Ordnung, Bewußtsein, Geschichte: Späte Schriften - eine Auswahl 9783608914832

Man hatte sich daran gewöhnt, die Moderne als Gipfel der Weltgeschichte zu interpretieren. „Moderne” heißt in Geschichte

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German Pages 256 [264] Year 1988

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Table of contents :
Titelseite
Impressum
Inhalt
Geleitwort
Vorwort des Herausgebers
I
Die Ordnung der Geschichte enthüllt sich in der Geschichte der Ordnung
Die Symbolisierung der Ordnung
Menschheit und Geschichte
Die Größe Max Webers
Aquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte
Vernunft: Die Erfahrung der klassischen Philosophen
Der meditative Ursprung philosophischen Ordnungswissens
Quod Deus Dicitur
Anmerkungen
Bibliographische Nachweise
II
In Memoriam Eric Voegelin von Peter J. Opitz
Bibliographie der Schriften von Eric Voegelin von Peter J. Opitz
Veróffentlichungen über Eric Voegelin: Eine Auswahl
Namensregister zu den Schriften von Erich Voegelin
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Ordnung, Bewußtsein, Geschichte: Späte Schriften - eine Auswahl
 9783608914832

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Herausgegeben von

Peter J.Opitz

Späte Schriften

— eine Auswahl

In, Bewub Gesch ichte

Klett-Cotta

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Man hatte sich daran gewöhnt, die Moderne als Gipfel der Weltgeschichte zu interpretieren. , Moderne" heißt in Geschichte und Politik: erdachte und durch Menschensetzung fixierte vernünftige politische Ordnung.

Alles, was davor war,

versinkt diesem Blickwinkel zufolge in den Vorzeiten einer mythisierenden Unmündigkeit. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmuündigkeit." Dieser Satz von Immanuel Kant kennzeichnet die Zäsur. Nun hat es immer Denker gegeben, die solchem Überschwang mißtrauten. Und gegen Ende des 20. Jahrhunderts zeichnet sich ab, daß dieser Überschwang

an

der Realität zerbricht. Eric Voegelin (1901-1985) stammt aus der Schule von Hans Kelsen. Er gehört zu den ,Politikphilosophen", die sich im Sinne von Plato und Aristoteles einer , Epistéme Politiké" verschreiben,

d. h. an ontolo-

gische Grundprinzipien der Politik und Geschichte glauben — also an Vorgegebenheiten. Die Bewußtseinsordnung repräsentiert eine vorgángige Seinsordnung. Ob „List der Vernunft" oder , Vorsehung" oder „Schicksal”: Eine Realität jenseits konkreter menschlicher Pläne und Setzungen muß gedacht werden. Dazu wird die

Eric Voegelin

Ordnung,

Bewußtsein, Geschichte Späte Schriften — eine Auswahl

Herausgegeben von Peter J. Opitz Klett-Cotta

Gregor Sebba (1905-1985) -- dem gemeinsamen Freund

Verlagsgemeinschaft Ernst Klett Verlag -J. G. Cotta'sche Buchhandlung Alle Rechte vorbehalten Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

© Ernst Klett Verlage GmbH u. Co.KG, Stuttgart 1988 Printed in Germany Umschlag: Klett-Cotta-Design Gesetzt im Bleisatz aus der 10 Punkt Candida bei Alwin Maisch, Gerlingen Gedruckt auf holzfreiem und säurefreiem Werkdruckpapier von Cartiere del Garda bei Verlagsdruck, Gerlingen Die buchbinderische Verarbeitung übernahm G. Lachenmaier, Reutlingen

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Voegelin, Eric:

Ordnung, Bewußtsein, Geschichte / Eric Voegelin. Hrsg. von Peter J. Opitz. — 1. Aufl. - Stuttgart: Klett-Cotta, 1988 ISBN 3-608-91483-8

Inhalt Geleitwort

9

Vorwort des Herausgebers

10

Ι Die Ordnung der Geschichte enthüllt sich in der Geschichte der Ordnung 19 Die Symbolisierung der Ordnung Menschheit und Geschichte Die Größe Max Webers

28

45 78

Aquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte

99

Vernunft: Die Erfahrung der klassischen Philosophen

127

Der meditative Ursprung philosophischen Ordnungswissens Quod Deus Dicitur *

180

165

Anmerkungen

205

Bibliographische Nachweise

210

lI In Memoriam Eric Voegelin

215

von Peter J. Opitz

Bibliographie der Schriften von Eric Voegelin von Peter J. Opitz

Veróffentlichungen über Eric Voegelin Eine Auswahl

Namensregister

255

zu den Schriften von Erich Voegelin

245

226

Geleitwort Als mein Mann

im Sommer

1958 die Berufung als Ordina-

rius und Direktor des erst zu gründenden Instituts für Politische

Wissenschaft

in München

annahm,

war

einer

der

ausschlaggebenden Gründe für diesen Entschluß der Wunsch, mit seinen Erfahrungen eventuell „ein paar jungen

Leuten”,

schwierigsten Daß

wie

er

es

Zeiten

in

dieser Wunsch

ausdrückte,

Deutschland

zu

helfen,

über

die

hinwegzukommen.

sich erfüllt hat, wurde

mir in den Brie-

fen bestätigt, die ich nach seinem Tode von früheren Schülern bekam, in denen jeder davon sprach, wie entscheidend seine Gegenwart in dieser Zeit auf sie gewirkt hat. Dieses Bewußtsein, eben doch ein paar jungen Leuten geholfen zu haben, ist für mich die schönste Bestätigung für das, was wir beide gefühlt, aber nie recht ausgesprochen haben. Es

ist nun

an

diesen

jungen

Leuten

zu

helfen,

und

ich

freue mich sehr, daß endlich einige wertvolle Arbeiten Eric

Voegelins zungen

ins Deutsche

sind

nicht

von

übersetzt wurden. der

gewöhnlichen

Diese ÜbersetArt,

denn

mein

Mann hat im Englischen wie im Deutschen seine eigene Sprache geführt. Aber bei den Übersetzungen von Peter J. Opitz, Schüler und langjähriger Freund, hatte ich kaum je das Gefühl, eine Übersetzung zu lesen. Ihm möchte ich mit diesen Zeilen für seine Hilfe danken. Danken möchte ich für diese Edition aber auch dem Verlag Klett-Cotta. Lissy Voegelin Palo Alto/Cal., im Januar

1988

Vorwort des Herausgebers Das

letzte

Buch

Eric

Voegelins

in deutscher

Sprache

er-

schien vor 22 Jahren, im Jahre 1966. Es trug den Titel Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik und

war eine Sammlung von Arbeiten aus den vorangehenden zwei Jahrzehnten — genauer: aus der Zeit zwischen 1943 und 1965. Der Titel Anamnesis war nicht zufällig gewählt, sondern

bezog

sich bewußt

auf Platon,

der

den

Prozeß,

in

dem der Mensch die Ordnung seiner Existenz in der Ordnung seines Bewußtseins findet, unter den Begriff der Erinnerung, der anamnesis, gestellt hatte. Genau das gleiche beabsichtigte Voegelin in seinem Buche. Denn die von ihm in Anamnesis vorgelegten Studien stellten keine willkürliche des

Kollektion Prozesses

dar,

sondern

ab, in dem

steckten

sich sein

wichtige

eigenes

Stationen

Denken

hin zu

einer Philosophie des Bewußtseins entwickelt hatte. Die Philosophie des Bewußtseins aber stellte für Voegelin — wie es die einleitenden Sätze von Anamnesis programmatisch zum Ausdruck brachten — das ,Kernstück" der Philosophie der Politik dar. Denn da die Probleme menschlicher

Ordnung in Gesellschaft und Geschichte der Ordnung des

Bewußtseins entspringen, muß sich die politische Philosophie auf ihrer Suche nach den Prinzipien menschlicher Ordnung mit den Strukturen des Bewußtseins beschäftigen. Die seinerzeit letzte Station seiner Reflexionen hatte Voegelin erst kurz zuvor erreicht und entwickelt — nämlich in Anschluß an ein Grundsatzreferat, das er im Jahre 1965 zu dem Thema „Was ist politische Realität?" vor der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft gehalten hatte. „Das nachfolgende Durchdenken seiner Thematik" bemerkte Voegelin nachträglich, „ließ ihn auf das drei- bis vierfache seines ursprünglichen Umfangs anwachsen; und

10

das nicht vorausgesehene Ergebnis war eine umfassende und vorläufig befriedigende Neuformulierung der Philosophie des Bewußtseins.” Sie bildete den Schlußteil von Anamnesis. Doch die Befriedigung über die neugewonnenen Einsichten hielt nicht lange an. Schon bald entstanden weitere Arbeiten, in denen sie vertieft und ausgebaut wurden. Keine dieser Arbeiten erschien jedoch in deutscher Sprache. Das

hatte verschiedene Gründe. Einer lag wahrscheinlich in der Tatsache,

daß

sich

Voegelin

nach

seiner

Emeritierung

im

Jahre 1968 nach Kalifornien zurückgezogen hatte und dort vor allem in amerikanischen Zeitschriften publizierte. Ein anderer — wohl wichtigerer — war, daß die Kontakte, die Voegelin im Laufe seines zehnjährigen, durch zahlreiche Gastsemester in den USA unterbrochenen Aufenthaltes in der Bundesrepublik zur deutschen Politikwissenschaft hergestellt hatte,

eher

gering

waren

und

daß

sie nach

seiner

Rückkehr in die USA noch dünner wurden. Der wohl wichtigste Grund aber - und er hängt mit dem zuvor genannten eng zusammen — lag in der Tatsache, daß der Versuch Voegelins, die politische Wissenschaft unter Rückgriff auf die klassische griechische und christliche Philosophie wieder als Ordnungswissenschaft zu erneuern, in weiten Teilen der deutschen Politikwissenschaft auf Unverständnis, ja Widerstand gestoßen war - eine Tendenz, die sich in den unruhigen Jahren nach 1968 noch verstärkte. Insgesamt führten diese verschiedenen Faktoren zu einer paradoxen Situation: Während die Auseinandersetzung mit dem

Werke

Voegelins

in den USA,

aber auch

in ande-

ren Ländern Europas, ständig zunahm und zahlreiche seiner Schriften in andere Sprachen übersetzt wurden, blieb der deutsche Sprachraum von dieser Entwicklung weitgehend unberührt. Soweit mir bekannt, gibt es aus der Zeit

zwischen 1968 und 1982 nur eine einzige deutschsprachige Arbeit

von

Voegelin,

die

1981

unter dem

Titel

„Der

tative Ursprung philosophischen Ordnungswissens"

11

medi-

in der

Zeitschrift für Politik erschien. Doch auch bei ihr handelt es sich um keine originäre Schrift, sondern um eine vom Verfasser genehmigte Nachschrift der Tonbandaufnahme eines Vortrags, den Voegelin auf einem im September 1980 an der Politischen Akademie in Tutzing von seinen Schülern organisierten wissenschaftlichen Symposium gehalten hatte. Die in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstandene Lücke kann zwar auch der vorliegende Band nicht ausfüllen, doch

er kann

sie ein wenig

überbrücken

- und

das

ist

seine Aufgabe. Er enthält unter anderem Übersetzungen von drei jener Arbeiten, in denen Voegelin in den Jahren zwischen 1966 und seinem Tode seine Philosophie des Bewußtseins weiterentwickelte. Es handelt sich dabei zum einen um den Aufsatz „Reason: The Classical Experience" aus dem

Jahre

1974, der als einzige Arbeit in die 1978 von

Gerhardt Niemeyer herausgegebene und übersetzte englische Fassung von Anamnesis aufgenommen wurde; zum anderen um „Equivalences of Experience and Symbolisation in History”,

ein

1970 veröffentlichter

Essay,

der

1981

in einer vom Autor leicht überarbeiteten Version in den Philosophical Studies der National University of Ireland nachgedruckt

wurde;

und

schließlich

um

„Quod

Deus

dici-

tur”, das Fragment eines Vortrages, an dessen Fertigstellung Voegelin bis zu seinem Tode gearbeitet hatte. In diesen drei Arbeiten liegen nun erstmals auch in deutscher Sprache wichtige Elemente der Philosophie Voegelins aus den letzten Jahren vor. Um den besonderen Charakter der Werke dieser Spätphase zu verdeutlichen, aber auch um die Kontinuität sei-

nes Denkens zu zeigen, wurden in der vorliegenden Sammlung auch die Einleitungen zu den ersten beiden Bänden

von Order and History ,Israel and Revelation" (1956) und „Ihe World of the Polis" (1957) aufgenommen. In diesen ersten Bänden seines magnum opus hatte sich Voegelin

unter dem

Einfluß von

Schelling und dessen 12

Philosophie

des Mythos von dem konventionellen Genre der politischen Ideengeschichte — wie es im englischen Sprachraum das Standardwerk von George H. Sabine, A History of Political neuen

Theory

repräsentierte



abgewandt

und

einen

theoretischen Ansatz formuliert, der auf einer Theo-

rie der Erfahrung basierte. Im Vorwort und in den beiden Einleitungen „Die Symbolisierung der Ordnung" sowie „Menschheit und Geschichte” hatte er sowohl die theoretischen Grundlagen dieses Erfahrungsbegriffs entwickelt wie auch die Grundzüge einer Philosophie der Geschichte, die

sich aus ihm ergab.

Während Voegelin die geschichtsphilo-

sophischen Konsequenzen seines neuen Ansatzes in den beiden letzten Bänden von Order and History in wichtigen Punkten

einer

Revision

unterzog,

baute

er seit Mitte

der

60er Jahre den zentralen Erfahrungsbegriff zu einer Theorie des Bewußtseins aus, die in den in diesem Buch enthaltenen Artikeln sowie in dem 1987 posthum veröffentlichten Abschlußband von Order and History „In Search of

Order" ihre Entfaltung fand.

Obwohl das Interesse am Denken Voegelins auch in Deutschland während der letzten Jahre erheblich zugenommen hat, stellt die Veröffentlichung seiner Schriften hierzulande bislang leider noch immer ein verlegerisches Wagnis dar. Um so mehr ist dem Verlag Klett-Cotta — insbesondere Herrn

Dr. Kerlen - dafür

zu danken,

daß

er nach

The

Philosophy of Order, der Festschrift zum 80. Geburtstag Eric Voegelins, die das Werk von außen her beleuchtete und die Bedeutung zeigte, die ihm international inzwischen beigemessen wird, mit der vorliegenden Edition nun auch wichtige Texte des Werkes selbst zugänglich macht. Es ist zu wünschen, daß dies den Anfang einer weiteren ErschlieDung dieses wichtigen Denkers für eine breitere wissen-

schaftliche Offentlichkeit im deutschsprachigen Raum darstellt.

Wenn

kommt,

eine

solche

so liegt das

Erschließung nicht zuletzt 13

nur

auch

langsam an den

voran-

Schwierig-

keiten

des

Werkes

selbst,

das den

Übersetzer

immer

wie-

der mitimmensen Schwierigkeiten konfrontiert. Das gilt insbesondere für die Spátschriften Voegelins und die in ihnen sich entfaltende Theorie des Bewußtseins. Denn mit seinen noetischen Analysen bewegt sich Voegelin nicht nur auf kaum

erschlossenem

Neuland,

sondern

vor allem in einem

Bereich nicht-gegenständlicher Realität, der sich selbst der konventionellen philosophischen Sprache immer wieder entzieht. Voegelin stand deshalb selbst häufig vor dem Problem, ein in Vergessenheit geratenes Vokabular der klassischen Philosophie neu zu erschließen, bzw. ein eigenes Vokabular zu entwickeln. Für viele seiner Begriffe, die lediglich in den englisch-sprachigen Arbeiten vorliegen, ist es aber schwer, passende deutsche Aquivalente zu finden - und diese Schwierigkeit hat sein Tod noch erhöht, da nun nicht mehr die Möglichkeit einer Klärung durch Rücksprache vorhanden ist. Solche Klärungen konnten noch in Zweifelsfällen bei den Einleitungen zu Order and History vorgenommen werden, deren Übersetzung Voegelin selbst noch mit großer Sorgfalt durchsah und verbesserte. Sie waren jedoch bei den ungleich schwierigeren spáten Arbeiten nicht mehr moglich. Um

so erfreulicher war es, daf sich für zwei dieser Arbeiten

in Herrn Helmut Winterholler völlig unerwartet ein Übersetzer fand, der sich ihrer mit großem sprachlichen Geschick, vor allem aber mit viel Verständnis für die Probleme,

um

die es in ihnen

geht,

annahm.

Ohne

seine

tatkräf-

tige Mitarbeit hätte sich das Erscheinen des vorliegenden Buches erheblich verzögert. Zu danken ist auch Frau Petra Nagelschmidt und Herrn William Petropulos, deren Hilfe bei der Übersetzung und

der

redaktionellen

Betreuung

ebenfalls

wesentlich

dazu

beigetragen hat, daß das Buch in jenem Jahr erscheinen kann, in dem das von Eric Voegelin 1958 gegründete Institut für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilians-

Universität seinen 30. Jahrestag feiert. Dank gebührt last, 14

but not least Frau Lissy Voegelin für das wohlwollende Interesse, mit dem sie die Arbeit an diesem Buch aus der kalifornischen Ferne begleitete und förderte. Peter J. Opitz Wolfratshausen,

15

Januar

1983

Die Ordnung der Geschichte enthüllt sich in der Geschichte der Ordnung Jede Gesellschaft steht vor der Aufgabe, gebenen

Tatsache

Verháltnissen

ihrer

menschliche

symbolischen ausdrücken,

eine

Existenz

Ziele

Sinn

Formen sind zwar

Ordnung

im

Hinblick

verleiht;

zu finden,

und

unter den ihr ge-

zu schaffen,

auf

göttliche

und

die

Versuche,

die

die diesen

unvollkommen,

die der

bilden

Sinn

adäquat

aber keines-

wegs eine sinnlose Kette von Fehlschlägen. Denn beginnend mit den Zivilisationen des alten Nahen Ostens, haben die großen Gesellschaften eine Abfolge von Ordnungen hervorgebracht, die sinnvoll miteinander verknüpft sind als Annäherungen an oder Abweichungen von einer adäquaten Symbolisierung der Wahrheit betreffend der Ordnung des Seins, von der die Ordnung der Gesellschaft ein Teil ist. Damit soll nicht gesagt sein, daß jede nachfolgende Ordnung eindeutig als fortschrittlich oder rückschrittlich im Verhältnis zur vorhergehenden zu erkennen ist. Denn während neue Einsichten in die Wahrheit der Ordnung gewonnen werden, können Begeisterung und die dem Fortschritt innewohnende Leidenschaft Entdeckungen der Vergangenheit wieder in eine Wolke des Vergessens hüllen. Vergeßlichkeit bezüglich vergangener Leistungen ist eines der wichtigsten sozialen Phänomene. Während es somit kein einfaches Modell progressiver oder zyklischer Ge-

schichte gibt, wird der Verlauf derselben doch als ein Kampf um die wahre Ordnung verständlich. Diese intelligible Struktur der Geschichte kann nicht innerhalb der Ordnung 19

irgendeiner

der

an

diesem

Prozeß

teilhabenden

Gesell-

schaften aufgewiesen werden. Sie ist auch kein Vorbild für menschliches

oder gesellschaftliches Handeln,

Realität,

nur

die

rückblickend

in einem

sondern eine

Strom

von

Ereig-

nissen sichtbar wird, der sich durch die Gegenwart des Be-

trachters unbestimmt in die Zukunft hinzieht. Solange sie im Ambiente des Christentums lebten, sprachen Geschichts-

philosophen von dieser Realität als der Vorsehung; später, unter dem Trauma der Aufklärung, sprachen sie von der List der Vernunft. Im einen wie im anderen Falle aber verwiesen sie auf eine Realität jenseits der Pläne konkreter menschlicher Wesen - auf eine Realität, deren Ursprung und Ziel unbekannt sind und die aus diesem Grund auch nicht in den Griff finiter Aktion gebracht werden kann. Was erkennbar ist, ist lediglich jener Teil des Prozesses, der sich in der Vergangenheit entfaltet hat, und auch dieser Teil nur insoweit, als er den Instrumenten der Erkenntnis zugänglich ist, die aus diesem Prozeß selbst hervorgegangen sind. Die Studie über Order and History ist eine Untersuchung über die Ordnung

des

Menschen,

der Gesellschaft und

der

Geschichte, soweit sie der Wissenschaft zugänglich geworden ist. Die wichtigsten Typen der Ordnung sollen zusam-

men

mit den Symbolen ihrer Selbstauslegung

in der Ab-

folge ihres Auftretens in der Geschichte erforscht werden. Bei diesen Typen der Ordnung und der symbolischen Form handelt es sich: (1)

Um die Reichsorganisationen des alten Nahen Ostens sowie um ihre Existenz in der Form des kosmologischen Mythos; (2) um das Auserwählte Volk und seine Existenz in historischer

(3)

Form;

um die Polis und ihren Mythos

sowie um

die Entwick-

lung der Philosophie als der symbolischen Ordnungsform;

20

(4) um

die multi-zivilisatorischen

und

die Entwicklung

des

Reiche

seit Alexander

Christentums;

(5) um die modernen Nationalstaaten und die Entwicklung der Gnosis als der symbolischen Ordnungsform. Der

Band

Gegenstand

wird

in sechs

behandelt die Ordnungen

Bänden

ausgebreitet:

des Mythos

Ein

und der Ge-

schichte; zwei weitere Bände sind der Polis und der Form der Philosophie gewidmet; ein vierter Band beschäftigt sich mit den multi-zivilisatorischen Reichen und dem Christentum; und die verbleibenden beiden Bände werden die Nationalstaaten sowie die Gnosis als symbolische Form der Ordnung zum Gegenstand haben. Diese sechs Bände sollen die Titel tragen: I. II.

Israel and Revelation The World of the Polis

III.

Plato and Aristotle

IV. V. VI.

Empire and Christianity The Protestant Centuries The Crisis of Western Civilisation

Die Untersuchung der Ordnungstypen und ihrer symbolischen Formen ist gleichzeitig eine Untersuchung der Ordnung der Geschichte, die sich aus ihrer Abfolge ergibt. Der erste Band über „Israel and Revelation" erforscht nicht nur die Formen der kosmologischen und historischen Ordnung, sondern auch den Aufstieg des Auserwáhlten Volkes aus dem Ambiente kosmologischer Reiche. Eine Wahrheit über die Seinsordnung, die in den kompakten Symbolen der Gesellschaften Mesopotamiens, Kanaans und Agyptens nur dunkel

sichtbar

ist,

artikuliert

sich

mit

der

Entstehung

Israels zur Hóhe der Klarheit, wo sich der welttranszendente Gott selbst als die ursprüngliche und letzte Quelle der

Ordnung

für Welt

und

Menschen,

Gesellschaft

und

schichte — also für das gesamte weltlich-immanente

Ge-

Sein —

offenbart. Unter diesem Aspekt der Dynamik der Geschich21

te wird die an sich autonome Studie der kosmologischen Ordnung zum Hintergrund für die Entstehung von Geschichte als der Existenzform, die Israel als Antwort auf die Offenbarung durch den Exodus aus der Form kosmologischer Zivilisation gewann. Die Bände über Polis und Philosophie setzen sich dann nicht nur mit der philosophischen Ordnungsform auseinander, wie sie von Platon und Aristoteles entwickelt wurde,

sondern untersuchen

auch den Pro-

zeß, in dessen Verlauf sich diese Form von dem Mutterboden der hellenischen Variante des Mythos und dem noch fernen minoischen und mykenischen Hintergrund der kosmologischen Ordnung löste. Die älteren symbolischen Formen werden ferner nicht einfach von der neuen Ordnungswahrheit überholt, sondern behalten ihre Gültigkeit für jene Bereiche, die von den später gewonnenen Einsichten nicht berührt werden wenn

auch ihre Symbole

Bedeutungswandlungen

erfahren,

sobald sie in den Bannkreis der jüngeren und nun beherrschenden Form eintreten. So erlebt zum Beispiel die historische Ordnung Israels eine sowohl geistige wie pragmatische Krise,

wenn

deutlich wird,

daß

die Bedrohungen

der

Existenz in der Welt in einer von der Offenbarung am Sinai geprägten Ordnung vernachlässigt waren. Mit der Errichtung des Königtums, das im Wort Gottes am Sinai nicht vorgesehen war, strömt deshalb die kosmologische Symbolik wieder in die Ordnung Israels zurück; und die Konflikte zwischen den beide Ordnungserfahrungen und ihren Symboliken beherrschen von nun an über weite Teile die Geschichte Israels. Die Untersuchung muß deshalb auf eine Vielzahl weiterer Phänomene ausgedehnt werden - unter anderem auf die Interaktionen der symbolischen Formen. Dieser Teil der Studie, der mit dem vierten Band beginnt, mußte einen erheblichen Umfang annehmen, da nämlich die multi-zivilisatorischen Reiche die Bühne bilden, auf der sich die kosmologischen Formen Babylons und Ägyptens, der römische Mythos der Polis, die hellenische Form der

22

Philosophie, die historischen Symbole des frühen Israels und die apokalyptischen des frühen Judentums gegenüberstehen; wenn alle aufgezählten Ordnungstypen den großen Kampf mit der neuen Ordnung des Christentums aufnehmen; und wenn sich schließlich aus diesem Wirrwarr gegenseitiger Einschränkungen und Begrenzungen der Komplex der mittelalterlichen Ordnung des Westens erhebt. Und ganze zwei Bände werden schließlich notwendig sein, um

sowohl die Auflösung dieses mittelalterlichen Komplexes

durch eine Gnosis zu beschreiben, die während des frühen Mittelalters auf ein Rinnsal von Sektenbewegungen reduziert worden war, wie auch die Konsequenzen, die mit jener Auflösung verbunden waren. Der Leser, der sich nach Abschluß sechs Bänden gegenübersieht, erwartet zu Recht ein einleitendes Wort zur intellektuellen

Situation,

die

nach

Meinung

des

Autors

ein

Unternehmen dieses Umfanges sowohl möglich, wie notwendig macht. Dieser Erwartung kann nur innerhalb enger Grenzen entsprochen werden - denn der Umfang der Arbeit ergibt sich aus der Komplexität der Situation, und die Antworten

auf die Fragen, die sich aufdrängen,

können

nur im

Verlauf der Studie selbst gegeben werden. Dennoch sind einige kurze Bemerkungen möglich. Daß das Werk in unserer Zeit unternommen werden konnte, ist vor allem den Fortschritten in den historischen Disziplinen während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu verdanken, die dazu die Materialbasis geschaffen haben.

Die enorme Ausdehnung unseres historischen Horizontes durch archäologische Entdeckungen, kritische Textausgaben und eine Flut monographischer Interpretationen ist so bekannt,

daß

sich

weitere

Ausführungen

dazu

erübrigen.

Die Quellen liegen bereit, und die konvergierenden Interpretationen durch Orientalisten und Semitisten, durch klas-

sische Philologen und Historiker der Antike, durch Theologen und Mediävisten laden geradezu zu dem Versuch ein, eine philosophische Studie der Ordung auf der Grundlage

23

der Primärquellen selbst durchzuführen. Die Lage der Wissenschaft in den verschiedenen Disziplinen, wie auch meine eigene Position bezüglich fundamentaler Fragen, wird im Verlauf der Studie selbst zur Sprache kommen. Soweit es den

Band

„Israel

and

Revelation"

betrifft,

darf

ich

auf

die Digressionen zum Stand der Bibelkritik (Kap.6 $1) verweisen sowie auf die Interpretation der Psalmen (Kap. 9 ὃ 5).

Der andere Grund, der die Durchführung dieser Studie in

unserer Zeit ermöglichte, ist weniger leicht greifbar als der erste, insofern er nur negativ beschrieben werden kann als die Beseitigung der ideologischen Hypotheken, die auf der Arbeit der Wissenschaft lasteten. Ich spreche von dem alles durchdringenden Meinungsklima, in dem eine kritische Studie von Gesellschaft und Geschichte praktisch unmöglich war, da die Vielfalt von Nationalismus, von progressivistischen und positivistischen, liberalen und sozialistischen, von marxistischen und freudianischen Ideologien, von neo-kantianischen Methodologien in Nachahmung der Naturwissenschaften, von szientistischen Ideologien wie Biologismen und Psychologismen, von der viktorianischen Mode des Agnostizismus und von neueren Moden des Existentialismus und Theologismus nicht nur die Verwendung kritischer Standards, sondern selbst den Erwerb des zu ihrer Bildung notwendigen Wissens sozial wirksam verhinderte. Die Behauptung, daß dieser Druck auf das Leben von

Geist

und

Intellekt

der

Qualifizierung

durch

verschwunden das

ist, bedarf

Bewußtsein,

daß

die

freilich Kräfte

des gnostischen Zeitalters auf der Weltszene noch immer soziale und politische Mächte sind und es noch auf lange Zeit bleiben werden. Das ,Verschwinden" muß als das Faktum verstanden werden,

das die Kriege und Revolutionen unserer Zeit ihre

Autorität ausgezehrt haben. Ihre Konzepte von Mensch, Gesellschaft und Geschichte stehen zu offensichtlich in einem Mißverhältnis zu der Realität, die in den Bereich unse-

24

res empirischen Wissens gerückt ist. Obwohl jene Ideologien zwar noch mächtig sind, üben sie ihre Macht doch nur noch über jene aus, die ihnen nicht den Rücken

gekehrt ha-

ben und nach grünen Weiden Ausschau halten. Wir haben

in der Wissenschaft eine neue Freiheit gewonnen,

und es

ist eine Freude, sie zu gebrauchen. Unsere Reflektionen über den ideologischen Incubus haben uns von der Möglichkeit zur Notwendigkeit unserer Studie über Order and History geführt. Der Mensch ist verpflichtet, die Situation zu verstehen, in der er sich befindet; Teil dieser Situation ist die gesellschaftliche Ordnung, in der wir leben; und diese Ordnung ist heute weltweit geworden.

Diese

weltweite

Ordnung,

ferner,

ist weder

neu

noch einfach, sondern enthält als sozial wirksame Kräfte die Ablagerungen des jahrtausendalten Kampfes um die Wahrheit der Ordnung. Das ist keine Frage der Theorie, sondern eine empirische Tatsache. Zum Beweis könnte man sich auf die Relevanz beziehen, die der Kampf noch weitgehend kosmologisch strukturierter Gesellschaften — wie China und Indien - um die notwendige Anpassung an jene politischen und technologischen Bedingungen hat, die das Werk des Westens sind für unsere eigene Angelegenheit. Ich ziehe es jedoch vor, die Aufmerksamkeit

des Lesers auf

die Analyse des metastatischen Problems im Band „Israel and Revelation" zu lenken (Kap. 13, ὃ 2,2). Er wird auf einen Blick sehen, daß die prophetische Vorstellung von einer Veränderung in der Struktur des Seins dem Glauben unserer Zeit an die Vervollkommnung der Gesellschaft durch

Fortschritt oder auf dem Wege einer kommunistischen Revolution zugrundeliegt. Nicht nur werden dabei die angeblichen Antagonisten als Brüder

schen

im

Geiste

entlarvt,

Abkömmlinge

des

Transfiguration der Welt;

nämlich

als

prophetischen

die späten

gnosti-

Glaubens

an eine

es ist offensichtlich auch von Be-

deutung, die Natur der Erfahrungen zu verstehen, die in den Glaubenshaltungen dieses Typus zum Ausdruck kom-

25

men sowie der Umstände, unter denen sie in der Vergangenheit sich entwickelten und aus denen sie heute ihre Stärke beziehen. Der metastatische Glaube ist eine der gro-

Den Quellen der Unordnung unserer Zeit, vielleicht sogar die wichtigste; und es ist für uns alle eine Frage von Leben

und Tod, das Phänomen zu finden,

bevor

es uns

zu verstehen und Mittel dagegen zerstört.

Wenn

heute

der Zustand

der Wissenschaft die kritische Analyse solcher Phänomene erlaubt, so ist es eindeutig die Pflicht des Gelehrten,

sie um

seiner selbst willen als Mensch durchzuführen und die Ergebnisse seinen Mitmenschen zugänglich zu machen. Order and History sollte in diesem Sinne nicht als ein Versuch verstanden werden, Kuriositáten einer toten Vergangenheit zu erkunden, sondern als eine Untersuchung der Struktur der Ordnung, in der wir gegenwärtig leben. Ich habe von den Heilmitteln gegen die Unordnung der Zeit gesprochen; eines dieser Heilmittel ist die philosophische Untersuchung selbst. Ideologie ist Existenz in Rebellion gegen Gott und den Menschen. In der Sprache der Ordnung Israels ist es die Verletzung des Ersten und des Zehnten Gebots, in den Worten von Aischylos und Platon ist es der nosos, die krankhafte Stórung des Geistes. Philosophie ist die Liebe zum Sein durch die Liebe zum góttlichen Sein als der Quelle seiner Ordnung. Der Logos des Seins ist das

eigentliche Objekt der philosophischen Untersuchung; und

die Suche nach der Wahrheit über die Ordnung des Seins kann ohne eine Analyse der Modi von Existenz in Unwahrheit nicht geführt werden. Die Wahrheit der Ordnung muf gewonnen und in einem unaufhörlichen Kampf gegen den Abfall von ihr verteidigt werden; und die Bewegung zur Wahrheit beginnt mit dem Gewahrwerden des Menschen, daß er sich in existentieller Unwahrheit befindet. In der Philosophie als einer Existenzform sind die diagnostischen und die therapeutischen Funktionen untrennbar eins. Und seitdem Platon in der Unordnung seiner Zeit diese Verbindung

26

entdeckte, blieb die philosophische Untersuchung eines der Mittel zur Schaffung von Inseln der Ordnung in der Unordnung der Zeit. Order and History ist eine philosophi-

sche Untersuchung

betreffend die Ordnung der menschli-

chen Existenz in Gesellschaft und Geschichte. Vielleicht hat sie eine heilende Wirkung - in dem bescheidenen Umfang,

der im leidenschaftlichen Ablauf der Ereignisse der Philosophie gewährt ist.

27

Die 5ymbolisierung der Ordnung Gott

und

Mensch,

Welt

und

Gesellschaft

bilden

eine

ur-

sprüngliche Gemeinschaft des Seins. Die Gemeinschaft mit ihrer Vierer-Struktur ist ein Datum menschlicher Erfahrung — und ist es auch wiederum nicht. Sie ist ein Datum von Erfahrung,

insofern sie dem

Menschen

kraft seiner Partizi-

pation am Geheimnis ihres Seins ist. Sie ist kein Datum von Erfahrung,

insofern

sie nicht

nach

Art

eines

Objektes

der

Aufenwelt gegeben ist, sondern nur in der Perspektive der Partizipation an ihr erkannt werden kann. Die Perspektive der Partizipation muß in der ganzen Fülle ihrer beunruhigenden Natur verstanden werden. Sie

bedeutet nicht, daß der Mensch, mehr oder minder günstig in der Landschaft des Seins plaziert, sich nur umzuschauen

und zu Protokoll zu nehmen braucht, was er sieht, soweit er

sehen kann. Eine derartige Metapher - oder ähnliche Variationen über das Thema Grenzen menschlichen Wissens — würde den paradoxen Charakter der Situation zerstóren. Sie würde auf einen autarken Betrachter deuten, der im Besitz wie im Bewuftsein seiner Fáhigkeiten, der Mittelpunkt eines — wenngleich begrenzten - Seinshorizontes ist. Doch der Mensch ist kein auf sich selbst gestellter Betrachter. Er ist ein Schauspieler, der im Drama des Seins eine Rolle spielt und durch das Faktum seiner Existenz verbunden

steht.

ist,

Es

sie

zu spielen,

ist verwirrend

ohne

genug,

Zufall in einer Situation findet,

zu wissen,

wenn

worin

jemand

sie be-

sich

durch

in der er nicht genau

weiß,

was gespielt wird und wie er sich zu verhalten hat, um nicht

alles zu verderben; doch mit etwas Glück und Geschick wird

er sich herauswinden und in die weniger verwirrende Rou28

tine des Alltags zurückkehren. Die Partizipation am Sein jedoch ist nicht eine Episode im Leben des Menschen, sondern nimmt seine gesamte Existenzin Anspruch, denn seine Partizipation ist seine Existenz selbst. Weder gibt es einen Blickpunkt

erkannt

außerhalb

und

der

Existenz,

planmäßiges

von

Verhalten

dem

aus

ihr

entworfen

Sinn

werden

könnte, noch eine Insel der Seligen, auf die sich der Mensch zurückziehen

kann,

um

sein

Ich wiederzufinden.

Die Rolle

der Existenz muß in der Ungewißheit ihres Sinnes gespielt

werden, als ein Abenteuer der Entscheidung auf der Grenze von Freiheit und Notwendigkeit. Das Spiel ist ebenso unbekannt wie die Rolle. Ja schlimmer noch: der Schauspieler weiß nicht mit Sicherheit, wer er selber ist. An diesem Punkt kann die Metapher des Spiels,

wird

sie nicht

führen.

Die

Metapher

notwendig,

insofern

mit

Vorsicht

verwendet,

ist gerechtfertigt, sie

die

Einsicht

in die

vielleicht

vermittelt,

Irre

sogar

daß

die

Partizipation des Menschen am Sein nicht blind erfolgt, sondern durch sein Bewußtsein erhellt ist. Es gibt eine Erfahrung der Partizipation, eine reflektive Spannung der Existenz, deren Sinnstrahlung sich auffangen läßt in dem Satz: Der Mensch, in seiner Existenz, partizipiert am Sein. Doch

dieser

gißt,

daß

Sinn

Subjekt

verkehrt und

sich in Unsinn,

Prädikat

dieses

wenn

Satzes

man

ver-

Ausdrücke

sind, die eine Spannung der Existenz artikulieren, aber nicht Begriffe sind, die Objekte bezeichnen. Es gibt nicht so etwas wie einen , Menschen", der am ,Sein" partizipiert, so als wáre das Sein ein Unternehmen, von dem er auch ebensogut

Abstand

nehmen

könnte;

vielmehr

gibt

es

ein

„Et-

was",

einen Teil des Seins, fáhig, sich selbst als solchen zu

erfahren und darüber hinaus auch fáhig, Sprache zu benutzen und dieses erfahrende Bewußtsein mit dem Wort ,Mensch" zu belegen. Dieses Nennen beim Namen ist ein fundamentaler Beschwörungsakt, ein Akt des Hervorrufens,

barer

in dem

Partner

dieser

in der

Teil

des

Seins

Gemeinschaft

29

als ein

des

Seins

unterscheid-

konstituiert

wird.

Dennoch,

so

fundamental

rung auch ist - denn

dieser

Akt

der

Beschwö-

er bildet für all das, was der Mensch

im

Laufe der Geschichte über sich lernen kann, die Grundlage — so ist er doch kein Akt der Erkenntnis. Die sokratische Ironie des Nichtwissens ist zum Paradigma für das Wissen um den blinden Fleck im Zentrum alles menschlichen Wissens über den Menschen geworden. Im Zentrum seiner Existenz ist sich der Mensch

selbst unbekannt

denn

Seins,

der

kónnte

Teil

nur

des

dann

voll

der

erkannt

sich

und

muf

selbst

werden,

es bleiben,

Mensch

wenn

nennt,

die Gemein-

schaft des Seins wie auch ihr Drama in der Zeit vollstándig bekannt wären. Die Partnerschaft des Menschen im Sein ist das dem

Wesen

seiner

Ganzen

Kenntnis

des

Wissenden wissen vom

ab,

Existenz, von

Ganzen

dem

und die

dieses

Wesen

Existenz

ein

Teil

ist.

Die

infolge

der

Identitát

des

ist jedoch

mit dem Partner ausgeschlossen, Ganzen

hángt

von

und das Nicht-

schließt wesentliches Wissen

vom Teil

aus. Diese Situation der Unwissenheit hinsichtlich des wesentlichen Kerns der Existenz ist mehr als nur verwirrend:

sie ist zutiefst beunruhigend,

denn

aus der Tiefe

die-

ser letzten Unwissenheit steigt die Existenzangst empor. Die letzte wesentliche Unwissenheit ist freilich keine völlige Unwissenheit. Der Mensch vermag betráchtliches Wissen über die Ordnung des Seins zu gewinnen, und der nicht geringste Teil dieses Wissens ist die Unterscheidung zwischen dem Erkennbaren und dem Unerkennbaren. Zu dieser Leistung kommt es allerdings erst spát in dem lang sich hinziehenden Prozef von Erfahrung und Symbolisierung, die beide Gegenstand der vorliegenden Studie bilden. Die sorge des Menschen über den Sinn seiner Existenz im Feld des Seins bleibt nicht aufgestaut in den Qualen der Angst, sondern vermag sich in der Schaffung von Symbolen Luft zu machen, die das Ziel haben, die Beziehungen und Span-

nungen

zwischen

den

unterscheidbaren

Momenten

des

Seinsfeldes einsichtig zu machen. In den frühen Phasen die-

30

ses Prozesses sind die Symbolisierungen noch erheblich durch eine verwirrende Vielfalt unerforschter Fakten und ungelöster Probleme beeinträchtigt. Weniges ist wirklich über die Erfahrung der Partizipation und die vierfache Struktur im Feld des Seins hinaus klar, und solche partielle Klarheit neigt dazu, eher Verwirrung als Ordnung zu stiften, was notwendigerweise

immer

dann

schiedenartige

unter

zu wenige

klassifiziert

Materialien

werden.

Trotzdem,

selbst

eintritt, wenn in

ver-

Oberbegriffe

der

Verwirrung

dieser frühen Phasen steckt genügend Methode, um einige typische Züge im Symbolisierungsprozeß zu unterscheiden. Der erste dieser typischen Züge ist das Vorherrschen der Partizipationserfahrung. Was der Mensch auch immer sein mag, Strom durch

er weiß, daß er selbst ein Teil des Seins ist. Der große des

Seins,

in

ihn durchfließt,

dem

er

dahinfließt,

ist derselbe

Strom,

während zu dem

dieser

alles

an-

dere gehórt, das in sein Blickfeld treibt. Die Gemeinschaft des Seins wird so intim erfahren, daß die Konsubstantialität der Partner die Getrenntheit der Substanzen in den Hintergrund drängt. Wir bewegen uns in einer verzauberten Gemeinschaft, in der alles, was uns begegnet, Kraft, Willen und Gefühl besitzt, in der Tiere und Pflanzen Menschen und Götter sein können, in der Menschen göttlich sein können und Götter Könige sind, in der der gefiederte Morgenhimmel der Falke Horus ist und Sonne und Mond seine Augen sind, in der die hintergründige Gleichheit des Seins ein Lei-

ter magischer Ströme von göttlicher und teuflischer Kraft ist, die über unterirdische Wege reichbaren

Partner

die auf der Oberfläche

erreichen,

in der

Dinge

dieselben

unerund

doch nicht dieselben sind und sich ineinander verwandeln kónnen. Der zweite typische Zug ist das absorbierende Interesse am Bleiben und Vergehen (das heißt an Dauer und Vergänglichkeit) der Partner in der Gemeinschaft des Seins. Ungeachtet der Konsubstantialitát gibt es die Erfahrung

der gesonderten Existenz im Strom des Seins, und die ver31

schiedenen ihrer

Existenzen

sind unterschieden nach dem

Dauer.

Der

eine

Mensch

hinscheiden,

und

er scheidet

bleibt, dahin,

während während

Grad

andere andere

dablei-

ben. Alle menschlichen Wesen werden von der Gesellschaft, deren

Glieder

sie sind,

vergehen, während

überdauert,

und

die Gesellschaften

die Welt bestehen bleibt. Und die Welt

wiederum wird von den Göttern nicht nur überlebt, sondern ist vielleicht sogar von ihnen geschaffen. Unter diesem Gesichtspunkt weist das Sein Züge einer Hierarchie auf, die von

der ephemeren

Existenz

des Menschen

bis zur

ewigen Dauer der Götter reicht. Die Erfahrung dieser Hierarchie liefert ein wichtiges Stück des Wissens über die Ordnung des Seins, und dieses Wissen vermag seinerseits zu einer ordnenden Kraft der menschlichen Existenz zu werden und wird es auch. Denn die dauerhafteren Existenzen, die auch die umfassenderen

sind,

bilden kraft ihrer

Struk-

tur den Rahmen,

in den sich die niedrigeren Existenzen ein-

zupassen

sofern

haben,

sie nicht bereit sind,

den

Preis des

Aussterbens zu zahlen. Ein erster Bedeutungsschimmer fallt insofern auf die Rolle des Menschen im Drama des Seins,

als

der

Erfolg

des

Darstellers

von

seiner

Einstim-

mung auf die dauerhafteren und umfassenderen Ordnungen von Gesellschaft, Welt und Gott abhängt. Diese Einstimmung ist jedoch mehr als bloß äußerliche Anpassung an die Notwendigkeiten der Existenz, mehr als ein geplan-

tes Einpassen

in eine Ordnung,

,über"

die wir Bescheid

wissen. ,Einstimmung" verweist auf eine Anpassung bis hinab auf die Ebene der Partizipation am Sein. Was dauert und vergeht, ist allerdings die Existenz, aber da Existenz Partnerschaft am Sein ist, offenbaren Dauer und Vergehen etwas vom Sein. Menschliche Existenz ist nur von kurzer Dauer,

wenn

doch

das

Sein,

die Existenz

an

endet.

dem

sie teilhat,

Existierend

hórt

erfahren

nicht

auf,

wir Sterb-

lichkeit; seiend erfahren wir etwas, das sich lediglich durch

die negative

Metapher

der Unsterblichkeit

symbolisieren

läßt. In unserem unterscheidbaren Abgegrenztsein als exi32

stierende Wesen

erfahren wir den Tod; in unserer Partner-

schaft am Sein erfahren wir das Leben. Doch hier stoßen wir schon wieder an die Grenzen, die durch unsere Perspektive der Partizipation gesetzt sind, denn Dauer und Vergehen sind Kategorien des Seins bzw. der Existenz, wie sie uns aus der Perspektive unserer Existenz erscheinen; sobald

wir

sie

zu

objektivieren

suchen,

verlieren

wir

das

Wenige, das wir haben. Versuchen wir das Mysterium des Vergehens zu erforschen, so als wáre der Tod ein Gegenstand,

so

finden

wir

nichts

als

das

Nichts,

das

uns

vom

Grund unserer Existenz aus angstvoll erschauern läßt. Versuchen wir, das Mysterium

der Dauer

zu erforschen,

so als

wäre das Leben ein Gegenstand, so finden wir kein ewiges Leben, sondern verlieren uns in der Bildwelt von unsterblichen Góttern und paradiesischer oder olympischer Exi-

stenz. Von diesen Erkundungsvorstößen fallen wir zurück in

das

Bewußtsein

Immerhin,

unserer

wir , wissen"

essentiellen

etwas. Wir

Unwissenheit.

erfahren unsere eigene

Dauer in der Existenz, vergánglich wie sie ist, und ebenso die Hierarchie der Dauer; und in diesen Erfahrungen wird Existenz transparent und offenbart etwas vom Mysterium des Seins, von dem Mysterium, an dem sie partizipiert, ohne freilich zu wissen, was es ist. Einstimmung wird deshalb

ein Zustand

hört,

was

der

dauerhaft

Existenz ist im

sein,

Sein,

in dem

in dem

diese

sie sich

auf

das

eine

Be-

wußtseinsspannung für ihre Teiloffenbarungen in den Ordnungen von Gesellschaft und Welt erhält, in dem sie aufmerksam den stillen Stimmen des Gewissens und der Gnade in menschlicher Existenz selbst lauscht. Wir werden in die Existenz das Warum

aufgenommen

und

das

Wie

und

aus

zu kennen,

ihr entlassen, aber

wáhrend

ohne wir

in

ihr sind, wissen wir, daß wir aus dem Sein stammen, zu dem

wir zurückkehren. Aus diesem Wissen erwächst die Erfahrung der Verpflichtung, denn wenn dieses Sein, das unserer teilweisen

Führung

in der

lange sie dauert und vergeht,

Existenz

anvertraut

ist, so-

auch durch Einstimmung

33

ge-

wonnen

werden

kann,

so

kann

man

es

doch

durch

ihr

schuldhaftes Verfehlen verlieren. Die Angst der Existenz ist daher auch mehr als eine bloße Furcht vor dem Tode im Sinne

biologischen

Schauder

davor,

Auslöschens;

mit

dem

Ende

sie

ist

der

viel

der

Existenz

tiefere

auch

den

schmalen Halt in der Partnerschaft des Seins zu verlieren, den wir als den unsrigen erfahren, solange die Existenz andauert. In der Existenz spielen wir unsere Rolle innerhalb

des göttlichen Seins, das in die vergehende Existenz

ein-

geht, um das prekäre Sein für die Ewigkeit zu retten.

Der dritte typische Zug im Symbolisierungsprozeß ist der Versuch,

die

im

wesentlichen

unerkennbare

Ordnung

des

Seins soweit als möglich durch die Schaffung von Symbolen verstehbar

zu machen,

von

Symbolen,

die das Unbekannte

durch Analogie mit dem wirklich oder nur vermutlich Gewußten deuten. Diese Versuche haben eine Geschichte insofern als die reflektierende Analyse, dem Druck der Erfahrung nachgebend, Symbole erzeugt, die ihrer Aufgabe zunehmend besser gerecht werden. Kompakte Einheiten des Erkennbaren werden in ihre Komponenten aufgespalten und das Erkennbare selbst wird nach und nach von dem essentiell Unerkennbaren geschieden. In diesem Sinne ist die Geschichte der Symbolisierung ein Fortschreiten von kompakten zu differenzierten Erfahrungen und Symbolen. Da dieser Prozeß das Hauptthema der gesamten folgenden Studie ist, wollen wir an dieser Stelle nur zwei grundlegende Symbolisierungsformen erwähnen, die große geschichtliche Perioden charakterisieren. Die eine ist die Symbolisierung der Gesellschaft und ihrer Ordnung als ein Analogon des Kosmos und dessen Ordnung; die andere ist die Symbolisierung der gesellschaftlichen Ordnung durch die Analogie mit der Ordnung einer menschlichen Existenz, die gut auf das Sein eingestimmt ist. In der ersten Form wird die Gesellschaft als ein Mikrokosmos symbolisiert, in der zweiten als ein Makroanthropos.

34

Die erstgenannte Form ist auch zeitlich die erste. Warum dies so ist, bedarf kaum näherer Erklärung. Himmel und Erde

sind

Ordnung,

in

so

in die

eindrucksvoller sich

menschliche

Weise

die

Existenz,

umfassende soll

sie

über-

leben, einpassen muß, daß der überwältigend mächtige und sichtbare Partner in der Gemeinschaft des Seins unvermeid-

lich seine Ordnung als das Modell aller Ordnung nahelegt,

einschließlich der Ordnung des Menschen und der Gesellschaft. Auf jeden Fall symbolisieren die alten Zivilisationen des Nahen handelt

Östens,

werden,

ein kosmisches

die im ersten Teil dieser Studie be-

die politisch Analogon,als

organisierte ein Kosmion,

Gesellschaft

als

indem sie vege-

tativen Rhythmen und Umwälzungen der Himmelskórper eine Modellfunktion für die Struktur- und Verfahrensordnung der Gesellschaft zuteilen. Das zweite Symbol bzw. die zweite Form — Gesellschaft als Makroanthropos — taucht gewöhnlich dann auf, wenn kosmologisch symbolisierte Reiche zusammenbrechen und ihr Untergang das Vertrauen in die kosmische Ordnung mitreißt. Trotz ihrer rituellen Einordnung in die kosmische Ordnung

ist

der Kosmos der

die

Gesellschaft

zusammengebrochen;

wenn

also nicht die Quelle dauerhafter Ordnung

menschlichen

Existenz

ist, wo

ist die Quelle

der

in

Ord-

nung zu finden? Angesichts dieser Frage tendiert die Symbolisierung dahin, sich auf etwas Beständigeres als die sichtbar existierende Welt zu verlagern - nämlich auf das unsichtbar existierende Sein jenseits allen greifbar existierenden Seins. Dieses unsichtbare göttliche Sein, das alles Sein in der Welt und die Welt selbst transzendiert, kann nur als eine Bewegung in der Seele des Menschen erfahren werden; und daher wird die Seele, sofern sie durch Einstimmung

auf den unsichtbaren

der Ordnung,

das Symbole

Gott

geordnet

zur Ordnung

ist, zum

Modell

der Gesellschaft in

Analogie zu ihrem Abbild liefert. Der Übergang zur makroanthropen Symbolisierung wird sichtbar in der Diffe-

renzierung von Philosophie und Religion aus den voraus35

gehenden empirisch obachtet

kompakteren Symbolisierungsformen und kann als ein Ereignis in jener historischen Phase bewerden,

die Toynbee

als die

,Zeit

der Unruhen"

bezeichnet hat. In Ägypten entstand die Osiris-Religiosität in der Periode des sozialen Zusammenbruchs zwischen dem Alten und dem Mittleren Reich. Während der Auflösung des feudalen China tauchten philosophische Schulen auf, insbesondere die von Konfuzius und Lao-tzu. Die kriegerische Periode vor der Gründung des Maurya-Reiches war durch das Erscheinen des Buddha und des Jainismus gekennzeichnet.

Als

die

Welt

der

griechischen

Polis

zerfiel,

traten die Philosophen auf, und die späteren Unruhen in der hellenistischen Welt waren geprägt durch die Entstehung des Christentums. Es wäre allerdings unangebracht, dieses typische Zusammentreffen zu einem historischen ,Gesetz"

zu verallgemeinern,

denn

in den

Details

gäbe

es

Schwierigkeiten. Das Fehlen einer solchen Änderung beim Zusammenbruch der babylonischen Gesellschaft (soweit die spärlichen Quellen dieses negative Urteil zulassen), deutet ebenso

an,

daß

auch

ein

solches

die Tatsache,

,Gesetz" daß

Israel

„Ausnahmen” scheinbar

hätte;

die zweite

Form erreichte, ohne daß ein Zusammenhang mit einem spezifisch institutionellen Zusammenbruch und einer darauf folgenden Periode der Unruhe feststellbar wäre. Ein weiterer typischer Zug in den frühen Stadien des Symbolisierungsprozesses ist das menschliche Bewußtsein vom analogischen Charakter seiner Symbole. Dieses Bewuftsein manifestiert sich auf verschiedene

Arten,

die den

verschiedenen Problemen der Erkenntnis durch Symbole entsprechen. Obwohl die Seinsordnung im Bereich der es-

sentiellen Unwissenheit verbleibt, kann sie analogisch doch

durch mehrere Erfahrungen einer Teilordnung in der Existenz symbolisiert werden. Der Rhythmus pflanzlichen und tierischen Lebens, die Folge der Jahreszeiten, die Umläufe der Sonne, des Mondes

und der Sternbilder kónnen

36

als Mo-

delle für die Symbolisierung gesellschaftlicher Ordnung dienen. Die gesellschaftliche Ordnung kann als ein Modell zur Symbolisierung der Ordnung im Bereich der himmlischen Mächte dienen. Alle diese Ordnungen können als Ordnungssymbole im Bereich der göttlichen Kräfte fungieren. Und die Symbolisierungen göttlicher Ordnung können ihrerseits wieder für die analogische Interpretation existentieller Ordnungen innerhalb der Welt verwendet werden. In diesem Netz wechselseitiger Erhellung werden unvermeidlich konkurrierende und widersprechende Symbole auftreten. Solche Konkurrenzen und Konflikte werden über lange Zeiträume hinweg von den Menschen, die sie produzieren, mit Gleichmut hingenommen; Widersprüche erzeugen keinerlei Mißtrauen gegenüber der Wahrheit der Symbole. Wenn irgendetwas diese frühe Epoche der Symbolisierung

der

charakterisiert,

Formulierung

der

so

ist

Wahrheit,

es

die

der

Pluralismus

großzügige

in

Aner-

kennung und Toleranz gegenüber rivalisierenden Symbolisierungen derselben Wahrheit. Die Selbstinterpretation eines frühen Reiches als des einen und einzig wahren Repräsentanten kosmischer Ordnung auf Erden wird nicht im geringsten durch die Existenz von Nachbarreichen erschüttert, die denselben Interpretationstyp für sich in Anspruch nehmen. Die Repräsentation einer höchsten Gottheit durch eine besondere Form und Bezeichnung in einem mesopotamischen Stadtstaat wird durch eine verschiedene Repräsentation im benachbarten Stadtstaat nicht beeinträchtigt. Und die Verschmelzung von verschiedenen

Repräsentationen,

die eintritt, wenn

ein Reich meh-

rere vormals unabhängige Stadtstaaten vereint, der Wechsel von einer Repräsentation zur anderen, wenn die Dyna-

stien einander Mythen

von

ablösen,

dem

einen

die Übertragung

Gott

auf den

kosmogonischer

anderen

und

so fort,

all das zeigt, daß die Verschiedenheit der Symbolisierungen von einem lebendigen Bewußtsein von der Gleichheit jener Wahrheit

begleitet. wird, auf die sich der Mensch

37

mit

Hilfe seiner vielfältigen Symbole bezieht. Diese frühe Toleranz reicht bis weit in die griechisch-römische Periode hinein und fand ihren großartigen Ausdruck im Angriff des Celsus

auf

das

Christentum,

als

den

Störer

des

Friedens

unter den Göttern. Die

frühe

Toleranz

entspringt

dem

Bewußtsein,

Seinsordnung analogisch auf mehr als nur repräsentiert werden kann. Jedes konkrete wahr,

insofern

es

die

Wahrheit

anvisiert,

daß

die

eine Weise Symbol ist

aber

keines

ist

vollständig wahr, insofern die Wahrheit über das Sein sich wesentlich dem menschlichen Zugriff entzieht. In diesem Zwielicht der Wahrheit gedeiht eine reiche Flora -- üppig, verwirrend,

erschreckend und

bezaubernd

- von

Erzählun-

gen über Götter und Dämonen und ihre ordnenden wie zerstörenden Eingriffe in das Leben des Menschen und der Gesellschaft. Da gibt es eine großartige Freiheit an Variation und Ausarbeitung grundlegender Themen, jeder neue Zweig und jede neue Sprosse fügt dem großen Werk der Analogie, das die unsichtbare Wahrheit umgibt, eine weitere Facette hinzu; es ist die Freiheit, an der - auf der Ebene künstlerischen Schaffens - noch die Epen Homers, die Tragödie des fünften Jahrhunderts v. Chr. und die mythenbildenden Dichtungen Platons teilhaben. Diese Toleranz wird freilich an ihre Grenzen stoßen, wenn das Bewußtsein des analogischen Charakters der Symbolisierung von dem Problem angezogen wird, in welchem Maße die Symbole ihrem Zweck entsprechen die Seinsordnung transparent zu machen. Der Symbole sind viele, doch das Sein ist nur eines. Daß es eine Mehrzahl von Symbolen gibt, kann daher als eine Inadäquanz erfahren werden; und so mag man versuchen, diese Vielfalt in eine rationale hierarchische Ordnung zu bringen. In den kosmologischen Reichen nehmen diese Versuche bezeichnenderweise die Form an, eine Viel-

falt oberster lokaler Gottheiten als Aspekte des einen höchsten Reichsgottes zu interpretieren. Doch istpolitischer Summodeismus nicht die einzige Form der Rationalisierung.

38

Die Versuche können auch die mehr technische Form einer theogonischen

Spekulation

annehmen,

nach

der

die

ande-

ren Götter durch den einen wahren höchsten Gott erschaffen werden, wie zum Beispiel in der Theologie von Memphis, die wahrscheinlich ins frühe dritte Jahrtausend v. Chr. zu datieren ist. Solche frühen spekulativen Ausbrüche in monotheistischer

Richtung

klaren

Fortschritt

finden

wollen,

die

nicht

als „Vorläufer”

Historikern,

Polytheismus

als anachronistisch

Tatsachen

Monotheismus

vom

müssen

einfach

zum

eines späteren,

einen

Monotheismus

erscheinen;

ignorieren

die

da sich aber müssen

sie

legitimeren Auftretens

des

angesehen werden,

wenn

lassen,

nicht gar, als eine

noch weiterreichende Bemühung von Rationalisierung, nach einem Beweis für die geschichtliche Kontinuität zwischen dem israelischen Monotheismus und Echnaton oder zwischen der Logosphilosophie und der Theologie von Memphis gefahndet wird. Die frühen Ausbrüche überraschen jedoch weniger und die Suche nach Kontinuität wird weniger dringlich erscheinen, wenn wir uns klarmachen, daß die strikte Trennung zwischen Polytheismus und Monotheismus, nahegelegt durch die logische Unvereinbarkeit des Einen und des Vielen, in Wirklichkeit gar nicht existiert. Denn das freie Spiel der Phantasie mit einer Vielzahl von Symbolen ist nur darum möglich, weil die Wahl der einen oder anderen Analogie im Verhältnis der einen Wahrheit des Seins, auf die sie alle sich beziehen, als mehr oder weniger irrelevant empfunden wird. In jedem Polytheismus

gibt es einen

latenten Monotheismus,

der zu

jeder Zeit -- mit oder ohne „Vorläufer” — aktiviert werden kann, wenn der Druck einer historischen Situation auf einen sensitiven und aktiven Geist trifft. Mit dem politischen Summodeismus und der theogonischen Spekulation erreichen wir die Toleranzgrenze hinsichtlich rivalisierender Symbolisierungen. Dennoch

braucht auch jetzt noch kein ernsthafter Bruch aufzutreten. 39

Die theogonische Spekulation eines Hesiod war nicht der Beginn einer neuen religiösen Bewegung in Opposition zur polytheistischen Kultur Griechenlands, und der römische

Summodeismus

konnte

durch Konstantin sogar das Chri-

stentum in sein Symbolisierungssystem hineinziehen. Der Bruch mit der frühen Toleranz resultiert nicht aus rationaler Reflektion über die Inadäquanz pluralistischer Symbolisierung (obgleich eine derartige Reflexion erfahrungsgemäß ein erster Schritt in Richtung auf radikalere Unternehmungen

sein

kann),

sondern

aus

der

tiefen

Einsicht,

daß keine Symbolisierung durch Analoga existentieller Ordnung in der Welt auch nur andeutungsweise dem göttlichen Partner gemäß ist, von dem die Seinsgemeinschatt und ihre Ordnung abhängt. Nur wenn die Kluft in der Seinshierarchie, welche die göttliche von der irdischen Existenz

trennt,

empfunden

wird,

nur wenn

die erschaffende,

ordnende und erhaltende Quelle des Seins in ihrer absoluten Transzendenz über das greifbar existente Sein hinaus erfahren wird, wird jegliche analogische Symbolisierung als wesentlich inadäquat, ja geradezu unziemlich verstanden werden. Die Gemäßheit der Symbole -- um mit Xenophanes zu sprechen - wird dann ein dringendes Anliegen und jene bis dahin erträglicheSymbolisierungsfreiheit wird unerträglich werden, insofern als sie ein unziemliches Nachgeben, eine Verwirrung hinsichtlich der Seinsordnung verrät und tiefer noch, geradezu ein Verrat am Sein selbst ist, weil

einem

die richtige

Fall vom

Intoleranz, und

wahren Schauder

gie"

zu

Sein ins Nichts

die nicht

schwächeren

Gott

den

länger

Göttern

falschen

veranlaßte

schaffen

Einstimmung

und

Platon

fehlt. Der

gibt den Anstoß

bereit zu

Göttern

damit

ist, zwischen

unterscheiden, dazu,

Schauder

zu einer stärkeren

sondern

entgegenstellt. den

zwischen

Terminus

wahren

vor

den

Dieser

,Theolo-

und

fal-

schen Typen der Theologie zu unterscheiden und die wahre Ordnung der Gesellschaft von der Herrschaft solcher Menschen abhängig zu machen, deren richtige Einstimmung

40

auf das göttliche Sein in ihrer wahren Theologie offenbar wird. Wenn die Unziemlichkeit der Symbole in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit tritt, scheint sich auf den ersten Blick nicht viel im menschlichen Verständnis der Ordnung von

Sein

wurde

und

durch

Existenz

geändert

zu haben.

die differenzierende

Gewiß,

Betonung

einiges

des Bereichs

der essentiellen Unwissenheit gewonnen, wie auch durch die konsequente Unterscheidung zwischen erkennbarer immanenter und unerkennbarer transzendenter Realität, zwischen weltlicher und göttlicher Existenz; ein gewisser Eifer beim Schutz der neuen Einsicht vor dem Rückfall in erneutes Akzeptieren von Symbolen, die im Rückblick als illusionäre

Wahrheit

erscheinen,

könnte

als

verzeihlich

gelten. Dennoch kann der Mensch der essentiellen Unwissenheit durch Intoleranz gegenüber unziemlichen Symbolisierungen nicht entrinnen; ebensowenig gelingt es ihm, den Perspektivismus der Partizipation dadurch zu überwinden, daß er das Wesen dieser Symbolisierung versteht. Die tiefe Einsicht in die Unziemlichkeit der Symbole scheint sich in eine vielleicht übertriebene Betonung dessen aufzulösen, was man immer schon wußte und nur darum nicht stärker beachtete,

weil sich dadurch,

daß man

sich darüber

aufregt,

nichts an der Sache ändert. Und doch hat sich etwas geändert, nicht nur in den Methoden der Symbolisierung, sondern auch in der Ordnung des Seins und der Existenz selbst. Existenz ist Partnerschaft in der Gemeinschaft des Seins; und die Entdeckung, daß die

Partizipation unvollkommen ist, daß die Existenz mangels richtiger Einstimmung delt

wurde,

das

auf die Seinsordnung

Gewahrwerden

der

Gefahr

falsch behaneines

Abfalls

vom Sein löst in der Tat einen Schauder aus, der eine rad:kale Neuorientierung der Existenz erzwingt. Die Symbole verlieren nicht nur den Zauber ihrer Transparenz für die unsichtbare Ordnung und werden undurchsichtig, es ver-

blassen auch die Teilordnungen 41

der weltlichen

Existenz,

die bis dahin die Analogien für die umfassende

Seinsord-

nung geliefert hatten. Nicht nur werden die unziemlichen Symbole zurückgewiesen, der Mensch wendet sich auch von Welt und Gesellschaft als Quellen irreführender Analogien ab. Er wird die Erfahrung eines Sich-Umkehrens

machen, der platonischen periagoge, einer Umwendung zur wahren

Quelle

des

Seins.

Und

diese

Umkehr,

diese

Um-

wendung ergibt nicht nur ein Mehr an Wissen um die Ord-

nung des Seins - die Ordnung Denn

die Partizipation am

sie emphatisch

selbst ist anders geworden.

Sein ändert

in Partnerschaft

ihre Struktur,

zu Gott

wenn

tritt, während

die

Partizipation am weltlichen Sein auf den zweiten Platz absinkt. Die vollkommene Einstimmung auf das Sein durch Umwendung ist nicht eine Steigerung auf dem bisherigen Niveau,

sondern

wendung

eine

ein qualitativer

Gesellschaft

Sprung.

befällt,

wird

Wenn die

diese Um-

konvertierte

Gemeinschaft sich als verschieden von allen anderen Gesellschaften erfahren, die diesen Sprung nicht vollzogen haben. Ferner wird die Umwendung nicht als das Ergebnis menschlichen

Antwort

Handelns

erfahren,

auf eine Offenbarung

Akt der Gnade,

eine Erwáhlung

sondern

als Passion,

góttlichen Seins, zu ausdrücklicher

als

auf einen Partner-

schaft mit Gott. Die Gemeinschaft wird — wie im Falle Israel - ein auserwáhltes Volk werden, ein besonderes Volk, ein Volk Gottes. Die neue Gemeinschaft erzeugt damit einen besonderen Symbolismus, um ihre Besonderheit auszudrücken,

und dieser Symbolismus

kann

von nun

an dazu

verwendet werden, das neue strukturelle Element im Feld von Gesellschaften in historischer Existenz unterschiedlich herauszuheben. Sind die Unterschiede stárker entwickelt, wie etwa bei Augustinus, dann wird die Geschichte Israels zu einer Phase in der historia sacra werden,

in der Kirchen-

geschichte, als unterschieden von jener Profangeschichte, in der Reiche entstehen und vergehen. Infolgedessen enthebt die ausdrückliche Partnerschaft mit Gott eine Gesellschaft der Ebene der profanen Existenz und konsti-

42

tuiert sie als Repräsentantin der civitas Dei in historischer Existenz. Es hat also tatsächlich eine Veränderung im Sein stattgefunden - mit Konsequenzen für die Ordnung der Existenz. Nichtsdestoweniger ist der Sprung aufwärts im Sein kein Sprung, der über die Existenz hinaustrágt. Die ausdrückliche Partnerschaft mit Gott hebt keineswegs die Partnerschaft in der Gemeinschaft

des

Seins

auf, die nach

wie vor

das Sein in weltlicher Existenz einschließt. Sofern Mensch und Gesellschaft jenen Halt im Sein bewahren wollen, der erst den Sprung in die emphatische Partnerschaft ermóglicht, müssen sie der Ordnung der weltlichen Existenz angepaßt bleiben. Daher gibt es auch kein Zeitalter der Kirche, das auf der Ebene der kompakteren Einstimmung auf das Sein einem Zeitalter der Gesellschaft folgen würde. Stattdessen entwickeln sich Spannungen, Reibungen und Balancen zwischen den beiden Ebenen der Einstimmung, eine dualistische ren

Struktur

ausdrückt,

der

etwa

von

Existenz, theologia

die sich civilis

in Symbolpaaund

theologia

supranaturalis, von temporaler und spiritualer Macht, von säkularem Staat und der Kirche. Die Intoleranz gegenüber unziemlicher Symbolisierung löst dieses neue Problem nicht, und die Liebe zum Sein, von

der die Intoleranz inspiriert wird, muß mit den Bedingungen der Existenz einen Kompromiß schließen. Diese Bereitschaft zum Kompromiß zeigt sich im Alterswerk Platons, wo seine Intoleranz gegenüber unziemlicher Symbolisierung,

die in seinen

geprágt wiß,

war,

frühen und

mittleren Jahren

eine bemerkenswerte

die Einsicht in die Umwendung,

das MaD

des Menschen

Wandlung das

stark auserfáhrt.

Prinzip,

daß

ist, wird — weit entfernt davon,

fáhrdet zu werden - immer

kraftvoller herausgestellt,

GeGott geaber

die Formulierung ist vorsichtiger geworden und verbirgt sich tiefer hinter den Schleiern des Mythos. Er ist sich dessen bewußt, daß die neue Wahrheit vom Sein die alte Wahrheit

nicht ersetzt, sondern ergänzt. Die Nomoi

43

stellen

eine Polis vor, die als ein kosmisches Analogon gestaltet ist, möglicherweise unter dem Einfluß der politischen Kultur

des

Orients;

und

nur

soviel

von

der

neuen

Wahrheit

wird aufgenommen, als es das existentielle Gefäß zu halten vermag, ohne zu brechen. Darüber hinaus ist da ein neues Gefühl dafür, daß ein Angriff auf die unziemliche Symbolisierung der Ordnung mit dem Vertrauen auf die Analogien die Ordnung selbst zerstören könnte, daß es vielleicht besser

ist,

sehen,

die und

Ordnung Intoleranz,

Wahrheit daß

des

eine

Seins

verdunkelt

als

unvollkommene

der

Unordnung

inspiriert durch die Liebe

überhaupt

nicht

Einstimmung

vorzuziehen zum

zu

auf die

ist. Die

Sein, wird

durch

eine neue Toleranz ausbalanciert, die von der Liebe zur Existenz inspiriert ist und von Respekt vor den gewundenen Wegen, auf denen der Mensch sich geschichtlich der wahren Ordnung des Seins nähert. In den Epinomis spricht Platon das letzte Wort seiner Weisheit — daß jeder Mythos seine Wahrheit hat.

44

Menschheit und Geschichte Wenn

unsere Studie über Ordnung

sem Buch von

Israel zu Hellas

und Geschichte in die-

fortschreitet, so schreitet sie

doch nicht fort in der Zeit. Die hellenische Erfahrung von Gott als dem unsichtbaren Maß des Menschen steht nicht im Gefolge der israelitischen Erfahrung eines Gottes, der sich Moses aus dem Dornbusch und vom Berge Sinai seinem Volk offenbart; noch ist sie ein über diese Offenbarung hinausreichender intelligibler Fortschritt in dem Sinne, in dem jede dieser beiden Erfahrungen eine neue Wahrheit über die Seinsordnung, über die kompakte Wahrheit des Mythos hinaus, differenziert. Der Seinssprung, das epochale Ereignis,

das

die

Kompaktheit

des

frühen

kosmologischen

Mythos bricht und die Ordnung des Menschen unmittelbar unter Gott stellt, ereignet sich — dies muß anerkannt werden — zweimal in der Geschichte der Menschheit, ungefähr zur gleichen Zeit, im Nahen Osten und in den benachbarten

Zivilisationen der Ägäis. Zwar laufen beide Ereignisse zeitlich parallel und haben die Opposition zum Mythos miteinander

gemein,

doch sind sie voneinander

unabhängig;

und

die beiden Erfahrungen unterscheiden sich von ihrem Inhalt her so grundlegend voneinander, daß sie sich in den zwei verschiedenen Symboliken der Offenbarung und der Philosophie artikulieren. Vergleichbare Brüche mit dem Mythos,

ebenfalls von unterschiedlicher Beschaffenheit,

er-

eigneten sich zudem gleichzeitig im Indien des Buddha und

im China des Konfuzius und des Lao-tzu.

Diese

vielfachen

und

parallel

komplizieren die Probleme

verlaufenden

der Beziehungen

Ereignisse

zwischen den

Ordnungen konkreter Gesellschaften und der Ordnung der Menschheit,

die

in

jedem

dieser

einzelnen

Sprünge

ent-

stehen; und sie werfen neue Probleme auf, die in den ge45

sonderten Studien über israelitische und hellenische Ordnung nicht akut werden. Einige Betrachtungen über diese Klasse von Problemen sind hier als Einführung in den hellenischen Bruch mit dem Mythos am Platze. Das primäre Feld der Ordnung ist die einzelne Gesellschaft menschlicher Wesen, die sich für Aktionen zum Zweck der Selbstbehauptung organisiert. Wäre die menschliche Art jedoch nichts anderes als eine Vielfalt solcher Agglomerate, denen alle wie in den Insektenstaaten unter dem Zwang des Instinkts demselben Ordnungstyp zugehören, dann gäbe es keine Geschichte. Menschliche Existenz in Gesellschaft hat Geschichte,

weil sie über eine Dimension

des

Geistes und der Freiheit jenseits bloßer animalischer Existenz verfügt, weil soziale Ordnung eine Grundeinstimmung des Menschen in die Ordnung des Seins darstellt und weil diese Ordnung vom Menschen verstanden und in der

Gesellschaft mit zunehmender Annäherung an ihre Wahr-

heit realisiert werden kann. Jede Gesellschaft ist zum Überleben in der Welt organisiert, ebenso aber auch zur Partnerschaft in der Ordnung des Seins, die ihren Ursprung im welttranszendenten göttlichen Sein hat; sie muß mit dem Problem ihrer pragmatischen Existenz fertigwerden, sich aber zugleich auch um die Wahrheit ihrer eigenen Ordnung kümmern. Dieses Ringen um die Wahrheit der Ordnung ist die Substanz der Geschichte; und insofern Annäherungen an die Wahrheit tatsächlich von den Gesellschaften in ihrer zeitlichen Folge erzielt werden, transzendiert die einzelne Gesellschaft sich selbst und wird zum Partner im gemeinsamen Bemühen der Menschheit. Jenseits des primären Feldes

der

Ordnung

erstreckt

sich

ein Sekundärfeld,

der

Zu-

kunft gegenüber offen, in dem die Menschheit als das Subjekt der Ordnung in der Geschichte konstituiert wird. Die Menschheit ist daher weder eine bloße Spezies im biologischen Sinne, noch sind die einzelnen Gesellschaften nur Individuen der Gattung „menschliche Gesellschaft". Wäh-

46

rend die Gesellschaften und ihre Ordnungen Gattungsqualitäten besitzen, durch die sie als solche erkennbar sind, bleiben diese Qualitäten doch unentwirrbar verwoben mit

den

singularen

Qualitäten,

die

die

ihres Status im Geschichtsprozeß, am

Entfalten

einer

Ordnung

Gesellschaften

kraft

kraft ihrer Partizipation

besitzen,

die

die Menschheit

als etwas die Spezies Übersteigendes offenbart. Die Natur des Menschen ist beides: generisch und singular. Die generisch-singulare Natur des Menschen ist nicht in gleicher Weise der Analyse zugänglich wie das Wesen einer finiten pflanzlichen oder tierischen Spezies. Zum einen, weil sich die Geschichte der Menschheit,

in der diese

Natur sich entfaltet, unwißbar in eine unbestimmte Zukunft erstreckt. Geschichte hat keinen wißbaren Sinn (eidos, Wesen),

und aus demselben

Unerkennbarem ist sogar möglich

das, ist,

ausdrücklich dem

in der Natur

was

über

eine

keineswegs

bekannt.

der Mensch

Grunde

des

verbleibt ein Rest von

Menschen.

menschliche

zu

allen

Denn

Zeiten

Geschichte

seine eigene

Natur

Zum

andern

Natur

zu wissen

allen

Menschen

ist der Prozeß,

in

artikuliert; und weder

die Dimension noch die Begrenzungen des Menschen sind explizit bekannt, solange sie nicht erfahren wurden und die Erfahrung nicht die Ordnung menschlicher Existenz artikuliert hat. Das gilt besonders für die historische Dimension der menschlichen Natur. Obwohl sie eine wesentliche

Komponente

des

Menschen

ihre Präsenz erst mit dem Nur wenn der Mensch von

darstellt,

erhebt

sich

Seinssprung ins Bewußtsein. der Wahrheit göttlich kosmi-

scher Ordnung zur differenzierten Erfahrung transzendent-

göttlicher Ordnung voranschreitet, erreicht die Ordnung menschlicher Existenz in der Gesellschaft die Helligkeit bewußt historischer Form - wie etwa im Fall des Auserwählten Volkes durch das Mosaische Antworten auf die Offenbarung. Die eben umrissene anthropologische und epistemologi-

sche Situation ist die abgründige Quelle der Schwierigkei47

ten für eine Philosophie der Geschichte. Denn die Menschheit, von der so einfach angenommen wird, sie habe Ge-

schichte, ist keineswegs

ein Objekt finiter Erfahrung.

So-

viel wir auch über Menschheit und Geschichte reden, so als

waren sie Objekte der keit nur die konkreten glieder sich kraft des erfahren. Wenn solch über die Seinsordnung Abfolge

menschlicher

Wissenschaft — es sind in WirklichGesellschaften gegeben, deren MitSeinssprungs in historischer Form ein Zentrum, erhellt von Wahrheit und ihrem Ursprung in Gott, in der Gesellschaften

entsteht,

dann

strómt

das Licht dieser Entdeckungen auch auf jene Abfolge zurück und verwandelt sie in die Geschichte der Menschheit,

in der

der Seinssprung stattgefunden hat. Die Wahrheit ist gewiD keine Illusion; und die rückblickende Entdeckung einer Geschichte der Menschheit ist es ebensowenig. Akzeptiert jedoch der Philosoph

die Wahrheit,

und

er tut dies, wenn

er

Geschichte und ihre Ordnung zum Gegenstand seiner Untersuchung wählt, dann muß er auch die geistigen Mysterien und theoretischen Probleme zur Kenntnis nehmen, die mit den phänomenalen Manifestationen der menschlichen Natur, gattungsbestimmt und singular wie sie ist, entstehen. Vor allem aber muß er die Phänomene selbst zur Kenntnis nehmen. Es sind hauptsächlich vier Phänomene, die Schwierigkeiten verursachen: (1) Ereignet sich der Seinssprung, so verwandelt er die Abfolge zeitlich vorangehender Gesellschaften in eine Vergangenheit der Menschheit. (2) Während der Seinssprung eine neue Wahrheit über die Ordnung gewinnt, gewinnt er weder die ganze Wahrheit, noch errichtet er eine endgültige Ordnung für die Menschheit. Das Ringen um die Wahrheit der Ordnung setzt sich auf der neuen historischen Ebene fort. Wiederholungen des Seinssprungs korrigieren die anfángliche Einsicht und ergänzen sie durch neue Entdeckungen;

und

die

Ordnung

menschlicher

48

Existenz,

wie

tief

die neue

Wahrheit sie auch beeinflussen

mag,

bleibt

dennoch die Ordnung einer Vielzahl konkreter Gesell-

schaften. Mit der Entdeckung ihrer Vergangenheit hat die Menschheit nicht etwa das Ende ihrer Geschichte erreicht, sondern

kunft

bewußt

nung

des

ist sich des

offenen

geworden.

Der anfängliche

Seinssprung,

Mythos,

ereignet

Horizonts

ihrer Zu-

der Bruch mit der Ordsich in einer Vielzahl

pa-

ralleler Fälle, in Israel und Hellas, in China und Indien,

(4)

jeder davon gefolgt von einer eigenen einheimischen Geschichte von Wiederholungen auf der neuen Ebene der Existenz. Die parallel stattfindenden Seinssprünge unterscheiden sich erheblich voneinander,

sowohl

hinsichtlich der Ra-

dikalität ihres Bruchs mit dem kosmologischen Mythos wie hinsichtlich der Reichweite und des Tiefgangs ihres Vordringens zur Wahrheit über die Seinsordnung. Die parallelen Ereignisse sind nicht gleichrangig. Auch die Mysterien und Probleme, die inden phänomenalen Manifestationen gründen, lassen sich auf eine kleine Zahl von Haupttypen reduzieren: (1) Da sich der Seinssprung tatsächlich ereignet und durch die Menschheit als historisch zu höheren Formen der Existenz

in Wahrheit

fortschreitend

endeckt wird,

wird

die Beziehung zwischen diesem verstehbaren Fortschreiten der Menschheit und dem Sinn konkreter menschlicher Existenz problematisch. Inmitten des progressivistischen Rausches des 18. Jahrhunderts stellte Kant

die nüchterne

Frage,

welches

Interesse

eine

Ge-

neration von Menschen zu irgendwelcher gegebenen Zeit am Fortschritt der Menschheit zu einem kosmopolitischen Reich der Vernunft haben könnte. Selbst wenn ein Mensch die Mühen seines Lebens als einen Schritt

der Menschheit

in Richtung

deutete, würden

die Früchte

49

auf die Vollkommenheit

seiner Mühen

ja doch

erst

den Menschen einer fernen Zukunft zugute kommen. Folglich gibt der Sinn der Geschichte nicht die Antwort auf die Frage nach dem Sinn im menschlichen Leben. Vom Fortschritt in der Geschichte werden wir auf den Fortschritt der Pilger zur gnadenhaften Vollendung im Tode zurückverwiesen. Die Bestimmung des Menschen liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Ewigkeit. Trotz-

dem beseitigt das Aufwerfen der Frage keineswegs die

(2)

Fortschritte der Menschheit auf die Wahrheit der Ordnung hin. Kant zweifelte nicht an der Realitát des Fortschritts. Die Relation zwischen persónlicher Vollendung und der Partnerschaft in Vollendung der Menschheit ist ein Mysterium. Kant fragt vom Standpunkt des Menschen, der von seiner Gegenwart in die Zukunft blickt. Die Fragestellung verschärft sich, wenn

auf einer höheren fahren

man

bedenkt,

wie die Nachfahren

Stufe im Geschichtsprozeß

auf der tieferen

Stufe behandeln,

ihre Vor-

die schließlich

auch einmal eine Gegenwart hatten. Denn nach dem Seinssprung wird der Ordnung der kosmologischen Reiche rückblickend nicht nur ein Vergangenheitspunkt angewiesen; sie sinkt auch in eine Vergangenheit essentieller

Existenz durch

den

Unwahrheit

ab,

die

unter Gott überholt Berith

sein

Leben

von

der

worden findet,

unmittelbaren

ist. Wenn wird

Israel

Ägypten

zu

scheol, der Unterwelt der toten Seelen; wenn Israel im Reiche Gottes seine Freiheit erlangt, wird die pharaonische Ordnung zum Haus der Knechtschaft. Auf dieselbe Weise degradieren auch die hellenischen Dichter und Philosophen von Hesiod bis Platon die Vergangenheit; durch

den

Seinssprung

zur aletheia,

zur

Wahrheit

der

Existenz, wird der alte Mythos zum pseudos, zur Falschheit der Lüge,

zu der existenziellen Unwahrheit,

in der

die Vorfahren lebten. Auch in den Händen der Modernen geht es der Vergangenheit kaum besser: die Primitiven sind ,prálogisch", die Antike gefällt sich in an-

ο0

thropomorphen Gotterdarstellungen, ohne ihre selbstfabrizierten Trugbilder zu durchschauen, und das Mittelalter ist einfach dunkel. Natürlich gibt es auch andere Einstellungen zur Vergangenheit der Menschheit: Den Abwertungen lassen sich leicht Lobreden auf die Vergangenheit, Bewunderung für klassische Zeiten und Ausdrücke generóser Anerkennung für die sogenannten ,Beitráàge" früherer Gesellschaften zu dem nunmehr erreichten Hóhepunkt der Zivilisation entgegenstellen. Deutlicher als diese Preisungen weisen aber die abschátzigen Urteile auf das Problem hin: daf die Ver-

gangenheit der Menschheit nicht ein Schauspiel ist, das inszeniert wurde,

um

einer Gegenwart,

die damals

Zu-

kunft war, Gelegenheit zu Lob oder Tadel zu geben. Die Natur des Menschen bleibt konstant, auch wenn sie sich im Verlauf der Geschichte aus der kompakten zur differenzierten Ordnung entfaltet. Die nachweisbaren Stufen der wachsenden existenziellen Wahrheit sind

nicht das Ergebnis einer Anderung der Natur des Men-

schen"; denn die würde die Einheit der Menschheit zerstóren und sie in eine Abfolge verschiedener Gattungen auflösen. Schon die Idee der Geschichte der Menschheit setzt bereits die Konstanz der menschlichen Natur voraus, und die Tatsache dieser Konstanz wird durch die Erfahrung des Seinssprungs selbst bezeugt, d. h. durch die Erfahrung eines Übergangs von der Unwahrheit zur existenziellen

Wahrheit,

worin

derselbe

Mensch

vor

der Eingebung göttlichen Seins der „alte Mensch"

und

nachher der ,neue Mensch" ist. Das Schauspiel der Ordnung wird vor Gott aufgeführt, nicht vor der Zukunft. Die Ordnung menschlicher Existenz steht in der Gegenwart Gottes auch in jenen Zeiten, in denen

das Bewußt-

sein dieser Gegenwart sich noch nicht aus der Kompaktheit des Mythos herausgelöst hat. Darum muß sich der Geschichtsphilosoph

Vergangenheit

immer

bewußt

bleiben,

daß

die

und Zukunft der Menschheit ein Horiοἱ

zont ist, der jede Gegenwart umgreift, auch wenn

ihn

nur der Seinssprung ins Bewußtsein erhebt. Zwar wissen wir dank unserer Existenz in historischer Form, daß sich die Wahrheit der Ordnung im Laufe der Geschichte differenziert, Menschheit

aber eine

weder

wissen

Geschichte

hat,

wir,

noch

warum

wissen

wir

die ir-

gend etwas über ihr Ziel in der Zukunft. Die Jahrtausende, in denen das Mysterium der Geschichte die Ebene des

Bewußtseins

erreicht,

haben

die

Distanz

zwischen

Geschichte und Ewigkeit nicht verringert. Der Philosoph muß sich vor dem Trugschluß hüten, das Bewußtsein von einem sich entfaltenden Mysterium in die Gnosis eines Fortschrittes in der Zeit umzuformen. Das Studium der Ordnung hat nicht den Zweck, die Primitivitát, die Naivität, den Mangel an Logik oder die generelle Umnachtung vergangener Epochen zu enthüllen; sie soll im Gegenteil Menschen

zeigen, die von der-

selben Natur wie wir sind und mit denselben Problemen kámpfen wie wir, wenn auch unter den Bedingungen kompakterer Realitátserfahrungen und dementsprechend undifferenzierterer Symbole. Dieses Problem der Geschichtsinterpretation ist kaum noch erkannt, und die Arbeit einer Neuinterpretation des historischen Materials nach kritischen, nichtideologischen Relevanzprinzipien steht noch in den ersten Anfängen. Nur wenn die Konstanz der menschlichen Natur und die Gleichheit ihrer Ordnungsprobleme in jeder Gegenwart theoretisch gegen ideologische Fehlkonstruktionen abgesichert sind, gibt das Problem einer Menschheit, die in der Geschichte hóheren Wahrheitsstufen

zu-

strebt, seine gewaltigen Ausmafe zu erkennen. Denn eben weil das Ordnungsproblem für alle Menschen zu allen Zeiten dasselbe ist und weil nicht weniger als die Existenz in Wahrheit unter Gott auf dem Spiele steht,

geht jede neu differenzierte Einsicht in die Wahrheit

der Ordnung einen jeden an. Der Seinssprung impliziert

92

sowohl die Pflicht mitzuteilen wie die Pflicht zu hören.

Offenbarung und Hören sind nicht Privatangelegenhei-

ten;

die

Offenbarung

wird

einem

Menschen

für

alle

Menschen gegeben, und in seinem Hören repräsentiert er die Menschheit. Und weil dieses Respondieren repräsentativ ist, verleiht es dem Empfänger der Offenba-

rung seines Mitmenschen gegenüber die Autorität des Propheten. Diese

Struktur

der

Autorität,

um

die

herum

Geschichte der Menschheit aufbaut, würde

sich

die

schon darum

wieder Schwierigkeiten erzeugen, weil sie die menschlichen Leidenschaften ins Spiel bringt. Weder ist spiri-

tueller Eifer notwendigerweise mit Taktgefühl verbunden,

noch

ist der Mensch

im

allgemeinen

eine neue autoritäre Stimme anzuerkennen,

gerne

bereit,

wennersie

hört. Diese Schwierigkeiten verschärfen sich durch die Vielzahl gleichzeitiger und sukzessiver Autoritäten, deren rivalisierende Ansprüche von historisch kontinuierlichen Gefolgschaften bis in unsere eigene Gegenwart hineingetragen werden. Auch der Philosoph der Ordnung und Geschichte kann diesen leidenschaftlichen Konflikten nicht entgehen. Wenn wir in unserer Arbeit von Israel auf Hellas übergehen, müssen wir bereit sein, den harten, aber legitimen Fragen zu begegnen, die man sofort aufwerfen wird: Warum gehen wir von Israel nicht auf China oder Indien über? Warum gehen wir überhaupt zeitlich parallel vor, anstatt dem Augustinischen Vorbild einer jüdisch-christlichen historia sacra zu folgen und die hellenische Philosophie auszuschlieDen? Oder ganz radikal: Warum begannen wir überhaupt mit Israel statt mit Indien oder China? Geben wir uns etwa bei der Wahl des Ausgangspunktes und der Richtung dieser Arbeit einem „abendländischen Vorurteil" hin? Wie immer unsere Antworten lauten werden- und nur die abgeschlossene Arbeit über Ordnung und Geschich99

te als Ganzes

kann

sie

geben

-, eines

sollte

nunmehr

klar sein: daß eine Geschichtsphilosophie nicht ein persönliches Festhalten erinnernswerter Ereignisse sein kann,

von

der

Hoffnung

beschwingt,

daß

jene

Leiden-

schaften, denen vergangene Phänomene ihr Überleben im Gedächtnis der Menschheit verdanken, ihre Auswahl sorgfältig getroffen haben. Eine solche Philosophie muß die autoritativen Strukturen in der Geschichte der Menschheit kritisch studieren. Weder darf sie die autoritativen Verkündigungen der Ordnungswahrheit, wie sie im Verlauf der Geschichte der Menschheit auftraten, sympathisch als gleichrangig behandeln - denn das

heißt,

in

den

Übeln

und

des Relativismus

des

Historismus,

versinken;

noch

der

darf man

Skepsis sie am

Maßstab einer letztgültigen Wahrheit messen und verwerfen, ob nun solche Letztgültigkeit einer vergangenen Wahrheit oder einer von uns selbst entdeckten neuen Wahrheit zugesprochen wird - denn ein solcher Absolutismus würde uns in den gnostischen Trugschluß verstricken, daß die Geschichte ihr Ende erreicht hat. Eine

Analyse,

die kritisch

sein will,

muß

die Tatsache

anerkennen, daß die Wahrheit über die Seinsordnung aus der Ordnung der Geschichte hervorgeht. Der Logos der Geschichte selbst gibt uns die Instrumente für die

kritische Prüfung ordnung Denn

ohne

der

und für die Bestimmung

autoritativen

Strukturen

an

der Rangdie

Hand.

den Seinssprung, der Gott und Menschinihre

gegenseitige Präsenz stellt, ohne die Differenzierung von Geschichte als der inneren Form der Existenz in Opposition zur kosmologischen Ordnungsform, gäbe es kein Problem einer Geschichte der Menschheit; und ohne die Differenzierung des Logos in der Psyche, ohne die Differenzierung philosophischer Existenz, wäre das Problem der Geschichte kein Problem der Philosophie. Die Vielzahl der Autoritäten muß kritisch beurteilt werden, und ihr relativer Rang bestimmt sich nach dem Maf ihrer

54

Nähe zur Klarheit historischen Bewußtseins und ihres Vordringens zur Ordnung der Psyche und der Welt. Die Prinzipien, die ich soeben zu formulieren suchte, sollen der kritischen Fundierung von Order and History dienen. Da sich diese Studie nun aber innerhalb der jahrtausendealten historischen und philosophischen Formen bewegt, die ihr

Gegenstand

sind,

und

da

im

Verlauf

dieser

tausend-

jährigen Geschichte mehr als nur einmal der Versuch unternommen wurde, das Wesen der Phänomene zu erforschen und die Prinzipien ihres Studiums zu formulieren, ist es notwendig, den vorliegenden Versuch zu seinen Vorgängern in Beziehung zu setzen. Zweimal in der Geschichte der Menschheit wurde das Problem aufeinanderfolgender und paralleler Seinssprünge akut: ein erstes Malin der Antike, durch die zeitgenössischen geschichtlichen Arbeiten zu den historischen und philosophischen Formen in Israel und Hellas und zur Absorbierung dieser Formen durch das Christentum;

dann

ein zweites

Mal

in der Moderne

durch

die

Ausweitung des historischen Horizontes, der die parallel laufenden Geschichten des Fernen Ostens mit einbezog.

In Israel ergaben

sich die Geschichtsprobleme

mit der

Entstehung des Auserwählten Volkes in Opposition zur Pharaonischen Ordnung. Sie fanden innerhalb Israels ihre

Fortsetzung im Widerstand

der Propheten gegen das Ge-

setz sowie im Seinssprung bei Deutero-Jesaja, wo sie den Gipfel symbolischen Ausdrucks in der Figur des Leidenden Knechts und dem Exodus Israels von sich selbst erreichten.

Diese aufeinanderfolgenden Klärungen der Existenz unter Gott wurden

mit Hilfe der ursprünglichen

Symbole

durch-

geführt: durch die Revision der Botschaft vom Berge Sinai, dadurch, daß ein Neuer Bund dem Alten Bund entgegen-

gestellt wurde, und durch die Transformation der Symbole des Gesalbten und des Knechts. Lediglich gegen Ende taucht bei Deutero-Jesaja etwas wie eine theoretische Behandlung des Problems

auf: eine Theologie

99

der Geschichte,

in der die

Welt, Israel und die Erlösung als die aufeinanderfolgenden Akte göttlicher Schöpfung und Offenbarung konstruiert werden. In Hellas, mit seinen verschiedenartigen Übergängen vom Mythos zur Philosophie wurde zuerst der alte Mythos als falsch von der neuen Wahrheit der mythischen Spekulation Hesiods abgesetzt; dann wurden sowohl der alte Mythos als auch die Spekulation Hesiods als falsch im Vergleich mit der Wahrheit der Philosophie erkannt; bis schließlich Platon das neue Konzept theologischer Typen entwickelte, an denen der Grad von Wahrheit und Unwahr-

heit in der Darstellung der Beziehung des Menschen zu Gott zu messen war. Die Phasen zunehmender Wahrheit wurden so in Hellas klar voneinander unterschieden; und spätestens in Platons Gorgias wurde der Übergang vom Mythos zur Philosophie als eine historische Epoche verstanden. Dennoch entstand eine, dem Deutero-Jesaja vergleichbare Geschichtstheologie erst in der hellenistischen Periode. Panaitios (ca. 180-110) entwickelte die sogenannte theologia tripertita — eine Unterscheidung göttlicher Gestalten in die physischen Götter der Philosophen, die politischen Götter der Ziviltheologie und die mythischen Götter der Dichter. Sein Schüler Poseidonius (ca. 130-50) konstruierte daraufhin eine Geschichtstheologie, derzufolge die Menschheit ursprünglich durch die Teilhabe ihres Logos an der schópferischen Kraft Gottes eine reine Vorstellung von dem einen unsichtbaren und nicht reprásentierbaren Gott besessen hatte, wáhrend die Diversifizierung in die unreinen Typen der theologia tripertita die Folge der Diversifizierung der Menschheit in eine Vielfalt von Vólkern war. Aus dieser Unreinheit der Diversifizierung mußte die Menschheit nun das einstige Verstándis der Wahrheit zurückgewinnen, eine Aufgabe, die repräsentativ von den stoischen Philosophen vollzogen wurde. Darüber hinaus wurden in dieser Konstruktion zum ersten Mal die parallelen Seinssprünge zum Problem. Poseidonius war Syrer - in die seiner Geburt vorausgehende Generation fielen die

56

Makkabäerkriege, und die Herrschaft der hasmonäischen Priester lief seiner eigenen Lebenszeit parallel. Er war daher mit dem Judentum durch die ,Tagesereignisse" vertraut. Er wußte von Moses: Er hielt ihn für einen ägyptischen

Priester

Anhángern

und

Herrscher

auswanderte

und

des

Deltas,

Jerusalem

der

als

mit

seinen

den

Ort

für

seine neue Siedlung eroberte. Moses war mit den Agyp-

tern und Hellenen wegen ihrer theriomorphen bzw. anthropomorphen Reprásentation der Gótter unzufrieden. Der Exodus wurde darum als Konflikt zwischen der frühen, wahren Konzeption des einen Gottes und den ágyptischen und hellenischen Entstellungen verstanden '. Die Phänomene, der Menschheit

in denen

wurzeln,

die Probleme

waren

einer Geschichte

sichtbar geworden,

ebenso

auch ein guter Teil der Probleme selbst. In Israel verstand man, daß das durch den Sinai-Bund konstituierte Auserwählte Volk nicht auf ewig glücklich in seinem Kanaan leben werde, sondern daß ein beschwerlicher Geschichtsprozeß auf der Stufe der Offenbarung eingesetzt hatte. Von diesem

Prozef

waren

die

Phasen

des

Gesetzes,

der

Pro-

pheten und der Rettung vom Exil schon durchlebt worden, und immer noch war kein Ende in Sicht. Ahnlich waren in Hellas die Phasen des alten Volksmythos, des spekulativen Mythos der Poeten und der Wahrheit der Philosophen bereits durchlebt und voneinander abgesetzt worden. Darüber hinaus war man sich sowohl in Israel wie auch in Hellas bewußt, daß diese Ereignisse nicht Lokalkontlikte waren, in

denen es um gesellschaftliche Macht ging, sondern daf im Kampf um die Wahrheit der menschlichen Existenz die Sache der Menschheit repräsentativ ausgetragen wurde. Dennoch gab es Faktoren, die einem tieferen Eindringen in die Probleme Grenzen setzten. Die Neuheit der Entdeckungen,

der

nale

Isolierung

Widerstand

einer

feindlichen

in verhältnismäßig

Umwelt,

kleinen

die

regio-

Gemeinschaf-

ten, der Kontrast zwischen der reprásentativen Bedeutung der Wahrheit und ihrer geringen sozialen Auswirkung, das 97

Andauern der weltlichen Vorherrschaft der kompakt geordneten

Gesellschaften,

die

im

Geist

vereinzelter

Menschen

und ihrer kleinen Gefolgschaft spirituell eine Vergangen-

heit der Unwahrheit repräsentieren - all das schuf eine Situation,

in

der

Entdeckerfreude

und

Wahrheitseifer

den

Mühen Gehör zu finden und dem Kampf gegen die Trägheit menschlicher Natur erlagen. In der Bitterkeit dieses Kampfs ums Dasein mußte der Akzent stärker auf den Unwahrheitscharakter der Vergangenheit als auf ihren Charakter einer Vorbereitung auf die neue differenzierte Wahrheit fallen. Der Konflikt zwischen dem repräsentativen Fortschreiten der Wahrheit und den empirischen Geschaften war noch so intensiv, daß der Charakter der wider-

standleistenden Gesellschaften als Mitglieder der reprásentierten Menschen sowie ihre historische Funktion als Matrix der neuen Wahrheit noch nicht klar erfaßt werden konnten. Ein tieferes Eindringen in die Probleme litt zudem darunter, daß der Bruch mit der kosmologischen Ordnung als solcher nicht so radikal wie der emotionale Schock massiv

war,

den

schon

der

teilweise

Bruch

auslóste.

In

Israel erkannte man nur allmáhlich, dab die Ordnung menschlicher Existenz unter Gott in der Tat eine universale Ordnung der Menschheit war und deshalb nicht adäquat durch die Konstituierung eines Auserwáhlten Volkes auf einem bestimmten Territorium reprásentiert werden konnte. Und als sich diese Einsicht schließlich durchsetzte, zerbrach das Volk an den beiden gleichermaßen vehementen Antworten: des Rückzugs ins Gehäuse des Judentums und der explosiven Ausdehnung des Christentums. In Hellas fand Platons Verstándnis der historischen Epoche, die durch die Philosophie geschaffen worden war, seine Grenze durch den Mythos der kosmischen Zyklen. Und schließlich dürfen mangelnde empirische Kenntnisse vom historischen Prozeß als Ganzem als ein begrenzender Faktor nicht unterschätzt werden. So muß z. B. in der Konstruktion des Po-

seidonius nicht nur die Begrenzung 98

durch den kosmologi-

schen Mythos

beachtet werden,

Ergebnisse des Seinssprungs

die ihn dazu verleitete,

die

in ein Goldenes Zeitalter zu

verlegen (nach Hesiodischer Art an den Beginn der kosmischen Geschichte), sondern auch das Fehlen präziser Kennt-

nisse von

der Geschichte

Chronologie,

das

es ihm

Ägyptens

und

gestattete,

Israels

Moses

zum

und ihrer Repräsen-

tanten eines ursprünglichen Wissens zu machen, der gegen dessen Entstellung rebellierte.

Zu einer entscheidenden

kam

es durch

Paulus,

Änderung

das Erscheinen

besonders

im Brief

Christi.

an

in dieser Situation

In den

die Römer,

Briefen von

stoßen

wir

zum

ersten Mal auf ein tiefgreifendes Verständnis der wechselseitigen Teilnahme des Menschen am Vordringen der Menschheit zur Wahrheit und der Menschheit an der Wahrheit von jedermanns Existenz. Das Gesetz Israels und der

Juden ist für Paulus keineswegs eine bloße Vergangenheit, die nunmehr

durch

den

Glauben

ersetzt wird,

sondern

ge-

rade die Bedingung für die Ausdehnung der göttlichen Gnade durch Christus. Denn Gnade wird nun auch auf den Sünder ausgedehnt; nur wenn der Mensch sich seiner Existenz in der Unwahrheit

der Sünde

bewußt

ist, nur wenn

er sei-

nes Todes gewahr wird, befindet er sich auf dem Weg zum Leben; und dieses Bewußtsein des Todes in der Sünde wird geweckt,

wenn

sich der Mensch

außerstande

sieht, das Ge-

setz zu erfüllen. „Ich habe die Sünde erst durch das Gesetz kennengelernt. Denn ich wüßte von der Begierde nichts,

wenn

nicht das Gesetz

sagte:

Du

sollst nicht begehren"

(Röm. 7,7). „So ist das Gesetz unser Erzieher (paidagogos) auf

Christus

hin

geworden,

damit

wir

durch

den

Glauben

gerechtfertigt werden. Seitdem aber der Glaube gekommen ist, stehen wir nicht mehr unter dem Erzieher" (Gal. 3,24-25). Dem Höhepunkt der Offenbarung, dem Eintritt Gottes in die Geschichte durch die opferbereite Annahme menschlicher Gestalt, folgte eine plötzliche Luminosität des spirituellen Lebens des Menschen. Drei Stufen werden von Paulus unterschieden: 99

(1) Die dunkle Existenz vor dem Gewahrwerden wahrheit der Existenz. (nomos)" Róm. 7,9).

(2) Das Bewußtsein

„Ich

lebte

einst

ohne

der Existenz in Unwahrheit.

der UnGesetz

„Sobald

aber das Gesetz (entole) kam, lebte die Sünde auf und ich verfiel dem Tode" (7,9-10). Die Wiedererweckung durch den Glauben. „Denn das

(3)

Gesetz des Geistes, der das Leben in Christus Jesus gibt,

hat mich befreit vom Gesetz der Sünde des Todes” (8,2). Diese gattungsmäßigen menschlichen Stufen des geistigen Prozesses sind gleichzeitig die historisch einzigartigen Phasen,

durch

die

die

Menschheit

in der

unerforschlichen

Ordnung der Schöpfung zur Erleuchtung der Existenz durch den

Glauben

2,14-16;

emporwächst

8,18-25).

Von

(Röm.

passim;

der natürlichen

und

Ordnung

1,18-32; der Helle-

nen und Barbaren über das alte Gesetz des Auserwählten Volkes schreitet die Menschheit zum Selbstverständnis im

neuen Gesetz der Christen vor.’ Die

Paulinische

Einsicht wirft Probleme

auf, die in den

Briefen sichtbar, aber nicht bis in alle Konsequenzen

durch-

dacht werden. Während die drei Stufen zeitlich aufeinanderfolgen, heben sie sich doch nicht gegenseitig auf. Weder löst sich mit der Entstehung des Auserwählten Volkes die kosmologische

Reichsordnung

auf, noch

lösten

sich die Ju-

den in die Christenheit auf, die aus ihnen entstand. Die Gesellschaften der neuen Wahrheit waren kleine Enklaven in einer Menschheit, die wenig Neigung spürte, sich der repräsentativen Autorität zu beugen. Die Folge der Stufen verbreitete

sich

zur

Koexistenz

von

Gesellschaften,

die

durch ihre Ordnungstypen verschiedenen Perioden der Menschheitsgeschichte angehören. Paulus reagierte auf dieses Phänomen mit den Theologomena der Prädestination, ohne allerdings im einzelnen die historischen Aspekte des Problems zu erforschen. In seiner Analyse des geistigen Prozesses beschäftigte er sich mit den Motiven der Fortdauer des Gesetzesgehorsams und des ihm korrespondie-

60

renden Widerstandes tive im Dämonismus

gegen den Glauben. Er fand die Modes Fleisches, das glaubt, es könne die

eigene Erlösung durch Werke, durch die Einhaltung des Gesetzes, bewirken, und darum die Erlösung durch göttliche Gnade (charis) zurückweist. Und gegen diesen Widerstand erklärt er: „Durch Gesetzeswerke wird kein Mensch gerechtfertigt“ (Gal. 2,16). Nicht so sehr die Verletzung des Gesetzes als das Vertrauen in die Rechtfertigung durch seine Erfüllung ist die Sünde, die in den Tod führt. Wenn wir auch die Tiefe dieser Einsicht nicht in Zweifel ziehen, können wir sie doch nicht als Antwort auf jene Fragen akzeptieren, die sich aus der Fortdauer des Judentums ergaben. Die Paulinische Methode historischer Interpretation leidet darunter, daß sie die Probleme der Kompaktheit und der Differenzierung nicht in Betracht zieht. Wenn Paulus den geistigen Prozeß interpretiert, insbesondere die Beziehung zwischen Gesetz und Sünde, so ergeben sich seine Einsichten aus der Erfahrung seines Glaubens an Christus. Nur im Rückblick, bens,

aus der Sicht des einmal erreichten Glau-

offenbart sich das Alte Gesetz

Gesetz des Geistes; nur wenn

als Führer

zum

Neuen

sich die Erfahrung der Recht-

fertigung durch den Glauben differenziert hat, wird der Gesetzesgehorsam jene differenzierte Bedeutung einer „Rechtfertigung durch Werke" annehmen, die sie in den Paulinischen Briefen besitzt. Für die Menschen, die ungebrochen in der jüdischen Tradition weiterleben, existieren Probleme dieser Art jedoch nicht. In der kompakten Ordnung des Auserwählten Volkes ist die Torah nicht vom Bund zu trennen; und der Bund ist ein bedingungsloser Akt göttlicher

Gnade,

gesondert wird

durch

den

als das am

Israel

Yahweh,

von

den

Nationen

das Volk

Gottes.

aus-

Das

Auserwähltsein Israels basiert nicht auf der Befolgung des Gesetzes,

sondern



was

Paulus

offensichtlich

nicht

zur

Kenntnis nahm - auf dem Akt göttlicher Gnade. Die „Söhne Gottes" sind schon „die von Yahweh Erlósten" und brauchen daher zu ihrer Erlösung keinen Sohn Gottes. Das Ju-

61

dentum hat seine eigene Theologie der Sünde und der Erlösung,

die

auf

der

Ebene

ethnischer

Geschlossenheit

pa-

rallel zur universalischen Theologie des Christentums ver-

läuft ἡ. Diese Anerkennung

der Parallelität leugnet natür-

lich nicht die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum hinsichtlich der Wahrheitsebene. Aber jede Ordnung hat ihre eigene Präsenz unter Gott, wie wir das Prinzip formulieren;

und diese Präsenz

wird

nicht aufgehoben,

wenn sie aus der Sicht einer differenzierten Ordnungserfahrung zu einer Vergangenheit wird. Daher ist der Widerstand gegen repräsentative Fortschritte der Wahrheit sowie die Fortdauer kompakt geordneter Gesellschaften Seite an Seite mit differenzierteren Ordnungen, ein Teil des Mysteriums der Menschheit, das sich in der Geschichte entfaltet. Dieses Mysterium darf weder durch progressivistische Slogans über ,rückstáàndige" Völker zerstört werden, noch dadurch, daß man das Überleben des Judentums mit dem pseudowissenschaftlichen Etikett ,Versteinerung" versieht. Es muß vielmehr mit äußerster Vorsicht und Respekt in einer kritischen Philosophie der Geschichte untersucht werden. Die Hellenen und Römer waren sensitiver für die Probleme koexistenter Ordnungen als die Propheten, Juden und Christen. Die theologia tripertita in der Form, wie sie Panaitios entwickelte, muß von einer Toleranz erfüllt gewesen sein, die einen Philosophen nicht dazu verpflichtete, sich mit jedermann anzulegen, der ihm nicht in der Befolgung seiner Wahrheit folgte. Denn die principes des republikanischen Roms konnten sie als Führer zur Schlichtung des Konflikts zwischen ihren eigenen philosophischen Neigungen und dem Kult der Stadt akzeptieren und sie in die römische Theologie umsetzen,

die noch von Augustinus

er

als

seine

Civitas

Dei

schrieb,

Christentums angesehen wurde. Scaevola (gestorben 82 v. Chr.), Roms,

war

sich

mit

seinem

die

Gegnerin

des

Der Pontifex Maximus der höchste Kultbeamte

Lehrer

62

große

als

Panaitios

hinsichtlich

der relativen Wertigkeit der Typen der Theologie einig, wenn er die philosophische als die höchste ansah; doch hielt er es für unklug,

das Volk

und

seinen

Kult durch

die Aus-

streuung höheren Wissens zu verwirren. Die zivilen und philosophischen Theologien würden in der Gemeinschaft Seite an Seite zu existieren haben; und Sceavola selbst bereitete es offenbar keine Schwierigkeiten, gleichzeitig Philosoph und Pontifex Maximus zu sein. Leider wissen wir praktisch nichts über die Ordnungserfahrungen, die eine solche Politik ermóglichten. Augustinus, unsere wichtigste Quelle, berichtet weder, warum Scaevola gewisse Teile der philoso-

phischen Wahrheit als überflüssig für das Volk ansah, noch welche Teile dies waren; und seine Angriffe auf die von den

Hohen Priestern praktizierten Täuschungen werden dem Problem ebensowenig gerecht wie die Kritik von Paulus den strittigen Fragen des Judentums ‘. Wir können nur das

Pattern

zweier

Ordnungen

zur

Kenntnis

nehmen,

die

gleichzeitig in derselben Gesellschaft maßgeblich sind und von einer Gruppe philosophischer Herrscher zusammengehalten werden, die in der Öffentlichkeit weiterhin den Kult des Volkes praktizieren. Das Pattern ist unverkennbar eine Alternative zu der Lösung, die Ziviltheologie mit der Wahrheit der Offenbarung zu verbinden, wie sie in der Erfahrung und im Symbolismus des Auserwählten Volkes enthalten ist. Derselbe Mangel an Quellen verhindert eine genauere Kenntnis der Erfahrungen, die die principes des kaiserlichen Roms Christentum

dazu veranlaßten,

auszudehnen,

ihre Toleranz

auf das

und die es ihnen - von Konstan-

tin bis Theodosius — ermöglichen, die Doppelrolle eines christlichen Herrschers und eines heidnischen Pontifex Maximus zu spielen. Die Erfahrungen des Konflikts zwischen den Ordnungen und die Motive für die Harmonisierung in der Führungspraxis lassen sich mit einiger Sicher-

heit nur in den literarischen Quellen der hellenischen Periode erkennen,

die in den vorliegenden

und Philosophie behandelt werden. 63

Bänden

über Polis

Die

Frage

der

vielfachen

und

parallelen

Seinssprünge

stellte sich ein zweites Mal mit der Ausweitung des historischen Horizontes - eine Periode, die im 18. Jahrhundert begann und bis in unsere Gegenwart hineinreicht. Während keine grundlegend neuen Probleme zusätzlich zu den bereits erörterten aufgetaucht sind, ist die theoretische Situation aus zwei Gründen ziemlich verwirrend. Zunächst einmal waren die Probleme, die bereits in der Antike aufgetreten waren,

niemals

überzeugend

vorschnellen Verallgemeinerungen

Phänomene

analysiert worden.

der damals

Die

bekannten

waren in die Civitas Dei von Augustinus und

in die parallele Geschichte wider die Heiden von Orosius eingegangen. Diese Augustinische Konzeption von Menschheit und Geschichte war sodann durch das Mittelalter überliefert worden und brach nun, im 18. Jahrhundert, unter der

Last des angewachsenen Wissens zusammen. Dieses enorme Anwachsen phänomenalen Wissens fiel, zum zweiten,

in das

Zeitalter

des

intellektuellen

Zusammenbruchs

im Westen. Das Resultat war ein übermäßiges, geradezu vegetatives Anwachsen gnostischer Geschichtsspekulation, das die Natur des Problems eher verdunkelte als erhellte. Erst seit der letzten Generation ist eine Genesung von der theoretischen Konfusion feststellbar. Da diese komplexe Periode in der Geschichte der Ordnung ausführlich im letzten Band von Order and History behandelt werden wird, werde ich mich im gegenwärtigen Zusammenhang auf den Versuch

beschränken,

die

Probleme,

die

mit

dem

Zusam-

menbruch der Augustinisch-Orosischen Autorität zum Vorschein kamen,

aufzuzählen

und kurz zu charakterisieren.

Als die Periode begann, war die Geschichtskonstruktion von Augustinus in der Form, in der Bossuet sie ausgearbeitet und in seinem Discours sur l'histoire universelle von 1681 zum letzten Mal auf den neuesten Stand gebracht hatte, noch akzeptiert. Die Konstruktion hatte stets dar-

unter gelitten, daß die Ereignisse in der Geschichte Israels,

soweit

sie durch

die biblischen

64

Erzáhlungen

bekannt

wa-

ren, gefolgt vom Erscheinen Christi und der Geschichte der

Kirche, unter dem Titel einer historia sacra in den Rang der repräsentativen Geschichte der Menschheit erhoben worden waren, während die Geschichte der kosmologischen Reiche, von

Griechenlands

profaner

und

Geschichte

Roms

zu

gemacht

einer

Nebenhandlung

worden

war,

mit

der

repräsentativen Geschichte etwas mühsam verknüpft durch Kategorien

wie die praeparatio

evangelica,

die qualvollen

Leiden der Juden und Christen, die Vorsorge für einen imperialen Frieden, in dessen Schutz die christlichen Missionare sicher umherreisen und im ganzen Reich das Evangelium verbreiten konnten, und das erbauliche Schauspiel von Aufstieg und Fall weltlicher Macht. Das Problem der konkreten Gesellschaft, deren Ordnung

beides ist, eine Or-

ganisation für das pragmatische Überleben wie auch eine Grundeinstimmung in die Ordnung des Seins, war entweder völlig verschwunden oder in den Hintergrund theoretischen Bewußtseins zurückgetreten. In dieser Hinsicht war die Augustinische Konstruktion ein Erbe der Mängel der Paulinischen Methode historischer Interpretation. Schon in der Spätantike hatte die Konstruktion eine generöse Vernachlässigung widerspenstiger Phänomene erfordert, wie etwa die Existenz eines Sassaniden-Reiches Seite an

Seite

alters,

mit als

dem die

Römischen

Reich;

Organisation

des

im

Laufe

des

mediterranen

MittelRaumes

durch Rom zusammengebrochen war und den zentrifugalen, parallelen Organisationen der byzanthinisch-orthodoxen, der arabisch-islamischen und der westlich-christlichen Zivilisation Platz gemacht hatte, hatte sich der Konflikt mit der

Realitát noch weiter verschárft; und im 18. Jahrhundert schließlich war er mit dem Aufstieg Rußlands zur Großmacht und dem allmáhlichen Vertrautwerden mit der GróDe und dem zivilisatorischen Rang Chinas untragbar geworden. Die großen Mängel der vorherrschenden Konstruktion,

die Dauer

ihres Fortbestandes,

flikte mit den Phänomenen

sowie

65

das

Ausmaß

der Umfang

der Kon-

der Anpas-

sung,

die nötig

war,

um

Theorie

und

Realität

wieder

mit-

einander in Einklang zu bringen - all diese Faktoren müssen bei der Bewertung der Reaktionen auf den unbefriedigenden Stand der Dinge in Rechnung gestellt werden. Nicht die ganze intellektuelle Verwirrung in Sachen historischer Interpretation, nicht einmal der ganze Dilettantismus, der bei dieser Gelegenheit zutage kam, ist allein den modernen

Denkern zur Last zu legen. Den wuchtigen Schlag gegen die Augustinische Konstruktion wie sie von Bossuet repräsentiert wurde, führte Voltaire 1756 in seinem Essai sur l'histoire générale. Der Angriff wurde primär auf der Ebene der Phänomene geführt:

Der

Nachweis

war

leicht,

daß

eine

eurozentrische,

unilineare Geschichtskonstruktion Phänomene wie China, Rußland und die arabische Welt auslassen mußte. Aber kaum war der Schlag geführt, wurde es klar, daß selbst eine mangelhafte Konstruktion, die wenigstens das Problem im Griff

hatte,

dem

dilettantischen

Geschick

tion auf der Ebene der Phänomene das Problem

der Menschheit

der

Argumenta-

vorzuziehen war. Denn

und ihrer Geschichte, weit da-

von entfernt, durch ein Anwachsen

der Zahl der untersuch-

ten Zivilisationen Ins Blickfeld zu rücken, verschwindet, wenn keine von ihnen als konstitutiv für die Menschheit kraft des Bewußtseins repräsentativer Humanität anerkannt wird, d. ἢ. kraft ihrer eigenen Existenz in historischer Form. Und die Gnosis des Fortschritts zur Vernunft der Bourgeoisie des 18.

Jahrhunderts, die Voltaire an die Stelle

der Augustinischen historia sacra zu setzen suchte, konnte zur Interpretation der Phänomene nur unter der Bedingung verwendet

wo heit

und

werden,

daß

niemand

wie der Symbolismus

entstanden

war,

die

fundamentale

einer historischen

aufwerfen

würde.

Denn

Frage,

Mensch-

Menschheit

konstituiert sich nicht durch einen Überblick über die Phànomene,

selbst wenn

ten Historiker

dieser von

vorgenommen

einem

wird,

umfassend

sondern

gebilde-

in der Erfah-

rung von Ordnung in der Präsenz unter Gott. Deshalb löste 66

der Angriff Voltaires auch keine Probleme, sondern brachte

sie lediglich ans Licht. Als die Probleme unter dem Druck neuer Phänomene zur Sprache kamen, trugen sie die Merkmale der AugustinischOrosischen Konstruktion, von der sie sich losgelöst hatten. Ihr Charakter

änderte sich sehr langsam, und der Prozeß ist

bis heute noch nicht zum Abschluß gekommen. Es ist deshalb angebracht, die wichtigsten Ansätze zu einer Lösung

hinsichtlich ihrer Beziehung zur Augustinischen Konstruktion zu klassifizieren. Eine

erste

Revision,

motiviert

durch

die

Erfahrung

der

parallelen Geschichtsabläufe, die bis in die Gegenwart des 18. Jahrhunderts reichten, konnte Aufstieg und Niedergang der Reiche in der profanen Geschichte isolieren, die vernachlässigten Phänomene einbringen und die Konstruktion von Typen in Angriff nehmen, die für alle Fälle aufsteigen-

der und untergehender

Gesellschaften gültig sind. Dieser

Weg wurde tatsächlich eingeschlagen. Die Reiche der früheren Konstruktion wurden zur Pluralität zivilisierter Gesellschaften; Zyklentheorie

und

die

Morphologie

der

der Geschichte, wurde

Zivilisationen,

die

ein Zweig der moder-

nen Geschichtswissenschaft. Wenn das Problem in radikaler Isolierung gegen die historia sacra formuliert wurde, wie etwa von Spengler, wurden die Menschheit und ihre Geschichte eliminiert. Der Gegenstand der Untersuchung war der zivilisatorische Ablauf; die Zeit der Geschichte war die innere Zeit eines Ablaufs;

die Beziehung

zwischen

den

Phasen der isolierten Abläufe war jene der „philosophischen Gleichzeitigkeit". Die Untersuchung der Geschichte hatte sich in der Sackgasse der Selbstvernichtung verrannt -- ein Dilemma, das sich noch in den frühen Teilen des Werkes von Toynbee (Bd. I-VI, 1934-1939) bemerkbar macht. Das Werk

einer Revision konnte, zum

zweiten, vom

punkt der historia sacra aus in Angriff genommen

67

Stand-

werden.

Repräsentative Geschichte konnte über die jüdisch-christliche Heilsgeschichte hinaus ausgedehnt werden, indem man die Teilhabe aller menschlichen Gesellschaften an der Entfaltung des Logos in der Zeit nachweist. Dies wurde von Hegel unternommen. Der Erfolg dieses ungeheuren Unternehmens

war,

Phänomene

soweit

betraf,

er

Einbeziehung

bemerkenswert,

und

vor

Diagnose

allem

in

der

Anbe-

tracht der Grenzen des empirischen Wissens der damaligen Zeit. Denn die Chronologie der antiken Geschichte lag noch weitgehend im dunkeln - die relativen zeitlichen Positionen etwa der Reichsordnungen Ägyptens und Chinas waren

nicht allzu klar;

Testaments

war

die kritische

noch

eine

Untersuchung

Aufgabe

der

des

Zukunft;

Alten

und

als

Hauptquelle der Geschichte Ägyptens diente noch immer Herodot. Trotz solcher Handikaps vollbrachte der Hegelsche Genius bei der Bestimmung der Charakteristika auf

jeder Stufe intellektueller und spiritueller Ordnung

Mei-

sterleistungen an Einsicht, auf die sogar zeitgenössische Historiker und Philosophen öfter mit Gewinn zurückgreifen sollten, als sie diestun.

Der schwerwiegende Mangel des Unternehmens und die Ursache seines Scheiterns war der Versuch Hegels, den Logos der Offenbarung auf den Logos der Philosophie zu reduzieren, und den Logos der Philosophie auf die Dialektik des Bewußtseins. Philosophie (Liebe zum Wissen), so nahm Hegel an, schreite zur Gnosis (wirkliches Wissen)’ voran - eine Annahme,

philosophische Erkennbaren

die nur möglich war, wenn

Sensibilität

und dem

für die

Grenze

Unerkennbaren,

man

zwischen

die

dem

d.h. für den Punkt,

an dem die erkennbare Wahrheit der Ordnung im Eros zum transzendenten Sophon wurzelt, betäubte. Als Betäubungsmittel,

das

berühmten

den

„Fortschritt”

Identifikationen,

ermöglichte, die

die

dienten

Spannung

die

zwischen

Transzendenz und Immanenz reduzierten: Die Inkarnation war nicht mehr das Mysterium des góttlichen Eintritts in die Geschichte, sondern die Erscheinung der Identität von

68

Gott und Mensch als das Bewußtsein einer Wahrheit in der Welt; Gott und Mensch verschmolzen miteinander im Geist, Offenbarung und Vernunft in der Entfaltung der Idee; Vernunft wurde wirklich, und Wirklichkeit war darum vernünftig.

„Das

absolute

Objekt,

die Wahrheit,

ist der Geist,

und weil der Mensch selbst Geist ist, so ist er sich in diesem

Objekte

gegenwärtig

und

hat

so

in

seinem

absoluten

Gegenstande das Wesen und sein Wesen gefunden." Durch das Symbol Geist konnte die dialektische Gnosis von Gott zu Mensch gleiten, von Mensch zu Gott, und von beiden zum Subjekt als der Substanz der Welt. Die bewunderungswürdig geschickte Manipulation des gnostischen Symbolismus vermochte natürlich nicht das Mysterium

aufzuheben - weder das der Ordnung des Seins noch das einer

historischen

Menschheit

-,

aber

die

Massivität

des

dialektischen Werks, die gewaltige Ausdehnung des gnostischen Opus bis an die Grenzen der phänomenalen Welt, konnte das Mysterium soweit aus dem Gesichtskreis drängen,

daß

es zumindest

móglich geworden: des Seins.'

so

aussah,

der Logos

als sei das

Unmógliche

des Philosophen

im Besitz

Die Zweideutigkeit dieses monumentalen Werks der modernen Gnosis erregte die Kontroverse zwischen AntiHegelianern, die über die Überheblichkeit eines Philosophen spotten, der glaubt, die Geschichte der Menschheit sei im Jahre 1830, in Berlin, in seinem Werk zur Vollendung gekommen, und Pro-Hegelianern, die eine solche Verleumdung denen

empört zurückweisen hervorgeht,

daß

sich

und Texte Hegel

zitieren können,

durchaus

bewußt

aus war,

daß die Geschichte nicht ihr Ende erreicht hatte. Die Kontroverse bestátigt die Doppeldeutigkeit, ist darüber hinaus aber von geringem Wert. Von kritischer Bedeutung dagegen ist die Quelle der Doppeldeutigkeit in der Erfahrung des Bewußtseins, des Subjekts, als der Substanz des Seins. Denn hinsichtlich dieser Erfahrung besteht eine enge Verwandtschaft zwischen der Hegelschen Gnosis und der Spe-

69

kulation der Upanishaden über die Identität des atman, des Selbst (Bewußtsein, Subjekt) und dem brohma, der überpersönlichen und überweltlichen Realität. Die Operationen mit dem Geist, der ontologisch Gott und Mensch wie auch die Identität der beiden ist, gehört zu einem Spekulationstyp im Medium des kosmologischen Mythos, der vor-philosophisch in der indischen und nach-philosophisch in der Hegelschen Gnosis auftauchen kann, obgleich die akosmische Richtung der indischen Spekulation das genaue Gegenteil der protestantisch-immanentistischen Richtung

in der Spekulation eines Hegel ist *. Im übrigen hatten die ähnlichen

Erfahrungen

ähnliche

historische

Folgen:

Von

den späten Upanishaden führte der Weg zur atheistischen Erlösung des Buddha; von Hegel führte er, via Bruno Bauer und Feuerbach, zu der atheistischen Erlösung bei Marx; obwohl wiederum in beiden Fällen die akosmischen und immanentistischen Richtungen von dem Übergang unberührt blieben. Diese atheistischen Folgen bringen den ahistorischen Charakter der gnostischen Spekulation schärfer in den Blick. Der Ahistorismus der indischen Ordnungserfahrungen,

der vedischen wie der buddhistischen,

ist wohl

be-

kannt und allgemein akzeptiert. Im Falle Hegels dürfte die Anerkennung desselben Charakters erheblich schwerer zu erzielen sein, und zwar wegen der augenscheinlichen Absurdität, daß die umfassendste und tiefgreifendste Geschichtsphilosophie von einer ahistorischen Ordnungserfahrung motiviert sein soll. Nichtsdestoweniger muß die ahistorische

Motivation,

fürchte

ich,

Gnosis ist eine spekulative Bewegung des Mythos; schen

und die moderne

Identifikationen

anerkannt

werden.

innerhalb der Form

Gnosis ist, wie die Hegeliani-

zeigen,

ein

Rückfall

aus

der

Diffe-

renzierung in die prähistorische Kompaktheit des Mythos. Und

dieser

Charakter

bleibt

auch

dann

unberührt,

wenn

Gnosis in Gesellschaften auftaucht, die ihre historische Form durch Philosophie und Christentum erhalten haben,

oder wenn die Spekulation auf die angehäuften Wissens70

bestände einer historischen Tradition angewandt wird oder wenn unter diesen Umständen die Symbole Gott, Mensch-

heit und Geschichte irgendwo an den Rändern der beherrschenden gnostischen Form in der Schwebe bleiben. Weder Hegels eigene Proteste gegen die Anklage des Atheismus noch die Hegelianer vermögen die Tatsache aus der Welt zu

schaffen,

daß

in einer

konsequenten

Entwicklung

des

Hegelschen Werkes seine Doppeldeutigkeit den unzweideutigen Angriffen von Marx auf Philosophie und Christentum den Weg geebnet hat. Wenn sich eine finite Spekulation des Sinns der Geschichte bemächtigt, werden Philosophie und Christentum zerstört, und Existenz in historischer Form findet ihr Ende. Denn Menschheit und Geschichte

werden

auch

dann

vernichtet,

tung die Form einer Spekulation historischen Dramas annimmt.

wenn

die

Vernich-

über den Schlußakt

des

Eine dritte Art der Revision, die sich auf den Zuwachs an phänomenalem Wissen stützte, war möglich durch die Konstruktion paralleler Heilsgeschichten. Diese Idee drängte sich als Folge der Beobachtung auf, daß die westlichen Seinssprünge der Propheten in Israel und der Philosophen in Hellas, ihre Entsprechungen im Indien des Buddha und im China des Lao-tzu und Konfuzius hatten. Diese Beobachtung wurde im frühen 19. Jahrhundert von Orientalisten gemacht und war zu jener Zeit von der Annahme kulturel-

ler Diffusion begleitet *, um die Mitte des 19. Jahrhunderts fand sie Eingang in das Werk der Geschichtsphilosophen ". In unserer Zeit erhielt die Konstruktion betráchtliches Gewicht durch die Arbeiten von Jaspers und Toynbee. Die Motivationen der neuen Konstruktion wurden von Jaspers gewissenhaft artikuliert. Er gab zu, daß Geschichtsphilosophie ihre Wurzeln im christlichen Glauben hat. Von Augustinus bis Hegel ist die Epiphanie des Gottessohnes die Achse der Weltgeschichte. Diese Konzeption sieht er jedoch durch das Faktum beeinträchtigt, daß der christliche 71

Glaube nur einer unter vielen ist. Er ist nicht der Glaube der Menschheit. Die christliche Sicht der Weltgeschichte hat nur für gläubige Christen Geltung. Die wahre Achse der Weltgeschichte müßte empirisch als ein Tatbestand gefunden werden, der für alle Menschen, die Christen eingeschlossen, Geltung hat; es hätte eine Epoche zu sein, in der geboren

wurde,

was

überwältigende Menschseins,

seitdem

der

Fruchtbarkeit

gleichermaßen

Mensch

in

sein

der

kann,

eine

Gestaltung

des

überzeugend

für

Orient

und

Okzident, so daß für alle Völker ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverständnisses erwachsen würde. Eine solche Epoche findet sich in den geistigen Prozessen, diein China

und

800

und

um

500

Indien,

200

im

v.Chr.

v. Chr.,

als

Iran,

in Israel

stattfanden, Konfuzius,

mit

und

Hellas

einer

Lao-tzu,

zwischen

Konzentration

Buddha,

Deutero-

Jesaja, Pythagoras und Heraklit derselben Generation angehörten. In dieser Achsenzeit „wird der Mensch sich des Seins im Ganzen,

seiner selbst und seiner Grenzen

bewußt.

Er erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen, er drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung. Indem er mit Bewußtsein seine Grenzen

erfaßt, steckt er sich die höchsten Ziele.

Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz". In dieser Epoche wurden die fundamentalen Kategorien geschaffen, mit denen wir bis auf den heutigen Tag denken, wurden die Grundlagen der Weltreligionen gelegt, von denen die Menschen bis auf den heutigen Tag leben. In jeder Hinsicht rückte die Menschheit zum Universalen vor ". Toynbee hegt zweierlei Bedenken dagegen. Zum einen will er die , Achsenzeit" derart erweitern, daD sie die Auflósungsperioden der indischen, syrischen,

chinesischen und

hellenischen Zivilisationen in ihrem Gesamtablauf einschließt. Mit dieser Erweiterung würde sie vom 10. Jahrhundert v.Chr. bis zum 13. Jahrhundert n. Chr. reichen. Nur am Ende dieser Periode kónne man das wirklich rele72

vante Resultat der Universalgeschichte, nämlich die Koexistenz der vier Hochreligionen - Mahayana-Buddhismus,

Hinduismus, Christentum und Islam - als gegeben ansehen. Zum

anderen

das Jahr

protestiert

500 v. Chr.

Denn

er gegen obwohl

die

Konzentration

Buddha,

Konfuzius

auf und

Pythagoras zur selben Zeit lebten, waren sie doch nur im chronologischen, nicht aber im philosophischen Sinne Zeitgenossen,

insofern

unterschiedliche

Phasen

in

der

Auf-

lösung ihrer jeweiligen Zivilisation ihr Auftreten bedingt

hatten ". Wichtig an diesen Einwänden ist weniger ihr Inhalt als die Tatsache,

daB

Toynbee

nunmehr

das

Problem

Jaspers' als prinzipiell stichhaltig anerkennen und darüber in eine Debatte eintreten kann. Dies wurde durch die groDe Revision móglich, die sich zwischen den frühen und spáten Teilen von Toynbees Werk ereignete. Im frühen Teil seines Werkes (Bd. I-VI) wurde Geschichte als die humanistische Untersuchung der Zivilisationsgesellschaft hinsichtlich ihrer inneren und äußeren Aspekte verstanden '*. Im späten Teil (Bd. VII-X) wurde die „Geschichte der Religion" zur eigentlichen Geschichte, und die verschiedenen Zivilisationsgesellschaften mußten nun nach ihrem Stellen-

wert im „Fortschritt der Religion" eingestuft werden ". Die Study of History, die sich im frühen Teil in dieselbe Sackgasse einer Selbstvernichtung der Geschichte hineinbewegt

hatte,

in die Spenglers

Werk

geraten war, hat sich im spä-

teren Teil durch ihre Annáherung an eine Augustinische historia sacra selbst wieder daraus befreit — allerdings bei Anerkennung von vier parallelen ,Hochreligionen" gleichen Ranges. Die Vorzüge und Begrenzungen der beiden Konstruktionen werden in diesen knappen Skizzen deutlich. Beide Denker akzeptieren das Phänomen paralleler Seinssprünge in den groDen Zivilisationen, und beide sind von Toleranz gegenüber

den

unterschiedlichen

Wegen

inspiriert,

auf

denen die Menschheit sich bei ihrer Suche nach Wahrheit voranbewegt. Damit hat die Geschichte der Menschheit 73

eine

Breitendimension

gewonnen,

eine

Breite

an

Bewe-

gung, die den eurozentrischen, einlinigen Konstruktionen fehlt. Beide Denker haben sich darüber hinaus von den schlimmsten Irrwegen der vorangehenden Generationen befreit. Die Vernichtung von Menschheit und Geschichte

durch die Beschränkung der historischen Untersuchung auf

die Morphologie von Zivilisationen wurde von Toynbee selbst im Laufe seines gigantischen Werkes überwunden; und beide Denker finden trotz ihrer unterschiedlichen Betonungen die Substanz der Geschichte jenseits der Gnosis des Fortschritts. Diesen Vorzügen sind allerdings die theoretischen Begrenzungen gegenüberzustellen, die selbst auf der Oberfläche phänomenaler Argumentation nur allzu deutlich werden. Während die Parallelismen richtig erkannt sind, wurden weder das Problem der aufeinanderfolgenden Seinssprünge innerhalb der verschiedenen Gesellschaften noch das Problem ihrer ranglichen Unterschiede durchgearbeitet. Die Folge ist, daß sich der Respekt für das Vorrücken zur Wahrheit in parallelen Gesellschaften gelegentlich mit einer erstaunlichen Mißachtung von Phänomenen paart, die sich nicht so leicht den Konstruktionen einfügen, für die sich die beiden Denker entschieden haben. Ob Jaspers nun das gemeinsame Menschsein in einem Querschnitt der ,Philosophien" um 500 v. Chr. findet oder Toynbee in einem Querschnitt der ,Religionen" zu einem späteren Zeitpunkt — was sie einbeziehen und was sie ausschließen, ist von einer gewissen Willkür geprägt. Toynbee hält das Judentum für ein ,Fossil" der syrischen Zivilisation und wirft es aus der repräsentativen Gruppe der „Hochreligionen" hinaus; Jaspers läßt die Propheten zwar höflicherweise zu, schließt aber seinerseits das Christentum von der „Geltung“

für die gesamte

Menschheit

aus; und keiner von

beiden scheint irgendeine Verwendung für Moses zu haben.

Ich beabsichtige nun nicht, den Ausgeschlossenen zu Hilfe

zu eilen - weder Judentum noch Christentum bedürfen der

74

Verteidigung; interessant ist die Willkür im gegenwartigen Zusammenhang nur als das Symptom eines fundamentalen Mißverständnisses hinsichtlich der Geschichte und ihrer Struktur. In seiner gewissenhaften Art hat Jaspers dieses Mißverständnis selbst zur Sprache gebracht und sogar den Konflikt zwischen der objektiven Struktur der Geschichte und seiner eigenen Konstruktion formuliert, zu dem diese unvermeidlich führen mußte. Denn auf der einen Seite anerkennt er, daß „Geschichtsphilosophie... im Abendland ihren Grund im christlichen Glauben" hatte, während

er andererseits

findet, daß

„eine Ansicht der Uni-

versalgeschichte", in der die Epiphanie Christi das Zentralereignis darstellt, nur für Christen Geltung haben

kann P, Selbst wenn man unberücksichtigt läßt, daß christlicher Glaube keineswegs die einzige Wurzel westlicher Geschichtsphilosophie ist — auch Israel und Hellas haben etwas

damit

zu tun - so bleibt doch

die Tatsache,

daß

Ge-

schichtsphilosophie im Westen entstanden ist und nirgendwo sonst. Es gibt nicht so etwas wie eine nicht-westliche Geschichtsphilosophie. Denn eine Geschichtsphilosophie kann nur dort entstehen, wo Menschheit durch ihre Existenz in der Präsenz unter Gott historisch geworden ist. Seinssprünge

haben sich natürlich auch anderswo

ereignet;

aber die persönliche Existenz eines Chinesen unter dem kosmischen tao oder die persönliche Existenz eines Inders in akosmischer Erleuchtung sind nicht gleichbedeutend mit einer israelitischen oder christlichen Existenz unter Gott. Denn wenn die Gesellschaften Chinas und Indiens auch zum Bewußtsein eines universalen Menschseins gelangt sind, so hat doch allein die jüdisch-christliche Antwort auf die Offenbarung historisches Bewußtsein geschaffen. Das Programm einer für alle Menschen gültigen Universalgeschichte kann,

wenn

es durchdacht

ist, nur

eines

von

zwei

Dingen bedeuten: die Zerstörung der historischen Form des

Westens und die Rückführung der westlichen Gesellschaften in eine kompakte Ordnungsform, in der die Differenzie75

rungen der Wahrheit durch Philosophie und Offenbarung aufgehoben sind; oder eine Assimilation der Gesellschaften, bei denen der Seinssprung die kosmologische Ordnung nicht so gründlich

zerbrochen

hat wie

im Westen,

an eine

Existenz der historischen Form des Westens. Dieselbe Unentschiedenheit hinsichtlich der theoretischen Streitfragen kennzeichnet die Haltung Toynbees. Wenn er die von ihm vertretene Gleichrangigkeit der vier , Hochreligionen" verteidigt, flüchtet er sich in das generelle menschliche Unvermógen, in geistigen Angelegenheiten Wahrheit zu er-

kennen ", Dies ist eine einnehmende

Demut - leider läßt

sich intellektuelle Demut zuweilen nur schwer von intellektueller Drückebergerei unterscheiden. Fassen wir zusammen: Das Problem vielfáltiger und paralleler Seinssprünge läßt sich theoretisch nicht mit der Resignation des 18. Jahrhunderts und der Weisheit von Lessings Nathan lósen. Was an Nathans Weisheit gültig ist und was auch gültig bleibt, wenn in ihrem Geist Jaspers und Toynbee eine weitere und farbigere historische Szene behandeln, ist der Respekt vor jeglicher Ordnung und vor jeglicher Wahrheit über die Ordnung; denn jede Gesellschaft, auf welcher Ebene der Kompaktheit oder Differenzierung sich ihre Ordnungserfahrungen und Ordnungssymbole auch bewegen, ringt um die Einstimmung in die seinsordnung. Dieser Respekt darf jedoch nicht zu einer

Toleranz

verkommen,

die die Unterschiede

im Rang,

so-

wohl hinsichtlich der Suche nach der Wahrheit als auch im Hinblick auf die erlangte Einsicht unbeachtet läßt. Die generose

These

von

Jaspers,

daß

in

der

Achsenzeit

die

„Grundkategorien geschaffen wurden ..., in denen wir bis heute denken", erscheint fragwürdig angesichts der Tatsache, daD die aristotelische Analytica Posteriora, das bis heute grundlegende Werk analytischen Denkens, nicht etwa in China oder Indien entstand, sondern in Hellas; und

daß die Einführung westlicher Denk weisen in die asiatischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts ungeheure An-

76

strengungen unter dem Druck schrecklicher Notwendigkeit erfordert. Bei der Behandlung der großen Frage des Eurozentrismus ist es daher ratsam, zwischen seinen phänomenalen und seinen philosophischen Aspekten zu unterscheiden. Während die phänomenale Beschränkung des historischen Horizonts

auf die Gesellschaften

des

Nahen

Ostens,

des mediterranen Bereichs und des Westens angesichts des gewachsenen historischen Wissens aufgegeben werden muß, darf der Geschichtsphilosoph den Eurozentrismus der Position nichts,

und was

der er

Maßstäbe

an

seine

wird überall gemacht,

nicht

Stelle

aufgeben,

setzen

wo Menschen

denn

könnte.

es

gibt

Geschichte

leben, ihre Philosophie

jedoch ist ein westlicher Symbolismus. Die

Philosophie

westlicher

ihre

von

Ordnung

Symbolismus,

historische

Form

weil

vom

und die

Geschichte

westliche

Christentum

ist

ein

Gesellschaft

empfangen

hat.

Und die Väter des frühen Christentums vermochten diesen Symbolismus zu schaffen, weil sie bei der Artikulation ihrer eigenen Existenzweise auf die israelitischen und hellenistischen Quellen zurückgreifen konnten. Clemens von Alexandria

sprach

genau

dies

aus,

als

er

schrieb:

„Den

Barbaren hat Gott das Gesetz und die Propheten gegeben, den Hellenen die Philosophie -- so daß die Ohren beider vorbereitet sein sollten, das Evangelium zu hören.” Und

im Rückblick auf denselben Zusammenhang:

das

Neue

Testament;

die Testamente

der

„Uns gab er

Juden

und

Hel-

lenen sind die Alten.” Die Schriften von Israel und die von

Hellas bilden das Alte Testament des Christentums ". Der Ursprung und die historische Struktur der westlichen Ordnung wurden

von denen, die diese Form

ser verstanden,

leben, So

ohne

sollte

einst schufen, bes-

als von ihren spáten Nachfolgern,

sich der Bedingungen

klargeworden

sein,

des

weshalb

Erbes unsere

die in ihr

zu erinnern. Studie

mit

Israel zu beginnen hatte und weshalb sie sich nun von Israel weiterbewegen muß - nach Hellas. 77

Die Größe Max Webers I. In der deutschen Geschichte des Geistes ereignet sich, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, ein Stilbruch. Vor ihm liegt die Zeit des Idealismus in der Philosophie, der Klassik und Romantik

in der Literatur, die mit dem Tod

Hegels (1831) und Goethes (1832) endet. Sie kann von ihren geistigen Leistungen her als sinnhafte Periode verstanden und chronologisch umgrenzt werden. Nach ihm beginnt eine Zeit, die so wenig sinnhafte Kontur hat, daß sie kaum als verstehbare Periode des Geistes deutlich wird. Zwar gibt es auch für diese Zeit Kategorien — wir sprechen von der 48er Zeit, von der Zeit der Reichsgründung, von der Wilhelminischen Zeit -, aber sie orientieren sich an den politischen

Ereignissen, an dem sinnhaft Äußeren des Machthandelns. Es fehlt an geistiger Erhellung von innen und an Selbstverständnis. Nicht daß die Zeit arm wäre an bedeutenden Leistungen in den Naturwissenschaften, den positiven Geschichtswissenschaften oder in der Erkenntnistheorie — aber im ganzen ist sie negativ gezeichnet als eine des Epigonentums, des Historismus

und Relativismus. Und politisch mün-

det die ominóse Negativität in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, die wieder gefolgt ist von den noch größeren Katastrophen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges.

Die Zeit, so will es scheinen,

hat kein Antlitz,

das vom Geist geprägt wäre. Oder will es nur so scheinen?

Denn gerade in dieser Zeit ohne greifbaren Charakter hat Deutschland vier Figuren von Weltrang hervorgebracht: Karl Marx (1818-1883), Friedrich Nietzsche Sigmund Freud (1856-1939) und Max Weber

78

(1844-1900), (1864-1920).

Vier Figuren von Weltrang - das ist nicht gerade wenig. Und

es wäre

halb

von

seltsam,

wenn

fünfzig Jahren

aus

einer

Gesellschaft

vier Männer

von

inner-

überragender

Statur hervorgingen, ohne daß ihr Auftreten der Ausdruck einer sinnhaft charakterisierbaren Situation wäre. Fragen

wir darum: Sind an der denkerischen Haltung dieser Män-

ner nicht Züge zu erkennen, die allen wesenhaft gemeinsam wären? Geben die vier Großen der undurchsichtigen verschwommenen,

epigonischen

Zeit

nicht

eine

Signatur,

durch die sie zu einer verstehbaren Periode des Geistes würde? Die Frage ist zu bejahen, denn ihr Denken läßt in der Tat gemeinsame Züge erkennen.

Vor allem sind sie einig darüber,

sein Handeln

aus der Perspektive

und des Trieblebens

daß der Mensch und

der Macht,

des Kampfes

zu verstehen sind. Ihr Interesse kon-

zentriert sich auf die Schicht der Existenz,

die in der klassi-

schen und christlichen Ethik unter den Titel der passiones, der concupiscentiae, der libidines fiel; die von Hobbes zur Natur

des

Menschen

erklärt

worden

war;

und

die

jetzt,

nach der Zerstörung der klassischen Ethik durch den deutschen Idealismus, im Klima der Verlassenheit von Vernunft und

Geist sozial

dominant

wird.

Ein solcher

Versuch,

den

Menschen aus der Perspektive reduzierter Menschlichkeit zu deuten, erfordert neue Symbole. Die vier Denker werden darum zu Sprachschöpfern und propagieren ein neues Reich

der

Sprache kampf,

Ausdrücke,

der

das

Philosophie

Nietzsche

den

mit

ökumenischem

verdrängt:

Willen

Marx

zur Macht,

Erfolg

den

Freud

die

Klassendie Libido,

Max Weber die Zweckrationalität des Handelns als die Ananke der Politik und Geschichte. — Zum zweiten: Ihnen allen ist das Bemühen gemeinsam, die Werte als Masken für Interessen, Kampf und Triebleben zu enthüllen. Das Unternehmen der Demaskierung wieder

erfordert

zwei

Serien

relation bis heute wenig

von

Ausdrücken,

deren

Kor-

beachtet wird. Erstens bedarf es 79

der Symbole, durch die Vernunft und Geist zu Masken der Triebsphäre werden. Wir hören darum von der Ideologie, die klassen- und situationsbedingt sei; von der Kultur als dem

Überbau

über

den

Produktionsverhältnissen;

ethischen Begründung des Handelns rung von Wünschen

von

der

als einer Rationalisie-

und Interessen; und vom

Geist

als der

Sublimierung der Triebe. Korrelativ zu der ersten muß jedoch die zweite Serie entwickelt werden, die bestimmt ist, die rationale Sprache der Güter- und Tugendlehre in Ethik und Politik zu verdrängen. Ich spreche von der Praseologie der Werte, der Werturteile jenseits rationaler Prüfung, der wertbeziehenden Methode und der wertfreien Wissenschaft. Ohne die gewollte Undurchsichtigkeit dieser zweiten Serie von Symbolen gäbe es nichts zu enthüllen. Denn in der Sprache der Philosophie sind die Motivationen des Handelns durch die Leidenschaften ebenso durchsichtig wie die Orientierung des Handelns durch Liebe zum göttlichen Sein.-Zum dritten: Ihnen allen ist gemeinsam die Abneigung - man darf sagen: der Haß — gegen den Bürger in seinen Spielarten vom Finanz- und Industriebürger bis zum kleinen Spießbürger, sowie gegen die bürgerlich-verklemmte Eigentums- und Sexualmoral. Und diesem Haß wieder korrespondiert ein Aristokratismus der Haltung, der sich gegen die geistige und intellektuelle, und damit sittliche Verrottung der Zeit auflehnt. Wenn aber die angedeuteten Züge als gemeinsame zu erkennen sind, warum werden die vier Männer nicht als die Figuren erkannt und anerkannt, die der Zeit ihre Signatur geben? Warum sprechen wir nicht von einer Periode, die, durch sie charakterisiert, der Periode des deutschen Idealismus, der Klassik und Romantik folgt? Oder genauer: Warum fehlt uns der sprachliche Ausdruck zur Bezeichnung einer

Periode,

die

zweifellos

erkennbare

hat?

Charakteristika

Die Antwort ist im Anti-Rationalismus der sprachlichen 80

Neuschöpfungen zu suchen. Zwar sind die gemeinsamen Züge — die Konzentration auf die sozial dominant gewordene Sphäre der concupiscentiae, die Abneigung gegen die verhüllend-undurchsichtigen

Werte,

und

der

Aristokratis-

mus der Haltung - als Reaktion auf den Verfall der Zeit zu erkennen, aber das reaktive Verhalten aus dem Geist der Platonischen andreia findet nicht die ihm angemessene Sprache - die Zeit ist so tief verrottet, daß sie auch die Erfahrung der Vernuft und des Geistes und deren Symbolik

diskreditiert hat. Der geistig-reaktiven Haltung, die wir in

jedem

der

vier

Fälle

finden,

korrespondiert

darum

keine

gemeinsame Sprache, in der die Gemeinschaft der Haltung artikuliert und mitgeteilt werden kónnte. Jeder entwickelt eine Sondersprache als Ausdruck seiner spezifischen Reaktion und vergróDert dadurch die Sprachverwirrung, die durch den Verlust der philosophischen Sprache entstanden war und nur durch ihre Wiederherstellung behoben werden konnte. Da der Sumpf der Zeit auch die sprachlichen Mittel der Kritik in sich hinabgesogen hatte, war die Zeit stárker als die Stárksten, die versuchten ihr Widerstand zu leisten. Das reaktive Verhalten wird infolgedessen eigentlich zwittrig: Es will die philosophisch-kritische Distanz zur Zeit

herstellen,

aber zur Durchführung

der

Intention

fehlt

es an der philosophischen Distanz; es will den Kampf gegen den Verfall der Zeit führen, aber es muß ihn in der Sprache des Verfalls führen. Der Zwittrigkeit dieser distanzlosen Distanz dürfte der Zug von aggressiver Selbstgewifheit

und Selbst-Darstellung entspringen,

der uns bei den vier

kämpferischen Denkern gegen die Zeit heute als merkwürdig berührt. Keiner von ihnen scheint von Mißtrauen gegen sich selbst und sein Werk geplagt gewesen zu sein — von jener Malaise des Mißtrauens, die den souveränen Denker auszeichnet. Die reaktive Haltung ohne geistige Artikulation bedingt die Sondersprachen und diese wieder machen die Leistung der vier Denker gedanklich undurchsichtig. Weder kónnen

81

die gemeinsamen Züge in der Sprache eines von ihnen dargestellt werden — wir können nicht das Werk der jeweils anderen Max

in der

Weber

Sprache

von

verständlich

Marx,

machen

Nietzsche, -, noch

Freud

wird

das

oder Werk

jedes einzelnen von ihnen transparent, wenn wir uns zur Deutung seiner eigenen Sprache bedienen. Die Pluralität der privaten Sprachen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts mußte erst durch die Wiederherstellung der óffentlichen Sprache des Philosophierens überwunden werden,

um

die gemeinsamen

Züge der Verfallszeit und der Auf-

lehnung gegen sie für die Vernunft verständlich zu machen. Mit der Wiederherstellung der Gemeinsprache aber klärt sich das Periodenproblem der Zeit, die keine besaß, insoferne als es wieder möglich wird, den Verfall der Zeit aus der Distanz der Vernunft und des Geistes kritisch zu bewältigen.

Durch

der Macht, ihrem

die

neue

des Kampfes

Situation,

in der wir

die Dominanz

und des Trieblebens

eigenen Vokabular

hinnehmen

nicht mehr

müssen,

in

konstituiert

sich eine neue Periode. Von ihr rückblickend wird die Zeit des Verfalls und der reaktiven Haltungen ihrerseits zu einer verstehbaren Periode des Geistes. Eingangs wurde von dem Stilbruch in der deutschen Geschichte des Geistes gesprochen. Abschließend sei dieser Punkt

noch

einmal

berührt,

um

einem

möglichen

Mißver-

ständnis vorzubeugen. Denn der Stilbruch darf nicht als ein Bruch in der Kontinuität des Geistes und seiner Geschichte verstanden werden. In der sinnhaft verständlichen, glanzvollen

Periode

Romantik sierbare

des

deutschen

Idealismus,

wird die undurchsichtige, Zeit, die nachfolgt,

der Klassik

nur schwer

vorbereitet.

Auch

und

charakteridie Zeit des

Glanzes war daher vielleicht nicht ganz so glanzvoll, wie sie dem Bürgertum der Nachzeit auch heute noch erscheint. Aber diese Frage können wir hier nicht mehr als andeuten. Wir haben uns mit der Periode der vier Großen zu befassen,

und mit der Stellung Max Webers in ihr.

82

11. Charakterisieren wir die Periode näher. Wir bemerken in ihr eine merkwürdige Verlagerung des Akzentes

in der Vorstellung von dem,

was Realität ist. Die

Realität der Vernunft und des Geistes, die sich in den noetischen und pneumatischen

Erfahrungen

erschließt, verblaßt;

und von ihr weg verlagert sich der Akzent auf die Erfahrung von der Welt der Dinge in raum-zeitlicher Existenz. Das hat verschiedenartige Folgen - teils bedenkliche, teils erfreuliche. Bedenkliche alle Realität,

die

nicht

in der Periode selbst, insoferne als die

Seinsweise

weltimmanent

exi-

stierender Dinge hat, zu Nicht-Realität absinkt; erfreuliche für uns in der neuen Situation des Philosophierens, insoferne als die energische Beschränkung des Ausdrucks Existenz auf den Seinsmodus weltimmanenter Dinge durchaus in der Richtung exakter Begriffsbildung liegt und daher angenommen werden sollte. Wir gewinnen dadurch die Freiheit, von den Bereichen der Vernunft und des Geistes mit Präzision als von nicht-existenter Realität zu sprechen. Jedenfalls scheint uns diese Ausdrucksweise sachlich klarer als der Versuch Heideggers, den Ausdruck Existenz für das transzendierende Dasein des Menschen in Anspruch zu nehmen und weiter mit dem Problem der Geschichtlichkeit zu verbinden, denn dieser Versuch eines Kompromisses wird weder den innerweltlich existierenden Dingen, noch unseren Erfahrungen von Transzendenz, noch der Geschichte gerecht. Aber bleiben wir bei unserer Periode. In ihr verlagert sich der Realitätsakzent auf immanentes Sein und für diesen Bereich monopolisiert sie die Ausdrücke Wissenschaft

und

Erfahrung;

Erfahrungswissenschaft

wird

zur

Wissenschaft von weltimmanenten Dingen. Was dagegen die nicht-existente Realität von Vernunft und Geist betrifft, so werden die Symbole der Philosophie und der Offen-

barung, in denen sich die Erfahrungen von Transzendenz 83

auslegen,

undurchsichtig

für ihren Erfahrungsgehalt;

und

die wachsende Undurchsichtigkeit wieder ist bedingt durch Atrophie der Erfahrung im Sinne des Versagens des meditativen Interesses und der Energie zur Artikulierung der nicht-existenten Realitátsbereiche. Es gibt keine lebendige Meditation mehr und die Sprache der Vernunft und des Geistes verdunkelt sich daher zu den berünmten Werturteilen,

die von

der Position

innerweltlicher

Existenz

ge-

sehen keine Basis in kritischer Erfahrung haben. Die episteme im klassischen Sinne ist tot. Aber wenn auch das Leben des Geistes zu aufgeklärter Vernunft,

zu

bürgerlicher

Moral

nicht-liberalen Weltanschauungen

und

zu

liberalen

oder

absinkt,

und wenn

auch

die Symbole der Transzendenz schwere Deformationen ihrer Bedeutung erleiden und diskreditiert werden, so ändert sich durch diese Vorgänge nichts an der Seinsordnung selbst. Auch wenn Hegel, Marx und Nietzsche Gott noch so gründlich ermorden und für tot erklären, so bleibt góttliches Sein ewig und der Mensch hat weiter mit seinem Leben fertig zu werden, das im Zeichen der Kreatur und des Todes steht. Wenn konkupiszente Phantasie die Akzente der Realität verlagert, dann überlagert sie die Realität mit einem falschen Bild. Von diesem Phantasiebild sprechen wir als der zweiten Realität. Und wenn der Mensch in dieser zweiten

Realität

Dei in eine imago

zu leben,

hominis

wenn

er sich aus

zu verwandeln

der imago

sucht, dann

er-

geben sich Konflikte mit der ersten Realität, deren Ordnung weiter besteht. Charakteristisch für die Periode sind daher die Phänomene der Friktion zwischen zweiter und erster Realität — wenn sie auch in ihren Anfängen weiter zurückgehen. Für uns sind vor allem die Friktionen von Interesse,

die

an

der

Bruchstelle

zum

diskreditierten

und

für nicht-real erklärten Bereich der nicht-existenten Reali-

tät der Vernunft und des Geistes auftreten. Ich zähle einige dieser Phänomene auf: (1) Da die nicht-existente Realität nicht abgeschafft werden

84

kann, muß die Leerstelle, die im Gefolge ihrer Diskreditierung entsteht, durch Symboliken

der zweiten Realität

aufgefüllt werden. Unter anderen Phänomenen

dienen

diesem Bedürfnis die innerweltlichen Apokalypsen Geschichte,

die von

Kant,

Condorcet,

Comte

und

der

Marx

geschaffen wurden. Da die neuen Geschichtsbilder ihren Ursprung in der innerweltlichen Konkupiszenz des

Handelns haben, gehóren zu ihnen auch wesentlich der progressive und revolutionäre Aktivismus sowie das revolutionäre Bewußtsein. (2) Mit dem Absinken nicht-existenter Realität zu NichtRealität entsteht das Phänomen der Desillusionierung,

sowie

das Gefühl

Illusionen

der Verpflichtung,

der Transzendenz

das

zu führen.

Leben

Die

ohne

Leugnung

des Geistes bringt das Leiden an der Gottverlassenheit hervor.

Denken

wir

an

das

Leiden

Nietzsches,

der

am

Beispiel Pascals erfahren hat, was Glaube heißt, aber sich seiner Disziplin nicht unterwerfen wollte. (3) Die Leugnung der nicht-existenten Realität des Transzendierens zu göttlichem Sein zerstört die imago Dei. Der Mensch wird entmenscht. Das Leiden an der Sinnlosigkeit eines gottverlassenen Daseins führt zu Ausbrüchen konkupiszenter

Schöpfung

eines

„neuen

Phantasie, zu der Groteske

Menschen”

— des

der

Übermen-

schen bei Marx und Nietzsche. (4) Da Aussagen über das Mysterium des Seinsgrundes nicht mehr als Exegese noetischer und pneumatischer Erfahrung auftreten dürfen, werden sie bei Nietzsche zu Masken des weltimmanenten „tiefen Geistes”. Die Suche nach dem Sinn des Lebens degeneriert zu ästhetischen

einem

Operationen

mit Symbolen

der Transzendenz,

zu

Spiel mit Masken von unverbindlicher Verbind-

lichkeit. Über den Fall Nietzsches hinaus wäre im allge-

meinen Macht,

zu sagen: Kampf,

Die innerweltlichen Phänomene

Trieben,

Klasse,

Nation

und

Rasse

von wer-

den mit dem Sinn nicht-existenter Realität beladen und

85

dadurch zu Masken der Transzendenz. Wir bemerken als charakteristisch das Phänomen eines die Transzendenzproblematik aufnehmenden, verzweifelten Jasagens zum innerweltlichen Spiel des Lebens, das mit einem Sinn belastet wird, den es in der Tat nicht hat. Nietzsche formuliert diese Belastung in einem brillanten Diktum. Er spricht von dem lebensbejahenden Menschen,

„der sich nicht nur mit dem,

was

war und

ist, ab-

gefunden und vertragen gelernt hat, sondern es so wie es war und ist wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo

rufend,

nicht nur zu sich, son-

dern zum ganzen Stück und zum Schauspiele, und nicht nur zu einem

Schauspiele,

sondern

im Grunde

zu dem,

der gerade dieses Schauspiel nötig hat — und nötig macht: weil er immer wieder sich nötig hat — und nötig macht — Wie? Und dies wäre nicht - circulus vitiosus deus?" Die göttliche Ewigkeit wird in ein immerwährendes, sich wiederholendes Spiel der Immanenz transponiert. Die Verborgenheit des Grundes wird zur Oberfläche des Spiel und in die Verborgenheit rückt der Mensch, der es spielt. Aber ist er noch Mensch? Denn

,alles was tiet ist, liebt die Maske"; und die Gegensátze

und Widersprüche der Masken sind ,die rechte Verkleidung für die Scham eines Gottes". In der Tat: circulus vitiosus deus. Das Spiel der Masken, das der GottMensch

Nietzsches

spielt, tritt an die Stelle von Platons

,ernstem Spiel" des Lebens.

IH. Wie steht Weber?

es

um

die

Phänomene

der

Friktion

bei

Max

Sie treten sehr viel gedämpfter oder gar nicht auf. Dieser Jüngste unter den vier Großen steht an der Grenze zum Neuen. Vor allem gibt es bei ihm keine Ideo86

logie, keine revolutionäre Apokalypse, keinen revolutionären Aktivismus, kein revolutionäres Bewußtsein. Sein Geschichtsbild erinnert an die Aufklärungsidee vom unendlichen Fortschritt zur Rationalität — die Formulierungen nähern sich manchmal denen von Kants Geschichte in weltbürgerlicher Absicht —, unterscheidet sich jedoch von ihr insoferne als das Fortschreiten zur Rationalität nicht optimistisch im Geiste der Aufklärung als ein Annähern an das Endreich

der

Vernunft

verstanden

wird,

sondern

als

eine

Notwendigkeit, eine Ananke der Geschichte, die schwer auf den Menschen

lastet. Und da für Weber

nicht, wie für Kant,

die Fortschrittsidee vom Glauben an die wahrhafte Sinnerfüllung des Lebens im Jenseits balanciert wird, steht zu befürchten, daß die seelische Spannung zum Zusammenbruch des Menschen führen wird. Die Realitäten der Industriegesellschaft

und

ihres

Rationalismus,

der

Massenge-

sellschaft und ihrer rationalen Verwaltung durch Bürokratien, werden zu einem Tunnel

immanenten

Geschehens,

aus

dem niemand entkommen kann. Und es gibt kein Entkommen, weil die Praxis des Lebens keine Dimension der vita contemplativa hat. Das Leben der Vernunft ist zur NichtRealität abgesunken und an seine Stelle ist der weltimmanente Betrieb der Wissenschaft getreten, in dem die Leistungen eines Gelehrten, wie immer bedeutend sie sein mögen, in spätestens dreißig-vierzig Jahren überholt sind.

Auch

die

Wissenschaft

unterliegt

der

Sinnlosigkeit

des

immanenten Ablaufs. Die seelische Atmosphäre des Fortschreitens hat sich also gegenüber der Aufklärung des 18.

Jahrhunderts

wesentlich

schwört Max

Weber,

schäftigt,

seine

Jedoch:

als

Weder

christentum",

verändert,

wenn

und

in der Tat

er sich mit diesen

Autorität

nicht

Kant,

Fragen

sondern

Nietzsches

Spiel



oder

be-

Tolstoi.

erlaubt er sich Tolstois Flucht in das noch

be-

sollte

„Urman

sagen: Spielerei? — mit dem circulus vitiosus deus. Die Illu-

sionslosigkeit der

Immanenz

nommen.

97

wird

unerbittlich

ernst

ge-

Es gibt darum für Weber auch keine Phantasie vom Übermenschen. Allenfalls könnte man etwas davon in sei-

nen Begriffen des Charisma und des Charismatikers finden

wollen. Aber Webers Assoziation von Charisma mit dem Adel des Seins verrät eher die Nähe zu Stefan George - von dem er sich jedoch wieder ironisierend distanziert, wenn er ihn gelegentlich, unter Vertrauten, den Weihen-Stefan nennt. Genauer läßt sich Webers Haltung in der Frage des Übermenschen durch Vergleich mit der G. B. Shaws bestimmen. Denn die Vorstellung vom Übermenschen, die Shaw in seinem Man and Superman (1904) entwickelte, deckt sich ungefáhr mit Webers Charismatiker — als Beispiele werden

Caesar, Luther, Cromwell,

Napoleon, Goethe

genannt. Das Symbol des Übermenschen wird übernommen, aber sein eschatologischer Sinn prallt am common sense

ab.

Shaws

Superman

läßt

deutlich,

sehr

viel

deut-

licher als Webers Charismatiker, den spoudaios des Aristoteles als seinen Ahnherrn erkennen. Nur wenn alle Mitglieder der Gesellschaft von so hohem geistigen und intellektuellem Rang sind, wie er uns in der Geschichte an seltenen Exemplaren begegnet, meint Shaw, seien die Übelstände zu überwinden, die unter den uns bekannten Rangverháltnissen von Menschen in Gesellschaft unvermeidlich zu Revolutionen führen. Wenn er von der Züchtung des Übermenschen spricht, träumt er von der Gesellschaft der patrizischen Plebejer, wie George Santayana sie genannt hat, und dieser Traum wieder liegt mit dem klassischen Hintergrund in der Politik des Aristoteles — auf der Linie von J. St. Mills improvement des Menschen und dessen

Fortschreiten

Shaw,

freien,

rationalen

Gesellschaft.

Für

der zwischen Traum und Realität sehr genau zu un-

terscheiden

Situation sind,

zur

wußte,

der

Zeit

andererseits

kommenheit

war aber

führen,

„Revolutionen

es

daher

Revolutionen

haben

den

klar,

daß

einerseits

in

nicht

zu

dem

sich

die

Revolutionäre

niemals

88

die

Last

Zustand

der

der

realen

unvermeidlich der

Voll-

erhoffen:

Tyrannei

er-

leichtert; sie haben sie nur auf andere Schultern gewälzt”. Eine proletarische Demokratie könne daher nichts anderes bringen als eine neue Herrschaft, belastet mit den gleichen, aus der menschlichen Natur entspringenden Mängeln wie die eben überwundene.

Die Nähe der Gedanken zu Max Weber möge man daran

ermessen,

daß

der

letzte

Satz

von

ihm

geschrieben

sein

könnte. In der späten Rede über Politik als Beruf spricht Weber davon, daß revolutionäre Sozialisten, Bolschewisten und Spartakisten von ihrem Unternehmen ablassen würden,

wenn

man

ihnen

klar

machte,

daß

sie durch

ihre

Revolutionen nichts erreichen als eine neue bourgeoise Industriegesellschaft, vermindert um einige feudale und

dynastische Elemente, und daß dieses Ziel die gewaltigen Blutopfer nicht wert sei. Die Parallele ist nahezu —

und

doch

markiert

sie

die

Stelle,

an

der

wörtlich

Weber

vom

Realismus eines Shaw radikal abweicht. Denn Shaw erlaubte sich den Traum von der übermenschlichen Gesellschaft, eben weil er angesichts der Realität von Mensch und Gesellschaft die Blindheit der gewalttätigen Lösungsversuche

für unvermeidlich

hielt; niemals

wäre

es ihm

einge-

fallen zu glauben, daß er durch seine bessere Einsicht in das

enttäuschende Nachspiel der Revolution diese aufhalten könnte. Sein common sense blieb immer offen zum göttlichen Grund, auch wenn er - ein Tribut an die Zeit — ihn Evolution nannte. Zwanzig Jahre nach Man and Superman wandelt sich darum die Komödie vom Übermenschen konsequent zur tragischen Chronik der Heiligen; und Saint Joan (1924) schließt mit der Klage: „Oh Gott, der Du diese schöne Erde gemacht hast, wann

wird sie bereit sein, Deine

Heiligen zu empfangen? Wie lange noch, oh Herr, wie lange?" Max Weber dagegen, in der fougue seiner Immanenz, glaubt das Rezept zur Lösung des Übels zu besitzen: Die Einsichten einer wertfreien Sozialwissenschaft sollen und können die Revolutionäre zur Verantwortung erziehen, indem sie ihnen die Konsequenzen ihres Handelns be-

89

wußt

machen.

selbst

die

vermag auch

Wenn

beste

wir bedenken,

daß im konkreten

Sozialwissenschaft

nicht

als jeder Mensch mit common

ohne

sie

weiß,

wird

uns

der

mehr

Fall

zu bieten

sense, wie z. B. Shaw, merkwürdige,

blinde

Punkt in der Haltung Max Webers deutlich. Weber sieht, daß diese Ausflüchte in die Apokalypse nicht gehen; er weiß, daß die Realität keine apokalyptische

Struktur hat. Aber er versteht nicht — und hier liegt wieder-

um

die

Schranke

seines

Transzendenzverstehens

-,

daß

diese Männer eben in einer falschen Transzendenzhaltung stehen, die durch rationale Überlegungen wissenschaftlicher Art nicht erschüttert werden kann, gerade weil es sich um

eine Transzendenzhaltung

bestimmter,

wenn

auch

deformierter Art handelt. Als einer der GroDen im Range des Geistes hat Weber wie viele große Männer mit dem Problem zu kämpfen, daß er die anderen für seinesgleichen ansieht. Auch dieses Problem hat Bernhard Shaw einmal vorzüglich formuliert,

tionary sehen,

feststellte:

als er im The Manual

Von

ist seine Distanz

dem

bedeutenden

zu den anderen,

of the Revolu-

Mann

kleineren,

her

ge-

gering;

darum kann er sie für seinesgleichen halten; von den Kleineren her gesehen ist dagegen die Distanz zum Großen enorm.

Um es noch einmal zu betonen: Für Weber gibt es keinen

;Ubermenschen",

keine

,Illusion". Sein Vokabular

besteht

aus Ausdrücken wie ,Entzauberung der Welt", „Entgöttlichung"; seine Schriften sind geprägt von der Resignation,

daß die großen Zeiten der Offenheit des Geistes und der

Prophetie vorüber sind, daD wir nicht mehr in einer Zeit der Prophetie leben — daß wir vielmehr reduziert sind auf die Nüchternheit der Verantwortlichkeit im innerweltlichen Handeln. Es gibt deshalb für einen Mann wie Max Weber kein Spiel der Masken wie bei Nietzsche, es gibt auch keine Maskenspiele anderer Art, die von anderen Männern in der gleichen Situation entwickelt wurden. Man mag an Picasso

denken und an die Folge der Phasen seines Stils — ein Mas90

kenspiel man

hinter

mag

an

dem

der

Bertrand

spanische

Russel

Mystiker

denken,

dessen

steht.

Oder

Philosophie

man eigentlich nicht kennt, weil er in den verschiedenen Phasen seines Lebens so viele verschiedene durchlaufen hat, daß man für jede philosophische Position aus seinem Werk Belege anführen kann. Doch auch bei ihm steht dahinter eine mystische Haltung. Anders dagegen Max Weber. Er ist gekennzeichnet durch die Konstanz in der Haltung und im Stil; hier macht sich bemerkbar,

wodurch

er

Weber

anderen,

die

Größere

unterscheidet.

und

sich

Nach

ihn

von

den

anderen

als

der

dem

Zeugnis

von Marianne

gut

gekannt

haben,

waren

seine Haltung und sein Stil spätestens in der Mitte seiner 20er Jahre abgeschlossen. Seine Persönlichkeit und sein Vokabular hatten sich in dem Jahrzehnt zwischen seinem 15. und seinem

25. Lebensjahr

geformt;

später hat sich dar-

an nichts Wesentliches mehr geändert. Doch diese Konstanz der Haltung und des Stils ist nicht eine Lösung für irgendetwas.

Wenn

Weber

weder

Illusionen

hatte,

noch

jene

Ausflüchte, die anderen zur Verfügung standen - in Ideologien, in Phantasien vom Übermenschen - so hat er für diese Nüchternheit und für sein Wissen, warum es da geht, mit dem zu bezahlen, was man den

,Zusammenbruch"

nennt.

Hier muß kurz an einige Daten erinnert werden: Weber wurde 1895 in Freiburg habilitiert, 1896 kam die Berufung nach Heidelberg, 1898 Erschópfung und Zusammenbruch, 1899 Amtsenthebung auf seinen Antrag hin und dann, nach einem

erneuten

Versuch

zwischen

1903

und

1904, das

end-

gültige Ausscheiden aus seiner Professur. Er hat keinen

Beruf,

den

er terminmäßig

ausüben

kann.

Dieses Verhalten wird nun gern als ein psychopathologisches Phänomen erklärt - zu Unrecht, wie mir scheint. Denn ich glaube nicht, daß es sich um

ein solches handelte,

wenn

vielleicht auch die äußeren Anzeichen denen irgendwelcher psychopathologischer Phänomene ähnlich waren. Denn diesem Zusammenbruch ging eine rasende Arbeitsüberhäu91

fung voraus, Arbeitens

die seine Unruhe

liegt

die

zeigte. In dieser Raserei des

eigentliche

Ursache,

die seinen

äußer-

lichen Zusammenbruch herbeigeführt hat. Und als dieser Zusammenbruch sich dann stabilisiert hatte, begann die große

Periode

des schöpferischen Schaffens, durch

das We-

ber das geworden ist, um dessen Willen wir heute seinen 100. Geburtstag feiern. Mit anderen Worten: Jener äußere Zusammenbruch ist eine bürgerliche Kategorie; in der Okonomie des Geistes manifestierte sich der Zusammenbruch in der vorangehenden Raserei

des Arbeitens;

und erst nach

Einstellen

dieser

Raserei kam es zur Gesundung. Doch selbst dann blieb etwas von jener früheren Spannung übrig, vollzog sich noch keine endgültige Erlösung von der Problematik des Zusammenbruchs; durchwegs

denn

das

Werk

fragmentarischen

das

Weber

Charakter,

hinterließ,

und

es

hat

ist gleich-

zeitig enzyklopädisch. Die ungeheure Unruhe war immer noch da, jetzt aber auf das Umspannen des gesamten Stoffes der Menschheitsgeschichte gerichtet, um aus ihm so etwas wie eine Philosophie der Menschheit herauszuarbeiten:

Das

Schicksal

ihrer

Ratio,

das

Ansteigen

zum

Ratio-

nalismus — vom Rationalismus des antiken Judentums über den Puritanismus bis zum Rationalismus der Industriegesellschaft. Alles jedoch bleibt fragmentarisch. Es gibt nur einige Punkte, an denen so etwas wie eine Vollendung des Werkes

zu bemerken

ist; einer davon ist, wie Weber

selbst

feststellte, der Abschnitt über das Naturrecht in Wirtschaft und Gesellschaft. Fassen wir die Charakterisierung zusammen: Für Weber ist -- im Unterschied zu anderen - das radikale Ernstnehmen der innerweltlichen Situation charakteristisch. Weber erlaubt sich keine Ausflüchte aus der Ananke des Handelns in der Welt. Trotzdem - oder gerade deshalb - leidet er an der

falschen

Haltung,

die

er nicht

die

er als situationsgebundener

auflösen

Mensch

kann,

in einer

sondern Zeit,

aus

der er ebensowenig völlig ausbrechen kann wie andere, zu 92

tragen hat. Das äußert sich in seinem politischen Verhalten in einer leidensduaftlichen Anteilnahme an der Politik,

gleichzeitig

aber im Rückzug

in entscheidenden

Situatio-

nen, in denen sich ihm Möglichkeiten zu politischer Tätigkeit, z. B. als Abgeordneter oder Staatssekretär eröffneten. In seiner wissenschaftlichen Arbeit zeigt sich dieses Leiden im Gefühl für die Sinnlosigkeit von wissenschaftlicher Tàtigkeit im Sinne von Wissen, dessen jeweiliger Stand spätestens nach einer Generation überholt ist. Es stellt sich hier das Problem, das Kant schon lange vor Weber in seiner Analyse des Fortschritts ansprach: Wohin kommen wir durch dieses ständige Fortschreiten der Wissenschaft? Was haben wir als Menschen hier und jetzt davon, daß in der Zukunft andere Menschen in einem vollkommeneren Reich der Ratio leben werden? Unser Leben wird dadurch nicht anders. Die letzte Sinnlosigkeit, die Kants ,Befremden" erregte, kann nur gelöst werden durch die Offenheit für Transzendenz als der Sinnöffnung des Lebens. Sie liegt nicht in der Welt. Dieser Sinnlosigkeit war Weber sich sehr bewußt, und das dürfte auch zum Teil den fragmentarischen Charakter seines Werkes erklären. Wir finden bei ihm also eine höchste geistige Sensitivität, aber keinen endgültigen Durchbruch, der die Falschheit anerkennt und die Spannung lösen würde. Es bleibt bei der Deformation der Wissenschaftsidee zu einer Wissenschaft vom innerweltlichen Handeln der Gesellschaft als Machtorganisation in der Form des Nationalstaats. Platon und Aristoteles und die Philosophie der Ordnung werden von der Rationalität der Immanenz als überholt verworfen. Das Webersche Ideal bleibt das der nachgalileischen Wissenschaft.

Dennoch

befindet,

klar

ist in alledem durchleuchtet.

die Und

Situation, gerade

in der

deshalb

er sich gibt

es

kein Zurück zu Max Weber oder gar hinter Max Weber. Er hat die Problematik klar dargestellt; wir haben von hier aus weiterzugehen in der Richtung der Transzendenzoffenheit und

der Restauration jener

93

Symbole,

in denen

die Er-

fahrungen Max

von

Weber

Vernunft

hat

diese

und

Geist

Situation

sich selbst

für uns

auslegen.

überwunden,

wir

haben in unserer Zeit die Realität wieder herzustellen. Lassen Sie mich diesen Teil meiner Ausführungen mit einer Anekdote beschließen, die im Werk von Baumgarten

über Max

Weber

enthalten

ist. Baumgarten

erzählt,

daß

Weber nicht erst nach seiner Krankheit von gelassener Höflichkeit gegen andere war, sondern selbst schon in der schwersten Zeit der Krankheit selbst. Als Marianne Weber den

Tiefpunkt

Widerstandes einreichte,

erlebte,

und

da

daß

ihrer

tröstete

ihr

Trauer der

Mann

trotz

sein

Kranke

ihres

inneren

Entlassungsgesuch die

leidenschaftlich

gegen sein Geschick sich auflehnende Frau mit einem ebenso gütigen, wie unverwüstlich selbstbewußten Satz: „Irgendwann finde ich schon ein Loch, aus dem ich wieder in die Höhe sause." Das ist die Symbolik des Aktivisten, der in der Nacht

sitzt, aber als Aktivist wie

eine

Rakete

durch

ein Loch aus der Höhle wieder in die Höhe saust. Man betrachte daneben das platonische Höhlengleichnis und den Mann, der für die Transzendenz offen ist und sich gezwungen fühlt, sich umzudrehen, die periagoge zu vollziehen und hinaufzusteigen zum Licht. Ganz anders Max Weber: Er saust wie eine Rakete aus dem Loch. Das Symbol für jene Zeit und für die ungelöste Spannung in ihr, könnte kaum charakteristischer sein.

IV. Man könnte diese Spannung, von der ich gesprochen habe, am

Gesamtvokabular

Max

Webers

nachweisen,

z.B.

an

den Kategorien, unter denen er die Politik als ein Feld faßt, in dem es auf Leidenschaft, Verantwortung und Augenmaß ankommt. Lassen Sie mich abschließend diesen Punkt noch kurz ansprechen.

Was

versteht

Weber

94

unter

,Leidenschaft"?

Ein

Blick auf die von ihm verwendeten Synonyme führt weiter:

Synonym gebraucht er den Ausdruck ,Sachlichkeit" und sy-

nonym mit ,Sachlichkeit" wiederum den Ausdruck

„Bändi-

gung der Seele". ,Leidenschaft" bedeutet somit genau das Gegenteil von

dem,

was

man

gewöhnlich

unter diesem

griff versteht:

Nicht, den Leidenschaften nachzugeben,

Beson-

dern die Seele zu bándigen und sich ganz auf die Sache zu konzentrieren,

um

die

es geht.

Oder

was

versteht

Weber

unter ,Verantwortung"? Auch sie ist Verantwortung gegenüber der Sache, und diese Verantwortung ist der Leitstern des Handelns. Auch diese Formulierung erinnert an die klassischen Probleme des hóchsten Gutes und an die Offenheit zu diesem hóchsten Gut. Oder betrachten wir schließlich das Wort „Augenmaß". Es bedeutet für Weber Distanz zu Dingen und Menschen. Das ist vielleicht die verráterischste Formulierung. Denn Distanz erfordert, daß man selber irgendwo steht. Die gesamte immanente Seinsrealität ist die Realität, zu der man Distanz haben muß. Doch wo findet man diese Distanz, außer in der nicht-existenten Rea-

lität der Vernunft und des Geistes? Überall also, wo diese Worte diskursiv ausgeführt werden, läßt sich am Gebrauch der Synonyma feststellen, daß Weber de facto seine Ethik genau in der gleichen Weise einstellt,

wie ein klassischer

Philosoph,

les, sie in seiner Politik formulieren

terschied zu entdecken und darum staunlichsten Parallelen. Man

etwa

würde.

ein Aristote-

Es ist kein Un-

finden sich auch die er-

darf wohl sagen, daD gewisse

Untersuchungen von Weber — etwa über modernes Parteienwesen oder über Bürokratie - in ihrer brillanten Analyse, in ihrer Distanziertheit zu der echten Problematik

der

Politik durchaus den aristotelischen Ausführungen über die Umwälzungen,

die stasis im 5. Buch der Politik an die Seite

zu stellen sind. Auf

dieser Hóhe

bewegt

sich Weber,

wenn

er aus der Distanz politische Untersuchungen anstellt. Im Hinblick auf diese Distanz ergeben sich dann die Todsünden der Distanzlosigkeit der aufgeregten Intellektuel-

95

len. Unter sie fällt alles, was überhaupt an Ideologien in der Zeit, speziell in der Revolutionszeit von 1918 vorhanden ist: die Eitelkeit und die Verantwortungslosigkeit, denn — ich gebrauche jetzt immer das Vokabular Webers, damit deutlich wird, wie sich bei ihm die Transzendenz wieder herstellt -- alle diese Handlungen sind oberflächlich gegenüber dem Sinn des menschlichen Handelns. Er weiß also, was

das ist, und dieser Sinn ist das Wissen

um

die Tragik,

in die alles Handeln verflochten ist. Wohlgemerkt um Tra-

gik im klassischen Sinn des Wortes.

Die Sachlichkeit

im

Verhalten zur Welt und ihrer Machtsphäre ist eine Forderung der Würde des Menschen. Der Verantwortungsethiker, wie Weber

ihn nennt,

ist der Träger dieser Würde.

Er

hat sich dem Übel zu widersetzen. Im Gegensatz dazu steht der Gesinnungsethiker - für ihn exemplifiziert durch Pazifisten, aber auch durch die Bergpredigt, verbunden mit würdeloser

Haltung,

aber

wieder

mit dem

Proviso,

würdelos

nur für den, der nicht Heiliger ist. Weber erkennt den Heiligen und die Gründe um deretwillen er Heiliger ist, im Sinne der sanctification des Lebens, durchaus an. Wir haben

hier eine ähnliche Situation wie bei Weber im allgemeinen in seinem Verhältnis zu Christentum und Judentum. Er versteht, letzten

worum

es geht,

Unmöglichkeit

aber

versagt,

ihm die

selber

ist es aus

einer

Verschlossenheit

zu

durchbrechen und wieder in die Transzendenz-Offenheit zurückzukehren. Man könnte dies für die gesamte Problematik der Gesinnung des Verantwortungsethikers durchführen. Lassen Sie mich abschließend auf noch einen Punkt hinweisen: Da Weber durchaus ein transzendenzbewußter Mensch war — wenn auch nicht offen dafür und nicht artikuliert in seiner Sprache, mußte er als Wissenschaftler alles das, was an Sinngehalt von der Transzendenzerfahrung, von der Symbolk der Vernunft und des Geistes her interpretiert werden sollte, in innerweltliche Typen umsetzen, d. h. er mußte aus innerweltlichen Sozialprozessen Idealty-

96

pen bilden, in denen sich die Ordnung auf den Geist und die Vernunft hin reflektiert. In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung seines prachtvollen Abschnittes über das Naturrecht zu sehen. Das Naturrecht -- das der Stoa ebenso wie das moderne revolutionäre Naturrecht - hat ihn fasziniert. Denn in diesem Naturrecht manifestieren sich ja gerade die pragmatischen Paradigmen der richtigen Ordnung — einer Richtigkeit, die durch die Offenheit zur Transzendenz bestimmt wird, in der die Natur des Menschen

ihre an-

gemessene Ausgestaltung in Institutionen und Ordnungen der Gesellschaft findet. Das Naturrecht ist für Weber — um in seiner Sprache zu sprechen - einer der Idealtypen der richtigen Ordnung. Auf diese Weise bezieht er die richtige Ordnung wie Naturrecht in die Betrachtung ein. Und dieses Hereinziehen im Falle des Naturrechts ist das generelle Prinzip seiner Bildung von historischen Idealtypen, von denen er schon in den frühen Untersuchungen zur Methode der

Sozialwissenschaften

keineswegs

wertfrei

ausdrücklich

feststellt,

seien, da sie ja verursacht

daf)

sind

sie

durch

die Ideen der Menschen, die in Ordnungen der Vergangen-

heit gelebt haben. Und jene Ordnungen, die sich als Typische unter diesen Ideen herausgestellt haben, veranlassen jetzt die Aufstellung von Idealtypen, in denen sie erfaft werden. Doch die Ordnungen jener Zeiten enthielten ja im Gegensatz

zu

heit und die überziehen Idealtypen Webers und philosophie,

Webers

eigener

des Fortschritts

das

Problem

des

Puritaners

die

oder des Materialismus

der

ratio von

der

her verstanden

geht auf die Rationalitát des mus

Zeit,

Transzendenzoffen-

Ordnung aus Vernunft und Geist. Dieses Herder Ordnung der Vernunft und des Geistes in ist charakteristisch für das Gesamtwerk Max insbesondere für den Entwurf einer Geschichtsdie nicht einfach eine Geschichtsphilosophie

im besonderen,

sowie

ist, sondern

rationalen wird,

in der

Lebensführung

die wiederum

zurück-

Judentums und des Prophetisauf die Rationalität

97

des Mönch-

tums. Alles sind Fälle der Rationalität der Lebensführung, die aus der Distanz der Transzendenz zu der immanenten Ordnung gelangt, und diese Rationalität will \Veber zum durchlaufenden Leitbild, bzw. zum Idealtvpus der Geschichtsbetrachtung machen. Statt weitere Beispiele anzuführen will ih mit einer Anekdote schließen, die ebenfalls von Baumgarten mitgeteilt wird,

sich aber

zeitlich

nicht

datieren

läßt.

Sie

lautet

wie folgt: Im Saal des Heidelberger Hauses, auf der Ziegelhäuserstraße,

saßen

Max

und

Marianne

Weber

öfters

vor

dem Schlafengehen, meist schweigend, er mit einer Zigarre, diein das Dunkel des Raumes ab und zu kleine Lichtpunkte streute. Einmal sagte er durch den stillen großen Saal zu ihr hinüber

am

Fenster:

„Sag

mal,

kannst

Du

dir vorstel-

len, Du seist ein Mystiker?" Marianne Weber, die sehr viel common sense hatte, erwiederte: „Das wäre gewiß das letzte, was

ich mir denken könnte.

für Dich Dir vorstellen?"

Kannst Du es denn

Darauf Max

Weber:

etwa

„Es könnte

sogar sein, daß ich einer bin. Da ich mehr in meinem Leben

geträumt habe als man sich eigentlich erlauben darf, so bin ich auch nirgends ganz verläßlich daheim. Es ist als könnte und wollte ich mich aus allem ebensowohl auch ganz zurückziehen." Das ist eine prachtvolle Formulierung des Paulinischen hosne, des Als-Ob-Nicht, der christlichen Anordnung „Seid in der Welt, aber nicht von hier. Lebt in der Welt, als ob ihr nicht in ihr lebet und zu ihr gehórtet." Und mit dieser Formulierung

nun

wieder,

die nicht ganz

christ-

lich ist, sondern nur die Möglichkeit ausspricht, man könnte sich auch

aus

der Welt

zurückziehen,

steht

Weber

wieder

einem anderen Denker nahe, der am Anfang dieser Zeit der Spannung lebte — Thomas Morus. In seiner Utopia spricht im Dialog der Wanderer, der die wahre Ordnung und den sinn des Lebens auf seinen Wanderungen über die qanze Erde

sucht, zu seinem

nen Wanderungen,

weit weg von Gott.“

Freund:

, Wo

immer

ich bin auf mei-

stellt sich heraus, ich bin immer gleich

98

Aquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte Wenn

wir nach den Konstanten

Gesellschaft

und Geschichte

menschlicher

suchen,

Ordnung

in

wissen wir im Augen-

blick nicht recht, welche Sprache wir verwenden sollen. Denn eine Reihe traditioneller Begriffe erweist sich immer mehr als inadäquat, dieser Suche Ausdruck zu verleihen, während neue Begriffe mit ausreichender Präzision sich noch nicht herausgebildet haben. So sprechen wir immer noch von den unveränderlichen Werten im Prozeß der Geschichte, obwohl wir wissen, daß der Ausdruck , Werte" das caput mortuum einer vergangenen methodologischen Ära darstellt. Wir müssen ihn aber benutzen, wenn ständlich

ausdrücken

wollen,

weil

sich eine

wir uns ver-

Terminologie,

die der Erfahrung des Menschen von seiner eigenen tur besser entspricht, noch nicht soweit durchgesetzt

daD sie schon allgemein akzeptiert würde.

Nahat,

Während es also noch keine angemessene Sprache gibt, die sich mit der Autorität einer etablierten Theorie aufdrängt, benutzen wir eine solche schon längst bei unserer praktischen Arbeit an Symbolen. Wenn wir nämlich an vergleichenden

Untersuchungen

über

Ahnenkulte,

Initia-

tionsriten, Krónungsrituale, über Mythen vom ewigen Leben oder das Totengericht in verschiedenen Gesellschaften arbeiten,

dann reden

wir nicht von

, Werten",

sondern

wir

sprechen von ,áquivalenten" Kulten, Zeremonien, Riten und Mythen. Und dabei sind wir uns auch bewußt, daß es

Unterschiede zwischen den einzelnen Symbolen gibt, und

wir wissen sehr wohl, daß das Gleichbleibende, das es recht-

99

fertigt, von bolen

, Aquivalenzen"

selbst liegt, sondern

zu sprechen, nicht in den Symin den

Erfahrungen,

die diesen

Symbolen zugrundeliegen. Wenn wir also von ,Aquivalenzen" sprechen, bedeutet dies gleichzeitig die theoretische Einsicht, daß nicht die Symbole selbst, sondern die Konstanten der sie hervorbringenden Erfahrung die eigentlichen Gegenstände unserer Untersuchungen sind. Was in der Geschichte der Menschheit unverändert bleibt, sind nicht die Symbole, sondern das ist der Mensch auf der Suche nach seiner menschlichen Natur und ihrer Ordnung. Obwohl dieser Sachverhalt klar und einfach formuliert werden kann, hat er weitreichende Konsequenzen. Denn

eine vergleichende

Untersuchung,

die sich nicht dar-

auf beschränkt, die Symbole als Phänomene zu registrieren,

sondern zu den Konstanten der sie hervorbringenden Erfahrung vordringt, kann ja nur an Hand von Symbolen durchgeführt werden, die ihrerseits wiederum von den Konstanten hervorgebracht wurden, nach denen unsere vergleichende Untersuchung auf der Suche ist. Das Stu-

dium

von

Symbolen

ist ein reflektives

Fragen !', das die

suche nach der Wahrheit existentieller Ordnung zum Gegenstand hat. Wenn es einmal voll entwickelt ist, wird es zu dem

werden,

was

man

traditionell

eine

Philosophie

der Geschichte nennt. Das Suchen nach einer Theorie von ,Aquivalenzen" setzt also die Existenz eines Philosophen voraus, der sich der zeitlichen Dimension seiner eigenen

Suche bewußt geworden ist und sie zu der seines geschicht-

lichen Vorgängers in Beziehung setzen möchte. Das Bestreben,

eine

Theorie

,Aquivalenzen"

von

zu

,Werten"

ersetzen,

durch

markiert

eine den

Theorie

Punkt,

von

an dem

das vergleichende Studium von Symbolen dazu gekommen ist, sich zu verstehen als Suche nach der Suche. Die folgenden Reflexionen

sollen, soweit dies im Rahmen

eines Auf-

satzes móglich ist, die Hauptprobleme dieses neuen geschichtlichen Bewußtseins klären. Dabei will ich zuerst die Probleme betrachten, die sich aus der Begegnung des Phi-

100

losophen mit einem intellektuellen Klima ergeben, das von der Theorie von ,Werten" beherrscht ist.

I. Die eigene Natur zu verstehen und sein Leben im Licht der gewonnenen Einsicht zu ordnen, ist das Bestreben des Menschen in der Geschichte gewesen, soweit schriftliche Zeugnisse zurückreichen. Wenn sich heute ein Philosoph reflektiv

dem

Realitätsbereich

zuwendet,

den

man

menschliche

Existenz nennt, dann entdeckt er ihn nicht als eine terra incognita, sondern er bewegt sich inmitten von Symbolen für

die Wahrheit der Existenz, welche die Erfahrungen seiner Vorgänger repräsentieren.

Dieses Feld von Erfahrungen und Symbolen ist weder ein Gegenstand, den man von einem Standpunkt außerhalb beobachten könnte, noch bietet es für jedermann dasselbe Erscheinungsbild. Es ist vielmehr die Existenz in ihrer zeitlichen Dimension, die nur dadurch zugänglich wird, daß man an dieser Realität partizipiert. Und was der Philosoph, der sich in diesem Feld bewegt, sieht oder nicht sieht, was er versteht oder nicht versteht, und ob er sich überhaupt in ihm

zurechtfindet,

hängt

von

der Art und

Weise

ab,

in

der seine eigene Existenz geformt ist durch geistige Disziplin in Offenheit gegenüber der Realität oder deformiert durch unkritische Übernahme von Auffassungen, welche die Realität der unmittelbaren Erfahrung verdunkeln. Nehmen

wir einmal an, ein Philosoph habe sich selbst de-

formiert, indem er sich die Anschauung zu eigen machte, die

Wahrheit der Existenz sei eine Serie von Behauptungen über die richtige Ordnung des Menschen in Gesellschaft und Geschichte, die Richtigkeit dieser Behauptung könne bewiesen

mann

werden,

akzeptabel.

und

Wenn

deshalb

er nun 101

seien

sie

auch

für

jeder-

mit dieser Überzeugung

das Feld der Symbole betritt, wird er mit Sicherheit enttäuscht und bestürzt sein. Denn er wird vergeblich nach der einen und einzigen Serie wahrer Behauptungen Ausschau halten, die seiner Erwartung nach aus den Anstrengungen der Menschheit in einer Zeit von 5000 Jahren doch eigentlich hervorgegangen sein müßte. Das Feld der Geschichte wird sich ihm vielmehr als eine selva oscura solcher Serien darstellen, die alle voneinander verschieden sind, jede mit dem

Anspruch,

die einzig

wahre

zu

sein,

keine über die allgemeine Anerkennung

von

denen

aber

verfügt, die sie im

Namen der Wahrheit fordert. Weit davon entfernt, die unveränderlichen Werte der Existenz zu finden, wird er sich in dem lärmenden Streit unter den Inhabern dogmatischer Wahrheit verloren vorkommen - sei diese Wahrheit nun theologisch, metaphysisch oder ideologisch. Nun mag er vielleicht,

in dieser Weise

schichtlichen

Feldes

mit der Dogmatomachie

konfrontiert,

den

Kopf

des

verlieren

geund

sich seinerseits in die Schlacht stürzen. Hält er aber an seiner Überzeugung fest, daß existentielle Wahrheit, soweit sie überhaupt gefunden werden kann, ein endgültiger Katalog von Aussagen, Regeln oder Werten sein muß, dann wird er zu gewissen Schlußfolgerungen neigen. Vom intellektuellen Standpunkt

aus wird er vielleicht vermuten,

daß

eine Suche, die nun schon Jahrtausende andauert, eine Jagd nach dem Unerkennbaren sei, die man lieber aufgeben solle. Und wenn er dann das wenig erhebende Schauspiel der Dogmatomachie betrachtet, mit all der Enttäuschung, Angst, Entfremdung, mit den wilden Beschimpfungen und der Gewalt,

die

damit

verbunden

ist, dann

wird

er

es vielleicht

auch unter moralischen Gesichtspunkten für besser halten, sich nicht weiter an dieser Suche zu beteiligen. Und wir können

ihm

zu dem

Schluß kommt,

Weisheit

ist,

kaum und

Vorwürfe er

machen,

daß

Skepsis

deshalb

ein

wennn

ehrlicher

Historist wird. Die problematische Phase im Denkprozeß 102

er schließlich

die reifste Frucht Relativist

der und

unseres Philo-

sophen

ist nicht

die skeptizistische

dern seine Ausgangsüberzeugung,

Schlußfolgerung,

durch die er dem

son-

Feld

der Symbole das Erscheinungsbild einer unaufhörlichen Dogmatomachie aufzwingt. Gegenüber dem Vorwurf, dem Feld der Symbole

Gewalt

anzutun,

kann

er jedoch einwen-

den, daß er zu Unrecht beschuldigt werde: Die genannte Überzeugung sei ja nicht seine Erfindung; er habe sie in seinem Umfeld als ein Phänomen vorgefunden, das sich ihm massiv aufdrängte, und er tue schließlich nichts anderes,

als vernünftige Schlußfolgerungen aus seinen Beobachtun-

gen zu ziehen. Was sollen wir jetzt tun? Sollen wir erklären, daß seine Beobachtungen durchaus zutreffend, seine Schlußfolgerungen aber recht problematisch seien? Das Problem dieses Zirkels soll uns in Kürze beschäftigen. Für den Augenblick durchbrechen wir ihn, indem wir feststellen: Geschichte ist nicht ein stetig fließender Strom von Existenz in Wahrheit, sondern sie wird unterbrochen durch Perioden oder sozusagen durchsetzt von Schichten deformierter Existenz. Eine solche Periode oder Schicht von Deformation kann nun auf einen Menschen einen so massiven Druck ausüben, daß er ihm nachgibt und folglich sich selbst deformiert, indem er deformierte Existenz als Muster für wahre Existenz nimmt. Und der Philosoph, der sich deformierte Existenz zu eigen gemacht hat, wird schließlich das geschichtliche Feld von Erfahrungen und Symbolen deformieren, indem er ihm sein eigenes Deformationsmuster aufzwingt. Die deformierten Bereiche des Feldes bekommen

den

Status

wahrer

Realität,

während

die

Bereiche

wahrer Existenz durch die Bilderwelt der Deformation ver-

dunkelt werden.

Das

Ergebnis können wir eine scotosis ^

der Wahrheit nennen. Der unmittelbare Ursprung der Vorstellung, daß die Wahrheit menschlicher Existenz ein Kor-

pus

von

Doktrinen

mit immerwährender

Gültigkeit sein

müsse, vorzugsweise ein System, das allen Systemen ein Ende setzt, kann im Fall unseres zeitgenössischen Philoso-

phen auf die Krise zurückgeführt werden, in die Theologie 103

und Metaphysik im 18.

Jahrhundert geraten sind. Die Sym-

boliken, die durch noetische und pneumatische Erfahrungen

in Altertum und Mittelalter hervorgebracht worden waren,

hatten

ihre Transparenz

Realität verloren,

halten

von

Versuche, Realität

für die ihnen zugrundeliegende

existentieller Glaube

Lehrmeinungen diesen

der

Verlust

Existenz

war

vertrocknet.

wieder

zum

Die

wettzumachen

zurückzugewinnen,

Fürwahr-

kritischen und

Versuche,

die deren

Erfolg man unter anderen Gesichtspunkten weder leugnen noch zum

verkleinern Scheitern

muß,

waren

verurteilt,

im

entscheidenden

Punkt

weil sie unter so verführerischen

Bezeichnungen wie einem System der Wissenschaft oder einem System der positiven Wissenschaft den defizienten Modus doktrinärer Wahrheit als die Form beibehielten, welche die neue Erkenntnis annehmen mußte. Auf die dogmatische Theologie und Metaphysik des 18. Jahrhunderts folgten die dogmatischen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts; ein älterer Typus fundamentalistischer Doktrin wurde so durch einen neuen Fundamentalismus fortgesetzt. Die Überzeugung, daß existentielle Wahrheit eine allgemein

anzuerkennende

Doktrin

sei, ist so zum

Kennzeichen

eines ,Zeitalters" geworden, das sich in groben Umrissen von 1750 bis 1950 erstreckt. Es ist das Zeitalter der modernen

Dogmatomachie,

das

häufig

auch

als

das

Zeit-

alter des „modernen Menschen” bezeichnet wird -- mit dem Unterton einer apokalyptischen neuen Zeit, des Zeitalters, in dem der Mensch mündig geworden ist, des vollkommenen und deshalb letzten Zeitalters menschlicher Geschichte. Dadurch, daß unser hypothetischer Philosoph das Merkmal des Zeitalters als Merkmal seiner eigenen Existenz übernommen hat, nimmt er an eben dem Akt von Anpassung

teil, den

ein

Philosoph,

der

seinen

Namen

verdient,

um jeden Preis vermeiden muß. Denn ,Zeitalter" sind sehr schlecht ausgestattet mit Bewußtsein und geistiger Ordnung, sie sind das gesellschaftliche und geschichtliche Feld deformierter

Existenz,

die, wenn

104

sie einmal

der

Kontrolle

des Bewußtseins entglitten ist, dazu neigt, die Autorität existentieller Ordnung zu usurpieren, eine Aufgabe, die

aber gerade dem Geist zukommt. Wir sind alle hinlänglich

mit dem ,Zeitalter" und seiner usurpierten Autorität vertraut, denn wir alle sind Menschen begegnet, die ihre menschliche Natur entschlossen von sich weisen, die darauf bestehen, daß sie moderne Menschen sind, und in sogenann-

ten Diskussionen

mierter

versuchen,

Existenz

uns

zu überschütten.

mit der Rhetorik

Dieser Art von

defor-

,Zeit"

kann zwar der Philosoph in unseren Tagen nicht aus dem Wege gehen. Denn sie ist das soziale Feld, in das er hineingeboren ist, und von allen Seiten dringt sie auf ihn ein. Doch darf er ihrem Einfluß nicht erliegen. Der Weg des Philosophen ist der Weg hinauf zum Licht, nicht der Weg hinab in die Höhle. Dem verführerischen Zwang, sich selbst zu deformieren und vielleicht sogar der Wortführer des ,Zeitalters"

zu

werden,

muß

man

mit

der

Antwort

ent-

gegentreten: Siehe,

mein

Name

wird übel

riechen

durch dich

mehr als der Gestank von Vogelmist an Sommertagen, wenn der Himmel heiß ist. Dies

ist die Antwort,

die

der Mensch

dem

,Zeitalter",

re-

präsentiert durch seine eigene Seele, gegeben hat, der Mensch in Gestalt eines unbekannten ágyptischen Denkers im 3. Jahrtausend vor Christus.

II. Es dürfte klar geworden sein, daß die Frage nach den Konstanten in der Geschichte der Menschheit weder durch Behauptungen über die richtige Ordnung beantwortet werden kann noch durch einen Katalog unveränderlicher Werte.

Denn der Strom der Existenz hat weder die Struktur von Ordnung noch, in dieser Hinsicht, von Unordnung, sondern 105

er hat die Struktur einer Spannung zwischen Wahrheit und Deformation von Realität. Nicht der sichtbare Besitz seiner wahren

menschlichen

Natur,

sondern

die

Sorge

um

ihre

volle Verwirklichung ist das Schicksal des Menschen. Existenz hat die Struktur des Zwischen, des platonischen metaxy, und wenn

irgendetwas

in der Geschichte der Mensch-

heit konstant bleibt, dann ist es die Sprache der Spannung zwischen Leben und Tod, Unsterblichkeit und Sterblichkeit,

Vollkommenheit

und

Unvollkommenheit,

keit; zwischen Ordnung wahrheit,

Sinn

und

Zeit und

Ewig-

und Unordnung, Wahrheit und Un-

Sinnlosigkeit

der

Existenz;

zwischen

amor Dei und amor sui, l'àme ouverte und l'äme close; zwischen den Tugenden der Offenheit gegenüber dem Seinsgrund,

wie Glaube,

Hoffnung und Liebe, und den Verirrun-

gen der Abkapselung und des Sich-Verschließens wie Hybris und Revolte; zwischen den Stimmungen von Freude und Verzweiflung; und schließlich zwischen Entfremdung in der doppelten Bedeutung der Entfremdung von der Welt und der Entfremdung von Gott. Wenn wir diese zusammengehórenden Symbolpaare aufspalten und die Pole der Spannung als unabhängige Gegenstände hypostasieren, zerstören wir die existentielle Realität, wie sie von denen erfahren wurde, die diese Spannungssymboliken geschaffen haben. Wir erleiden einen Verlust an Bewuftsein und Geist; wir deformieren unsere menschliche Natur und reduzieren uns selbst auf einen Zustand stiller Verzweiflung

oder

aktivistischer

Anpassung

an

die

,Zeit",

einen

Zustand von Drogensucht oder Fernsehabhängigkeit, von hedonistischer Betäubung oder mörderischem Besitz der Wahrheit, von Leiden an der Sinnlosigkeit der Existenz oder Schwelgen in jeder Art von Divertissement (im Sinn Pascals), das als ein , Wert" Ersatz für die verlorene Realitát verspricht. In der Sprache Heraklits und Platons: Das Leben im Traum verdrángt das wache Leben.

Absolut

gültige

Doktrinen,

Systeme

und

Werte

sind

Trugbilder, die durch deformierte Existenz hervorgebracht

106

werden. Was in der Geschichte der Menschheit’, d.h. in der zeitlichen Dimension der Existenz konstant bleibt, ist die Struktur der Existenz selbst. Und im Hinblick auf diese konstante Struktur können in der Tat gewisse Aussagen ge-

macht

werden.

An

erster

Stelle

steht

die

grundlegende

Aussage: (1) Der Mensch partizipiert am Prozeß der Realität. Die Implikationen dieser grundlegenden Aussage können dann durch folgende Sätze ausgedrückt werden: (2) Der Mensch hat Bewußtsein von der Realität als einem Prozeß, von sich selbst als einem Teil dieser Realität und von seinem Bewußtsein als einem Modus des Partizipierens an diesem Prozeß. (3) Indem er mit Bewußtsein partizipiert, kann der Mensch Symbole hervorbringen, die seine Erfahrung von der Realität, vonsich selbst als dem erfahrenden Subjekt und von seiner bewußten Erfahrung als dem aktiven und passiven Vorgang des Partizipierens zum Ausdruck bringen. (4) Der Mensch weiß, daß die Symbole, die er hervorbringt, Teil der Realität sind, die sie symbolisieren: dieSymbole Bewußtsein, Erfahrung und Symbolisierung bezeichnen den

Bereich,

in

dem

der

Prozeß

der

können

wir

Realität

für

sich

selbst durchsichtig wird *. Diesen

positiven

Aussagen

schließlich

noch

drei Sätze hinzufügen, die in diesen Aussagen zwar schon enthalten

sind, aber dazu

dienen

sollen,

Fehldeutungen

zu

vermeiden: (5) Realität ist nichts Gegebenes, das man von einem Standpunkt außerhalb ihrer selbst beobachten könnte, sondern

sie schließt das Bewußtsein

in sich, in dem

sie für

sich selbst durchsichtig wird. (6) Die Erfahrung der Realität kann nie total sein, sondern sie hat perspektivischen Charakter. (7) Die Erkenntnis der Realität, die durch die Symbole ver107

mittelt wird, kann nie zu einem endgültigen Besitz der Wahrheit

werden,

denn

die

für sich

selbst

durchsichti-

gen Perspektiven, die wir Erfahrungen nennen, ebenso wie die durch sie hervorgebrachten Symbole, sind Teil der Realität in ihrem Prozeß. Aussagen

wollen

wahr

sein, aber der spezifische

Inhalt

dieser Aussagen läßt hinsichtlich ihrer Gültigkeit Zweifel

aufkommen, denn sie bringen die Erfahrung des Partizipierens

an einem

Prozeß

zum

Ausdruck,

von welchem

der er-

kennende Mensch ein Teil ist. Da das Partizipationswissen sich nicht auf einen Gegenstand der äußeren Welt richtet, wird es zu einer Helligkeit in der Realität selbst, und folglich rücken der Erkennende und das Erkannte in die Position von Spannungspolen in einem Bewußtsein, das wir erhellt und für sich selbst durchsichtig nennen, insofern es die Symbole hervorbringt, welche die Erfahrung von der eigenen Struktur ausdrücken. Diese Konfrontation mit einem

erkennenden

Bewußtsein,

dessen

Erkennnen

in sich

selbst eingeschlossen ist, führt notwendigerweise zu folgenden Fragen: Können wir wirklich von einer konstanten Struktur der Existenz sprechen

und

annehmen,

daß die

Aussagen, die wir gemacht haben, diese Struktur adäquat ausdrücken? Sind nicht die verwendeten Symbole zugegebenermaßen

Bestandteil

der

Struktur,

die

sie

sollen? Gibt es, losgelöst von der Metaphorik sagen,

überhaupt

gen wirklich mehr such, aus einem

eine

solche

Struktur?

Sind

ausdrücken

dieser Ausdiese

Aussa-

als ein zwangsläufig vergeblicher

Prozeß

auszubrechen,

aus dem

Ver-

der Mensch,

nach eben diesen Aussagen, gar nicht ausbrechen kann? Diese Zweifel sind legitim. Die Existenz des Menschen im metaxy von Unvollkommenheit und Vollkommenheit, Zeit und Ewigkeit,

Sterblichkeit und Unsterblichkeit ist tat-

sachlich kein Gegenstand

Aussagen

der Sinneswahrnehmung,

eines Bewußtseins,

zipationsstruktur

reflektiert,

und die

das über seine eigene sind

108

in

der

Tat

ein

Parti-

Akt

der

Reflexion auf sich selbst. Aus dieser Lage der Dinge folgt jedoch nicht, daß wir damit in ,Subjektivitát" verfallen. Denn

der

wußtsein Flug

der

Prozeß

der

Selbstreflexion,

für sich selbst durchsichtig Phantasie,

noch

sind

durch

wird,

Symbole,

die

das

Be-

ist weder

den

ein

durch

diesen

Prozeß hervorgebracht werden, etwa nur noch eine weitere Ideologie oder ein weiterer Entwurf einer „Zweiten Realität”. Der Akt der Selbstreflexion ist real. Er ist erkennbar auf eine weniger reflektierte Partizipationserfahrung bezogen und auf ihre weniger differenzierte Symbolisierung. Und die Aussagen, die durch diesen Akt hervorgebracht werden,

sind erkennbar

Aquivalente

für die Symbole,

die

als unbefriedigend erkannt worden waren und deren Mangel an Differenzierung den Akt der Selbstreflexion motiviert

hatte.

Deshalb

kónnen

die

Aussagen,

die

aus

einem

solchen Prozeß der Selbstreflexion hervorgegangen sind, auch objektiv überprüft werden, wenn wir auch nicht die Kriterien benutzen können, die wir für Aussagen über Gegenstände der äußeren Welt anwenden. Die Gültigkeit der Aussagen kann und muß überprüft werden, indem man sie in das geschichtliche Feld von Erfahrungen und ihren Sym-

bolisierungen plaziert, d.h. in die zeitliche Dimension der

Existenz selbst. Die Fragestellung zur Überprüfung der Gültigkeit lautet: Müssen wir einen erheblichen Teil des geschichtlichen Feldes ignorieren oder im Dunkeln

lassen, um

die Wahrheit dieser Aussagen aufrechterhalten zu können, wie es ja die fundamentalistischen Anhänger dieser oder jener Ideologie tun müssen; oder sind diese Aussagen erkennbar äquivalent mit den Symbolen, die unsere Vorgänger in der Suche nach der Wahrheit der menschlichen Existenz geschaffen haben? Das Wahrheitskriterium ist — zugespitzt formuliert — der Mangel an Originalitát in diesen Aussagen. Bezüglich dieses Kriteriums kann ich mich kurz fassen, da Sie sicher die zahlreichen Anspielungen auf antike, mittelalterliche und moderne Vorgánger bemerkt haben: auf 109

Platon

und

Aristoteles,

den

Hl.

Augustinus

und

Thomas,

auf Bergson und Whitehead. Es genügt, an einige äquivalente Symbolisierungen des zentralen Problems zu erinnern, d.h. an die Symbolisierung der Partizipationserfahrung und der Identität und Nicht-Identität des Erkennenden mit dem Erkannten, die sich aus dieser Erfahrung ergibt. Daß Sein und Denken dasselbe sind, war die Erkenntnis des Parmenides;

daß der logos

seiner Rede

mit dem

lo-

gos der Realität, den die Rede zum Ausdruck bringt, identisch ist, war die Einsicht Heraklits. Die Symbolik

des Parti-

zipierens, also die Symbolik von methexis oder metalepsis, findet sich ebenso in der klassischen wie in der scholastischen Philosophie. Aletheia in der Doppelbedeutung von Wahrheit und Wirklichkeit ist platonisch-aristotelisch. Die Identität und Nicht-Identität des Erkennenden mit dem Erkannten hat ihr Äquivalent in Hegels subtiler Definition der absoluten Realität als der Identität von Identität und Nicht-Identität. In diesem Fall kann unsere Übereinstimmung allerdings nur bedingt gelten, da Hegel von der Analyse einer Bewußtseinsstruktur in die Konstruktion eines

Systems entgleist. Der Prozeß der Realität ist das Aquiva-

lent zu Whiteheads Konzeption der Erfahrung. Das „Zwischen” der menschlichen Existenz schließlich ist Platons metaxy. Und die Tugenden der existentiellen Spannung - Liebe, Hoffnung und Glaube - sind immerwiederkehrende Symbole von den Vorsokratikern und den klassischen Philosophen über den Hl. Paulus und Augustinus bis in die Gegenwart.

Die Symbole

der Entfremdung

schlieflich, die bei

den hellenischen Dichtern und Philosophen zu finden sind, wurden durch Clemens von Alexandrien anläßlich seiner Auseinandersetzung mit der gnostischen Antwort auf die Entfremdung zusammengetragen, und neue Varianten dieser Symbolik wurden von den Christen und Neuplatonisten entwickelt.

Indem

wir selbst auf der Suche

sind, beteiligen

wir uns also heute in der Tat an der gleichen Suche, auf die sich unsere Vorgänger zu ihrer Zeit eingelassen haben. 110

111. Daß

unsere

Aussagen

man

sie

das

auf

überprüft

historische

werden

Feld

können,

anwendet,

aus

indem dem

sie

durch einen Akt reflektiver Partizipation hervorgegangen sind, Können wir im Prinzip als gesichert ansehen. Aber eben jener zirkuläre Prozeß von Reflexion und Anwendung ist damit noch nicht hinreichend genau beschrieben. Wen-

dungen wie „Verlagerung der Suche von den Symbolen auf

die Erfahrungen" oder „der Mangel an Originalität als Kriterium der Richtigkeit”

sind klar genug,

um die irreführen-

de Annahme unveränderlicher Werte zu vermeiden, und auch suggestiv genug, um die Untersuchung in die richtige Richtung zu lenken, analytisch jedoch sind sie unbefriedigend. Zum Teil diente diese Unbestimmtheit dem Zweck, eine konventionelle Terminologie zu vermeiden, die stark von ideologischem Jargon durchdrungen ist. Zum anderen Teil sollte sie jedoch auch die Analyse vor der Gefahr bewahren,

in die Irrtümer

zu verfallen,

die sich aus Konkret-

heit am falschen Ort ergeben und in solchen Fällen hinter jedem unanalysierten Begriff lauern. Es wäre unsinnig, an die Stelle der irreführenden Auffassung von unveränderlichen Werten subtilere, aber ebenso falsche Auffassungen über existentielle Spannung und Partizipationserfahrungen zu setzen. An

erster Stelle muß

der Fehler

vermieden

werden,

Er-

fahrung als ein Absolutum zu hypostasieren. Wenn wir Symbole trotz ihrer Unterschiede als äquivalent auffassen, weil sie, wie wir sagten, erkennbar durch denselben Typus von Erfahrung hervorgebracht wurden, dann droht die Erfahrung der Fixpunkt bei unserer Suche nach Konstanten in der Geschichte zu werden. Diese Lösung des Problems wäre verführerisch, leider aber ist sie unhaltbar. Denn diese konstante

Erfahrung

identifiziert ist, wäre

das

müßte

werden

artikuliert

zu können,

Ergebnis

und

ein Symbol,

111

werden, sobald das

um

als solche

sie artikuliert

beansprucht,

nicht

dem

Schicksal

ausgeliefert zu sein, nichts

als eine weitere,

historisch äquivalente Wahrheit darzustellen. Wir wären wieder bei dem System, das allen Systemen ein Ende setzt

— die Lösung Hegels. Wenn

wir dieses unselige Ende ver-

meiden wollen, dann müssen wir die Unterschiede in den Symbolen in die sie hervorbringenden Erfahrungen zurückverlegen und folglich nicht nur von der Äquivalenz von

Symbolen,

sondern genauso

fahrungen

sprechen.

analytisch notwendig

Wenn

von

der Äquivalenz

wir

aber

dieses

der Er-

Ergebnis

als

akzeptieren, werden wir vergeblich

die Konstante in einer Erfahrung suchen, welche die Konstante als ihren Inhalt ja erst artikulieren soll. Die Konstante, die es rechtfertigt, von äquivalenten Erfahrungen zu sprechen, muß eine Schicht tiefer gesucht werden als in der Schicht von äquivalenten Erfahrungen, die äquivalente Symbole hervorbringen. Diese tiefere Schicht ist in der Tat von Denkern wahrgenommen worden, welche sorgfältig diejenigen Prozesse beobachteten, durch die sie zu differenzierteren Erfahrungen gelangten, welche dann wiederum differenziertereSymbole hervorbrachten, als sie zu ihrer Zeit verbreitet waren. In noch kompakter Form ist diese Tiefe gegenwärtig in den Aussagen der Vorsokratiker’ über die Identität von Sein und Denken und die Identität des logos der Rede mit dem

logos des Seins. Auf einer höheren Differenzierungsstufe hat die Beobachtung

des Prozesses

Heraklit, Aischylos

und

Platon dazu veranlaßt, das Symbol einer , Tiefe" der Seele zu entwickeln, aus der eine neue Wahrheit der Realität zu bewußter Erfahrung heraufgeholt werden kann. Und ihr

Symbol der „Tiefe“ ist über eine lange Kette von Aquiva-

lenten als Einsicht bewahrt worden bis hin zu den zeitgenössischen Tiefenpsychologien und den Psychologien des Unbewußten. Diese Tiefe der Seele wird jedoch von den hellenischen

Denkern

als eine

aller artikulierbaren Erfahrung das Symbol

, Tiefe"

ausgedrückt

112

Tiefe

erfahren,

die jenseits

liegt. Sie kann zwar durch werden,

aber dieses

Sym-

bol vermittelt unseren

nicht

etwa

Erfahrungen

einen

von

Gott,

substantiellen

Gehalt,

Mensch,

und

Welt

der

Gesell-

schaft, sowie den Erfahrungen der existentiellen Spannung und des Partizipierens etwas hinzufügen würde. Wir müssen daher den Fehler vermeiden, uns die Tiefe als einen Be-

reich vorzustellen, dessen Topographie durch eine Wissenschaft

erforscht

werden

könnte,

die

etwa

nicht

durch

die

Grenzen gebunden wäre, innerhalb deren wir die Wahrheit

der Realität erfahren können. Also dürfen wir diese Tiefe weder mit den Archetypen eines kollektiven Unbewußten bevölkern noch sie mit libidinösen Triebkräften ausstatten, um durch fornicatio fantastica ein Absolutum zu gewinnen, das eine kritische Analyse der Erfahrung nicht liefern kann. Obwohl also die Erfahrung der Tiefe dem substantiellen Gehalt der Erfahrungen und Symbole, mit deren Aquivalenz

wir

uns

beschäftigen,

nichts

hinzufügt,

hat

sie

doch

einen ihr eigenen Gehalt: Sie vermittelt Einsicht in den Pro-

zeß der Realität, Darüberhinaus

aus dem

haben

die Aquivalente

die Menschen,

hervorgehen.

die durch diesen

Pro-

zeß hindurchgegangen sind, in ihrem Bestreben, diese Erfahrung genau zu artikulieren, eine reichdifferenzierte Sprache entwickelt. Da ist an erster Stelle das Symbol psyche. Die hellenischen Denker haben den vorgefundenen Ausdruck transformiert zum Symbol für einen Situs bzw. die Matrix von Erfahrung, die den Bereich bewußter Erfahrung umgibt und umschließt. In der neuen, symbolischen Bedeutung hat die psyche Tiefe, und diese Tiefe ist ohne Grenzen: Man

kann in die Tiefe hinabsteigen und

ein Taucher kann der Mensch aus der über die Realität heraufholen, die bis artikulierte Einsicht vorhanden war; in der bewußten Erfahrung zu einem

sie erkunden;

wie

Tiefe eine Wahrheit dahin noch nicht als die Erkundung führt Zuwachs an Sinnge-

halt *. Aber da der Mensch sich auch der Kontinuität zwischen

Bewußtsein

und

Tiefe

bewußt

ist,

kann

man

auch

von einem Zuwachs an Sinngehalt in der psyche sprechen. Ein Abstieg in die Tiefe wird notwendig, wenn dasLicht der 113

Wahrheit trübe geworden ist, und die Symbole allmählich ihre Glaubwürdigkeit verlieren; wenn die Nacht auf die

Symbole herabsinkt,

zu hell

der Nacht erleuchtet

der

deren Zeit abgelaufen

Tiefe

ist für

zurückkehren, den

Menschen,

ist, muß

die von der

bereit

man

Wahrheit ist,

nach

ihr zu suchen. Die Tiefe zieht in ihren Bann sowohl als Bedrohung wie als Reiz - als der Abgrund, in den der Mensch fällt, wenn die Symbole, durch die er seinem Leben Orientierung gibt, so weit ausgetrocknet sind, daß die Wahrheit der Tiefe

aus

ihnen

verschwindet,

und

als die Quelle,

aus

der ein neues Leben der Wahrheit und neue Orientierung heraufgeholt werden kann. Die Rückkehr aus der Tiefe mit einer neu erfahrenen Wahrheit wird dann symbolisiert als renovatioin dem doppelten Sinn von Erneuerung der Wahrheit und Erneuerung des Menschen. Der neue Mensch kann die Erneuerung der Realität und der Wahrheit mit solcher Intensität erfahren,

daß

nur die Symbole

, Tod"

und

„Auf-

erstehung" sie adäquat ausdrücken können. Die Tiefe wird zu einem toten Punkt des Bewußtseins jenseits des Bewußtseins, so daß der Durchgang durch die Tiefe als ein Zustand von Ekstase oder Manie symbolisiert werden muß. Wenn die neue Wahrheit erfolgreich ein neues soziales Feld konstituiert, dann wird ihr Auftreten als das Ereignis angesehen, das den Beginn einer Epoche markiert und den Prozeß der Geschichte durch ein Vor- und Nachher artikuliert. Der Enthusiasmus der Erneuerung und der Entdeckung kann so stark sein, daß er die neue Wahrheit zur absoluten Wahrheit verklärt — zur endgültigen Wahrheit, die alle vorhergehende Wahrheit auf den Status von pseudos, von Lüge, degradiert. Der Enthusiasmus kann aber auch durch das Bewußtsein gemildert sein, daß die Wahrheit, die aus diesem Prozeß hervorgeht, nicht völlig neu ist, daß es sich nicht um eine Wahrheit über eine bisher unbekannte Realität handelt, sondern um eine differenzierte und deshalb überlegene Einsicht in dieselbe Realität, die durch die überlieferte 114

Wahrheit in kompakter Form symbolisiert worden war. Wenn ein kritisches Bewußtsein dieser Art stark genug ausgeprägt ist, wie bei Aristoteles, führt dies zu den ersten Schritten in Richtung auf eine Theorie von äquivalenten Symbolen und Erfahrungen: Aristoteles erkennt beides, sowohl den Mythos wie die Philosophie als Ausdrucksformen an,

die der Mensch

gleichermaDen

benutzen

Wahrheit der Realität auszudrücken,

kann,

auch wenn

um

die

er der Phi-

losophie den Rang zugesteht, das für die Aufgabe besser geeignete Instrument zu sein. Der im geschichtlichen Ablauf frühere Denker, der seine Wahrheit der Realität mit Hilfe des Mythos artikuliert, ist der philomythos. Er ist auf der Suche nach derselben Wahrheit wie der philosophos. Deshalb muß der philomythos als eine Art von philosophos

angesehen werden. Die Aquivalenz von Mythos

und Phi-

losophie, von philomythos und philosophos, wird in einem späten Brief noch stärker betont, in dem Aristoteles gesteht, daß er mit zunehmendem Alter immer philomythoteros werde. Das Ergebnis dieser Erkundung in der Tiefe kann in Sätzen wie den folgenden ausgedrückt werden: Es gibt eine psyche, die tiefer hinabreicht als das Bewußtsein, und es gibt eine Realitát, die tiefer hinabreicht als die Realität,

die wir

erfahren,

aber

es

gibt

kein

Bewußtsein,

das unter unser Bewußtsein hinabreicht. Oder: Wir erfahren psyche als Bewußtsein, das in die Tiefe der eigenen psyche

Realitát als

hinabsteigen

Realität,

die

zum

kann,

und

die

Bewußtsein

Tiefe

der

emporsteigen

kann, aber wir erfahren keinen anderen Inhalt der Tiefe als den,

der in unser

Bewußtsein

eingetreten

ist.

Oder: Mit Bewußtsein erfahren wir psyche als eine Realität die über die Grenzen des Bewußtseins hinausreicht. Der Bereich ,jenseits" dieser Grenzen ist von derselben Natur, wie die Realität des Bewußtseins. Diese zwei Bereiche sind

115

zudem ein Kontinuum psychischer Realität, in dem der Mensch sich bewegen kann durch die aktiven und passiven Prozesse, die als , Abstieg" und „Aufstieg“ symbolisiert werden. Analytisch kann man über Aussagen dieser Art nicht

hinausgehen. Dennoch vermittelt die Erkundung

in der Tiefe Ergeb-

nisse, die darüber hinausführen, wenn man die Einsicht, die

in den genannten Aussagen zum Ausdruck kommt, mit der substantiellen Wahrheit der Realität vergleicht und verbindet, die im Bewußtsein gegenwärtig ist. Das in der ursprünglichen Erfahrung gegebene Realitätsfeld ist die Gemeinschaft

von

Gott

und

Mensch,

von

Welt

und

Gesellschaft.

Die Erkundung dieses Feldes richtet sich auf die wahre Natur der Partner in dieser Gemeinschaft und der Beziehungen

zwischen

ihnen’.

Die zeitliche Aufeinanderfolge

der

ge-

fundenen Wahrheiten ist das geschichtliche Feld von äquivalenten Erfahrungen und Symbolen. Der Philosoph auf der Suche nach Wahrheit über die Realität will wissen, welche Art von Realität im Sinne des in der Primärerfahrung gegebenen Feldes betroffen ist, wenn der Mensch in die Tiefe seiner psyche hinabsteigt. Und da die Wahrheit, die er aus der Tiefe heraufholt, seine perspektivische Sicht des Feldes als ganzes berührt, wird er die Realität der Tiefe nicht mit irgendeinem der Partner in der Gemeinschaft identifizieren, sondern

mit der zugrundeliegenden

Realität,

die

sie zu Partnern in einer gemeinsamen Ordnung macht, d.h.

mit der Substanz des Kosmos. Dies war Platons Antwort auf diese Frage im Timaios. Die Tiefe der psyche unterhalb des Bewußtseins ist die Tiefe des Kosmos unterhalb des in der Primärerfahrung gegebenen Feldes. Die Realität des Kosmos in der Tiefe ist deshalb die anima mundi. Die anima mundi, die Welt-Seele und ihr Leben hat große Karriere gemacht bis zu ihren modernen Äquivalenten im Werk

von

Giordano

Bruno,

Jacob

Böhme,

Schelling

Hegel. Im Lauf dieser Karriere hat das Symbol 116

und

durch seine

Deformation in ein „metaphysisches Konzept” und durch seinen dogmatischen Gebrauch als Teil der philosophischen Tradition sehr gelitten. Was Hegel betrifft, können wir sagen,

daß er wohl

kaum

dazu

gekommen

wäre,

sich eins zu

sehen mit der ihren Logos entfaltenden Welt-Seele, und deshalb wohl kaum ein „System der Wissenschaft" konstruiert hätte, wenn er sich darüber klar gewesen wäre, was

seine Symbole ,Seele" und nicht. Aber daß ein Symbol,

„Leben“ implizieren und was das sogar für seinen Urheber

ein Rätsel darstellte, ein ungewöhnliches

würde,

Schicksal haben

das war nicht anders zu erwarten. Wenn

Platon ver-

suchte, den Typus von Wahrheit zu charakterisieren, welcher der Symbolik des Timaios eigentümlich war, dann schwankte er zwischen der mehr apodiktischen Bezeichnung alethinos logos und der eher zögernden Charakterisierung als eikos mythos. Aber ob nun seine mythische Erzählung vom Kosmos eine „wahre Geschichte” oder ein „wahrscheinlicher Mythos” ist, ganz sicher war er sich, daß diese Symbolik nicht durch Artikulation einer Erfahrung

hervorgebracht worden war.

Die anima mundi ist ein philosophischer Mythos: Dieser artikuliert weder die Erfahrung des primär gegebenen Feldes, noch die Erfahrung der psyche, sondern er ist das Ergebnis einer imaginativen Verschmelzung von Einsichten, die getrennt voneinander durch diese zwei Typen von Erfahrung gewonnen worden sind. Das soll nicht heißen, daß dieses Spiel der Phantasie etwa überhaupt keine Realität zum Ausdruck bringt. Wir haben zwar keine Erfahrung von der Tiefe des Kosmos als psyche; und Platon selbst ist vorsichtig genug, nicht mehr zu behaupten, als daß die psyche und der logos des Menschen mit der göttlichen psyche und dem göttlichen logos des Kosmos verwandt (syngenes) sind. Dieses Spiel der Phantasie hat jedoch einen festen realen Kern, da es motiviert ist durch das Vertrauen

(pistis) des Menschen,

daß die Realität erkennbar

net, daß sie also ein Kosmos

geord-

ist. Unsere perspektivischen

117

Erfahrungen der Realität in ihrem Prozeß mögen nur fragmentarische Einsichten vermitteln, diese fragmentarischen Elemente mögen ziemlich heterogen sein, ja sie mögen sogar als inkommensurabel erscheinen. Aber das Vertrauen in die zugrundeliegende

renz,

Dauerhaftigkeit

Ordnung

und

ihrer

Einheit

und

der Realität,

Konstanz

Erkennbarkeit,

in die Kohä-

ihrer Struktur, dieses

ihrer

Vertrauen

wird

das Hervorbringen von Bildern inspirieren, welche die geordnete Ganzheit ausdrücken, wie sie in der Tiefe empfunden wird. Das wichtigste dieser Bilder ist das Symbol kosmos selbst, dessen Entwicklung in der Geschichte mit der des Symbols psyche parallel läuft. Das Ergebnis ist der eikos mythos, dessen Grad an Wahrscheinlichkeit von dem

Umfang der disparaten Erfahrungen abhängt, die er in sei-

ner Metaphorik überzeugend miteinander verbinden kann. Das aber ist noch nicht das letzte Wort in dieser Sache. Denn Platon läßt den Timaios seine Geschichte mit der Versicherung

schließen,

daß

nach

diesem

wahrscheinlichen

Mythos des Kosmos in voller Wahrheit (te aletheia) ein zoon empsychon ennoun’ ist. Die früheren, zógernden Charakterisierungen des Mythos als doch nicht so ganz wirklich wahr, werden nun durch die Bekráftigung seiner Wahrheit im vollen Sinn ersetzt. Diese Erklärung wird mit undurchdringlichem Ernst abgegeben, aber in der Tiefe kónnen wir ein ironisches Lácheln spüren: Die tiefste Wahrheit der Realitát, die Wahrheit über den Sinn des kosmischen Spiels, in dem der Mensch seine Rolle übernehmen muß

und dabei sein Leben

als Einsatz riskiert, diese Wahr-

heit ist ein mythopoietisches Spiel, in dem die psyche des Menschen voller Vertrauen mit der Tiefe des Kosmos verbunden wird.

Das Symbol , Tiefe" weist auf eine Stufe in der Exegese

einer

Erfahrung

hin,

die nur

erreicht

werden

kann,

wenn

das Denken in kritischer Weise sich selbst gegenüber achtsam

ist. Nur

Artikulierung

wenn

einer

das

Denken

Erfahrung

118

auf jeden

achtet,

Schritt bei der

dringt

es

zu

der

Tiefe vor, die über das Bewußtsein hinausreicht. Wenn dagegen diese Achtsamkeit nachläßt, dann verwandeln sich die Symbole,

die auf früheren

Stufen hervorgebracht

wur-

den, in Hypostasen und blockieren den Prozeß. Da ich mich bemüht habe, die Analyse mit einem gewissen Maß an Achtsamkeit durchzuführen, wurde die Suche nach der Kon-

stante in der Geschichte von den Symbolen auf die Erfahrungen und von den Erfahrungen weiter bis zu der Tiefe der psyche zurückgeführt. Indem wir uns nicht mit einem angenehmen Ruheplatz auf einer der oberen Ebenen zufrieden geben wollten, indem wir es zuließen, uns immer weiter vorwärtsdrängen zu lassen zu den tieferen Schichten der psyche, indem wir Vergegenständlichungen von Symbolen und die Konstruktion eines absoluten Inhalts zurückwiesen, indem wir einwilligten, die Überzeugungskraft

des logos in der psyche zum logos unserer Darlegungen werden zu lassen, eben dadurch haben wir einen Abstieg in

die Tiefe durchgeführt. Aber sogar wenn die Tiefe der psy-

che erreicht ist, darf das Denken in seiner Achtsamkeit nicht

nachlassen, wenn es nicht einem der spezifischen Irrtümer hinsichtlich der Tiefe verfallen will, auf die ich vorher hingewiesen habe. Denn

die Tiefe ist weder

ein „Objekt”,

das

inhaltlich beschrieben werden könnte, noch ist sie ein leeres Areal, gut geeignet als Schuttabladeplatz für das psychoanalytische Unbewußte; sie ist auch nicht der Sitz einer Autorität, nerstimme

den ein

ein Denker System

okkupieren

etablieren

will;

kann, und

der mit Donschließlich

ist

sie auch nicht die Art von Dunkelheit, die dem Denken die Qualität ,tiefsinnig" oder ,unergründlich" im gewöhnlichen Sinn verleiht. Nur wenn auch diese letzte Serie von Vergegenständlichungen und Fehlern vermieden wird, kann der Weg hinab zur Quelle von Einsichten über die

Wahrheit der Realität und das Problem der Äquivalenzen werden. Daß die Suche das Ende ihres Weges

erreicht hat, ist die

erste Einsicht, die sich aus dem Weg hinab ergibt. Es ist da 119

eine Tiefe unterhalb des Bewußtseins,

unterhalb

der Tiefe in unendlichem

aber nicht eine Tiefe

Regreß.

Da

aber die

Tiefe keine andere Wahrheit als die äquivalenten Erfahrungen des primär gegebenen Realitätsfeldes hervorbringt, müssen wir die Suche nach einer substantiellen Konstante der Geschichte, die nicht den Status eines Aquivalents

hät-

te, als Irrweg aufgeben. Kein Phänomen in der Vergangenheit oder Zukunft des geschichtlichen Feldes ist eine end-

gültige Wahrheit der Realitát, welche die Suche nach der

Wahrheit in einen Besitz der Wahrheit verwandeln würde. Die Symbolik einer endgültigen Wahrheit wird durch den apokalyptischen Traum hervorgebracht, die Spannung der Existenz abzuschaffen: Der Besitz der endgültigen Wahrheit würde den endgültigen Menschen schaffen, der es nicht lánger nótig hátte, die Wahrheit

seiner Existenz zu suchen

— dies würde die Metastase des Menschen in der Geschichte bedeuten. Da aber eine solche apokalyptische Wahrheit der Realität

hinter

der

Realität

nicht

erfahren

werden

kann,

müssen wir daraus die Konsequenz ziehen und die Aquivalenz der Symbole, die wir schon auf die sie hervorbringenden Erfahrungen ausgedehnt haben, noch weiter zurückschieben bis zu der Tiefe, aus der die Erfahrung lebt. Indem wir die Aquivalenzstruktur von dem geschichtlichen Feld der Symbole über die Erfahrungen bis in die Tiefe ausdehnen, erkennen wir, daD die psyche des Menschen einen Realitátsbereich darstellt, dessen Struktur sich kontinuierlich von der Tiefe bis zu den Manifestationen des Bewuftseins erstreckt. Es gibt weder ein autonomes Bewußtsein

noch eine autonome

Tiefe, sondern

nur ein Be-

wußtsein in kontinuierlichem Zusammenhang mit seiner eigenen Tiefe. Diese Einsicht wollen wir nun auf die Probleme

des

geschichtlichen

Feldes,

der

Aquivalenzen

Konstante in der Geschichte anwenden. Die Aquivalenzrelation verláuft nicht den

Phänomenen

Aquivalenz

des

Feldes,

sondern

in der Tiefe der psyche, 120

direkt

und

der

zwischen

vermittelt durch

die

aus der die Erfahrun-

gen und ihre Symbolisierungen hervorgegangen sind. Daher sind weder die einzelnen Phänomene noch ihre Gesamt-

heit

Beobachtungsgegenstände

für

ein

Bewußtsein,

das

nicht selbst Teil des Feldes ist. Nur für den, der an dem Prozeß der Suche

teilnimmt,

aus dem

die früheren

Wahrheits-

symbole hervorgegangen sind, treten die einzelnen Phánomene in die Aquivalenzrelation und werden auf Grund dieser Relation erst als ein geschichtliches Feld erkennbar. Der Prozeß hat eine Vergangenheit nur für das Bewußtsein seiner eigenen Prásenz, d. h. nur an dem Punkt, an dem eine neue Wahrheit aus der Tiefe der psyche frei wird und sich absetzt gegen die áltere Wahrheit, die aus derselben Tiefe hervorgegangen ist. Die Präsenz des Prozesses also ist der Punkt, an dem zusammen mit der neuen Wahrheit

unser Bewußtsein des geschichtlichen Feldes und der Aqui-

valenz

seiner Phänomene

raklit, Platon

und

auftritt, wie wir im Fall von He-

Aristoteles

gesehen

haben,

wo

die neue

Wahrheit der Philosophie zusammen mit der Erkenntnis auftritt, daß sie mit dem Mythos äquivalent ist. Der Prozeß im Modus der Präsenz ist die Quelle unseres Wissens von der Tiefe der psyche und einem Prozeß in der Tiefe. Das Auftreten einer neuen Wahrheit in Konfrontation mit álterer Wahrheit

ist die Erfahrung,

die wir

durch

die Symbole eines geschichtlichen Feldes und der Aquivalenz zwischen seinen Phánomenen zu artikulieren versu-

chen. Diese Konzentration auf die Erfahrung von Bewußt-

sein im Zeitpunkt seines Auftretens macht noch einmal den Versuch

nótig,

naheliegende

Irrtümer

abzuwehren.

Wir müssen die Aquivalenzrelation bis in die Tiefe der psyche als ihre Quelle ausdehnen. Aber der Ausdruck „Aquivalenz in der Tiefe" kann nicht eine Relation zwischen Phánomenen bedeuten, die nun ihrerseits Gegenstände einer Untersuchung unabhängig von den Phänomenen des geschichtlichen Feldes werden könnten. Er kann nur auf einen Prozeß

menen

in der Tiefe hinweisen,

des geschichtlichen Feldes 121

der in den Phäno-

greifbar wird,

im übri-

gen aber unzugänglich bleibt. Die Ausdehnung der Äquivalenz bis in die Tiefe hat Folgen, die nicht sehr wünschens-

wert erscheinen: Wir werden uns des Prozesses in der Tiefe dadurch

bewußt,

daß

eine

Wahrheit

auftritt,

die

auf

eine

neue Weise differenziert ist, die aber gleichzeitig erkennbar aquivalent ist mit der kompakteren Wahrheit, die sie ersetzen soll. Und wir fassen die geschichtliche Sequenz áquivalenter Wahrheiten als Epiphänomen einer sich entfaltenden Wahrheit der Realität in der Tiefe der psyche auf. Die Tiefe droht

nun,

wie

in der theogonischen

Speku-

lation von Schelling, den Charakter eines Absolutums anzunehmen, den wir eben erst von dem geschichtlichen Feld ferngehalten haben. Halten wir aber andrerseits Tiefe und Oberfläche der psyche im Gleichgewicht, dann geraten wir in den circulus vitiosus,

das

Feld

der

Geschichte

sich in der Tiefe entfaltenden

und

den

Prozeß

in den

Wahrheit

in der Tiefe in den

Kategorien

einer

zu interpretieren

Kategorien

des ge-

schichtlichen Feldes von Aquivalenten und dem Sinn, den sie ergeben. Aus diesem Zirkel kónnten wir uns zwar retten in die konventionelle Auffassung des Bewußtseins als einer Serie von reflektiven Akten: Wir kónnten die Erfahrung des primár gegebenen Feldes aufspalten in eine Realität jenseits des Bewußtseins und eine Erfahrung, durch die diese Realität im Bewußtsein repräsentiert wird; wir kónnten dann das Bewußtsein reflektieren lassen auf die Er-

fahrung als seinen

Bewußtseinsinhalts;

Inhalt, sowie über die Genese wir

könnten

so

die

Tiefe

dieses

entdecken,

auf die Beziehung zwischen Bewußtsein und Tiefe reflektieren und diese Beziehung zu einem weiteren Gegenstand für das reflektive Bewuftsein machen, und so weiter. Wenn wir aber mit einer Erfahrung des Partizipierens am primär gegebenen Feld, mit der Erfahrung, wie Wahrheit aus der liefe heraufsteigt und meditativ durch Symbole artikuliert wird, ein solches Gemetzel veranstalten, dann zerstóren wir die Realität der Erfahrung, wie sie erfahren wird. So zu ver-

122

fahren wäre nicht nur mit den vorsokratischen und klassischen Analysen der psyche unvereinbar, sondern auch mit den

Versuchen

blem

des

20. Jahrhunderts,

auseinanderzusetzen,

wie

zum

sich mit diesem Beispiel

der

Pro-

Konzep-

tion und Analyse der „reinen Erfahrung“ von William James. Wenn wir eine Entgleisung der Analyse in Fehldeutungen dieser Art vermeiden wollen, dann müssen wir den Charakter von Ganzheit in dieser Erfahrung erkennen: Die Erfahrung erfährt sich selbst so, daß sie sich als Ganzes gegenwärtig ist. Daß die Erfahrung sich selbst als Ganzes gegenwärtig ist, kann als charakteristisches Merkmal in der Erfahrung selbst am besten durch das Symbol Hellig-

keit’ ausgedrückt werden. sagen,

Die Erfahrung,

ist erhellt; und das heißt,

so können wir

sie ist hell und durchsich-

tig für sich selbst als das Bewußtsein des Menschen, am primären Feld der Realität zu partizipieren, an der Tiefe der psyche und an einem Prozeß, durch den die Wahrheit

der Realität sich ihrer selbst bewußt wird im geschichtlichen Feld äquivalenter Wahrheiten. Diese Gegenwart als Ganzes für sich selbst darf dann aber nicht als Bewußtseinsstruktur

verstanden

werden,

die

nun

zu

einem

Untersu-

chungs,objekt" für unsere Analyse geworden ist, wobei dann die Analyse als Akt der Reflexion auf dieses „Objekt“ aufgefaßt wird. Die Analyse,

vielmehr

die wir hier durchführen, muß

als eine meditative

Exegese

der Erfahrung

ver-

standen werden. Sie wird durch die Erfahrung selbst her-

vorgebracht als Teil ihrer Selbstartikulation durch Symbole. Sie ist in Wirklichkeit eben der Prozeß, durch den die

Erfahrung auf der Ebene von Symbolen ihre eigene Helligkeit zum Ausdruck bringt. Soweit schließlich die Analyse dabei über

erfolgreich den

Stand

gewesen

hinaus

frühere Aquivalente

ist,

die

Wahrheit

zu differenzieren,

erreicht worden

der

Realität

der bereits durch

war,

bewegten

und

bewegen wir uns in dem Prozeß am Punkt seiner Präsenz, wo die Wahrheit aus der Tiefe heraufsteigt.

123

Wenn wir nun zum Schluß diese Einsichten auf das Problem einer geschichtlichen Konstante und das der Aquivalenz anwenden kungen. Es

ist

wollen, genügen dazu einige kurze Bemer-

unmóglich,

eine

Konstante

in der

Geschichte

zu

finden, weil das geschichtliche Feld von Aquivalenten nicht

als vollstándige Sammlung von Phánomenen vorliegt, auf welche die Verfahren von Abstraktion und Generalisation angewendet werden könnten. Geschichte hat ihren Ursprung in der Präsenz des Prozesses, in dem eine Wahr-

heit der Realität, die aus der Tiefe heraufsteigt, sich gegen-

über einer früher erfahrenen Wahrheit als äquivalent, gleichzeitig aber auch als überlegen erkennt. Wenn Irgendetwas im Verlauf unserer Suche zu Tage gefördert worden

ist,

das

den

Namen

Konstante

verdient,

dann

ist

es der Prozeß im Modus der Präsenz. Die Suche ist also nicht vergeblich gewesen, aber das Ergebnis stößt unsere Ausgangsfrage um. Denn wir haben nicht eine Konstante in

der

Geschichte

gefunden,

sondern

die

Konstanz

eines

Prozesses, der eine Spur von äquivalenten Symbolen in Raum und Zeit zurückläßt. Dieser Spur können wir dann den konventionellen Namen „Geschichte” geben. Geschichte

ist, wie

wir

dern ein Symbol,

ken, daß

gesagt

mit dem

haben,

nichts

wir unsere

Gegebenes,

Erfahrung

die Gesamtheit der Äquivalente

son-

ausdrük-

eine Spur dar-

stellt, welche von der sich bewegenden Präsenz des Prozesses hinterlassen wird. Aus denselben Gründen kann das Aquivalenzproblem nicht auf der Ebene der Symbole gelöst werden. In unserer praktischen Arbeit können wir zwar häufig damit zufrieden sein, gefühlsmäßig einen direkten Zusammenhang zwischen Symbolen zu erkennen. Wenn Ζ. B. ein Steinzeitsymbolist eine Zeichnung entwirft, in der die vier Himmelsrichtungen in einen Kreis eingetragen sind,

dann

können

wir

sicher

sein,

daß

damit

eine

Erfah-

rung des Kosmos ausgedrückt wird, die derjenigen Erfahrung äquivalent ist, die den Titel der assyrischen Könige 124

als Herrscher über die vier Teile des Landes hervorbringt. Als unmittelbare Erfahrung aber ergibt sich Äquivalenz nur an dem Punkt, an dem zwei Symboliken in der Präsenz des Prozesses miteinander konfrontiert sind.

Jenseits von Konstanz

und Äquivalenz

bleibt das Pro-

blem des Prozesses selbst. Unmittelbare Kenntnis von diesem Prozeß haben wir nur in seiner Präsenz. Ein Mensch, den wir konkret mit Namen nennen können - Heraklit, Platon,

Plotinus

oder

St. Augustinus

Modus

der Präsenz. Das

Prozeß

als

Spur

- erfährt

hinterläßt,

Ergebnis

konkreten davon,

die Vielzahl

daß

entsteht

Menschen die

Prozeß

im

geschichtliche Feld jedoch, das der nicht

zu einer Konfrontation von Wahrheit einzelnen

den

kommt,

Präsenz

konkreter Lebewesen

des

dadurch,

in der psyche sondern

Prozesses

bewegt,

daß

es

eines

es ist das sich durch

die Glieder der

Menschheit sind. Der Prozeß als ganzes, der die Spur zurückläßt, kann von niemandem

erfahren werden.

In unserer

Zeit wird dieses Problem selten mit kritischem Bewußtsein gestellt, obwohl es ein fundamentales Problem der Philosophie ist. Wenn ein Philosoph die Natur des Menschen erforscht und zu der generalisierenden Feststellung kommt: „Alle Menschen haben von Natur aus das Begehren zu wissen", dann kann man

an der generalisierenden Form dieser

Aussage Anstoß nehmen. Denn die Feststellung mag für den Philosophen zutreffen, dessen Erfahrung von seiner eigenen psyche sie hervorgebracht hat, aber empirisch gibt es keine Berechtigung, diese Einsicht auf ,alle Menschen"

auszudehnen. Und doch schieben wir diese Aussage nicht als wirklichkeitsfremd beiseite; denn wir teilen mit Aristo-

teles den Glauben an die Prämisse, daß eine Wahrheit, wel-

che die Realitát des Menschen betrifft und die konkret von einem einzelnen Menschen gefunden worden ist, in der Tat für alle Menschen gilt. Das Vertrauen in die Richtigkeit dieser Prämisse aber beruht nicht auf einer zusätzlichen Erfahrung von der menschlichen Natur, sondern auf der primären Erfahrung, daß die Realität mit der Konstanz und Dauer-

125

haftigkeit der Struktur

ausgestattet ist, die wir als Kos-

mos symbolisieren. Das Vertrauen in den Kosmos und seine Tiefe ist die Quelle der Prämissen, voraussetzen,

wenn

wir

uns

an

die wir als Sinnkontext

der

Suche

nach

Wahrheit

beteiligen — ob es sich nun um die Allgemeingültigkeit der menschlichen

Natur

handelt oder, wie in unserem

Fall, um

die Realität des Prozesses als einer sich bewegenden Präsenz. Die Suche nach Wahrheit ist nur unter der Voraussetzung sinnvoll, daß die Wahrheit, die der Mensch aus der Tiefe seiner psyche heraufholt, auch wenn sie nicht die endgültige Wahrheit der Realität darstellt, doch für die Wahrheit in der göttlichen Tiefe des Kosmos repräsentativ ist. Hinter jedem äquivalenten Symbol im Feld der Geschichte steht der Mensch, der es im Verlauf seiner Suche als repräsentativ für eine Wahrheit hervorgebracht hat, die mehr

als nur äquivalent ist. Die Suche, die eine nur äquiva-

lente Wahrheit Glauben,

daß

zu Tage der

fördert,

Mensch,

indem

beruht er sich

letztlich auf dem an

dieser

Suche

beteiligt, dadurch repräsentativ an dem göttlichen Drama teilnimmt, in dem die Wahrheit hell und durchsichtig wird.

126

Vernunft: Die Erfahrung der klassischen Philosophen Vernunft ist zu allen Zeiten das, was

tur ' konstituiert,

aber ihre

die menschliche

Differenzierung

und

Na-

Artiku-

lierung durch Sprachsymbole ist ein geschichtliches Ereignis. Der Genius der hellenischen Philosophen entdeckte

Vernunft als die Quelle von Ordnung in der psyche * des

Menschen. Deshalb beschäftigt sich diese Untersuchung mit Vernunft

im

Sinn

des

platonisch-aristotelischen

nous,

mit

den náheren Umstánden und Folgen ihrer Differenzierung als eines Ereignisses in der geschichtlichen Entwicklung existentieller Ordnung. Ich werde mich dabei nicht mit dem ,Begriff" oder einer nominalistischen

,Definition"

von

Vernunft

befassen,

son-

dern mit dem Prozeß in der Realität, in dem konkrete Menschen, die „Liebhaber der Weisheit", die Philosophen, wie sie sich selbst nannten,

sich in einem

Akt des Widerstands

gegen die persónliche und soziale Unordnung ihrer Zeit engagierten. Aus diesem Akt tauchte der nous auf als eine Kraft kognitiver Helligkeit, welche die Philosophen zum Widerstand veranlaßte und sie gleichzeitig befähigte, die Erscheinungen der Unordnung als solche zu erkennen im Licht einer menschlichen

Natur,

die durch

den

nous

geord-

net ist. Vernunft im noetischen Sinn wurde also entdeckt sowohl als Ordnungskraft wie als Ordnungskriterium. Als die Vernunft so zu klarem Bewußtsein ihrer selbst aufstieg, wurden sich die Philosophen gleichzeitig bewußt,

daß dieses Ereignis einen epochalen Einschnitt darstellt, der eine Sinnrichtung ? in der Geschichte konstituierte. Sobald die Natur des Menschen für ihre Ordnung durchsichtig geworden

war,

konnte

man

von

der Ebene,

127

die durch

diesen

sinnkonstituierenden

Erkenntnisschritt

erreicht

war,

nicht

mehr zu weniger differenzierten Formen der Erfahrung und ihrer Symbolisierung zurückkehren. Die Entdeckung der Vernunft teilte die Geschichte in ein Vor- und Nachher. Dieses Epochenbewußtsein kam in der Bildung von Symbolen zum Ausdruck, welche die neue Struktur im Feld der Geschichte charakterisieren sollten. Das zentrale Symbol war dabei der ,Philosoph", in dessen psyche die menschliche Natur für ihre noetische Ordnung durchsichtig geworden war. Parallelsymbole waren Platons ,geistiger Mensch" (daimonios aner) und Aristoteles' ,reifer Mensch" (spoudaios). Der Mensch, der auf einem weniger differenzierten Bewuftseinsstand

zurückblieb,

war

weiterhin

der

,Sterb-

liche" (thnetos) der homerischen Sprache. Der Mensch schließlich, der sich aus Mangel an Empfänglichkeit diesem Erkenntnisschritt versperrte, sank zum ,tórichten" oder „stumpfsinnigen”

Menschen

ab, zum amathes. In der aristo-

telischen Metaphysik sind , Mythos" und , Philosophie" die Bezeichnungen für die beiden symbolischen Formen, durch die in historischem Nacheinander das kompakte kosmo-

logische und das differenzierte noetische Bewußtsein

ihre

jeweiligen Realitätserfahrungen zum Ausdruck brachten. Und hinsichtlich desselben epochalen Schritts entwickelte Platon in den Nomoi eine triadische Symbolik für den geschichtlichen

Prozeß,

in dem

das

Zeitalter

des

Kronos

und

das des Zeus nun durch das Zeitalter des Dritten Gottes - des nous — abgelöst wurde. Obwohl sich also die klassischen Philosophen der epochalen Bedeutung dieses Schrittes bewußt waren, vermieden sie die Entgleisung in apokalyptische Erwartungen eines kommenden Endreiches. Sowohl Platon wie Aristoteles bewahrten die Balance ihres Bewußtseins. Zwar erkannten sie in dem noetischen Ausbruch das unwiderrufliche Ereignis in der Geschichte, auch,

daß

die

das es wirklich war. Doch sie wußten

Vernunft

das

Konstituens

der menschlichen

Natur schon gewesen war, noch bevor die Philosophen die

128

Struktur

Menschen

der psyche

differenzierten,

und

ihre

Präsenz

im

es nicht verhindert hatte, daß die Ordnung der

Gesellschaft in die Unordnung verfiel, zu der sie nun in Opposition standen. Es wäre unsinnig gewesen anzunehmen, die Differenzierung der Vernunft würde dem Aufstieg und Niedergang von Gesellschaften ein Ende bereiten. Sie erwarteten nicht, Hellas werde sich nun zu der Art von Föderation paradigmatischer Poleis entwickeln, wie Platon

sie für wünschenswert

hielt. Im

Gegenteil,

Platon

sah

vorher, und Aristoteles erlebte es als Augenzeuge, daß die Polis einer Gesellschaft vom neuen Typ des ökumenischen Reiches unterlag. Die klassischen Philosophen hielten so das Feld der Geschichte offen für gesellschaftliche Prozesse in einer Zukunft, die man nicht vorhersehen konnte, ebenso

wie für die Móglichkeit einer weiteren Differenzierung des Bewußtseins. Besonders Platon war sich sehr wohl bewußt,

daß der Mensch in seiner Spannung

zum

Grund

der Exi-

stenz offen war in Richtung auf eine Tiefe der góttlichen Realitát noch über das Stratum hinaus, das sich als nous enthüllt hatte. Als Philosoph ließ er das Bewußtsein für zukünftige Theophanien offen, ebenso für die pneumatischen Offenbarungen vom jüdisch-christlichen Typ wie für die spáteren Differenzierungen in Gestalt von Mystik und Toleranz in dogmatischen Fragen. Es sollte klar geworden sein, daß Vernunft im noetischen Sinn der Geschichte nicht ein apokalyptisches Ende setzt, weder jetzt noch in einer progressivistischen Zukunft. Sie

durchdringt vielmehr die Geschichte, die sie erst konstituiert, mit einer neuen Durchsichtigkeit der existentiellen Ordnung, in kritischer Auseinandersetzung mit den Leidenschaften, die diese Ordnung

nicht

Umsturz,

Gewalttat

stóren. oder

Ihr modus

Zwang,

operandi

sondern

ist

Überzeu-

gung, die peitho, die im Mittelpunkt von Platons philosophischer Existenz steht. Diese kann die Leidenschaften nicht beseitigen,

so daß

aber sie kann

der Vernunft

das noetische Bewußtsein

129

Gehör

verschaffen,

eine überzeugende

Ord-

nungskraft wird durch das helle Licht, das von ihm auf die Erscheinungen persönlicher und gesellschaftlicher Unord-

nung fällt. Es ist die epochale Leistung der klassischen Phi-

losophen, daß sie die Spannung von existentieller Ordnung und Unordnung zur Durchsichtigkeit des noetischen Dialogs und Diskurses erhoben haben. Diese Epoche hat für das Leben der Vernunft in der Westlichen Kultur den Grund gelegt bis herauf in unsere eigene Zeit. Sie gehört deshalb nicht der Vergangenheit

an, sondern

ist die Epoche,

in der

wir immer noch leben. Die Entdeckung der Vernunft als das epochale Ereignis in der geschichtlichen Entwicklung existentieller Ordnung kann in einem Aufsatz nicht erschöpfend dargestellt werden. Ich muß daher eine Auswahl treffen. Da unsere eigene Situation als Philosophen im 20. Jahrhundert der platonisch-aristotelischen Situation im 4. Jahrhundert v. Chr. sehr ähnlich ist, und da wir uns heute in derselben Art von

kritischer Auseinandersetzung mit der Unordnung der Zeit befinden, empfiehlt es sich, daß ich mich auf die Entdeckung der Vernunft als der ordnenden Kraft in der menschlichen Existenz konzentriere.

I. Die Spannung der Existenz In ihren Akten des Widerstands gegenüber der Unordnung der

Zeit

erfuhren

und

erforschten

Sokrates,

Platon

und

Aristoteles die Bewegungen einer Kraft, die der psyche des Menschen

Struktur

verlieh

und

sie befáhigte,

der

Unord-

nung Widerstand zu leisten. Dieser Kraft, ihren Bewegungen und der sich daraus ergebenden Struktur gaben sie die Bezeichnung nous. Im Hinblick auf die ordnende Struktur seiner Natur charakterisierte Aristoteles den Menschen als das zoon noun echon, das Lebewesen, das nous besitzt. Diese Formulierung fand Anklang. Durch die lateinische Über-

130

setzung

des

zoon

noetikon

als

animal

rationale

ist der

Mensch das vernünftige Lebewesen geworden und Vernunft zur Natur des Menschen. Auf der topischen Ebene philosophischer Sprache entwickelte sich diese Charakterisierung zu einer Art von Nominaldefinition. Der Philosoph war jedoch nicht an Nominaldefinitionen interessiert, sondern an der Analyse der Realität. Die Charakterisierung des Menschen als des zoon noun echon, oder zoon noetikon,

war nicht mehr

als eine zusammenfassende

Kurzformel einer Analyse bezüglich der Realität von Ordnung in der psyche des Menschen. Wenn die Analyse sich nicht mit der persönlichen Ordnung des Menschen befaßte, sondern mit der Ordnung seiner Existenz in der Gesellschaft, kam sie zu der zusammenfässenden Charakterisierung des Menschen als des zoon politikon. Und wenn die Analyse der menschlichen Existenz in geschichtlicher Realität, der

,Geschichtlichkeit"

heute nennt, führt

von

worden

des

Menschen,

den klassischen

wäre,

als

es

wie

Philosophen

tatsächlich

geschah,

man

dies

weiter

ge-

wären

sie

vielleicht zu der formelhaften Charakterisierung des Menschen als des zoon historikon gekommen. Alle drei Charakterisierungen sind richtig, insofern sie eine gültige Analyse der Erfahrungsrealitát auf eine kurze Formel bringen, jede einzelne jedoch würde falsch, wenn sie die beiden anderen ausschlósse

gültige Mensch

und

beanspruchte,

Definition ist

ferner

der

Natur

nicht

eine

die

des

einzige

und

Menschen

kórperlose

die

zu

Seele,

einzig

sein. die

Der durch

Vernunft geordnet wird. Durch seinen Korper partizipiert er an der organischen Wirklichkeit, sowohl an der der Tiere wie

der Pflanzen,

ebenso

wie an dem

Bereich

der Mate-

rie. Und in seiner psyche erfáhrt er nicht nur die noetische Bewegung in Richtung auf Ordnung, sondern auch die Zugkraft der Leidenschaften. der

Vernunft,

schaftlicher

in ihren

und

Außer

seiner

Dimensionen

geschichtlicher

spezifischen persönlicher,

Existenz,

das, was Aristoteles seine ,synthetische"

131

hat

der

Natur, gesellMensch

Natur nennt. Von

spezifischer und synthetischer Natur zusammen können wir als der ,integralen" Natur des Menschen sprechen. Diese integrale Natur, die sowohl die noetische psyche mit ihren drei Ordnungsdimensionen umíaDt als auch die Teilhabe des Menschen an der Hierarchie des Seins vom nous bis hinab

zur Materie,

ist nach Auffassung

des Aristoteles

der

Gegenstand der philosophischen Untersuchung peri ta thropina, der Untersuchung der Dinge, die sich auf die tur des Menschen beziehen. Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, wenn wir dieses umfassenden Feldes der menschlichen Realitát

anNauns be-

wußt sind als des Feldes, in dem Vernunft ihren Ort hat und die

Funktion

eines

Ordnungszentrums

erfüllt,

von

dem

aus die Existenz geistig durchsichtig wird. Ich beginne nun

mit der Untersuchung der klassischen Erfahrung und Symbolisierung dieser ordnenden Kraft in der psyche des Men-

schen. Die Realitát, die von den Philosophen als spezifisch menschlich erfahren wird, ist die Existenz des Menschen in einem Zustand von Unruhe. Der Mensch ist nicht ein von ihm selbst geschaffenes, autonomes Wesen, das den Ursprung und Sinn seiner Existenz in sich selbst trüge. Er ist nicht eine góttliche causa sui. Vielmehr bricht aus der Erfahrung seines Lebens in unsicherer Existenz zwischen den Grenzen von Geburt und Tod die verwunderte Frage nach dem letzten Grund

auf, der aitia oder prote arche, dem letz-

ten Grund jeglicher Realitát und besonders seiner eigenen. Die Frage ist der Erfahrung, aus der sie aufsteigt, inhárent. Das zoon noun echon, das sich selbst als ein lebendiges Wesen erfährt, ist sich gleichzeitig des fragwürdigen Charakters bewußt, der mit seinem Status verbunden ist. Wenn der Mensch sich als existent erfährt, entdeckt er seine spezifische menschliche Natur als die des Fragers nach dem Woher

und

Wohin,

nach

dem

Grund

Existenz.

und

dem

Sinn

seiner

Obwohl dieses Fragen der Selbsterfahrung des Menschen 132

zu allen Zeiten inhärent ist, stellt, wie ich betont habe,

die

adäquate Artikulierung und Symbolisierung des fragenden Bewußtseins

als des

Konstituens

der menschlichen

Natur

die epochale Leistung der Philosophen dar. Man kann in der Tat in den platonisch-aristotelischen Formulierungen noch die Erschütterung des Übergangs von den kompakten zu den differenzierten Modi des Bewußtseins erkennen. Bei Platon sind wir der Entdeckung noch näher. Der Sokrates des Theaitet erkennt in der Erfahrung (pathos) des Sich-Wunderns (thaumazein) das Merkmal des Philosophen. „Philosophie hat in der Tat keinen anderen Ursprung." (155d) Eine Generation spáter, als die Wucht des ersten Eindrucks abgeklungen war, konnte Aristoteles seine Metaphysik mit

der programmatischen

Feststellung beginnen:

, Alle Men-

schen haben von Natur aus das Bestreben (oregontai) zu wissen (eidenai).^ Alle Menschen - nicht nur die Philosophen! Das Unternehmen der Philosophen ist für die Menschheit repräsentativ geworden. Jedermanns Existenz ist durch das thaumazein potentiell beunruhigt, aber einige drücken ihre Verwunderung in dem kompakteren Medium des Mythos aus, andere durch die Philosophie. Neben dem philosophos steht deshalb die Gestalt des philomythos, und ,der philomythos ist in gewissem Sinn ein philosophos." (Met. 982 b 18 ff.) Wenn Homer und Hesiod den Ursprung der Gótter und aller Dinge bis zu Uranos, Gaia und Okeanos zurückverfolgen, drücken sie sich im Medium der theogonischen

Spekulation

aus,

doch

sind

sie

auf

derselben

Suche nach dem Grund wie Aristoteles selbst (Met. 983 b 28 ff.). Die Stellung auf der Skala von Kompaktheit und Differenzierung berührt nicht die grundsátzliche Gleichheit der Struktur in der Natur des Menschen. Und doch ist das epochale Ereignis der Differenzierung eingetreten,

und

die

Philosophen

haben

den

in sich kohä-

renten Komplex von Sprachsymbolen geschaffen, mit denen sie die einzelnen Stationen ihrer Analyse bezeichnen. Da ist an erster Stelle die Gruppe von Symbolen, welche die

133

Erfahrung

der

Sich-wundern

Unruhe

und

Verwunderung

- thaumazein;

suchen,

tersuchung - zetesis; zweifelndes

ausdrücken:

forschen - zetein; Un-

Fragen - aporein,

dia-

porein. Ferner ist das zweifelnde Fragen in der Erfahrung mit dem Anzeichen der Dringlichkeit verbunden. Es ist nicht ein Spiel, das man spielt oder auch nicht. Der Philosoph

fühlt sich durch eine unbekannte Kraft bewegt (kinein), die

Fragen

zu stellen,

er fühlt sich in die Suche

hineingezogen

(helkein). Manchmal zeigt der verwendete Ausdruck ein drängendes Begehren als Moment des zweifelnden Fragens an, wie bei dem aristotelischen tou eidenai oregontai. Und manchmal ist der Zwang, die Frage zu stellen, groDartig ausgestaltet, fangene

wie

in Platons

Höhlengleichnis,

durch die unbekannte

Kraft bewegt

wo

der

Ge-

wird, sich her-

umzudrehen (periagoge) und den Aufstieg zum Licht zu beginnen. Nicht immer jedoch muß die unbekannte Kraft erst die Fesseln der Gleichgültigkeit sprengen. Die Unruhe in der Seele eines Menschen kann so durchsichtig für sich selbst sein,

daß

sie sich versteht

als verursacht

durch

Un-

wissenheit hinsichtlich des Grundes und des Sinns von Existenz, so daß der Mensch ein aktives Begehren verspürt, diesem Zustand von Unwissenheit zu entkommen (pheugein ten agnoian, Met. 982 b 21) und zum Wissen zu gelangen. Aristoteles drückt es kurz und bündig so aus: , Ein Mensch in Verwirrung (aporon) oder Verwunderung (thaumazon)

ist

sich

bewußt,

in

Unwissenheit

zu

sein

(oietai

agnoein)." (Met. 982 b 18) Die Analyse erfordert also weitere Sprachsymbole: Nichtwissen — agnoia, agnoein, amathia; Flucht vor dem Nichtwissen — pheugein ten agnoian; sich herumdrehen - periagoge; Wissen - episteme, eidenai. Der bis jetzt artikulierte Teil der Erfahrung liefert den Unterbau für die noetischen Einsichten im eigentlichen Sinn. Ich habe ihn mit einiger Sorgfalt dargestellt, da er weniger

bekannt

ist, als er es sein sollte.

Platon

und

Ari-

stoteles waren so erfolgreich in der Exegese ihrer Erfahrungen, daß die nachklassische Entwicklung der Philoso134

phie an die darüberliegende Schicht der noetischen „Resultate" anknüpfen konnte, während die differenzierte Existenzerfahrung, die das Symbol ,Philosophie" hervorgebracht

hatte,

in das

Halbdunkel

des beinahe

Vergessenen

verdrängt wurde. Gegenüber dieser Vernachlässigung muß ich betonen,

war, schen Blick ihre

daf dieser Unterbau

das katalytische Moment

das die Bescháftigung der Vorsokratiker mit noetiProblemen erst deutlich als ein Unternehmen in den brachte, das sich mit der Ordnung der psyche durch Spannung zum göttlichen Grund, dem aition aller

Wirklichkeit,

befaßte.

Auf

Grund

dieser

katalytischen

Funktion ist diese Schicht der Erfahrung der Schlüssel zum Verständnis des nous im klassischen Sinn. Der nous hatte die Aufmerksamkeit der vorsokratischen Denker, besonders des Parmenides und des Anaxagoras, auf sich gezogen im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen von verstehbaren Strukturen in der Realität. Parmenides hatte die Bezeichnung nous für die Fähigkeit des Menschen

verwendet, zur Schau des Seins aufzusteigen, und die Bezeichnung logos für die Fähigkeit, den Inhalt dieser Schau zu analysieren.Er zog den präanalytischen Inhalt seiner Vision in den nicht-gegenständlichen Ausruf ,IST" zusammen. Die Erfahrung war so stark, daß sie zur Identifizierung von nous und Sein neigte, von noein und einai (B 3). Im Taumel der Vision verschmolzen der Erkennende und das Erkannte zu der einen wahren Realitát (aletheia), um erst dann wieder getrennt zu werden, als der logos daranging, diese Erfahrung zu untersuchen und die geeigneten Sprachsymbole für ihren Ausdruck zu finden. Von diesem parmenideischen Ausbruch hat die Erfahrung der klassischen Philosophen die Erbschaft übernommen, daf der Mensch mit nous begabt ist (das aristotelische zoon noun echon), was seine Seele zu einem Sensorium des góttlichen aition macht, sowie das Gespür für die Konsubstantialität des menschlichen nous mit dem aition, das er in seinem Bewußtsein erfaßt. Während Parmenides die noetische Fáhig-

135

keit differenzierte, den Grund

der Existenz zu erfassen, be-

schäftigte sich Anaxagoras mit der Erfahrung einer verstehbaren Struktur in der Realität. Konnte das göttliche aition

wirklich

eines

ker angenommen näher

waren,

gestaltende

der

Elemente

sein,

wie

Den-

hatten, die den Göttern des Mythos noch

oder

mußte

es

nicht

statt

dessen

Kraft sein, die der Materie Form

te? Anaxagoras

frühere eher

eine

geben konn-

entschied sich für den nous als die Quelle

verstehbarer Ordnung im Kosmos und wurde für diese Einsicht von Aristoteles hoch gepriesen. Von zwei Seiten her also, der des Erkennenden und der des Erkannten, hatten sich die Erfahrungen von intellektueller Wahrnehmung und von einer intelligiblen Struktur, die geistig wahrgenommen werden konnte, zunächst unabhängig voneinander entwickelt. Jetzt standen sie bereit zu verschmelzen in der Entdeckung der menschlichen psyche als dem Sensorium des göttlichen aition und zugleich als dem Ort, an dem sich diese gestaltende Kraft manifestiert. Die Differenzierung der psyche erweitert die Suche nach dem Grund um die Dimension kritischen Bewußtseins. Denn die kompakteren Symbole des Mythos oder der Vorsokratiker können nicht unangefochten bleiben, sobald die Erfahrungsprozesse der psyche als die empirische Quelle erkannt worden sind, von der die Symbole ihre Gültigkeit ableiten. Der Mensch, der Fragen stellt, und der göttliche Grund,

auf den sich die Fragen

richten, verschmelzen

miteinander in der Erfahrung des Fragens als einer göttlich-menschlichen Begegnung, und sie tauchen aus dieser Verschmelzung wieder auf als die Partizipierenden an dieser Begegnung, welche die Durchsichtigkeit und Struktur von Bewußtsein hat. In der platonisch-aristotelischen Erfahrung trägt die fragende Unruhe ihre beruhigende Antwortinsich, da der Mensch zu seiner Suche nach dem Grund

bewegt wird durch den göttlichen Grund, nach dem er auf der Suche

ist. Der

Grund

ist nicht ein räumlich

Gegenstand, sondern eine göttliche Gegenwart, 136

entfernter

die in der

Erfahrung der Unruhe und des Begehrens nach dem Wissen offenbar wird. Das Sich-verwundern und Fragen wird als der Beginn eines theophanischen Ereignisses erfahren, das nur dann ganz durchsichtig für sich selbst werden kann, wenn es die entsprechende Antwort in der psyche konkreter Menschen findet -- wie im Fall der klassischen Philosophen. Folglich ist Philosophie nicht ein Korpus von „Ideen“ oder „Meinungen“ über den göttlichen Grund, unter die Leute gebracht

durch eine Person,

die sich selbst Philosoph

nennt, sondern der Sachverhalt, daß ein Mensch auf die fragende Unruhe antwortet und ihr nachspürt bis zu dem göttlichen Ursprung, der die Unruhe erregt hat. Wenn dieses Nachspüren jedoch wirklich dem göttlichen Beweger antwortend entgegenkommen soll, erfordert dies den Versuch, die Erfahrung durch geeignete Sprachsymbole zu artikulieren. Und dieser Versuch führt zu der Einsicht in die noetische Struktur der psyche. Das Bewußtsein fragender Unruhe in einem Zustand des Nichtwissens wird sich selbst durchsichtig als eine Bewegung in der psyche in Richtung auf den Grund, der in ihr präsent ist als der, der sie bewegt. Die präkognitive Unruhe wird zu einem kognitiven Bewußtsein, einer noesis, die sich auf den Grund als ihr noema oder ihr noeton richtet. Gleichzeitig wird das Begehren (oregesthai) zu erkennen

zum

Bewußtsein,

daß

der

Grund

der

Gegenstand

des

Begehrens, das orekton ist (Met. 1072 a 26 ff.). Der Grund kann in diesem Prozeß des Denkens erreicht und erkannt werden als das Ziel des Begehrens durch den meditativen Aufstieg über die via negativa: Der Grund ist weder zu fin-

den unter den Gegenständen der äußeren Welt noch unter

den Zielen hedonistischen oder politischen Handelns, sondern er liegt jenseits dieser Welt. Platon hat das Symbol des Jenseits, das epekeina, in die philosophische Sprache eingeführt als das Kriterium für den schöpferischen, göttlichen Grund (Politeia 508-9). Und Aristoteles spricht vom

Grund

als „ewig,

ohne Bewegung 137

und getrennt

von den

Dingen

der Sinneswahrnehmung"

(Met.

1073 a 3-5). Posi-

tiv setzt Platon das Eine (to hen), das in allen Dingen als

der Grund gegenwärtig ist, gleich mit sophia Καὶ nous (Phileb. 30 c-e). Und Aristoteles identifiziert die Wirklichkeit des Denkens (nou energeia) als das ewige göttliche Leben, „denn das ist es, was Gott ist" (Met. 1072 b 27-31). Der Komplex der nous-Symbole umfaßt also alle Schritte in der philosophischen Exegese der Spannung des Menschen zum Grund seiner Existenz. Da gibt es sowohl einen menschlichen als auch einen góttlichen nous als Bezeichnung für den menschlichen und den góttlichen Pol der Spannung. Es gibt eine noesis und ein noeton, zur Bezeichnung der Pole des kognitiven Aktes. Und da ist ganz allgemein das Verbum noein, um die Phasen der Bewegung zu bezeichnen, die von der fragenden Unruhe zur Erkenntnis des Grundes als des nous führt. Wenn dieser Sprachgebrauch

auch

gewisse

Nachteile

hat,

so

macht

er

doch

eindrucksvoll klar, daß die Philosophen den Prozeß in der psyche als einen eigenen Realitátsbereich mit einer eigenen Struktur verstehen. Diese Struktur kann entfaltet werden entweder durch den Aufstieg von der existentiellen Unruhe auf dem Grund der Hóhle zu der Vision des Lichts oben, oder durch den Abstieg von dem Bewußtsein, das sich

selbst durchsichtig geworden ist, nach unten. Ohne die kinesis des Angezogen-werdens von oben gábe es kein Begehren

nach

dem

Wissen

vom

Grund,

ohne

das

Begehren

kein Fragen in Verwirrung, ohne Fragen in Verwirrung kein Bewußtsein des Nichtwissen. Es gäbe keine existentielle

Unruhe,

wenn

diese Unruhe

von

seiner

die

zu

Existenz

der

Suche

nach

dem

nicht schon das Wissen aus

einem

Grund,

der

Grund

treibt,

des Menschen nicht

er selbst

ist, wäre. Die Bewegungen dieser göttlich-menschlichen Begegnung bilden nach diesem Verständnis eine verstehbare Sinneinheit,

noetisch

sowohl

in ihrer Substanz

als

auch

in

ihrer Struktur. Dies

ist die

Sinneinheit,

auf die

138

ich mich

in aller Kürze

bezogen habe

als die Spannung

des Menschen

zum

gött-

lichen Grund seiner Existenz. Das Abstraktum „Spannung“ dagegen (es wäre das griechische Wort tasis) ist kein Bestandteil des klassischen Vokabulars. Wenn Platon und

Aristoteles von der göttlich-menschlichen Begegnung sprechen, dann

ziehen

sie Symbole

vor,

die sie von

ihren

Vor-

gängern in der Erforschung der psyche übernommen haben,

und die verschiedene konkrete Modi der Spannung benennen, wie z.B. philia, eros, pistis und elpis. Ich muß deshalb nun auf die Probleme in der Existenz des Menschen als eines zoon noun echon eingehen, welche die verschiedenen Abstraktionsebenen in der Analyse erforderlich machen.

II. Psychopathologie DaD Platon und Aristoteles sich auf die konkreten Modi der Spannung konzentrieren, ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des nous-Symbols, weil dadurch der Erfahrungskontext angegeben wird, in dem sich ohne Zweifel die Differenzierung der Vernunft ereignet: Vernunft als eine Struktur in der Realität differenziert sich aus den Erfahrungen von Glaube und Vertrauen (pistis) in den göttlich geordneten Kosmos, und von Liebe (philia, eros) zu der göttlichen Quelle von Ordnung. Sie differenziert sich aus dem amor Dei im Sinn Augustins, und nicht aus dem amor sui. Die Realitát, die durch die nous-Symbole zum Ausdruck gebracht wird, ist also die Struktur in der psyche eines Menschen, der sich in Einklang mit der göttlichen Ordnung im Kosmos befindet, nicht eines Menschen, der in der Revolte gegen diese Ordnung lebt. Vernunft hat als

bestimmten existentiellen Inhalt die Offenheit gegenüber der Realität in dem Sinn, in dem Bergson von der äme ouverte spricht. Bleibt dieser Kontext der klassischen Analyse unbeachtet und werden die Symbole nous oder Ver-

139

nunft so behandelt, menschliche

als bezögen

Fähigkeit,

nung zum Grund,

sie sich auf irgendeine

die unabhängig

ist von

der

Span-

dann ist die empirische Basis, von der die

Symbole ihre Gültigkeit herleiten, verloren gegangen. Sie werden zu Begriffen, die aus Nichts abstrahiert sind, und das Vakuum dieser Pseudo-Abstracta füllt sich bereitwillig mit verschiedenen nicht-rationalen Inhalten. Der Begriff „Spannung zum Grund”, der sowohl die voranalytischen wie die noetischen Modi

der Spannung bezeichnet, soll ver-

hindern, daß der Begriff Vernunft mißverstanden wird, indem unzweideutig die existentielle philia als die Realität hervorgehoben wird, die in der philosophia und im bios theoretikos der klassischen Philosophen noetisch durchsichtig wird. Angesichts des Zusammenbruchs der Philosophie in der westlichen Gesellschaft der Neuzeit muß die Verbindung zwischen Vernunft und existentieller philia, zwischen Vernunft und Offenheit gegenüber dem Grund ausdrücklich hervorgehoben werden. Da der Begriff Spannung die Verbindung zwischen Ver-

nunft

und

Existenz

in Offenheit

gegenüber

dem

Grund

deutlich macht, ist er unentbehrlich,

um den grundlegenden

Sachverhalt

Erscheinungen

stehen:

psychopathologischer

Wenn

Vernunft

existentielle

philia

ist,

zu wenn

versie

die Offenheit der Existenz ist im Zustand kritischen Bewußtseins, dann beeinflußt das Sich-Verschließen der Existenz oder jede Art von Widerstand gegen die Offenheit sicher die rationale Struktur der psyche in negativer Weise. Die Phänomene existentieller Unordnung durch das Sichverschließen gegenüber dem Seinsgrund waren schon mindestens ein Jahrhundert vor den klassischen Philosophen beobachtet und artikuliert worden. Heraklit hatte unter-

schieden zwischen Menschen, die in der einen und gemein-

samen Welt (koinos kosmos) des logos leben, der das gemeinsame Band der Menschheit ist (homologia), und den Menschen, die in den verschiedenen Privatwelten (idios kosmos) ihrer Leidenschaft und ihrer Einbildung leben,

140

zwischen

den Menschen,

die ein waches

Leben

führen,

und

den Schlafwandlern, die ihre Träume für Wirklichkeit ansehen (B 89). Und Aischylos hatte die Prometheische Re-

volte gegen den göttlichen Grund als eine Krankheit oder

Wahnsinn (nosos, nosema) diagnostiziert. Platon benutzte dann in der Politeia sowohl die herakliteischen wie die aischyleischen Symbole, um den Zustand von Einklang mitund Sich-Verschließen gegen den Grund als Zustand existentieller Ordnung und Unordnung zu charakterisieren. Und doch bedurfte es der erschütternden Erfahrungen der ökumenischen Reichsbildungen, und in ihrem Gefolge der existentiellen Desorientierung als Massenphänomen, um die Verbindung zwischen Vernunft und existentieller Ordnung in Begriffen festlegen zu können. Erst die Stoiker prägten die Ausdrücke oikeiosis und allotriosis, ins Lateinische übersetzt als conciliatio und alienatio, um zwischen den beiden existentiellen Zuständen zu unterscheiden, die

das Leben der Vernunft ermöglichen

bzw.

Störungen der

psyche bedingen. In den Tusculanae Disputationes referiert Cicero die grundlegenden stoischen Formulierungen: Wie es Krankheiten des Körpers gibt, gibt es auch Krankheiten des Geistes (morbi animorum); diese Krankheiten sind im allgemeinen durch eine Verwirrung des Geistes auf Grund verkehrter Meinungen verursacht (pravarum opinionum conturbatio), die in einen Zustand der Verderbtheit mündet

(corruptio opinionum);

die Krankheiten

dieses

Typs können nur auf Grund einer Zurückweisung der Vernunft (ex aspernatione rationis) entstehen; deshalb können Krankheiten des Geistes im Unterschied zu denen des Körpers nie ohne eigene Schuld auftreten (sine culpa); und da diese Schuld nur beim Menschen - weil er Vernunft hat —

móglich vor.’

ist, kommen

Die Analyse, einer

Passage

diese Krankheiten

bei Tieren nicht

die hinter solchen Formeln steckt, kann von

Chrysipp

erschlossen

141

werden:

aus

„Diese

Veränderung (des Geistes) und dieses Sich-Entfernen von sich selbst geschieht auf keine andere Weise als durch eine

vorsätzliche

Abwendung

(apostrophe)

vom

logos.” ” Die

apostrophe ist die Bewegung, die der Richtung nach der periagoge oder epistrophe Platons entgegengesetzt ist. Indem

der Mensch

von

seinem

sich vom

eigenen

Sich-Entfernen

von

Grund

Selbst

abwendet,

ab.

wendet

Entfremdung

der menschlichen

Natur,

er sich

ist also ein die durch

die

Spannung zum Grund konstituiert wird. Darüberhinaus treten in diesem Zusammenhang die ersten Versuche auf, die Erfahrung von ,Angst" auszudrükken. Ciceros anxietas in den Tusculanae Disputationes ist in ihrer Bedeutung zu unbestimmt, um uneingeschränkt mit der modernen , Angst" gleichgesetzt werden zu kónnen. Sie bezeichnet

vielleicht

unvernünftigen

nur

einen

Befürchtungen

Geisteszustand,

der

überläßt.° Aber

sich

Auferun-

gen, die Chrysipp zugeschrieben werden, machen klar, daß Angst als eine Spielart von Unwissenheit verstanden wird (agnoia). Ein Mensch ist vóllig rasend, wird an der betreffenden Stelle gesagt, wenn er unwissend ist (agnoian echon) im Hinblick auf sein Selbst und das, was für sein selbst von Belang ist. Diese Unwissenheit ist das Laster, das der Tugend wahrer Einsicht (phronesis) entgegengesetzt ist. Sie muß als ein existentieller Zustand charakterisiert werden, in dem die Begierden sich ohne Kontrolle und ohne Steuerung entwickeln, ein Zustand aufgeregter Unsicherheit

und

überreizter

Leidenschaften,

ein

Zustand

von Panik oder Schrecken, weil die Existenz ihre Richtung verloren hat. Diese Beschreibung wird in dem Ausdruck

agnoia ploiodes zusammengefaft

als der stoischen

nition" von Wahnsinn (mania).' Dem zoon noun spricht als sein pathologisches Gegenstück agnoian echon. Die Erforschung des pathologischen Gegentyps Stoiker präzisiert den Sinn noetischer Existenz. sche

Punkt,

der

beachtet

werden

142

sollte,

ist der

,Deti-

echon entdas zoon durch die Der kritiUmstand,

daß agnoia, Unwissenheit, als kennzeichnendes Merkmal sowohl im Zustand von Gesundheit (sanitas) als auch von Krankheit (insania) auftritt. Die fragende Unruhe, wie ich die Anfangsphase der noetischen Erfahrung neutral genannt habe, kann entweder des

folgen

und

sich

zu

der Anziehungskraft des Grun-

noetischem

Bewußtsein

entfalten,

oder sie kann sich vom Grund abkehren und anderen Anziehungskräften folgen. Die pathologische Entgleisung ereignet sich also in der Phase fragender Unruhe, in der Haltung des Menschen gegenüber der Spannungsstruktur seiner Existenz, und nicht auf den darauf aufbauenden Ebenen, auf denen die Entgleisung dann offenkundig wird in der Diskrepanz zwischen einem gutgeordneten Leben und einer

Existenz ohne Orientierung, oder der Diskrepanz zwischen

rationaler Artikulation der Realität und den in nicht geringerem Maße artikulierten „verkehrten Meinungen", den pravae opiniones. Natürlich ziehen die offenkundigen Symptome der Desorientierung die Aufmerksamkeit in erster Linie auf sich. Aus den Tusculanae Disputationes kann man

eine lange Liste von Syndromen

zusammenstellen,

die

ganz modern klingt: rastloses Geldverdienen, Streben nach gesellschaftlichem Prestige, Schürzenjägerei, übermäßiges Essen,

Hang

Reizbarkeit,

zu

Delikatessen

Ängstlichkeit,

und

Naschereien,

Ruhmsucht,

Starrsinn,

Zechen, Unnach-

giebigkeit und Ängste vor dem Kontakt mit anderen Menschen wie Weiberhaß oder allgemeine Menschenfeindlichkeit. Obwohl eine Symptomatologie dieser Art nützlich ist als Annäherung auf dem Niveau des gesunden Menschenverstands, ist sie jedoch analytisch nicht präzis genug. Denn es gibt nichts auszusetzen an den Leidenschaften als solchen, noch am Genuß von äußeren Gütern und denen des Körpers, noch an gelegentlichen Nachgiebigkeiten oder Exzessen. Wenn die Trennungslinien nicht genauer gezogen werden,

wird

man

zu der

Situation

kommen,

die Horaz

in

Satiren II 3 lächerlich gemacht hat. Deswegen unterscheidet

Cicero

sorgfáltig zwischen

akuten

143

Auferungen

von

Lei-

denschaften und Gewohnheiten, die chronisch geworden sind, zum Beispiel zwischen angor und anxietas, ira und iracundia. Und die Gewohnheitsbildung muf so gravierend sein, daß sie das Gleichgewicht der rationalen Ordnung der Existenz stört; sie muß auf eine Zurückweisung der Vernunft, auf eine aspernatio rationis hinauslaufen. Dieses letztere Kriterium steht in Zusammenhang mit einer früheren Stelle bei Chrysipp, wo er sich mit dem Menschen beschäftigt, der Argumenten nicht zugänglich ist, weil er seine Nachgiebigkeit gegenüber den Leidenschaften als ein ganz und gar rationales Verhalten ansieht. Das Phänomen

rationalen

Argumentierens

zu dem

Zweck,

die Flucht

aus der noetisch geordneten Existenz zu verteidigen, beeindruckte Chrysipp so stark, daß er annahm, der logos selbst könne korrumpiert werden. Poseidonios konnte nichts anderes tun, als diesen Irrtum zurückzuweisen und zu der Kraft in der menschlichen Existenz zurückzukehren, die Leidenschaften

schen

Spannung

als Mittel benutzen kann,

zu fliehen,

und

welche

aus der noeti-

gleichzeitig die Vernunft

als Mittel, diese Flucht zu rechtfertigen.’

Die Stoiker diagnostizierten also geistige Krankheit als eine Störung noetisch geordneter Existenz. Diese Störung betrifft sowohl die Leidenschaften als auch die Vernunft, aber sie ist weder durch das eine noch durch das andere verursacht. Sie hat ihren Ursprung in der fragenden Unruhe,

der

agnoia,

und

in

der

Freiheit

des

Menschen,

das

Ziel der menschlichen Natur, das in der Unruhe potentiell enthalten ist, zu verwirklichen oder dieses Ziel zu verfehlen. Gesundheit oder Krankheit der Existenz wird schon aus der Stimmungslage dieser Unruhe spürbar. Die klassische, besonders die aristotelische Unruhe ist unverkennbar freu-

dig, da das Suchen in sich eine Richtung hat. Die Unruhe

wird als der Beginn eines theophanischen Ereignisses erfahren, in dem sich der nous als die góttlich ordnende Kraft in der psyche des Fragenden und im Kosmos in seiner Ge144

samtheit offenbart. Die Unruhe ist eine Einladung, dem Ziel, das sie anzeigt, bis zur Aktualisierung des noetischen Bewußtseins nachzuspüren. Es gibt keinen Ausdruck für , Angst". Die Gefühlslage, in Panik oder Schrecken versetzt zu werden durch eine Frage,

auf

die

keine

Antwort

gefunden

werden

kann,

ist

der klassischen Erfahrung in charakteristischer Weise fremd. Die ,Panik" wurde erst durch die Stoiker als ein pathologisches Phänomen durch das Adjektiv ploiodes eingeführt. In der neuzeitlich-westlichen Geschichte der Unruhe dagegen, von Hobbes’ ,Todesfurcht" bis zu Heideggers ,Angst" hat sich die Stimmung verschoben von freudiger Teilnahme an einer Theophanie zu der agnoia ptoiodes, zur feindseligen Entfremdung von einer Wirklichkeit,

die sich mehr

verbirgt,

als daß

sie sich offen-

bart. Hobbes ersetzt das summum bonum durch das summum malum als ordnende Kraft in der menschlichen Existenz; Hegel baut seinen eigenen Zustand der Entfremdung zu einem System aus und lädt alle Menschen ein, Hegelianer zu werden;

Marx

verwirft die aristotelische Suche nach

dem Grund rundweg, und lädt uns ein, sich ihm als ,sozialistischer Mensch” in seinem Zustand der Entfremdung anzuschließen; Freud diagnostiziert die Offenheit zum Grund

als

eine

,lllusion",

,infantilismus";

als

Heidegger

„neurotisches

wartet

auf

die

Relikt", „Parusia

als des

seins", die nicht kommt, was die Erinnerung an Samuel Beckets ,Warten auf Godot" wachruft; Sartre fühlt sich „zur Freiheit verdammt" und schlägt wild um sich bei dem Versuch,

Ersatzziele

verfehlt

hat;

Wissenschaft

zu entwerfen

Lévy-Strauss betreiben

für das

versichert

kann,

wenn

eine Ziel, das er

uns,

man

daf

nicht

man Atheist

nicht ist;

das Symbol ,Strukturalismus" wird das Schlagwort einer modischen Bewegung der Flucht aus der noetischen Struk-

tur der Realität. Und wo weiter.’ Aber

mehr

wie

als um

diese

Fallsammlung

einen bloßen

zeigt,

Unterschied

145

geht

es dabei

um

in der Stimmung

zwischen klassischer und moderner Unruhe. Denn die Vertreter der modernen agnoia ptoiodes beanspruchen in ag-

gressiver

Weise

für ihre geistige

Krankheit

den

Status

geistiger Gesundheit. Im Meinungsklima der Neuzeit hat das zoon agnoian echon das zoon noun echon ersetzt. Die Pervertierung der Vernunft infolge ihrer Aneignung durch geistig Kranke, die schon Chrysipp beunruhigt hatte, hat sich in der neuzeitlichen Periode des Kulturverfalls zu der mörderischen Groteske unserer Zeit ausgewachsen. Von Pervertierung allein kann jedoch der Mensch nicht leben. Parallel zu der Kulmination der Groteske in Hitler, Stalin und der Orgie des ,Befreiungspóbels" nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs auch das Bewußtsein ihres pathologischen Charakters. Zwar hatte schon im 19. Jahrhundert

Schelling,

als er sich mit dem

Progressivismus

sei-

ner Zeit befaßte, den Ausdruck ,Pneumopathologie" geprägt. Aber bis in die jüngste Zeit wäre es sinnlos gewesen, die

, Meinungen",

die

die

öffentliche

Szene

beherrschen,

als psychopathologische Phänomene zu behandeln. Mittlerweile aber sind der „Trugschluß des Reduktionismus", die Hervorbringung imaginärer „Zweiter Wirklichkeiten" und die Rolle von Geschichtsphilosophien bei der Erzeugung einer Illusion von ,Unsterblichkeit" weithin als pathologische Symptome bekannt geworden. Ein Autor wie Doderer hat in seinen Dämonen die , Apperzeptionsverweigerung", die Weigerung wahrzunehmen, als das Syndrom des zoon agnoian echon erkannt. Und in der Existenzpsychologie, z. Bb. im Werk Viktor E. Frankls, ist die „noologische Dimension"

des

Menschen,

sowie

die Behandlung

seiner

Leiden

durch ,Logotherapie" wiederentdeckt worden. Es wäre nicht überraschend, wenn früher oder spáter Psychologen oder Sozialwissenschaftler die klassische Analyse noetischer Existenz als die angemessene theoretische Basis für die Psychopathologie des ,Zeitalters" entdecken würden.

146

III. Leben und Tod Das Leben der Vernunft im klassischen Sinn ist Existenz in der Spannung zwischen Leben und Tod. Der Begriff Span-

nung soll das Bewußtsein für dieses eigentümliche „Zwischen" der Existenz schärfen. Mit ,Zwischen" ' übersetze ich den Begriff

des metaxy,

den Platon

im Symposion

und

im Philebos entwickelt hat. Der

Mensch

erfáhrt

sich als

ein

Wesen,

das

über

seine

menschliche Unvollkommenheit hinaus nach der Vollkommenheit des góttlichen Grundes strebt, der ihn anziehend bewegt. Indem der geistige Mensch, der daimonios aner, auf der Suche nach dem Grund in Bewegung ist, bewegt er sich irgendwo zwischen Wissen und Nichtwissen (metaxy

sophias

kai

amathias).

„Das

ganze

Reich

des

Geistigen

(daimonion) ist in der Tat in der Mitte zwischen (metaxy) Gott und Mensch" (Symp. 202 a). Das Zwischen (metaxy) ist also nicht ein leerer Raum zwischen den Polen der Spannung, sondern das ,Reich des Geistigen". Es ist die Realität, in der „Götter und Menschen miteinander verkehren” (202-203), das wechselseitige Partizipieren (methexis, metalepsis) von menschlicher in góttlicher und von góttlicher in menschlicher Realität. Das metaxy symbolisiert die Erfahrung der noetischen Suche als einen Übergang der Seele von Sterblichkeit zu Unsterblichkeit. In der Sprache des Sokrates im Phaidon ist richtiges Philosophieren die Einübung in den Tod (melete thanatou), die der psyche die Fähigkeit verleiht, im Tod ihren göttlichen, unsterblichen und weisen Zustand in Wahrheit (alethos, 81 a) zu erreichen. In der Sprache des Aristoteles ist noetisches Philosophieren die Übung, unsterblich zu werden (athanatizein, NE 1177 b 33). „So ein Leben jedoch ist mehr als nur menschlich; es kann vom Menschen

nicht gelebt werden,

in-

sofern er Mensch ist, sondern nur kraft des Göttlichen (theion), das in ihm ist... Wenn also der nous im Vergleich zum Menschen göttlich ist, dann ist das noetische Leben 147

göttlich im Vergleich

zu menschlichem

Leben"

(NE

1177 b

27 ff.). Auf Grund der göttlichen Präsenz, die der Unruhe

ihre Richtung gibt, wird die Entfaltung des noetischen Bewußtseins als ein Prozeß des Unsterblich-Werdens erfah-

ren. Mit ihrer Entdeckung

des Menschen

als eines

zoon

noun echon haben die klassischen Philosophen entdeckt, daß der Mensch mehr ist als ein thnetos, ein Sterblicher: Er ist das unvollendete Wesen, das sich von der Unvollkommenheit des Todes in diesem Leben zu der Vollkommenheit des Lebens im Tode bewegt.

Historisch ist die Erfahrung, in der Entfaltung des ratio-

nalen

Bewußtseins

unsterblich

zu werden,

das

Sturmzen-

trum gewesen - und sie ist es noch -, von dem Mißverständnisse,

irreführende

Fehldeutungen

ausgegangen sind. Wenn der Mensch im metaxy „zwischen

Mensch

und

Gott”,

und

wütende

Angriffe

existiert, in der Spannung dann

zerstört

jede

Auffas-

sung des Menschen als eines weltimmanenten Wesens sinn

von

Existenz,

weil

sie den

Menschen

seines

den

spezifi-

schen Wesens beraubt. Andrerseits dürfen die Pole der Spannung nicht zu Objekten vergegenständlicht werden, die unabhängig sind von der Spannung, in der sie als ihre Pole erfahren werden. Diese Mißdeutungen können die Form elementarer logischer Fehler annehmen, wie die oben zurückgewiesene Umformung des zusammenfassenden Symbols zoon noun echon in eine Nominaldefinition. Oder sie können, detaillierter ausgeführt, die körperliche Existenz

des

Menschen

für den

Zweck

mißbrauchen,

die

me-

taleptische Spannung durch Kausalerklärung auf die organischen und anorganischen Seinsschichten zu reduzieren, in denen die Spannung fundiert ist. Oder man kann, da die Entdeckung des nous und die Symbolisierung des metaxy Tatsachen

in der

Geschichte

der

Menschheit

sind,

versu-

chen, die Symbole, die durch die Spannung hervorgebracht worden sind, psychologisch als Projektionen einer immanenten Seele zu erklären. Die Urheber dieser Mißdeutun-

148

gen können ferner ihre Absicht offen erklären durch eine derjenigen direkten Attacken auf die noetische Struktur der Existenz, von denen ich repräsentative Beispiele angeführt habe. Welchen Grad an Ausführlichkeit und bewußter Absicht auch immer sie haben mögen: die Deformationen des menschlichen Pols der Spannung zu einem weltimmanenten Gegenstand sind Attacken auf das Leben der Vernunft, eine aspernatio rationis im stoischen Sinn. Sie sind psychopathologische Phänomene. Da die gröbste Sorte von Fehldeutungen, durch welche die neuzeitliche Periode ideologischen Denkens beherrscht wird, mittlerweile notorisch geworden

ist, erübrigt

es sich, mehr

darüber

zu sa-

gen. Viel subtiler

ist die Entstellung,

die die klassische

Ana-

lyse noetischer Existenzordnung durch eine restriktive Konzentration auf den Konflikt zwischen der Vernunft und den Leidenschaften erfahren hat. Diese Entstellung hat nun schon eine mehr als tausendjáhrige Geschichte. Sogar die Stoiker

waren

bestürzt,

Psychopathologie

als

sich

herausstellte,

bei

ihrem

Versuch

einer

daß auch ein Übermaß

an

Leidenschaft das Syndrom geistiger Krankheit nicht in befriedigender Weise erklären konnte. Auf den Leidenschaf-

ten als der einzigen Quelle der Unordnung herumzureiten,

führte zu der albernen Sackgasse, die Horaz satirisch dargestellt hatte. Und überdies konnte keine Art der Nachgiebigkeit gegenüber den Leidenschaften die Ablehnung der Vernunft

im Namen

der Vernunft

erkláren,

die Chry-

sipp beunruhigt hatte. Da war hinter den Leidenschaften eine rätselhafte Kraft am Werk, die die noetische Ordnung der Existenz störte und sich in der agnoia ptoiodes manifestierte. Die Ursache dieses Rätsels war und ist die Isolie-

rung

sowohl

der

Vernunft

wie

der

Leidenschaften

aus

ihrem Kontext in der Spannung zwischen Leben und Tod. In den Nomoi hat Platon den Mythos vom Puppenspieler entwickelt, der die menschlichen Puppen an verschiedenen

Metallschnüren

zieht,

an der

149

goldenen

Schnur

der

Ver-

nunft und an den weniger edlen Schnüren der Leidenschaften. Man konnte und kann auf diesen Mythos verweisen, um das Wechselspiel der Anziehungskräfte in der menschlichen Existenz

zu verstehen,

aber man

darf das kosmische

Drama nicht vergessen, in dem dieses Wechselspiel stattfindet. Die Zugkraft (helkein) der Vernunft und die ihr entgegenwirkenden Zugkräfte (anthelkein) der Leidenschatten sind nur zu wirklich,

aber es sind Bewegungen,

die die

psyche erfährt in ihrem Zustand der Eingeschlossenheit in einen sterblichen Körper. Der Grund, warum der Mensch mehr der einen als der anderen Kraft folgen sollte, kann nicht in der ,Psychodynamik" des Puppenspiels noch in irgendwelchen moralischen Normen gefunden werden, sondern in der potentiellen Unsterblichkeit, die durch die gótt-

liche Prásenz im metaxy als Móglichkeit angeboten wird. In der Mensch

klassischen

Erfahrung

frei, sich entweder

noetischer

auf den Prozef

Existenz

ist der

des Unsterblich-

Werdens einzulassen, indem er der Zugkraft des góttlichen nous folgt, oder den Tod zu wáhlen, indem er der entgegenwirkenden Zugkraft der Leidenschaften folgt. Die psyche

des Menschen

ist das Schlachtfeld der Entscheidung

zwi-

schen den Kráften von Leben und Tod. Das Leben ist nichts Gegebenes. Der Gott der Nomoi kann es nur anbieten durch die Offenbarung seiner Gegenwart. Das Leben zu gewinnen erfordert die Mitwirkung des Menschen. Wenn Leben und Tod als die bewegenden Kráfte hinter der Vernunft und den Leidenschaften sichtbar geworden sind, so wird eine weitergehende Analyse des melaxy erforderlich. Platon hat diese im Philebos gegeben, indem er das Mysterium des Seins als Existenz zwischen (metaxy)

den

Polen

des

,Einen"

(hen)

und

des

,Unbegrenzten"

(apeiron) symbolisierte (16 d-e). Das Eine ist der göttliche Grund (aitia), der als die gestaltende Kraft in allen Dingen präsent ist, gleichzusetzen mit Weisheit und Vernunft (sophia kai nous) (30 b-c). Das Unbegrenzte ist das apeiron Anaximanders,

der

kosmische

150

Grund,

aus

dem

die

Dinge

ins Sein (genesis) hervorgebracht werden und in das hinein sie auch

wieder

vergehen

(phthora),

„denn

sie zahlen

ein-

ander Bußgeld für ihr Unrecht (adikia) nach der Anordnung der Zeit” (B 1). Hinter den Leidenschaften ist die Existenzgier am Werk, die aus der Tiefe des kosmischen Grundes kommt

(d. h. das

Unrecht,

auf das

das

Gesetz

des

Kosmos

die Strafe des Todes in der Zeit gesetzt hat). In christlicher Psychologie

superbia

ist aus dieser apeirontischen

vitae geworden,

Existenzgier

die

oder die libido dominandi,

die

für die Theologen als Definition der Erbsünde gilt. Der Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaften erhält also seinen spezifischen Charakter durch das Partizipieren der psyche im metaxy, dessen Pole apeiron und nous sind. In der psyche des Menschen erreicht die Spannung in der Realität den Status des Bewußtseins. Die Folgen für den Sinn menschlicher Existenz hat Platon im Timaios dargelegt: „Wenn nun ein Mensch sich seinen Begierden (epithymia) und seinen ehrgeizigen Wünschen (philonikia) überläßt und ihnen zügellos frónt, dann werden notwendigerweise all seine Gedanken (dogmata) sterblich und folglich er selber, soweit dies überhaupt móglich ist, ganz und gar sterblich, weil

er seinen

sterblichen

Teil genáhrt

hat. Wenn

er

aber mit Eifer seine Liebe zur Erkenntnis und zur wahren Weisheit gepflegt hat und wenn er vor allem seine Fähigkeit geübt hat, unsterbliche und göttliche Dinge zu denken, dann

wird

er in

dem

Maße,

rührt, notwendigerweise

in dem

er

die

unsterblich werden,

Wahrheit

be-

soweit es für

die menschliche Natur móglich ist, an der Unsterblichkeit teilzuhaben." Und

doch:

(90 a-b) auch wenn

er seiner Existenz nen.

Selbst

wenn

ein Mensch

,sterblich wird",

als eines zoon noun er die Vernunft

kann

echon nicht entrin-

zurückweist,

muß

diese

Zurückweisung die Form der Vernunft annehmen, will er nicht Stimmungen wie Niedergeschlagenheit, taedium vitae, akedia und so weiter verfallen. Je stárker er seiner sterblichmachenden

libido

dominandi

151

nachgibt,

umsomehr

muß

der Tod, den er wirkt, in das Bild des Lebens

gekleidet

werden. Deshalb erfordert eine radikale, voll bewußte aspernatio rationis, wie sie in den Ideologien der Neuzeit

zu finden ist, eine ebenso radikale Symbolisierung in Form eines rationalen Systems,

wenn

möglich eines

Systems

der

», Wissenschaft" im Hegelschen Sinn. Tatsächlich haben die radikalen Systeme der Neuzeit, besonders die geschichtsphilosophischen, beträchtlich zur Klärung des Problems bei-

getragen, weil ihr Zweck schon im 18. Jahrhundert festgestellt und kritisiert worden ist. In seiner Vorlesung über Universalgeschichte (1789) erklärte Schiller, der Zweck einer progressivistischen Geschichtsphilosophie sei, eine imaginäre Unsterblichkeit zu erlangen durch Partizipation am imaginären Sinn der Geschichte. Der Sinn einer Universalgeschichte, die einem Reich der Vernunft entgegengeht, ersetze

den

Sinn

der

Existenz,

der

mit

dem

Verlust

des

Glaubens an die Unsterblichkeit der Person verlorengegangen war. Aber schon fünf Jahre vorher hatte Kant bemerkt, satz

daß

für

den

Partizipation Sinn

der

am

Sinn

der

individuellen

Geschichte Existenz

kein

Er-

ist, weil

sie

auf das Problem des individuellen Todes eines Menschen in

der Zeit keine Antwort gibt." Heute, fast zweihundert Jahre danach, ist die Bemerkung Kants eine erschütternde Neuigkeit entdeckt

für haben,

osteuropäische daß

der

Marxisten

Glaube

an

das

geworden,

die

kommunistische

Dogma im Angesicht des Todes kein großer Trost ist. An der eben zitierten Stelle des Philebos hat Platon die theoretischen Implikationen des Problems verdeutlicht, indem er analytische Begriffe schuf, die noch heute in Gebrauch oder vielmehr Mißbrauch sind. Der Mensch existiert in der Spannung zwischen apeirontischer Tiefe und noetischer Höhe. Das apeiron und der nous reichen bis in seine psyche und er hat Anteil an ihnen, aber er ist weder mit dem

einen noch mit dem

anderen

identisch,

und

er verfügt

auch nicht über sie. Dieser Bereich der metaleptischen Rea152

lität ist die eigentliche Domäne

des menschlichen Denkens,

seines Suchens, Lernens und Lehrens (skopein, manthanein,

didaskein). Sich innerhalb des metaxy zu bewegen, es nach

allen Richtungen zu erforschen, für sich selbst die Orientierung

zu

finden

aus

der

Perspektive,

die

dem

Menschen

durch seine Stellung in der Realität gegeben ist, das ist die eigentliche Aufgabe des Philosophen. Um diese Bewegung des Denkens oder der Erörterung (logos) innerhalb des metaxy zu bezeichnen, verwendet Platon den Ausdruck ,Dialektik" (17 a). Da das menschliche Bewußtsein sich aber auch bewußt ist, an den Polen der metaleptischen Spannung teilzuhaben (d. h. am apeiron und am nous) und das Begehren

nach

Wissen

dazu

neigt,

über

die

Grenzen

partizipa-

torischen Wissens hinauszukommen, wird es Denker geben — „diejenigen,

die bei den Menschen

unserer Zeit als weise

angesehen werden" - die dazu neigen, sich die ,Inmitten"-

Realität (ta mesa) entkommen zu lassen (ekpheugein) in ihrem libidinósen Drang nach kognitiver Herrschaft über das hen oder das apeiron. Zur Bezeichnung dieses Typs spekulativen Denkens benutzt Platon den Ausdruck „Eristik" (17 a). Auch hier haben die radikalen Bewußtseinsdeformationen der Moderne wesentlich dazu beigetragen, Platons Problemstellung zu verstehen, indem sie Anschauungsunterricht in Eristik lieferten. In Symbolen wie dem Marxschen Sein, das das Bewußtsein

determiniert,

oder in dem

Freud-

schen Symbol der Libido, das den erklárten Zweck hat, die Autorität des Acheron gegen die Autorität der Vernunft zu

mobilisieren ", werden

Phánomene

im metaxy, von wirt-

schaftlicher oder psychologischer Natur, vorschnell mit der apeirontischen Tiefe identifiziert. Als Symbol dieser Revolte erscheint ferner das Unbewufte in so verschiedenartigen Zusammenhängen wie Freuds Psychoanalyse, Bretons Surrealismus oder Jungs Psychologie eines kollektiven Unbewuften,

den wurden,

in der Symbole, die vom Menschen

um seine Erfahrungen im metaxy

153

erfun-

auszudrük-

ken, in apeirontische Archetypen verwandelt werden. Am instruktivsten jedoch ist Hegel. Denn als kenntnisreicher und gewissenhafter Denker fühlt er sich verpflichtet, seine

Deformation der noetischen Erfahrung der klassischen Philosophen mit entsprechenden Belegstellen zu untermauern. Es gibt eine Stelle in der aristotelischen Metaphysik, die man mißverstehen kann, wenn man sie um jeden Preis miß-

verstehen will, weil sie von der überschwänglichen Freude

durchdrungen ist, für einen Augenblick mit göttlicher Unsterblichkeit in Berührung zu kommen, wenn im Akt kognitiver Partizipation der góttliche nous berührt wird (oder erfaßt wird, thigganein). Hegel fügt diese Passage (Met. 1072 b 18-31) als Appendix seiner Enzyklopädie an und weist durch diese strategische Plazierung auf die zentrale Bedeutung hin, die sie für ihn hat. Der entscheidende Satz in der Passage ist folgender: ,Denken (nous) denkt sich selbst durch Partizipieren (metalepsis) am Gegenstand des Denkens (noeton). Denn Gegenstand des Denkens wird es dadurch, daß es berührt und gedacht wird (thinganon, noon), so daB Denken (nous) und Gedachtes (noeton) dasselbe sind" (Met. 1072 b 20 ff.). Im aristotelischen Kontext artikuliert dieser Satz das dynamische Verhältnis zwischen Identitát und Verschiedenheit des Erkennenden und des Erkannten im Akt der noetischen Partizipation, ungeachtet

der Freude momentaner Identität mit dem Göttlichen. Liest

man jedoch diesen Satz im Kontext der Enzyklopädie, so drückt er den Beginn eines philosophischen Unternehmens aus, das durch Hegel zu seinem erfolgreichen Abschluß gebracht worden ist. Denn in der Konzeption Hegels beginnt die Philosophie als ,Liebe zur Weisheit" im klassischen sinn und bewegt sich von diesem unvollkommenen Zustand auf ihre Erfüllung hin im Hegelschen System als ,Wirklichem Wissen". Von der klassischen Teilhabe am göttlichen nous schreitet sie durch den dialektischen Fort-

schritt des ,Geistes" in der Geschichte voran zur Identifizierung mit dem nous im Bewußtsein, das sich selbst re154

flektiert. Die Spannung

zum

Grund

der eigenen

von Hegel als ein Zustand der ,Zerrissenheit"

Existenz,

oder „Ent-

fremdung" betrachtet, soll durch einen Zustand der , Versóhnung" ersetzt werden, wenn der göttliche Grund in der Welt fleischgeworden ist durch die Konstruktion des Hegelschen Systems. Das metaxy ist in Immanenz umgewandelt worden. Diese spekulative Magie (,Zauberworte", ,Zauberkraft"), durch die der Denker den góttlichen Grund in seinen Besitz bringt, ist das, was Platon ,Eristik" genannt hat. Hegel seinerseits nennt es ,Dialektik". Auf diese Weise ist die Bedeutung der Ausdrücke in ihr Gegenteil verkehrt worden. Darüberhinaus führt Hegel als erstrangiger Denker mit den paulinischen Symbolen des góttlichen pneuma und der „Tiefe Gottes" (I Kor. 2:6-13) die gleichen Kunststücke auf wie mit dem nous des Aristoteles. Wieder rückt er seine Umkehrung in eine strategische Position: Auf der letzten Seite der Phänomenologie zieht er das göttliche pneuma in das metaxy, indem er sein System als die erschópfende Offenbarung

der Tiefe darstellt, die von Christus und

Pau-

lus zwar intendiert, aber nur teilweise erreicht worden war. In einem Aufwasch überträgt er die Autorität sowohl der Vernunft wie der Offenbarung auf sein System und auf sich als seinen

Schöpfer.

Die libidinóse

Stoßkraft,

die in dieser

egophanischen Revolte gegen die theophanische Realität steckt, wird manifest in seiner Überzeugung, daß die Konstruktion des Systems durch ihn das Äquivalent des Nichtkombattanten für den Tod des Kombattanten auf dem

Schlachtfeld der Revolution darstellt. Und aus seinen Kom-

mentaren zu Napoleon geht er gar als der Große Mann der Weltgeschichte hervor, der der französischen Revolution den Sinn gegeben hat, der von dem Empereur verfehlt wurde. Der

imperiale

ist ganz

Stil, von

allgemein

Hegel

zur

charakteristisch 155

Perfektion

entwickelt,

für die egophanische

Revolute

der Neuzeit

gegen

die Vernunft

in ihren

ver-

schiedenen ideologischen Arten und Unterarten. Über die individuellen Fälle existentieller Unordnung hinaus wird

dieser

Stil eine gesellschaftliche

Groteske,

wenn

sich im

Lauf der Zeit die gesellschaftliche Bühne mit kleinen Empereurs füllt, von denen jeder den Anspruch erhebt, im Besitz der einen und einzigen Wahrheit zu sein. Und dieser Stil wird

mörderisch,

genug nehmen, es wagen,

wenn

einige

von

den Massenmord

anderer

Meinung

zu

ihnen

sich selbst

ernst

all derer zu betreiben, sein. Als

instruktives

die Bei-

spiel, an dem man den Übergang von intellektuellem Imperialismus zur Befürwortung des Massenmordes in allen wohlüberlegten

Details studieren kann,

muß annehmen,

daß die allgemeine gesellschaftliche Situa-

rice Merleau-Ponty’s

Humanisme

empfehle

et Terreur

im Mau-

(1947). Man

tion im ganzen eher dazu beiträgt, diesen Stil auszubreiten

als ihn wieder in Vergessenheit geraten zu lassen. Diese Entwicklung in Richtung auf ein ebenso groteskes wie morderisches Massenphänomen ist dadurch bestimmt, daß sie ihren Ursprung in der Zerstörung des Lebens der Vernunft im metaxy hat. Am Fall Hegels — und man sollte nicht vergessen, daD nur ein sachlich kompetenter Denker von der Statur Hegels ein solches Meisterstück vollbringen konnte — kann man beobachten, wie das Bewußtsein

des Menschen

von seiner Spannung zum góttlichen Grund durch die ,Zauberworte" des Systems in einen ,dialektischen" Prozeß innerhalb eines imagináren ,Bewuftseins" verwandelt wird, das unter die Kontrolle des spekulativen Denkers gebracht werden kann. Da aber „dialektisches Bewußtsein” nicht das Bewußtsein

konkreter

Menschen

ist, sondern

scher Ausdruck,

der in der Realität

schen

einer

Phantasie

libidinós

den

gestórten

ein symboli-

Status

der eristi-

psyche

hat,

be-

sitzt das System nicht die Autorität der Vernunft, die es zu usurpieren versucht. Sobald der góttliche nous menschlicher Konstruktion unterworfen wird, ist Gott tatsächlich tot. Was stattdessen ins Leben getreten ist, ist der imperiale 156

Appeal, den das System auf die libido dominandi ausübt. Dieser Appeal ist nicht mit irgendeinem speziellen System

verknüpft

(etwa dem Hegels

oder Comte’s),

sondern

mit

der Form des Systems als solcher und ihrer außerordentlichen Flexibilität. Denn die Vernunft kann sich in eristischer Weise mit jedem beliebigen Weltinhalt verbinden, sei es Klasse,

Rasse

Arbeiterklasse, Dritte Welt;

oder

Nation;

sei es eine

Technokratenklasse

oder

Leidenschaften

und Sex; oder Wissenschaften

oder gleich die ganze

wie

wie

Mittelklasse,

Gewinnsucht,

Physik,

Macht

Biologie,

Sozio-

logie, Psychologie. Die Liste erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Man kann sogar sagen, daß die Anziehungskraft eines speziellen Systems weniger in den Lehren seines Schöpfers liegt als in der Möglichkeit,

an ihnen unter

dem Titel „Revision“ herumzubasteln, während der imperiale Stil absoluter Wahrheit aufrechterhalten wird. Im Ablauf dieser libidinösen Groteske läßt sich jedoch eine gewisse Ordnung feststellen. Sie wird sichtbar, wenn die eristische Phantasie dem Druck der Realität ausgesetzt wird. Da der Sinn von Existenz in noetischer Spannung im Prozeß des Unsterblich-Werdens besteht, wird der sterblichmachende Druck der apeirontischen Tiefe in wachsendem Maße

spürbar,

bindung man

wenn

erfolgreich

in der Deutung

der

nous

deformiert der

durch

worden

Existenz,

die

eristische

Ver-

ist. Deshalb

kann

die man

modern

nennt,

eine Akzentverschiebung feststellen von der überschwänglichen aspernatio rationis im Namen

der Vernunft,

die dem

18. Jahrhundert seinen Namen gegeben hat, hin zu der zeitgenössischen Beschäftigung mit Existenz unter den Stichworten von abgründiger Tiefe, Tod und Angst. Da ferner die eristische Phantasie die Vernunft mit einem bestimmten Weltinhalt verbindet, wird die Wahrheit des Systems fragwürdig, wenn das Wissen von dem Weltinhalt über den Zustand

hinaus

fortschreitet,

in dem

der eristische Denker

es in seine Konstruktion eingebaut hat. Daher entwickeln alle epigonischen Anhänger eines Systems die wohlbe157

kannte Vielfalt von Kunstgriffen, die das jeweilige System gegen den unvermeintlichen Konflikt mit der Realität abschirmen sollen. Da gibt es den eben erwähnten Kunstgriff der

, Revision",

der oft benutzt wird, um

keit des Systems zu erhalten, obwohl

die Glaubwürdig-

er andrerseits auch zu

Meinungsverschiedenheiten unter den Anhängern führen kann und zu zornigen Neudefinitionen orthodoxer und abweichlerischer Positionen. Dann gibt es das grundsätzliche Tabu auf Fragen, die die Voraussetzungen der eristischen Verschmelzung

betreffen,

wie

es

von

Marx

ausdrücklich

gefordert und von den Anhängern der Marxschen Spielart der Eristik befolgt wird. Dann die altehrwürdige Taktik, von vernichtender Kritik einfach keine Kenntnis zu nehmen,

und das weniger

ehrwürdige

Verfahren,

den Kritiker

persönlich zu diffamieren. Und wo schließlich die Anhänger eines Systems die Regierungsgewalt errungen haben, können sie dem sie

Druck

der Realität Widerstand

die Andersdenkenden

einsperren

leisten,

oder

töten,

indem

oder

in-

dem sie kurzerhand eine physische Mauer um das Territorium ziehen, das unter ihrer Herrschaft steht.

All dies mag sich wie eine Selbstverständlichkeit anhören, und ist es auch, soweit es die Fakten betrifft. Nicht so selbstverständlich

ist

wahrscheinlich,

daß

ich

soeben

mit

dem Vokabular der klassischen Einsichten in die Spannung der Existenz den gesellschaftlichen Prozeß einer geistigen Krankheit in ihrem geschichtlichen Ablauf beschrieben habe, eine kinesis im thukydideischen Sinn. Sowohl hinsichtlich ihrer Natur als ihres Verlaufs kann man die moderne kinesis verstehen, wenn man

die Kategorien benutzt,

die von den klassischen Philosophen bei der Analyse des metaxy entwickelt worden sind. Und umgekehrt wird die Gültigkeit der klassischen Analyse durch die Phänomene bestätigt,

die

man

empirisch

als

Phänomene

zwischen einer eristischen Phantasie und Struktur der Realität beobachten kann.

158

des

der

Konflikts

noetischen

IV. Anhang Daß sich noetisches Bewußtsein in der psyche der klassischen Philosophen entfaltet hat, ist nicht eine „subjektive Idee" oder eine „tradierte Meinung", sondern ein tatsächliches Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Die Sym-

bole, die im Verlauf dieses Ereignisses entwickelt wurden, sind

,wahr"

in

dem

Sinn,

daß

sie

in

nachvollziehbarer

Weise die Erfahrung existentieller Unruhe

im Verlauf des

Prozesses artikulieren, in dem diese Unruhe

sich selbst gei-

stig durchsichtig wird. Obwohl die klassische Analyse weder die erste noch die letzte Symbolisierung der Natur

des Menschen

auf der Suche

göttlichen Grund tur

der

Suche

nach seiner Beziehung

darstellt, hat sie doch

selbst

artikuliert:

Der

zum

als erste die StrukUnruhe,

die

für

das

Fragen eine Antwort bereithält, des göttlichen nous, der die Suche in Gang setzt, der Freude des Partizipierens, das sich selbst durchsichtig wird, wenn der Mensch auf die Theophanie antwortet, und der Existenz, die geistig durchsichtig wird für ihren Sinn als einer Bewegung im metaxy von Sterblichkeit zu Unsterblichkeit. Die Artikulierung dieser Struktur ist in der Tat so erfolgreich gewesen, daß sogar die egophanische Revolte der Neuzeit gegen die Konstituierung der menschlichen Natur durch Theophanie die Sprache der noetischen Analyse benutzen muß, wenn sie verstanden

werden

will. Gerade

dadurch

bestätigt sie, daß

die Philosophen diese Struktur in gültiger Weise artikuliert haben. Ohne Zweifel wurden wahre Einsichten bezüglich der Vernunft ais ordnender Kraft in der Existenz gewonnen, aber sie konnten nur gewonnen werden als Exegese des Widerstands der Philosophen gegenüber der persönlichen und gesellschaftlichen Unordnung der Zeit, die sie zu überwältigen drohte. Wenn man die Wahrheit der Einsicht von dem

Versuch des Widerstands

sicht in die

trennt, entsteht aus der Ein-

,Zwischen-Struktur"

159

der

Existenz

barer

Un-

sinn. Das Leben der Vernunft ist nicht ein Schatz von Informationen, den man zur Seite legen und aufbewahren kann - es ist der Kampf im metaxy um die unsterblichmachende Ordnung der psyche im Widerstand gegen die sterblichmachenden Mächte der apeirontischen Gier nach Sein in die Zeit. Existenz in der Mitte zwischen Góttlichem und Menschlichem, Wissen

zwischen

und Nichtwissen,

Vernunft

und Leidenschaften,

Unsterblichkeit und Sterblichkeit

wird nicht abgeschafft, wenn die Existenz sich selbst durchsichtig wird. Was sich durch die Differenzierung der Vernunft änderte, war das Niveau

kritischen Bewußtseins

hin-

sichtlich der Existenzordnung. Die klassischen Philosophen waren sich dieser Anderung als eines epochalen Ereignisses bewußt; sie erkannten voll die erzieherischen, diagnostischen und

therapeutischen

Aufgaben,

die sich aus

ihren

Entdeckungen ergaben. Und sie legten die Fundamente einer kritischen Psychopathologie, die später von den Stoikern weiter ausgearbeitet wurde. Was sie jedoch nicht vorhersehen

konnten,

waren

die wechselhaften

Schicksale,

denen ihr Werk ausgesetzt sein würde, sobald es in die Geschichte eintrat und ein wesentlicher Faktor in der Kultur der

Hellenistischen,

Christlichen,

Islamischen

und

unserer

Westlichen Gesellschaften wurde. Sie konnten weder die Einbeziehung der Philosophie in verschiedene Offenbarungstheologien noch ihre Transformation in dogmatische Metaphysik voraussehen. Vor allem aber konnten sie nicht voraussehen, daß die Symbolik der Noese, die sie geschaffen hatten, von ihrem Erfahrungskontext so gründlich getrennt wurde, daß das philosophische Vokabular dafür ein-

gesetzt werden konnte, dem Angriff auf die Vernunft den Mantel der Vernunft umzuhängen. Die Dynamik ihres Widerstands bewegte sich vom Verfall des kosmologischen

Mythos und von der sophistischen Revolte in Richtung auf die „Liebe zur Weisheit”.

Sie konnten nicht eine ferne Zu-

kunft vorausahnen, in der die egophanische Revolte den Sinn der noetischen Symbole so sehr pervertiert hat, — also 160

die umfassende

„degradation

des symboles",

wie Mircea

Eliade dieses moderne Phänomen genannt hat — daß heute die Dynamik des Widerstands ausgehen muß von dem System von Denkern, die sich in einem Zustand der Entfremdung befinden, um sich von neuem in Richtung auf noetisches Denken hin zu bewegen. Die klassischen Einsichten als doxographische Relikte darzustellen,

wáre nicht nur zwecklos,

sondern würde

auch

ihren eigentlichen Sinn zerstören, nämlich den Widerstand des Menschen gegen die sterblich-machende Unordnung der Zeit auszudrücken. Die Aufgabe besteht nicht darin, die Erinnerung an diese Einsichten wachzuhalten, sondern den

Widerstand gegen das , Meinungsklima" zusetzen,

wenn

anders

das

Leben

(Whitehead) fort-

der Vernunft

lebendig

bleiben soll. Die vorliegende Untersuchung ist offenkundig ein Akt des Widerstands in engem Zusammenhang mit dem klassischen Versuch. Es ist sicher deutlich geworden, wie ich dabei vorgegangen bin. In erster Linie war es notwendig, den praktisch vergessenen Erfahrungskontext wiederherzustellen, von dem die Bedeutung von , Vernunft" abhängt. Ich habe dann versucht, soweit dies auf dem engen Raum móglich war, den inneren Zusammenhang von Teilstücken der Analyse

herzustellen,

die in den Quellen

über

ein weites literarisches Korpus verstreut sind. Auf der Basis der wiederhergestellten Erfahrung war es dann möglich, die Untersuchung auf die Psychopathologie der Entfremdung und die aspernatio rationis auszudehnen. Und auf dieser durch die Analyse der Stoiker noch erweiterten Basis

konnte dann die moderne Revolte gegen die Vernunft sowie das Phänomen des Systems beschrieben werden. Bei dieser Beschreibung mußte ich mich jedoch auf besonders krasse Fálle beschránken; die generelle Bedeutung der klassischen Analyse als Instrument der Kritik wurde dadurch nicht in vollem Umfang deutlich. Es ist deshalb vielleicht hilfreich,

zu geben,

eine

schematische

die in jeder

Darstellung

Untersuchung

161

der

menschlicher

Punkte

Ange-

legenheiten, der peri ta anthropina im aristotelischen Sinn, berücksichtigt werden müssen:

Person

Gesellschaft

| Geschichte E

-—

Δ

Göttlicher nous

psyche-noetisch psyche-Leidenschaften Natur-animalisch

Natur-vegetativ Natur-anorganisch apeiron-Tiefe

Die linke vertikale Spalte ist eine Aufzählung der verschiedenen Ebenen der Seinshierarchie vom nous bis zum apeiron. Der Mensch hat an jeder von ihnen Anteil. Seine Natur ist ein Abriß der Seinshierarchie. Der nach unten

zeigende Pfeil bezeichnet die Reihenfolge der Organisation von oben nach unten, der nach oben zeigende

Pieil die Rei-

henfolge der Fundierung von unten nach oben. Die oberste horizontale Spalte ist eine Aufzählung der Dimensionen der Existenz des Menschen als einer Person

in Gesellschaft und Geschichte. Der nach rechts zeigende Pfeil bezeichnet die Reihenfolge der Fundierung.

Prinzip der Vollständigkeit: Eine Philosophie peri ta anthropina muß

das gesamte Netz, das durch die beiden Koor-

dinaten gebildet wird, umfassen. Kein Teil des Netzes darf unter Vernachlässigung des Kontextes zu einer selbständigen Entität hypostasiert werden. 162

Prinzip der Organisation und der Fundierung: Die Reihenfolge der Organisation und der Fundierung darf nicht umgekehrt oder auf andere Weise entstellt werden, wie zum

Beispiel durch ihre Umformung

in eine Kausalität, die

von oben oder unten wirkt. Insbesondere sind alle Deutungen von Phánomenen einer hóheren Ebene als Epiphánomene

von Prozessen einer tieferen Ebene,

die sogenannten

reduktionistischen Trugschlüsse, als falsch auszuschlieDen. Diese Regel berührt jedoch nicht die bedingende Kausalität, die den eigentlichen Kern der Fundierung ausmacht. Ebensowenig erlaubt sind Umstellungen in der Reihenfolge der Fundierung in der horizontalen Spalte. Insbesondere alle , Geschichtsphilosophien", die Gesellschaft oder Geschichte als ein Absolutum hypostasieren und dadurch die Existenz der Person und ihren Sinn verdunkeln,

sind damit

als falsch ausgeschlossen. Prinzip

der metaxy-Realität:

Koordinaten

bestimmt

solche erkennbar apeiron als ihrer Phantasien",

wird,

Die

Realität,

die durch

die

ist die Zwischen-Realität,

als

durch das Bewußtsein von nous und begrenzenden Pole. Alle „eristischen

die versuchen,

die Grenzen

des metaxy

-- sei

es die noetische Höhe oder die apeirontische Tiefe - in ein Phänomen innerhalb des metaxy zu verwandeln, sind als falsch auszuschließen. Diese Regel betrifft nicht genuin eschatologische oder apokalyptische Symboliken, die durch die Kraft der Imagination die Erfahrung einer Bewegung innerhalb der Realität in Richtung auf ein Jenseits des metaxy ausdrücken, wie zum Beispiel die Erfahrungen von Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Dieses graphische Schema hat sich für Studenten als besonders wertvoll erwiesen, weil es ihnen einen Minimalbe-

stand an objektiven Kriterien für ,wahr" und ,falsch" in die Hand gibt in ihrer Auseinandersetzung mit der Flut zeitgenössischer Meinungsliteratur. Mit Hilfe dieses Schemas ist es möglich, falsche theoretische Aussagen zu klassifizieren, indem man ihnen ihren Platz in dem

163

Netz zuweist.

Zuweilen wurde es für die Studenten zu einem aufregenden Spiel, Ideen, die sich momentaner Beliebtheit erfreuen, auf eines der einundzwanzig Felder zu plazieren. Über seine Funktion als technische Hilfe bei der Bewältigung zeitgenössischer Phänomene geistiger Unordnung hinaus hatte

das Schema den wichtigen psychologischen Effekt, bei den Studenten das Gefühl der Desorientierung und der Ver-

lorenheit zu überwinden in der unüberschaubaren Flut falscher Meinungen, die auf sie Tag für Tag eindringt.

164

Der meditative Ursprung philosophischen Ordnungswissens Eine Untersuchung des meditativen Ursprungs philosophischen Ordnungswissens muf) von der Situation ausgehen, in der wir leben und von der her das Wahrheitsproblem überhaupt erst ein Problem wird. Woher weiß man, daß das, was man gerade zur Verfügung hat, nicht die Wahrheit ist; und wie gelangt man zu dieser Einsicht, wenn schon

weiD,

was

die Wahrheit

ist, die man

man

erst zu

nicht

suchen

hat? Wir befinden uns also von Anfang an in einer existentiellen Spannung, die darin besteht, daß Unwahrheitsphänomene, Unordnungsprobleme in der Umgebung beobachtet werden und man aufgrund solcher Beobachtungen versucht, eine Ordnung zu finden, von der man

im voraus weiß,

so etwas gibt es, aber es muf) erst gefunden werden. Diese Spannung von Bewegtwerden, von Suchen und Finden ist eine erste solche meditative Spannung. In den griechischen Ursprüngen des philosophischen Denkens haben wir daher solche Begriffe wie die zetesis, das Suchen, die kinesis, das

Bewegtwerden zum Suchen, und den nous, das Medium der Seele,

in

dem

sich

dieses

abspielt.

Wir

fangen

also

von

vornherein nicht mit irgendwelchen Definitionen an, sondern mit Bewegungen, geistigen Spannungen, in denen der Mensch in einer konkreten Gesellschaft lebt. In jeder konkreten Gesellschaft, in der auf diese Weise gedacht wird, mehr oder weniger gründlich, mehr oder weniger erfolgreich, sind solche Spannungen vorgegeben, wenngleich sie im Einzelfall verschieden sind. Aber diese Grundspannung, die wir Philosophie nennen, sollte immer

in ihrem ursprünglichen Sinn als Liebe zur Weisheit ver165

standen

werden

und nicht im Sinne Hegels,

der in der Pha-

nomenologie des Geistes die Liebe zur Weisheit abschafft, um sie durch Weisheit zu ersetzen. Hier wird folgendes Problem

deutlich:

Erstens

ist

die

Spannung

prásent,

die

historisch eben die philosophische Spannung ist; zweitens haben Sie hier schon eine Fehlkonstruktion dieser Spannung, die ich egophanisch nenne. Die Fehlkonstruktion besteht darin, dab man die Spannung selber aufheben und in einen aufgelösten Besitz von Weisheit verwandeln möchte. oie sehen,

es geht hier nicht um ein hegelianisches

phieren,

ich würde

aufgrund

jener

im Gegenteil

These,

die Liebe

sagen,

daß

zur Weisheit

Philoso-

Hegel

schon

in Weisheit

zu verwandeln, kein philosophischer Denker, sondern ein magischer Konstrukteur war. Soviel zur vorläufigen Erklärung einer Situation, in der wir leben. Das meditative Denken hat in jeder solchen Situation die Unordnungselemente seiner Zeit wegzuräumen, um wieder zu einer Wahrheit über die Realitát zu gelangen. Deswegen habe ich hier das Unordnungselement genannt, das wir bei Hegel finden. Das gleiche gilt für Marx oder Comte, die beide letztgültige Doktrinen formulieren. Letztgültige Doktrinen dieser Art gehóren zu den Dingen, die in der gegenwärtigen Situation als Ursache der óffentlichen Unordnung philosophisch beiseite geráumt werden müssen. Nun werden Sie sagen, das ist ein recht ambitiöses Unternehmen

zu glauben,

Marxismus kann

man

usw.

daß man

einfach

es nicht,

Hegelianismus,

beiseite

aber man

kann

räumen

kann.

immerhin

sellschaft, in der diese Unordnungsphänomene nant sind, Unordnungsphänomene

gegen sie argumentieren,

Positivismus,

Natürlich

in jeder

Ge-

sozial domi-

als solche benennen und

solange es keine totalitäre Kon-

trolle gibt, die dies verbietet.

Das ist die Situation, in der wir uns befinden. Lassen Sie mich nun ein wenig solcher Aufräumungsarbeit leisten.

Eines der großen historisch überlebten Konstrukte, das 166

ausgeräumt werden muß, ist theologischer Natur. Es ist die theologische Unterscheidung von natürlicher Vernunft und Offenbarung,

die

auf

das

Mittelalter

zurückgeht.

Natür-

liche Vernunft und Offenbarung gibt es meines Erachtens nicht, weder das eine noch das andere. Vielmehr handelt es sich hier um eine im Interesse theologischer Systematisierung vollzogene Fehlkonstruktion bestimmter realer Sachverhalte. Diese sind wie folgt näher zu bestimmen: Wir haben auf der einen Seite eine sogenannte philosophische Entwicklung,

die, abgesehen

davon,

daß

sie philosophisch

ist, auch eine ethnische Entwicklung ist, nämlich ein Ereignis, das in der hellenischen Kultur stattgefunden

hat. Es ist

dies ein hellenisch-ethnisches Kulturereignis, das in seinen Zusammenhängen, Begründungen und Resultaten verstanden werden muß. Auf der anderen Seite gibt es die soge-

nannte revelatorische Kultur, die zurückgeht auf Israel und die

Bewegung

des

Judentums,

die

dann

in

Christus

kul-

miniert hat. Wir habenhier eine israelisch ethnische Kultur. Wir haben es also mit Kategorien zweier ethnischer Kulturen zu tun, die beide auf der Suche nach der Wahrheit

sind,

dies aber in sehr verschiedenen Formen tun. Diese unterschiedlichen Formen wurden dann in eine Form der natürlichen und eine Form der göttlich revelatorischen Wahrheitssuche umgewandelt mit der Absicht, die jüdisch-christliche dominieren zu lassen. Historisch sieht die Sache natürlich anders aus. In der gesamten ethnischen Geschichte der Hellenen war es, seit wir literarische Aufzeichnungen hellenischen Denker bewußt, nicht aus seiner

natürlichen

haben,

also seit Hesiod, jedem

daß das, was Vernunft

er zu sagen

kommt,

sondern

hat, aus

göttlicher Offenbarung, und weiterhin, daß er in der Spannung von Suchen und Empfangen lebt, also in einer Doppelbewegung göttlich-menschlicher Art, in der eine menschliche responsio stattfindet auf eine Bewegung, die vom

Göttlichen ausgeht. Alle hellenische Kultur von Hesiod bis

Platon und Aristoteles ist sich dieses revelatorischen Mo167

mentes bewußt und spricht es auch aus. Die Behauptung, daß es sich hier um natürliche Vernunft gehandelt habe, ist eine grobe und unzulässige Verfälschung der historischen Dokumente. Auf der anderen Seite haben wir das Problem der israelisch-christlichen Wahrheitssuche, die wieder ganz anders akzentuiert ist. Wenn wir den ethnischen Unterschied feststellen

wollen,

schen

immer

zetesis.

was

dann

der

Ist dann

bisher

paktere

Akzent eine

geglaubt

Vorstellung

pseudos,

der

werden

wir

auf

dem

Wahrheit

worden von

Falschheit

finden,

Suchen

gefunden,

ist, z.B.

Göttern,

oder

israelitischen Zusammenhang

daß

Griechi-

liegt,

auf der

dann

wird

das,

eine mythisch kom-

in

der

im

die

Lüge

Kategorie

des

eingeordnet.

sieht die Sache

anders

Im

aus.

Die Vorgänger werden nicht als Lügner oder Fälscher hingestellt,

sondern

als Personen,

die auch

schon

eine

Wahr-

heit gesehen hatten, die aber jetzt neu interpretiert werden muß. Wir haben also ein Schema der Reinterpretation - ein allgemeineres

Phänomen,

das nicht nur in der israelitischen

Kultur beobachtet werden kann. Wir haben z. B. in der indi-

schen

Kultur

den

Rückgang

auf

die

Veden,

und

dieser

Rekurs hat zur Folge, daß alle weitere hinduistische Philosophie, soweit sie sich auch von dieser ursprünglichen Form entfernt

Hier

hat,

werden

in denen

die

als

Interpretation

der

Veden

auftreten

Interpretationszusammenhänge alte

Wahrheit

neu

interpretiert

muß.

hergestellt, wird,

wenn

auch diese neue Wahrheit mit der alten nicht mehr sehr viel zu tun hat. Dies tritt stets in Kulturen

auf, in denen

das Be-

wußtsein der göttlichen Bewegtheit im Suchen besonders stark akzentuiert wird. Dieses Phänomen dürfte soziale Ursachen haben. Wir haben in Hellas die fast einzigartige Situation, daß die geistige Ordnung der Gesellschaft nicht durch eine nationale oder imperiale Priesterschaft repräsentiert war. Die Priesterschaft der Hellenen war lokal und ritual, aber nicht doktrinär,

gemeinkulturell,

national

168

oder

imperial

organi-

siert wie die ägyptische oder die israelitische Priesterschaft. Die kompakt mythischen Darstellungen der Wahrheit vollzogen

ziehung

sich

auf

der

weniger

Lokalebene,

von

einer

so

daß

man

in

dieser

hellenisch-ethnischen

Be-

Kultur

sprechen kann, sondern eher von den städtischen Lokalkulturen, die gewisse gemeinsame Züge aufweisen. Entsteht auf dieser Ebene der Lokalkultur dann eine Bewegung der Art,

wie

sie die Philosophie

darstellt,

findet

sie einen

größeren Freiheitsraum vor als in sozialen Zusammenhängen, in denen eine national oder imperial organisierte Priesterschaft bereits doktrinár festgestellt hat, was die Wahrheit man

ist, mit der man

darangeht,

dann

in Konflikt

eine Gegenwahrheit

kommt,

wenn

aufzustellen.

Das war also in Hellas nicht das Problem. Wir finden daher in der klassischen Philosophie sogar einen konkreten

Fall, an den man für gewóhnlich nicht denken würde, bei

Aristoteles záhlungen

in seiner Metaphysik, von

Buch

Wortbedeutungen,

Delta,

z. B. des

einfach Auf-

Wortes

arche,

gefolgt von der Aufzáhlung der Bedeutungen des Wortes aition, die sich zum Teil überschneiden. Aus dieser Aufzählung von unterschiedlichen Wortbedeutungen wird dann

allmählich

herausgearbeitet,

was

in einem

meditati-

ven Sinn solche Worte wie Ursprung oder Grund und dergleichen möglicherweise in der geistigen Bewegung des Suchens nach Weisheit bedeuten können. Es ist also von vornherein eine Art wissenschaftlich-philologische Voraussetzung, mit der hier gearbeitet wird. Ganz anders sieht es im israelitischen Zusammenhang aus: Hier geht ein Prophet ausdrücklich auf Offenbarungsformen zurück, die babylonischen und ägyptischen Ursprungs sind. Wenn ein Jeremias sein Offenbarungserlebnis erzählt, dann erzählt er es in der Form, in der ein ágyptischer Pharao erzählen würde, wie er von Gott vorgeboren wurde zu diesem Amt usw. und er daher der Sohn Gottes ist, der

die Wahrheit

imperialer

auszusprechen

Zusammenhang

der 169

hat. Hier

Ordnung

ist also

vorhanden

ein

und

nicht über

eine den

wissenschaftlich-philologische

falschen

giert werden

menhang,

wie

muß.

Gebrauch

von

In einem

Wörtern,

solchen

Untersuchung der jetzt korri-

Offenbarungszusam-

ihn die israelitisch-christliche

stellt, wird dann immer

Kultur

dar-

zurückgegriffen auf den göttlichen

Geist, auf die ruah, woraus

in der griechischen Übersetzung

das pneuma wird. Dieser Geist — ich nenne deshalb diese Offenbarungsakzente pneumatisch - bestimmt ethnisch das Problem eines Christentums, das aus den jüdisch-israelitischen Zusammenhängen herauswáchst. Das Wort pneuma kommt natürlich auch im griechischen Kontext vor. Anaximenes Buches

hat eine pneuma-Theorie, Genesis

die sehr áhnlich jener des

ist, aber es handelt sich hier nicht um

eine

dominante Theorie. Die dominante Theorie wird die noetische zetesis, die Suche. Wir haben es also mit zwei verschiedenen Typen der Wahrheitssuche zu tun. Wenn nun diese beiden unterschiedlichen ethnischen Kulturen in einen imperialen Zusammenhang gebracht werden, wie dies in den großen oikumenischen Reichen geschehen ist, gibt es wechselseitige kulturelle Beeinflussungen. Daraus resultiert der Versuch, einen Wahrheitstypus zu formulieren, der die verschiedenen erfolgreichsten Unternehmungen der Wahrheitssuche,

die vorher stattgefunden haben,

Weise verbindet. Das war das Problem,

auf irgendeine

aus dem zuerst eine

jüdische Theologie bei Philo entstanden ist und dann eine christliche Theologie in starker Abhángigkeit von der philonischen Theologie: eine Theologie, die Offenbarungselemente aus dem israelitisch-jüdischen Zusammenhang verbindet mit der philosophischen Sprache, die aus dem hellenischen Kontext stammt. So entsteht also aus großen kulturgeschichtlichen oikumenischen

Reiche

Ereignissen, darstellt,

wie eine

sie die Bildung Mischkultur,

in

der der

man ethnische Differenzen durch eine systematische Dokirin von natürlicher Vernunft und pneumatischer Offen-

barung auszugleichen sucht.

170

Eine

solche

systematische

Doktrin,

die

versucht,

Offen-

barung und natürliche Vernunft in eine Konstruktion zu bringen, gehört zu den Dingen, die heute ausgeräumt werden müssen. Dies hat zu geschehen weder aufgrund von antitheologischen oder antichristlichen Affekten noch aus einem pro- oder antiphilosophischen Grunde, sondern einfach

deswegen,

weil

man

sie

heute

nicht

mehr

benötigt.

Unser historisches Wissen ist heute ungleich größer. Wir kennen die Geschichte Israels und die Geschichte von Hellas. Wir können historische Vergleiche ziehen zu Indien, Persien

und

China,

und

wir

können

die Probleme,

um

die

es

geht, genau benennen. In der gegenwärtigen oikumenischen Wissenschaftssituation wäre es unsinnig, diese Kategorisierung wissenschaftlich aufrechterhalten zu wollen, was nicht

bedeutet,

daß

sie in einem

vielleicht

aufrechterhalten

theologischen werden

muß,

Zusammenhang der

es schließlich

mit dem Problem einer kirchlichen Organisation einer groDen Menschenmenge zu tun hat; hier ist ein behutsames Vorgehen geboten. Aber im wissenschaftlichen Zusammenhang muf man sich darüber klar sein, wie es zu solchen Din-

gen gekommen ist. Im übrigen stóren solche Untersuchungen in keiner Weise das Wahrheitsproblem, das solche Einsichten involviert. Auch die noetische Formation im Griechischen wird nicht beeinträchtigt dadurch, daß man versteht, worum es geht, und die Quellen kennt. Es handelt sich um Wahrheitssuche. Damit rückt nun das meditative Problem in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Es kann von der einen Seite

her,

nàmlich

von

akzentuiert werden. nennen. Seite,

Von

kann

der man

Das

der

würde

anderen den

menschlichen, Seite

als

das

Suchen

ich die noetische Haltung her,

Bewegungsfaktor

der

revelatorischen

akzentuieren;

das

würde ich die pneumatische Haltung nennen. Beides ist im meditativen Problem prásent. Die Spannung besteht zwischen Bewegtwerden von der göttlichen Seite her und

Suchen von der menschlichen Seite her. Die góttliche Seite 171

und die menschliche Seite werden also in einem Prozeß des

Suchens

und

Bewegtwerdens

boliken,

wie

ich sie eben

Realität,

die bewegt,

Prozeß

des

Suchens

einen Komplex. Unter Komplex

Bewegung

vorausgesetzt.

gebraucht

ein konkreter und

habe,

Solche

eine

Mensch,

daß

göttliche sucht,

ein

nenne

ich

dieser Prozeß

der

darf, derart,

daß

Bewegtwerdens,

ist zu verstehen,

Sym-

der das

und des Suchens, der hier erforscht wird, nicht

zerstückelt,

nicht fragmentarisiert

werden

aus der Konzentration auf die menschliche Seite eine Untersuchung über den Menschen, also eine Anthropologie, entsteht oder aus der Beschränkung auf die göttliche Seite eine Theologie formuliert wird. Unzulässig ist auch die Herauslösung des Prozesses in Gestalt einer Prozeßphilosophie,

die

allein

den

Prozeß,

der

zwischen

den

beiden

Polen vorliegt, untersucht und zu einer Psychologie führen würde. Alle drei Formen ,Anthropologie", ,Theologie" und ,Psychologie" sind Typen der Deformation und unzulássig in einer meditativen Untersuchung. Es handelt sich dann um Hypostasen der Pole in einer Spannung. Keines der Elemente

in einem solchen Prozef, den wir kennen,

darf fragmentarisiert und hypostasiert werden. Sie sehen also, welche große praktische Bedeutung unsere Überlegungen haben. Damit ist alle Fragmentarisierung in ,,Anthropologien", ,Theologien" und ,Psychologien" ausgeschlossen. Man

hat sich mit den Prozessen

lich stattfinden,

mit

den

meditativen

zu befassen,

die wirk-

Ereignissen.

Die

Er-

eignisanalyse darf nicht ausarten in deformierende Fragmentarisierung. Sie wird umgekehrt damit wieder Analyse der

Unordnung

der

Zeit,

denn

Methodologien

und

Schul-

bildungen, die eben dies tun, sind fehlerhaft und inkompetent

im

Licht

der

historischen

Kenntnisse,

die

wir

heute

haben. Dieses Ereignisproblem, das wäre eine Grundkategorie, mit der man arbeiten muß, ebenso wie der Komplex, der nicht fragmentarisiert werden darf. Hierbei ist bereits ein 172

Wort

aus dem platonischen Vokabular

auch in der eigenen Analyse Die

Realität

ist

nicht

die

aufgetaucht,

verwende

menschliche

- das

das ich

,Zwischen".

Realität,

nicht

die

göttliche Realität, sondern das, was ,zwischen" diesen Realitäten passiert, ohne daß dieses ,Zwischen" wieder selbständig fragmentarisiert oder hypostasiert werden dürfte. Es geht also nicht um eine Psychologie des Subjekts, nicht

um

eine

Aktivität

Gottes

allein,

sondern

immer

nur

um die responsio, die Bewegungen und Gegenbewegungen. Damit

weiteren

haben

meditativen

stoteles

wir

nun

Komplexen

aber

Komplex

gesprochen,

herausgearbeitet

sich ein weiteres

ein

Problem

erörtert,

das

zu

führt. Ich habe bisher vom zentralen

Problem.

worden

der von Platon und

ist; aber hieraus

Offenbar

ist das,

was

Ari-

ergibt

seit dem

17. Jahrhundert die Subjekt-Objekt-Spannung genannt wird, unvertráglich mit dieser Interpretation. Lassen Sie mich nun auf einige Begriffe aufmerksam machen, die auch wieder zu denen gehören, die ausgeräumt werden müssen. Da ist einmal die Metaphysik. Es handelt sich um eine arabische Deformation des aristotelischen Titels ,meta ta physika“, die in den westlichen Sprachen durch den Tho-

mas-Kommentar

zur

Metaphysik

eingedrungen

ist.

Die

Metaphysik des 13. Jahrhunderts ist ein philologisches Mißverständnis. Es ist also nicht Metaphysik, was ich hier betreibe,

sondern

ganz

etwas

anderes.

Ein anderes solches Wort, das ausgeräumt werden muß, weil es ständig verwendet wird, ohne daß es Sinn hätte, ist Ontologie. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert. Das Wort wurde von Goclenius 1636 wohl zum ersten Mal benutzt. Der Cartesianer Clauberg sorgte für seine Verbreitung und erfand dazu das Synonym Ontosophie, um philosophisch von Dingen zu sprechen und dabei Gott als einen Gegen-

stand zu behandeln, nicht als einen Bewegungsfaktor in der meditativen Bewegung. Ein dritter Terminus dieser Art ist die Erkenntnistheorie oder Epistemologie. Reinhold spricht 1832 erstmals von 173

einer Theorie der Erkenntnis. Im Englischen gibt es die Epistemologie erst seit 1856. Ein weiteres solches Wort ist der Wert. Er wird in Anlehnung an Lotze von der südwestdeutschen Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts in die Wissenschaftssprache eingeführt. Im Englischen erscheint er erstmals 1906 in einer Übersetzung der Arbeiten Brentanos und erlangt in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Amerika eine gewisse Verbreitung. Wir sehen also, daß das gesamte kurante, moderne Vokabular sehr spät entstanden ist. Es handelt sich um Inkrustationen von Realitäten, die heute aufgelöst werden müssen, um wieder zur Realität selbst zu gelangen. Dieser

Komplex

also,

den

ich hier

als

erstes

herausge-

arbeitet habe und der nicht zerstückelt werden darf in bezug auf den jeweiligen Pol oder den Prozeß selber, gerätin Konflikt mit der Subjekt-Objekt-Spannung. Wenn wir das Subjekt als Erkenntnissubjekt konstruieren, dann folgen wir damit einem Sprachgebrauch, der, glaube ich, in allen westlichen Sprachen üblich ist: Wir haben ein Bewußtsein von irgend etwas, wir sprechen über irgend etwas, wir denken, wir imaginieren irgend etwas. Im Englischen ist es immer „something“, darum nenne ich diesen Sachverhalt eine Realität im Modus der Ding-Realität, die einem Bewußtsein diese

von

,Etwas"

Ding-Realität,

die

korrespondiert.

Ich

dieses

ist, dieses

,Etwas"

vermute,

daß

„some-

thing", über das man denkt, von dem man spricht usw., eine Folge davon ist, daß das menschliche Bewußtsein körperlich lokalisiert ist und daß in der Relation zu unserer körperlichen Lokalisierung alles das, wovon man Bewußtsein hat, dieses ,Etwas" als ein „Außerhalb“ dieser körperlichen Existenz miterlebt wird. Dem Objekt des Bewußt-

seins haftet also eine Aura von Äußerlichkeit an. Aber wenn

man

diese Realität

dann

entsteht das Problem,

jekte erkennt

nun

mit

der Objektseite daß das Subjekt,

oder nicht erkennt

oder

identifiziert, das diese Ob-

über sie spricht, ja

auch zu derselben Realität gehört, zu der die Objekte ge174

hören, so daß also der Objektcharakter, die Ding-Realität, ein Modus von Realität ist in Relation zu einer Bewußtseinshaltung, die eine Wahrheit als Objekt intendiert. Darum nenne ich diese Charakteristik des Bewußtseins die „Intentionalität des Bewußtseins”. In dieser Intentionalität gibt es ein Subjekt des Bewußtseins, lokalisiert in einem physisch-konkreten

Menschen,

und dann

Objekte,

über die

er spricht, wobei man offenlassen kann, ob es die äußeren Objekte sind oder die Noemata in einem phänomenologischen Sinne. Es sind also immer Dinge, über die man spricht. Nun haben wir das weitere Problem, daß das Subjekt zu derselben Realität gehört, die als Objekt erkannt werden soll - und diese Subjekt-Objekt-Relation, das ist ein weiterer solcher Komplex. Es ist ein Ereignis in einer anderen Realität. Es ist weder die Subjekt-Realität noch die ObjektRealität in ihrer Dingheit,

sondern

umfaßt,

Realität.

eine

umfassende

eine Realität, Für

diese

die beide

umfassende

Realität gibt es philosophisch, soviel ich weiß, keinen gebräuchlichen Ausdruck. Nietzsche hat sich öfters damit befaßt und sie das , Es" genannt, und ich würde dabei bleiben. Im Englischen spreche ich von der ,It-reality", von der „EsRealität”. Wir finden also in der Bewußtseinsstruktur Realität in zwei Modi:

eine Ding-Realität,

die der Intentio-

nalitätdes Bewußtseins korrespondiert, und eine „Es-Realität”, die näher zu bestimmen

ist. Diese

„Es-Realität”

ist ein

„Es”, in dem sich so etwas wie Bewußtsein ereignet in demselben

Sinne,

wie

sich so etwas

wie die Genesis

von

Ato-

men und Molekülen, Spezies, Rassen und dergleichen ereignet. Das heißt, diese

, Es-Realitát"

wird, wenn

man

sie jetzt

auf das Bewuftsein bezieht, luminós. Entsprechend der Intentionalitát spreche ich also von der Luminosität. Das Subjekt

dieser

wuftsein" Ich,

Luminosität, prädikativ

sondern

die

in

der

ereignet,

,Es-Realitát".

sich ist

dieses nicht

Diese

das

wird

Ereignis

„Be-

menschliche luminös.

Wir

haben es also mit zwei Strukturen im Bewußtsein zu tun, eine Intentionalität, von der wir sagen können, der Mensch

175

ist das Subjekt, müssen,

das

und eine Luminosität,

,Es"

ist das

Subjekt,

und

von der wir sagen das

Bewußtsein

ist

das prädikative Ereignis im , Es". Wenn wir daher von Bewußtsein sprechen, so müssen wir uns immer darüber im klaren sein, daß nosität umfaßt;

das Bewußtsein man

darf das

Intentionalität und

eine nicht vom

anderen

Lumitren-

nen. Es gibt also nicht eine Luminosität als Gegenstand einer Spezialuntersuchung über das ,Es" und auch keine Psychologie oder Phänomenologie als eine Spezialuntersuchung über die Intentionalität des Subjekts. Das menschliche Bewußtsein weist immer beide Strukturen auf. Das hat im großen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang eine Konfusion von Begriffen zur Folge gehabt, die bis heute noch nicht ganz aufgeklärt ist. Ich würde folgendes sagen: Der Intentionalitätskomponente des Bewußtseins entspricht die Vorstellung, die aus dem Begriff des Begriffs resultiert. Man formuliert Begriffe von einer Realität; während also der Begriff durch die Intentionalität

bestimmt wird, möchte ich bei der Rückbeziehung des Be-

wußtseins auf die Luminosität von Symbolen sprechen. Der Ausdruck ,Symbol" ist immer bestimmt durch die dominierende Bewußtseinskomponente der Luminositát des ,Es". All

das,

was

in

Bewuftseins-

und

Sprachsymbolen

auf-

taucht, ist die Luminosität des ,Es". Aber mit diesen beiden Komponenten - Intentionalität und Luminositát — ist der Komplex des Bewuftseins noch nicht vollstándig. Was ist denn das, was wir jetzt hier tun? Handelt es sich um eine Untersuchung intentionalen Bewußtseins, in der wir Begriffe von etwas bilden, oder sprechen wir in den Kategorien der Luminosität? Ich würde sagen, daD wir weder das eine noch das andere tun, sondern

wir

reflektieren

haben

es

mit

auf

einer

den

Komplex

Reflexhaltung

des zu

Bewußtseins. tun,

die

Wir

auftaucht,

wenn man über solche Dinge zu sprechen hat. Wenn Platon einen Dialog schreibt, dann handelt es sich teilweise um analytische Begriffsbildung, teilweise um einen Mythos 176

mit Symbolen,

und das Ganze ist ein Dialog von Platon, der

von ihm geschrieben ist, aber weder im ganzen eine Analyse noch im ganzen einen symbolischen Mythos darstellt. Worum handelt es sich also bei dem Resultat der Reflexion? Ich möchte von einer weiteren Komponente in der Struktur des Bewuftseins sprechen, die ich die „reflexive Distanz" nenne. In der reflexiven Distanz wird das ganze Problem der Luminosität und der Intentionalitát jetzt in eine Reflexionssprache transponiert, in der von diesem Problem gesprochen wird, als ob es eine Realitát wáre, die unabhàngig ist von der Reflexion. Natürlich kónnten wir nicht über sie sprechen, wenn

die Reflexion nicht schon vorher

als Be-

wußtseinskomponente präsent wäre; denn nur so kann man sie differenzieren. Hieraus ergibt sich aber ein weiteres Problem. Wir können in diesem Bewußtseinskomplex Intentionalitát als den Strukturbereich unterscheiden, in

dem Partizipation an Realitát sich ereignet, und wir kónnen

dann darüber sprechen, als ob es Dinge wáren, über die man

Aussagen machen kann. Dadurch entsteht nun wiederum die Gefahr der Fragmentarisierung. Wenn wir annehmen, daß die reflexive Distanz und die Sprache, in der man über eine Partizipation spricht, dieselbe Sprache sind, in der die Erfahrung der Luminosität und Intentionalität sowie ihre Begriffe und Symbole ausgedrückt werden, dann kommen wir zu einer Identifizierung dieser reflexiven Distanzkomponente im Bewuftsein mit der partizipatorischen Komponente, die wir hier in diesem Komplex gefunden haben. Wir begehen in diesem Fall also den Fehler, daß wir die menschliche Komponente im Partizipationskomplex mit der Reflexionskomponente, die sich auf den Gesamtkomplex richtet, identifizieren. Das ist wiederum der Fehler des hegelschen

Systems.

Das

reflexive

Ich

in der

Distanz,

das

Pla-

ton immer sorgfältig trennt vom partizipatorischen Selbst, wird derart mit dem partizipatorischen Selbst identifiziert, daß dann das intentionale oder luminóse Bewußtseinsele177

ment in eins gesetzt wird mit dem reflexiven. Dann bekommen Sie solche Vorstellungen wie z. B. im Gefolge Hegels die Konzeption von Feuerbach und Marx, nach d?r alles göttliche Sprechen eine Projektion des menschlichen Bewußtseins ist und die volle Humanität erst dann entsteht, wenn dieses jenseitige Göttliche wieder in den Menschen zurückgenommen wird. Ich gebe hier solche Beispiele, damit man sieht, daD in der Tat hier erhebliche Aufklärungsarbeit geleistet werden muß, damit man überhaupt über solche Dinge sprechen kann. Wir hätten also hier drei Komponenten im Bewußtsein, die alle immer gleichzeitig in verschiedenen Graden der Artikulierung präsent sind und die nicht miteinander identifiziert werden dürfen. Es handelt sich also um eine sehr komplizierte Bewußtseinsstruktur, die verdeutlichen soll, was hier unter , Komplex" in einem solchen Zusammenhang zu verstehen ist. Hier wird eine Beziehung zu Freud deutlich, die mir auch erst in den letzten Wochen zum Bewuftsein gekommen ist. Freud hat in seinen Spátwerken über das ,Es", das , Ich" und das , Über-Ich" die sehr interessante Beobachtung gemacht, daß nämlich das „Über-Ich" nicht dem Unbewußten entgegengesetzt ist, sondern daß im „Über-Ich" auch unbewußte Elemente präsent sind. „EsElemente” nennt er sie. Und dieses Problem eines unbewußten nicht

, Über-Ich", eines Über-Ich”, das unbewußt operiert,

voll

kontrolliert

wird,

steckt

auch

in

einem

Begriff,

den ich in einem anderen Kontext entwickelt habe, im Begriff des „öffentlichen Unbewuften". Das heißt, jede óffentliche Situation wird durch die Tatsache bestimmt, daß in den sozialdominanten Sprachformen Elemente des Unbewußten

stecken

oder

vielmehr

nicht

stecken,

insofern

es

sich um Dinge handelt, die präsent sein sollten, aber nicht bewußt artikuliert werden und daher zu allen möglichen Unordnungsstörungen führen. Damit hat sich schon Heraklit befaßt. Er unterscheidet deshalb zwischen privat und öffentlich

in dem

Sinne,

daß

,privat"

178

alle Ansichten

sind,

die

eben

private,

unvollkommene

Horizonte

haben,

wäh-

rend das Vollbewußtsein ein Öffentliches Bewußtsein ist und nur Elemente enthalten darf, die tatsächlich im Menschen gemeinschaftlich sind und daher öffentliche Realität

konstituieren können. Das nennt Heraklit den Logos. Dar-

um müßte dann der Logos des Philosophen, wenn der Philosoph

spricht, den Logos

der Realität

enthalten,

den er aus-

spricht. So finden wir auch schon bei Heraklit den Unterschied zwischen der Luminosität, der Intentionalität und der reflexiven Distanz. Dieses „öffentliche Unbewufte", so glaube tet

ich, ist auch eine der Kategorien,

werden

müssen.

Es

besagt,

daß

die heute verbrei-

unsere

Gesellschaft

dominiert wird von Personen, die weitgehend durch das charakterisiert sind, was Heraklit Privatmeinungen genannt hat. Diese Privatmeinungen schaffen eine Schein-

Öffentlichkeit,

die Unordnung

hervorbringt.

Gegen

diese

Unordnung muß die wahre Öffentlichkeit der meditativen Realität durchgesetzt werden.

179

Quod Deus Dicitur Die im Titel dieses Vortrags aufgeworfene Frage erhielt ihre spezifische Form durch Thomas von Aquin in seiner schrift Summa

Theologiae,

1.2.3.

Die Frage erlaubt keine einfache Antwort, so als wáre ihr góttlicher

Gegenstand

ein Wesen

das man Aussagen Außenwelt machen

in derselben könnte. Wir

einem

sondern

Gegenstand,

mit Eigenschaften,

über

Art wie über Dinge der begegnen Gott nicht als

als dem

Partner

in einer

fra-

genden Suche, die sich innerhalb einer Realitát bewegt, die durch eine partizipatorische Sprache geformt wird. Überdies sind wir selbst Teil der in Frage stehenden Realitát, auf die wir stand

sprachlich

hinweisen,

der Außenwelt,

über

so

als

den wir

wáre reden

sie

ein

könnten

Gegenwie

er-

kennende Subjekte in Hinblick auf Objekte der Erkenntnis. Die

noetische

Suche

nach

der

Struktur

einer

Realitát,

die

auch Göttliches umfaßt, ist selbst ein Ereignis innerhalb der Realität, nach der wir fragen. Wir Punkt

unserer

Suche

vor

dem

stehen deshalb

Problem,

etwas

suchen, das wir als wirklich erfahren haben,

an jedem zu

unter-

noch bevor die

Untersuchung der Struktur seiner Realität begonnen hat. Der Prozeß unseres intellectus auf der Suche nach unserer fides — ein Prozeß, der auch als Suche unserer fides nach un-

serem intellectus formuliert sprüngliches Ereignis.

werden

kann

- ist

ein

ur-

xx

Das Ereignis der Suche ist ein historischer Prozeß. Die Welt

der

Symbole,

die

die

Realität

zu jedem

denkbaren

ge-

gebenen historischen Zeitpunkt kompakt symbolisieren, muß dem Druck der noetischen Analyse weichen. Das Ergebnis ist, daß der Grund der Realität, der bis dahin als „die

180

Götter”

symbolisiert wurde, in dieser Symbolform

muß, um neuen Symbolen

sterben

für jenen , Gott" Platz zu machen,

dessen Gegenwart jenseits der Götter diesen Anspruch auf notwendiges Sein verleiht.

erst

ihren

Die beiden großen zivilisatorischen Kontexte in der Ge-

schichte des Westens,

die exemplarisch für diese Struktur

der Suche stehen, sind zum einen das Auftauchen

des „Got-

tes" aus der polytheistischen Symbolwelt der hellenischen Kultur, und zum anderen das Auftauchen des „Gottes" aus der Spannung zwischen dogmatischer und mystischer Theologie in den christlichen Gesellschaften seit der Antike. Die aus der paradoxen Struktur des Prozesses sich ergebenden sprachlichen Komplikationen wurden nie einer ausreichenden noetischen Analyse unterzogen. Die Sprache des angeblich analytischen Diskurses über Fragen nach dem Göttlichen hat sich durch kulturellen Konsens auf einer Stufe der Kompaktheit verhärtet, die nicht genau unterscheidet zwischen der paradoxen Struktur der göttlich-menschlichen Begegnung im Verlauf der Suche einerseits und den Symbolen, diesich aus der Reflexion als kulturell konkrete Aus-

drucksform der Suche andererseits ergeben. Dieser unbefriedigende Zustand der Analyse zwingt die Diskussion in die altbekannten reflektiven Dichotomien theologischer Diskurse. Die dominierenden Symbole reflektiver Sprache auf dem schmalen Grad zwischen Kompaktheit und Diffe-

Non

mwN

m

renzierung sind:

Philosophie und Religion

Philosophie und Theologie Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie Glaube und Vernunft

Vernunft und Offenbarung

Wissenschaft und Religion

Natürliche Theologie und Übernatürliche Theologie

Jede dieser Dichotomien gibt Gelegenheit zu endlosen Debatten auf dem kompakten Niveau, ohne dabei jedoch je181

mals zu der grundlegend paradoxen Gedankenstruktur vorzudringen, die die Besonderheit der partizipatorischen Beziehung zwischen dem Prozeß des Denkens und der Realität, in der er sich vollzieht, ausmacht. *

In dem stiert,

x* x

Abschnitt der Summa auf den

über die Frage, ob Gott exi-

sich der Titel dieses

Vortrages

bezieht,

ge-

langte Thomas zu einiger Klarheit über diese paradoxe Struktur. Die Frage nach dem quod Deus dicitur wird nicht willkürlich aufgeworfen,

sondern setzt einen Glaubensarti-

kel der Heiligen Schrift voraus. Es handelt sich bei diesem Artikel um die Formel des ego sum qui sum in Exodus 3:14. Gäbe es nicht schon ein historisch existierendes Glaubenssymbol, dann gábe es auch keine Frage. Dieser Glaubensartikel ist Teil des Vorgangs noetischen Fragens nach seiner Bedeutung. Die „Frage nach Gott" kann gar nicht verstándlich gemacht

werden,

wenn

nicht die Frage

nach Gott

Teil der untersuchten Realität ist. Das Symbol des Göttlichen ego sum ist Teil des forschenden Bewußtseins, das sich dem Glaubenssymbol als der Antwort auf die Frage nähert, die von den besonderen Realitätserfahrungen ausgelöst wurde. Denn das ego sum der Heiligen Schrift symbolisiert den notwendigen Pol einer Realität, die in der phänomenalen Besonderheit lediglich als kontingent erfahren wird. Die erfahrene Spannung zwischen Kontingenz und Notwendigkeit ist jene Struktur der Realität, um die es

bei der Frage nach dem Göttlichen geht. Thomas geht dieser Struktur dann in den fünf wohlbekannten Erfahrungen kontingenter Realitát nach. Im ersten der erfahrenen Spannungszustände befindet sich die Realität in Bewegung, Bewegung aber erfordert einen Beweger. Auf dieser besonderen Stufe kann man nur von einer besonderen Bewegung zu ihrem besonderen Beweger fortschreiten und das würde endlos so weiter gehen, ohne zu

einer Erklárung des Phánomens 182

der Bewegung zu führen.

Um

verständlich

zu

werden,

erfordert

der

Prozeß

der

be-

sonderen Bewegung einen ersten Beweger (primum movens). Und in diesem noetischen Prozeß der Analyse identifiziert Thomas den ersten Beweger als das Etwas (hoc), in dem

„omnes

intelligunt Deum",

d.h. als das Etwas, das hoc,

das alle als Gott verstehen. Der Deus dieser Aussage ist die

Antwort, die der Struktur der noetischen Frage entspricht. Thomas argumentiert áhnlich im Hinblick auf die causa efficiens. In einer Kette von Wirkursachen wird es sinnlos, unendlich fortzufahren; zu einer sinnvollen Erklärung gelangt man nur durch die Symbolik einer ersten, nicht verursachten Ursache; und auch hier bezeichnet Thomas wieder das als erste Ursache, ,quam omnes Deum nominant", die Ursache, die alle Gott nennen. Dasselbe Symbolisierungsverfahren wird auf die anderen sogenannten Gottesbeweise angewandt: Die notwendige Ursache aller anderen

Dinge

ist,

,quod

omnes

dicunt

Deum";

und

wenn

es

schlieBlich um die Symbolisierung des letzten Grundes des Guten und der Vollendung in allen Dingen geht, so heißt es wieder „hoc dicimus Deum". Schließlich wird das Verfahren auf das Ende aller Wirklichkeit angewandt: Es gibt ein klar Erkennendes (intelligens), von dem alle naturlichen Dinge auf einen Zweck zugeordnet sind, und dieses klar Erkennende (intelligens) ist das hoc, welches „dicimus Deum". Es gibt nichts Góttliches außer der Notwendigkeit in Spannung zur Kontingenz, die in der noetischen Frage erfahren wird. “xx

Die Thomasische Analyse berührt die paradoxe Struktur der Spannung zwischen den kompakten Symbolen des Glaubens und der Tätigkeit des noetischen Verstandes. Sie wird allerdings in der Klarheit ihrer Formulierung durch die Kompaktheit der gedanklichen (reflektiven) Symbole beeinträchtigt, die Thomas in seiner historischen Situation zu verwenden hat. Es handelt sich um die Symbole einer

183

Offenbarungswahrheit

in der Tradition des jüdisch-christ-

lichen Glaubens, sowie um die philosophischen Symbole aus dem kulturell andersartigen Kontext der hellenischen Zivilisation. Um einige dieser Schwierigkeiten zu klären, erscheint ein kurzer Blick auf die analytischen Fortschritte in den cartesischen und nach-cartesischen Unternehmun-

gen hilfreich.

Nehmen wir zum Beispiel die Formulierung des Problems durch Leibniz in dessen Principes de la nature et de la

gräce. Leibniz’ ,metaphysische"

Analyse nimmt das Prin-

Zip des zureichenden Grundes (raison suffisante) als die Erklärung

für

alles

an,

was

in

der

Realität

geschieht.

Die

suche nach dem zureichenden Grund gipfelt in zwei Fragen: (a) Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts? und (b) Warum sind die Dinge so, wie sie sind? Auf dieser Symbolisierungsstufe kommt Leibniz zu Formulierungen, die denen von Thomas sehr ähneln. Die Erfahrung kontingenter Realität impliziert einen nicht-kontingenten Grund für das, was als kontingent erfahren wird. ,Et cette derniére raison des choses est appellée Dieu." Obwohl die Formulierung von Leibniz an jene von Thomas

erinnert,

sollte man

sich doch

ihrer

nach-cartesischen

Aura bewußt sein. Es kommt hier zum Vorschein, daß die Antwort in der Frage schon enthalten ist. Und jenes imaginative

Merkmal

bei

Leibniz,

das

über

die

einfache

An-

nahme eines Offenbarungssymbols hinausgeht, entstammt der cartesischen Einsicht, daß die Antwort im Vorgang des Zweifelns und Begehrens enthalten ist. Die Erfahrung des Übergangs von einem offenbar sicheren cogito ergo sum zu einem in seiner Vorstellung (imaginatively) zweifeln-

den und suchenden

ego ist die meditative Quelle der Er-

kenntnis, daß es kein ego ohne eine umfassende Realität gibt, die man als jene Vollkommenheit symbolisieren kann, nach der das imaginative ego strebt. Ein ego, das zweifelt und

danach

strebt,

sich selbst zu überschreiten,

ist

nicht sein eigener Schöpfer, sondern bedarf eines Schópfers 184

und

Erhalters

seiner

zweifelnden

Existenz,

Grund ist der ,Gott", der in den Analysen

und

dieser

der Dritten Medi-

tation und in den Prinzipien erscheint. Es gibt keine zweifelnde Kontingenz ohne die Spannung zu der Notwendig-

keit, die den Zweifel erst als solchen sichtbar macht.

Dieser Vorstoß in die imaginative Struktur der noetischen Frage wird jedoch noch durch ein anderes kompaktes Element in der thomasischen Analyse beeintráchtigt, nàmlich durch den Aufbau einer meditativen Analyse als syllogistischem Beweis. Sogar Descartes und Leibniz wollen noch die Untersuchung als einen Beweis für die Existenz des Gottes der

Offenbarung

verstehen,

eine

Annahme,

deren

Un-

haltbarkeit Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft nachweist. Da jedoch Kants positive Analyse der imaginativen Frage unzureichend war, fiel Hegel die Aufgabe zu, gegen die Kritik Kants ,die sogenannten Beweise vom Dasein Gottes ... nur als die Beschreibungen und Analysen des Ganges des Geistes in sich" zu erkennen. „Das Erheben des Denkens über das Sinnliche, das Hinausgehen desselben über das Endliche zum Unendlichen, der Sprung, der mit der Abbrechung der Reihen des Sinnlichen ins Übersinnliche gemacht

werde,

alles

dieses

ist

das

Denken

selbst,

dies

Übergehen ist nur Denken." (Enzyklopädie 1830, $ 50) In dieser Passage Hegels werden die historischen Schichten der Analyse sichtbar. Dies sind (a) das thomasische Argument (das letztlich auf Aristoteles basiert), (b) der Cartesische Vorstoß zum Argument als ein imaginatives Ereignis, (c) die Kantianische Kritik an seiner syllogistischen Struktur und (d) eine neue Klarheit über den Prozeß noetischer Analyse. Die Hegelsche Einsicht ist jedoch immer

noch

unbefriedigend

infolge

der

Neigung,

Struktur, wie sie sich in der reflektiven

die paradoxe

Dimension

des Be-

wußtseins offenbart, zur endgültigen Lösung des Problems des Göttlichen zu erheben. Diese Hypostasierung des reflektiven

Bewußtseins

noetische

Bewegung

verdunkelt

selbst,

daß

die

die göttlich-menschliche

Be-

185

die

Tatsache,

gegnung, noch immer ein aktiver Prozeß in Spannung zu den Glaubenssymbolen ist. Die Hypostasierung der reflektiven Symbole führt zu einer Konstruktion des Denkprozesses, die diesen zu dem abgeschlossenen Denken eines Systems begrifflicher Wissenschaft deformiert. xx x

Die Schwierigkeiten moderner Denker bei ihren unzureichenden positiven Analysen des Realitätsbewußtseins resultieren aus der unzureichenden Unterscheidung zwischen dem Prozeß noetischer Analyse und den reflektiven Symbolen, die den historischen Prozeß der Untersuchung beschreiben.

Der

Punkt,

auf den

in der Erfahrung

die Konfu-

sion zurückgeht, wird von Thomas (ibidem 1.2) als der Unterschied zwischen dem Deus in se und dem Deus quoad nos auf eine Formel gebracht. Im Glauben leben wir in der Spannung zwischen Kontingenz und göttlicher Notwendigkeit, während in den reflektiven Symbolen die beiden Spannungspole der Notwendigkeit und der Kontingenz gedanklich zu transzendenten und immanenten Wesenheiten hypostasiert werden. Daß die göttliche Notwendigkeit nicht ein Gegenstand

ist, den man

erkennt, wird zwar von Thomas

an seinen

Eigenschaften

eindeutig als Quelle der

Schwierigkeiten identifiziert. Aber er bestimmt nicht mit der gleichen Klarheit jene Schwierigkeit, die Plato bereits ım Phaedros und im Timaios erkannte, die nämlich aus der intentionalen Struktur der Sprache erwächst: unsere Neigung, in dinglichen Propositionen über Erfahrungen nachzudenken, die nicht Erfahrungen von Dingen sind. Die Primärstruktur der göttlich-menschlichen Begegnung muß unterschieden werden von der gedanklichen Symbolisierung der Pole der Begegnung, die als Spannung erfahren wird, als dingliche Wesenheiten. Thomas geht nur soweit, zwischen dem Apriori göttlicher Notwendigkeit und dem Aposteriori ihres Beweises aus der Wirkung in den kontingenten Erfahrungen zu unterscheiden, wobei ihm aber be-

186

stimmte Vorzüge der Untersuchungen von Anselm von Canterbury sowie der hellenischen Philosophen verlorengehen. Es erscheint daher angebracht, die gedankliche Problematik der syllogistischen Konstruktion in ihren Hauptpunkten aufzuzeigen. Der von Thomas abgelehnte ,ontologische Beweis" existierte zu seiner Zeit noch nicht in dieser symbolischen Form. Der Begriff ontologia erscheint im 17. Jahrhundert in Claubergs Elementa philosophiae sive Ontosophiae

(1647)

(oder móglicherweise

in Goclenius'

sophicum (1613)) und findet Eingang Vokabular infolge seiner Verwendung

Lexicon

Philo-

ins philosophische im 18. Jahrhundert

durch Leibniz, Wolff und Kant. Die Meditationen

von Des --

cartes sind noch nicht mit diesem Begriff belastet, und vielleicht ist dies auch der Grund,

warum

sie noch der früheren

Suche Anselms' nahestehen (die Descartes móglicherweise nicht kannte), da sie sich hinsichtlich der Dynamik der suchenden Bewegung auf die Spannung zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit beziehen. In seiner Kritik der reinen Vernunít verwendet Kant das Symbol ,ontologischer Beweis" in Hinblick auf die Cartesianischen Meditationen als einen schon allgemein gebräuchlichen Begriff. Die eben angeführten Daten deuten auf einen Bereich des Diskurses, der sich ziemlich am Rande der exakten erfahrungsmäßigen Analyse bewegt; sie lassen den Versuch vermuten, ,Ontologie" als ein präziseres Synonym für ,Metaphysik" und damit Metaphysik als die polemische Alternative zu Theologie einzuführen. Der Begriff , Metaphysik" selbst war von Thomas in seinem Kommentar zur aristotelischen Metaphysik in die abendländische Philosophie eingeführt worden, unter Berücksichtigung der Entwicklung, die der Begriff durch die arabischen Philosophen erfahren hatte. Wir berühren hier das Problem der gedanklichen Deformierung der in der Erfahrung gegebenen Wirk-

lichkeit

durch

gedankliche

Symbolismen,

kreter historischer Situationen. 187

als Folge

kon-

Damit ist weder gesagt, daß der Deformation kein wirkliches Erfahrungsproblem zugrunde liegt, noch daß dieses Problem von Thomas selbst nicht erkannt und formuliert wurde. Die Unterscheidung der ,priora simpliciter" des Glaubens

von den

„posteriora“

seiner Realität,

die von

ih-

ren Wirkungen gewonnen werden, macht es móglich, die priora zu leugnen, deren Eigenschaften nicht erkannt werden kónnen als wáren sie Eigenschaften eines Dinges. Und da die dinglichen Eigenschaften nicht bekannt sind, außer durch ihre Wirkungen, kónnen die priora des Glaubens hinsichtlich ihrer Realitát geleugnet werden. Die Erfahrungsgrundlage dieser Konsequenz stellt Thomas in der Symbolik der Heiligen Schrift dar: , Dixit insipiens in corde suo: non est Deus." Die deformierende Verwirrung im , Her-

zen"

des insipiens

(in der

englischen

Übersetzung:

des

Toren) ist die Erfahrungsquelle, die das Problem der nichtdinglichen Struktur góttlicher Symbole in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Das cor suum im Menschen ist der Erfahrungsort einer hypostasierenden Position oder Negation des Göttlichen. “x ox

Trotz ihrer deformierenden gedanklichen Konstruktion kommt Hegels Analyse dem Verstándnis des noetischen Prozesses, wie er von Anselm von Canterbury zu Beginn der

Scholastik

lyse scher

erfahren

im Proslogion Suche

betrifft.

worden

ist eindeutig, Im

zweiten

war,

nahe.

Anselms

was

die Grenzen

Teil

seines

Ana-

noeti-

Werkes,

im

Proslogion XIV, erkennt er an, daß der Gott, der in der Wahrheit der Vernunft gefunden wird, noch nicht der Gott ist, den der Suchende in der Gestaltung und der Umgestaltung seiner Existenz als gegenwärtig erfahren hat. Er betet zu Gott: , Sprich zu meiner begehrenden Seele, was bist Du anderes als das, was sie gesehen hat, damit sie klar erkennen kann, was sie begehrt." Und im Proslogion XV formuliert er das strukturelle Problem mit klassischer Exaktheit: 188

„Oh Herr, Du bist nicht nur das, wovon

man

nicht erken-

nen kann, was größer wäre, sondern Du bist auch größer als das, was

man

erkennen

noetisch-begrifflichen Bemerkenswert

losophie"

kann."

Analyse,

ist, daß Hegel

Dies

ist die Grenze

die Hegel

auDer

in seiner „Geschichte der Phi-

zwar ausführlich und sachkundig den

schen Beweis"

behandelt,

der

acht lieD.

den

zweiten

,ontologi-

Teil des Proslogion

mit seiner analogen Erforschung des góttlichen Lichts jenseits der menschlichen Vernunft jedoch nicht erwáhnt. Die noetische Suche Anselms nimmt also die Form eines Bittgebets an um ein Verständnis der Glaubenssymbole durch den menschlichen Verstand. Hinter der Suche und hinter der fides, die die Suche verstehen soll, wird nun im lebendigen Begehren der Seele, dem góttlichen Licht entgegenzugehen,

die wahre Quelle der Anstrengungen Anselms sichtbar. Die

göttliche Wirklichkeit läßt das Licht ihrer Vollkommenheit in die Seele fallen; die Erleuchtung der Seele weckt das Bewußtsein,

daß

die

menschliche

Unvollkommenheit

ist, und

Existenz

dieses

ein

Zustand

Bewußtsein

der

provoziert

wiederum die menschliche Bewegung als Antwort auf den göttlichen Ruf. Die Erleuchtung, wie Augustinus diese Erfahrung bezeichnet, hat für Anselm

tatsáchlich den Charak-

ter eines Rufs, ja sogar eines Rats und Versprechens. Denn um die Erfahrung der Erleuchtung auszudrücken zitiert er Johannes

16:24:

„Frage und du wirst vernehmen,

Freude vollkommen Die

daß deine

sein kann."

Johannes-Worte von Christus und dem Hl. Geist, der

in seinem Namen

zurät, - Worte,

die in ihrem Kontext ver-

standen werden müssen - bringen die góttliche Bewegung zum

Ausdruck,

auf

die

Anselm

mit

der

freudigen

Gegen-

bewegung seiner Suche antwortet (XXVI). Daher preist der letzte Teil des Proslogion durchgehend das göttliche Licht in der analogen Sprache der Vollendung. Anselms Gebet ist eine meditatio

Suche tende

de ratione fidei, wie er die Natur

dieser

im ersten Titel des Monologion ausdrückt. Die beSuche antwortet auf den Ruf der Vernunft in der 189

fides; das Prologion ist die fides in Aktion, im Streben nach

ihrer

eigenen

schließen,

daß

rationalen St. Anselm

Grundlage. die

kognitive

Metaxy gehörig, dem ,Dazwischen-Sein" tonischen Sinne klar erkannte.

Wir

müssen

Struktur

also

als

zum

der Seele im pla-

Die Bedeutung des Metaxy in diesem Kontext kann viel-

leicht am deutlichsten am Mythos des Phaedros verstanden werden. In diesem Mythos stellt Platon die Olympischen Götter zusammen mit ihren menschlichen Anhängern als jene Wesen im Kosmos, die Seelen haben und daher ihre Unsterblichkeit im Auge haben. Die Olympier, die schon den

Status

von

Unsterblichen

genieDen,

brauchen

diesen

nur durch geeignete Handlungen bewahren; wáhrend die menschlichen Seelen, die Unsterblichkeit begehren, sie erst noch durch Anstrengung erlangen müssen. Diese Anstrengungen werden in verschiedenem Mafe durch ihre sterblichen Kórper behindert, deren Leidenschaften sie herabziehen. Aber weder die bewahrenden Maßnahmen der Götter, noch die strebenden Bemühungen ihrer menschlichen Gefáhrten kónnen so ihr Ziel durch Vorgànge innerhalb des Kosmos erreichen. Denn die Quelle der Unsterblichkeit ist die außerkosmische göttliche Realität jenseits des Himmels (exo tou ouranou), die den Kosmos umgibt, und die beseelten innerkosmischen Wesen müssen sich zu dieser

Quelle mittels der noetischen , Schwingen" erheben, die sie

befáhigen, zur Wahrheit des Jenseits aufzusteigen. Dieser Aufstieg der Seelen ist keineswegs für den Alltag. Normalerweise, so läßt Platon den Mythos erzählen, gehen die Götter und ihre Anhänger intra-kosmischen Geschäften nach und nur bei festlichen Gelegenheiten steigen sie zu den jenseitigen Gefilden auf (hyperouranios topos). Und dort, vom Dach des Kosmos

aus, werden

sie die ousia ontos

ousa betrachten, die nur für den nous, den Führer der Seele, sichtbar ist. Doch in welchem Sinne kann Anselm den Begriff ,Beweis" mit einer noetischen Suche in Verbindung bringen, 190

die

auf die Bewegung

wortet,

— mit

einer

sieht? Der Schlüssel

der Begriff sondern

,Beweis"

des

Suche,

göttlichen die

er zu

zur Antwort

Recht

(spirit)

als

ant-

Gebet

an-

liegt in der Tatsache,

daß

im Proslogion

nur in der Diskussion

Geistes

gar nicht vorkommt,

mit Gaunilo.

Es gibt

auch

keinen Grund für die Verwendung des Begriffs im Proslogion. Denn wenn ein Gläubiger die rationale Struktur seines Glaubens erforscht, steht für ihn die Existenz Gottes nicht in Frage. Anselm jedoch muß in seiner Antwort den Begriff „Beweis“ verwenden, weil Gaunilo die Rolle des Tors, des insipiens spielt, der behauptet „es gibt keinen Gott" und annimmt, der Erforscher des Glaubens bemühe sich um einen ,Beweis" für die Behauptung, daß Gott existiert. Nur in der Konfrontation mit dem insipiens, der die negative

Proposition,

Gott

existiere

nicht,

aufstellt,

ge-

winnt die noetische Reflektion des Pneumatikers (spiritualist), den Charakter einer affirmativen Proposition über die Existenz Gottes. Die Symbolik der noetischen Suche droht in einen Kampf über die Beweisbarkeit oder Nicht-Beweisbarkeit einer Proposition abzugleiten, sobald der Tor in die

Diskussion werden, Der

eintritt. Die

Existenz

da der Tor — ohne

Tor

kann

nicht leicht

jeden

Gottes Zweifel

abgetan

kann

zweifelhaft

— existiert.

werden.

Die

Torheit,

auf den góttlichen Ruf mit einem Nein oder mit einem Ausweichen

zu

antworten,

ist dem

Menschen

ebenso

móglich,

wie die positive Antwort. Potentiell ist das Nein in jedem Menschen vorhanden, auch im Gláubigen, und in gewissen historischen Situationen kann ihre Aktualisierung zu einer massiven gesellschaftlichen Kraft werden. Doch wer - oder was — ist ein Tor? Die philologische Situation ist klar. Wenn Anselm und Gaunilo von dem insipiens sprechen, bezieht sich ihre Spra-

che auf Psalm

13 (14) — in der Übertragung

der Vulgata.

,Der Tor (insipiens) sagt in seinem Herzen, ,es gibt keinen Gott". Der παρα] des hebräischen Textes ist in der Vulgata als

insipiens

übersetzt,

in

der

191

Standardversion

und

auch

in der Jerusalem Bible als ,fool". Die letzte Übertragung ist vielleicht nicht die beste,

denn

das

englische

Wort

fool

leitet sich aus dem lateinischen follis ab, das einen Blasebalg oder Windbeutel bezeichnet. Es hat von dieser ursprünglichen Bedeutung die Aura von Windbeutel, Schwachsinn und fehlender oder schwacher Urteilskraft behalten, die jedoch weder die grundlegende Korruption der Existenz, noch das ganze Spektrum der Symptome der Korruption andeutet, welche das Wort nabal beinhaltet. Der Tor des Psalms

lektuelle

Schärfe

ist aber gewiß

oder

Übersetzungsversuche

Verwegene,

kein Mensch,

Weltklugheit wie

der

fehlen.

Gottlose,

der

dem

intel-

Alternative Profane,

der

oder der Nichtswürdige haben alle ihren Sinn,

zeigen aber zugleich die Schwierigkeit, den ganzen Bedeu-

tungsreichtum eines so kompakten Symbols wie nabal wiederzugeben. Da es jedoch keine Übersetzung zu geben scheint, die befriedigender ist und dem zeitgenössischen

Sprachgebrauch

entspricht, werde

ich den

geläufigen Be-

griff ,fool" beibehalten und mich lediglich darum bemühen, seine Bedeutung klar zu machen. Im Psalm 13 (14) bezeichnet der nabal das massenhafte Auftreten von Menschen, die das Böse lieber tun als das Gute, weil sie nicht „nach Gott suchen” und seiner Gerechtigkeit, die „mein Volk

verzehren

wie Brot”, weil sie nicht

an göttliche Strafe für ungerechte Handlungen glauben. Die persönliche Verachtung gegenüber Gott äußert sich in einem mitleidlosen Verhalten gegenüber den Schwachen und schafft in der Gesellschaft allgemeine Unordnung. Die Situation, die im Psalm vor Augen steht, scheint dieselbe zu sein, wie die Verachtung gegenüber Gott und seinen Propheten, die von Jeremia 5:12 und schon im 8. Jh. v. Chr. von Jesaja 32 beschrieben wird. In diesen israelitischen

Kontexten

bezeichnet

die

Verachtung,

die

nebala,

nicht notwendigerweise eine so differenzierte Erscheinung wie den dogmatischen Atheismus - sondern eher einen Zustand geistiger Stumpíheit, der es erlaubt, sich der Habgier, 192

dem Sex und der Macht hinzugeben, ohne Furcht vor dem göttlichen Gericht. Die verachtungsvolle Torheit kann sich zwar zum radikalen „Es gibt keinen Gott” steigern, doch scheint der Ausdruck nicht als eine noetische Herausforderung verstanden worden zu sein. Der Tor opponiert gegen den geoffenbarten Gott, nicht gegen eine fides quaerens intellectum. Diese zusätzliche Komponente, die für die Anselm-Gaunilo-Debatte

charakteristisch

ist, muß

eher

in

der philosophischen Überlieferung gesucht werden, die Eingang in die christliche Theologie gefunden hat. Es ist Platon,

der

in der

Politeia

II und

Phänomen

der existentiellen

forderung,

welche

den

Nomoi

Torheit,

X

sowohl

als auch

sie für die noetische

Suche

darstellt,

Fall der sophistischen Torheit, der anoia, beschreibt.

In der griechischen Gesellschaft hat das Potential,

dem göttlichen Ruf zu verweigern,

Aussagen

Ausdruck

Breite

Erfahrungsspektrums

des

gefunden,

das

die Herausam

sich

in einer Serie negativer

die

umsichtig

abdecken.

die

ganze

Sowohl

in der

Politeia (365 b-e), als auch in den Nomoi,

stellt Platon diese

Propositionen als eine triadische Gruppe

dar:

1.

Es scheint,

daß

2.

Gesetzt jedoch,

es keine

Götter

gibt.

es gibt sie, so kümmern

sie sich nicht um

die Menschen. 3. Gesetzt jedoch, sie kümmern sich um die Menschen, so kann man sie mit Geschenken besänftigen. Obwohl Platon keine spezifische Quelle für diese Trias anführt,

sondern

sie

so

verwendet,

als

sei

sie

in

seiner

intellektuellen Umwelt allgemein gebräuchlich, handelt es sich wahrscheinlich um ein Produkt der sophistischen Schule. Denn sie hat dieselbe Struktur, wie die Gruppe von Pro-

positionen, die im Essay Über das Nicht-Seiende von Gorgias überliefert ist: 1. Nichts existiert. 2.

Wenn

etwas existiert, dann ist es unbegreiflich.

3. Wenn es begreiflich ist, dann ist es nicht zu vermitteln. Die beiden Satzgruppen deuten an, daß in den sophisti-

193

schen Schulen die Mißachtung der Götter zu einem

allge-

meinen Verlust des Erfahrungskontaktes mit der kosmisch-

göttlichen

Realität geführt hatte. Die

triadischen

Muster

negativer Propositionen scheinen sich als ein Ausdruck der daraus resultierenden Kontraktion der menschlichen Existenz entwickelt zu haben. Die massenhafte Übernahme dieses Musters wurde von Platon so stark als Herausforderung

für seine

eigene

noetische

Suche

empfunden,

daß

er

das ganze 10. Buch der Nomoi seiner Widerlegung widmete. Die Einzelheiten dieser Widerlegung, die schließlich in die positive Aussage mündet, daß die Götter existieren, daß sie sich um die Menschen

kümmern,

und daß sie nicht durch

Bestechungen aus dem Profit ihrer Verbrechen zu Komplizen menschlicher Kriminalität gemacht werden können, sind nicht unser Thema. Aber wir müssen Platons Analyse der noetischen Herausforderung und die Sprache, die er dabei

entwickelte,

betrachten.

Das sophistische Argument für die negativen Triaden beruhte offensichtlich auf einer radikalen Verneinung göttlicher Realität, wie sie in der Ordnung des Kosmos oder in der Seele des Menschen als gegenwártig erfahren wird. Um in der hellenischen Kultur des 4. Jh.s v. Chr. plausibel zu sein, mußte die Verneinung in die Form eines Gegenmythos

gebracht werden,

welcher der Symbolisierung

der góttli-

chen Ordnung in der Realitát durch den kosmogonischen Mythos des hesiodischen Typs entgegentrat. Die Form, die dieses Argument konkret annahm, war wahrscheinlich eine Kosmogonie, in der die Gótter des Mythos durch die Elemente,

im Sinne von

Materie,

als der

„ältesten”

schópferi-

schen Realitát, ersetzt wurden. Auf jeden Fall betrachtet Platon die negativen Triaden als im Prinzip auDer Kraft gesetzt, wenn er die Annahme widerlegen kann, daf die Realitát in ihrer Gesamtheit ihren Ursprung in der Bewegung materialer Elemente hat. Gegen diese Annahme argumentiert er so: es gibt keine sich selbst bewegende Materie; alle materiellen Bewegungen sind durch die Bewegungen ande-

194

rer

Materie

verursacht;

die

Ursache und Wirkung muß

regelhafte

Verflechtung

von

ihrerseits wiederum durch eine

Bewegung verursacht werden, die außerhalb dieses Netzwerkes

ihren

Ursprung

hat;

die einzige

wir wissen, daß sie sich selbst bewegt,

Realität,

von

der

ist die Seele. Folg-

lich können in einer genetischen Konstruktion des Seins die Elemente nicht als die ,álteste" Realität fungieren; nur die göttliche Psyche, wie sie durch die menschliche Psyche erfahren wird, kann die „älteste”

im Sinne der Selbstbewe-

gung sein, in der alle geordnete Bewegung in der Welt ihren Ursprung hat. Das Argument mutet in seinem Rekurs auf die Realität der Seele und ihre Erfahrungen modern an, gegenüber Konstruktionen, welche den Verlust der Realitát und die Kontraktion des Selbst ausdrücken. Ein Unterschied besteht freilich

darin,

daß

die

modernen

Konstrukteure

für

ihre

Zwecke nicht erst einen hesiodischen Mythos deformieren müssen, sondern lediglich den göttlichen Grund des Seins durch einen Gegenstand aus der weltimmanenten Hierarchie des Seins als den letzten ,,Grund" aller Realität zu ersetzen brauchen. In Wirklichkeit ist das Argument allerdings weder modern noch altertümlich, sondern taucht immer dann auf, wenn das Suchen nach göttlicher Realität in einer Situation wiederaufgenommen werden muß, in der

die

,Rationalisierung"

der kontraktierten

Existenz — die

Existenz des Toren - zu einer Massenerscheinung geworden ist. Natürlich ist das Argument nicht ein , Beweis" im Sinne einer logischen Beweisführung, eine apodeixis, sondern nur im Sinne einer epideixis: es weist auf einen Bereich der Realität hin, welchen der Konstrukteur der negativen Propositionen lieber übersehen oder außer acht gelassen hat oder den wahrzunehmen er sich weigerte. Man kann Realität nicht durch einen Syllogismus beweisen; man kann nur auf

sie hinweisen

Die mehr

und

oder weniger

den

Zweifler

bewußte

195

bitten,

hinzuschauen.

Konfusion

zwischen den

beiden Bedeutungen des Wortes ,Beweis" ist ein Standardtrick, den die Leugner auch in den ideologischen Debatten der Gegenwart noch verwenden. Und er hat bei der Entstehung

der

, Beweise"

für die Existenz

Gottes

seit der

Zeit Anselms immer eine wichtige Rolle gespielt. Daß es sich bei den negativen Aussagen nicht um den Befund eines Philosophen über eine Struktur in der Realität handelt, zens"

zum

gewonnen nicht

allein

sondern

daß

sie

eine

Ausdruck

bringen,

hat.

sophistische

ein

Die

analytischer

ist

Deformation

des

die

die

Einsicht,

Torheit,

Irrtum,

sie

die

,HerPlaton

anoia,

ist vielmehr

ist eine

nosos, eine Krankheit der psyche, für deren psychologische Therapie Platon in den Nomoi den Zeitraum von fünf Jahren ansetzte. In der Politeia II entwickelt er zudem das Vokabular,

welches

die existentielle Krankheit

beschreibt,

indem er zwischen der Unwahrheit in Worten und der Un-

wahrheit

oder Lüge

(pseudos)

in der Seele selbst unter-

scheidet. Die „Ignoranz in der Seele" (en te psyche agnoia) ist „wirklich die Unwahrheit" alethos pseudos), während die Unwahrheit in Worten nur das „später aufsteigende Bild" (hysteron gegonon eidolon) ist. Die unwahren Worte sind deshalb auch nicht eine ,ungemischte Falschheit" wie die „essentielle Falschheit" in der Seele (to men de to onti pseudos). Die verbale Falschheit, die „Rationalisierung” sozusagen,

ist die

Form

der

Wahrheit,

in

welcher

sich

die

kranke Seele ausdrückt (Politeia 382). Wie die Unterscheidungen zeigen, ringt Platon um eine analytische Sprache, die dem vorliegenden Fall entspricht. Aber er ist noch weit davon entfernt, die Aufgabe oder Entwicklung der Begriffe einer ,Pneumapathologie" — wie Schelling diese Disziplin nannte — vollendet zu haben. Er hat z. B. noch nicht einen Begriff wie die agnoia ptoiodes, die ,schreckenserregende Ignoranz" des Chrysippus, die zur , Angst" der Moderne wurde. Auch fehlt ihm noch die chrysippische apostrophe, die die Umkehrung jener Bewegung der epistrophe bedeutet, die den Gefangenen

aus

der Höhle

196

aufwärts

zum

Licht

führt; und es fehlt ihm auch Ciceros Charakterisierung der Krankheit

des

Geistes,

des

morbus

animi

als einer

asper-

natio rationis, einer Ablehnung der Vernunft. Dennoch hat er den Punkt erkannt, auf den es ankommt: daß die negativen Propositionen dasSyndrom einer Krankheit sind, durch

die die Natur

des Menschen

beeinträchtigt und die Ord-

nung der Gesellschaft zerstört wird. In der Analyse der Krankheit und ihres Syndroms

schuf

Platon einen Neologismus von weltgeschichtlichen Folgen:

denn bei der Behandlung der triadischen Propositionen benutzte er — soweit wir wissen — zum erstenmal in der Ge-

schichte der Philosophie

den

Begriff „Theologie“.

In der

Politeia spricht Platon von den negativen Propositionen als typoi peri theologias, als Typen der Theologie (379 a), und stellt ihnen die positiven Gegen-Propositionen als die wahren Typen entgegen. Beide Typen, die negativen wie die positiven,

sind

Theologien,

denn

sie

sind

beide

mensch-

liche Antworten auf den göttlichen Ruf. Beide sind in der Sprache Platons die verbale Nachahmung (mimesis) der menschlichen Existenz in der Wahrheit bzw. in der Unwahrheit. Nicht die Existenz Gottes steht auf dem Spiel, sondern die wahre Ordnung der menschlichen Existenz. Nicht Propositionen stehen einander gegenüber, sondern

die Antwort und die Nicht-Antwort auf den göttlichen Ruf:

Die Propositionen selbst, ob positiv oder negativ, besitzen

keine eigene Wahrheit. positionen

ist weder

logischen Beweises. tiven, wären

Die Wahrheit

selbst

evident,

der positiven

noch

Sie wären genauso

eine

Sache

Prodes

leer wie die nega-

sie nicht erfüllt von der Realität der göttlich-

menschlichen

Bewegung

und

Gegenbewegung,

von

dem

Gebet, das in der Seele des Befürworters den Ruf beantwortet; und

Platon

stattet diese Wahrheit

mit seiner

glänzen-

den Analyse und Symbolisierung dieser Erfahrungen aus. Daher kann die verbale Nachahmung des positiven Typs, da sie keine

eigene

Wahrheit

besitzt, auch nicht mehr

sein

als eine erste Richtlinie der Verteidigung oder der Über197

zeugung in einer gesellschaftlichen Konfrontation mit der verbalen Nachahmung des negativen Typs. Noch entscheidender: Die positiven Propositionen beziehen einen wesentlichen Teil ihrer Bedeutung aus ihrem Charakter als einer Verteidigung gegen die negativen Propositionen. Die Folge ist, daß die beiden Typen der Theologie zusammen die verbale Nachahmung der Spannung des Menschen zwischen den Möglichkeiten von Antwort oder Nicht-Antwort auf die göttliche Präsenz in persönlicher, gesellschaftlicher und historischer Existenz darstellen. Wird die Rolle des Toren in den positiven Propositionen vergessen, so besteht immer die Gefahr der Entgleisung in die Torheit, zu glauben, die Wahrheit dieser Propositionen sei endgültig. Doch die Annahme, die Wahrheit der Propositionen sei endgültig, würde

genau zu dem führen, was die Toren behaupten:

sie wäre dann wirklich die hinter ihr steht.

leer von der Erfahrungswahrheit, “x x

Die Erfahrungswahrheit im Hintergrund der Analyse Platons ist nicht eine Sache einfacher Feststellungen. Sie müßte sowohl Platons eigene analytische Leistung im Kampf um

die

Klärung

von

Problemen

enthalten,

welche

seine

Vorgänger aufgeworfen hatten, als auch die in Platons Werk kompakt gebliebenen Bedeutungen. Für eine adäquate Darstellung der Kernfragen wäre deshalb mehr als ein Band über hellenistische Philosophie, Literatur und Kunst nötig, und sie müßte den Zeitraum von Homer und Hesiod bis zum Neoplatonismus behandeln. Hier kann ich nicht mehr tun, als auf einige wichtige Phasen in diesem Prozeß sich differenzierender Erfahrungen und Symbolisierungen hinzuweisen. Eine zentrale Frage ist dabei der differenzierende Übergang vom polytheistischen Sprechen über die Gótter zum Sprechen über die eine Gottheit jenseits der Götter. Die Erfahrungsspannung in Platons kultureller Situation ist 198

durch Veränderungen in den Anrufungen der Götter ange-

deutet, die einer Analyse der Realitätsstruktur vorausge-

hen. Im Timaios zum Beispiel lädt Sokrates den Timaios ein, sich als der nächste Redner in einer imaginativen Schöpfung der angemessenen Sprache zu versuchen, welche diese Struktur symbolisieren soll, und bittet ihn, seine Rede mit einer Anrufung der Götter einzuleiten. Daß die imaginative Analyse ein Gebet sein soll, wird vorausgesetzt. In seiner

Antwort

stimmt

Timaios

zu, daß

jeder,

der bei Sin-

nen ist, vor einem Unternehmen - groß oder klein - , Gott" anrufen wird. Ein angemessener Diskurs über das All (to pan) müßte — sofern wir nicht von Sinnen sind - die Götter und Göttinnen anrufen: Betet, daß alles, was wir sagen mögen, erstens ihnen und zweitens uns genehm sei. Laßt uns also annehmen, daD wir auf angemessene Art und Weise die Gottheiten angerufen haben, und laßt uns auch uns selbst anrufen, damit wir aufs klarste unsere Ansichten über das All darlegen können (27 c). Die Anrufung ist in ihrer Sprache sparsam geworden und nennt nicht den angerufenen „Gott”. Die symbolische Ausarbeitung (elaboration),

die

mentale

den

einen

Anrufung,

„Gott“ die

anruft,

im Akt

des

ist reduziert Beginns

auf

enthalten

eine ist.

Die „Götter” sind weder verschwunden, noch ganz durch den einen , Gott" ersetzt worden. Um die kulturelle Spannung in dieser mentalen Anrufung

muß

man

sich des Verfalls der fides in die vielen Götter bewußt

,Gottes"

ohne

ihn zu benennen,

zu spüren,

sein,

wie er zum Beispiel in der parodistischen Anrufung in den Thesmophoriazusae des Aristophanes mit ihrem feministischen Unterton erscheint: Betet zu den Göttern, den Olympiern und Olympierinnen, zu den Pythiern und Pythierinnen, zu allen Deliern und Delierinnen (330-333). Der platonische eine „Gott” ist diejenige Gottheit, welche als gegenwärtig jenseits der vielen Götter erfahren wird, die, wie

die Anrufung des Aristophanes zeigt, für die Erfahrung nicht mehr lebendig sind. Die noetische Analyse schafft

199

eine neu differenzierte Form des Gebets jenseits der früheren Anrufungen der Musen und Götter. Was sich in der

noetischen Erfahrung differenziert, ist die Einheit der Gottheit jenseits der Vielzahl der Götter. Diese Differenzierung zur Einheit (oneness) der Gottheit verlangt eine Veränderung in der Sprache, die Realität darstellt: von den seienden Dingen im Plural zum Singular des einen ,Seins". In der Sprache Hesiods wird die Realität der Dinge noch mittels des Plurals ta eonta ausgedrückt — in der Kompaktheit dieser Sprache sind die Götter Dinge, die unter denselben Begriff wie die Gegenstände der Aussenwelt subsumiert werden. In der Sprache des Parmenides ist diese in der Erfahrung gegebene Offenbarung der Einheit (oneness) durch den Übergang vom Plural to eonta

zum Singular to eon gekennzeichnet. Durch diese Verände-

rung der Sprache beginnen die „seienden Dinge" von einem alle Dinge umfassenden ,Sein" unterschieden zu werden. Im Werk des Parmenides ist der Übergang so radikal, daß die „seienden Dinge" etwas von ihrem Realitätsstatus einbüßen in ihrer Beziehung zu dem überschattenden ,Sein" im Singular. Der Druck, der von der Offenbarung des einen Seins jenseits der seienden Dinge ausging, wurde offensichtlich als so intensiv erfahren, daß sich die Struktur eines kosmischen Ganzen der Realitát in der Spannung zwischen dem Sein und den Dingen nur unzureichend sprachlich symbolisieren ließ. Deshalb mußte Platon im Timaios hinter das to eon zurückgehen, in dem er das Symbol to pan prägte im Sinne des einen Alls, das die seienden Dinge umfaßt (periechein). Das to pan, die intelligible Ordnung des Universums, ist jetzt symbolisiert als der Kosmos in der Spannung zwischen der Ordnung (taxis), die von einem Demiurgen auferlegt wurde, und der Unordnung (ataxia) einer raum-zeitlichen chora, der die Ordnung auferlegt wird. Dadurch wird Realitát eine geordnete Einheit (oneness), die einer mathematischen Analyse zugänglich ist. Die Symbolisierung dieser Erfahrung führt bei Platon

200

jedoch zu keinem System. Die Struktur der erfahrenen Gottheit bleibt ein Mysterium. Es gibt einen Demiurgen, der eine ungeordnete Realität ordnet, doch er ordnet sie gemäß eines Paradigmas der Ordnung, das selbst ein Gott ist. Darüber hinaus ist der nach dem Paradigma organisierte Kosmos seinerseits das einzigartige oder eingeborene (monogenes) göttliche Abbild des Paradigmas. Die Ordnung

des Paradigmas

ist die letzte Realität,

die alle seien-

den Dinge in dem einen Kosmos umgreift. In Platons Erfah-

rung war diese Einheit des Alls von so großer revelatori-

scher Bedeutung, daß er den Begriff monosis (31 b) für sie prágte, ein Begriff, der spáter aus dem Vokabular der Philosophie verschwand. Das Symbol , Ordnung" gewinnt die ausdifferenzierte Bedeutung von Einheit (oneness), welche eine Pluralitát von Universen ausschlieBt und dabei das

Mysterium der Unordnung in der Ordnung läßt.

Ein wichtiger — jedoch

des Alls offen

allzu oft vernachlässigter — Be-

standteil in Platons Ringen um eine Möglichkeit, einen Gott jenseits

der Götter

zu sprechen,

von dem

sind die Erfah-

rungen der Göttlichkeit, die sich in den Anrufungen der Hesiodischen Theogonie entfalten. Die Quelle der Wahrheit über die Realität göttlicher Gestalten sind für Hesiod sicherlich die Musen. Doch die Musen gehören nicht zu den olympischen Göttern, sondern sind fern von diesen von Zeus in seiner Vereinigung mit Mnemosyne gezeugt worden. Die

Quelle der Wahrheit ist transolympisch und der die Musen erzeugende

Zeus

ist

selbst

ein

wurde, jedoch nicht stirbt. Was welche

auch

die Götter

Gott,

der

zwar

geboren

die Musen über die Realität,

umfaßt,

singen,

richtet

sich zudem

nichtin erster Linie an die Menschen, sondern an die Götter selbst,

insbesondere

an einen

Zeus,

der sich nicht ganz

im

klaren zu sein scheint über seine Stellung und Macht als die göttliche ordnende Kraft in der Realität. Für Hesiod ist Zeus kein Gott, sofern es nicht eine göttliche Realität jenseits der Götter gibt. In diesen hesiodischen Symbolisierungen er201

kennen

wir

die

ersten

(periechon) Jenseits, werden wird.

Andeutungen

das schließlich zum

des

umgreifenden

epekeina Platons

xx ox

(Anmerkung des Hrsg.: Wenn der Leser, resp. die Leserin, das Vorwort des Herausgebers bislang noch nicht berück-

sichtigt hat, so sollte er/sie dies vor dem Weiterlesen tun.) [1. Das

All-umschlieDende

,Gottliche"

und wie, nach Aristoteles Physik

des

Anaximander

4, 203 b 7, darüber

zu re-

den sei:] „Aber für das Unendliche (apeiron) sei ein Prinzip (arche) undenkbar;

...

vielmehr

möchte

man

meinen,

daß

um-

gekehrt dieses das Prinzip alles Konkreten darstelle, all das Konkrete in sich beschließe (periechein) und es beherrsche, was ja auch wirklich die Meinung derer ist, die neben das Unendliche (apeiron) kein weiteres Prinzip mehr stellen wollen -- Weltvernunft, Liebe oder dergleichen. Und so gilt es denn dann als das Göttliche (to theion). Denn es sei unsterblich (athanaton) und unvergänglich (anolethron), wie es die ausdrückliche Meinung des Anaximander und der meisten Naturphilosophen ist.“

(Aristoteles,

Wagner,

Akademie

Physikvorlesung, Verlag,

Berlin

übers.

von

Hans

1967, S. 67, IIl.4.203 b

7—14) [2. Das Gott anrufende Gebet in Plotin V.1.6., das der Suche nach einer angemessenen Sprache vorausgeht, in der über das Eine und das Mysterium seiner Emanation gesprochen wird; über das nur in traumáhnlichen Metaphern gesprochen werden kann, wie der Parfum-Metapher, die Plotin wählte („parfumierte Dinge"):] „So sei denn das Folgende gesagt — zuvor aber Gott selbst angerufen nicht mit dem Schall von Worten, sondern indem wir uns mit der Seele zum Gebet nach ihm 202

strecken, denn auf diese Weise können wir für uns allein zu ihm beten ..." (Plotins Schriften, übers. v. Richard Harder, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1951, Bd. 1, S. 221/223, V.1.6) [3. Das soter"

Gebet in Platons anruft

(48 d),

Timaios,

als Platon

den

das diesmal Versuch

den

„theos

beginnt,

eine

angemessene Sprache zu finden für das Sprechen über den nicht-dinghaften Pol in der Spannung zwischen der gestaltenden Gottheit und der empfangenden, aber widerstrebenden ungestalteten chora (Raum):] ,indes wir auch jetzt, beim Wiederbeginn unserer Rede, den Beistand

Gottes

anrufen,

daß

er als Retter aus einer

seltsamen und ungewohnten Darstellung zur Ansicht des Wahrscheinlichen uns gelangen lasse, wollen wir von neuem unsere Erörterung anheben." (Platon, Sämtliche Werke Bd.5, nach der Übersetzung von Friedrich

Schleiermacher, Hamburg

1974, S. 171)

[Wiederum die Sprache muß traumähnlich und metaphorisch werden - Timaios 48 e-53 c, insbesondere 51 b-c.] [4. Das

„mentale

„Das mentale

Gebet" Gebet,

Goethes:]

das alle Religionen

einschließt und

ausschlieBt und nur bei wenigen, gottbegünstigten Menschen den ganzen Lebenswandel durchdringt, entwickelt sich bei den meisten nur als flammendes, beseligendes Gefühl des Augenblicks; nach dessen Verschwinden sogleich der sich selbst zurückgegebene unbefriedigte, unbescháftigte Mensch in die unendliche Langeweile zurückfällt.” (Goethe, West-Ostlicher Diwan, Noten und

Abhandlungen,

,Altere

Perser",

Insel-Verlag,

Leipzig

1912, S. 142)

[5. Die Manifestation der äquivalenten christlichen Erfahrung und

der Ausdruck

des

,Góttlichen:"

203

a) Die pleroma und theotes in Kolosser 2:9] „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle (pleroma) der Gott-

heit (theotes) leibhaftig."

[b) Der ,tetragrammatische" Name des „Göttlichen” in Thomas, Summa Theologiae 1.13.11.1:] „AD PRIMUM ergo dicendum quod hoc nomen est est magis proprium nomen Dei quam hoc nomen Deus, quantum

ad id a quo

imponitur,

scilicet

ab

esse,

et quantum

ad modum significandi et consignificandi, ut dictum est.

sed quantum ad id ad quod imponitur nomen ad significandum, est magis proprium hoc nomen Deus, quod im-

ponitur

ad

significandum

naturam

divinam.

Et adhuc

magis proprium nomen Tetragrammaton, quod est impositum ad significandam ipsam Dei substantiam incommunicabilem,

„Zu Name

1. ‚Der Gottes

et, ut sic liceat loqui,

Seiende

ist in höherem

als der Name

singularem."

Maße

,Gott', wenn

eigentlicher

wir darauf

ach-

ten, woher dieser Name gekommen ist (vgl. Art. 8), nämlich vom Sein; aber auch in Anbetracht seiner Bedeutung und des in ihm Mitbezeichneten (vgl. oben). Wenn wir aber darauf sehen, wozu der Name gebraucht wird, so ist ‚Gott’ der eigentlichere Name, da er die göttliche Natur bezeichnen soll; in noch höherem Grade eigentlicher Gottesname ist freilich das Tetragrammaton; denn es soll die unmittelbare und sozusagen einzigartige (ein-

malige) Wesenheit Gottes selbst bezeichnen.“ (Die Deut-

sche Thomas-Ausgabe, vollständige, ungekürzte deutschlateinische Ausgabe der Summa Theologiae, übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und

Österreichs,

Bd.

1, S. 303,

Verlag

Koln 1982)

204

Styria,

Graz/Wien/

Anmerkungen Menschheit und Geschichte 1

Siehe

Max

Pohlenz,

Die

Stoa,

2 Bde.,

Göttingen

1948,

unter

dem Stichwort theologia tripertita. Zur Theologie des Poseidonius und zum Moses-Fragment siehe Pohlenz, Stoa und Stoiker, Zürich

1950, S. 266 f., 341 f.; deutscher Text nach Kon-

stantin Rösch, München 1967 (Anmerkung des Übersetzers). 2 Zur Paulinischen Konzeption von Geschichte und Menschheit siehe Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1948, S. 258—266. 3 Zur jüdischen Theologie der Sünde und Erlósung siehe Hans Joachim Schoeps, Aus frühchristlicher Zeit, Tübingen 1950, 5.184—211. 4

Augustinus,

Civitas Dei, IV, 27.

9 Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 12. 6 Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, hrsg. von Brunstád, Leipzig (Reclam 1961), S. 440. Das Zitat ist bei Brunstád gesperrt gedruckt; (der Übers.) 7 Ibid., S. 42 f. 8 Uber die Beziehung zwischen indischer und hegelianischer Spekulation siehe Georg Misch, The Dawn of Philosophy, Cambridge, Mass. 1951, unter dem Stichwort Hegel. Hegel selbst war sich des Problems der „orientalischen“ Spekulation bewußt, aber er zog es vor, den Unterschied zwischen Akosmismus und Immantismus stärker zu betonen als die Ähnlichkeit der Gnosis. Siehe Hegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, insbes. das Kapitel über Spinoza. 9

J.-P.

Abel-Remusat,

Lao-Tseu,

in:

„Memoire

Académie

des

sur

la vie

Inscriptions

et les et

opinions

de

Belles-Lettres,

VII, Paris 1824, S. 1—54.

10 Zuerst erschienen in E. von Lasaulx, Neuer Versuch einer Philosophie der Geschichte, München 1856. Siehe Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949, S. 28.

205

11 Jaspers, Ursprung, S. 18—20. 12 Arnold J. Toynbee, A Study of History, S. 420—426. 13 Ibid., I, S. 46. 14 Ibid., VII, S. 423 und S. 499. 15 Jaspers, Ursprung, S. 19. 16 Toynbee, Study, VII, S. 494—4995. 17 Clemens von Alexandrien, Stromateis, VI.

VII,

London

1954,

Aquivalenz von Erfahrungen und oymbolen in der Geschichte

„a reflective inquiry" — die geläufigen deutschen Ausdrücke ,reflexiv"

oder

,reflektierend"

sind zu spezifisch, um

den Ge-

danken auszudrücken, der für diesen Text zentral ist, nämlich eine

Suche,

Suche,

zum

die

sich

selbst,

Gegenstand

bzw.

hat,

und

die die

früheren sich

Phasen

insofern

dieser auf

sich

selbst zurückwendet. Deshalb wurde für die Übersetzung der Neologismus ,reflektiv" gewählt. (Anm. d. Ub.) Verdunkelung, Verfinsterung (Anm. d. Ub.) „What is constant in the history of mankind..." in der Fassung

des Erstdrucks

1970,

S. 220;

der Nachdruck

von

1981

hat

„What is constant is the history of mankind", S. 92. Dabei kann es sich nur um einen Druckfehler handeln. (Anm. d. Ub.) ,luminous to itself" — die Übersetzung folgt hier und später der Sprechweise Voegelins in seinen deutschen Veröffentlichungen (z. B. Anamnesis S. 293 ff.). Dort wird der Sachverhalt, den er hier und anderswo englisch als luminous bzw. luminosity bezeichnet, je nach sachlichem oder auch syntaktischem Zusammenhang

entweder

durch

,hell",

,Helle",

„Bewußt-

seinshelle" oder mit ,durchsichtig" bzw. ,Durchsichtigkeit" ausgedrückt. (Anm. d. Üb.) „pre-Socratic intimations" in der Fassung des Erstdrucks von 1970 (5. 224); ,Socratic intimations" im Nachdruck von 1981 (S. 96) kann nur ein Druckfehler sein (Anm. d. Üb.). ,augmentation of meaning"; Ausgangspunkt der Formulierung ist wohl Heraklit B 115 psyches esti logos heouton auxon,

206

dessen ,logos" mit ,meaning" wiedergegeben wird (Anm. d. Üb.). In der Fassung von 1981 fehlt der Halbsatz „und der Bezie-

hungen zwischen ihnen" (Anm. d. Üb.).

ein Lebewesen, das mit Seele und Vernunft Platon Tim. 30 b-c (Anm. d. Üb.). ,dluminosity"; vgl. Anm. 4 (Anm. d. Üb.)

ausgestattet ist;

Vernunft — Die Erfahrung der klassischen Philosophen „humanity”; Voegelin verwendet nebeneinander humanity, man's nature (z.B. S. 92, 1978), man's humanity (S. 89, 1978), und human nature (S. 90, 1978). (Anm. d. Ub.) In den beiden englischen Fassungen ist psyche teils (als griechisches Wort) kursiv gesetzt, teils ohne Kursivdruck, wobei allerdings die beiden Fassungen im einzelnen in dieser Unterscheidung nicht übereinstimmen. In der Übersetzung wurde, wo immer das griechische Wort gemeint sein kann, statt ,oeele" psyche verwendet. Zur Bedeutung von psyche vgl. S. 111 in diesem Band (Anm. d. Ub.). ,meaning"; Anamnesis (1966) spricht Voegelin in ähnlichem Zusammenhang von „Richtung“ (S. 273) oder von ,Sinnhaftigkeit" (S. 270). (Anm. d. Üb.)

cod OO οἱ

Tusculanae Disputationes IV, 23—32.

Arnim,

Stoicorum

Vete-

rum Fragmenta III, pp. 103—109. SVF III, p. 125, 20—21. Tusculanae Disputationes IV, 27. SVF III, p. 103, 10—17. SVF III, no. 663.

Für diese sachlich komplizierte Kontroverse vgl. Max Pohlenz, Die Stoa (1947) I, pp. 141—147. Die Aufzählung bezieht sich auf wohlbekannte Quellen: Hobbes, Leviathan; Hegel, Phänomenologie; Marx, Nationalókonomie

und Philosophie

Zukunft

einer

Illusion;

phvsik;

Sartre,

L'Etre

(Pariser Manuskripte

Heidegger, et

le

Neant;

Sauvage.

207

1844); Freud, Die

Einführung

in die Meta-

Lévi-Strauss,

La

Pensée

10

,in-between";

in den Texten,

aus

denen

Voegelin

diesen

Be-

griff entwickelt, ist metaxy als Präposition verwendet (Platon, Symp.

11

202 a9 und

202 el, Platon,

Philebos

16 6). Auch

Anam-

nesis (1966) S. 271 spricht Voegelin von „jenem ‚Zwischen‘, dem Platonischen metaxy“. (Anm. d. Ubs.) Schiller, Was heiBt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte

(1789), letzter Absatz.

Kant, Idee zu einer allge-

meinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). 12

,Flectere

si

nequeo

superos,

Acheronta

movebo"

ist

das

Motto von Freuds Traumdeutung.

Quod Deus Dicitur Dies letzte Werk Eric Voegelins wáre ohne die verstándnisvolle Hingabe Paul Caringellas nie zu Papier gelangt: Er schrieb

unter

traurigsten

Umständen

nieder,

was

eine

kaum

vernehmbare Stimme diktierte. Dafür wollte mein Mann ihm mit der Widmung dieses Werkes danken; unglücklicherweise traten Schicksal und Tod dazwischen und hinderten ihn, zu tun, was

er so sehr wollte.

Gedanken und

Aber

da mir

sein Herz

und

seine

so wohlvertraut sind, kann nun ich für ihn sprechen

unserem

Freund

Paul

für

die

Liebe

danken,

die

er uns

gegeben hat, seit wir ihn kennen.

Lissy Voegelin Dem Abdruck des Vortrags „Quod Deus dicitur" im „Journal of the American Academy of Religion" stellte dessen Herausgeber ein kurzes Vorwort voran, dessen wichtigste Teile im folgenden wiedergegeben werden: , Als ich Professor Voegelin zu einer Festansprache zur 75sten Jubiláumsversammlung der American Academy of Religion einlud, sagte er aufgrund seines labilen Gesundheitszustands nur widerstrebend und mit einigem Zögern zu. Als offenkundig wurde,

daf

er nicht

teilnehmen

konnte,

bat ich ihn nach-

drücklich, seine Ansprache zur Veróffentlichung vorzubereiten. Von seiner Frau Lissy und seinem Freund und Assistenten Paul

senen

Caringella

Natur

bis

erfuhr ich, daß

zuletzt

treu

208

er seiner eisern entschlos-

blieb

und

das

Krankenhaus

verließ,

um

zu

Hause

zu

sterben

und

um

sein

letztes

Werk

zu Ende zu führen. Das erste und letzte Werk Eric Voegelins war, wie für Platon, der Aufstieg der Seele zu Gott. Caringella schrieb zu diesen Seiten: „Eric Voegelin begann am 2. Januar 1985

‚Quod

Deus

Dicitur ' zu diktieren,

einen

Tag

vor

seinem

84sten Geburtstag. Er überarbeitete die letzten Seiten am 16. Januar; weitere Überarbeitungen erfolgten am 17. und Nachmittag des 18. Januar, sein letzter Tag vor seinem Tode am Samstag, den 19., gegen acht Uhr morgens. Als er beim Diktieren zum Gebet des Anselm kam, fügte Voegelin vorsorglich passende Seiten aus einem früheren Manuskript mit geringfügigen Anpassungen ein. Auf gleiche Weise fügte er zu Beginn von Abschnitt 5 einen Absatz aus seiner ‚Response to Professor Altizer' (JAAR 43:1975, S. 77 f.) ein. Seine Diskussion der Theogonie von Hesiod und des Timaeus von Platon auf den letzten Seiten sowie im vorgesehenen Schluß beruhen auf der vollständigen Analyse auf den letzten gut dreißig Seiten des unvollendet gebliebenen fünften und letzten Bandes seines Werkes Order and History. Voegelin hatte davon gesprochen, drei oder vier weitere Seiten zu diktieren (was für gewöhnlich sieben oder acht Manuskriptseiten habe

hieß),

die fünf Texte,

um

die

Arbeit

die er besprechen

abzuschließen.

Ich

wollte, miteinbezogen,

weil sie in die Richtung wiesen, die er einschlagen wollte.” Die Angaben in Klammern gegen Ende des Aufsatzes enthalten Bemerkungen von Paul Caringella über die Richtung, die Voegelin dem Kommentar zu jedem der fünf Texte zu geben beabsichtigte.

209

Bibliographische Nachweise Bei den ersten drei Arbeiten handelt es sich um das Vorwort und die Einleitungen zu den ersten beiden Bánden von

Order

and

History;

sie

wurden

1980

anläßlich

des

80. Geburtstags Voegelins von mir ins Deutsche übersetzt und von Voegelin selbst korrigiert. Veröffentlichungen erschienen

in

den

Politischen

Studien,

Jg. 32,

(1981),

H.

1,

9. 13-23 bzw. H. 3, S. 231-36 und in der Zeitschrift für Poli-

lik, J. 28, (1981), H. 2, S. 150-68. (Übersetzt von Peter J. Opitz) „Die Größe Max Webers.” Es handelt sich hierbei um einen bislang unveröffentlichten Vortrag, den Voegelin im Rahmen der Max-Weber-Feier der Ludwig-MaximiliansUniversität zum 100. Geburtstag von Max Weber am 23.6. 1964 hielt. Der erste Teil des Vortrages wurde von Voegelin später selbst gründlich überarbeitet und für eine Veröffentlichung vorbereitet. Der zweite Teil wurde auf der Grundlage eines Tonbandmitschnitts von mir rekonstruiert. Um möglichst viel von seinem ursprünglichen Charakter zu bewahren, habe ich mich im wesentlichen auf eine stilistische Glättung und Straffung des Textes beschränkt. „Aquivalenzen von Erfahrung und Symbolisierung in der Geschichte" erschien erstmals auf Englisch und Italienisch in Eternitá e Storia: I valori permanenti nel divenire Storico (Florenz, Vallecchi,

überarbeiteten

Fassung

National University nachgedruckt.

of

1970), und wurde

in den Philosophical Ireland,

Jg. 28,

in einer leicht

Studies

(1981),

der

5. 88-104

(Übersetzt von Helmut Winterholler)

210

„Vernunft - die Erfahrung der klassischen Philosophen" erschien

erstmals

in

(1974), H. 2, 237-64; sung

von

der

Southern

er wurde

Anamnesis

(1978),

Review,

N.S.,

Jg.

später in die englische S. 89-115

aufgenommen

10,

Fasund

1979 ins Italienische übersetzt in Trascendenza e Gnosticis-

mo

in Eric Voegelin,

hrsg.

von

Giuliano

Borghi,

Rome,

5. 41-93. (Übersetzt von Helmut Winterholler) „Der meditative Ursprung philosophischen Ordnungswissens". Es handelt sich hierbei um die genehmigte Nachschrift der Tonband-Aufnahme eines Vortrages auf dem wissenschaftlichen Symposium „Philosophie heute" vom 22.-24. September 1980 in Tutzing. Der Vortrag erschien in der Zeitschrift für Politik, Jg. 28, (1981), H. 2, S. 130-37. Eine englische

Übersetzung

findet

sich

im

Lawrence,

The Beginning and the Beyond, Chico/Cal.

F.,

(ed).

1984, S. 43-51.

Bei ,Quod Deus Dicitur" handelt sich um die letzte Arbeit Voegelins, wáhrend deren Fertigstellung er verstarb; sie wurde im Journal of the American Academy oí Religion, Jg. 53, (1985), H. 3, S. 569-84

veröffentlicht.

(Übersetzt von Peter J. Opitz in Zusammenarbeit mit Petra Nagelschmidt und William Petropoulos) „In

um im der ten

Memoriam

Eric

Voegelin".

Es

handelt

sich

hierbei

die Rede, die ich anläßlich des Todes von Eric Voegelin, Rahmen der von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät Ludwig-Maximilians-Universitát München veranstalteGedenkfeier am 26. 6. 1985 hielt. Peter J. Opitz

211

I1

In Memoriam Eric Voegelin Von

Selbst nachdem waren

viele von

Peter

J. Opitz

Eric Voegelin schon schwer erkrankt war, denen,

die ihn näher

kannten,

fest davon

überzeugt, daß er nicht sterben würde, bevor er den fünften Band seines magnum opus Order and History abgeschlossen hatte. Denn auch als seine Kräfte nachließen, schien die Konzentration, mit der er seit gearbeitet

hatte,

der

die

Jahren an diesem Schlußband

Summe

seiner

neugewonnenen

Einsichten enthalten sollte, ungebrochen. Doch die Prognose erwies sich als falsch. Am 19. Januar 1985 starb Eric

Voegelin

im Alter von 84 Jahren in Stanford/Calif.,

wo-

hin er sich nach seiner Emeritierung im Jahre 1969 zurückgezogen hatte. Auf einer Reise nach Israel, in jenes Land also, mit dessen geistiger Tradition der erste Band von Order and History einsetzt, hatte er sich eine Krankheit zugezogen, von deren Folgen er sich nicht mehr erholen sollte.

Als 1956/57 die ersten drei Bände von Order and History

bei der Louisiana State University Press erschienen, hatte Voegelin - geographisch wie geistig — schon einen weiten Weg zurückgelegt. 1939 war er aus Wien, wo er zuerst Assistent von Hans Kelsen, spáter Privatdozent gewesen war, vor den Nazis geflohen und über die Schweiz in die USA emigriert. Dort war er nach mehreren Zwischenstationen — u. a. an der Harvard University — schließlich an die Louisiana State University berufen worden. — Doch auch geistig schien Voegelin sich von den Themen der Wiener Zeit inzwischen weit entfernt zu haben. Jedenfalls ließen

die in den Anfangsbánden

von Order and History vorge-

legten Untersuchungen zum Ordnungsverstándnis der kosmologischen Reiche des Nahen Ostens, des alten Israel und

der Welt der griechischen Polis auf den ersten Blick keinen 215

Zusammenhang mit den Titeln seiner noch in Europa veröffentlichten Bücher erkennen. Doch dieser Schein trog. Schon Rasse und Staat (1933), das

erste Buch,

das

des amerikanischen

seiner

Studie

von

1928

Über

die Form

Geistes folgte, bringt klar die Über-

zeugung zum Ausdruck, zu der Voegelin inzwischen gelangt war: daß die Probleme menschlicher und gesellschaftlicher Ordnung nicht adäquat im Rahmen der traditionellen

Staatslehre

und

eines

dogmatischen

Naturrechtsdenkens

— wie Kelsen es vertrat — behandelt werden war,

so

zeigte

sich es ihm,

nur

auf der

konnten. Dies

Ebene

einer philo-

sophischen Anthropologie möglich, die den „menschlichen Grunderlebnissen" gerecht wurde, die Staat und positivem

Recht zugrunde

liegen. Die neugewonnene

Einsicht,

„daß

die Wurzeln des Staates im Wesen des Menschen zu suchen seien" waren für sein Denken von zentraler Bedeutung;

sie

gab ihm jene grundlegende anthropologische Wendung, die sein Werk bis zum Schluß einhalten sollte. Sie zeigt sich schon in seinen folgenden Arbeiten: Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus (1933), Der Autoritäre Staat (1936), besonders deutlich jedoch in der kleinen Schrift. Die politischen Religionen von 1938 — eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der geistigen Tradition, in der Voegelin ihn sah. Wie er zuvor die Wurzeln des Staates im Wesen des Menschen gefunden hatte, so fand er im menschlichen Wesen nun auch die religiósen Wurzeln des Nationalsozialismus. Denn im Gegensatz zu dessen meisten Kritikern, sah er diesen nicht nur als moralisches und politisches Skandalon, über das man sich empóren konnte, sondern vor

allem als eine religiöse Erscheinung. , Religiós" freilich nicht im Sinne der alten Religionen, für die das Góttliche jenseits der Welt liegt, sondern ,religiós" im Sinne jener seit dem

Mittelalter in die Offentlichkeit drángenden Bewegungen,

die das Göttliche in , Teilinhalten der Welt finden", und in denen

er daher,

auch wenn

sie sich atheistisch

216

gebárdeten,

innerweltliche Religionen sah. Diese innerweltliche Religiosität aber sah er in ihrem Wesen als „Abfall von Gott" eine Haltung, die nur, wenn sie als solche erkannt wurde, angemessen bekámpft werden konnte. In den Arbeiten Voegelins kommt nun jenes existentielle Engagement zum Durchbruch, das nicht nur die Leser seiner Schriften faszinierte und seine Hörer an den Universitäten in Bann schlug, son-

dern das letztlich auch die Quelle seines eigenen unermüd-

lichen Schaffens darstellt. Der bios theoretikos des Wissenschaftlers stellt für ihn kein Leben der Muße dar; Wissenschaft selbst ist keine bloße intellektuelle Beschäftigung, sondern Teil des Kampfes um die Wahrheit der menschlichen Existenz und die sie begründende, doch auch ebenso von ihr bedingte Existenz der Wahrheit. Eine offene Kampfansage stellte denn auch seine nächste Schrift

dar,

die Voegelin

in den

USA

weit über

den

Kreis

der Fachwelt hinaus bekannt machen sollte — die 1952 erschienene New Science οἱ Politics. Die Erkenntnis nämlich,

die schon in den Politischen Religionen „Sakularisierung

des

Lebens,

mit sich führte, eben der Boden

welche

anklang,

daß die

die Humanitätsidee

ist, auf dem

anti-christliche

religiöse Bewegungen wie der Nationalsozialismus erst aufwachsen konnten", wird hier in einer prägnanten geistesgeschichtlichen Skizze ausgeführt, die Michael Oakeshott in seiner berühmten Rezension des Buches im Times Literary Supplement „one of the most enlightened essays on the character of European politics that has appeared for half a century"

nannte.

Aufklärung,

Humanismus,

Libera-

lismus, Positivismus und andere die Neuzeit bestimmende Bewegungen enthüllen sich unter seinem analytischen Blick als Momente eines geistigen Zusammenhangs, der sich durch die neuere Geschichte Europas zieht und in den totalitären Bewegungen der Gegenwart seinen politischen Ausdruck findet. „Gnostizismus” - die sie alle verbindende

Haltung weltimmanenter Selbstlösung - wird für Voegelin zum Signum und Wesen der Moderne. 217

Der Beifall, den seine Analyse des Nationalsozialismus ausgelöst hatte, schlug nun um in die Entrüstung derer — vor allem der aufgeklärten ,modernen" Intellektuellen -, die sich zu Unrecht angegriffen fühlten. Und ihre Zahl war groß, vor allem in der eigenen Zunft. Für die meisten von ihnen wurde Voegelin zum „Konservativen”, mit dem man sich somit nicht weiter zu befassen brauchte. Diesem Verdikt kam entgegen, daß Voegelin bei der Grundlegung seiner „neuen Wissenschaft der Politik” nicht nur auf das

Christentum zurückgegriffen

hatte, sondern

auch auf die

platonisch-aristotelische Gründung der episteme politike, in der er einen ersten gelungenen Entwurf einer Anthropologie sah, die dem Wesen des Menschen und seiner Teilhabe an allen Seinsbereichen gerecht wurde. Daß sie für ihn lediglich ein Anfang war, auf den man sich wieder besinnen und an dem man anknüpfen mußte, über den man aber natürlich hinauszugehen hatte, wurde in der selbstgerechten Entrüstung weitgehend übersehen. Das Verdikt war gesprochen, und Voegelin gelang es nur schwer, sich von diesen Mißverständnissen zu befreien. Das Programm, das Voegelin in der New Science nur knapp skizziert hatte, sollte in der ursprünglich auf sechs Bände angelegten Order and History im einzelnen ausgeführt werden. Sie sollten die geistigen Fundamente freilegen,

auf denen

die abendländische

Kultur

basierte,

aber

auch die Krise, in die sie schließlich geraten war. Sie sollten dem Gang und der Geschichte des Geistes nachspüren, aber damit zugleich auch dem Geist der Geschichte selbst folgen. Denn, so Voegelin im einleitenden Vorwort, „die Erforschung der Typen der Ordnung und ihrer symbolischen Formen wird zur selben Zeit eine Erforschung der

Ordnung

der Geschichte

sein, die aus ihrer Aufeinander-

folge emporsteigt". Die Nähe zu Hegel, dessen „imperatorischen weltordnenden Verstand" er schon früher bewundert hatte, ist deutlich spürbar. Doch die Bewunderung ist

ambivalent, das Gefühl für ihn gebrochen. Denn in Hegel 218

sieht Voegelin nicht nur den Denker, der „den Stoff der Geschichte in die Offenbarung des Geistes, zwang, sondern zugleich auch denjenigen, der in seiner Philosophie der Geschichte „den Logos der Offenbarung auf den Logos der Philosophie und diesen wiederum auf die Dialektik des Bewußtseins” reduziert hatte und damit dem Trugschluß erlegen

war,

„das

Bewußtsein

von

einem

sich

entfaltenden

Mysterium des Geistes in die Gnosis von einem Fortschritt in der Zeit" verwandeln zu können. Hegel wird der große Gegenspieler bleiben, der Antipode, dem er später noch einmal eine eigene, eigenwillige Studie widmet -- mit dem bezeichnenden Titel On Hegel - a Study in Sorcery (1971). Zu dieser Zeit aber hatte Voegelin den ursprünglichen Plan eines linear sich entwickelnden Ordnungsverständnisses, der Order and History zugrundegelegen hatte, wohl schon aufgegeben - vielleicht auch wegen der Nähe zu Hegel und Co., in die er dabei

geriet. Im vierten Band

von

Order

and

History jedenfalls, der schließlich 1974 nach langer Verzögerung unter dem Titel The Ecumenic Age erschien, war an die Stelle des linearen Prozesses ein komplexes Geflecht

von Bedeutungslinien nicht an den Wenn fast dritten und nicht allein

in der Geschichte getreten, die sich

Zeitlinien orientierten. zwei Jahrzehnte zwischen dem Erscheinen des vierten Bandes lagen, so war dies allerdings auf die theoretischen Schwierigkeiten zurück-

zuführen, die sich dem Unternehmen in den Weg

hatten. versität

gestellt

1958 war Voegelin, einem Ruf an die Münchner Unifolgend,

wieder

nach

Deutschland

Der Anfang gestaltete sich mühsam.

zurückgekehrt.

Nichts war vorhanden,

auf dem aufgebaut werden konnte — und es sollte noch einige Jahre dauern, bis das von ihm gegründete Institut für politische Wissenschaft durch weitere Berufungen ausgebaut und Voegelin selbst entlastet wurde. Eine Bibliothek, die internationalen Standards

entsprach,

fehlte ebenso

wie

wissenschaftliches Personal, das seinen Ansprüchen gerecht

wurde,

anfangs

auch Studenten für das unbekannte 219

neue

Fach,

für das

es noch

keine

eingefahrene

Berufs- und

Kar-

rierebahnen gab und das viele Studenten -- und wohl auch einige Kollegen - deshalb mit offenem Mißtrauen betrachteten. Doch das Miftrauen verwandelte sich bald in Interesse. Denn die Antrittsvorlesung Voegelins über das Thema „Wissenschaft,

Politik

und

Gnosis",

eine kompromiß-

und

schonungslose Abrechnung mit Hegel, Marx und Nietzsche, hatte Aufsehen erregt; seine offene, polemische Sprache, seine Streitbarkeit und Kompromißlosigkeit im Grundsátzlichen bei Teilen der Hörer Fassungslosigkeit ausgelöst. Diesen Ton war man nicht gewöhnt. Schon nach wenigen Semestern waren Voegelins Vorlesungen überfüllt. Doch es waren nicht nur seine analytische Schärfe und sein enzyklopádisches Wissen, das die Hórer anzog, auch nicht seine rhetorische Brillanz und die átzende Polemik, die auch nicht vor hohen Reprásentanten von Universitáten, Kirchen und der Politik halt machte. Es war wohl vor allem das existentielle Engagement Voegelins, das betroffen machte — auch die zahlreichen Hörer, die nicht das neue Fach studierten. Hier wurde keine ,Demokratiewissenschaft" vermittelt, auch kein totes antiquarisches Wissen, wie manche argwóhnt hatten, sondern Probleme behandelt, die jeden angingen. Hier wurde nicht flachbrüstige Zeitgeschichte be-

trieben, sondern die Ereignisse und Entwicklungen der Zeit an Maßstäben

gemessen,

setzt

sondern

wurden,

die nicht einfach dogmatisch deren

historische

Entstehung

geund

theoretische Valenz gerade den Mittelpunkt dieser ,neuen Wissenschaft von der Politik" bildeten. Noch Jahre spáter erinnerte man sich an Vorlesungen wie jene über die sog. „Spiegel-Affäre”, vor allem aber an „Hitler und die Deutschen" und „Die deutsche Universität im Dritten Reich". Als Voegelin nach seiner Emeritierung nach Amerika zurückkehrte, war das von ihm gegründete Institut zum größten seiner Art in der Bundesrepublik herangewachsen. Er

hätte stolz darauf sein können -- und war doch eher depri220

miert.

Denn

vieles

war

anders

gelaufen,

als

er

es

zehn

Jahre zuvor geplant hatte — inhaltlich, aber auch organisatorisch. Ein theoretisches Zentrum, wie er es sich vorgestellt hatte, das auf interdisziplinärer Basis die relevanten theoretischen und praktischen Probleme der politischen und historischen Existenz des Menschen durcharbeitete und dabei dem internationalen Forschungsstand gerecht wurde, war es jedenfalls nicht geworden. Dazu war der , Personenverband",

wie

er das

inzwischen

am

Institut versammelte

Kollegium gelegentlich ironisch nannte, zu heterogen. Und organisatorisch? Statt neuer, sachgerechter Strukturen nach dem Vorbild amerikanischer Political-Science-Departments, in denen sich die Vertreter der verschiedenen Disziplinen trafen und geistig austauschten, hatte er die Rückbildung der ersten von ihm initiierten Ansátze nach dem Muster der traditionellen Ordinarien-Universitát erlebt. Memoranden an das Kultusministerium waren wirkungslos geblieben. Die Enttäuschung schlug schließlich in Verbitterung um. Das Institut wurde ihm fremd - er selbst in ihm zunehmend zum Fremden. „Die Erziehung junger Menschen”,

so schreibt

er später

aus

Kalifornien

während

der

Querelen über seine Nachfolge, „war der wichtigste und erfreulichste Teil meiner Tätigkeit in München“. Daß es ihm nicht einmal möglich war, einen seiner eigenen Schüler als Nachfolger auf seinen Lehrstuhl zu bringen, traf ihn sehr; die spätere Umwandlung dieses Lehrstuhls in eine internationale Gastprofessur war eine Geste der Wiedergutmachung. Ob sie versöhnte? Vielleicht -- der Groll saß tief.

Doch der Entschluß zur Rückkehr in die Vereinigten Staaten hatte auch politische Gründe, Hintergründe. Denn

Voegelin sah Deutschland nicht nur noch immer tief in den braunen Schatten seiner jüngsten Vergangenheit, für deren mangelnde Bewältigung die Zeitungen täglich neue Belege

lieferten. In den ausgehenden

60er Jahren hatten zudem

die ersten Ausläufer der neomarxistischen Renaissance, der

Studentenbewegung,

der Anti-Vietnam-Demonstrationen 221

die Bundesrepublik erfaßt. 1969, unmittelbar vor der Abreise, finden sich in einem letzten Interview an eine Münchner Tageszeitung die bitterbösen Worte von den „sitzengebliebenen Dummköpfen der Tradition und den apokalyptischen Dummköpfen der Revolution", die es schwer machen,

in

Deutschland

frei

zu

arbeiten.

Der

Abschied

fiel

leicht. Wenn der Aufbau des Münchener Instituts und die Lehrverpflichtungen die eigene Forschung auch nicht gerade beflügelten, schien

ein

so lähmten neues

Werk,

sie diese doch ein

auch

Sammelband

nicht.

unter

1966

dem

er-

Titel

Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik. Gleich die ersten

Sätze

markieren

den

Punkt,

der

in seinem

Zen-

trum steht: „Die Probleme menschlicher Ordnung in der Ge-

sellschaft und Geschichte entspringen der Ordnung des Bewußtseins. Die Philosophie des Bewußtseins ist daher das Kernstück einer Philosophie der Politik”. Im Entwurf einer tragfähigen Philosophie des Bewußtseins sieht Voegelin von nun an seine Hauptaufgabe; noch seine letzte größere Schrift Wisdom and the Magic of the Extreme ist ihr gewidmet. Die Einsicht war nicht neu, sondern ergab sich folgerichtig aus der Weiterentwicklung seines bisherigen Ansatzes; sie mußte lediglich zu größerer Klarheit gebracht werden. Denn wenn den Entwürfen individueller und gesellschaftlicher Ordnung „Erfahrungen“ zugrunde liegen, die Einblick in die Stufen und Strukturen der Realität vermitteln, so mußte sich die Analyse von Ordnungsproblemen letztlich auf jenen Ort konzentrieren, an dem jene ,Erfahrungen" auftreten, faßbar werden - auf das menschliche Bewußtsein, auf seine Strukturen, seine Ordnung. „Die Ordnung des Bewuftseins" lautet denn auch der Titel des dritten Teils von Anamnesis, der nur eine einzige Studie enthält, das erheblich ausgearbeitete

Grundsatzreferat,

das Voegelin im Juni 1965 in Tutzing auf der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft gehalten hatte: Was ist politische Realität? 222

Thema

war jedoch nicht nur die Ordnung

des Bewußt-

seins, sondern auch dessen Unordnung. Denn die Ordnung des Bewußtseins schließt — wie schon Platon in der Politeia gezeigt hatte — die Gefahr seiner Unordnung mit ein. Als Ursachen solcher Unordnung aber sah Voegelin weniger

die Unfähigkeit des Menschen,

jene Ordnung

konstituie-

renden ,Erfahrungen" zu machen, auszulegen oder nachzuvollziehen, als die Unwilligkeit, dies zu tun. Die mutwillige Verschließung gegenüber transzendentem Sein und den Bewegungen, die von ihm ausgehen, die moderne westliche Verweigerung,

seine Existenz

anzuerkennen,

und

die

sie begleitende Verkürzung der Realität auf ihre materielle Hülle erschienen ihm deshalb als die eigentlichen Wurzeln des Übels - der Sünde gegen den Geist und gegen Gott. Oder auch umgekehrt: denn dem Verlust der Transzendenz folgt der Verfall der Humanität. Solange der Mensch am Göttlichen partizipiert, ist er - zumindest theoretisch — gegen seine Verdinglichung und Versachlichung geschützt. Denn jeder Angriff auf den Menschen wird zum Angriff auf Gott. Ist diese Teilhabe aber nicht mehr vorhanden, dann wird er schnell zur verfügbaren Sache. Dann gilt Dostojewskis Satz: Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt. Dann fällt die Scheu und die Scham: der Mensch wird zur , Maschine" bzw. zu einer Ansammlung von Molekülen und Atomen, frei zur Manipulation durch Politik und Wissenschaft. Dem Menschenmord der Moderne geht deshalb bezeichnenderweise der Gottesmord voraus; und der Vergóttlichung des Menschen im Rahmen einer innerweltlichen Apokalypse, wie sie spekulativ von den Denkern des 19. Jahrhunderts vorgenommen wurde, entspricht ebenso konsequent seine Ent-Menschlichung. Die Wiedergewinnung der Menschlichkeit — und damit auch die Herstellung einer gesellschaftlichen Ordnung, die ihre Erhaltung ermöglicht - verlangte deshalb für Voegelin als notwendiges Korrelat die Beseitigung jener existentiel-

len Verschließung

und die Wiederherstellung 223

der Offen-

heit des Menschen gegenüber jenen Erfahrungen transzendenten Seins, die ursprünglich seine Göttlichkeit im Sinne der Teilhabe am göttlichen nous bzw. seine Gottesebenbildlichkeit im christlichen Verständnis begründet hatten. Die Philosophie des Bewußtseins ist bei Voegelin somit eng verknüpft mit der Suche nach Gott, was ihn in einer Zivilisation, die in der Nachfolge Comtes stolz darauf ist, die „theologische Phase” der Menschheitsentwicklung über-

wunden zu haben, verdächtig machen mußte. Vielleicht sogar unheimlich — vor allem in einer Wissenschaft wie der Politischen, deren Wurzeln zu ihren philosophischen Ursprüngen dünn und dürr geworden sind und deren Vertreter sich in ihrer Mehrzahl von den großen bewegenden Prinzipienfragen abgewendet haben und sich mit einer arbeitsteilig organisierten und auf zunehmende Spezialisierung abgestellten Erforschung der Phänomene der politischen Alltagswelt begnügen. Es ist somit kein Wunder, daß der Dialog mit ihnen im Laufe der Jahre seltener wurde und daß es vor allem die Philosophen und Theologen sind, die sich immer intensiver mit Voegelin auseinandersetzen. Bezeichnenderweise war es ein Manuskript für einen Vortrag vor der „American Academy of Religion”, an dem

Voegelin noch am Tage vor seinem Tode arbeitete: „Quod

Deus Dicitur” -- der Titel weist zurück auf das augustinische Motto, unter das er Jahre zuvor Order and History gestellt hatte: „In consideratione creaturarum non est vana et peritura curiositas exercenda;

sed gradus

ad immortalia

et

semper manentia faciendus." Die zunehmend stárkere Hinwendung Voegelins zu Problemen, die man gemeinhin als ,religiós" etikettiert, ist unbestreitbar. Und doch trügt der Eindruck, daß er sich im Laufe der Zeit immer mehr vom Bereich des Politischen entfernt habe;

dieser wird

selbst in den letzten Schriften noch

umfangreich behandelt. Nur sind die Perspektiven weiter geworden, in denen Voegelin Politik sieht. Ein Vergleich

drängt sich auf, oder besser: ein Symbol: In gewissem Sinne 224

ähnelte er jenem Menschen, den Platon in seinem Höhlengleichnis beschrieb und auf dessen Schicksal Voegelin

immer wieder zu sprechen kam. Auch bei ihm begann das Philosophieren der Wand,

mit dem

Unbehagen

an den

Symbolen

an

deren Leerheit er früh durchschaute; und auch er

wandte sich daher um und begann den mühsamen

Aufstieg

aus der Höhle, empor zur Quelle der Ordnung. Doch wie

jener, so wußte auch er, daß er die Höhle letztlich nicht verlassen konnte - oder eben doch erst zum Schluß, im Tode und daß ihm das Wissen, das er bei diesem Aufstieg gewonnen hatte, Verantwortung für das Schicksal jener auferlegte, die in der Tiefe der Höhle zurückgeblieben waren. In seiner Meditation Weisheit und die Magie des Extrems gibt er von diesem Gefühl der Verantwortung Rechenschaft. Auch der Philosoph darf nicht der Faszination des Extremen

erliegen,

sondern

muß

sich

der

Vielfalt

der

Be-

reiche, in die menschliche Existenz eingebettet ist und auch

bleibt, bewußt sein. Oder besser - und abschließend — mit seinen eigenen Worten: „DieErfahrungen der Partizipation an den verschiedenen Bereichen der Realität bilden den Horizont der Existenz in der Welt. Die Betonung liegt auf dem Plural ‚Realitätserfahrungen‘, gegenüber allen offen zu sein und sie in Balance zu halten. Das ist es, was

ich un-

ter

das

einer

philosophischen

Haltung

verstehe,

und

ist

auch die Haltung, die ich in der offenen Existenz aller gro-

Den Philosophen fand. Diese Offenheit gegenüber der Realität wiederzugewinnen, erschien mir immer tigste Aufgabe der Philosophie.“

225

als die wich-

Bibliographie der Schriften von Eric Voegelin Von Peter J. Opitz

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1956

1957 1957

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1959

(11)

1959

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Ber-

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226

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hof; mit einem

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1966

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1968

(14)

1968

La Nuova Renato

1968

(16)

1970

(17)

1974

(19)

1975

(20)

1978

versehene

Überset-

mit

einer

Science of Politics von Einführung

von

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rivoluzionari

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Übersetzung

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Übersetzung

von

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227

setzung

der

deutschen

Ausgabe,

mit

neuem

ersten

Kapitel. Nachdruck des ersten Kapitels in: Lawrence, Fred., ed. The Begining and the Beyond, Chico/Cal. 1984, S. 3 —41.

(21)

1980

(22)

1986

Conversations

with

Eric

Plato and Aristotle von

(23)

1986

(24)

1987

(25)

1988

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ed.

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mit

einer Einführung von Nicola Matteucci. Political Religions; engl. Übersetzung von Die Politischen Religionen von T. J. DiNapoli und E. S. Easterly III mit einer Einleitung von Barry Cooper. Toronto Studies in Theology, vol. 23. (Der deutsche Text der 1939er Stockholmer Ausgabe ist im Anhang abgedruckt.) Lewiston, N.Y. Order and History, Vol. V: In Search of Order. Baton Rouge, Louisiana State University Press, 120 S. Ordnung, Bewußtsein, Geschichte. Hrsg. v. Peter J. Opitz, Stuttgart, Klett-Cotta Verlag. S. 253.

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228

(29)

1925

(30)

1926

(31)

1926

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1927

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230

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of Politics,

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253

Namensregister zu den Schriften von Eric Voegelin

Aischylos

26, 112, 141

Alexander

Comte, A.

21

Anaxagoras

150, 202

Anaximenes

Descartes, R.

170

Doderer, H.

Eliade,M.

21, 22, 88, 93, 95,

55, 72

146

161

Feuerbach, L.

110, 115, 125, 128—134, 136—138, 145, 147, 154, 155, 167, 169, 173, 185, 202 Augustinus

184,185,187

Deutero-Jesaja

Anselm von Canterbury 197—191, 193, 196 Aristophanes 199 Aristoteles

85

Cromwell,O. 88

135, 136

Anaximander

85, 157, 166

Condorcet, L.

Frankl, V.

70, 178

146

Freud, S. 78, 79, 82, 145, 153, 178

42, 62, 63—66,

Gaunilo

73,110, 125, 139,189

191, 193

George, St.

88

Bauer,B. 70

Goclenius, R.

173, 187

Baumgarten, E. 98

Goethe,J. W. Gorgias 193

78, 88, 203

Becket, S.

145

Bergson, H.

110, 139

Hegel, G. W. F. 68—71, 78, 84, 110, 112, 116, 117, 145, 152, 154—157, 166, 178, 185, 188, 189 Heidegger, M. 83,145 Heraklit 72, 106,110, 112, 121, 125, 140, 178—179, 206 (Anm. 6) Herodot 68

Böhme, I. 116 Bossuet, I. 64, 66 Brentano 174 Bruno,G.

Buddha

116

36, 45, 72, 73

Caesar

88

Celsus

38

Christus

59, 65, 75, 167

Chrysippus

141,142,

Hesiod

144,

146, 196 Cicero 141—143, 197 Clauberg, J.

173, 187

Clemens v. Alexandrien 110

40, 50, 56, 59, 133,

167, 194, 195, 200, 201 Hitler, A. 146 Hobbes, T. 79,145 77,

Homer Horaz

259

38, 133, 198 143,149

James, W.

123

Jaspers, K.

71,

Jeremias

128—130, 133, 134, 136— 139, 141, 142, 149, 150, 152—155, 167, 173, 176, 177, 190, 193, 194, 196—198, 200—203 Plotin 125, 202, 203 Poseidonius 56, 58, 125, 144 Pythagoras 72, 73

74—76

169, 192

Johannes 189 Jung, C. G. 153 Kant, I. 49, 50, 73, 85, 87, 152, 187 Konfuzius

36, 45, 72

Konstantin der Große Lao-tzu

40, 63

Reinhold, K. Russel, B.

36, 45,71,72

Leibniz, G. W.

184,187

Lessing, G. E. 76 Lévy-Strauss, Cl. Lotze, R. H. 174 Luther, M. Marx, K.

145

Sartre, J. P.

Thomas

88, 155 78, 79, 82, 84—

110, 135, 200

von Aquin

Voltaire

110, 180,

87

36, 67, 71—73,

66, 67

Weber, Marianne Weber, Max Whitehead,

Wolff, Ch.

21, 22, 26, 38, 40, 43,

44, 50, 56, 58, 81, 86, 93, 106, 110, 112, 116—118,

63

Toynbee, A. 76

Pascal,B. 85, 106 Paulus 59, 63, 65, 110, 155 Philo 170 Picasso, P. 90 Platon

B. 88—90 130,133, 147, 199 O. 67, 73 146

Tolstoi, L.

56, 62

Parmenides

152

182—186, 188, 204 Thukydides 158

64,07

Panaitios

F. W. J. 12, 116,

Theodosius

87, 90, 175 Orosius

62,63

Shaw, G. Sokrates Spengler, Stalin, J.

47, 57, 59, 74

Nietzsche, F.

Scaevola Schelling, Schiller, F.

98

Napoleon

145

122, 146, 196

70,71, 78, 79,82,

84, 85, 145, 153, 158, 166, 178 Merleau-Ponty, M. 156 Mill,J. St. 88 Moses

91

Sabine,H. G. 13 santayana,G. 88

88

Morus, Th.

173

121, 125,

Xenophanes

256

91, 94, 98

78, 79, 82, 86, 87 A.N.

187 40

110, 161

Weltgeschichte zum Zeugen aufgerufen: Die Reichsorganisation des Alten Nahen Ostens und ihre kosmologischen Mythen,

das Auserwählte

Volk

Israels mit seinem Geschichtsverständnis, die Mythen und symbolischen Ordnungsformen der griechischen Polis: Wie lassen sich diese Formen mit dem Paradigma der Aufklärung fassen? Das Christentum und die Spätantike seit Alexander bescheren Europa so etwas wie eine (, Multi-Zivilisation",

schließlich

die modernen Nationalstaaten als Ausdruck autonomer und gewollter Identitáten. Der Bogen wird gespannt, um den

angeblichen Hóhepunkt der

Moderne

zu relativieren.

Der Autor: Eric Voegelin (1901-1985), mußte 1938 aus Wien in die

Emigration gehen. Er lehrte und

forschte an der Stanford University. 1958 wurde er nach München an das Geschwister Scholl Institut berufen. Bei KlettCotta erschien 1981 , The Philosophy of Order", die Festschrift zu Voegelins 80. Geburtstag. Die Louisiana State University Press bringt die vielbändige Gesamtausgabe des Werkes unter dem Titel , Order and History" heraus.

Der Bogen der Weltgeschichte wird gespannt,

um den angeblichen Höhepunkt

der Moderne zu relativieren.

3-608-91483-8