantasie rezentes Material aus dem Gedächtnis neu kombiniert, um ein Wunschbild darzustellen.70 Auch in der Mittagsgöttin wird also ein sensationelles Phänomen mit den neuesten Theorien der Psychophysik aufgeklärt, welche aber nicht nur aufklären, sondern auch den doppelten, ethisch-epistemologischen Autonomieverlust des modernen Subjekts nach Hartmann definitiv unter Be-
66 Bd. 2,, S. 59-60. Siehe zu Thomas Manns Darstellung der sexualisierten Trance Brittnacher: »Gespenster im Rotlicht«. 67 Bölsche: Mittagsgöttin, Bd. 2,, S. 255. 68 Ebd., Bd. 1,, S. 331; Bd. 2,, S. 420-424. 69 Ebd., Bd. 2,, S. 420. 70 Johannes Müller: Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung. Coblenz: Hölscher 1826, bes. S. 3-39.
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weis stellen. Der Spiritismus ist für Bölsche also eine unbewusstgewollte Selbsttäuschung durch innere und äußere theatralische Mittel in der Sinnkrise der Moderne, eine neue Spielart des Pygmalionismus, und seine Mittagsgöttin ein glatter Widerspruch gegen Carl du Prel. An einer Stelle bemerkt Dieter Sawicki in seiner Studie über den Geisterglauben, du Prel verrate wenig Interesse an der Relevanz seiner Theorie für die sozialen oder politischen Dimensionen des Lebens, sein transzendentales Subjekt lebe nur für sich selbst, zum Zwecke der eigenen Vervollkommnung.71 Seit Artur Dinters 1920 erschienenem Roman Die Sünde wider den Geist72 dürfte die soziale bzw. die politische Anwendung der spiritistischen Lehre in der Literatur nicht mehr als Desideratum gelten. Denn hier artet die pygmalionhaft-spiritistische Begierde nach dem idealisierten Leib einer Geliebten in die Begierde nach dem idealisierten Leib einer ganzen Rasse aus – und in den Hass der nicht idealisierbaren Rasse. Dinter (1876-1948) ist eine ungute Erscheinung in der deutschen Ideen- und Kulturgeschichte. Wie du Prel und Bölsche, transzendierte auch er von vornherein die zwei Kulturen Snows, studierte Naturwissenschaften und Philosophie in München, promovierte über Chemie in Straßburg, leitete einen botanischen Garten dort, dann ein Theater, schrieb Theaterstücke, war Mitbegründer des Verbands deutscher Bühnenschriftsteller (1908)
71 Sawicki: Leben mit Toten, S. 333-334. 72 Artur Dinter: Die Sünde wider den Geist. Ein Zeitroman. Leipzig: Matthes und Thost 1921 [1. Aufl. 1920]. Der Roman ist als integraler Bestandteil einer Trilogie gedacht, zwischen »Die Sünde wider das Blut« (1917) und »Die Sünde wider die Liebe« (1922). Die Literatur zu Dinter wie zu seinen Romanen ist (begreiflicherweise) dünn gesät. Vgl. Josef Schmidt: »Artur Dinter’s ›Racial Novel‹ ›The Sin against the Blood‹: Trivial Stereotypes and Apocalyptic Prelude«, in: Friedrich Gaede/Patrick O’Neill/Ulrich Scheck (Hg.), Hinter dem schwarzen Vorhang: Die Katastrophe und die epische Tradition. Tübingen: Francke 1994, S. 129-138. Zum Hintergrund: George L. Mosse: The Crisis of German Ideology, S. 126 und S. 306. Zum allgemeinen Hintergrund Nicholas Goodrick-Clarke: The Occult Roots of Nazism. Secret Aryan Cults and Their Influence on Nazi Ideology: The Ariosophists of Austria and Germany, 1890-1935. New York: New York University Press 1985.
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und kämpfte im Ersten Weltkrieg. Aber er kam in dieser Zeit stark unter den Einfluss Houston Stewart Chamberlains und atmete aus dieser Quelle den Geist des Antisemitismus, den er dann zeitlebens selbst predigte.73 Seitdem stand er dem Nationalsozialismus nahe, hatte sogar ein hohes Amt als NS-Gauleiter von Thüringen inne, und blieb trotz seiner späteren ideologischen Differenzen mit der Partei immer deren Grundlehren treu. Der Erste Weltkrieg, so Dinter im Nachwort zur Sünde wider den Geist,74 brachte ihn auch dem Spiritismus nahe, als er in einer Sitzung den Geist eines gefallenen Kameraden erkannte, und diese Erfahrung, so behauptet er, sei eine der Quellen des Romans. Auf jeden Fall spielt eine solche Anekdote eine Rolle im Roman selbst.75 Axiologisch gesehen ist Dinters Roman womöglich noch weniger wertvoll als du Prels narrative Haupterrungenschaft. Die Filiationen beider Texte sind erkennbar. In einem Pamphlet zur Verteidigung seiner spiritistischen Überzeugungen, Der Kampf um die Geistlehre (1921),76 behauptet Dinter, auch die Übertragung seines Willens durch Hypnose auf einen anderen sei eine der schwersten Sünden wider den Geist: »Du Prel hat das in seinem berühmten spiritistischen Roman Das Kreuz am Feuer [sic] anschaulich geschildert«.77 Dinter teilt auch du Prels Vorliebe für eisern konventionelle Bildlichkeit, so wählt er zum Beispiel gern Bergspitzen (diesmal den Komplex Rigi/Pilatus/Eiger/Mönch/Jungfrau) zum geeigneten Schauplatz für erhabene Offenbarungen. Auch er lässt sich bei solchen Gelegenheiten gern von Caspar David Friedrich inspirieren, so zum Beispiel als der Hauptprotagonist Armin Hohenegg als focaliser das großartige Panorama des Gebirges kurz vor Sonnenaufgang erlebt: »Ein gewaltiges unübersehbares Nebelmeer durchflutete alle Tiefen und Weiten der unermeßlichen Gebirgslandschaft, nur die höchsten Rücken und Gipfel ragten
73 Eine brauchbare Autobiographie Dinters bis 1920 findet man im Nachwort zur Sünde wider den Geist, S. 235-243. 74 Ebd., S. 235. 75 Die Rolf Berger-Episode, S. 30-35 und S. 90. 76 Artur Dinter: Der Kampf um die Geistlehre. Leipzig/Hartenstein i. Sachsen: Matthes und Thost 1921. 77 Ebd., S. 25.
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als Inseln aus ihm hervor«.78 Das gilt auch für andere Motive: Bei Gelegenheit einer Séance wird zwar kein taufrisches Edelweiß aus Südtirol, dafür aber per apport eine rote Rose direkt vom Mailänder Friedhof nach Berlin geliefert.79 Schließlich deckt sich Dinters spiritistische Lehre großteils mit der von du Prel (wovon später die Rede sein wird), so dass dieser Roman, ebenso wie Das Kreuz am Ferner, auf weiten Strecken (gewiss mehr als fünfzig Prozent des Ganzen) Spiritismusdoktrin pur doziert, notdürftig als Dialog zwischen Mentor und Schüler verpackt.80 Was übrig bleibt, ist eine Fabel, die du Prels sozusagen individualistische Variante des Spiritismus in eine völkische übergehen lässt und den Kampf um Selbstvervollkommnung des transzendentalen Darwinismus du Prels in einen Rassenkampf. Erzählstrategie des Textes ist folglich eine faschistoide Variante des modernen individuellen Autonomieverlustes beziehungsweise dessen absolute Steigerung: dem Leser ein überzeugendes Sinnangebot zu machen, das in der Doktrin der Lenkung allen irdischen Geschehens durch die Macht höherer Geister besteht. Hier stirbt also keine geliebte Frau, die pygmalionhaft in ektoplasmatischer Form wieder inkarniert werden muss, sondern Frauen (und Männer) werden durch Eingreifen der Geister pausenlos in ihrer auf Erden zu spielenden Rolle erzogen. So retten sich am Anfang des Romans zwei wildfremde Menschen gegenseitig, die fest entschlossen waren, freiwillig in den Tod zu gehen: der pensionierte Kampfflieger Hohenegg (vierzig Jahre), der eben im Begriff ist sich zu erschießen, und die junge Gräfin Gerhilde von Gleichen (achtzehn Jahre), die in der Nordsee widerstandslos ertrinken will. Hohenegg wird wie durch einen Wink des Schicksals aufgrund der schrillen Warnrufe von Zeugen, die selbst nicht stark genug schwimmen können, um das Mädchen aus der Strömung zu retten, von seiner Selbsttötung abgehalten. Indem er Gerhilde unfreiwillig aber edelmütig rettet, bleiben zwei am Leben, die nicht leben wollten. Das sind selbstredend zwei Menschen, die keinen Sinn mehr im
78 Dinter: Sünde wider den Geist, S. 140-141. 79 Ebd., S. 215. 80 Trotzdem, oder deswegen, wurde der Roman in den ersten zwei Jahren über 100.000 Mal verkauft und in sieben Sprachen übersetzt (Sünde wider den Geist, Nachwort zur 11.- 20. Auflage, S. 243).
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Leben sehen: Hohenegg, weil das deutsche Volk durch die verräterische, durch die Tricks der jüdisch-materialistischen Verschwörer herbeigeführte Niederlage im Krieg seine Ehre restlos eingebüßt hat, so dass er, ein strebsamer Mann, der das Schicksal immer wieder herausfordert, keinen Platz mehr in der Gesellschaft findet;81 die Gräfin, weil sie ihren christlichen Glauben verloren und keinen Ersatz gefunden hat. Ein dunkles Gefühl, eine unterschwellige Erinnerung, das alles schon einmal erlebt zu haben, plagt ihn, ohne dass er sich darüber Rechenschaft geben kann.82 Soweit der fragile Spannungsbogen, der den neugierigen Leser auf seinem Weg durch die Fabel tragen muss. Vorläufig – auch erzählstrategisch bedingt – verschwindet Gerhilde nunmehr aus der Erzählung. Nur dem Grafen wird eine Erklärung seines Lebensrätsels geboten, und zwar nachdem er – um die Absicht der höheren Mächte nur noch deutlicher zu machen – ein zweites Mal durch das Eingreifen seiner Freunde in Berlin vom Freitod abgehalten wird. Einmal zwecks Erholung in den Schweizer Bergen um Luzern angelangt, macht Hohenegg aber natürlich die Bekanntschaft anderer Hotelgäste, die sich zufällig alle für den Spiritismus interessieren. Eine Séance wird gehalten, dann eine zweite und eine dritte, unter der Leitung eines in Sachen Spiritismus erfahrenen Mannes, der sich nicht zuletzt in Wissenschaft und Technik ausgezeichnet hat und über dieses solide epistemologische Prestige klug zu verfügen weiß: eines Oberingenieurs aus einer Berliner Lokomotivfabrik.83 So entfalten sich langwierige Gespräche zwischen den Gästen über Wahrheit und Lüge, Wert und Unwert des Spiritismus, wobei der Sinn suchende Hohenegg offen-abwägend zuhört und ein neukantianischer Privatdozent die (offensichtlich unterlegene) skeptische Partei vertreten muss. Auf ungefähr hundert Seiten rekapituliert auf diese Weise Dinter nun zum Besten des Lesers die bekannten Hauptlehren des Spiritismus à la du Prel, mit wenigen, signifikanten Varianten: So ist gut monistisch das Jenseits gar kein anderes Reich, sondern nur ein anderer Zustand der Welt.84 Nachweislich, wie man in der Séance mit aller
81 Ebd., S. 11. 82 Ebd., S. 8. 83 Ebd., S. 29. 84 Ebd., S. 42.
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gebotenen sinnlichen Evidenz erfahren hat, gibt es Geister. Aber es gibt trotzdem einen Dualismus. Es gibt nämlich Geister, die dem Bösen anhaften,85 so Dinter, und Geister, die nur das Gute verfolgen, und das heißt, danach zu streben immer näher Gott zu schauen, immer höhere Erkenntnis von Gott zu erwerben.86 Menschen sind nur in materielle Körper eingesperrte Geister.87 Wem als Geist in der Geisterdimension die höhere Erkenntnis nicht gelingt, der wird nach dem analogen Gesetz des karma dazu verurteilt, sein Leben als inkarnierter Mensch auf Erden von vorne zu beginnen. Auch für die Sünden im irdischen Leben werden die Geister bestraft, wie Dinter schreibt, und zwar auf die gleiche Weise. So ist es ein Grundgesetz der Geister, dass jeder sein eigenes Schicksal schafft.88 Geister besitzen zudem die Fähigkeit, die »feinst verteilte Materie« im Weltenraum zu organisieren, sie so weit zu verdichten, dass ihr Geisterleib von einem irdischen Körper nicht mehr zu unterscheiden ist.89 Ein materieller Menschenkörper erschwert nur die Ausführung der Geisterarbeit. Freilich verkörpern sich Dinters Lehre zufolge in den Juden diejenigen bösen Geister, die sich gewaltsam gegen die Rückkehr zu Gott auflehnen. Christus, als einziger Geist, der nur einmal auf Erden leben musste, hat ihnen »rücksichtslos den Krieg erklärt«.90 Der jüdische Materialismus ist es auch, der die Deutschen den Sieg im Weltkrieg gekostet hat; freilich sind aber England und Amerika bei weitem mehr unter dessen Kontrolle als Deutschland, so dass die Niederlage eigentlich Deutschlands größte Chance einer geistigen Revolution darstellt.91 In Deutschland gilt also die »Ausmerzung des Judentums«,92 »auf rein gesetzlichem Wege, durch praktische Ausscheidung des Judentums aus unserem seelischen und völkischen Organismus«.93 Es kommt,
85 Ebd., S. 48. 86 Ebd., S. 54. 87 Ebd., S. 53. 88 Ebd., S. 43. 89 Ebd., S. 49. 90 Ebd., S. 59. 91 Ebd., S. 47-48. 92 Ebd., S. 45. 93 Ebd., S. 45. Vgl. des weiteren Hoheneggs Aussage, ebd., S. 100.
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und zwar bald, der apokalyptische Geisterkampf gegen den Materialismus und dessen verkörpertes Prinzip, das Judentum, wie Dinter weiter darlegt.94 Besonders die Frauen haben daher unter diesem Geisterregime zu leiden. Denn: Ist der Egoismus als Hauptfeind der Liebe zu überwinden, so muss vor allen Dingen die Urleidenschaft des sexuellen Triebes bekämpft werden.95 Die meisten Menschen brauchen mehrere Verkörperungen, bevor sie dieses Hauptübel überwinden können.96 Die Keuschheit der Frau ist daher der letzte Rückhalt eines großen Volkes, im Kampf gegen die falsche Freiheit der »Neger« oder »Juden«.97 Auch die Materie weiß Dinter in fidusmäßige Körpersprache eingekleidet98 durch die Person des Oberingenieurs auf dem Gipfel des Pilatus auf physikalischem Wege zu erklären, während sich das Nebelmeer langsam durch die göttliche Wirkung der Sonne auflöst. Sie beruht, wie die Röntgen-Strahlen, auf dem Verfall des Radiums,99 oder, wie die theoretische Reduktion von Stoff auf Kraft beweist, nur in Bewegung, Urlicht, Leben, aus dem Gott selbst besteht. Freilich muss Gott noch mehr Leben schöpfen, unbewusst, das liegt ja in seinem Wesen. Damit kommt aber die Sünde in die Welt. Denn Gott schafft nach seinem Ebenbild, und das Ebenbild will naturgemäß wie Gott sein. So entsteht paradoxerweise die erste Sünde und Entfernung von Gott. So entsteht auch naturgemäß eine Trübung und Verdichtung des göttlichen Lichtes, der göttlichen Bewegung oder des göttlichen Lebens, zu dem, was wir (sichtbare) Materie nennen. Diese Materie ist gradmäßig unterschieden. Als verdichteter Geiststoff ist diese Materie das Gehäuse des eigentlichen Geistes, der Astralleib, als derbe Materie der Leib des Menschen.100 Der Eintritt in diesen Körper ist die Ge-
94 Ebd., S. 142. 95 Ebd., S. 80. 96 Ebd., S. 83. 97 Ebd., S. 82. 98 Vgl. Hoheneggs extravagante Körpersprache auf dem Berggipfel, ebd., S. 140-142, eine Geste, welche figural das Flugzeug-Motiv als Transzendenzsymbol rekapitulieren soll. 99 Ebd., S. 112 und S. 137. 100 Ebd., S. 104-106.
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burt.101 Geister wählen ihre Adoptiv-Eltern auf Erden je nach ihrem geistigen Bedarf aus, je nach den Lektionen, die sie als verkörperte Geister zu lernen haben, wie Dinter weiß. Sie ererben zwar die leiblichen (und das heißt auch rassischen) Qualitäten ihrer Adoptiv-Eltern, aber der geistige Kern bleibt davon soweit unberührt.102 Diese Lektionen werden zwar für das Leben in der Geisterdimension internalisiert, existieren aber nur unbewusst im verkörperten Menschen103 – es sei denn (wie Hohenegg dies erlebt hat), man hat dunkle Ahnungen, etwas schon einmal erlebt zu haben, ohne es sich genauer erklären zu können.104 Der Astralleib beherrscht die grobe Materie des Körpers, bindet Seele und Leib zusammen, und erwirkt so auch die spiritistischen Materialisierungen, zum Teil durch Kanalisierung und Organisation der feinen Materie im Körper des Mediums, der Fluide.105 Nur diejenigen begehen die (unverzeihliche) Sünde wider den Geist, die in diesem Leben verstockt bleiben und die Lehren des Lebens ignorieren.106 Es gibt auch Geister, die die Menschen führen, und zwar eben durch ihre Materialisationen. Von dieser Variante der spiritischen Lehre als Disziplinierung des materiellen Leibes durch den Astralleib, als mythisierender Extrapolierung des apokalyptischen Geisterkampfes in einen Rassen-Himmel, ist der ehemalige Kampfflieger Hohenegg überzeugt und begeistert, und er kann daher das ersehnte Sinnangebot nur akzeptieren.107 Langsam nimmt er Kontakt mit dem geistigen Führer des Oberingenieurs, dem sogenannten Segenbringer (!) auf, der ihn endlich über das auf
101 Ebd., S. 107-108. 102 Freilich bleibt bei den niederen Geistern, die sich materialisieren, das Aussehen nach wie vor der getreue Abdruck ihres verdorbenen inneren Charakters. Die Rassenfrage ist ja für Dinter letztendlich eine metaphy sische Frage. Vgl. Nachwort, S. 240-241, und Dinters Bezugnahme dort auf R. Burger-Villingen: Das Geheimnis der Menschenform. Berlin im Selbstverlag 1921. 103 Dinter: Sünde wider den Geist, S. 84. 104 Ebd., S. 84. 105 Ebd., S. 126. 106 Ebd., S. 110. 107 Ebd., S. 45 und S. 55.
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den ersten Seiten des Romans verschlüsselte Geheimnis seines eigenen Schicksals aufklärt, die latenten Erinnerungen wieder bewusst macht und den Spannungsbogen des Romans in leider gar zu banaler Form auflöst: Gerhilde ist ihm bekannt, und zwar seit langem: Sie war nämlich vor sechshundert Jahren seine ihm angetraute Ehefrau. Es war aber eine Missheirat, sie eine Bürgerin, er Edelmann. Das Schlimmste ist: Sie hat ihn verraten. So haben die Geister, wie es ihrer Mission gebührt, derzufolge sie die Erdenbürger bilden, eine neue irdische Konstellation der beiden ehemaligen Geliebten organisiert, welche es Gerhilde wieder möglich machen soll, nochmals bei Hohenegg in die Schule der ehelichen Zucht zu gehen. Leider verschmäht Gerhilde, die sich jetzt (wenig plausibel!) als eine in Wahrheit sinnliche und triviale Persönlichkeit verrät, diese kostbare Gelegenheit. Weder kann sie an die erhabenen Lehren des Spiritismus glauben, die Hohenegg ihr unvorsichtigerweise verraten hat, noch kann sie ihre Eifersucht bändigen, als er sich vorübergehend spiritistischen Erfahrungen in Berlin widmet. So löst sie ihre Verbindung auf – um sich nur schnell einen Neuen zu angeln. Ja, wie Hohenegg später herausfindet, geschieht dies nicht zum ersten Mal. Nicht zufällig – man denkt etwa an das analoge Motiv in Gutzkows Wally – verliert Gerhilde immer wieder die Kontrolle über ihre Pferde, sie gehen immer wieder durch.108 So verstrickt sich Gerhilde aus spiritistischer Sicht in immer neue Schuld. Hat sie in ihrem früheren Leben die Sünde wider die Liebe begangen, so begeht sie jetzt die Sünde wider den Geist.109 Das alles, so der Segenbringer, dient Hohenegg dazu, sich selbst (nur noch mehr) zu überwinden, noch höhere Erkenntnisse zu erringen. Er zieht sich in ein Haus im märkischen Forst zwei Stunden von Berlin entfernt zurück, studiert die indische Philosophie, und, der apokalyptischen Dinge harrend, welche noch kommen sollen, schreibt er ein Buch darüber zu Ende, wie er die Geistlehre entdeckt, Spiritist geworden ist und Gott gefunden hat.110
108 Ebd., S. 183 und S. 231. 109 Ebd., S. 232. 110 Ebd., S. 197 und S. 229: eine kleine modernistische Selbstreflexion des Romans.
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So wird der Spiritismus in Dinters Variante erstens zu einer Allegorie des Gehorsams, und zweitens zu einer Allegorie der eisernen Körperdisziplinierung im Dienst der Vollendung einer Rasse und der Ausmerzung einer anderen. Nicht zufällig versagt hier eine Frau in dieser heiligen Mission, weil sie nicht erkannt hat, dass sich die Frau zum Mann wie der schwache Efeu zur starken Eiche verhalten muss.111 Das wäre also die sinnträchtige Botschaft des Romans an deutsche Frauen und Männer im Vorfeld des nahenden Kampfes. Insofern ist dieser Roman der Gipfel einer skurrilen intellektuellen Tradition, die vorgibt, die perhorreszierte Körperlichkeit des Menschen überwinden zu wollen, sie aber in Wahrheit nur fetischisiert und auf diese Weise das Projekt aller literarischen Anthropologie – Selbsterkenntnis unserer geistleiblichen Verfassung – unmöglich macht.
111 Ebd., S. 207.
Autorinnen und Autoren
Arndt, Christiane, geboren 1974. Studium der Germanistik und Philosophie in Bonn, Durham, Berlin und London, Promotion (PhD) an der Johns Hopkins University, Baltimore. Assistant Professor an der Queen’s University in Kingston, Kanada. Veröffentlichungen zu Fontane, Storm und zur Geschichte der Fotografie. Monographie: Abschied von der Wirklichkeit. Probleme bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen literarischen Realismus (2009). Balmer, Susanne, geboren 1976. Studium der Germanistik an den Universitäten Zürich und Bern. Visiting Scholar an der University of British Columbia, Vancouver, Kanada (2008-2009). Promotion 2010. Veröffentlichungen zu Hedwig Dohm, Friederike Helene Unger und Gabriele Reuter. Forschungsinteressen: Literatur und Naturwissenschaft, Gender Studies, Diskursanalyse, Entwicklungsroman. Brodersen, Silke, geboren 1974. Studium der Germanistik und Anglistik in Kiel und der University of Utah, USA. Promotion an der Harvard University in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft 2008. Seit 2008 Lehraufträge an Wellesley College, Harvard und Tufts University. Veröffentlichungen zu Raabe, Stifter, C.F. Meyer (erscheint 2012) und zur Nachkriegsliteratur. Forschungsinteressen: Literatur und Naturwissenschaft, Narratologie, Text-Bild-Beziehungen.
212 | ORGANISMUS UND GESELLSCHAFT
Fleming, Paul, geboren 1968. Associate Professor und Chair des German Department der New York University. Veröffentlichungen zu Adorno, Canetti, Hölderlin, Kommerell u. a. Monographien: The Art of the Average from Bourgeois Tragedy to Realism (2009) und The Pleasures of Abandonment: Jean Paul and the Life of Humor (2006). Übersetzungen: Peter Szondi Versuch über das Tragische (2002), Hans Blumenberg Die Sorge geht über den Fluss (2010). Metz, Joseph, geboren 1966. Studium der Germanistik an den Universitäten Rutgers, Konstanz und Harvard (PhD Harvard 1999). Associate Professor für neuere deutsche Literatur und vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Utah, USA. Veröffentlichungen zu Stifter, Rilke und Kafka in PMLA, DVjS, German Quarterly u.a. Forschungsinteressen: Literaturtheorie, österreichische Literatur, »Physiologie der Ästhetik«, Schnittpunkte der »Identität« (Nation, Gender, Schrift). Saul, Nicholas, geboren 1953. Studium in Cambridge, England, und Göttingen. Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Durham, England. Gastprofessuren Köln und Burlington, Vermont. Arbeitsschwerpunkte: Romantik, Realismus, klassische Moderne, Zigeuner, Darwinismus. Aufsätze zu von Arnim, Bölsche, Brentano, Goethe, Gutzkow, Julius Hart, Carl Hauptmann, Hebbel, Hofmannsthal, Jensen, Keller, Novalis, Raabe, Stifter u.a. Monographien (Auswahl): Prediger aus der neuen romantischen Clique. Zur Interaktion von Romantik und Homiletik um 1800 (1999), Gypsies and Orientalism in German Literature and Anthropology of the Long Nineteenth Century (2007). Herausgeberschaften (Auswahl): The Body in German Literature around 1800 (1999), German Philosophy and Literature 1700-1990 (2002/2010), The Cambridge Companion to German Romanticism (2009), es erscheint The Evolution of Literature. Legacies of Darwin in European Cultures (2011).
AUTORINNEN
UND
A UTOREN | 213
Strowick, Elisabeth, geboren 1967. Studium der Germanistik und Psychologie an der Universität Hamburg (Dr. phil. Hamburg 1999; Habilitation Basel 2005). Associate Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Johns Hopkins University, Baltimore. Veröffentlichungen zu Goethe, Stifter, Fontane, Kierkegaard, Freud, Kafka, Klabund, Thomas Mann, Thomas Bernhard, Werner Schwab in MLN, Poetica u.a. Monographien: Sprechende Körper - Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik (2009), Passagen der Wiederholung. Kierkegaard - Lacan - Freud (1999).
Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3
Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4
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Lettre Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa Mai 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7
Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett Februar 2011, 244 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9
Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6
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Lettre Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende Juni 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
Dominic Berlemann Wertvolle Werke Reputation im Literatursystem Februar 2011, 436 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1636-1
Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka Mai 2011, ca. 294 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0
Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Literarische Epistemologie (1800-2000) 2010, 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1272-1
Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« Juli 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1
Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit Mai 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5
Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3
Denise Rüttinger Schreiben ein Leben lang Die Tagebücher des Victor Klemperer Januar 2011, 478 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1615-6
Kirsten Scheffler Mikropoetik Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein »Bleistiftgebiet« avant la lettre 2010, 514 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1548-7
Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda April 2011, 738 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 43,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2
Philipp Schönthaler Negative Poetik Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész Juli 2011, ca. 350 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1721-4
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