Normativität und Risikoentscheidung: Untersuchungen zur Theorie der Rechtsgüterrelationen [1 ed.] 9783428522958, 9783428122950

Rechtsanwendung sieht sich zwei fundamentalen Schwierigkeiten ausgesetzt. Gibt es doch empirische Unschärfen der Wirklic

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German Pages 456 Year 2008

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Normativität und Risikoentscheidung: Untersuchungen zur Theorie der Rechtsgüterrelationen [1 ed.]
 9783428522958, 9783428122950

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 240

Normativität und Risikoentscheidung Untersuchungen zur Theorie der Rechtsgüterrelationen

Von Karsten Schneider

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

KARSTEN SCHNEIDER

Normativität und Risikoentscheidung

Schriften zur Rechtstheorie Heft 240

Normativität und Risikoentscheidung Untersuchungen zur Theorie der Rechtsgüterrelationen

Von Karsten Schneider

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Wintersemester 2005/2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D5 Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12295-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Annette

Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln. Umgekehrt ist die systematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß; welche aber dazu dient, zu dem mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Principium zu finden, und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen. Immanuel Kant (Kritik der reinen Vernunft, S. 567) Unsere Wissenschaft ist kein System von gesicherten Sätzen, auch kein System, das in stetem Fortschritt einem Zustand der Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft ist kein Wissen [episte¯me¯]: weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen. Karl R. Popper (Logik der Forschung, S. 266)

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2005/2006 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Mein erster und ganz vorzüglicher Dank geht daher an meinen verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Matthias Herdegen. Er hat das Entstehen der Arbeit mit außerordentlichem Engagement begleitet. Herrn Professor Dr. Wolfgang Löwer danke ich für die zügige Erstattung des Zweitgutachtens wie für seine zahlreichen weiterführenden Anmerkungen. Dank für die Übernahme der Druckkosten schulde ich dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. Bonn, im Mai 2008

Karsten Schneider

Inhaltsübersicht

§1

Einleitung

19

Problemstellung und Exposé der Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Kapitel I Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

32

§2

Verbotsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

§3

Erlaubnisbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

§4

Risikoentscheidung und Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

§5

Induktionsproblem und Abgrenzungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

Kapitel II Theorie der Rechtsgüterrelationen

64

§6

Wissenschaftsakzessorietät und Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

§7

Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

§8

Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

§9

Theorieverallgemeinerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

§ 10 Prinzipientheorie und Theorie der Rechtsgüterrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

Kapitel III Theorieanwendung auf das Referenzgebiet: Biosicherheit und Welthandel

387

§ 11 Methodologie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 § 12 Allgemeine Systemrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 § 13 Systemausgestaltung im Biosicherheitsprotokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 § 14 Das Prinzip des Biosicherheitsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

12

Inhaltsübersicht

§ 15 Atypische Erlaubnissätze des Biosicherheitsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 § 16 Verbote des Biosicherheitsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Non nova sed nove . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Inhaltsverzeichnis

§1

Einleitung

19

Problemstellung und Exposé der Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Interpretation ohne Interpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Objektive Rechtsgüterrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Referenzgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 22 24 26 28 30

Kapitel I Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

32

§2

Verbotsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausnahmevorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnismäßigkeitsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 36 38

§3

Erlaubnisbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsgüterschutzstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vorsorgestrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Atypie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ungewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Objektivierbarkeit der Ungewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 39 41 42 43 45 46 47 48

§4

Risikoentscheidung und Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prinzipientheorie als Problemperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rationalität und Prognoseverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsgüterrelationen als „ultima ratio“-Konstellationen . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsgüterrelationen als Rechtfertigungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 51 54 56 56

§5

Induktionsproblem und Abgrenzungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Normative Ordnung und Unterscheidung von Verbot und Erlaubnis – Das Induktionsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Normative Ordnung und Interpretation – Das Abgrenzungsproblem . . .

58 59 61

14

Inhaltsverzeichnis Kapitel II Theorie der Rechtsgüterrelationen

64

§6

Wissenschaftsakzessorietät und Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wissenschaftsakzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Natürliche Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Widerspruchsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Falsifizierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Objektive Wahrheit, Intuitionismus, Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . III. Interpretation als Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Objektivität als Nachprüfbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hermeneutische Konkretisierung und Interpretation als Negation . . 3. Subjektivismus und Interpretation als Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Formal-logische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64 64 76 77 78 84 88 91 98 104 112 122 128

§7

Die I. II. III.

induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Induktive Prämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der Doktrinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tautologien und Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Induktives Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Induktive Wahrscheinlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ähnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 136 139 143 144 148 151 159 164 170 177 180

§8

Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gefahr als wissenschaftsakzessorische Zurechnungskonzeption . . . . . . . 1. Prospektive Zurechnung von Rechtsgüterbeeinträchtigungen . . . . . . . 2. Naturalistische Fehlschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Theoretische Erklärungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zurechnungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zurechnung durch Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zurechnung des Fehlens einer Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Exklusivitäts-Theorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetz des ausgeschlossenen Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183 184 185 186 196 198 200 202 206 207 207

§9

Inhaltsverzeichnis

15

III. Objektivität der Zurechnungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Universalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Theorie und Wahrscheinlichkeitsaussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Indeterminismus und deterministische These . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Theorie und Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anfangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zurechnungsrelevante Prognosen und zurechnungsirrelevante Prophezeiungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Objektive Grundlage des Auswahlmaßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Falsifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erklärungsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erfolglose Widerlegungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Komparativer Referenzmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wertungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kongruenztheorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tu quoque-Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210 213 216 218 225 227 236 236

Theorieverallgemeinerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Axiomatischer Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quantifizierte Gefährlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nichtquantifizierte Gefährlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Komparative Theoriebewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bewährungsgrad und induktive Prognosewahrscheinlichkeit . . . . b) Bewährungsgrad und empirische Absicherung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auflösung des Komplexitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Deduktive Umdeutung der induktiven Standardkategorien . . . . . . . . . . . . 1. Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Restrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vorsorgestrukturen als Rechtsgüterrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Optimierungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Atypischer Erlaubnissatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Alleinstellungstheorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ableitung aus der Theorie der Rechtsgüterrelationen . . . . . . . . . . 3. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Relative Rechtsgütergewichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rationalitätsstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anfangsbedingungen als Abbildungsparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278 279 280 280 281 282 289 293 295 296 297 300 303 305 305 305 314 319 319 325 327

239 241 243 246 249 256 259 265 269 272

16

Inhaltsverzeichnis 1. Bewährungsgradvorsprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 2. Rechtsgütergewichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 3. Exkurs: „Risikoaversion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

§ 10 Prinzipientheorie und Theorie der Rechtsgüterrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prinzip und Prinzipienkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Regel und Regelkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Objektive Unterscheidbarkeit von Regeln und Prinzipien . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenhänge zwischen Prinzipien und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Kanonisierte Einwände gegen „Prinzipiendenken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Spekulationismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Falsifikation von Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

334 336 341 343 356 361 368 379

Kapitel III Theorieanwendung auf das Referenzgebiet: Biosicherheit und Welthandel

387

§ 11 Methodologie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 § 12 Allgemeine Systemrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 I. Widersprüchlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 II. Spezialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 § 13 Systemausgestaltung im Biosicherheitsprotokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sozioökonomische Bedingungen als Entscheidungsparameter . . . . . . . . . 1. Art. 26 Abs. 1 BSP im System der Welthandelsordnung . . . . . . . . . . 2. Art. 26 Abs. 1 BSP und Art. 10 Abs. 6 BSP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 26 Abs. 1 BSP und Art. 2 Abs. 2 BSP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Handelsverbot mit Drittstaaten (Art. 24 Abs. 1 BSP) . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gebot der Risikobeurteilung (Art. 15 Abs. 1 i.V. m. Anhang III BSP) . . IV. In dubio pro securitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entbehrlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeines Vorsorgeprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

395 395 396 396 397 398 399 399 402 402

§ 14 Das Prinzip des Biosicherheitsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prinzip der Risikoverringerung oder -vermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abstimmungsnotwendigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normative Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kanonisierte Bedenken gegen die „Öffnung einer Rechtsordnung hin zu Prinzipien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ungültigkeit von Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Absolute Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weite des Prinzipienbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403 403 403 404 405 405 406 407

Inhaltsverzeichnis § 15 Atypische Erlaubnissätze des Biosicherheitsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Recht auf Entscheidung bei fehlender wissenschaftlicher Gewißheit (Art. 10 Abs. 6 BSP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normative Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rationalitätsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Objektivitätsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Recht auf Berücksichtigung sozioökonomischer Aspekte (Art. 26 Abs. 1 BSP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 409 410 410 410 411 412 412

§ 16 Verbote des Biosicherheitsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 I. Verbot riskanten Umgangs mit lebenden modifizierten Organismen . . . 413 II. Verbot protokollwidrigen Handels mit Drittstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Non nova sed nove . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Einleitung § 1 Problemstellung und Exposé der Lösung Die Funktion normativer Ordnungen besteht darin, zukünftige Entscheidungskonflikte allgemeinverbindlich aufzulösen. Entscheidungskonflikte ergeben sich aus alternativen Sachverhalten, die zwar jeweils für sich, nicht aber beide gleichzeitig realisierbar sind. Normative Konfliktlösung bedeutet dementsprechend Entscheidung zwischen Sachverhaltsalternativen. Dabei weichen unterschiedliche normative Ordnungen untereinander stark ab in der Frage, zwischen welchen tatsächlichen Sachverhaltsalternativen sie Entscheidungen treffen. Allen normativen Ordnungen ist aber gemeinsam, daß ihre jeweiligen Entscheidungen zwischen beliebigen Sachverhaltsalternativen nur zwei Ergebnisse zulassen: Eine der beiden Alternativen kann normativ bevorzugt werden, der übliche Ausdruck solcher normativen Bevorzugung sind Verbote; umgekehrt können beide Alternativen normativ gleichrangig sein, jede Alternative ist dann von einer Erlaubnis umfaßt. Interpretationen normativer Ordnungen können infolgedessen verstanden werden als Versuche zu erkennen, welche tatsächlichen Sachverhaltsalternativen normativ geordnet werden und mit welchem der beiden möglichen Ergebnisse zwischen diesen geordneten Alternativen entschieden wird. Die beiden Erkenntnisziele jeder Interpretation sind also einerseits auf bestimmte Wirklichkeitsausschnitte gerichtet, insofern betreffen sie die Frage, welche Sachverhaltsalternativen normativ geordnet werden. Andererseits richten sie sich auf die Art der normativen Entscheidung und betreffen insofern die Frage, wie die Sachverhaltsalternativen geordnet sind. Diese Dichotomie des Erkenntnisinteresses ist eine der Folgen des Dualismus von Tatsachen und Maßstäben. Konfliktlösungen in der Wirklichkeit sind auf der Grundlage von dichotom interpretierten normativen Ordnungen möglich, falls überdies auch bekannt ist, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. In der Wirklichkeit können Entscheidungskonflikte daher nur dann gelöst werden, wenn neben der normativen Ordnung – als dem Maßstab – auch die Wirklichkeit – als Tatsache – zutreffend erkannt wird. Die Wirklichkeit ist aber in folgendem Sinn weder Tatsache noch Sachverhalt: Erst ein Akt der Erkenntnis bereitet die Wirklichkeit auf zu Tatsachen, die einen Sachverhalt ausmachen, der anschließend mit einer normativ entschiedenen Sachverhaltsalternative übereinstimmen kann. Diese Komplikation kann

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auch so ausgedrückt werden: Jeder Wirklichkeitssachverhalt ist abstrakt, also ein gemeinsames Produkt von Wirklichkeit und Sprache.1 Insofern ist also eine zutreffende Erkenntnis der Wirklichkeit eine notwendige Vorfrage jeder normativen Konfliktlösung in der Wirklichkeit. Nun ist es aber alles andere als selbstverständlich, daß diese „zutreffende Erkenntnis der Wirklichkeit“ jederzeit möglich ist, daß also die Wirklichkeit zu einem Sachverhalt gemacht werden kann und diesem Sachverhalt zukünftige Sachverhaltsalternativen zugeordnet werden können, zwischen denen normative Ordnungen erst entscheiden, denn jede Erkenntnis der Wirklichkeit (genauer: jeder Sachverhalt) kann sich immer als falsch erweisen. Wirklichen Konflikten liegen deshalb nicht selten Ungewißheiten zugrunde, die vor einer normativen Entscheidung nicht aufklärbar sind. Die beiden damit aufgeworfenen Fragen, „ob“ und „wie“ normative Ordnung in Situationen der Ungewißheit möglich ist, bezeichnen wir als das Problem der Risikoentscheidungen im Recht. Man könnte das Problem der Risikoentscheidungen im Recht auch formulieren als die Frage nach den Grenzen normativer Steuerungsmöglichkeit unter Bedingungen empirischer Ungewißheit, denn normative Ordnungen sollen ja „Konflikte in der Wirklichkeit“ lösen. Diese Wirklichkeit kann aber vorerst mit Ungewißheiten behaftet sein, so daß unklar ist, welche wirklichen Alternativen (Sachverhalte) einem Konflikt überhaupt zugrunde liegen. Spricht man von der normativen Geltung einer Rechtsfolge, so meint man, daß deren Geltung auf eine Übereinstimmung zwischen wirklichen Sachverhaltsalternativen und normativ entschiedenen Sachverhaltsalternativen zurückgeführt werden kann. Die Frage nach der Geltung von Rechtsfolgen ist somit nur eine andere Form der Frage nach dem notwendigen Grad der Korrespondenz zwischen Wirklichkeit und normativer Ordnung. Die meisten Betrachter erleben Gewißheitsverluste in der Wirklichkeit im Zusammenhang mit den von ihnen als „modern“ – insbesondere als „komplex“ – wahrgenommenen Gesellschaften sowie angesichts des von ihnen in vielen Gebieten als „rasant“ empfundenen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts. Zweifellos waren aber im Laufe der Menschheitsgeschichte schon immer zahllose Situationen denkbar, deren Ungewißheiten auf eine Vielzahl anderer Faktoren zurückgeführt werden können. In diesem Sinne ist das Problem der

1 Mißverständlicherweise wurde zwar demgegenüber häufiger behauptet, daß es keine „falschen Tatsachen“ gebe; eng verwandt mit dieser Auffassung ist auch die Vorstellung, daß Sätze in gleicher Weise „Namen von Tatsachen“ sind, wie Hauptworte „Namen von Dingen“ sind. Das alles ist jedoch falsch und kann als Ausdruck eines naiven Realismus im Hinblick auf Tatsachen angesehen werden. Siehe dazu unten sub. § 8 III. 3.

§ 1 Problemstellung und Exposé der Lösung

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Veränderung (und die mit jeder Veränderung verbundene Unsicherheit) eines der ältesten Probleme spekulativer Metaphysik. Nach weitverbreiteter – hier aber nicht geteilter – Auffassung führen Ungewißheiten in der Wirklichkeit zwangsläufig zu Wertungsnotwendigkeiten im Rahmen der Rechtsanwendung. Risikoentscheidungen im Recht stellen sich danach in erster Linie als ein Unschärfeproblem dar, das normative Ordnungen an ihre Leistungs- bzw. an ihre Systemgrenzen führt. Das Rationalitätsideal der Rechtsanwendung scheint danach grob umrissen wie folgt gefährdet zu sein: Normative Ordnungen knüpfen bestimmte Rechtsfolgen an bestimmte Sachverhaltsalternativen. Also müssen Rechtsanwender die Unschärfe einer ungewissen Wirklichkeit beseitigen, bevor sie die Geltung von Rechtsfolgen annehmen können. Diese notwendige Präzisierung oder, wenn man so will: Aufbereitung ungewisser Wirklichkeit geschieht durch Wertung.2 Vermittelt durch den Rechtsanwender scheint also die für die Anwendung normativer Ordnungen notwendige Korrespondenz zwischen Wirklichkeit und jeweiliger normativer Ordnung die Unschärfe der Wirklichkeit hineinzutragen in die Frage der Geltung von Rechtsfolgen.3 Versucht man, diese Konstruktion einer wertenden Rechtsanwendung auf irgendeine Weise zu rechtfertigen, führt dies zur bekannten These der Verbindung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung.4 Man kann diese monistische Hypothese der wesensmäßig notwendigen Verknüpfung zwischen normativen Ordnungen und ihren Anwendern als das moderne Dogma des Subjektivismus bezeichnen. Dieser Subjektivismus führt zwangsläufig jedes objektive Erkenntnisinteresse an normativen Ordnungen einer Scheinlösung zu. Um genauer zu sein: Der monistische Subjektivismus beantwortet nicht, was objektiv gesollt ist. Statt dessen stuft er das von Rechtsanwendern „Gewertete“ als das „Gesollte“ ein. Diese subjektivistische Interpretationstheorie ist einflußreich geworden, allerdings weniger als eine klar umrissene und stimmige Theorie, sondern vielmehr 2 Die Aufbereitung ungewisser physischer Wirklichkeit ist dabei nur eine Seite der Medaille: Monistische Interpretationstheorien (also Theorien, die „dem Rechtsanwender“ eine zentrale Rolle zuweisen) schreiben zumeist nicht nur dieser Wirklichkeit eine „natürliche Unschärfe“ zu, sondern auch der Rechtsordnung, die ihrerseits – ebenfalls „wertend“ – vom Rechtsanwender „konkretisiert“ werden soll, bevor sie angewendet werden kann (dazu unten sub. § 6 III. 2.). 3 Die Theorieannahme, die „Unschärfen“ sowohl der Wirklichkeit als auch den normativen Ordnungen zuschreibt und beide „wertend“ beheben will, ist der wichtigste Grund dafür, daß monistische Interpretationstheorien den Subsumtionssyllogismus nur als „unzureichende Darstellung des Rechtsanwendungsaktes“ (exemplarisch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 314 f. mwN.) auffassen können. 4 Danach gilt es um jeden Preis „das rechtstheoretisch unhaltbare Deutungsmuster des Wesensgegensatzes von Setzung und Anwendung von Recht“ aufzugeben (Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 317); hierzu auch Fischer-Lescano/Christensen, Der Staat 44 (2005), S. 213 ff.

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als eine bequeme Rückzugslinie, hinter die man zurückgehen kann, falls es bei konkreten Erklärungsversuchen irgendwo zu Schwierigkeiten gekommen ist. I. Interpretation ohne Interpreten Die vorliegende Untersuchung5 unternimmt – bildlich gesprochen – den Versuch, der monistischen Interpretationstheorie jenen Geist auszutreiben, den man den Rechtsanwender nennt.6 Oder, um genauer zu sein: Die These in dieser Einführung ist, daß Rechtsanwender – als Interpreten – innerhalb einer Theorie der Risikoentscheidungen eine einzige Rolle spielen: Ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit der Theorie zu prüfen. Dementsprechend entscheidet also die normative Ordnung, und der Rechtsanwender versucht, diese normative Entscheidung zu erkennen. Die entgegengesetzte monistische Ansicht, wonach „der Rechtsanwender“ anstelle der Rechtsordnung entscheidet oder, was dasselbe ist, ein Stück weit zusammen mit der Rechtsordnung entscheidet, halten wir also für ein grundsätzliches Mißverständnis. Der verbreitete Mythos der monistischen Verschränkung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung oder, wie man ihn auch nennen könnte: der Mythos von der „Wertungsabhängigkeit“ der Rechtsanwendung ist der Mythos, der im folgenden kritisiert werden soll. So wie der Mythos soeben formuliert wurde, klingt er jedoch möglicherweise für viele eher wie eine nüchterne Feststellung oder auch eine feinfühlige Warnung, die man beachten sollte, um eine rationale Diskussion zu fördern. Und manche glauben sogar, daß der Mythos der Wertungsabhängigkeit der Rechtsanwendung ein logisches Prinzip ist oder doch zumindest auf einem logischen Prinzip beruht. Wir aber glauben ganz im Gegenteil, daß er nicht nur eine falsche Feststellung ist, sondern auch eine schädliche Feststellung, die, sofern sie weithin geglaubt wird, die Einheit der Rechtsanwendung und damit vor allem den Glauben an die Möglichkeit echter Gleichheit vor dem Gesetz unterminieren muß.7 In dieser Studie soll versucht werden, Grundlagen zu gewinnen für eine Theorie der objektiven Rechtsgüterrelationen als Interpretation normativer Risikoentscheidungen. Soweit im Vorhergehenden von „objektiven“ Rechtsgüterrelationen gesprochen worden ist, soll damit zunächst nichts anderes ausgedrückt werden, als daß die Theorie ausschließlich auf wertungsfreien Beziehungen zwi5 Als Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen kann Poppers grundlegender Aufsatz „Quantum Mechanics Without ,The Observer‘“ angesehen werden. 6 Popper, Quantentheorie, S. 42; allgemein zur „Erkenntnistheorie ohne ein erkennendes Subjekt“ vor allem ders., Objektive Erkenntnis, S. 109 ff. 7 Die Wendung ist unmittelbar angelehnt an Popper, Der Mythos vom Unhintergehbaren, Vortrag vom 27. Juli 1982.

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schen konzeptionell beliebigen Rechtsgütern beruht. Diesbezüglich soll Wertungsfreiheit verstanden werden als Erklärbarkeit und Nachprüfbarkeit aller normativen Einzelaussagen einer existierenden (und in diesem Sinne: positiven) Rechtsordnung. Solche Grundlagen sind notwendig, um die subjektivistische Doktrin aufgeben zu können, die – unserer Auffassung nach – nicht hinreichend unterscheidet zwischen normativen Ordnungen und Anwendungen derselben durch Rechtsanwender. Der größte Nachteil des Subjektivismus liegt in der durch ihn bedingten Unmöglichkeit, die objektive Wahrheit von Erklärungen normativer Einzelaussagen einzelner Rechtsordnungen abzuschirmen gegenüber dezisionistischen, d. h. wertenden Argumenten der Rechtsanwendung. Indem jede Erklärung nur so weit trägt wie ihr schwächster Bestandteil, sind alle – wenn auch nur teilweise – wertenden Erklärungen insgesamt dezisionistisch. Wertende Erklärungsbestandteile vernichten infolgedessen die Allgemeinheit jeder Entscheidung, derentwegen allein sie den Namen einer normativen Entscheidung führen kann.8 Damit ist natürlich nicht gemeint, daß alle subjektivistisch gewerteten Entscheidungen „schlechte“ Entscheidungen wären. Von Übel ist vielmehr, normative Entscheidungen subjektivistisch zu werten. Wenn also auf der Grundlage subjektivistischer Wertungen „gute“ Entscheidungen zustande kommen, dann geschieht das trotz der angenommenen monistischen Interpretationsmethode, nicht aber weil sie angenommen wurde.9 Alle „guten“ Entscheidungen sind dann vielleicht auf die hervorragenden Eigenschaften bestimmter Rechtsanwender zurückzuführen, aber „hervorragende Rechtsanwender“ sind – wie hervorragende Institutionen – kein Produkt rationaler Methoden, sondern immer nur ein Produkt glücklicher Umstände.10 Daneben stützt der Subjektivismus bekanntlich die unserer Auffassung nach ebenfalls unzutreffende Annahme, „die Steuerungsfähigkeit des Rechts“ könne in zunehmendem Maße durch Erkenntnisfortschritte sogenannter moderner und komplexer Gesellschaften herausgefordert werden.11 Diese modernistische Auffassung ist doppelsinnig: Gemeint sein könnte einesteils, daß Regelungsadressaten in modernen und komplexen Gesellschaften nur noch vermindert steuerbar sind, oder anderenteils, daß normative Ordnungen ihrerseits abnehmende Steuerungsfähigkeiten aufweisen. Damit wäre das Recht also entweder schwach, weil es seine normative Ordnung nicht (mehr) zu entfalten vermag, oder wertlos, weil sein Inhalt der Beliebigkeit anheimgefallen wäre.

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Kant, Die Metaphysik der Sitten (Zweites Blatt), S. 313 f. Popper, Offene Gesellschaft I, S. 192. 10 Allgemeiner zur Problematik der Institutionen und deren Rationalität Popper, Offene Gesellschaft I, S. 192. 11 Vgl. Lepsius, Steuerungsdiskussion, S. 1 Fn. 1 m.w. N. 9

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Einleitung

Die hier zugrunde gelegte Ausgangsthese der Unrichtigkeit des monistischen Subjektivismus soll dabei so verstanden werden, daß beide Konsequenzen nicht zutreffen und darüber hinaus auch noch nie zutreffend waren. Betreffend die modernistische Steuerungsdiskussion soll gezeigt werden, daß der falsche Anschein vom „modernen Steuerungsversagen“ nur unter dem beherrschenden Einfluß einer ganz bestimmten und sehr charakteristischen Risikodogmatik entstehen konnte, deren spezifische Theoriedefizite seither mit einem Versagen der normativen Ordnungen selbst verwechselt werden. Diese im folgenden ausführlich zu kritisierende Risikodogmatik beruht erkenntnistheoretisch auf einer induktivistischen Prämisse, die nicht haltbar ist. Daß risikodogmatisch dergestalt Zuflucht gesucht wurde in epistemologischem Induktivismus, ist zwar sowohl ideengeschichtlich als auch intuitiv nachvollziehbar. Induktive Konzeptionen sind jedoch in keiner Weise objektiv zu rechtfertigen. Die sogenannte Rationalitätskrise der Risikoentscheidungen im Recht – und damit eng verbunden: die große Bereitschaft, Wertungen der Rechtsanwender zu akzeptieren – ist daher theoriebedingt und nicht gegenstandsbedingt. II. Objektive Rechtsgüterrelationen Unsere nachfolgende Kritik des monistischen Subjektivismus und des induktivistischen Stils wäre als reine Kritik ohne die Darlegung eines Alternativvorschlags wohl unbefriedigend. Sie müßte jedenfalls als unvollständig angesehen werden. Unser Gegenvorschlag zum Subjektivismus kann als Theorie objektiver Rechtsgüterrelationen bezeichnet werden und soll – in groben Umrissen – nachstehend kurz skizziert werden. Auf der bekannten Grundlage der subjektivistischen Doktrin kann die Steuerungsfähigkeit aller normativen Ordnungen bezweifelt werden. Praktisch geschieht das allerdings hauptsächlich dann, wenn sich – vom Betrachter als bedeutsam wahrgenommene – unterschiedliche Rechtsgüter mit gegenläufigen Finalitäten in als „empirisch unsicher“ empfundenen Regelungsbereichen begegnen. Als Hintergrund einer Skizze der objektiven Rechtsgüterrelationen ist aus verschiedenen Gründen ein kleiner Ausschnitt des internationalen Rechts besonders anschaulich, der hier deshalb der Illustration der Problemsituation zugrunde gelegt wird. Freilich soll diese Exemplifizierung im Referenzgebiet nicht mißverstanden werden: Wir beabsichtigen, Eigenschaften von normativen Ordnungen zu diskutieren und nicht die Bedeutung von Wörtern. Um konkreter zu werden: Innerhalb des internationalen Rechts ist das Welthandelsrecht ein Ordnungsrahmen kollidierender Rechtsgüter; insbesondere das Verhältnis zwischen „Freihandelsinteressen“ einerseits sowie „Umweltschutzinteressen“ andererseits eignet sich als besonders geeignetes Referenzgebiet für objektive Rechtsgüterrelationen.

§ 1 Problemstellung und Exposé der Lösung

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Die subjektivistische Position betrachtet dergestalt kollidierende Rechtsgüter unterschiedlicher Finalitäten als (gegebenenfalls multipolare) Spannungslagen, die durch wertende Abwägungskonzepte miteinander in Ausgleich gebracht werden. Abwägungen dieser Art resultieren in den schon kurz nachgezeichneten Wertungsnotwendigkeiten durch Rechtsanwender. Demgegenüber basiert die objektive Rekonstruktion dieser Problemstellung darauf, daß die Ordnungsfunktion – hier im Beispiel: des internationalen Rechts – ausschließlich in einer Strukturierung von Rechtsgüterrelationen gesehen wird. Diese Interpretation normativer Ordnungen als Struktur objektiver Rechtsgüterrelationen hat den Vorteil, daß die Problemsituation auf zwei Teilaspekte konzentriert werden kann: Die erste Frage betrifft die Möglichkeit einer zutreffenden theoretischen Eingrenzung der konkreten Rechtsgüter12 einer normativen Ordnung (kurz gesagt: Welches sind die Rechtsgüter einer Rechtsordnung?). Gewissermaßen nachgelagert und von der Beantwortbarkeit der ersten Frage abhängig ist das zweite Problem der theoretischen Ausgestaltung der Rechtsgüter einer normativen Ordnung in ihrem Verhältnis untereinander. Diese Ausgestaltung der Güterrelationen kann im einfachsten Fall kategorisch normiert sein im Sinne eines unbedingten Vorrangs einzelner Rechtsgüter gegenüber anderen; man kann insofern von absoluten Güterrelationen sprechen. Andererseits kann die Ausgestaltung einer Güterrelation jedoch auch flexibel sein, das heißt, sie kann abhängen von Art und Maß der konkreten Beeinträchtigungen der jeweils beteiligten Rechtsgüter im Einzelfall. Dergestalt flexible Konzepte bilden ausgleichende Güterrelationen ab, die unübersichtlicher sind gegenüber den kategorischen absoluten Güterrelationen. In Abgrenzung zu diesen können sie als bedingte Güterrelationen bezeichnet werden. Sowohl für absolute als auch für bedingte Güterrelationen gilt, daß jede Bewertung von Rechtsgüterbeeinträchtigungen im Einzelfall prognostische Feststellungen erfordert. Damit beinhaltet die Theorie der objektiven Güterrelationen auch das theoretische Problem sogenannter empirischer Prognoseunsicherheiten, denn Prognoseunsicherheiten können jeder mit normativen Entscheidungen verbundenen zukünftigen Beeinträchtigung einzelner Rechtsgüter anhaften (beziehungsweise dem jeweiligen Nutzen im Hinblick auf andere Rechtsgüter). Prognoseunsicherheiten können ganz allgemein als Risiko bezeichnet werden. Als rationales Konzept normativen Umgangs mit Prognoseunsicherheiten schließt die Theorie der objektiven Rechtsgüterrelationen somit umfassend an das Problem der Risikoentscheidungen im Recht an. 12 Natürlich hängt nichts an Worten: Man könnte an dieser Stelle ebenso von den „Zielen“, den „Werten“ oder ganz allgemein von der „Finalität der Rechtsordnung“ sprechen; vgl. auch Fn. 13.

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Anders als die monistisch-subjektivistische Deutung der Risikoentscheidungen – die im Kern die Perspektive eines Regelungsadressaten einnimmt und annimmt, diesen „werten“ lassen zu müssen –, entspricht die Theorie der Rechtsgüterrelationen einer objektiven Interpretation der Risikoentscheidungen. Durch diese Rekonstruktion kann das Problem der Prognoseunsicherheit vollständig abgelöst werden von einzelnen Regelungsadressaten und erweist sich danach als Thema objektiver Zurechnungen: Objektiv zugerechnet werden die beeinträchtigenden zukünftigen Auswirkungen einzelner Sachverhaltskonstellationen hinsichtlich der bestimmten Rechtsgüter einer normativen Ordnung. Somit ergeben sich Erklärungen der normativen Einzelaussagen aus objektiv rekonstruierten Relationen der Rechtsgüter einer normativen Ordnung in Hinblick auf einzelne Sachverhaltskonstellationen. III. Thesen Der Gang unserer Argumentation kann in Form der folgenden sieben Aussagen zusammengefaßt werden. Diese Thesen sind ihrerseits vor dem Hintergrund formuliert, daß alle normativen Einzelaussagen einer Rechtsordnung als Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen darstellbar sind. Dabei sind Sachverhalte sprachliche Darstellungen der Wirklichkeit (Sachverhalte sind also weder die Wirklichkeit noch Teile der Wirklichkeit). Sachverhaltsalternativen sind zwei unterschiedliche Sachverhalte, die sich jeweils erstens aus einem dritten Sachverhalt heraus entwickeln können und sich zweitens gegenseitig ausschließen. Entscheidungen sind schließlich objektive Präferenzen zugunsten der Realisierung des einen Sachverhalts gegenüber seiner Alternative; es gibt also keinen Entscheider: (1) Normative Einzelaussagen sind Darstellungen der Rechtsordnung. Das Verhältnis zwischen normativen Einzelaussagen und ihrer Rechtsordnung entspricht also exakt demjenigen Verhältnis, das zwischen Sachverhalt und Wirklichkeit herrscht. (2) Der sprachlich konkretisierte Inhalt normativer Einzelaussagen – also die Art und Weise der Darstellung von Rechtsordnungen – wird durch das Anwachsen des naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens stark beeinflußt. (3) Vom Anwachsen des naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens unbeeinflußt sind die Rechtsgüter einer normativen Ordnung (verstanden als ihre Prinzipien bzw. als ihre jeweiligen „Leistungsmerkmale der Wirklichkeit“13). Rechtsgüter sind aus sich heraus keinerlei Änderungen unterworfen. 13 Das sind – wenn man so will – die „Werte“ einer Rechtsordnung als „Wertordnung“; ausführlich dazu und zur Unterscheidung von Werten, Zielen und Funktionen einer Rechtsordnung unten sub. § 10 I., III., IV., V.

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(4) Die konstruktiven Verknüpfungen zwischen den sich kontinuierlich verändernden normativen Einzelaussagen einerseits und den beständigen Rechtsgütern jeder normativen Ordnung andererseits sind objektive Risikozusammenhänge (Prognosezusammenhänge). (5) Somit können alle Einzelaussagen normativer Ordnungen intersubjektiv nachprüfbar – das heißt: objektiv – als Kombinationen aus Rechtsgütern und Prognosezusammenhängen rekonstruiert werden. (6) Die induktivistische Auffassung, wonach der Rückgriff auf Prognosen im Rahmen der Rechtsanwendung zu Ungenauigkeiten und Unsicherheiten und daher zur Notwendigkeit von Wertungen des Rechtsanwenders führt, kann wissenschafts- und erkenntnistheoretisch als widerlegt angesehen werden; der Glaube an Induktion ist zwar psychologisch und ideengeschichtlich durchaus erklärbar, aber methodologisch nicht zu rechtfertigen. (7) In der gleichen Weise wie die hergebrachte induktive Standarddogmatik der Risikoentscheidungen beruht auch die modernistische Steuerungsdiskussion auf einer Formulierung ihrer Problemstellung, die methodologischen Überprüfungen nicht standhalten kann. Diese Annahmen schließen in keiner Weise die Existenz wirklicher Probleme der Interpretation von normativen Ordnungen aus. Sie haben auch nichts gemein mit der alten Vorstellung eines Richterautomaten. Sie können jedoch ganz im Gegenteil dazu dienen, die wirklich vorhandenen Herausforderungen anzunehmen und nicht länger den Weg hin zu tragfähigen objektiven Erklärungen durch eine sowohl relativistische als auch antirealistische „Theorie der ohnehin unvermeidlichen Wertung“ zu versperren. Denn man muß die „Theorie der ohnehin unvermeidlichen Wertung“ als Verfehlung der Aufgabe ansehen, sofern man Rechtswissenschaft – in Abgrenzung zu metaphysischen und ideologischen Unternehmungen – als das Bemühen um die beste Erklärung der normativen Einzelaussagen positiver Rechtsordnungen begreifen will. Erklärungen werden nur besser durch Annäherung an ihren Gegenstand unter Beachtung der regulativen Idee der objektiven Wahrheit, nicht aber durch subjektivistische Wertungen. Kurz: Jede „Theorie der ohnehin unvermeidlichen Wertung“ bringt die Suche nach besseren Erklärungen zum Stillstand. Mit dem Entwurf einer Theorie der Rechtsgüterrelationen soll der Versuch unternommen werden, die „Theorie der ohnehin unvermeidlichen Wertung“ durch ein alternatives deduktives Konzept der Erklärungen14 herauszufordern.15 14 Der statt dessen oftmals verwendete Ausdruck der „Rechtsgewinnungstheorie“ impliziert die hier nicht geteilte These einer „unvermeidlichen“ Verknüpfung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung. 15 Zwar besteht bei jeder nichtmetaphysischen Theorie, welche die Existenz irgendeines Gegenstandes bestreitet, die Möglichkeit, diese durch ein einziges Gegenbeispiel zu falsifizieren. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß die Theorie der „ohnehin un-

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Das deduktive Konzept der Erklärungen ist die Methode aller Wissenschaften, die der objektiven Wahrheit verpflichtet sind.16 Ohne jeden Zweifel ist diese Methode schon sehr alt, so daß hier bestenfalls der Entschluß Originalität beanspruchen kann, die Beachtung dieser Methode konsequent durchzuhalten. In aller Kürze beruht das deduktive Konzept der Erklärung auf folgender Überlegung: Rechtswissenschaftliche Theoriebildung als Interpretation einer Rechtsordnung kann dadurch gehaltvoll werden, daß bestimmte normative Einzelaussagen als unvereinbar mit der interpretierten Ordnung ausgewiesen werden; dieses Konzept wird im weiteren Fortgang ausführlich entwickelt als „Interpretation durch Negation“.17 Je gehaltvoller (man könnte auch sagen: aussagekräftiger) solche erklärenden Theorien formuliert werden, desto ausgedehnter wird also der Bereich derjenigen Aussagen, die durch die jeweiligen Theorien als unvereinbar mit der interpretierten normativen Ordnung gekennzeichnet sind. Dementsprechend vermag theoretischer Fortschritt den Raum für „ohnehin unvermeidliche Wertungen“ prinzipiell beliebig zu verkleinern. Diese letzten Ausführungen müssen hier noch notwendigerweise vage bleiben, aber sie sollen für eine erste Einführung ausreichen. Sie werden im folgenden sehr ausführlich und vor allem in Auseinandersetzung mit der bislang ebenfalls nur angedeuteten induktivistischen Gegenauffassung entfaltet. IV. Referenzgebiet Das Referenzgebiet zur veranschaulichenden Illustration der etwas abstrakten Problemstellung im ersten Kapitel sowie zur Anwendung der Theorie der Rechtsgüterrelationen im dritten Kapitel ist ein schmaler Ausschnitt des Welthandelsrechts, also ein Teilbereich der Völkerrechtsordnung. Der gewählte Ausschnitt betrifft das Vorsorgeprinzip des Biosicherheitsprotokolls18 im Rahmen des Vertragssystems der Welthandelsordnung19. Aus theoretischer Sicht ist dievermeidlichen Wertung“ metaphysisch vertreten wird. Deshalb kann hier das Ziel nur eine Herausforderung und nicht eine Widerlegung sein. 16 Die Methode der Wissenschaft ist ihr Verfahren der Erklärung. Nicht verwechselt werden darf die so verstandene Methode mit der Heuristik, die ihrerseits mögliche Verfahrensweisen für wissenschaftliche Entdeckungen zu beschreiben versucht (was nicht bedeutet, daß die Heuristik von der Methodenlehre nicht profitieren könnte). Ausführlich zum Begriff der Methode unten sub. § 6 II. 1. 17 Zum wissenschaftstheoretischen Kontext und allgemeinen methodologischen Hintergrund dieses Gedankens siehe unten sub. § 8 III. 2. a). 18 Cartagena Protocol on Biosafety vom 29. Januar 2000 (UNEP/CBD/ExCoP/1/3) zur Konvention über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity) vom 5. Juni 1992 (ILM 31 [1992], S. 818); materialreich zu Entstehungsgeschichte und politischem Umfeld des Biosicherheitsprotokolls Böckenförde, Grüne Gentechnik und Welthandel, S. 69 ff. m. w. Nachw. 19 Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation vom 15. April 1994 (BGBl. 1994 II S. 1625).

§ 1 Problemstellung und Exposé der Lösung

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ses Vorsorgeprinzip des Biosicherheitsprotokolls von besonderem Interesse, weil es eine einzelne Güterrelation des Welthandelsrechts konturiert. Um etwas genauer zu sein: Das Vorsorgeprinzip des Biosicherheitsprotokolls koordiniert das Verhältnis der Rechtsgüter Freihandel und Biodiversität für den speziellen Bereich des grenzüberschreitenden Warenverkehrs mit sogenannten „lebenden modifizierten“ – d. h. „biotechnologischen“ – Organismen. Als Wirklichkeitsausschnitt birgt dieser Warenverkehr dabei diejenigen empirischen Ungewißheiten, die jede Einführung moderner Hochtechnologien typischerweise begleiten.20 Die einzige normative Einzelaussage des Welthandelsrechts, die von dieser Rechtsgüterrelation abhängig ist, beantwortet die Frage, welche Handelsbeschränkungen rechtswidrig sind, beziehungsweise: unter welchen Bedingungen Handelsbeschränkungen zulässigerweise verhängt werden dürfen. Keinem der beiden Rechtsgüter kommt in dieser Frage ein absoluter Vorrang zu. Das Vorsorgeprinzip des Biosicherheitsprotokolls bezeichnet vielmehr das, was wir eine bedingte Güterrelation genannt haben. Der Inhalt der normativen Einzelaussagen richtet sich also nach den jeweils spezifischen Beeinträchtigungen für beide Rechtsgüter im Einzelfall. Auch im Referenzgebiet sind – wie immer – die normativen Einzelaussagen des Welthandelsrechts abhängig von Prognosezusammenhängen. Zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen sind nur objektiv bestimmbar, indem die Folgen von Handelsbeschränkungen und Handelsliberalisierungen prognostisch ermittelt werden. Das Vorsorgeprinzip des Biosicherheitsprotokolls bildet demnach strukturell die kleinste Einheit ab, in der bedingte Güterrelationen theoretisch konstruierbar sind. Der Grund dafür ist die inhaltliche Isoliertheit des Vorsorgeprinzips, es betrifft lediglich zwei Rechtsgüter in Kombination mit dem prognostischen Zurechnungsproblem. Das Vorsorgeprinzip des Biosicherheitsprotokolls besitzt dementsprechend idealen Modellcharakter für Untersuchungen der Elemente einer Theorie der Rechtsgüterrelationen und damit gleichzeitig für das Problem der Risikoentscheidungen im Recht. Als Teilausschnitt der Völkerrechtsordnung weist unser Referenzgebiet außerdem einen charakteristischen zusätzlichen Vorzug auf gegenüber der Behandlung derselben Probleme in einer beliebigen nationalen Rechtsordnung: Die methodologisch allzu bequeme Rückzugsmöglichkeit aller monistischen Interpretationstheorien ist im Referenzgebiet nicht eröffnet, denn es fehlt in zweifacher Weise an den dafür erforderlichen Interpreteneliten. Ei20 Die sog. „moderne Biotechnologie“ ist das derzeitige Paradigma der – im Hinblick auf Nutzen und Risiken – „ambivalenten Hochtechnologie“. Neben möglichen Chancen zur Lösung drängender Menschheitsprobleme (etwa Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft und Schädlingsresistenzen) werden auch schwerwiegende Risiken in Form unerwünschter Neben-, Folge- und Fernwirkungen für möglich gehalten.

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Einleitung

nerseits sind die empirischen Fragen der Gentechnik international noch keineswegs konsentiert (Tatsacheninterpretation) und andererseits fehlt eine einheitliche Gerichtsbarkeit, die alle Entscheidungskonflikte praktisch verbindlich letztentscheidet (Maßstabsinterpretation). Unter diesen erschwerten Bedingungen zeigt sich die Leistungsfähigkeit einer „Interpretation ohne Interpreten“21 vielleicht am deutlichsten. V. Gang der Darstellung Der weitere Fortgang der Darstellung orientiert sich an folgendem Ordnungsprinzip: Das erste Kapitel22 soll die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen präzisieren. Diese beiden Grundprobleme – das Induktionsproblem und das Abgrenzungsproblem – sind zwar abstrakt formulierbar und aus sich heraus verständlich (§ 5). Sie werden aber auch zusätzlich – mit der Absicht besserer Anschaulichkeit – am Beispiel des Vorsorgeprinzips des Biosicherheitsprotokolls im Vertragssystem der Welthandelsordnung entwickelt (§§ 2–4).23 Das zweite Kapitel24 beinhaltet eine darstellende Analyse der vorhandenen dogmatischen Konzeptionen zur Lösung der beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen.25 Dabei werden vor allem die subjektivistischen und induktiven Bestandteile dieser Lösungsansätze nachgewiesen und kritisiert (§ 7). Daran anschließend und darauf aufbauend wird die Theorie der Rechtsgüterrelationen entwickelt, die als objektive und nichtinduktivistische Alternative gegenüber unserer eigenen, zuvor formulierten Kritik standhalten kann (§§ 8–10). Zuletzt dient das dritte Kapitel26 der abschließenden Theorieanwendung auf das Referenzgebiet und verdeutlicht zugleich verschiedene, eher technische Umsetzungsaspekte der Theorie der Rechtsgüterrelationen. Als Referenzgebiet dient auch im dritten Kapitel der zur Explikation der Problemsituation gewählte Ausschnitt des Welthandelsrechts. Die Darstellung kann insgesamt als Vorüberlegung zur Theorie der Rechtsgüterrelationen aufgefaßt werden. Die Theorie der Rechtsgüterrelationen steht freilich, wie wir hoffen darlegen zu können, in sehr enger, vor allem jedoch: fruchtbarer Nähe zu zentralen wissenschaftstheoretischen Fragestellungen. Die Einführung in die Theorie der Rechtsgüterrelationen schließt daher zugleich in gewisser Weise auch eine Einführung in die damit zusammenhängenden Aspekte der Wissenschaftstheorie ein, soweit der Leser damit noch vertraut ge21 22 23 24 25 26

Dazu oben Unten sub. Unten sub. Unten sub. Unten sub. §§ 11–16.

sub. § 1 I. §§ 2–5. §§ 2–4. §§ 6–10. § 7.

§ 1 Problemstellung und Exposé der Lösung

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macht werden muß. Allerdings: Das eigentliche Ziel liegt nicht darin, eine Einführung in die Wissenschaftstheorie zu präsentieren, sondern darin, auf den modernen Status quo des Faches aufzubauen. Soweit in dieser Untersuchung also die Wissenschaftstheorie als Disziplin betroffen ist, werden wir weder im Ganzen noch in der Behandlung der historischen Figuren auch nur ansatzweise Vollständigkeit erreichen. Unsere Darstellung enthält statt dessen durchgehend eine Argumentation für eine bestimmte erkenntnistheoretische Position, die zumeist als fallibilistischer oder auch kritischer Realismus bezeichnet wird. Diese Position ist hauptsächlich Karl Popper zu verdanken. Jeder, der ein wenig mit seinen Ideen vertraut ist, wird daher in der vorliegenden Untersuchung den popperianischen Ansatz wiedererkennen.27 Der popperianische Ansatz dieser Untersuchung zeichnet sich allgemein nicht dadurch aus, daß Popper notwendigerweise allem damit Gesagten zugestimmt hätte. Es verhält sich eher umgekehrt: Wir vermuten, daß der fallibilistische Realismus einen tragfähigen neuen Erklärungsansatz zur Lösung einiger unserer – natürlich viel älteren – mehr oder weniger bekannten rechtswissenschaftlichen Probleme liefern kann.

27 Für diejenigen Leser, die nach einer ersten Orientierung suchen, liefert Niemann, Lexikon des Kritischen Rationalismus, einen kompakten Zugang zu vielen Einzelargumenten; eine an Stichworten orientierte – „katalogartige“ – Abhandlung der Popperschen Philosophie bietet Keuth, Die Philosophie Karl Poppers.

Kapitel I

Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht Es ist der Zweck dieses ersten Kapitels zu zeigen, inwiefern man berechtigterweise von zwei Grundproblemen der Risikoentscheidungen im Recht sprechen kann und wie diese beiden Grundprobleme formulierbar sind. Der dabei – und bereits mehrfach bis hierhin – zugrunde gelegte Begriff der „Entscheidung“28 ist allerdings in seiner für unsere Zwecke maßgeblichen (theoretisch sehr fruchtbaren) Verwendungsart wenig gebräuchlich und deshalb möglicher Anlaß für Mißverständnisse. Die vorliegende Untersuchung verwendet den Begriff in einem sehr genau bestimmbaren Sinne rein objektiv und bezieht ihn dabei ausschließlich auf Sachverhaltsalternativen.29 Die objektive Verwendung meint zuvörderst, daß unser Begriff der Entscheidung nicht subjektivierend in Hinblick auf einen Entscheider definiert werden kann. Die sachverhaltsalternativenbezogene Verwendung bedeutet darüber hinaus, daß unser Begriff der Entscheidung auch nicht handlungsbezogen definiert wird. Wir verstehen alle Entscheidungen immer als „Entscheidungen der normativen Ordnung“, das heißt als Festsetzungen durch den Maßstab. Indem Entscheidungen niemals subjektiviert werden, können sie weder Richtern noch Sachverständigen, oder allgemeiner: weder Rechtsanwendern noch sonstigen Norminterpreten zugeordnet werden.30 In der Zusammenschau bedeuten beide Aspekte, daß sich Entscheidungen stets auf objektive Sachverhaltsalternativen beziehen und dabei nicht mit Handlungen von Normadressaten verwechselt werden dürfen. Alle Handlungen von Normadressaten können jedoch anhand unseres Entscheidungsbegriffs problemlos rekonstruiert werden. Mit anderen Worten können alle Handlungen aus Ketten einzelner objektiver Entscheidungen zusammengesetzt werden. Diese mit unserem Begriff der Entscheidung gewisserma28 Gleiches gilt für die entsprechende Verwendung von „normativer Entscheidung“ und „Risikoentscheidung“. 29 Dazu oben sub. § 1. 30 Im üblichen Sinne subjektivierend ist demgegenüber der Entscheidungsbegriff bei Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 7 ff., der seine Risikoentscheidungen begrifflich einzelnen Entscheidern zuordnet, z. B. dem „Berufsbeamtentum“, „externen Sachverständigen“ oder sonstigen „Entscheidungsträgern“.

Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

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ßen locker verknüpfte, man könnte sagen: feinkörnigere Präzisierung des Handlungsbegriffs als „Verkettung objektiver Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen“ ermöglicht in erster Linie die abstrakt-formale Reformulierung aller Verbote und Gebote. Darüber hinaus gewährleistet sie die Anwendbarkeit der Aussagenlogik auf alle normativen Einzelaussagen.31 Dabei können interessanterweise alle Sachprobleme, die üblicherweise mit dem Handlungsbegriff verbunden sind, unkompliziert auf Sachverhaltsalternativen abgebildet werden.32

31 Präferenzentscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen (A und A ), können 1 2 sowohl als Verbot (die zurückgestufte Alternative A1 darf nicht gewählt werden) als auch als Gebot (die bevorzugte Alternative A2 muß gewählt werden) interpretiert werden. Aussagenlogisch gilt dementsprechend, daß A1 verboten ist, wenn A2 gewählt werden muß. Demgegenüber weniger klar ist die gebräuchlichere Verwendung handlungsbezogener Gebote und Verbote. Eine gebotene Handlung ist zwar formal gleichbedeutend mit dem Verbot diese zu unterlassen. Allerdings besteht keine logische Möglichkeit, aus einer Handlung das dazu passende Unterlassen zu ermitteln. Statt dessen werden umgekehrt (zumindest unbewußt) immer bestimmte Sachverhaltsalternativen zugrunde gelegt, falls „klar“ ist, welche Handlung welchem Unterlassen entspricht. Beispiel: Das handlungsbezogene Verbot „Kein Reden!“ wird etwa in öffentlichen Bibliotheken verstanden als Gebot, das Reden zu unterlassen und insofern zu schweigen. Das ist aus sich heraus jedoch keineswegs klar, denn theoretisch ebenso möglich wäre die Annahme, daß nur gesungen werden darf, falls Reden verboten ist, wie die venezianische Opernschule des 17. Jahrhunderts mit ihrer klaren Unterscheidung zwischen Rezitativ und Arie beweist. Die sog. „Kontextabhängigkeit“ der Normdeutung besteht deshalb immer aus der bewußt oder unbewußt hypothetischen Bildung richtiger Sachverhaltsalternativen. Für öffentliche Bibliotheken sind diese Alternativen klarerweise „Reden und Schweigen“ und für Opern Francesco Cavallis bestehen die Alternativen ebenfalls eindeutig aus „Reden und Singen“. Diese ohnehin erforderliche Alternativenbildung tritt klarer hervor, wenn die Kategorie Verbot/Gebot unmittelbar auf Präferenzentscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen bezogen wird und nicht indirekt vermittelt wird über „handlungsbezogene“ Gebote und Verbote. Mit dem Verzicht auf die Kategorie der Handlung werden zugleich die Binnenunterscheidungen des Handlungsbegriffs (Tun und Unterlassen) obsolet: So können zwar durchaus Präferenzentscheidungen auch ausgedrückt werden als „Gebot A1 zu tun“ oder „Pflicht A2 zu unterlassen“. Aber beide Aussagen sind äquivalent mit dem „Gebot A1 gegenüber A2 zu bevorzugen“. Tun und Unterlassen kommt also kein eigenständiger Informationswert zu, der objektiven Präferenzentscheidungen etwas hinzufügt. Essentialistisch und für Verbotsinterpretationen überflüssig sind daher Untersuchungen der Frage, ob A1 oder A2 gewissermaßen aus sich heraus eher ein Tun oder ein Unterlassen sind. Abstrakt betrachtet sind sie klarerweise jeweils beides – A1 ist das Unterlassen von A2 und A2 ist seinerseits das Unterlassen von A1. Sofern weiter angenommen wird, daß das Unterlassen eines Unterlassens ein Tun ist, können A1 und A2 außerdem jeweils zugleich als Tun angesehen werden. Der Grund für dergestalt scheinbare Paradoxien ist nichts anderes als der triviale Befund, daß die Wahrnehmung von Tun und Unterlassen eine Frage der Perspektive ist. 32 Gebotene, verbotene sowie erlaubte Handlungen können immer auf (gegebenenfalls eine Kette von) Präferenzentscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen zurückgeführt werden. Anders als Handlungen können Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen jedoch objektiv gedeutet werden. Der Vorteil der Kategorie Entscheidung gegenüber der Kategorie Handlung besteht also darin, daß zwar alle Handlungen als Entscheidungen rekonstruierbar sind, aber Entscheidungen anders als Handlungen keine subjektivierenden Konnotationen aufweisen (wir lösen nebenbei auf

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

Selbstverständlich sind alle Definitionen nur Dogmen (oder, technisch betrachtet: Konventionen), und lediglich Deduktionen aus ihnen können zu interessanten Erkenntnissen führen. „Jede Festlegung auf eine bestimmte Präzisierung enthält also ein gewisses Maß an Willkür, deren Rechtfertigung ausschließlich durch die Fruchtbarkeit der Definition geliefert werden kann.“33 Ganz in diesem Sinne verwenden wir unsere Definition der Entscheidung ausschließlich wegen ihrer inhaltlichen Fruchtbarkeit und aufklärenden Kraft der weiteren Folgerungen: Nur aus der Perspektive objektiver und sachverhaltsalternativenbezogener Entscheidungen erhellen sich die strukturellen Zusammenhänge, aufgrund derer berechtigterweise von zwei Grundproblemen der Risikoentscheidungen im Recht ausgegangen werden kann. Bei den beiden Grundproblemen handelt sich um das Induktionsproblem sowie das Abgrenzungsproblem.34 Als Grundprobleme werden hier beide Fragestellungen deshalb bezeichnet, weil gezeigt werden kann, daß die typischen – in der Vergangenheit immer wieder ausgiebig behandelten – Probleme der Risikoentscheidungen im Recht auf diese zwei Ausgangsfragen rückführbar sind. Der Versuch eines solchen Nachweises der Rückführbarkeit sowie eine möglichst scharfe Konturierung beider Fragen sind Gegenstand dieses Kapitels. Beide Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht können als solche ausschließlich vergleichsweise abstrakt ausgedrückt werden, obgleich sie interessanterweise beide sehr einfach und kurz formulierbar sind. Die Abstraktheit macht ihre Darstellung naturgemäß wenig anschaulich. Aus diesem Grund stellen sich – ganz unabhängig von der Möglichkeit ihrer Lösung – dadurch Verständnisschwierigkeiten ein, daß zunächst erkannt werden muß, inwiefern es sich bei beiden Grundproblemen jeweils überhaupt um Probleme handelt. Hier werden deshalb zur Annäherung an das Induktions- und das Abgrenzungsproblem zwei weniger abstrakte Schwierigkeiten vorab behandelt, die als Verbotsbegrenzung und Erlaubnisbegrenzung bezeichnet werden können. Die Fragen der Verbots- und Erlaubnisbegrenzungen hängen inhaltlich sehr eng zusammen mit dem Induktions- und dem Abgrenzungsproblem.

diese Weise Absicht als typisches „Welt 2“-Kriterium ab durch die „Welt 3“-Figur der Entscheidung; vgl. dazu ausführlicher unten Fn. 309). 33 Menger, Dimensionstheorie, S. 76 (Hervorhebungen im Original). Menger fährt fort, – „[. . . D]er Zweck einer strengen Definition ist es, den Ausgangspunkt eines deduktiven Systems zu bilden. [. . .] Es ist demnach eine inhaltliche Forderung an eine Definition überhaupt, daß sie sich als Erkenntnisquelle erweise dadurch, daß sie den Ausgangspunkt einer umfassenden, ästhetisch vollkommenen Theorie bildet. Das Erfülltsein dieser inhaltlichen Forderung stellt die einzige mögliche Rechtfertigung einer jeden Definition dar (a. a. O., Hervorhebungen im Original)“; inhaltlich ausführlicher zu diesem methodologischen Ansatz unten sub. §§ 8, 9 und 10. 34 Dazu unten sub. § 5.

§ 2 Verbotsbegrenzung

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§ 2 Verbotsbegrenzung Das Problem der Verbotsbegrenzung betrifft die Frage, was eigentlich genau verboten ist, falls „etwas“ verboten ist. Unsere Akzentuierung der Begrenzung soll dabei diejenigen Sachverhalte betonen, die außerhalb des Verbotsbereichs liegen, also mit anderen Worten das, was nicht verboten ist, wenn „etwas“ verboten ist. Die Standardantwort darauf ergibt sich nach verbreiteter – von uns aber nicht geteilter – Auffassung aus möglichst sorgfältigen Bedeutungsanalysen beziehungsweise Begriffsexplikationen. Nach Auffassung der Vertreter der Bedeutungs- und Begriffsexplikation ist es erfolgversprechend, die Bedeutung des „etwas“ möglichst genau zu klären, damit die dergestalt zutreffend definierte Bedeutung des „etwas“ alle diejenigen Fälle präzise bezeichnet, die verboten sind. Dieses offenbar sehr naheliegende und auf den ersten Blick auch zweifellos plausible Verfahren wirft allerdings bekanntermaßen ein schwerwiegendes Folgeproblem auf. Denn derjenige, der das Definiendum nicht kennt, kann das ihm Unbekannte nicht definieren; umgekehrt hat derjenige, der das Definiendum bereits kennt und es dann mit Hilfe dieser Kenntnis definiert, das Definiendum nicht aus der Definition erkannt, sondern, nachdem er es vorher erkannt hat, die Definition danach gebildet.35 Gleichwohl sollen nach Auffassung der Bedeutungsanalytiker – irgendwie – mit jeder Begriffsexplikation Erkenntniszuwächse verbunden sein können, indem der Verstehensprozeß als „hermeneutischer Zirkel“ gedeutet wird: Der Interpret muß bei den einzelnen Wörtern auf den Sinn des Satzes und bei diesem wiederum auf die angenommene Wortbedeutung achten, damit er entweder die vermutete Wortbedeutung oder den angenommenen Sinn des Satzes solange probeweise ändert, bis sich eine durchgehende Übereinstimmung ergeben hat, Unstimmigkeiten also entfallen.36 Wir wollen an dieser Stelle noch nicht näher auf Einzelaspekte der hermeneutischen Methode als solcher eingehen, denn das Problem der Verbotsbegrenzung ist auf einer anderen Ebene angesiedelt als hermeneutische Zirkel.37 Denn das Problem der Verbotsbegrenzung stellt sich ebenso innerhalb des hermeneutischen Verfahrens, wie es in der Ausgangsfrage formuliert wurde. Eine Annäherung an seine Lösung findet dementsprechend nicht „durch Hermeneutik“ statt, wie leicht erkennbar ist: Soweit das hermeneutische Verfahren – gehaltlos und inhaltlich offen – lediglich verstanden wird als eine „Bemühung um die richtige Lösung“ sowie als ständige Bereitschaft, Fehler zu korrigieren, ist diese 35 Eine sehr klare (und bis heute gültige) Darstellung dieses Zusammenhangs schon bei Sextus Empiricus, Pyrrhonische Skepsis, S. 206. 36 Exemplarisch Larenz, Methodenlehre, S. 206; eine juristisch vielbeachtete philosophische Hermeneutik bei Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 307 ff. 37 Siehe zur hermeneutischen Konkretisierung in Abgrenzung zum Konzept der Interpretation durch Negation aber unten sub. § 6 III. 2.

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

Verfahrensweise trivialerweise zutreffend. Das bloße „Bemühen um eine Problemlösung“ darf freilich nicht verwechselt werden mit einem Verfahren zur Findung der Lösung und noch weniger mit der Lösung selbst. Soweit Hermeneutik aber nicht lediglich als semantisches Kürzel für das Bemühen um Fehlerkorrektur verstanden wird, sondern – weitergehend – als ein Verfahren zur Fehlerkorrektur verwendet werden soll, besteht ein methodisch zwingendes Bedürfnis, unrichtige Bedeutungshypothesen zu erkennen. D. h.: Falls unrichtige Bedeutungshypothesen nicht erkennbar sind, helfen hermeneutische Zirkel nicht weiter. Der Zauber hermeneutischer Reflexion darf also nicht darüber hinwegtäuschen, daß fehlerhafte Bedeutungshypothesen – mit oder ohne Hermeneutik – nur korrigierbar sind, wenn sie erkannt werden können.38 Die Hermeneutik selbst schafft somit ein methodologisches Bedürfnis nach Fehlererkennbarkeit. Das Problem der Verbotsbegrenzung kann dementsprechend ebenfalls formuliert werden als die Frage nach der Erkennbarkeit unrichtiger Hypothesen, beziehungsweise, um noch weiter innerhalb des hermeneutischen Sprachgebrauchs zu verbleiben: nach der Erkennbarkeit unrichtiger Bedeutungshypothesen. Im folgenden sollen zwei der unmittelbar mit dem Problem der Verbotsbegrenzung zusammenhängenden Schwierigkeiten dargelegt werden, die man als zwei verschiedene Einzelausprägungen desselben Problems verstehen kann. Die beiden Beispiele sind erstens Ausnahmevorbehalte39 und zweitens Verhältnismäßigkeitsvorbehalte40, die innerhalb des Referenzgebiets insbesondere das Vertragssystem der Welthandelsordnung kennzeichnen. I. Ausnahmevorbehalte Im Referenzgebiet stellt das Zusammenspiel von Art. XI GATT und Art. XX GATT ein deutliches Beispiel für die Problematik der Ausnahmevorbehalte dar. Art. XI GATT untersagt allen WTO-Vertragsstaaten die Errichtung sogenannter nichttarifärer Handelshemmnisse. Das bedeutet, daß außer Zöllen, Abgaben und sonstigen Belastungen keine einfuhrbeschränkenden Maßnahmen verhängt werden dürfen. Article XI – General Elimination of Quantitative Restrictions 1. No prohibitions or restrictions other than duties, taxes or other charges, whether made effective through quotas, import or export licences or other measures, shall be instituted or maintained by any contracting party on the importation of any product of the territory of any other contracting party or on the exportation or sale for export of any product destined for the territory of any other contracting party. [. . .] 38 39 40

Zum „Zauber der Reflexion“ Albert, Fehlbarkeit, S. 58 ff. Dazu sogleich sub. § 2 I. Dazu unten sub. § 2 II.

§ 2 Verbotsbegrenzung

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Dieses Verbot mengenmäßiger – nichttarifärer – Handelsbeschränkungen im Sinne von Art. XI GATT ist im Referenzgebiet etwa dann einschlägig, wenn einzelstaatliche Maßnahmen der Risikoregulierung die Einfuhr von lebenden genetisch modifizierten Organismen begrenzen. Vollständige Importverbote erfüllen als sogenannte mengenmäßige Beschränkungen „auf Null“ ebenfalls den Verbotstatbestand von Art. XI GATT.41 Das Problem der Verbotsbegrenzung – also die Frage, welche Handelsströme trotz der Existenz von Art. XI GATT mengenmäßig behindert werden dürfen – entsteht nun vor allen Dingen durch die außerdem vorhandenen Ausnahmevorbehalte, die sich insbesondere aus den „generellen Ausnahmen“ ergeben, die Art. XX GATT aufzählt: Article XX – General Exceptions [. . .42 N]othing in this Agreement shall be construed to prevent the adoption or enforcement by any contracting party of measures: [. . .] (b) necessary to protect human, animal or plant life or health; [. . .] (g) relating to the conservation of exhaustible natural resources if such measures are made effective in conjunction with restrictions on domestic production or consumption; [. . .]

Die generelle Ausnahme des Art. XX lit. b GATT suspendiert also das Verbot des Art. XI GATT für alle „notwendigen“ Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen. Und in ganz entsprechender Weise nimmt Art. XX lit. g GATT außerdem noch mögliche Maßnahmen zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze vom Verbot der nichttarifären Handelshemmnisse aus. Das Verbot (Art. XI GATT) und sein Ausnahmevorbehalt (Art. XX GATT) konturieren gemeinsam die bedingte Rechtsgüterrelation unseres Referenzgebiets, also das Verhältnis der beiden Rechtsgüter Gesundheit und Leben43 auf

41 Auch im Zusammenhang mit „weicheren“ Regulierungsansätzen – etwa Etikettierungspflichten – besteht die Möglichkeit indirekter handelsbeschränkender Wirkungen. 42 Art. XX GATT beginnt mit der allgemeinen (hier ausgelassenen) Voraussetzung: „Subject to the requirement that such measures are not applied in a manner which would constitute a means of arbitrary or unjustifiable discrimination between countries where the same conditions prevail, or a disguised restriction on international trade, . . .“ Im vorliegenden Zusammenhang können wir das mit dem Diskriminierungsverbot („arbitrary or unjustifiable discrimination“) verbundene Interpretationsproblem deswegen zurückstellen, weil das damit aufgeworfene Gleichheitssatzproblem mit dem Interpretationsproblem von Ausnahmevorbehalten in keinem Zusammenhang steht. Das Gleichheitssatzproblem kann vielmehr als methodologische Vorgabe interpretiert werden, dazu allgemeiner unten sub. § 5 I. und § 10 VI., VII. 43 Das gleiche gilt gemäß Art. XX lit. g GATT für das Rechtsgut der erschöpflichen Naturschätze.

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

der einen Seite sowie des Rechtsguts des internationalen Freihandels auf der anderen Seite.44 Um zusammenzufassen: Das Verbot mengenmäßiger – nichttarifärer – Handelshemmnisse im Referenzgebiet ist begrenzt auf diejenigen Sachverhaltskonstellationen, die nicht ihrerseits „notwendig“ sind zum Lebens- und Umweltschutz. Innerhalb dieser speziellen Konstellation kann das abstrakte Problem der Verbotsbegrenzung also formuliert werden als Frage, woran diejenigen rechtswidrigen Handelsbeschränkungen, die nicht „notwendig“ sind im Sinne des Ausnahmevorbehalts, nachprüfbar erkannt werden können.45 II. Verhältnismäßigkeitsvorbehalte Das Problem der Verbotsbegrenzung ist im Referenzgebiet außerdem an Strukturen nachweisbar, die man auch als Verhältnismäßigkeitsvorbehalte bezeichnen könnte. So verbietet beispielsweise die Formulierung des Art. 2.2 SPS allgemein „unverhältnismäßige gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen“: Art. 2.2 SPS Members shall ensure that any sanitary or phytosanitary measure is applied only to the extent necessary to protect human, animal or plant life or health [. . .]

Verboten sind danach also alle „nicht-notwendigen“ Schutzmaßnahmen.46 44 Zur (erkenntnistheoretischen) Frage der „Begründbarkeit“ von Rechtsgütern innerhalb von Rechtsordnungen ausführlich unten sub. § 10 I., II., III., IV. 45 Es hat in der jüngeren Vergangenheit wesentlich zur Verunklarung beigetragen, daß die Problematik der Verhältnismäßigkeitsvorbehalte von allen monistischen Interpretationsansätzen zumeist als ein semantisches Problem aufgefaßt wurde (Was heißt „notwendig“?), das vom „Rechtsanwender“ konkretisiert werden muß (auf dieser Vorstellung wurde bspw. die – stark monistische – „ökonomische Analyse des Rechts“ errichtet, dazu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 403 f. – „Das Idealbild der ökonomischen Analyse ist ein Richter, der [. . .] eine gewisse „Unabhängigkeit gegenüber dem Gesetz“ besitzt [. . .]. Ein Unterschied zwischen Gesetzgebung ist kaum noch zu erkennen [. . .].“). Es geht freilich nicht darum, den Begriff „notwendig“ zu konkretisieren, sondern – gewissermaßen umgekehrt – darum, diejenigen Sachverhaltseigenschaften erkennen zu können, die eine Rechtsgüterbeeinträchtigung „notwendig“ machen. 46 Ein „Recht auf Gesundheitspolizei und Pflanzenschutz“ sieht das SPS-Übereinkommen in seinem Art. 2.1 vor, indem alle „notwendigen“ Schutzmaßnahmen ausdrücklich erlaubt werden. Art. 2.1 SPS kann damit gewissermaßen als Komplementärbestimmung zu Art. 2.2 SPS erklärt werden und hat dann im Verhältnis zu dessen Verbotstatbestand nur deklaratorische Bedeutung. Beide normativen Einzelaussagen können also, wenn man will, äquivalent ineinander umgeformt werden: Art. 2.2 SPS verbietet „unverhältnismäßige“ Handelsbeschränkungen und Art. 2.1 SPS gestattet „notwendige“ Beschränkungen (Art. 2.1 SPS lautet: „Members have the right to take sanitary and phytosanitary measures necessary for the protection of human, animal or plant life or health, provided that such measures are not inconsistent with the provisions of this Agreement“).

§ 3 Erlaubnisbegrenzung

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Ein weiteres charakteristisches Verbot unter Verhältnismäßigkeitsvorbehalt beinhaltet das Vertragssystem der Welthandelsordnung in der (sehr ausführlichen) normativen Aussage von Art. 2.2 TBT, der Standards für sogenannte technische Vorschriften betrifft:47 Art. 2.2 TBT Members shall ensure that technical regulations are not prepared, adopted or applied with a view to or with the effect of creating unnecessary obstacles to international trade. For this purpose, technical regulations shall not be more trade-restrictive than necessary to fulfil a legitimate objective, taking account of the risks nonfulfilment would create. Such legitimate objectives are, inter alia: [. . .] protection of human health or safety, animal or plant life or health, or the environment [. . .].

Kurz: Technische Vorschriften und Normen sind infolge Art. 2.2 TBT verboten, sofern sie „unnötige Hindernisse“ für den internationalen Handel schaffen.48

§ 3 Erlaubnisbegrenzung Das Problem der Erlaubnisbegrenzung betrifft die Frage, was eigentlich genau erlaubt ist, falls „etwas“ erlaubt ist. Anhand des Begriffs der Begrenzung wollen wir auch hier wiederum die Außenperspektive akzentuieren, also dasjenige, was nicht erlaubt ist, falls „etwas“ erlaubt ist. I. Reziprozität Klarerweise entspricht das Problem der Erlaubnisbegrenzung dabei in wichtigen Teilen dem Problem der Verbotsbegrenzung.49 Oder, um etwas genauer zu sein: Das zugrundeliegende Sachproblem kann sprachlich aus zwei verschiedenen Perspektiven rekonstruiert werden, von denen sich eine als Problem der Erlaubnisbegrenzung und die andere als Problem der Verbotsbegrenzung darstellt. Der Grund für diese Symmetrie hängt damit zusammen, daß normative Ordnungen ausschließlich dadurch zwischen Sachverhaltsalternativen entscheiden, daß jeweils einer der beiden Alternativen ein relativer Vorrang eingeräumt wird (Verbot) oder umgekehrt beide Alternativen als normativ gleichwertig angesehen werden (Erlaubnis).50 47 Zu diesen „technischen Vorschriften“ zählen unter anderem Standards für Verpackung, Kennzeichnung und Beschriftung sowie die Verfahrensweisen zur Bewertung der Übereinstimmung mit technischen Vorschriften und Normen. 48 Verboten sind alle nicht zu rechtfertigenden technischen Vorschriften; rechtfertigend sind, unter anderem, Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen sowie Maßnahmen in Hinblick auf Umweltschutz. Erlaubt sind nur die Maßnahmen, die „notwendig“ sind. 49 Dieses Reziprozitätsverhältnis ist vielfach bemerkt worden, siehe nur Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 100 f.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 40. 50 Dazu oben sub. vor § 2 (insbesondere Fn. 32).

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

Jede vollständige Beantwortung der ersten Fragestellung, für welche Sachverhaltsalternativen normative Vorrangverhältnisse angeordnet sind (Problem der Verbotsbegrenzung), impliziert daher im Umkehrschluß zugleich eine Festlegung aller gleichrangigen Sachverhaltsalternativen (Problem der Erlaubnisbegrenzung). Diese normtheoretische Reziprozität zwischen Verbot und Erlaubnis wird seit jeher trotz ihrer Symmetrie erstaunlicherweise zumeist asymmetrisch aufgelöst. Als klassisch kann die Problemformulierung Kants angesehen werden:51 „Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig [. . .]. Man kann fragen: ob es dergleichen gebe, und, wenn es solche gibt, ob dazu, daß es jemandem freistehe, etwas nach seinem Belieben zu tun oder zu lassen, außer dem Gebotsgesetze (lex praeceptiva, lex mandati) und dem Verbotsgesetze (lex prohibitiva, lex vetiti), noch ein Erlaubnisgesetz (lex permessiva) erforderlich sei.“52 Alle einseitigen Akzentuierungen der Verbote und Gebote einer normativen Ordnung in der Annahme, bereits die Gebote und Verbote könnten aus sich heraus ein scharf konturiertes Bild des Erlaubten liefern, münden – freilich abweichend von Kant53 – in ein „asymmetrisches Mißverständnis“ ein. Im Extremfall werden Erlaubnissätze aufgrund des asymmetrischen Mißverständnisses sogar für entbehrlich gehalten, weil ausgehend von allen Geboten und Verboten im Umkehrschluß die nichtverbotenen Handlungen erlaubt sind, sofern sie nicht geboten sind.54 Die so wahrgenommene „Verzichtbarkeit“ der Erlaubnisnormen ist wenig überraschend angesichts der Reziprozität zwischen Erlaubnis und Verbot. Verzichtet wird dabei freilich nur auf die sprachliche Rekonstruktion des Sachproblems aus der Perspektive der Erlaubnisnormen. Offenbar existiert das Sachproblem aber weiterhin als Problem der Verbotsbegrenzung und stellt sich – bei einem vollständigen Verzicht auf das Problem der Erlaubnisbegrenzung – sogar

51 Darauf beruht der „intrasystematische Gegensatz“ zwischen Recht und Unrecht des Rechtspositivismus bei Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 26 ff. 52 Kant, Metaphysik der Sitten (Erstes Blatt), S. 21 f.; vgl. dazu ferner im größeren Zusammenhang Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 207. 53 Kant setzt fort (a. a. O.): „Wenn dieses ist, so würde die Befugnis nicht allemal eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) betreffen; denn zu einer solchen, wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden.“ Das kann auch so formuliert werden: Alles Gleichgültige ist erlaubt, aber nicht alles Erlaubte ist notwendigerweise gleichgültig; zu den hier sog. atypischen Erlaubnissätzen unten sub. § 3 III. 1. 54 So etwa Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, S. 291 ff.; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 109; ferner Raz, The Concept of a Legal System, S. 172 ff.

§ 3 Erlaubnisbegrenzung

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mit noch größerer Dringlichkeit, weil eine genaue Kenntnis der Verbote und Gebote zur Conditio sine qua non der Substitution aller Erlaubnisnormen wird. Das Problem der Erlaubnisbegrenzung ist nur dann verzichtbar, wenn das Problem der Verbotsbegrenzung aufgelöst ist; letzteres wird aber nicht dadurch gelöst, daß auf ersteres verzichtet wird. Spiegelbildlich wäre das Problem der Verbotsbegrenzung entbehrlich, falls das Problem der Erlaubnisbegrenzung einer umfassenden Klärung zugeführt werden könnte. Gewissermaßen in konsequenter Umkehrung der Kantschen Problemstellung könnte gefragt werden, ob Gebots- und Verbotsgesetze erforderlich sind, sofern umfassend bekannt ist, was erlaubt ist. Denn ausschließlich anhand von Erlaubnissätzen dargestellte normative Ordnungen sind zwar gewiß kontraintuitiv, theoretisch jedoch durchaus vorstellbar. Als weitere Annäherung an das abstrakte Sachproblem, das – auf einer tieferen Ebene – sowohl dem Problem der Erlaubnisbegrenzung als auch dem Problem der Verbotsbegrenzung zugrunde liegt, soll nun auch das Problem der Erlaubnisbegrenzung am Beispiel von zwei seiner Einzelausprägungen nachgezeichnet werden. Es handelt sich dabei um sehr typische – der Rechtsanwendungspraxis bekannte und immer wiederkehrende – Schwierigkeiten mit Rechtsgüterschutzstrukturen55 sowie mit Vorsorgestrukturen56 innerhalb von normativen Ordnungen. Innerhalb unseres Referenzgebiets sind beide Strukturen Bestandteil des Biosicherheitsprotokolls. II. Rechtsgüterschutzstrukturen Das Problem der Erlaubnisbegrenzung stellt sich im Zusammenhang mit dem Prinzip der Risikoverringerung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 BSP. Diese Bestimmung dient dem Schutz der Biodiversität sowie dem Schutz des Rechtsguts „menschliche Gesundheit“. Der Normtext von Art. 2 Abs. 2 BSP lautet dabei wie folgt: Art. 2 Abs. 2 BSP The Parties shall ensure that the development, handling, transport, use, transfer and release of any living modified organisms are undertaken in a manner that prevents or reduces the risks to biological diversity, taking also into account risks to human health.

Obwohl diese Bestimmung leicht als Gebot57 interpretiert werden kann („shall ensure“), soll statt dessen im folgenden die darin enthaltene Erlaubnis55

Dazu unten sub. § 3 II. Dazu unten sub. § 3 III. 57 Als Gebot, die entsprechende Sicherheit im grenzüberschreitenden Verkehr mit lebenden modifizierten Organismen zu gewährleisten. 56

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

komponente näher behandelt werden. Das ist möglich, weil die durch Art. 2 Abs. 2 BSP angeordneten Handelsbeschränkungen dieselbe Klasse von Sachverhaltskonstellationen betreffen, die durch andere normative Einzelaussagen des WTO-Vertragssystems verboten sind. Neben rechtswidrigen gibt es also auch rechtmäßige Handelsbeschränkungen. Indem einzelne konkrete Handelsbeschränkungen nicht gleichzeitig rechtswidrig und rechtmäßig sein können, begrenzen sich die beiden Teilklassen der Handelsbeschränkungen gegenseitig. Ohne den selbständigen Zweck des Rechtsgüterschutzes für Biodiversität und menschliche Gesundheit wären alle Handelsbeschränkungen verboten. Nur weil Art. 2 Abs. 2 BSP die biologische Vielfalt schützt, sind bestimmte Handelsbeschränkungen überhaupt zulässig. Aus dieser Perspektive beinhaltet Art. 2 Abs. 2 BSP somit strukturell eine Erlaubnis. Gleichzeitig begrenzt umgekehrt das Verbot der Handelsbeschränkungen seinerseits die Klasse zulässiger Handelsbeschränkungen, da andernfalls alle Handelsbeschränkungen rechtmäßig wären. So betrachtet ist das Verbot der Handelsbeschränkungen die Grenze zulässiger Schutzmaßnahmen zugunsten der biologischen Vielfalt, ebenso wie die Erlaubnis zulässiger Schutzmaßnahmen zugunsten der biologischen Vielfalt die Grenze verbotener Handelsbeschränkungen ist. 1. Gewißheit Nun weist Art. 2 Abs. 2 BSP ein wichtiges gemeinsames Merkmal aller Strukturen des Rechtsgüterschutzes auf. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Form der Gewißheit, die sich bei allen Rechtsgüterschutzstrukturen aus einem spezifischen Zusammenhang zwischen Tatbestand und Rechtsfolge ergibt. Denn weil die Rechtsfolgen beim Rechtsgüterschutz final und nicht modal umschrieben sind, setzt jede Normanwendung Kenntnisse über künftige Schadensverläufe voraus. Um „Risiken verringern“58 oder „Schäden vermeiden“59 zu können, muß tatbestandlich bekannt sein, was in diesem Sinne gefährlich ist. Darüber hinaus setzt die Rechtsfolgenseite Einsicht in mögliche Vermeidungsstrategien voraus. Das für alle Rechtsgüterschutzstrukturen typische Gebot, „zukünftige Schäden zu vermeiden“, erfordert also mit anderen Worten das Vorhandensein von Prognosen, das seinerseits Ausdruck einer bestimmten Form von Gewißheit ist – die Gewißheit, über eine Prognose zu verfügen. Dieser wichtige erkenntnistheoretische Zusammenhang zwischen Prognosen und Gewißheit wird gemeinhin in genau umgekehrter Weise betont. Das heißt, nicht der Gewißheitsaspekt, sondern vielmehr der Ungewißheitsaspekt von Prognosen wird dergestalt in den Vordergrund gerückt, daß Prognosen geradezu als 58 59

Art. 2 Abs. 2 BSP: „reduce the risks“. Art. 2 Abs. 2 BSP: „prevent . . . the risks“.

§ 3 Erlaubnisbegrenzung

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die „Kunst des Wahrscheinlichen“ erscheinen.60 Die „Wahrscheinlichkeit“61 einer Prognose betrifft aber einen ganz anderen Aspekt als die hier behandelte Gewißheit, denn Prognosewahrscheinlichkeiten beziehen sich auf die Güte – also gewissermaßen auf die Zuverlässigkeit – von Prognosen (und insofern kann selbstverständlich von Ungewißheit gesprochen werden). Demgegenüber betrifft das hier mit Gewißheit bezeichnete Merkmal die schlichte Notwendigkeit einer Prognose als solche. Denn ganz unabhängig von ihrer Qualität, Güte oder „Wahrscheinlichkeit“, setzt Rechtsgüterschutz jedenfalls die Existenz irgendeiner Prognose voraus. Weil es jedoch – jedenfalls bei genauerer Betrachtung62 – alles andere als selbstverständlich ist, daß jederzeit Prognosen in diesem Sinne vorliegen, kann die Existenz einer Prognose als eine Form der Gewißheit bezeichnet werden. 2. Reflexivität Ein weiteres allgemeines Merkmal des Rechtsgüterschutzes ist eine strukturelle Reflexivität (Selbstreferenzialität) zwischen Tatbestand und Rechtsfolge.63 Bei Einschlägigkeit des Tatbestands erfüllen also die angeordneten Rechtsfolgen von Rechtsgüterschutzstrukturen ihrerseits wiederum den Tatbestand derselben Rechtsgüterschutzstrukturen. Das aus dieser Reflexivität resultierende abstrakte Problem wird klarer erkennbar am Beispiel von Art. 2 Abs. 2 BSP, der den Tatbestand des „handling, transport, use, transfer and release“ verknüpft mit der Rechtsfolge der Risikoverringerung beziehungsweise Risikovermeidung. Die typische Zirkelstruktur folgt daraus, daß keine Sachverhaltskonstellation durch bloße Risikoverringerung ihre Eigenschaft verliert, eine tatbestandliche Sachverhaltskonstellation zu sein. Mit anderen Worten bleibt jedes „handling, transport, use, transfer or release“ trotz einer jeweils spezifischen Risikoverringerung ein „handling, transport, use, transfer or release“. Und dementsprechend besteht nach der ersten Risikoverringerung weiterhin die normative Verpflichtung zur erneuten Risikoverringerung. Daran ändert sich auch nichts durch eine erneute Risikoverringerung beziehungsweise Risikovermeidung (und so weiter).

60

Formulierung von C. F. von Weizsäcker; dazu unten sub. Fn. 430. Der Ausdruck der Prognosewahrscheinlichkeit wird hier aus Gründen der Darstellung vorerst noch ganz untechnisch verwendet. Es handelt sich dabei in Wahrheit nicht um eine Wahrscheinlichkeit im Sinne des Kalküls der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zur zutreffenden Konzeption der sog. komparativen Theoriebewertung und dem Bewährungsgrad in Abgrenzung zur Prognosewahrscheinlichkeit unten sub. § 9 I. 3. a). 62 Dazu unten sub. § 8 I. 2., 3. 63 Üblicherweise bezeichnet man eine Relation R als reflexiv, wenn jedes R-Glied zu sich selbst in der Relation steht; näher dazu Klug, Juristische Logik, S. 79. 61

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

Jedes auf diese Weise naiv-selbstreferenzielle Verständnis einer Rechtsgüterschutzstruktur führt approximativ zu „Nullrisiko“-Verpflichtungen, da weitere Risikoreduzierungen erst auf Nullrisikoniveau unmöglich sind. Offenbar kann Rechtsgüterschutz allerdings nicht allgemein gleichgesetzt werden mit der unbedingten Verpflichtung zum Nullrisiko, denn im Fall von Rechtsgüterkollisionen bestehen gegensätzliche Schutzfinalitäten, die notwendigerweise zu Lasten eines der beteiligten Rechtsgüter aufgelöst werden müssen. Denn es gilt: Dilemmasituationen können nicht mit Nullrisikovorschlägen zugunsten beider Rechtsgüter bewältigt werden. Das Sachproblem der Selbstreferenzialität von Rechtsgüterschutzstrukturen beruht auf der Frage, wie weitgehend die konkreten Verpflichtungen zur Risikoreduzierung im Einzelfall sind. Dabei haben Rechtsgüterkollisionen die Eigenschaft, daß erhöhter Schutz für eines der Rechtsgüter notwendigerweise das Schutzniveau des anderen Rechtsguts herabsetzt. Konstellationen dieser Art führen also dazu, daß jeweils ein Rechtsgut nur gewissermaßen auf Kosten eines anderen Rechtsguts realisiert werden kann. Terminologisch ebenfalls formulierbar ist das Problem so, daß gegenläufige Rechtsgüterschutzfinalitäten jeweils für sich als „Optimierungsgebote“ gedeutet werden. Optimierungsgebote in diesem Sinne bezeichnen die möglichst weitgehende Entfaltung jedes Rechtsguts, relativ zu seinen tatsächlichen und rechtlichen Grenzen (sogenannte Prinzipien).64 Innerhalb unseres Referenzgebiets kann dann das Beispiel des Art. 2 Abs. 2 BSP als Prinzip erklärt werden. Als Prinzip optimiert diese Bestimmung dementsprechend die beiden Rechtsgüter Biosicherheit und menschliche Gesundheit. Eine Problemformulierung anhand von Optimierungsgeboten hat für Art. 2 Abs. 2 BSP folgendes Normverständnis zur Folge: „Je gefährlicher eine bestimmte Entscheidung für die biologische Vielfalt unter Berücksichtigung der menschlichen Gesundheit ist, desto eher sollte sie vermieden werden.“65

Dabei darf die Formel vom Optimierungsgebot freilich nicht verwechselt werden mit einer Lösung des Sachproblems. Die Optimierungs-Terminologie reformuliert das Problem vielmehr nur dadurch, daß die beteiligten Rechtsgüter jeweils optimiert werden sollen „relativ zu ihren rechtlichen Möglichkeiten“. 64 Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.; anders akzentuiert Dworkin, Taking Rights seriously, S. 22. 65 Wenn nicht nach dem Grad der Gefährlichkeit unterschieden werden soll, wäre für jede Handelsmaßnahme dieselbe Risikoverringerung notwendig. Das würde wieder zu dem oben aufgezeigten Zirkelschluß führen, da in einem unendlichen Regreß eine stets wiederholte Risikoverringerung erforderlich würde. Demnach muß eine bereits erfolgte Risikoverringerung im Tatbestand von Art. 2.2 BSP berücksichtigt werden. Die Berücksichtigung des verringerten Risikos geschieht durch die Einfügung eines „je gefährlicher“ in die Erklärung des Tatbestands.

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Auch innerhalb der Formel vom Optimierungsgebot stellt sich mit anderen Worten das Problem der Verbotsbegrenzung sehr deutlich, indem für jede Optimierung beantwortet werden muß, was eigentlich die Grenze sein soll, wenn von Optimierungen „relativ zu den rechtlichen Grenzen“ die Rede ist.66 III. Vorsorgestrukturen Eine weitere Einzelausprägung des Problems der Erlaubnisbegrenzung wird deutlich im Zusammenhang mit Vorsorgestrukturen innerhalb normativer Ordnungen. Deren Eigenschaften weichen ganz erheblich von den Merkmalen der Rechtsgüterschutzstrukturen ab. Innerhalb unseres Referenzgebiets veranschaulicht Art. 10 Abs. 6 BSP in Reinform die charakteristische Interpretationsschwierigkeit, die allen Vorsorgestrukturen gemeinsam ist. Diese exemplarische normative Einzelaussage weist den folgenden (etwas schwerfälligen) Wortlaut auf: Art. 10 Abs. 6 BSP Lack of scientific certainty due to insufficient relevant scientific information and knowledge regarding the extent of the potential adverse effects of a living modified organism on the conservation and sustainable use of biological diversity [. . .67], shall not prevent [. . .68] from taking a decision [. . .69] in order to avoid or minimize such potential adverse effects.

Die normative Aussage von Art. 10 Abs. 6 BSP gestattet „vorsorgliche“ Entscheidungen zugunsten von Handelsbeschränkungen in Hinblick auf biotechnologische70 Produkte. Genauer: Die Entscheidungen werden unter der Voraussetzung gestattet, daß keine wissenschaftliche Gewißheit hergestellt werden kann über das Ausmaß der aus den Produkten resultierenden potentiellen Schäden für die biologische Vielfalt sowie für menschliches Leben. Dabei ist wissenschaftliche Gewißheit über Schadensverläufe ausdrücklich keine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit rechtzeitiger Entscheidungen zugunsten von Schutzmaßnahmen gegenüber diesen ungewissen Schadensverläufen. 66 Dieses Problem wird nicht immer gesehen, denn der Begriff der Optimierung suggeriert, daß die rechtliche Begrenzung als Optimum feststellbar ist. Das setzt aber voraus, daß beide Prinzipien und ihre miteinander abzuwägenden Beeinträchtigungen auf eine einzige Skala abgebildet werden könnten. Ausführlicher zur Rekonstruktion der beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht innerhalb der Prinzipientheorie unten sub. § 4. 67 Zu ergänzen ist hier: „in the Party of import, taking also into account risks to human health“. 68 Zu ergänzen ist hier: „that Party“. 69 Zu ergänzen ist hier: „as appropriate, with regard to the import of the living modified organism in question as referred to in paragraph 3 above“. 70 GMO: Lebende, genetisch modifizierte Organismen („living modified organisms“, LMO).

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Allen Vorsorgestrukturen ist ein Regelungsmotiv gemeinsam, das wie folgt formuliert werden kann: Rettende Entscheidungen sollten nicht erst in einem Zeitpunkt rechtmäßig werden, in dem wirksame Abhilfe bereits unmöglich ist. Allgemeiner betrachtet zeichnen sich Vorsorgestrukturen – als „Recht zur rechtzeitigen Entscheidung trotz fehlender wissenschaftlicher Gewißheit“ – also durch eine nachvollziehbare und einfach strukturierte Sachgerechtigkeit aus. Damit sehr eng verbunden – aber weit weniger leicht erkennbar – sind jedoch die gravierenden methodologischen Schwierigkeiten, die sowohl auf der Ebene der Vorsorgetatbestände als auch hinsichtlich der dazugehörigen Rechtsfolgenanordnungen auftreten. Die methodologischen Schwierigkeiten betreffen die einfache Frage, „was“ erlaubt ist, falls Vorsorge erlaubt ist. Es handelt sich insofern also um einen Teilaspekt des Problems der Erlaubnisbegrenzung. 1. Atypie Das kennzeichnende Merkmal aller Vorsorgestrukturen im Recht ist eine interessante Eigenschaft, die hier als „Atypie der Rechtsfolge“ bezeichnet werden soll. Die atypischen Rechtsfolgen normativer Vorsorgestrukturen unterscheiden sich von den demgegenüber typischen Erlaubnissätzen dadurch, daß sie nicht ohne weiteres als einfache Komplementärnormen zu den sonstigen Verboten oder Geboten einer normativen Ordnung rekonstruiert werden können. Atypische Erlaubnissätze konturieren mit anderen Worten nicht den Komplementärbereich von Geboten und Verboten, sondern sie suspendieren statt dessen unmittelbar deren normative Vorgaben. Atypisch sind Erlaubnissätze aufgrund ihres auf andere normative Einzelaussagen verweisenden Charakters, denn atypische Erlaubnissätze heben sonstige – grundsätzlich anwendbare – Normen auf. Die wichtige Funktion von Vorsorgestrukturen liegt nicht in der Erlaubnis der Entscheidung als solcher, also nicht in der Gestattung von Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen trotz fehlender wissenschaftlicher Gewißheit. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß Erlaubnisse dieser Art überhaupt nur unter der Voraussetzung von Bedeutung sein können, daß die Entscheidungen anderenfalls verboten wären, mithin also Normen existieren, die solche Entscheidungen an sich verbieten. Die implizite Bezugnahme atypischer Erlaubnissätze auf andere Normen verhindert zugleich jede einfache Anpassung der Gebote und Verbote im Sinne der These der Substituierbarkeit von Erlaubnissätzen in Rechtsordnungen.71 Funktional erweisen sich Vorsorgestrukturen gewissermaßen als Antirechtssätze. Soweit Vorsorgetatbestände einschlägig sind, gewährleistet deren Rechts71

Dazu oben sub. § 3 I.

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folge, daß keine normativen Entscheidungsvorgaben bestehen. Dementsprechend begrenzen atypische Erlaubnissätze den Anwendungsbereich der normativen Vorgaben einer Rechtsordnung, nicht aber den Inhalt bestimmter Verbote oder Gebote. Atypische Erlaubnissätze können dabei nicht ohne weiteres abgebildet werden auf die ihnen gegenläufigen (und von ihnen suspendierten) Gebote und Verbote, denn Vorsorgetatbestände hängen ab vom Fehlen wissenschaftlicher Gewißheit und sind damit ihrerseits tatbestandlich variabel. Das heißt: Atypische Erlaubnissätze können nicht rekonstruiert werden als Eigenschaft der suspendierten Gebote und Verbote, sondern sie wirken funktional als Selbstbegrenzung der normativen Ordnung. Die normative Selbstbegrenzung durch atypische Erlaubnissätze hängt ihrerseits vom Vorliegen der Vorsorgeungewißheit ab. Umgekehrt entfällt die Selbstbegrenzungsfunktion der Vorsorgestrukturen wieder, sobald Gewißheit vorliegt. Alle bis dahin durch atypische Erlaubnissätze suspendierten Gebote und Verbote sind dann wiederum anwendbare Darstellungen der normativen Ordnung.

2. Ungewißheit Im Gegensatz zu Rechtsgüterschutzstrukturen zeichnen sich alle Vorsorgestrukturen durch tatbestandliche Ungewißheit aus. Eine charakteristische Form der Ungewißheit über die Wirklichkeit ist objektives Tatbestandsmerkmal jeder Vorsorgestruktur. Dieses Tatbestandsmerkmal „Ungewißheit“ ist eine mögliche Eigenschaft der Wirklichkeit. Nicht verwechselt werden darf diese Form der Ungewißheit „als“ objektives Tatbestandsmerkmal normativer Vorsorgestrukturen freilich mit einer Ungewißheit „über“ den objektiven Tatbestand der Vorsorge, also mit Ungewißheit hinsichtlich der Frage, unter welchen Bedingungen der Vorsorgetatbestand objektiv gegeben ist. Man könnte auch sagen: Anders als alle Rechtsgüterschutzstrukturen impliziert Vorsorge keine Gewißheit über Schadensverläufe in der Wirklichkeit. Jede Gewißheit über Rechtsgütergefährdungen betrifft statt dessen unmittelbar Rechtsgüterschutz und schließt sogar umgekehrt die Anwendbarkeit normativer Vorsorgestrukturen aus. Vorsorgestrukturen erlauben ausschließlich solche Maßnahmen der Schadensvermeidung, die zukünftige Ereignisse verhindern sollen, deren Eintreten im Zeitpunkt der Vermeidung ausdrücklich ungewiß ist. Es ist diese objektive Ungewißheit als Tatbestandsmerkmal normativer Vorsorgestrukturen, die erhebliche methodologische und theoretische Schwierigkeiten birgt. Das Tatbestandsmerkmal objektiver Ungewißheit stellt sich für jedes „Urteil bei bloßem Verdacht“ als ein klassisches Problem der Gerechtigkeit dar. Ein Gerechtigkeitsproblem, das bereits Thomas von Aquin eindringlich wie folgt beschrieb:72

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht „Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben es mit äußeren Handlungen zu tun. Deshalb gehört das Urteil, das sich auf bloßen Verdacht stützt, unmittelbar in den Bereich der Ungerechtigkeit, sobald es in einer äußeren Handlung wirksam wird. Und dann ist es eine Todsünde.“

3. Objektivierbarkeit der Ungewißheit Das zentrale methodologische Problem im Tatbestand normativer Vorsorgestrukturen ist die Objektivierbarkeit der Ungewißheit, also die Frage, wann potentielle Schadensverläufe in diesem Sinne ungewiß sind. Ganz einfach formuliert: „Ungewißheit“ als objektives Tatbestandsmerkmal normativer Vorsorgestrukturen muß nachprüfbar unterschieden werden können von „Gewißheit über zukünftige Schäden“ im Sinne des Rechtsgüterschutzes einerseits sowie von „Gewißheit über das Ausbleiben künftiger Schäden“ im Sinne von ungefährlichen Sachverhalten andererseits. Das Problem der Erlaubnisbegrenzung zerfällt also an dieser Stelle in zwei Teilaspekte, solange unklar ist, was erlaubt ist, wenn „Vorsorgemaßnahmen“ erlaubt sind. Innerhalb unseres Referenzgebiets veranschaulicht die normative Einzelaussage von Art. 10 Abs. 6 BSP das Problem der Erlaubnisbegrenzung bei Vorsorgestrukturen sehr direkt. Die allgemeinen Schwierigkeiten, diese Ungewißheit zu verobjektivieren, hängen eng zusammen mit der sprachlichen Negativfassung des Tatbestands von Art. 10 Abs. 6 BSP. Der Tatbestand scheint deswegen negativ gefaßt, weil die Aussage lediglich einzelne objektive Merkmale als entbehrlich bezeichnet. Umgekehrt enthält sie jedoch keine ausdrücklich angeführten objektiven Tatbestandsmerkmale, anhand derer rechtmäßige Vorsorgeentscheidungen nachprüfbar unterschieden werden können von rechtswidrigen Vorsorgeentscheidungen in ungefährlichen Sachverhaltskonstellationen. Der exemplarische Vorsorgetatbestand von Art. 10 Abs. 6 BSP besagt vielmehr nur, welche Sachverhaltseigenschaften seiner Anwendung nicht entgegenstehen, also daß wissenschaftliche Gefahrenzusammenhänge nicht mit Gewißheit bewiesen sein müssen. Ein nachprüfbares Abgrenzungskriterium gegenüber ungefährlichen Sachverhaltskonstellationen folgt daraus allerdings nicht, denn auch in allen ungefährlichen Konstellationen sind potentielle Gefahren wissenschaftlich nicht gewiß. Dieses methodologisch zentrale Verständnisproblem im Zusammenhang mit Art. 10 Abs. 6 BSP haben alle Vorsorgestrukturen gemeinsam. Es kann daher abstrahiert werden. Das Problem ergibt sich aus der Notwendigkeit einer nachprüfbaren Unterscheidung zwischen potentiellen Schadensverläufen, die Gegenstand berechtigter Vorsorgemaßnahmen sind, und „reinen Phantomrisiken“, also 72 Summa Theologica, II.2 qu. 60, 3. – „utrum judicium ex suspicione procedens sit illicium“.

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ungefährlichen Sachverhalten, die den Tatbestand normativer Vorsorgestrukturen objektiv nicht erfüllen. Formulierbar ist diese methodologische Schwierigkeit auch als die Frage, inwiefern unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse zwischen „potentiellen Gefahren“ und „Phantomrisiken“ unterschieden werden kann, sofern „wissenschaftliche Gewißheit“ ausdrücklich keine Voraussetzung normativer Vorsorgestrukturen ist. Ein vielleicht naheliegendes und scheinbar plausibles objektives Merkmal muß von vornherein zurückgewiesen werden. Dieses Scheinkriterium entsteht durch die voreilige Ineinssetzung des Ausdrucks der „fehlenden wissenschaftlichen Gewißheit“ mit dem Ausdruck „potentielle Unkenntnis“. Die Konstellationen der „Unkenntnis über potentielle Gefahren“ müssen nämlich sehr genau unterschieden werden von den Fällen der „potentiellen Unkenntnis über Gefahren“. Nur diese Differenzierung gewährleistet, daß der Tatbestand normativer Vorsorgestrukturen nicht bereits jedesmal dann erfüllt ist, wenn zukünftiger Wissenszuwachs zur Entdeckung neuer Gefahren führen kann („potentielle Unkenntnis“). Denn wäre der Tatbestand normativer Vorsorgestrukturen in allen Fällen lediglich potentieller Unkenntnis über Gefahrzusammenhänge erfüllt, könnte er nur für solche Sachverhaltskonstellationen ausgeschlossen werden, für die bewiesen ist, daß weitere Erkenntnisgewinne unmöglich sind. Alle „Beweise“ dieser Art setzen jedoch voraus, daß auf Grundlage einer begrenzten empirischen Basis gültig auf die unendliche Vielzahl der noch unbekannten zukünftigen Entwicklungen geschlossen werden kann. Aus logischen Gründen sind Schlüsse dieser Art nicht gültig (es handelt sich um die sogenannte Unmöglichkeit gehaltserweiternder Schlüsse).73 Solange also „potentielle Ungewißheit“ in diesem Sinne methodologisch gleichgesetzt wird mit „Unkenntnis über potentielle Gefahren“ als dem objektiven Merkmal normativer Vorsorgestrukturen, sind alle Vorsorgetatbestände – somit auch der Tatbestand von Art. 10 Abs. 6 BSP – in jeder Sachverhaltskonstellation erfüllt. Diese Vorsorgeinterpretation ist nicht wegen ihrer offenbar unzutreffenden Konsequenzen methodologisch unhaltbar, also weil durch sie unter anderem ausgeschlossen würde, daß jemals irgendeine Sachverhaltskonstellation als objektiv nachprüfbar ungefährlich angesehen werden könnte.74 Die Auslegungshypothese ist vielmehr deshalb falsch, weil die tatbestandliche Verweisung aller Vorsorgestrukturen auf „wissenschaftliche“ Ungewißheit insgesamt entbehrlich wäre. Denn normative Ordnungen, die ihre Regelungsadressaten immer zu Vorsorgemaßnahmen ermächtigen sollen, erfordern keinerlei tatbestandliche Verweisungen auf wissenschaftliche Standards oder wissenschaftliche Aspekte der 73 Zur Unmöglichkeit sog. induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse unten sub. § 7 III. 1. 74 Denn auch „ungefährliche“ Sachverhalte können sich jederzeit gefährlich entwikkeln (potentielle Ungewißheit).

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

Ungewißheit. Exemplarisch dafür ist wiederum Art. 10 Abs. 6 BSP: Wäre funktional ein umfassender Erlaubnissatz beabsichtigt, ließe sich dieses Anliegen viel einfacher dadurch ausdrücken, daß „biotechnologische“ Handelsströme immer rechtmäßig eingeschränkt werden dürfen (der Ausdruck „Vorliegen potentieller Unkenntnis“ ist methodologisch äquivalent mit dem Ausdruck „immer“75). Wir fassen zusammen: Eine zufriedenstellende Lösung des Problems der Erlaubnisbegrenzung setzt voraus, daß normative Vorsorgestrukturen, die sich tatbestandlich auf Ungewißheit („lack of scientific certainty“) beziehen, anders erklärt werden können als durch Gleichsetzung mit „potentieller Unkenntnis“. Das methodologisch entscheidende Kriterium für tragfähige Lösungen liegt darin, daß die objektiv interpretierte Ungewißheit im Tatbestand normativer Vorsorgestrukturen in jedem Einzelfall nachprüfbar rekonstruiert werden kann. Ungewißheit muß also potentiell falsifizierbar sein durch die Möglichkeit, das Vorliegen objektiv ungefährlicher Sachverhaltskonstellationen (also Gewißheit) nachweisen zu können.76 Die (auf den ersten Blick paradox erscheinende) Herausforderung besteht darin, das objektive Tatbestandsmerkmal der Vorsorgestrukturen gewissermaßen als sicheres Wissen über vorhandene Unwissenheit rekonstruieren zu können.

§ 4 Risikoentscheidung und Prinzipientheorie Als Prinzipientheorie bezeichnet die vorliegende Untersuchung den maßgeblich von Ronald Dworkin77 und Robert Alexy78 geprägten Erklärungsansatz für normative Ordnungen. Der prinzipientheoretische Ansatz birgt eine Reihe außerordentlicher Vorzüge, die ihn für eine Theorie der Risikoentscheidungen besonders interessant machen. Insbesondere kommt diese Modellvorstellung mit wenigen grundlegenden Theorieelementen aus und deckt damit außerordentlich wichtige Strukturen normativer Ordnungen auf. Das einheitliche Sachproblem,

75

Unmöglichkeit gehaltserweiternder Schlüsse; dazu unten sub. § 7 II. Ausführlich zur Objektivität als Prüfbarkeit unten sub. § 6 III. 1. 77 Als Modellvorstellung zielt die Prinzipientheorie Dworkins im Kern auf eine Widerlegung der beiden wesentlichen Theorieelemente des modernen Rechtspositivismus. Erstens soll durch diese Prinzipientheorie die sog. Grundnorm-Hypothese („rule of recognition“) attackiert werden, die davon ausgeht, daß die Geltung des positiven Rechts durch eine Grundnorm erklärt werden kann, die ihrerseits auf Anerkennung durch die Rechtsanwender beruht. Zweitens beabsichtigt Dworkin eine Widerlegung der These vom notwendigen Beurteilungsspielraum, die für jede Form der Rechtsanwendung einen begrenzten Entscheidungsspielraum aufgrund angeblich unvermeidlicher Ungenauigkeiten der Gesetzessprache („open texture of the law“) annimmt. 78 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff.; ausführlicher zu den Unterschieden zwischen Alexys Prinzipientheorie und der hier formulierten Theorie der Rechtsgüterrelationen vor allem unten sub. § 10. 76

§ 4 Risikoentscheidung und Prinzipientheorie

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das oben bereits als Problem der Verbotsbegrenzung und als Problem der Erlaubnisbegrenzung dargestellt wurde, ist ebenfalls innerhalb der Prinzipientheorie formulierbar. Zwar wird innerhalb des prinzipientheoretischen Standardmodells üblicherweise keine der beiden Fragen in der hier gewählten Weise gestellt, aber es ist wichtig zu sehen, daß beide Probleme dennoch innerhalb der Prinzipientheorie rekonstruierbar sind. Denn das bedeutet, daß die Prinzipientheorie keinen Weg aus der Problemsituation heraus weist. Eine Rekonstruktion unserer Fragestellung aus prinzipientheoretischer Perspektive ist freilich hilfreich, um die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht genauer einordnen zu können. Zugleich erleichtert die Parallelisierung der Problemstellung auch die Darstellbarkeit von Teilen unseres eigenen Lösungsansatzes (Prinzipientheorie und Theorie der Rechtsgüterrelationen).79 I. Prinzipientheorie als Problemperspektive Zur Rekonstruktion des Sachproblems ist hier zunächst ausschließlich der konzeptionelle Grundansatz der Prinzipientheorie von Interesse, nicht aber die mittlerweile kanonisierte Abgrenzungsproblematik zwischen den beiden oftmals als „Fundamentalkategorien“ angesehenen Normtypen „Regel“ und „Prinzip“. Als Problemperspektive ist mit anderen Worten nur der konzeptionelle Gehalt der Prinzipientheorie relevant, insbesondere das brillante Grundmodell, das Prinzipien als Optimierungsgebote ansieht. Die damit beabsichtigte Beschränkung auf die gewissermaßen hinter den Begriffen stehenden konzeptionellen Gehalte der Prinzipientheorie wird dadurch etwas erschwert, daß – abweichend von Dworkins ursprünglicher Konzeption – der Begriff Prinzip gegenwärtig in einer Vielzahl verschiedener Bedeutungsvarianten und vor allem in sehr unterschiedlichen Problemzusammenhängen verwendet wird. Damit einhergehend konnte die Frage nach der „richtigen Definition“ des Prinzipienbegriffs bedauerlicherweise selbst zu einem Gegenstand der Diskussion werden.80 Allerdings kann – wie immer – ein leerer Streit um Worte 79

Dazu vor allem unten sub. § 10. So wird verbreitet der Umstand hervorgehoben, daß es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, Rechtsprinzipien von Rechtsregeln abzugrenzen (vgl. nur Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72; Borowski, JöR n. F. Bd. 50, S. 301 [313]; Neumann, Geltung von Regeln, S. 115; Hain, Grundsätze, S. 98; dazu auch schon Esser, Grundsatz und Norm, S. 202). Bspw. kann man auf „strukturelle Unterschiede“ abstellen, Prinzipien etwa durch ihre „graduelle Erfüllbarkeit“ (Dworkin), ihre „Dimension des Gewichts“ (Alexy; anders etwa Sartorius, Individual Conduct, S. 204) oder ihren Charakter als „Optimierungsgebote“ (Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.; ders., Begriff und Geltung des Rechts, S. 120) von den dann anders gekennzeichneten Regeln abheben. Andere Auffassungen gehen dahin, daß die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien davon abhängig ist, in welcher Weise über die Anwendung von Normen in komplexen 80

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

vermieden werden.81 Denn jede Bezeichnung von Gegenständen hat etwas Willkürliches (bzw. Konventionelles).82 Daß Wortbedeutungen also etwas mit der Historie und dem Ursprung der Wörter zu tun haben, ist leicht einzusehen, denn Worte sind logisch betrachtet konventionelle Zeichen.83 Psychologisch gesehen steht „der Sinn“ eines Wortes für denjenigen fest, der es erlernt hat, dessen Sprachgewohnheiten und Assoziationen also geformt sind.84 Daher ist es für die prinzipientheoretische (und jede andere) Bedeutungsdiskussion wichtig, nicht zu vergessen, daß der Begriff „Prinzip“ – wie jede Konvention – mit beliebigen Inhalten gefüllt werden kann und Konventionen zwar subjektiv geteilt werden mögen, aber niemals objektive Allgemeingültigkeit beanspruchen können.85 Mit dem Konventionalismus von Bedeutungen sehr eng verbunden ist die Unergiebigkeit jedes Versuchs der rationalen Klärung „richtiger“ Begriffsverwendungen. Definitionen sind Vorschläge, die man annehmen oder zurückweisen kann und dabei ist kein Vorschlag wahr oder falsch. Den Vorschlag eines jungen Mannes „Laß uns heiraten“ mit „Das ist falsch“ zu beantworten, wäre

Situationen entschieden wird. Die Differenz zwischen Regeln und Prinzipien wird damit abgelöst von der Normstruktur und betrifft statt dessen graduelle Unterschiede (Raz, The Yale Law Journal, Vol. 81, S. 823 [838]). Davon wiederum deutlich abweichende Konzeptionen weisen Regeln und Prinzipien unterschiedlichen normativen Ebenen zu (vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 5 – „[Prinzipien] rechtfertigen sich aus der Natur der Sache“; Neumann, Geltung von Regeln, S. 115); oder sie untersuchen die begrifflichen Zusammenhänge historisch, indem die „modernere Entwicklung der Unterscheidung“ zwischen Regeln und Prinzipien rechtsgeschichtlich zurückverfolgt wird bis hin zu den „Wurzeln der Prinzipientheorie“ (dazu Huber, Leistungsstörungen I, S. 28 [zur Unterscheidung von institutionellem und prinzipiellem Rechtsdenken im Römischen Recht]; Esser, Grundsatz und Norm, S. 49 [mit Bezugnahme auf Cicero, De Legibus bzw. De Oratore]); vgl. auch den Überblick bei R. Dreier, Der Rechtsbegriff des Kirchenrechts, S. 261 (268 ff.); Christensen/Lerch, Bedeutung und Normativität, S. 100. 81 Die Schärfe der Auseinandersetzung um die „richtige Definition“ täuscht oftmals über entscheidende Punkte inhaltlich-konzeptioneller Auseinandersetzung hinweg. Ein Beispiel für dieses Phänomen liefert Hart in der bloß definitorischen Einverleibung des Dworkinschen Prinzipien-Begriffs in sein eigenes Normkonzept (Concept of Law, S. 259 ff.); zuvor schon Raz, The Yale Law Journal, Vol. 81, S. 823 (845). Das durch den Begriff bezeichnete Dworkinsche Konzept war jedoch ausdrücklich zur Widerlegung der Position Harts entwickelt worden. Dies verdeutlicht die Gefahren, die aus jeder zu starken Fixierung auf Definitionen für kritische Diskussionen erwachsen können, denn natürlich können die zugrunde gelegten Konzepte mitunter trotz übereinstimmender Begrifflichkeit unvereinbar sein. Mißverständlich daher Esser, Grundsatz und Norm, S. 202; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f.; Hain, Grundsätze, S. 100. 82 Ausführlich etwa Quine, Wort und Gegenstand, S. 222 ff. 83 Popper, Vermutungen, S. 26. 84 Popper, Vermutungen, S. 26. 85 Popper, Vermutungen, S. 26, bringt gleichwohl zu einem gewissen Grad Verständnis auf für ein deutschsprachiges Schulkind, das den „unsinnigen“ Gebrach des Wortes „gift“ im Englischen kritisiert.

§ 4 Risikoentscheidung und Prinzipientheorie

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eine Kategorieverfehlung.86 Obwohl viele Gründe denkbar sind, die gegen den Vorschlag sprechen, ein bestimmtes Wort in einer bestimmten Weise zu verwenden, gehört Falschheit niemals dazu, und Wahrheit ist kein Grund, derartige Vorschläge anzunehmen.87 Kurz: Von wissenschaftlichem Interesse kann immer nur die Zweckmäßigkeit einer bestimmten Begriffsverwendung in Hinblick auf ausgesuchte Problemsituationen sein.88 Jedermann kann also den Begriff Prinzip so verwenden, wie er es für richtig hält (und auf die Weise, von der er hoffen kann, am leichtesten verstanden zu werden). Und gleichzeitig können fruchtlose weitere Untersuchungen der „Richtigkeit“ bestimmter Begriffsverwendungen eingestellt werden.89 Zur Rekonstruktion unserer Problemsituation verwenden wir die Prinzipientheorie in der auf Ronald Dworkin und Robert Alexy zurückgehenden Konzeption. Danach sind „Prinzipien“ normative Optimierungsgebote im Hinblick auf spezifische Ziele relativ zu den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten.90 Prinzipien bilden also normative Strukturen ab, die auf möglichst weitgehende Realisierungen bestimmter Idealzustände (Standards) abzielen. Als jeweils einzelnes Strukturmerkmal – gewissermaßen für sich – könnte jedes Prinzip auch als Maximierungsgebot im Hinblick auf jeweils einzelne Ziele (Standards) normativer Ordnungen verstanden werden.91 Prinzipien weisen jedoch unter allen etwas komplexeren Bedingungen gegenläufiger Zielverfolgung im Einzelfall – also im typischen Fall von Prinzipienkollisionen – den Charakter normativer Optimierungsgebote auf.92

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Beispiel bei Salmon, Logik, S. 248. Ausführlicher Salmon, Logik, S. 248 f. 88 Vgl. trotzdem etwa Hain, Grundsätze, S. 96 – „Die Prinzipienforschung [. . .] hat es zunächst mit der Frage zu tun, ob Prinzipien Bestandteil der Rechtsordnung sein können [. . .].“ 89 Treffend Popper, Offene Gesellschaft II, S. 26 – „In der Wissenschaft sorgen wir dafür, daß die Behauptungen, die wir aufstellen, nie vom Sinn unserer Begriffe abhängen. Sogar dort, wo die Begriffe definiert werden, versuchen wir nie aus der Definition irgendein Wissen herzuleiten oder ein Argument auf sie zu gründen.“ 90 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.; ausführlich unten sub. § 10. Damit ist keineswegs gesagt, daß sonstige Vorschläge zur Begriffsbildung falsch wären, sie sind lediglich ohne Wert für die weitere hier beabsichtigte Problemlösung. 91 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 80 f. Fn. 37 – „Eine solche Definition [als Maximierungsgebot] würde jedoch die für Prinzipien konstitutive Relation zu anderen Prinzipien nicht erfassen.“ 92 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.; Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 22, formuliert demgegenüber: „I call a ,principle‘ a standard that is to be observed, not because it will advance or secure an economic, political, or social feature of the economy (though some goals are negative, in that they stipulate that some present feature is to be observed, not because it will advance or secure an economic, political, or social situation deemed desirable, but because it is a reqirement of justice or fair87

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

Prinzipienkollisionen beschreiben somit nichts anderes als Abwägungsvorgänge.93 II. Rationalität und Prognoseverfahren Die Problematik von Verbots- und Erlaubnisbegrenzung entsteht innerhalb der Prinzipientheorie aufgrund immanenter Verknüpfungen zwischen Optimierungen und rationalen Prognoseverfahren. Die prinzipientheoretisch problematische Verbindung beruht hierbei auf einer Teilkongruenz zwischen Optimierungen und Prognosen, denn Optimierungen und Maximierungen beinhalten prognostische Aussagen. Denn alle Maximierungsprobleme implizieren jeweils eine Prognose und alle Optimierungsprobleme beinhalten wenigstens zwei Prognosen. Die Erklärung dafür ist, daß jedes Maximierungskonzept – etwas ausdrücklicher formuliert – nichts anderes gebietet als die Auswahl der günstigsten Variante in Hinblick auf ein spezifisches Ziel. Die Günstigkeit unterschiedlicher Entscheidungsvarianten im Hinblick auf beliebige Ziele kann ihrerseits ausschließlich prognostisch bestimmt werden. Also besteht jedes Maximierungsgebot normativ aus zwei unterschiedlichen Auftragsschritten. Zunächst muß prognostisch die günstigste Option ausgewählt sein, bevor – in einem zweiten Schritt – die Befolgung dieser Entscheidungsvariante normativ geboten ist. Dementsprechend stellen sich potentiell alle Prognoseschwierigkeiten auch in jedem einzelnen Optimierungsverfahren. Denn Optimierung bedeutet gegenüber Maximierung lediglich eine zusätzliche Komplexitätssteigerung. Alle Optimierungsprobleme setzen ihrerseits mehrere unterschiedliche Ziele gleichzeitig voraus, die jeweils für sich nur durch paarweise miteinander unvereinbare Varianten maximiert werden können. Somit sind für Optimierungen wenigstens zwei Maximierungsprognosen bereits als Vorstufe des sich daran anschließenden normativen Ausgleichs der gegenläufigen Zielvorstellungen erforderlich.94 Der prinzipientheoretische Zusammenhang zwischen Optimierung und Prognose hat die wichtige Konsequenz, daß Modellrationalität auf der zweiten Stufe der Normanwendung nur soweit gewährleistet ist, wie das vorgelagerte Prognoseverfahren seinerseits rationalen Standards genügt. Mit anderen Worten: Das auf der zweiten Stufe normativ – optimiert oder maximiert – Gesollte wird

ness or some other dimension of morality).“; grundlegend dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 ff. 93 Ausführlich unten sub. § 10 I. 94 Ausführlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 80 ff. (insbesondere Fn. 37). Die Konstellationen können in mehrdimensionalen Sachverhalten in ihrem Komplexitätsgrad noch weiter zunehmen, sofern mehr als zwei normative Zielvorgaben gleichzeitig realisiert werden müssen.

§ 4 Risikoentscheidung und Prinzipientheorie

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ausschließlich vermittelt durch eine zutreffende Prognoseauswahl auf der Anwendungsstufe zuvor. Somit entfaltet sich die Normativität eines Maximierungsgebots nur so weit, wie auch die Richtigkeit der jeweils vorgelagerten Prognoseauswahl ihrerseits normativ gewährleistet ist. Die sehr enge Verschränkung der Prinzipientheorie mit dem Modell einer adäquaten Prognoseauswahl kann methodologisch als vollständige Abhängigkeit prinzipientheoretischer Rationalität von der Rationalität der jeweils vorgelagerten Prognoseauswahlverfahren interpretiert werden.95 Anders ausgedrückt: Jede para-,96 pseudo- oder unwissenschaftliche Prognoseauswahlkonzeption schließt rationale Rechtsanwendung innerhalb der Prinzipientheorie kategorisch aus.97 Zwar können die prinzipientheoretisch für Maximierungen und Optimierungen erforderlichen Prognosen in sehr vielen Standardkonstellationen mühelos ausgewählt werden. Andere Sachverhalte weisen aber Ungewißheiten auf, die anspruchsvollere Prognoseauswahlkonzeptionen erforderlich machen. Insofern ist das Referenzgebiet exemplarisch für solche Prognosesituationen, die deutlich mehr theoretischen Hintergrund voraussetzen als die appellative Berufung auf bloße Evidenzfeststellungen. Die abstrakte Möglichkeit anspruchsvoller Prognosesituationen wird dadurch zum allgemeinen Theorieproblem, denn auch Prinzipientheorien, die sich auf gewissermaßen „einfache“ Prognosesituationen beschränken, müssen Aussagen darüber enthalten, woran die in diesem Sinne einfachen Prognosen erkennbar sind. Die Prinzipientheorie löst also Optimierungsprobleme nur soweit, wie sie die Problematik der Prognoseauswahl methodologisch bewältigt. Die Probleme der Verbotsbegrenzung und der Erlaubnisbegrenzung stellen sich infolgedessen innerhalb der Prinzipientheorie auf der Folie der Prognoseauswahlproblematik: Prinzipientheoretisch ist das verboten, was gegen die Optimierungsgebote verstößt, und gegen Optimierungsgebote verstößt, was falsch ausgewählte Prognosen zugrunde legt. Die Schwierigkeit der Verbotsbegrenzung kann also prinzipientheoretisch in die Frage gekleidet werden, „was“ verboten ist, wenn „falsche Optimierungen“ verboten sind. Aus prinzipientheoretischer Perspektive kann man die abstrakte Problematik von Verbots- und Erlaubnisbegrenzungen im Referenzgebiet auf zwei verschiedene Arten näher veranschaulichen. Rechtsgüterrelationen erscheinen dabei entweder als ultima-ratio-Konstellationen98 oder als Rechtfertigungsstrukturen99. 95

Dazu Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 15 ff. Zum Konzept der „Prophezeiung“ als parawissenschaftlichem Gegenstück zur wissenschaftlichen „Prognose“ siehe unten sub. § 8 III. 4. 97 Das übersieht insbesondere Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 385 ff. 98 Dazu sogleich unten sub. § 4 III. 99 Dazu unten sub. § 4 IV. 96

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

III. Rechtsgüterrelationen als „ultima ratio“-Konstellationen Eine ganze Klasse typischer Interpretationsschwierigkeiten kann als Einzelausprägung der allgemeinen Problemstellung der Theorie der Rechtsgüterrelationen rekonstruiert werden. Ganz dem besonderen Problem rechtmäßiger Einschränkungen des Welthandels in Abhängigkeit von näher zu bestimmenden Notwendigkeiten des Umweltschutzes entsprechend, muß jede allgemeine Theorie der Rechtsgüterrelationen die Unterscheidungen zwischen „notwendigen“ und „nicht-notwendigen“ Beeinträchtigungen von Rechtsgütern nachprüfbar erklären können. Erklärt werden muß damit der Unterschied zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Rechtsgüterbeeinträchtigungen. Die allgemeine Problemstellung betrifft also alle Sachverhaltskonstellationen, in denen zum Schutz eines Rechtsguts Beeinträchtigungen eines anderen Rechtsguts hingenommen werden. „An sich“ normativ unerwünschte Entscheidungen sind dabei gewissermaßen als ultima ratio rechtmäßig. Sofern bedingte Rechtsgüterrelationen vorliegen, zielt die entscheidende Frage auf die Erkennbarkeit derjenigen Bedingungen ab, die von normativen Ordnungen als ultima ratio-Konstellationen angesehen werden. Das Problem einer allgemeinen Theorie der Rechtsgüterrelationen kann deshalb wie folgt präzisiert werden: „Unter welchen Bedingungen sind Entscheidungen zugunsten eines Rechtsguts ,notwendig‘ (im Sinne von rechtmäßig), obwohl sie gleichzeitig Entscheidungen gegen ein anderes Rechtsgut einer Güterrelation sind?“

IV. Rechtsgüterrelationen als Rechtfertigungsstrukturen Die allgemeine Problemstellung einer Theorie der Rechtsgüterrelationen kann prinzipientheoretisch auch als Problem normativer Rechtfertigungsstrukturen rekonstruiert werden. Rechtfertigungsstrukturen entstehen immer dann, wenn Entscheidungen für Rechtsgüterbeeinträchtigungen damit erklärt werden, daß gleichzeitig Beeinträchtigungen anderer Rechtsgüter vermieden werden können. Die Beeinträchtigung eines Rechtsguts wird damit normativ mit der Abwendung der Beeinträchtigung eines anderen Rechtsguts gerechtfertigt. Immer wenn Rechtsgüterrelationen als Rechtfertigungsstrukturen betrachtet werden, entsteht mit anderen Worten die etwas naive Frage, ob ein „guter“ Zweck „schlechte“ Mittel rechtfertigen kann. Innerhalb jeder Rechtfertigungsstruktur stellt sich vor allem eine bestimmte Art von Frage: Inwiefern ist die Annahme berechtigt, daß ein bestimmtes „Mittel“ wirklich zu einem erwarteten „Zweck“ führt.100 Oder anders gewendet: Inwiefern ist die Vermeidung einer bestimmten Rechtsgüterbeeinträchtigung wirklich die Kehrseite der Schädigung eines anderen Rechtsguts. Diese 100

Popper, Offene Gesellschaft I, S. 394.

§ 4 Risikoentscheidung und Prinzipientheorie

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Problematik hängt wiederum eng zusammen mit dem methodologischen Bedürfnis nach Prognoserationalität innerhalb der Prinzipientheorie.101 Es muß dabei für jede Rechtfertigungsstruktur unterschieden werden können zwischen einem „wirklichen Risiko“ und „sicheren Sachverhalten“ im Hinblick auf die jeweiligen Rechtsgüter, denn alle dem Bereich „Sicherheit“ zuzuordnenden Sachverhaltskonstellationen scheiden als Rechtfertigungskandidaten für Rechtsgüterbeeinträchtigungen aus. Die Abwendung reiner „Phantomrisiken“ ist kein „Zweck“, der irgendein „Mittel“ in Form von Rechtsgüterbeeinträchtigungen rechtfertigt. Diese Frage ist zwar eine – man kann sagen: rein wissenschaftsakzessorische102 – Tatsachenfrage und kein Problem sittlicher Bewertungen. So betrifft sie nichts anderes als die Schwierigkeit, ob eine angenommene Kausalverbindung zwischen Mittel und Zweck jeweils verläßlich ist.103 Allerdings birgt diese reine Tatsachenfrage gleichzeitig eines der wichtigsten sittlichen Probleme, das vor allem eng mit der Einsicht in die Beschränktheit unseres Wissens zusammenhängt.104 Es handelt sich dabei um das sittliche Problem, das Karl Popper wie folgt darstellte: „Manche Leute sind vielleicht sehr fest davon überzeugt, daß [in bestimmten Situationen bestimmte] kausale Verknüpfungen bestehen; aber die Verknüpfung kann eine sehr fragwürdige sein; und die emotionale Sicherheit ihres Glaubens selbst könnte das Ergebnis eines Versuchs sein, alle Zweifel zu unterdrücken. (Es handelt sich um eine Auseinandersetzung zwischen dem Fanatiker und dem Rationalisten im sokratischen Sinne – dem Mann, der seine intellektuellen Grenzen zu erkennen trachtet.)“105

Der für Rechtfertigungsstrukturen wichtige Zusammenhang zwischen wissenschaftsakzessorischen Tatsachenfragen und normativer Sittlichkeit kann vorerst wie folgt ausdifferenziert werden. Die eine Teilfrage, ob Kausalverknüpfungen zwischen Mitteln und Zwecken bestehen, ist eine wissenschaftsakzessorische Tatsachenfrage, gewissermaßen das fachwissenschaftliche Problem konkreter Prognoseerstellungen. Demgegenüber lautet die ganz anders geartete Teilfrage, ob eine bestimmte erstellte Kausalverknüpfung als „wissenschaftliche“ Kausalverknüpfung anzusehen ist oder nicht, etwa weil sich die erstellte Kausalverknüpfung möglicherweise nur auf fanatischen Glauben gründet. Diese Frage kann als normative oder, um noch genauer zu sein: methodologische Frage interpretiert werden. Man könnte diese Frage formulieren als das methodologische Problem, „geeignete“ – und in diesem Sinne wissenschaftliche – Prognosen aus

101 102 103 104 105

Dazu oben sub. § 4 II. Zur Wissenschaftsakzessorietät unten sub. § 6 I. Popper, Offene Gesellschaft I, S. 394. Hayek, Freiburger Studien, S. 13. Popper, Offene Gesellschaft I, S. 395.

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

der Menge aller erstellten Prognosen auszuwählen. Kurz: Welche der unterschiedlichen Möglichkeiten konkreter Prognoseerstellungen ist wissenschaftlich?

§ 5 Induktionsproblem und Abgrenzungsproblem Alle bis hierhin behandelten Einzelschwierigkeiten der Verbots- und Erlaubnisbegrenzungen106 können auf eine einheitliche, deutlich abstraktere Fragestellung reduziert werden. Die abstrahierte Fragestellung formt eines unserer beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht. Bei dieser Vereinheitlichung der Fragestellung handelt es sich um das Induktionsproblem.107 Neben dem Induktionsproblem, das man gewissermaßen als den gemeinsamen Problemhintergrund der bisher aufgeworfenen Fragestellungen betrachten muß, werden wir im Anschluß daran das andere Grundproblem der Risikoentscheidungen im Recht näher konturieren, das Abgrenzungsproblem108. Anders als das Induktionsproblem betrifft das Abgrenzungsproblem nicht so sehr unmittelbar erfahrbare „praktische“ Schwierigkeiten, wie die Verbots- und Erlaubnisbegrenzungen, sondern statt dessen eine methodologische, man kann auch sagen: metatheoretische Frage, die ihrerseits erst durch das Induktionsproblem und dessen Lösung hervorgerufen wird. Als ein gegenüber dem Induktionsproblem noch weiter vertieftes, gewissermaßen fortgeschritteneres Problem, verdient das Abgrenzungsproblem noch größeres theoretisches Interesse.109 Allerdings: Trotz seiner Abstraktheit ist das Abgrenzungsproblem nicht nur von theoretischer Bedeutung.110 Auch (und gerade) für die Praxis der Rechtsanwendung ist es von allergrößter Aktualität. Unabhängig davon erweist sich das Abgrenzungsproblem aus erkenntnistheoretischer Sicht als wesentliches Zentralproblem, auf das man – unter anderem – das Induktionsproblem zurückführen kann.111

106 Die Einzelprobleme der Rechtsgüterschutzstrukturen und der Vorsorgestrukturen, Ausnahme- und Verhältnismäßigkeitsvorbehalte sowie die Prognoseproblematik innerhalb der Prinzipientheorie. 107 Dazu ausführlich unten sub. § 5 I. 108 Dazu ausführlich unten sub. § 5 II. 109 Popper, Erkenntnistheorie, S. 4; dazu bereits zuvor ders., Erkenntnis 3, S. 426. 110 Lehrreich zum Verhältnis zwischen Theorie und Praxis die kurze Schrift Kants „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“; ausführlicher zu Methodologie und Praxis auch unten sub. § 11. 111 Allgemeiner Popper, Erkenntnistheorie, S. 4.

§ 5 Induktionsproblem und Abgrenzungsproblem

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I. Normative Ordnung und Unterscheidung von Verbot und Erlaubnis – Das Induktionsproblem Man findet alle wirklichen (und in diesem Sinne: positiven) Rechtsordnungen immer dargestellt in Form einer jeweils endlichen und damit beschränkten Anzahl normativer Einzelaussagen.112 Um etwas genauer zu sein: Alle normativen Einzelaussagen können aufgefaßt werden als Darstellungen bestimmter Ausschnitte bestimmter Rechtsordnungen. Eine endliche, beschränkte Anzahl normativer Einzelaussagen sollte daher niemals verwechselt werden mit der durch sie dargestellten „normativen Ordnung an sich“. Jede monistische Gleichsetzung von Ordnung und Darstellung der Ordnung ist sehr unzweckmäßig, weil Darstellungen eben niemals identisch sind mit dem Dargestellten. Dieses – nicht ganz triviale – Verhältnis zwischen normativen Einzelaussagen einerseits und ihren (durch die Einzelaussagen dargestellten) Rechtsordnungen andererseits kann so interpretiert werden, daß normative Einzelaussagen gewissermaßen dasjenige sind, was von den dargestellten Rechtsordnungen bekannt ist. Nun sind Interpretationen vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung stets Erklärungen der „Rechtsordnungen an sich“, nicht aber Erklärungen der bekannten normativen Einzelaussagen. Und wir können das Verhältnis zwischen „normativen Ordnungen an sich“, deren jeweiliger Interpretation sowie den bekannten normativen Einzelaussagen einheitlich strukturieren anhand unseres Erkenntnisinteresses. Dabei sollen durch Interpretationen die „normativen Ordnungen an sich“ erkannt werden, von denen zunächst nicht mehr bekannt ist als ihre Einzeldarstellungen in Form der endlichen und beschränkten Anzahl normativer Einzelaussagen. Das Ziel von Interpretation – mit anderen Worten also das Erkenntnisinteresse an „normativen Ordnungen an sich“ – kann (rein wissenschaftlich) natürlich als Selbstzweck betrachtet werden. Empfehlenswert ist jedoch die gleichzeitige Einordnung in den größeren, gewissermaßen funktionalen Zusammenhang. Denn das Erkenntnisinteresse an „normativen Ordnungen an sich“ hängt als solches sehr eng zusammen mit dem normativen Ideal der Rechtsanwendungsgleichheit, also dem moralischen Ideal der rule of law and not of men. Um das liberale Ideal einer Gleichheit der Maßstabsanwendung in Hinblick auf alle zukünftigen Sachverhaltskonstellationen verwirklichen zu können, müs112 „Normative Einzelaussagen“ sind etwa die einzelnen Aussagen, die zusammenhängende Kodifikationen bilden; solche Aussagen können jedoch ebenso in case law basierten normativen Ordnungen der endlichen und beschränkten Anzahl von Präjudizien entnommen werden. Anders gewendet: Ob jeweils Kodifikationen oder Präjudizien (oder Kodifikationen und Präjudizien) als konkrete Darstellungen einer normativen Ordnung gewählt werden, ist für das Problem der Rekonstruktion der jeweiligen normativen Ordnung ebenso irrelevant wie für das Induktions- und das Abgrenzungsproblem.

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

sen die normativen Einzelaussagen in dem Sinne einheitlich verstanden werden, daß alle normativen Einzelaussagen Darstellungen derselben Rechtsordnung sind. Interpretationen – als allgemeine Sätze über diejenige „normative Ordnung an sich“, die in Form von normativen Einzelaussagen dargestellt ist – sind notwendige Voraussetzung dafür, daß die Menge normativer Einzelaussagen einer durch sie dargestellten Rechtsordnung in unterschiedlichen Sachverhaltskonstellationen einheitlich rekonstruiert werden kann. Allgemeine Sätze (Interpretationen von „normativen Ordnungen an sich“) auf der Grundlage besonderer Sätze (der endlichen und beschränkten Anzahl bekannter normativer Einzelaussagen) sind immer dann erforderlich, wenn „normative Ordnungen an sich“ in der unbeschränkten Vielzahl zukünftiger Entscheidungsalternativen der Wirklichkeit einheitlich anwendbar sein sollen, wenn also das Ideal der rule of law and not of men realisiert werden soll.113 Um eine beliebige „normative Ordnung an sich“ erklären zu können, müssen Interpretationen allgemeine Aussagen über eine Ordnung machen, die durch bekannte normative Einzelaussagen lediglich in einzelnen Facetten dargestellt ist. Nun ist dieser Befund jedoch alles andere als selbstverständlich, impliziert er doch, daß allgemeine Sätze (Interpretationen) gewissermaßen als „Sätze über Sätze“ aufgestellt werden können. Oder, um genauer zu sein: daß allgemeine Aussagen (Interpretationen) möglich sind auf der Grundlage einer endlichen und beschränkten Anzahl bekannter Aussagen (normativer Einzelaussagen). Die beiden damit zusammenhängenden Fragen, weshalb solche allgemeinen Sätze (Interpretationen) aufgestellt werden können, sowie: was genau damit gemeint ist, gewissermaßen „allgemeine Gesetzmäßigkeiten“ über normative Einzelaussagen114 aufzustellen, umreißen wesentliche Konturen des Induktionsproblems. Als Induktionsproblem wird hiernach die Frage nach der Geltung beziehungsweise die Frage nach der Begründung derjenigen allgemeinen Sätze bezeichnet, die ihrerseits als Interpretationen „normativer Ordnungen an sich“, sowie als Rekonstruktionen der normativen Einzelaussagen anzusehen sind. Anders ausgedrückt lautet das Induktionsproblem: Können Interpretationen – konzipiert als allgemeine Sätze – allgemeingültig sein für normative Ordnungen? Können also gültige allgemeine Sätze auf normative Einzelaussagen gegründet werden? Letztlich geht es mithin um die Frage, ob man mehr wissen kann, als man weiß.115

113 Siehe zur normativen Deutung methodologischer Festsetzungen sowie zur Deutung der rule of law and not of men als methodologischer Grundentscheidung unten sub. § 8 V. 3. 114 Das bedeutet, allgemeine Gesetze über die normativen Einzelaussagen positiver Rechtsordnungen, wenn man so will: Sätze über Sätze. 115 Abstrakter Popper, Erkenntnistheorie, S. 3; ferner ders., Erkenntnis 3, S. 426.

§ 5 Induktionsproblem und Abgrenzungsproblem

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Wir fassen zusammen: Das Induktionsproblem stellt sich immer dann, wenn mehr über eine normative Ordnung gesagt werden soll als bloße Wiederholungen bereits bekannter normativen Einzelaussagen, die ihrerseits Darstellungen der „normativen Ordnung an sich“ sind. Das Induktionsproblem entsteht also insbesondere dann, wenn Aussagen über „normative Ordnungen an sich“ gemacht werden. Eine Lösung des Induktionsproblems ist somit wesentliche Voraussetzung dafür, daß die rule of law and not of men realisierbar ist. II. Normative Ordnung und Interpretation – Das Abgrenzungsproblem Das Induktionsproblem kann wesentlich zurückgeführt werden auf das logische Verhältnis zwischen den bekannten normativen Einzelaussagen einerseits sowie den allgemeinen Interpretationen andererseits. Demgegenüber betrifft das Abgrenzungsproblem, also das zweite Grundproblem der Risikoentscheidungen im Recht, im Kern das Verhältnis zwischen „normativer Ordnung an sich“ auf der einen Seite sowie spekulativen116 Interpretationen der jeweiligen Ordnung auf der anderen Seite. Dieses Problem hängt sehr eng damit zusammen, daß jede Form wissenschaftlicher Interpretation „normativer Ordnungen an sich“ eine Sicherung der interpretierten Ordnung gegenüber sonstigen Ansprüchen beliebiger externer Maßstäbe erfordert. Das Ideal wissenschaftlicher Interpretation normativer Ordnungen (verstanden als die Erkenntnis einer bestimmten normativen Ordnung) setzt aus diesem Grund erkenntnistheoretisch ein allgemeinverbindliches Kriterium voraus, das es gestattet, die Entscheidungen der normativen Ordnung – also die Normativität der interpretierten Ordnung – zu unterscheiden von allen sonstigen „Behauptungen mit normativem Anspruch“.117 Das Abgrenzungsproblem besteht dementsprechend aus der Frage nach dem Abgrenzungskriterium zwischen wissenschaftlichen und sonstigen Erkenntnissen über normative Ordnungen. Es entsteht also aus der Problematik, wie allgemeinverbindlich in Zweifelsfällen darüber entschieden werden kann, ob Aussagen über eine Rechtsordnung deren Normativität wissenschaftlich feststellen, oder ob es sich bei den zweifelhaften Aussagen statt dessen um sonstige Aussagen handelt. Vereinfacht gesprochen: Wann eigentlich ist eine Aussage über eine normative Ordnung keine Wissenschaft?118 In diesem Sinne unwissenschaftliche Aussagen können entweder metaphysische Spekulationen über die möglichen Inhalte der interpretierten normativen Ordnungen sein,119 oder es

116

Ausführlich zum Einwand des Spekulationismus unten sub. § 10 VI. Abstrakter Popper, Erkenntnistheorie, S. 4. 118 Abstrakter Popper, Erkenntnistheorie, S. 4. 119 D. h.: Aussagen, die wie wissenschaftliche Aussagen über die normative Ordnungen scheinen. 117

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Kap. I: Die beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht

handelt sich um fremdmaßstabsbezogene120 oder sogar gänzlich maßstabsunabhängige Aussagen. In der Weise, wie wir das Abgrenzungsproblem jetzt formuliert haben, wird es manchmal mit Pedanterie verwechselt. Dabei wird jedoch leicht übersehen, daß das Abgrenzungsproblem ein ebenso wichtiges wie interessantes Sachproblem birgt. Solchermaßen berechtigte Zurückhaltung gegenüber einem mißverstandenen und damit unterschätzten Abgrenzungsproblem antizipierte Karl Popper sehr treffend: „Was liegt schon an einem Namen, an einer Unterscheidung, an einer Klassifizierung oder an einer Abgrenzung? Wenn es uns wirklich um Erkenntnis geht, wenn es unser Ziel ist, etwas [. . .] zu erfahren, was kümmern uns dann die Abteilungen oder Einteilungen, denen unser zukünftiges Wissen zugeordnet werden kann. Fächer und andere Unterteilungen des Wissens sind [. . .] fiktiv und äußerst irreführend, mögen sie auch als administrative Einheiten sehr nützlich sein.“121

Wichtig ist daher vor allem, die Bedeutung des Abgrenzungsproblems richtig einzuschätzen. Es handelt sich bei der Frage des Abgrenzungsproblems nicht um das semantische Problem, welcher Wissenschaftsbegriff richtigerweise verwendet werden sollte, beziehungsweise auf welche Weise Wissenschaftlichkeit „richtig“ definiert werden kann.122 Das Abgrenzungsproblem erwächst vielmehr aus dem wirklichen Problem, wie Erkenntnis über „normative Ordnungen an sich“ möglich ist. Es geht also um die wirkliche Frage, wie eine Beliebigkeit der Erkenntnisse – ein „anything goes“ der Interpretation – verhindert werden kann. Das Abgrenzungskriterium der Unwissenschaftlichkeit ist lediglich ein semantisches Kürzel für das dringende methodologische Bedürfnis, irgendwelche Interpretationen ausschließen zu können. Das Abgrenzungsproblem entspringt dabei nicht dem Wunsch, irgendwelche Aussagen als unwissenschaftlich zu bezeichnen, sondern der methodologischen Notwendigkeit, zwischen konkurrierenden Aussagen über normative Ordnungen objektiv entscheiden zu müssen. Kurz: Das Abgrenzungsproblem behandelt keine semantischen Spielereien, sondern die sehr ernsthafte Frage nach den Grenzen der Objektivität bei Interpretationen von normativen Ordnungen. Abschließend können wir das Verhältnis unseres Abgrenzungsproblems zur gegenwärtig modernen Interpretationstheorie in folgender Weise grob skizzieren. Vor dem Hintergrund des relativistischen Subjektivismus, der mit allen monistischen Interpretationslehren verbunden ist, wird unser Abgrenzungsproblem, 120 D. h.: Aussagen, die bestimmte ethische, moralische, religiöse und sonstige externe Maßstäbe nicht hinreichend von der interpretierten Ordnung unterscheiden. 121 Popper, Realismus, S. 184. 122 Zur Fruchtlosigkeit von Diskussionen um richtige Begriffsverwendungen siehe oben sub. § 4 I.

§ 5 Induktionsproblem und Abgrenzungsproblem

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ebenso wie die mit dem Abgrenzungsproblem eng verbundene Frage nach Objektivität von Interpretationen – um ganz vorsichtig zu formulieren – nicht vorrangig diskutiert. Viel eher kann die – geradezu umgekehrte – relativistische Tendenz beobachtet werden, die für unmöglich123 erachtete Objektivität von Interpretation durch Rationalitätsvarianten konzeptionell zu substituieren. Derlei Substitutionen gehen üblicherweise einher mit inhaltlichen Modifikationen der Objektivitätsfrage. Allerdings: Noch hat keine einzige Position innerhalb des relativistischen Subjektivismus je ernsthaft bestritten, daß jedes unkontrollierte Hineinlesen von Inhalten in normative Ordnungen Manipulationsgefahren birgt, die wenigstens ein Stück weit zu verhindern ein wichtiges Anliegen ist. Die Lösung des Abgrenzungsproblems – und damit verbunden: die Objektivitätsfrage – steht in enger Nähe zur erforderlichen Entflechtung des Induktionsproblems. Im weiteren Fortgang der Untersuchung wird die Lösung des Abgrenzungsproblems deshalb zunächst zurückgestellt, um sie nach ausführlicherer Abhandlung des Induktionsproblems im vollständigen Zusammenhang darstellen zu können.124 Mit diesen Präzisierungen beider Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht können wir unsere Analyse der Problemsituation vorläufig beschließen. Die beiden unterschiedlichen Problemstellungen (Induktionsproblem und Abgrenzungsproblem) werden nun im Rahmen des folgenden zweiten Kapitels als die beiden wichtigsten Aufgaben zugrunde gelegt, die jede allgemeine Theorie der Rechtsgüterrelationen bewältigen muß.

123

Siehe zum Einwand der Uneignung formal-logischer Systeme unten sub. § 6

III. 4. 124

Dazu unten sub. § 10 VI., VII.

Kapitel II

Theorie der Rechtsgüterrelationen Zur konzeptionell vollständigen Beantwortung beider Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht wird in diesem Kapitel eine Theorie der Rechtsgüterrelationen vorgeschlagen.125 Noch vorab muß allerdings – vor allem aus Gründen besserer Darstellbarkeit – auf einige methodologische Vorfragen eingegangen werden.126 Diese Vorfragen haben sehr weitreichende Konsequenzen, insbesondere in Hinblick auf die sich daran anschließende Darstellung und Kritik der verschiedenen Standardlösungen des Induktions- sowie des Abgrenzungsproblems.127 Darüber hinaus liefern die Hinweise zu den methodologischen Vorfragen auch bereits wichtige Aufschlüsse über unsere Theorie der Rechtsgüterrelationen.

§ 6 Wissenschaftsakzessorietät und Methodologie I. Wissenschaftsakzessorietät Mit dem Begriff Wissenschaftsakzessorietät wird im folgenden eine methodologische Fundamentaleigenschaft derjenigen normativen Ordnungen gekennzeichnet, die auf die Wirklichkeit anwendbar sind. Im Kern ist damit gemeint, daß jede Erkenntnis über normative Einzelaussagen nur relativ zu bestimmten naturwissenschaftlichen Prognosen erfolgen kann. Jede Erkenntnis normativer Einzelaussagen bezieht nämlich immer außerrechtliche – das heißt: nichtnormative – Hypothesen mit ein.128 Normative Einzelaussagen können mit anderen Worten nur in Verbindung mit sonstigen – naturwissenschaftlichen – Annahmen rekonstruiert werden.129

125

Dazu unten sub. §§ 8, 9 und 10. Dazu unten sub. § 6. 127 Dazu unten sub. § 7. 128 Zum Verhältnis von Prognosen zu wissenschaftlichen Hypothesen ausführlich unten sub. § 8 III. 129 Für eine sehr interessante Analyse des „Problems der sozialen Ordnung als normativem Problem“ vgl. Albert, Ideal der Freiheit, S. 33 ff.; eine genauere Darstellung der hier vertretenen Auffassung im Verhältnis zu Alberts „Leistungsmerkmalen“ normativer Ordnungen unten sub. § 10 I. (insbesondere Fn. 1299). 126

§ 6 Wissenschaftsakzessorietät und Methodologie

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Als methodologische Eigenschaft anwendbarer normativer Ordnungen darf Wissenschaftsakzessorietät nicht verwechselt werden mit der ausschließlich praktischen Komplikation erschwerter Sachverhaltsaufklärung,130 also mit der bekannten und bereits oben kurz angesprochenen Schwierigkeit, die Tatsachen der Wirklichkeit zunächst (wissenschaftlich) feststellen zu müssen, um normative Ordnungen dann anschließend auf die so „aufbereitete Wirklichkeit“ anwenden zu können (Tatsachen als gemeinsames Produkt aus Wirklichkeit und Sprache). Ebensowenig bezeichnet Wissenschaftsakzessorietät die Begründung normativer Einzelaussagen – also die Herleitung des Maßstabs – mit der Wirklichkeit oder durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse (der Versuch, normative Maßstäbe aus der Wirklichkeit abzuleiten, ist ein Mißverständnis, das als naturalistischer Fehlschluß bezeichnet werden kann). Mit anderen Worten kann also der strikte Dualismus zwischen Tatsachen und Maßstäben trotz der Wissenschaftsakzessorietät normativer Ordnungen aufrechterhalten werden. Das heißt, normative Entscheidungen können nicht in der Wirklichkeit erkannt werden, sondern ausschließlich in normativen Ordnungen (Maßstäben), die sich freilich ihrerseits auf die Wirklichkeit beziehen.131 Wissenschaftsakzessorisch ist der Maßstab selbst, der auf die – hilfsweise wissenschaftlich – festgestellte Wirklichkeit angewendet wird. Eine einfache und sehr kurze – freilich abstrakte – Erklärung der Wissenschaftsakzessorietät des Maßstabs kann bereits unserer oben eingeführten Deutung normativer Ordnungen als objektive Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen entnommen werden:132 (1) Danach sind alle normativen Einzelaussagen als Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen (A1 und A2) erklärbar. (2) Beliebige Sachverhalte sind ihrerseits nur unter der einschränkenden Voraussetzung „Sachverhaltsalternativen“, daß eine gemeinsame Ausgangssituation133 möglich ist, die sich ausschließlich134 entweder zum einen der alter130 Zu den damit verbundenen – wie wir sehen werden: technischen – Komplikationen der „Rechtsentscheidung im wissenschaftlichen Meinungsstreit“ ausführlich unten sub. § 8 V. 1. 131 Demgegenüber haben bspw. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Heinrich Marx einen Maßstabsmonismus vertreten, der sie zu moralischem Relativismus (Hegel) bzw. moralischem Futurismus (Marx) führte. Interessant ist, daß auch der moderne Rechtspositivismus keinen strikten Dualismus zwischen Tatsachen und Maßstäben durchhält, indem er die tatsächliche Befolgung von Regeln als Geltungsvoraussetzung des Maßstabs versteht (Hart, Concept of Law, S. 23). 132 Dazu oben sub. Vor § 2. 133 Technisch genauer betrachtet handelt es sich dabei um Anfangsbedingung; dazu unten sub. § 8 III. 3. 134 „Ausschließlich“ meint, daß ausgeschlossen sein muß, daß sich andere Sachverhalte als A1 oder A2 aus der Situation entwickeln können.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

nativen Sachverhalte (A1) entwickeln kann oder zum anderen Sachverhalt der beiden Sachverhaltsalternativen (A2). (3) Das Wissen darüber, ob (und wenn ja, welche) gemeinsame(n) Ausgangssituationen möglich sind, die dergestalt entweder zu A1 oder A2 führen, hängt von naturwissenschaftlichen Prognosen ab.135 (4) Also implizieren normative Einzelaussagen, die sich tatbestandlich auf bestimmte Ausgangssituationen beziehen und in ihrer Rechtsfolge jeweils zwischen den beiden Sachverhaltsalternativen entscheiden, spezifische Prognosezusammenhänge.136 Im folgenden wird diese Überlegung etwas näher veranschaulicht. Dazu soll das Merkmal der Wissenschaftsakzessorietät exemplarisch nachvollzogen werden anhand von zwei unterschiedlichen normativen Einzelaussagen. Die beiden Beispiele illustrieren zudem einen weiteren interessanten Aspekt, der in engem Zusammenhang steht zur Wissenschaftsakzessorietät. Gemeint sind damit das wissenschaftliche Hintergrundwissen137 und die Auswirkungen seiner Veränderungen auf eine an sich unveränderte normative Ordnung. Das erste Beispiel innerhalb unseres Referenzgebiets liefert Art. 2 Abs. 2 BSP, dessen normative Aussage klar erkennbar wissenschaftsakzessorisch ist,138 oder, um genauer zu sein: dessen Aussage ohne größere Schwierigkeiten wissenschaftsakzessorisch rekonstruiert werden kann. Die von Art. 2 Abs. 2 BSP tatbestandlich erfaßten Sachverhalte können nicht ohne weiteres durch Auslegung – im Sinne begrifflicher Konkretisierung139 – ermittelt werden. Die normative Einzelaussage von Art. 2 Abs. 2 BSP impliziert vielmehr tatbestandlich eine Klassifizierung der bezeichneten Sachverhalte durch die Wissenschaft.140 Mit anderen Worten grenzt Art. 2 Abs. 2 BSP nicht endgültig diejenigen Sach135 Eine Prognose muß für die jeweilige Situation ausschließen, daß sich andere Sachverhalte ereignen können als A1 oder A2. Eine weitere Prognose muß ausschließen, daß A1 und A2 gleichzeitig aus der Situation resultieren können (Exklusivität). 136 Normative Einzelaussagen als Entscheidung zwischen Sachverhaltsalternativen in einer bestimmten Situation implizieren erstens die Prognose, daß keine weiteren Varianten neben A1 und A2 möglich sind sowie, zweitens, die Prognose, daß sich A1 und A2 paarweise ausschließen. 137 Zum Begriff des Hintergrundwissens siehe unten sub. § 6 I.; siehe auch Kudlich/Christensen/Sokolowski, Zauberpilze und Cybernauten, S. 122 f. 138 Dazu oben sub. § 3 II. Art. 2 Abs. 2 BSP. The Parties shall ensure that the development, handling, transport, use, transfer and release of any living modified organisms are undertaken in a manner that prevents or reduces the risks to biological diversity, taking also into account risks to human health. 139 Zum Konzept der Konkretisierung im Gegensatz zur „Interpretation durch Negation“ ausführlich unten sub. § 6 III. 140 „Die Wissenschaft“ wird hier zunächst untechnisch verwendet. Die Frage, was wissenschaftliche Bewertungen sind und was nicht, ist natürlich für jeden Interpretationsvorschlag eines der Kernprobleme der Norm; siehe dazu unten sub. § 6 II.

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verhaltskonstellationen, in denen seine Rechtsfolge Anwendung findet, von allen übrigen Situationen ab. Denn Veränderungen des naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens können den Kreis der tatbestandlich erfaßten Sachverhalte verändern. So betrachtet überläßt Art. 2 Abs. 2 BSP die erforderliche Sachverhaltsauswahl den Naturwissenschaften. Auf diese Weise wird der konkrete Inhalt der normativen Einzelaussage von Art. 2 Abs. 2 BSP durch das Wachstum naturwissenschaftlicher Erkenntnisse unmittelbar beeinflußt. Jede beliebige Sachverhaltskonstellation, die im Zeitpunkt (t1) wissenschaftlich als ungefährlich angesehen wird, erfüllt zu diesem Zeitpunkt nicht den Tatbestand von Art. 2 Abs. 2 BSP. Sofern derselbe Sachverhalt jedoch zu einem späteren Zeitpunkt (t2) aufgrund von naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten als gefährlich141 eingestuft werden sollte, verändert sich dementsprechend die konkrete Bedeutung der normativen Einzelaussage von Art. 2 Abs. 2 BSP im Hinblick auf die jeweilige Konstellation.142 Wissenschaftsakzessorietät führt somit wegen ihres dynamischen Verweisungscharakters zu flexiblen und wandlungsfähigen Bedeutungskonkretisierungen normativer Einzelaussagen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisfortschritte vermögen potentiell jederzeit die normativen Bewertungen konkreter einzelner Sachverhalte zu verändern,143 weil die konkreten Bedeutungen wissenschaftsakzessorischer normativer Einzelaussagen nicht starr, sondern anpassungsfähig sind. Gleichzeitig schließt Wissenschaftsakzessorietät damit die Erzeugung von „wissenschaftlich überholten“ normativen Einzelaussagen aus.144 Diese vorteilhafte Wandlungsfähigkeit der Wissenschaftsakzessorietät bedingt jedoch umgekehrt spezifische Probleme der Rechtsanwendung. Denn die konkrete Bedeutung aller wissenschaftsakzessorischen normativen Einzelaussagen ist jeweils nur unter Verweis auf naturwissenschaftliche Bewertungen der jeweiligen Sachverhalte im Einzelfall rekonstruierbar. Diese, man könnte sagen: Mittelbarkeit der Sachverhaltsbeschreibung erschwert die Anwendung wissenschafts141 Der gleiche Veränderungseffekt ergibt sich – unter umgekehrten Vorzeichen – auch für veränderte wissenschaftliche Bewertungen vormals gefährlicher Sachverhaltskonstellationen, die im Zeitpunkt t2 als ungefährlich erkannt werden. 142 Diese nachträgliche Veränderung der naturwissenschaftlichen Bewertung eines Sachverhalts entspricht nicht dem praktischen Problem unzureichender Sachverhaltsaufklärung. Denn die Veränderung der naturwissenschaftlichen Bewertung bezieht sich stets auf vollständig aufgeklärte Sachverhalte. Das bedeutet, daß ein im Zeitpunkt t1 vollständig aufgeklärter und festgestellter Sachverhalt gleichwohl zum späteren Zeitpunkt t2 wissenschaftlich anders bewertet werden kann, obwohl diesbezüglich die Tatsachenfeststellung nicht anders ausfällt. Zur wissenschaftlichen „Bewertung“ von Sachverhalten im Unterschied zur wissenschaftlichen „Feststellung“ von Tatsachen siehe unten sub. § 8 V. 143 Inhaltliche Änderungen stellen sich nur ein, falls wissenschaftlich neue Erkenntnisse gewonnen werden. Die Wandlungsfähigkeit ist damit nur potentiell. 144 Wissenschaftsakzessorische Tatbestände formen somit einen rationalen, aufgeklärten Charakter der jeweiligen wissenschaftsakzessorischen Rechtsordnung.

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akzessorischer Normen, indem jede tatbestandliche Klassifizierung einer Sachverhaltskonstellation situationsabhängige Kenntnisse hinsichtlich der jeweiligen naturwissenschaftlichen Prognosen im Einzelfall erfordert. Zum noch besseren Verständnis dieser Zusammenhänge soll nun ein weiteres Beispiel behandelt werden. Denn so illustriert das erste Beispiel zwar, daß wissenschaftsakzessorische Rekonstruktionen bestimmter normativer Einzelaussagen möglich sind. Falls Wissenschaftsakzessorietät aber als methodologische Fundamentaleigenschaft aller anwendbaren normativen Ordnungen gedeutet werden kann, muß jede normative Einzelaussage wissenschaftsakzessorisch rekonstruiert werden können. Dementsprechend greift unser zweites Beispiel eine normative Einzelaussage heraus, die typisch für solche Aussagen ist, deren wissenschaftsakzessorische Rekonstruktion – anders als im ersten Beispiel – in hohem Maße unnatürlich erscheint. Das zweite Beispiel steht also stellvertretend für alle normativen Einzelaussagen, die, essentialistisch gesprochen: „aus sich heraus“ verständlich scheinen und deren Interpretation scheinbar gänzlich auf zusätzliche naturwissenschaftliche Prognosen verzichten kann. Die Idee, daß normative Einzelaussagen „aus sich heraus“ und ohne Rückgriff auf naturwissenschaftliches Hintergrundwissen interpretierbar sein können, hängt zusammen mit der Vorstellung begrifflicher Konkretisierungen145. Die Idee begrifflicher Konkretisierung geht davon aus, daß tatbestandlich einschlägige Sachverhalte durch „exakte“ Definitionen im Sinne von tatbestandlichen Begriffsexplikationen bestimmbar sind, ohne daß dabei auf zusätzliche naturwissenschaftliche Bewertungen zurückgegriffen werden muß. Dementsprechend scheinen im Zusammenhang mit allen „aus sich heraus“ interpretierbaren normativen Einzelaussagen sämtliche prognostische Aspekte (etwa naturwissenschaftliche Bewertungen von Sachverhalten) von der Normanwendungsebene vollständig hinüber verlagert zu sein in die regelungsgeberischen Motive. Die wissenschaftliche Gefährlichkeit des regulierten Sachverhalts ist also nur insofern von Interesse, als darin ein Motiv für den Regulierungsakt des Normgebers gesehen werden kann. Durch die Verwendung von „nichtwissenschaftsakzessorischen“ Normen verlieren Rechtsordnungen somit scheinbar an Flexibilität durch die damit einhergehenden Typisierungen.146 Umgekehrt scheint der Verzicht auf Wissenschaftsakzessorietät durch „aus sich heraus“ interpretierbare normative Einzelaussagen jedoch vermeintlich die Anwendbarkeit solcher normativen Ordnungen zu erleichtern. Als Variante zur essentialistischen Konkretisierungsperspektive soll das zweite Beispiel im folgenden zeigen, daß auch die Kategorie nichtwissenschafts145 146

Vgl. dazu ausführlicher unten sub. § 6 III. 2. Ausführlich zur „Typisierung“ Engisch, Idee der Konkretisierung, S. 237 ff.

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akzessorischer normativer Einzelaussagen wissenschaftsakzessorisch rekonstruiert werden kann. Um Mißverständnisse in diesem Punkt zu vermeiden: Wir wollen nicht nachweisen, daß es intuitiv naheliegend wäre, nichtwissenschaftsakzessorische Normen wissenschaftsakzessorisch zu interpretieren. Ganz im Gegenteil: Es kann sogar zugestanden werden, daß es aus essentialistischer Perspektive geradezu kontraintuitiv erscheinen muß, nichtwissenschaftsakzessorische Normen auf wissenschaftsakzessorische Weise umzudeuten. Aber die wissenschaftsakzessorische Rekonstruktion aller nichtwissenschaftsakzessorischen Normen ist möglich und sie ist zudem, in Hinblick auf das damit erhöhte Erklärungsvermögen, mit ganz erheblichen methodologischen Vorteilen verbunden. Den vollen Umfang aller mit dieser Umdeutung verbundenen Vorteile werden wir zwar erst schrittweise, im weiteren Fortgang der Untersuchung entfalten können. Aber zum jetzigen Zeitpunkt kommt es zunächst auch nur darauf an, das Verfahren der wissenschaftsakzessorischen Rekonstruktion prinzipiell aufzuzeigen und einige ausgewählte Inkonsistenzen aller nichtwissenschaftsakzessorischen Interpretationen nachzuweisen. Zur Veranschaulichung eignet sich der „Staudamm-Projekt Fall“.147 Dazu wird ein hypothetisches Staudamm-Projekt angenommen, über dessen Realisierung eine fiktive normative Ordnung entscheidet. Außerdem wird im Beispiel das folgende naturwissenschaftliche Hintergrundwissen vorausgesetzt: Der zukünftige Nutzen dieses Staudamm-Projekts liegt in der – sicheren – Verbesserung der Energieversorgung sowie, außerdem, in der – auch sicheren – Schaffung von mehreren zusätzlichen Arbeitsplätzen. Demgegenüber erwächst der einzige – ebenfalls sicher – zu erwartende zukünftige Nachteil des Staudamm-Projekts im Beispiel aus der vorhersehbaren Zerstörung eines wertvollen, seltenen Feuchtbiotops für ein hochgeschätztes Amphibium im Unterlauf des Flusses, das durch den Staudammbau vom baldigen Aussterben bedroht ist.148 Zur Entscheidung über die Realisierung des Staudamm-Projekts kommen grundsätzlich zwei verschiedene normative Einzelaussagen in Betracht. Sofern die fiktive normative Ordnung die Aussage beinhaltet, „Staudamm-Projekte dürfen bei wissenschaftlich begründeter artenschutzrechtlicher Unbedenklichkeit verwirklicht werden.“,

liegt – essentialistisch betrachtet – ein deutlicher Fall wissenschaftsakzessorischer Rechtsetzung vor. Wie leicht erkennbar ist, können lediglich biologischökologische Untersuchungen, also naturwissenschaftliche Prognosen, verbindli147 Das Staudamm-Projekt Beispiel ist angelehnt an den bekannten Snail Darter Case und greift für die Darstellung verschiedene Ideen von Dworkin, Law’s Empire, S. 313 ff. auf. 148 Alle anderen Faktoren, die als Vorteile oder Nachteile in Betracht gezogen werden könnten, sind also im Beispiel zu vernachlässigen (das Beispiel ließe sich für alle anderen Vorteil-Nachteil-Kombinationen entsprechend umbilden).

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che Auskunft über die zutreffende Rechtsfolge in konkreten Fällen geben: Die wissenschaftsakzessorische Beispielnorm verbietet alle Staudämme, die wissenschaftlich als Gefährdung des Ökosystems bewertet werden. Umgekehrt könnte die normative Ordnung in unserem Beispiel aber auch lapidar ein Verbot aller Staudamm-Projekte im gefährdeten Flußabschnitt vorsehen: „Das Errichten von Staudämmen in Flußabschnitt XYZ ist verboten.“

Ein naheliegendes regelungsgeberisches Motiv für dieses kategorische Verbot der Rechtsordnung im Beispiel wäre etwa darin zu sehen, daß bereits während des Gesetzgebungsverfahrens alle Sachverständigen abschließend angehört werden konnten und die Zerstörung des wertvollen Ökosystems infolge möglicher zukünftiger Staudamm-Projekte naturwissenschaftlich abgesichert149 begründet wurde. Jedes solchermaßen trivial formulierte Verbot von Aufstauungen innerhalb von Flußabschnitt XYZ kann man – wiederum essentialistisch betrachtet – als klar „nichtwissenschaftsakzessorische“ Norm ansehen, denn alle gesetzlich verbotenen Entscheidungen scheinen damit begrifflich so deutlich umschrieben zu sein, daß für die reine Normanwendung kein zusätzlicher naturwissenschaftlicher Sachverstand mehr vorausgesetzt wird.150 Die essentialistische prima-facie-Klarheit der Unterscheidung zwischen der wissenschaftsakzessorischen normativen Einzelaussage in der ersten Variante des Staudamm-Projekt Falls und dem nichtwissenschaftsakzessorischen Tatbestand in der Alternative kann nun allerdings erschüttert werden, indem hypothetisch folgende Veränderung des naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens angenommen wird: Kurze Zeit nach Inkrafttreten des jeweiligen Gesetzes kann plötzlich und unerwartet aufgrund neuer – abgesicherter151 – naturwissenschaftlicher Erkenntnisse davon ausgegangen werden, daß die zukünftige Erhaltung des vom Aussterben bedrohten Amphibiums in Wahrheit die Realisierung eines Staudammprojekts im Flußabschnitt XYZ erfordert (etwa deswegen, weil nur Staudämme die Zerstörung eines bestimmten fragilen Ökosystems durch anderenfalls weiter zunehmende Fließgeschwindigkeiten des Flusses verhindern). Anders ausgedrückt: Die einzige vor der Verabschiedung des Gesetzes vermutete Gefahr (der Bau des Staudamms) erscheint nach dem Inkrafttreten des Gesetzes plötzlich als eine unentbehrliche Schutzmaßnahme. Die Wirklichkeit, auf die das Gesetz in unserem Beispiel angewendet werden soll, ist also dadurch gekennzeichnet, daß aufgrund einer spontanen Veränderung des naturwissen-

149 Der Ausdruck wird hier untechnisch verwendet; ausführlich zur Möglichkeit „empirischer Absicherungen“ wissenschaftlicher Hypothesen unten sub. § 9 I. 3. b). 150 Die Frage, ob ein bestimmtes Projekt im Einzelfall eine Stauung des Flusses darstellt oder nicht, bedarf offenbar keiner wissenschaftlichen Klärung. 151 Dazu oben Fn. 149.

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schaftlichen Hintergrundwissens nunmehr alle relevanten Faktoren152 für eine Durchführung des Staudamm-Projekts sprechen und kein Aspekt dagegen. Sehr aufschlußreich sind die Auswirkungen dieser geringfügigen Modellvariation auf die oben vorgenommene essentialistische Unterscheidung zwischen wissenschaftsakzessorischen und nichtwissenschaftsakzessorischen normativen Einzelaussagen: Die wissenschaftsakzessorisch formulierte Normaussage in der ersten Variante berücksichtigt offenbar alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und hält somit auch für die wissenschaftliche Neubewertung in unserer Abwandlung einen klaren Normbefehl bereit: Die Durchführung des Staudamm-Projektes wäre rechtmäßig. Aus essentialistischer Sicht deutlich weniger leicht feststellbar ist der hypothetische Normbefehl der nichtwissenschaftsakzessorischen Parallelvorschrift. Denn gegen die Rechtswidrigkeit des Staudamm-Projekts spricht der Gesetzeszweck153 der nichtwissenschaftsakzessorischen Staudamm-Norm, die in unserem Beispiel ausschließlich zum Schutz des bedrohten Amphibiums verabschiedet wurde.154 Umgekehrt kann jedoch gegen eine behauptete Rechtmäßigkeit des Staudamm-Projekts auf die nicht weiter steigerungsfähige „Klarheit“ des Wortlauts der normativen Aussage hingewiesen werden („Das Errichten von Staudämmen in Flußabschnitt XYZ ist verboten.“). Es stellt sich die Frage: Was wäre ein „klarer“ Wortsinn, wenn das kein „klarer“ Wortsinn ist? Alle herkömmlichen essentialistischen Interpretationsansätze diagnostizieren für derartige Ausnahmekonstellationen bekanntlich einen Gegensatz zwischen dem „klaren Gesetzeszweck“ einerseits und dem ebenso „klaren Wortlaut“ der nichtwissenschaftsakzessorischen Norm andererseits. Klassischerweise155 wird das Problem somit formuliert als die Frage nach methodisch zutreffenden Vor152 Hier im Beispiel also Arbeitsplätze, Energieversorgung und Artenschutz. Die übrigen Faktoren wurden ausgeklammert, dazu oben Fn. 148. 153 Oder, wenn man so will: Der „Wille des Gesetzgebers“ oder der „objektiv-historische Sinn“. 154 Das Beispiel könnte noch weiter dadurch zugespitzt werden, daß das Gesetz, das die nichtwissenschaftsakzessorische Norm beinhaltet, den Titel trägt: „Gesetz zur Erhaltung und Bewahrung des Lebensraums von Amphibium A im Flußabschnitt XYZ“. 155 Kritisch dazu Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 96; Esser, Grundsatz und Norm, S. 123; Engisch, Juristisches Denken, S. 230 ff. Vorweggenommen ist die Problembeschreibung freilich schon von Thomas von Aquin, Summa Theologica, II.1 qu. 96, 6: „Wer die Worte des Gesetzgebers zu erfüllen außer acht läßt, scheint über das Gesetz zu urteilen. Also ist es dem, der einem Gesetz untersteht, nicht erlaubt, die Worte des Gesetzes zu umgehen, um der Absicht des Gesetzgebers zu entsprechen. Nur dem, dessen Sache ist, Gesetze zu erlassen, steht es zu, sie auszulegen. Es ist aber nicht Sache der dem Gesetz unterworfenen Menschen, Gesetze zu erlassen. Also ist es auch nicht ihre Sache, die Absicht des Gesetzgebers zu deuten, sondern sie müssen immer nach dem Wortlaut des Gesetzes handeln.“ Eine sehr interessante Problemlösung bietet

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rangverhältnissen zwischen „Normzweck“ oder „Wortlaut“.156 Daß diese Fragestellung bis heute (trotz ungezählter Lösungsversuche157) ungeklärt ist, bedarf fast keiner ausdrücklichen Hervorhebung. Nicht übersehen werden sollte aber, daß diese ungelöste Frage eine typische, nicht zu unterschätzende Praxisschwäche aller nichtwissenschaftsakzessorischen Interpretationen begründet.158 Aus theoretischer Sicht illustriert die Fragestellung nach dem Vorrang von „Normzweck“ oder „Wortlaut“ vor allem einen wichtigen systematischen Bruch in der essentialistischen Darstellung nichtwissenschaftsakzessorischer Normen. So ist der Rückgriff auf naturwissenschaftliche Prognosen eine entscheidende Vorbedingung dafür, den essentialistischen „Wortlaut-Zweck-Gegensatz“ überhaupt im Rahmen der Rechtsanwendung erkennen zu können. Denn falls bei Anwendung nichtwissenschaftsakzessorischer Normen keine naturwissenschaftlichen Prognosen berücksichtigt werden, kann kein Gegensatz zwischen einem bestimmten „klaren Zweck“ und einem davon abweichenden „klaren Wortlaut“ entstehen. Über die Klasse möglicher „Zwecke“ einer Rechtsfolge können nämlich nur naturwissenschaftliche Prognosen Auskunft geben. Wären also zur Auslegung nichtwissenschaftsakzessorischer Normen keine wissenschaftlichen Prognosen erforderlich, wäre der „Zweck“ jeder Norm identisch mit der Herbeiführung ihrer jeweils bezeichneten Rechtsfolge. Das ist immer dann falsch, wenn die Rechtsfolge einer normativen Einzelaussage nicht Selbstzweck ist.159 So liegt in unserem Beispiel des Staudamm-Projekts der „Sinn und Zweck“ der normativen Einzelaussagen nicht darin, Staudämme zu verhindern. Falls aber der „Sinn“ einer Norm nicht notwendigerweise die Herbeiführung ihrer Rechtsfolge ist (Rechtsfolge als Selbstzweck), sondern möglicherweise statt dessen in der Herbeiführung eines Zustands liegt, der durch die Rechtsfolge der Norm lediglich begünstigt wird (Rechtsfolge als Mittel zum Zweck),160 kann auch bei allen nichtwissenschaftsakzessorischen Normen nicht auf die Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse verzichtet werden. Der Hinweis auf Thomas von Aquin gleichwohl an, dazu unten bei Fn. 166; ausführlich dazu unten sub. § 10 IV. 156 Käme dem Sinn ausschlaggebendes Gewicht zu, wäre das Staudamm-Projekt rechtmäßig, umgehrt wäre es rechtswidrig, falls der Wortlaut entschiede. 157 Nachweise bspw. bei Larenz, Methodenlehre, S. 345 Fn. 69. 158 Siehe etwa Larenz, Methodenlehre, S. 345; äußerst kritisch zum Vorrang schon Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 96 – „Es ist trotz aller Bemühungen der traditionellen Jurisprudenz bisher nicht gelungen, den Konflikt zwischen Wille und Ausdruck in einer objektiv gültigen Weise zugunsten des einen oder des anderen zu entscheiden.“; verantwortlich für die Nichtlösbarkeit ist der essentialistische Ansatz der Fragestellung. 159 Dazu unten sub. § 10 III. (Konzept der „Adressierung“ von Rechtsgütern). 160 Wenn im Fall des Staudamm-Projekts der Zweck der Norm in der Erhaltung des Amphibiums liegt, war im Zeitpunkt des Normerlasses die Verhinderung der Projektrealisierung diesem Ziel dienlich.

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diese Inkonsistenz der gewissermaßen wissenschaftsakzessorischen Anwendung nichtwissenschaftsakzessorischer Normen sowie das ungelöste Wortlaut-SinnProblem sollen hier zur Veranschaulichung der Zweifelhaftigkeit nichtwissenschaftsakzessorischer Interpretationsansätze genügen. Die ganze essentialistische Unterscheidung zwischen wissenschaftsakzessorischen und nichtwissenschaftsakzessorischen normativen Einzelaussagen erweist sich bei etwas genauerer theoretischer Betrachtung als überflüssig. Das heißt, die mit nichtwissenschaftsakzessorischen Normen verbundenen Probleme können insgesamt vermieden werden, indem auch die Klasse der prima facie nichtwissenschaftsakzessorischen normativen Einzelaussagen wissenschaftsakzessorisch rekonstruiert wird. Vor diesem Hintergrund zielen die Interpretationsfragen nicht auf die „Klärung von Begriffen“ ab.161 Falls normative Einzelaussagen einheitlich wissenschaftsakzessorisch interpretiert werden, muß statt dessen beantwortet werden, zwischen welchen Sachverhaltsalternativen die „nichtwissenschaftsakzessorische“ Norm entscheidet, welcher der beiden Alternativen die Norm Vorrang einräumt und welches die der Norm implizit zugrundeliegenden naturwissenschaftlichen Prognosezusammenhänge sind.162 Im Beispiel des Staudamm-Projekts muß man also nicht nach der „richtigen“ Bedeutung der Wörter „Staudamm“, „Flußabschnitt“ und „Errichten“ fragen.163 Statt dessen müßte erklärt werden können, zwischen welchen beiden Sachverhaltsalternativen die Norm objektiv entscheidet. Die zutreffende Auswahl der beiden Sachverhaltsalternativen hängt ihrerseits sehr eng damit zusammen, anhand welcher Rechtsgüter die jeweilige normative Ordnung rekonstruierbar ist, die durch die normative Einzelaussage dargestellt wird. Als mögliche Rechtsgüter unserer fiktiven Rechtsordnung könnten – unter anderem164 – „Verhinderung von Staudämmen“, „Verhinderung von Wasseranstieg“, „Stabilität der Fließgeschwindigkeit des Flusses“ oder die „unveränderte Erhaltung des Lebensraums des Amphibiums“ in Betracht gezogen werden. Die methodologisch sehr berechtigte Frage, wie die einzelnen Rechtsgüter einer normativen Ordnung erkannt werden können, muß jedoch vorerst noch zurückgestellt werden.165 Zur bloßen Veranschaulichung der Wissenschaftsakzessorietät soll hier zunächst einmal eine erfolgreiche theoretische Rekonstruktion der normativen Einzelaussage unterstellt werden. Um genauer zu sein: Es wird angenommen, 161

Siehe dazu unten sub. § 10 (insbesondere VII.). Dazu abstrakt oben sub. § 6 I. 163 Interpretation der Norm bedeutet danach nicht die Beantwortung der beiden Was-heißt-Fragen, „Was heißt Fluß?“ und „Was heißt Staudamm?“ 164 Zum Problem der objektiven Erkennbarkeit der Rechtsgüter einer beliebigen normativen Ordnung ausführlich unten sub. § 10 III., IV., VI. 165 Dazu unten sub. § 10 insbesondere III., IV. und VII. 162

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daß die normative Einzelaussage interpretierbar ist als relative Vorrangentscheidung zugunsten des Rechtsguts „Erhaltung der Amphibien“ gegenüber der kombinierten Alternative „Schaffung von Arbeitsplätzen“ und „Verbesserung der Stromversorgung“. Wissenschaftsakzessorisch interpretierbar ist die normative Einzelaussage insofern, als in allen Situationen, in denen angesichts vorhandener wissenschaftlicher Prognosen zwischen dem „Überleben des Amphibiums“ auf der einen Seite und „Schaffung von Arbeitsplätzen“ und „Verbesserung der regionalen Energieversorgung“ auf der anderen Seite entschieden werden muß, die Entscheidung der normativen Ordnung zugunsten der bedrohten Tierart ausfällt. Falls die Klasse der nichtwissenschaftsakzessorischen normativen Einzelaussagen insgesamt wissenschaftsakzessorisch rekonstruiert wird, entfällt das „Wortlaut-Sinn-Problem“. Für den Beispielssachverhalt bedeutet das: Die Frage, ob der Staudamm realisiert werden darf, nachdem neue wissenschaftliche Erkenntnisse verfügbar sind, kann klar beantwortet werden.166 Das „WortlautSinn-Problem“ entsteht unter dieser Voraussetzung gar nicht, denn die neue Situation des veränderten naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens löst die beiden ursprünglichen Sachverhaltsalternativen voneinander ab. Es gibt also nach der Veränderung des naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens in der Wirklichkeit tatsächlich keine Situation mehr, in denen zwischen denjenigen Alternativen entschieden werden kann, zwischen denen die normative Einzelaussage entschieden hat. Eine Entscheidung zugunsten des Staudammbaus kann dann nicht – mehr – dargestellt werden als objektive Entscheidung gegen den Amphibienerhalt. Dementsprechend entscheidet die normative Einzelaussage in der Abwandlung auch nicht gegen den Staudamm, sie ist auf die veränderte Wirklichkeit gar nicht mehr anwendbar. Wir können den Gedankengang vorläufig folgendermaßen zusammenfassen: Es kann Rechtsordnungen geben, die Normen enthalten, die nicht ausschließlich die von ihnen beschriebene Rechtsfolge herbeiführen sollen. Rechtsfolgen sind also nicht immer nur Selbstzweck, sondern können auch auf dahinter liegende Ziele gerichtet sein, die durch die unmittelbar beschriebenen Rechtsfolgen lediglich begünstigt werden. Rechtsfolgen können also Mittel zum Zweck sein. Deshalb muß bei der erstmaligen Rekonstruktion jeder Norm – unter Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Prognosen – festgestellt werden, welchen möglichen Zielen die Herbeiführung der beschriebenen Rechtsfolge dient. Au166 Vgl. bereits in diesem Sinne Thomas von Aquin, Summa Theologica, II.1 qu. 96, 6: „Jedes Gesetz ist auf das allgemeine Wohl der Menschen hingeordnet, und insofern hat es Geltung und Bewandtnis eines Gesetzes; soweit es hingegen davon abweicht, besitzt es keine verpflichtende Kraft. Deshalb sagt der Rechtsgelehrte: ,Kein Rechtsgrund und kein Entgegenkommen aus Billigkeit duldet es, daß wir das, was in heilsamer Weise zum Nutzen der Menschheit eingeführt wird, gegen ihren Vorteil durch allzu harte Auslegung verschärfen.‘“

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ßerdem muß bei jeder späteren Anwendung erneut – wiederum unter Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse – überprüft werden, ob die angeordnete Rechtsfolge noch immer als denselben Zielen förderlich anzusehen ist. Vor diesem Hintergrund ist es methodologisch hilfreich, alle prima facie nichtwissenschaftsakzessorischen Normen einheitlich wissenschaftsakzessorisch zu reinterpretieren. Der intuitiv wahrnehmbare essentialistische Unterschied167 zwischen wissenschaftsakzessorischen und nichtwissenschaftsakzessorischen Normen ist erklärbar als eine bloße Folge, entweder als Folge der Trivialität oder umgekehrt als Folge der Kompliziertheit der zugrundeliegenden wissenschaftlichen Prognosezusammenhänge. Essentialistisch betrachtet erscheinen normative Einzelaussagen solange nichtwissenschaftsakzessorisch, wie relevante Veränderungen im naturwissenschaftlichen Hintergrundwissen ausbleiben. Falls sich jedoch solche Veränderungen einstellen, überschreitet dieser Vorgang automatisch die Leistungsgrenzen aller nichtwissenschaftsakzessorischen Interpretationskonzepte, das „Wortlaut-Zweck-Problem“ entsteht.168 Die Veränderbarkeit des naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens führt dazu, daß die wahrnehmbaren und semantisch umschriebenen Vor- und Nachteile normativer Einzelaussagen theoretisch niemals endgültig zugewiesen werden können. Semantische Kontinuität hängt immer davon ab, daß sich keine kontextrelevanten, neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ergeben.169 Eine einheitlich wissenschaftsakzessorische Rekonstruktion aller nichtwissenschaftsakzessorischen normativen Einzelaussagen ist möglich, indem alle normativen Einzelaussagen konsequent als objektive Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen gedeutet werden.170 Wissenschaftsakzessorische Rekonstruktionen sind dabei weniger intuitiv, vermeiden aber die theoretischen Inkonsistenzen nichtwissenschaftsakzessorischer Interpretationen.171 167 Bspw. die spiegelbildliche Zuordnung der Vor- und Nachteile wissenschaftsakzessorischer und nichtwissenschaftsakzessorischer Normen: Erleichterte Rechtsanwendung und wissenschaftliche Rationalität. 168 Dazu oben sub. § 6 I. 169 Weil das zukünftige Anwachsen des menschlichen Wissen nicht vorhersagbar ist (ausführlich Popper, Das offene Universum, S. 67 ff.), kann theoretisch keine Norm endgültig als „nichtwissenschaftsakzessorisch“ eingeordnet werden. 170 Obwohl solche Deutungen möglicherweise kontraintuitiv erscheinen. 171 Ein interessanter Nebeneffekt liegt außerdem darin, daß Spiele (wie etwa Schach) und normative Ordnungen anhand des Konzepts der Wissenschaftsakzessorietät eindeutig unterscheidbar sind: Alle Spiele kontrollieren ihre eigenen, also künstlichen „Umweltbedingungen“ (das führt natürlich dazu, daß es sich nicht wirklich um Umweltbedingungen handelt, sondern viel eher um Spielbedingungen). Demgegenüber akzeptieren Rechtsordnungen die Wirklichkeit als Umweltbedingung, sie kontrollieren also nicht ihre eigenen Spielbedingungen und sind deswegen auf die Wirklichkeit anwendbar. Spiele sind demnach niemals konfrontiert mit sich wandelnden Umweltbedingungen (es gibt keine Veränderungen des naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens, denn sie definieren dieses selbst), wohingegen für Rechtsordnungen aus der

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II. Methodologie Wir haben die Wissenschaftsakzessorietät normativer Ordnungen als eine Eigenschaft mit hohem Erklärungsvermögen bezeichnet. Wie jede Erklärung muß auch Wissenschaftsakzessorietät – als Erklärungsmodell normativer Ordnungen – allerdings zwei Mindestvoraussetzungen erfüllen, um sich für objektive Darstellungen normativer Ordnungen zu eignen. Um auf möglicherweise bestehende Vorbehalte gegenüber dieser hier zugrunde gelegten These der methodologischen Mindestvoraussetzungen einzugehen, vor allem jedoch deswegen, weil die Standardtheorie der Risikoentscheidungen die beiden hier als unentbehrlich betrachteten methodologischen Desiderata keineswegs durchgängig einhält, sollen beide Mindestvoraussetzungen für alle Erklärungsansätze in diesem Abschnitt näher behandelt werden. Im Ergebnis werden wir einerseits die methodologische Forderung nach interpretativer Schlüssigkeit – das heißt Widerspruchslosigkeit – jedes potentiellen Interpretationskonzepts erheben.172 Zweitens kann gezeigt werden, daß jede Erklärung darüber hinaus auch eine inhaltliche Mindestanforderung (um genauer zu sein: eine logische Eigenschaft) erfüllen muß. Diese inhaltliche Anforderung kann als Abgrenzungserfordernis verstanden werden und folgt aus der logischen Falsifizierbarkeit aller erklärenden Aussagen. Beide methodologischen Mindestvoraussetzungen hängen sehr eng damit zusammen, daß normative Einzelaussagen und Wirklichkeitssachverhalte einander entsprechen müssen, sofern normative Entscheidungen objektiv rekonstruiert werden sollen. Interpretationen, die dem methodologischen Desiderat der Widerspruchslosigkeit nicht genügen, zeichnen jedoch aus der Menge aller möglichen normativen Einzelaussagen einer Rechtsordnung keine einzige Aussage aus; das heißt, alle widerspruchsvollen Erklärungen einer normativen Ordnung haben keinen informatorischen Gehalt hinsichtlich der normativen Ordnung. Umgekehrt zeichnen widerspruchsfreie Erklärungen, die dem Abgrenzungserfordernis nicht genügen, aus der Menge aller empirisch möglichen Sachverhaltskonstellationen keinen einzigen Sachverhalt als subsumtionsfähig aus; das bedeutet, die widerspruchsfreie Rechtsordnung wird – gewissermaßen gehaltvoll – als gehaltlos interpretiert.173 Beide methodologischen Einzelaspekte werden in diesem Abschnitt ausführlicher dargelegt.

Möglichkeit von veränderten Umweltbedingungen spezifische Probleme erwachsen. Organisationen und Institutionen sind dann als Spiele interpretierbar, die in Rechtsordnungen eingebettet sind, d. h., Organisationen kontrollieren ihre Umweltbedingungen nur nach Innen und agieren nach Außen in der Wirklichkeit. 172 Zu diesem Erfordernis sogleich unten sub. § 6 II. 3. 173 Dazu Popper, Logik der Forschung, S. 59.

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1. Begriff der Methode Noch vorab soll allerdings kurz auf eine ebenso einfache wie fundamentale Unterscheidung der wissenschaftlichen Methodenlehre eingegangen werden. Es handelt sich dabei um die erkenntnistheoretisch zentrale Differenzierung zwischen den sogenannten Findungs- beziehungsweise Entdeckungszusammenhängen einerseits und den sogenannten Begründungs- oder Erklärungszusammenhängen andererseits. Im Hinblick auf normative Ordnungen betrifft der Findungszusammenhang die Frage, wie und auf welche Weise gewissermaßen „neue Aussagen“ entdeckt werden können, die möglicherweise normative Einzelaussagen der jeweiligen Rechtsordnung sind. Ein systematisches Verfahren zur Entdeckung neuer normativer Einzelaussagen wäre dabei konventionsgemäß als Heuristik (oder „ars inveniendi“) zu bezeichnen. Demgegenüber betrifft die Frage nach möglichen Begründungszusammenhängen das von etwaigen Findungszusammenhängen völlig verschiedene Problem, inwiefern die einmal gefundenen normativen Einzelaussagen ihrerseits zu rechtfertigen beziehungsweise zu erklären sind. Der Begriff der Methode bezeichnet in der objektiven Wissenschaft üblicherweise ausschließlich Begründungs-, oder genauer: Erklärungszusammenhänge.174 Das heißt für die wissenschaftliche Befassung mit normativen Ordnungen: Juristische Methode ist das Verfahren der Rechtfertigung gefundener normativer Einzelaussagen (das Verfahren der Erklärung)175. Der wichtigste sachliche Grund für diese Unterscheidung ergibt sich daraus, daß es keine wissenschaftliche Methode der Wahrheitsfindung gibt.176 Das wird freilich nicht 174 Eine andere, hier nicht zugrunde liegende Begriffsverwendung ist jedoch gerade unter juristischen Autoren weit verbreitet: „Begriff der juristischen Methode. „Methode“ im allgemeinsten Sinn ist der Weg (hodos), das Verfahren, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Unter „juristischer Methode“ wird im folgenden das Verfahren verstanden, festzustellen, was generell oder in einem bestimmten Fall praktisch anwendbares Recht ist. [. . .] Die juristische Methodenlehre macht also Aussagen über das Verfahren, das geltende Recht zu ermitteln, im Gegensatz zur dogmatischen Rechtswissenschaft, die Aussagen über das geltende Recht selbst macht. (Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 1; Hervorhebungen im Original)“. Diese Verwendung des Begriffs der Methode entspricht weitgehend dem, was wir in Übereinstimmung mit dem ganz allgemeinen wisschenschaftstheoretischen Sprachgebrauch als Heuristik bezeichnen. 175 Genauer und bereits unter Vorwegnahme von Teilen des Untersuchungsergebnisses: Statt um die Rechtfertigung normativer Einzelaussagen wird es um gültige positive Gründe des für wahr Haltens einer Theorie gehen, d. h., um Gründe für die Annahme einer größeren Annäherung an die Wahrheit. Dazu unten sub. § 9 I. 3. 176 Entgegen älteren Epistemologien, die entweder an wissenschaftliche Methoden der Wahrheitsfindung glaubten (so etwa Francis Bacon und René Descartes) oder doch wenigstens an wissenschaftliche Aussagen über die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit einer gegebenen – also bereits gefundenen – Hypothese (so etwa Rudolf Carnap), konnte die Wissenschaftstheorie mittlerweile zeigen, daß selbst die schwächste Position (nämlich diejenige der Hypothesenwahrscheinlichkeit) unhaltbar ist, dazu unten sub. § 7 III. 3.

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immer ganz deutlich gesehen.177 Vollkommen unabhängig von semantischen Streitigkeiten um den „richtigen“ Begriff der Methode, sollten Erklärungszusammenhänge jedenfalls niemals verwechselt werden mit Heuristik, die ihrerseits mögliche Verfahren für wissenschaftliche Entdeckungen zu beschreiben versucht.178 Wenn in der vorliegenden Untersuchung im folgenden von Methode gesprochen wird, bezeichnet dies also stets den Problemkreis der Erklärungszusammenhänge. Als sogenannte methodologische Vorgaben bezeichnen wir dabei – wie üblich – solche Konventionen, die gewährleisten, daß gewissermaßen beliebige Aussagen und wissenschaftliche Erklärungen möglichst deutlich voneinander unterschieden werden können. Methodologische Vorgaben stehen damit in enger Nähe zum Abgrenzungsproblem.179 Dabei sind sie allerdings keine Dogmen und werden auch nicht mit Wahrheitsanspruch a priori eingeführt. Methodologische Vorgaben müssen also nicht beachtet werden, sie werden lediglich als Konvention vorgeschlagen, mit dem Ziel, Erklärungen intersubjektiv kritisieren zu können. Der Zwang der methodologischen Vorgaben liegt wegen dieser Zielorientierung in einem eher indirekten Zusammenhang: Die methodologischen Vorgaben müssen immer dann eingehalten werden, falls Aussagen auf ihre objektive Wahrheit geprüft werden sollen. Die methodologischen Vorgaben „zwingen“ also nur diejenigen, die sich aus eigener freier Entscheidung an intersubjektiv erklärbarer, wissenschaftlicher Kritik orientieren. 2. Natürliche Interpretation Alle normativen Ordnungen müssen interpretiert werden.180 Keine normative Ordnung interpretiert sich selbst und ebensowenig können normative Ordnungen Aussagen über ihre eigene Interpretation machen.181 In der Vergangenheit wurde allerdings gegen diese schlichte Einsicht in die strikte Notwendigkeit 177 Larenz, Methodenlehre, S. 5 – „Jede Wissenschaft bedient sich bestimmter Methoden, Arten des Vorgehens, um Antworten auf die von ihr gestellten Fragen zu erlangen.“; a. a. O. und passim gebraucht Larenz – wie viele andere – den Begriff Methode (zumindest auch) als Verfahren zur Ergebnisfindung. Findung und Begründung gleichermaßen als Methodenfrage zu bezeichnen ist zwar als rein terminologische Frage an sich unproblematisch. Aber damit verbunden ist oftmals die problematische Tendenz, wichtige sachliche Unterschiede zwischen Findungs- und Begründungszusammenhängen zu übersehen. 178 In diesem Zusammenhang sind diejenigen Wissenschaftsdefinitionen mißverständlich, die Wissenschaft beschreiben als „auf die Gewinnung von Erkenntnissen gerichtete planmäßige Tätigkeit“. Derartige Beschreibungen treffen – wenn überhaupt – auf Heuristiken zu, die nicht identisch sind mit wissenschaftlicher Methode. Dazu Popper, Erkenntnistheorie, S. 5. 179 Ausführlich oben sub. § 5 II. 180 Oben sub. § 5 I. 181 Siehe auch Christensen/Lerch, Bedeutung und Normativität, S. 102.

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von Interpretation eine Position formuliert, die man als „Doktrin der natürlichen Interpretation“ kennzeichnen könnte.182 Zur Einordnung in den größeren wissenschaftstheoretischen Kontext kann man die Doktrin der natürlichen Interpretation auch als eine „passivistische“ Erkenntnistheorie des Rechts bezeichnen.183 Unter diesem Passivismus ist eine – in ihren empiristischen Wurzeln altehrwürdige184 – epistemologische Hypothese zu verstehen, die folgendermaßen darstellbar ist: Das Verständnis einer Norm strömt uns durch unsere Sinne zu.185 Deshalb können alle Irrtümer nur entweder unserer Einmischung in den wahrgenommenen (sich selbst deutenden) Inhalt oder falschen Assoziationen zugerechnet werden. Zugleich heißt das umgekehrt, daß wir Irrtümer beim Normverständnis nur dadurch wirkungsvoll vermeiden können, daß wir die Norminhalte möglichst passiv rezipieren.186 Die passivistische Grundhaltung scheint typischerweise auf in der Rede von „Rechtsnormen als Sinngehalten“187 in Verbindung mit der weiteren Annahme, daß Normen als soziale Akte ihre eigenen „Selbstdeutungen“188 enthalten können. Der Passivismus verleitet dabei fast immer auch noch zu der dritten Annahme, daß „[gesellschaftliche Akte] Aussagen darüber mit sich führen können, was sie bedeuten“189. Kurz: Mitgeführte Bedeutungen können passivistisch rezipiert werden, sie müssen also den jeweiligen gesellschaftlichen Akten nicht aktiv – spekulativ – zugeschrieben werden.190 Wird die Doktrin der natürlichen Interpretation ernsthaft beim Wort genommen und streng durchgehalten, ist diese passivistische Normerkenntnistheorie nicht zu verteidigen. Sie scheitert am allgemeinen Problem der Selbstreferenz, 182 Es ist die, wie man sagen kann: „passivistische“ Doktrin der natürlichen Interpretation, die Dworkin karikiert – „Sentimental lawyers cherish an old trope: they say that law works itself pure. The figure imagines two forms or stages of the same system of law, the nobler form latent in the less noble, the impure, present law gradually transforming itself into its own purer ambition, haltingly, to be sure, with slides as well as gains, never worked finally pure, but better in each generation than the last. (Law’s Empire, S. 400)“. 183 Den allgemeineren Begriff der „passivistischen Erkenntnislehre“ verwendet Popper, Offene Gesellschaft II, S. 249; eine gelungene – nicht ganz konsequente – Darstellung der „neutral observations“ findet sich auch bei Kuhn, The Road since Structure, S. 105 ff. (113). 184 Etwa Francis Bacon, John Locke, David Hume und John Stuart Mill. 185 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 4 – „Die das Recht begreifende Erkenntnis findet zumeist schon eine Selbstdeutung des Materials vor, die der von der Rechtswissenschaft zu leistenden Deutung vorgreift (Hervorhebung nicht im Original).“ 186 Allgemeiner Popper, Offene Gesellschaft II, S. 249 f. 187 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 9 (Hervorhebung nicht im Original). 188 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 3. 189 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 3. 190 Ausführlich zum damit eng verbundenen Spekulationismus-Einwand unten sub. § 10 VI., VII.

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denn kein Satz kann etwas über sich selbst aussagen.191 Ausgehend von den vorgefundenen normativen Einzelaussagen positiver Rechtsordnungen kann passivistisch nichts über die jeweiligen Rechtsordnungen an sich ausgesagt werden. Das kann auch so ausgedrückt werden: Interpretationen sind Sätze über Sätze192 und werden ihrem Gegenstand hinzugefügt. Interpretationen können deshalb als Aussagen über den Gegenstand nicht identisch sein mit dem Gegenstand.193 Nun konnte zwar die grundsätzliche Problematik der passivistischen Epistemologien, genauer: ein Verständnis von Interpretation als Hinzufügung zu ihrem Gegenstand geradezu Allgemeingut werden: „Wie die Auslegung, so das Recht“.194 Sehr viel weniger akzeptiert ist jedoch die weitergehende Konsequenz, daß nicht nur normative Ordnungen prinzipiell interpretationsbedürftig sind, sondern, daß darüber hinaus auch jede normative Einzelaussage jeder beliebigen Rechtsordnung interpretiert werden muß. Es verhält sich also mit anderen Worten nicht lediglich so, daß es normative Aussagen gibt, die (entgegen der streng passivistischen Normerkenntnistheorie der Selbstdeutung) auslegungsbedürftig sind. Ganz im Gegenteil: Es gibt keine einzige normative Aussage, die nicht interpretationsbedürftig ist.195 Die methodologische Bedeutung dieser Klarstellung liegt vor allem darin, daß gewissermaßen „nichtinterpretative“ Aussagen über Rechtsordnungen unmöglich sind. Alle Aussagen, die nicht identisch sind mit den bekannten normativen Einzelaussagen einer Rechtsordnung (die als Darstellungen von Teilausschnitten der normativen Ordnung verstanden werden dürfen), sind kritisierbare und möglicherweise falsche Erklärungen. Ein sicheres Fundament wahrer Interpretationen wird uns also nicht gegeben, weder unmittelbar von der Rechtsordnung selbst, noch vermittelt über eine Selbstdeutung der sozialen Akte. Das mögliche subjektive Wahrnehmungserlebnis eines Rechtsanwenders in der Form, daß er manche Normen auch ohne Interpretation als klar empfindet, beruht psychologisch darauf, daß er bestimmte Interpretationsmuster unbewußt zu-

191 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Satz 3.332; das Zitat endet a. a. O.: „weil das Satzzeichen nicht in sich selbst enthalten sein kann (das ist die ganze ,Theory of Types‘)“. 192 Also Aussagen über die normativen Einzelaussagen einer normativen Ordnung; vgl. dazu oben sub. § 5 I. (Induktionsproblem). 193 Dazu oben Fn. 190. 194 Wendung bei Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 269; soweit damit der objektive Charakter des Hinzugefügten bestritten wird, die Interpretation also mit ihrem Gegenstand gleichgestellt wird, folgen unvermeidlicherweise Subjektivismus und Relativismus; zur scheinbaren Paradoxie zwischen dem Willkürakt des Hinzufügens und der nichtrelativistischen Tatsache, daß die Hinzufügungen keine freien Setzungen sind, unten sub. § 10 VII. 195 In diesem Sinne Dworkin, Law’s Empire, S. 350 ff. – „When is the language clear?“; grundsätzlich anderer Auffassung demgegenüber Hart, Concept of Law, S. 124 ff. – „The open texture of law“; Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 91.

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grundelegt und diese unkritisch als nichtinterpretativ einschätzt.196 Ebensowenig wie normative Einzelaussagen aus sich heraus klar sind, können normative Einzelaussagen aus sich heraus unklar sein; die Unklarheit „unbestimmter Rechtsbegriffe“ folgt ausschließlich daraus, daß bislang, trotz aller Interpretationsbemühungen – noch – keine (oder keine zufriedenstellende) Erklärung gefunden wurde.197 Die methodologische Unhaltbarkeit passivistischer Normerkenntnistheorien sowie die Unmöglichkeit nichtinterpretativer Aussagen über Rechtsordnungen sind zwei Gründe für die große Bedeutung des Induktionsproblems.198 Auf verschiedene Gesichtspunkte der – an vielen Stellen historisch bedingt tiefverwurzelten – Doktrin der natürlichen Interpretation wird später noch näher einzugehen sein. Vorerst wollen wir hier nur noch einen weiteren Aspekt behandeln, der besonders eng verbunden ist mit dem Problem der Risikoentscheidungen im Recht sowie dem Status der Wissenschaftsakzessorietät normativer Einzelaussagen. Es handelt sich dabei um die Interpretationsbedürftigkeit des Begriffs der Gefahr im Rahmen normativer Einzelaussagen. So hängt der Begriff Gefahr besonders deutlich zusammen mit naturwissenschaftlichen Prognosezusammenhängen, und seine Interpretationsbedürftigkeit ergibt sich bereits eindeutig aus dem bisher Gesagten. Mitunter wird der Gefahrbegriff allerdings insofern als nicht (oder doch jedenfalls: sehr wenig) auslegungsbedürftig betrachtet, als das Vorliegen einer Gefahr in hohem Maße als „bloße Tatsache“ angesehen wird. Je stärker der Aspekt der Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit dem Gefahrbegriff betont wird, desto weiter rückt die Komponente der Interpretation in den Hintergrund. Die Interpretation des Gefahrbegriffs erscheint geradezu als Paradigma einer vorgefundenen natürlichen Interpretation. Allgemeiner betrachtet erscheint die Wissenschaftsakzessorietät normativer Einzelaussagen von diesem passivistischen Standpunkt aus insgesamt als Tatsachenfrage. Unsere Forderung nach interpretatorischen Mindestanforderungen – also methodologischen Vorgaben – scheint damit, gerade im Zusammenhang mit dem wissenschaftsakzessorischen Gefahrbegriff, überflüssig. So wird Wissenschaftsakzessorietät aus der Perspektive der Doktrin natürlicher Interpretationen nicht so sehr als Interpretationsproblem wahrgenommen. Gefahren erscheinen viel eher als prinzipiell empirisch feststellbare Daten. Gefahren werden somit als Faktoren wahrgenommen, über deren Vorliegen beziehungsweise über 196 Es ist unrichtigerweise vielfach behauptet worden, daß normative Ordnungen nicht in ein „System“ gepreßt werden dürften; speziell dieser Aspekt wird separat vertieft sub. § 6 III. 4. 197 Allgemein zur noch unvollständigen Theorie Kant, Über den Gemeinspruch, S. 23. 198 Dazu oben sub. § 5 I.

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deren Fehlen im Einzelfall Auskunft erhältlich ist (gegebenenfalls mit Hilfe der entsprechenden Fachwissenschaften). Diese stark passivistisch beeinflußte These der Feststellbarkeit läuft darauf hinaus, daß wissenschaftliche Gefährlichkeit im besonderen ebenso wie Wissenschaftsakzessorietät im allgemeinen als Tatsache angesehen wird.199 Dieses Mißverständnis muß unbedingt vermieden werden. Die fundamental unrichtige Idee, Gefahren (Gefahrprognosen) als Tatsachen anzusehen, wird nun zwar auf den ersten Blick dadurch nahegelegt, daß gleichzeitig mit dem Verweis auf das außerrechtliche Erklärungssystem der Naturwissenschaften auch die Frage nach der Unterscheidung zwischen „gefährlich“ und „ungefährlich“ an die Naturwissenschaft delegiert zu sein scheint. Gemäß der These der Feststellbarkeit bedarf es somit statt einer Interpretation bloß der Feststellung dessen, was als „wissenschaftlich gefährlich“ und was als „wissenschaftlich ungefährlich“ angesehen wird. Die so skizzierbare begriffsnaturalistische Betrachtungsweise scheitert jedoch daran, daß sich die Art und Weise der Unterscheidung zwischen „gefährlich“ und „ungefährlich“ bei etwas genauerer Betrachtung ausschließlich als Frage der Interpretation wissenschaftsakzessorischer Rechtsordnungen erweist. Es handelt sich gerade nicht um eine fachwissenschaftliche (oder um eine an die Fachwissenschaften delegierbare) Frage. Somit kann es keine Abgrenzung zwischen „gefährlich“ und „ungefährlich“ durch die Naturwissenschaften geben, sondern lediglich eine Eignung der Naturwissenschaften zur Bereitstellung von Erklärungsbestandteilen für interpretatorische Abgrenzungen innerhalb von normativen Ordnungen. Diese Einsicht ist zwar methodologisch von überragender Bedeutung.200 Sie wird aber gemeinhin nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen. Ganz im Gegenteil: Wesentliche Bestandteile der induktiven Standarddogmatik der Risikoentscheidungen basieren auf der gegenteiligen These.201 Die vielleicht einfachste Erklärung für die Notwendigkeit einer Interpretation ergibt sich aus folgender Überlegung. Die Feststellungs-These läuft zwangsläufig auf die institutionelle Frage hinaus, welche Gruppierungen legitimiert sind, verbindliche Deutungen zu liefern. Oder anders formuliert: Wer wird gefragt, wenn die Wissenschaft gefragt wird?202 Zwar mag es mitunter geschlossenen 199 Die Tatsachenaussagen sind weder von der Natur, noch durch unmittelbare Sinneswahrnehmungen gegeben. Auch die unmittelbaren Sinneswahrnehmungen erweisen sich – in gleicher Weise wie Tatsachenaussagen – als Interpretationen im Lichte der ihnen zugrundeliegenden Theorien; dazu ausführlicher unten sub. § 8 III. 3. 200 Das Konzept wird in seinen Einzelheiten noch ausführlich behandelt, siehe dazu unten sub. § 8 und § 9. 201 Dazu unten sub. § 7 III. 3., § 8 I. („naturalistische Gefahrdoktrin“). 202 „Die Wissenschaftler“ können nicht darüber befragt werden, wer die institutionell richtige Gruppe „der Wissenschaftler“ ist. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß die Wahrheit nicht durch Umfragen gefunden werden kann. Auch etablierte Institutionen liefern nicht zuverlässig Wahrheiten, wie man historisch leicht nachwei-

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Gruppen von Experten gelingen, Interpretationsmonopole in bestimmten Fragen zu errichten, so daß sich damit die normative Frage auf die Feststellung dieser wissenschaftlichen Meinung zu beschränken scheint.203 Aber selbst in solchen monopolistischen Konstellationen ist die institutionelle Frage nicht beantwortet, sondern der möglicherweise vorhandene Konsens täuscht ihre Lösung nur vor. Darüber hinaus kann in allen Fällen divergierender wissenschaftlicher Stellungnahmen von bloßen Feststellungsakten „der“ wissenschaftlichen Meinung ohnehin nicht gesprochen werden. Vielmehr muß dann aus der Vielzahl konkurrierender Theorien „die“ wissenschaftliche Sicht herausdestilliert werden können. Diese ganz offenkundige Schwäche der Feststellungs-These wird üblicherweise der ungelösten Problematik der „Rechtsentscheidung im wissenschaftlichen Meinungsstreit“ zugeordnet.204 Es gibt zwei Möglichkeiten, normative Ordnungen im wissenschaftlichen Meinungsstreit zu interpretieren: Die Interpretation kann entweder – methodologisch – auf die Erklärungen abstellen. Oder sie rückt statt dessen – institutionell – die Erklärenden in den Vordergrund. Die Interpretation einer normativen Ordnung kann entweder ein Kriterium enthalten, anhand dessen erkennbar ist, ob eine wissenschaftliche Meinung als normativ vorzugswürdig betrachtet werden kann (methodologische Lösung). Oder aber die Interpretation muß die institutionelle Frage im wissenschaftlichen Meinungsstreit beantworten, also diejenige Gruppe bezeichnen, die als maßgeblich in allen Zweifelsfragen anzusehen ist. Der erste, d. h. der methodologische Ansatz entspricht der zutreffenden objektiven Interpretation von Wissenschaftsakzessorietät, obwohl dieser Interpretationsansatz vielleicht auf den ersten Blick aussieht wie ein Eingriff in die Unabhängigkeit der Wissenschaft. Der methodologische Ansatz liegt auch unserer Theorie der Rechtsgüterrelationen zugrunde. Demgegenüber führt die bezeichnete institutionelle Interpretationsalternative eine Unfehlbarkeitsdoktrin in den wissenschaftlichen Diskurs ein, was mit der Objektivität ihrer eigenen Erklärungen unvereinbar ist. Bei jeder institutionellen Interpretation entscheidet mit anderen Worten nicht die Objektivität der Wissenschaft, sondern der Subjektivismus einer exponierten Gruppe. Zusammenfassung: Das methodologische Erfordernis, Gefahr im besonderen und Wissenschaftsakzessorietät im allgemeinen zu interpretieren, impliziert die Frage, woran eine vorzugswürdige wissenschaftliche Meinung im Sinne wissenschaftsakzessorischer Normen allgemein erkennbar ist. Dabei handelt es sich um die normative Frage nach einem Abgrenzungskriterium, nicht aber um eine sen kann. So beschloß bspw. die Académie Française in der Vergangenheit, keine Berichte mehr über Steine anzunehmen, die vom Himmel gefallen sind; ebensowenig akzeptierte sie zunächst die Pockenimpfung und das Dampfschiff. 203 Vgl. Albert, Kritische Vernunft, S. 20 f. 204 Dazu Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 72, 79.

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naturwissenschaftliche Frage. Ein Konsensmodell205 führt wie jede sonstige subjektive Auswahl „der“ wissenschaftlichen Meinung zu methodologischer Willkür in dem Sinne, daß die Objektivität aller Erklärungen zerstört wird.206 3. Widerspruchsfreiheit Die erste und wichtigste methodologische Vorgabe für jede Erklärung (Interpretation) einer normativen Ordnung ist interpretative Schlüssigkeit im Sinne von Widerspruchsfreiheit. Dieses klar formulierbare methodologische Erfordernis ist gewissermaßen der theoretische Hintergrund für das oftmals diffus als normative Einzelaussage bestimmter Rechtsordnungen wahrgenommene sogenannte „Verbot widersprüchlicher Normbefehle“. Von nicht zu überschätzender Bedeutung ist dabei die sehr genaue Unterscheidung zwischen Interpretationen (Erklärungen) einerseits und den Gegenständen der Interpretationen („normativen Ordnungen an sich“) andererseits. Man kann diese Unterscheidung auch formulieren als die Verschiedenheit zwischen Darstellungen und Erklärungen. Als Gegenstand der Interpretation ist die „normative Ordnung an sich“ anzusehen, das heißt die Rechtsordnung, die in Form der bekannten normativen Einzelaussagen dargestellt ist. Umgekehrt können die jeweils bekannten normativen Einzelaussagen interpretiert werden als Ansammlungen von Tatsachen,207 die ihrerseits betrachtet werden können als Darstellungen der „normativen Ordnung an sich“. Interpretationen der „normativen Ordnung an sich“ eignen sich dann gleichzeitig auch208 als Erklärung der normativen Einzelaussagen, also als Erklärung der Darstellungen. Allgemeiner betrachtet können dementsprechend alle Wissenschaften von existierenden (und in diesem Sinn: positiven) Rechtsordnungen als empirische Wissenschaften behandelt werden.209 Beziehungsweise, um einem reflexhaften Zurückschrecken vor dem Begriff der empirischen Wissenschaften vorzubeugen: Wir können Rechtswissenschaften in dem Sinn als Realwissenschaften be205 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 108 f. – „[Unsicherheit in Ermangelung] konsentierter Erfahrungsregeln“. 206 Mit den Worten Hans Alberts kann gegen die häufig ins Feld geführte Konsensidee festgehalten werden, daß „diese überhaupt nicht geeignet [ist], die Stelle der Wahrheitsidee einzunehmen. Sie ist bestenfalls geeignet, eine Lösung des Begründungsproblems vorzutäuschen, ohne daß angegeben werden kann, wie eine ,überzeugende Begründung‘ aussieht (Kritik der reinen Hermeneutik, S. 192).“ 207 Viele betonen den Gegensatz zwischen „natürlichen Tatsachen“ und „Normen“ (etwa Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 7). Gegen diese Terminologie ist (natürlich) nichts einzuwenden, wir müßten Normen dementsprechend etwa als „sonstige Tatsachen“ bezeichnen oder als „Welt 3 Tatsachen“ (dazu auch unten Fn. 309). 208 Interpretationen „normativer Ordnungen an sich“ haben nämlich noch andere Funktionen als diejenige, die bekannten normativen Einzelaussagen zu erklären. 209 So wohl auch Albert, Kritik der reinen Hermeneutik, S. 186.

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treiben, daß sich diese Wissenschaften – wie alle Realwissenschaften – um die Erklärung (wirklich210) existierender Gegenstände bemühen. Freilich sind die besonderen Gegenstände aller Rechtswissenschaften, ihre jeweiligen normativen Ordnungen, nichtphysische Gegenstände.211 Aber das ändert nichts daran, daß es sich immer um Gegenstände handelt, die erklärt werden sollen. Es ist auf der Folie eines naturalistisch vorgeprägten Tatsachenbegriffs klar, daß unsere abstrahierte Sichtweise von normativen Einzelaussagen als „Tatsachen“ und Rechtswissenschaften als „empirischen“ Realwissenschaften nicht leicht nachvollziehbar ist. Wir können uns dafür auch nicht auf unmittelbar einleuchtende Plausibilitäten oder gar Evidenzen stützen (Plausibilität ist in solchen Dingen leider nicht immer der verläßlichste Ratgeber). Gleichwohl komplettieren diese Einordnungen bereits wichtige Einzelaspekte der Theorie der Rechtsgüterrelationen. Die nähere theoretische Behandlung der beiden hier schon vorab verwendeten Begriffe „Tatsache“ und „empirische Wissenschaft“ werden wir vorerst noch zurückstellen.212 Es gilt jedoch festzuhalten: Interpretationen (Erklärungen) positiver Rechtsordnungen unterscheiden sich von ihrem jeweiligen Gegenstand – den die normativen Einzelaussagen darstellen – wesentlich dadurch, daß erst die Interpretationen gültige Verbindungen zwischen einer erklärten normativen Ordnung und bestimmten Aussagegehalten herstellen können (auch das ist eine Konsequenz daraus, daß keine „nicht-interpretativen“ Aussagegehalte normativer Ordnungen existieren213). Im Hinblick auf die methodologische Vorgabe der Widerspruchslosigkeit wirkt sich die strenge Unterscheidung zwischen Interpretation und Gegenstand so aus, daß nicht die zu interpretierenden „normativen Ordnungen an sich“ – also die erklärungsbedürftigen Gegenstände – als widersprüchlich oder widerspruchsfrei angesehen werden können. Die objektive Eigenschaft, widersprüchlich beziehungsweise widerspruchsfrei zu sein, kommt vielmehr ausschließlich den Interpretationen (Erklärungen) der Rechtsordnungen zu.214 Dementspre210 Der eingeführte, mehr naturalistische Wirklichkeitsbegriff beschränkt sich bekanntlich auf die Wirklichkeit physischer Dinge. Der Wirklichkeitsbegriff im hier verwandten Sinne ist demgegenüber etwas weiter abstrahiert. Wirklich sind danach alle Objekte mit Interaktionsmöglichkeit. Die Wirklichkeit physischer Dinge kann dabei verstanden werden als ein – lediglich besonders vertrauter – Spezialfall der verschiedenen Interaktionsmöglichkeiten, nämlich als das physische Zusammenstoßen (dazu auch unten Fn. 309). 211 Normative Ordnungen sind typische „Welt 3“-Produkte, die Gegenstände der Naturwissenschaften befinden sich demgegenüber in der Wirklichkeit von „Welt 1“ (dazu auch unten Fn. 309). 212 Ausführlich aber zu beidem unten sub. § 8 III. 3. und § 8 IV. 213 Dazu oben sub. § 6 II. 2. 214 Zusammenfassend Hilbert, Mathematische Annalen 95 (1926), S. 163 – „Ein anderer Autor scheint Widersprüche – Gespenstern gleich – auch dann zu erblicken, wenn überhaupt niemand etwas behauptet hat, nämlich in der konkreten Sinnenwelt selbst, deren ,widerspruchsfreies Funktionieren‘ als eine besondere Voraussetzung an-

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chend bezieht sich die methodologische Vorgabe auch ausschließlich auf die Interpretationen. Um ganz deutlich zu sein: Weder Widerspruchsfreiheit noch Widersprüchlichkeit sind mögliche Eigenschaften einer einzelnen „normativen Ordnung an sich“. Widersprüchlichkeit (Kontradiktion) kann methodologisch nur als Eigenschaft der Interpretation einer Rechtsordnung aufgefaßt werden, also als Eigenschaft einer Erklärung des Gegenstands. Widersprüchlichkeit ist unter keinen Umständen eine erklärungsunabhängige, gewissermaßen „unmittelbare“ Eigenschaft der interpretierten Rechtsordnung.215 Das bedeutet, daß es zwar widersprüchliche Interpretationen gibt, nicht jedoch „an sich“ widersprüchliche normative Ordnungen.216 Infolgedessen drückt auch die Aussage, eine Rechtsordnung sei widersprüchlich (oder, was dasselbe ist: sie enthalte Widersprüche), methodologisch nichts anderes aus, als daß – bislang noch – keine widerspruchsfreie Interpretation gefunden werden konnte. Umgekehrt bedeutet die Aussage aber nicht, daß es keine widerspruchsfreien Erklärungen geben kann.217 gesehen wird. Ich habe allerdings geglaubt, daß nur Aussagen und Annahmen, soweit sie durch Schlüsse auf Aussagen führen, einander widersprechen könnten, und mir erscheint die Auffassung, als könnten die Tatsachen und Ereignisse selbst miteinander in Widerspruch geraten, als das Musterbeispiel einer Gedankenlosigkeit.“ 215 Zur Selbstwidersprüchlichkeit der Idee von „nichtinterpretativen“ Aussagen über Rechtsordnungen ausführlich Dworkin, A Matter of Principle, S. 146 ff; 167 ff.; vgl. ferner dens., Objectivity and Truth, S. 129 ff. Daß eine Norm in einem Einzelfall so „klar“ ist, daß sie nicht „interpretiert“ werden muß, liegt immer nur daran, daß eine gegenüber allen anderen Interpretationen hinreichend überlegene Deutung existiert, nicht jedoch daran, daß keine Interpretation erforderlich ist. Vgl. Hart, Concept of Law, S. 126 – „[Rules cannot] provide for their own interpretation.“ Hier, wie auch an anderen Stellen, weisen Dworkins Schriften augenfällige Parallelen zu Poppers Wissenschaftstheorie auf, freilich ohne sich ausdrücklich auf diese (z. B. Logik der Forschung, S. 72 – „. . . Beobachtungen und erst recht Sätze über Beobachtungen . . . [sind] immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen . . . im Lichte von Theorien . . .“) zu beziehen. 216 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 85 – „Und in der Tat, bedeutete das als normwidrige Norm bezeichnete Phänomen [. . .] wirklich einen Widerspruch [. . .], dann wäre es um die Einheit der Rechtsordnung geschehen. Dem ist aber keineswegs so.“ 217 Diese Einsicht ist keineswegs verbreitet, vielmehr werden seit jeher die Rechtsfolgen „widersprüchlicher Rechtsordnungen“ untersucht (klassisch Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 96 – „Liegt der Fall vor, daß sich zwei gleichzeitig geltende Normen widersprechen [. . .]“, S. 104 – „Das Gesetz bestimmt hier eben etwas Unsinniges.“; Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 131 – „systemfremde Normen“; ausführlich Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002; Raz, The Yale Law Journal, Vol. 81, S. 823 (829); Hain, JZ 2002, 1036 (1038) – „Brüche im Werk des [Gesetz]gebers hat der Dogmatiker hinzunehmen; hier liegt eine Grenze dogmatischer Systembildung.“); Honeyball/Walter, Integrity, S. 155. Eng damit zusammen hängt die Vorstellung von „inhaltslosen“ Normen, etwa Forsthoff, Sozialer Rechtsstaat, S. 24 – „[Die Norm] könnte nur von außerverfassungsrechtlichen Bereichen aus einen spezifischen Gehalt gewinnen.“; Kelsen, a. a. O., S. 106 – „Eine Norm kann auch einen sinnlosen Inhalt haben. Dann ist aber keine Interpretation imstande, ihr einen Sinn abzugewinnen.“; siehe dazu auch Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 433 – „Wenn gesagt wird, ein Satz sei sinnlos, so ist nicht, quasi, sein

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Das Gebot der Widerspruchsfreiheit kann wegen seines ausschließlich methodologischen Charakters, der nicht Bestandteil des erklärten Gegenstandes ist, auf alle Rechtsordnungen angewendet werden.218 Darüber hinaus muß das Gebot der Widerspruchsfreiheit immer dann angewendet werden, wenn normative Ordnungen mit objektiven Aussagegehalten verbunden werden sollen, wenn also die rule of law realisiert werden soll.219 Widersprüchliche Interpretationen scheiden methodologisch nicht wegen Unrichtigkeit aus. Das methodologische Gebot der Widerspruchslosigkeit hängt vielmehr damit zusammen, daß widersprüchliche Erklärungen deswegen nichtssagend sind, weil jede beliebige normative Einzelaussage aus ihnen abgeleitet werden kann (es handelt sich dabei um eine logische Binsenweisheit, die schon der mittelalterlichen Scholastik als „ex falso quodlibet“ bekannt war).220 Keine einzige normative Einzelaussage ist unvereinbar mit einer widersprüchlichen Interpretation. Das hat zur Folge, daß wir keine einzige normative Einzelaussage dadurch auszeichnen können, daß sie anders als ihre Negation aus einer widersprüchlichen Interpretation ableitbar wäre. Anders ausgedrückt: Alle theoretisch möglichen, überhaupt denkbaren Aussagen können aus Kontradiktionen abgeleitet werden und daher gewinnen wir keine Informationen durch das Aufstellen widersprüchlicher Interpretationen.221 Aus diesem Grund ist das Merkmal der Widerspruchsfreiheit das allgemeinste Kriterium der Verwendbarkeit eines Satzsystems, ganz unabhängig davon, ob es sich um ein empirisches oder nichtempirisches Satzsystem handelt. Wir müssen Widerspruchsfreiheit der Interpretation methodologisch immer dann verlangen, falls wir Annäherung an die Wahrheit als das Ziel der gesuchten Erklärung ansehen. Umgekehrt führt jeder methodologische Verzicht auf das Desiderat der Widerspruchsfreiheit zugleich zu einem Verzicht auf Wahrheit und – damit verbunden – zur Unmöglichkeit von Irrtum.222 Wir erhalten daraus weitere Konsequenzen: So ist die Unmöglichkeit, über den Inhalt normativer Einzelaussagen zu irren, ihrerseits unvereinbar mit der gleichzeitigen Aufrechterhaltung einer vorhersehbaren Rechtsordnung und sie ist unvereinbar mit der gleichzeitigen Realisierbarkeit der rule of law, also der Gleichheit vor dem Gesetz. Sinn sinnlos. Sondern eine Wortverbindung wird aus der Sprache ausgeschlossen, aus dem Verkehr gezogen.“; vgl. auch zum begrifflichen Ausschluß sinnloser Ordnungen aus der Klasse der Rechtssysteme Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 59. 218 Zum metatheoretischen Charakter der Methodologie siehe unten sub. § 11. 219 Zum Zusammenhang zwischen der rule of law und der Verfügbarkeit allgemeiner Interpretationen oben sub. § 5 I. 220 Ausführlicher Popper, Vermutungen, S. 459 ff.; Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 196 f.; Lakatos, Methodologie, S. 57. 221 Allgemein dazu Mates, Elementare Logik, S. 89. 222 Lakatos, Methodologie, S. 57.

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Ein mögliches Mißverständnis im Zusammenhang mit der Unmöglichkeit von Widersprüchen im Gegenstand muß unbedingt vermieden werden. Denn das methodologische Desiderat der Widerspruchslosigkeit der Interpretation (nicht aber: der Widerspruchslosigkeit der normativen Ordnung) ist sehr deutlich unterscheidbar von der Möglichkeit sogenannter Zielkonflikte223 innerhalb von normativen Ordnungen, also innerhalb der widerspruchsfrei zu erklärenden Gegenstandsebene.224 So ist die Feststellung von Zielkonflikten innerhalb einer normativen Ordnung stets erst das Ergebnis von Interpretationen, die ihrerseits widerspruchsfrei sein können (und methodologisch widerspruchsfrei sein sollten). Widerspruchsfrei rekonstruierte Zielkonflikte sind ihrerseits nicht kontradiktorisch, sondern die Ziele sind innerhalb der Gegenstandsebene konträr. Das bedeutet, daß wir auch konträre Gegensätze auf der Gegenstandsebene – wie immer – anhand widerspruchsfreier Interpretationen nicht-kontradiktorisch rekonstruieren können. Es wäre mithin ein Fehlschluß anzunehmen, daß konträre Gegensätze auf der Gegenstandsebene gewissermaßen durchschlagen auf die Interpretationsebene und dadurch kontradiktorische Interpretationen auslösen könnten. Unsere Theorie der Rechtsgüterrelationen beinhaltet einen Versuch der objektiven, nicht-kontradiktorischen Rekonstruktion konträrer Gegensätze innerhalb normativer Ordnungen.225 Zusammenfassend ergibt sich, daß die methodologische Forderung nach widerspruchsfreien Erklärungen nicht zur Disposition gestellt werden kann. Falls methodologisch akzeptiert wird, daß Interpretationen (beziehungsweise die normativen Ordnungen unmittelbar „als solche“226) widersprüchlich sein dürfen, kann jede beliebige Aussage in gleicher Weise als normative Einzelaussage der so interpretierten Rechtsordnung hergeleitet werden. Die methodologische Qualifikation einer Rechtsordnung als aus sich heraus „objektiv widersprüchlich“ ist funktional gleichbedeutend mit dem Bestreiten der Existenz der Rechtsordnung: Kein „quodlibet“ kann mit dem Konzept „ex falso quodlibet“ behoben werden. 4. Falsifizierbarkeit Die zweite methodologische Vorgabe für alle Interpretationen zur Rekonstruktion normativer Ordnungen kann als logische Falsifizierbarkeit der Interpretation bezeichnet werden. In mehrfacher Hinsicht kommen diesem inhalt223 Gleichbedeutend wird etwa auch von Prinzipienkollisionen, Rechtsgüterkonflikten, Spannungslagen etc. gesprochen. 224 Denn Rechtsordnungen können potentiell unterschiedliche Rechtsgüter schützen, die in Hinblick auf einzelne Sachverhaltskonstellationen prima facie unterschiedliche Rechtsfolgen gebieten – was einem Rechtsgut nutzt, schadet dem anderen (Zielkonflikt). 225 Insbesondere unten sub. § 10 I. 226 Was nicht möglich ist, dazu oben sub. § 6 II. 2.

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lichen Kriterium – um genauer zu sein: dieser logischen Eigenschaft von Erklärungen227 – ganz entscheidende Abgrenzungsfunktionen zu. Das Merkmal der Falsifizierbarkeit einer Interpretation unterscheidet sich dabei vom Kriterium der Widerspruchslosigkeit einer Interpretation kurz gesagt in folgendem Aspekt: Kontradiktorische Interpretationen normativer Ordnung legen für jede Sachverhaltskonstellation der Wirklichkeit jede beliebige Rechtsfolge fest; wir erhalten also zu viele Aussagen als normative Einzelaussagen.228 Demgegenüber verknüpfen diejenigen Interpretationen, die das methodologische Desiderat der Falsifizierbarkeit mißachten, die nichtfalsifizierbar rekonstruierten normativen Ordnungen tatbestandlich mit jeder beliebigen Sachverhaltskonstellation der Wirklichkeit.229 Anders ausgedrückt: Kein Wirklichkeitssachverhalt kann die Eigenschaft haben, nichtsubsumierbar zu sein, wir erhalten also zu viele Wirklichkeitssachverhalte als tatbestandliche Sachverhalte. Als methodologische Vorgabe kann das Merkmal der Falsifizierbarkeit auch im Zusammenhang mit der intersubjektiven Nachprüfbarkeit aller Einzelerklärungen interpretiert werden. Falsifizierbarkeit ist dann so zu einzuordnen, daß jede nachprüfbare Erklärung einer normativen Ordnung alle innerhalb der normativen Ordnung erforderlichen Abgrenzungen in prinzipiell – durch Sachverhalte der Wirklichkeit – falsifizierbarer Form leistet. Es muß mit anderen Worten für jede Abgrenzung allgemein formulierbar sein, woran diejenigen Wirklichkeitssachverhalte erkannt werden können, die sich tatbestandlich jenseits der jeweiligen Grenze befinden.230 Denn falls die Interpretation einer normativen Einzelaussage tatbestandlich mit keinem Sachverhalt der Wirklichkeit unvereinbar ist, erfüllt jede empirisch mögliche Sachverhaltskonstellation alle notwendigen Voraussetzungen zur Übereinstimmung mit dem Tatbestand der jeweiligen normativen Einzelaussage.231 Das Merkmal der Falsifizierbarkeit gewährleistet folglich die intersubjektive Nachprüfbarkeit der Subsumtionen in jedem Einzelfall und damit die Objektivität der Rechtsanwendung. Das methodologische Kriterium kann also auch so formuliert werden: Interpretationen müssen nachprüfbare Kriterien bereitstellen, anhand derer alle Wirklichkeitssachverhalte ausgeschlossen werden können, die den Tatbestand der jeweils interpretierten normativen Einzelaussagen nicht erfüllen. Anderenfalls müßten Wirklichkeits-

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Ausführlich unten sub. § 8 IV. 1. Dazu oben sub. § 6 II. 3. insbesondere Fn. 221. 229 Daraus ergibt sich nicht nur ein Gleichbehandlungsproblem (dazu sogleich), sondern auch ein deontischer Widerspruch, weil Handlung und Gegenteil nicht hinreichend unterschieden werden können, dazu unten sub. § 9 III. 2. a). 230 Zum „jenseits der Grenze“-Aspekt siehe oben sub. § 2 (Verbotsbegrenzung) sowie § 3 (Erlaubnisbegrenzung). 231 Das bedeutet, daß keine einzige Sachverhaltskonstellation durch nichtfalsifizierbare Interpretationen dieser Art ausgezeichnet werden, alle Sachverhaltskonstellationen können gleichermaßen als subsumtionsfähig begründet werden. 228

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sachverhalte nichtsubsumiert werden, obwohl sie alle Voraussetzungen der jeweiligen Interpretation erfüllen. Das Kriterium der Falsifizierbarkeit ist (wie das andere Desiderat der Widerspruchsfreiheit) als methodologischer Vorschlag keine normative Einzelaussage einer beliebigen Rechtsordnung. Das methodologische Kriterium wird also keiner normativen Ordnung durch Interpretation entnommen oder als normative Einzelaussage einer Rechtsordnung erklärt. Statt dessen kann es als notwendige externe Vorgabe (als Metastandard) für Interpretationen betrachtet werden, sofern diese Interpretationen informativ sein sollen.232 Begrifflich könnte man (natürlich) – anders als hier – auch nichtinformative Äußerungen über Rechtsordnungen als Interpretationen bezeichnen. Und ebenso könnte der methodologische Vorschlag der Falsifizierbarkeit inhaltlich abgelehnt werden (aus der Perspektive konventionalistisch definierter „Interpretationen“ wäre die Ablehnung der Entscheidung für Falsifizierbarkeit sogar konsequent233). Solche abweichenden Ansichten mögen der Diskussion Wert sein. Aber wenn sie diskutiert werden sollen, ist es zuallererst notwendig, zwischen falsifizierbaren und nichtfalsifizierbaren Interpretationen unterscheiden zu können. Der methodologisch entscheidende Aspekt der Falsifizierbarkeit ist kein semantisches Problem richtiger Definitionen des Interpretationsbegriffs, sondern folgender Zusammenhang: Jede Erklärung, die das Falsifizierbarkeitserfordernis methodologisch mißachtet, behandelt alle Sachverhaltskonstellationen normativ gleich. Die jeweilige Erklärung führt also dazu, daß die nichtfalsifizierbar interpretierte normative Einzelaussage auf alle Wirklichkeitssachverhalte anwendbar ist. Diese Gleichbewertung aller Sachverhaltskonstellationen (bedingt durch die Unmöglichkeit von Erklärungsfalsifikationen) muß für die erklärte normative Einzelaussage nicht notwendigerweise falsch sein. Aber die interpretative Gleichbewertung mündet im Rahmen der Rechtsanwendung immer in intersubjektiv nicht erklärbare Entscheidungen, sofern die jeweilige Aussage nicht auf 232 Das Merkmal der Falsifizierbarkeit bestimmter theoretischer Aussagen bezeichnet wissenschaftstheoretisch das entscheidende Abgrenzungskriterium (dazu ausführlich unten sub. § 8 IV.). Als methodologische Festsetzung ist es dadurch zu rechtfertigen, daß nur Falsifizierbarkeit wissenschaftliche Nachprüfbarkeit ermöglicht (dazu unten sub. § 8 V. 3.). 233 Das Kriterium der Falsifizierbarkeit wird vom sog. Konventionalismus (als Hauptvertreter sind Henri Poincaré, La science et l’hypothèse und Pierre Duhem, La théorie physique, son objet, sa structure anzusehen) wissenschaftstheoretisch nicht anerkannt. Konventionalistisch interpretierte Naturgesetze sind nicht falsifizierbar, denn erst sie bestimmen, was eine Beobachtung ist (ausführlicher dazu etwa Poser, Wissenschaftstheorie, S. 124 f.). Solchermaßen konventionalistische Auffassungen sind in sich geschlossen und durchführbar (wissenschaftstheoretische Kritik dagegen wird jedoch extern vorgebracht), sie können aber nicht als Interpretation wissenschaftsakzessorischer Normen herangezogen werden, denn sie zeichnen aus der Menge aller möglichen Sachverhaltskonstellationen keine einzelnen aus.

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alle Wirklichkeitssachverhalte angewendet wird. Damit zerstört eine methodologische Nichtfalsifizierbarkeit sowohl die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung, als auch die Gleichheit vor dem Gesetz. 5. Objektive Wahrheit, Intuitionismus, Relativismus Methodologische Vorgaben für Interpretationen lassen sich als Vorschläge stets nur im Hinblick auf die Ziele rechtfertigen, die mit den Interpretationen jeweils verfolgt werden. Das Ziel, das unsere beiden methodologischen Vorgaben wesentlich rechtfertigt, kann beschrieben werden als möglichst weitgehende Annäherung der Erklärungen an die objektive Wahrheit. Das erkenntnisleitende Ziel unserer beiden methodologischen Vorgaben ist mit anderen Worten die möglichst wahrheitsnahe Erkenntnis der jeweils untersuchten „normativen Ordnung an sich“.234 Beide methodologischen Vorgaben sind Desiderata für objektive Interpretationskonzepte. Daher sind sie auf unmoderne Weise antirelativistisch. Unsere Vorschläge müssen dementsprechend fast zwangsläufig auf das Unverständnis all derjenigen treffen, die objektive Wahrheit im allgemeinen als ein überholtes Konzept ansehen und die objektive Wahrheit, insbesondere im Zusammenhang mit der Interpretation normativer Ordnungen, für ein bestenfalls naives Vorurteil halten.235 Darüber hinaus drohen unsere methodologischen Desiderata besonders grundsätzlich von denjenigen mißverstanden zu werden, die irgendeine Form des Relativismus für so selbstverständlich halten, daß sie dabei übersehen, daß relativistische Positionen überhaupt aufgegeben werden können. Schließlich wird unsere Formulierung von methodologischen Vorgaben als Mindeststandard 236 für Interpretationen voraussichtlich bei denjenigen auf offene Ablehnung stoßen, die essentialistisch annehmen, „jede Rechtsanwendung“ und „alle Interpretationen“ enthielten gewissermaßen naturgegebene Elemente des Intuitionismus und subjektiver Beurteilungsspielräume, die sich ihrerseits „reiner Rationalität“ verschließen. Kenntnis der wichtigsten Unterschiede zwischen der hier zugrundeliegenden Auffassung von Wahrheit als regulativer Idee einerseits und dem modernen Relativismus andererseits ist für ein genaueres Verständnis der Theorie der Rechtsgüterrelationen unentbehrlich. Daher soll nun etwas näher auf das Verhältnis 234 Die hier vertretene Position entspricht damit der Idee des „strong objectivism“; kritisch dazu etwa Leiter, Law and Objectivity, S. 969 ff. (971, 979 ff.). 235 Gleiches gilt vom Standpunkt derjenigen Interpretationen, die das Konzept der objektiven Wahrheit „anreichern“ wollen um weitere Kriterien, dazu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 134 ff., 221 ff. 236 Die Mindeststandards betreffen ausschließlich die Methode (also die Art der akzeptierten Erklärungen), nicht jedoch die Heuristik (also das Auffinden – Entdecken – der Interpretation); zu dieser fundamentalen Unterscheidung bereits oben sub. § 6 II. 1.

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zwischen unseren beiden methodologischen Vorgaben und der regulativen Idee der objektiven Wahrheit eingegangen werden. Zum Zweck der leichteren Darstellung werden dabei alle Positionen als „intuitionistisch“ zusammengefaßt, die ihrerseits von der Notwendigkeit wertender beziehungsweise dezisionistischer Erklärungsbestandteile ausgehen und die damit zu der Auffassung führen, die wir bereits oben als monistischen Subjektivismus gekennzeichnet haben.237 Zu diesem Subjektivismus zählen wir ausdrücklich auch alle diejenigen Haltungen, die Interpretationen „ein Stück weit“ rationalisieren wollen, ohne dabei vollständig auf Wertungen eines Rechtsanwenders zu verzichten.238 Der monistische Subjektivismus beruht im einzelnen auf sehr verschiedenen Ansätzen. Dazu zählen unter anderem sprachphilosophische Ideen (vor allem sprachanalytische Überlegungen zur Ungenauigkeit von Begriffen239), bestimmte erkenntnistheoretische Standpunkte angesichts der bekannten Unmöglichkeit gültiger Letztbegründungen, konzeptionelle Folgerungen aus der wichtigen Funktion, die intersubjektiv nicht rein rational diskutierbare Werte innerhalb von Rechtsordnungen ausfüllen sowie manches mehr.240 Daß zwischen all diesen – hier nur schemenhaft angedeuteten – Doktrinen trotz mancher Gemeinsamkeiten ganz erhebliche Unterschiede bestehen, bedarf natürlich ebensowenig besonderer Betonung wie die Tatsache, daß sich diese Standpunkte nicht selbst als intuitionistisch bezeichnen.241 Das Vorhandensein von Theorieunterschieden schließt jedoch eine methodologisch charakteristische Gemeinsamkeit ihrer jeweiligen Konsequenzen nicht aus: Alle hier als intuitionistisch bezeichneten subjektivistischen Interpretationshypothesen leugnen die objektive Existenz wahrer242 Interpretationen ebenso, wie sie die Idee der objektiven Wahrheit als allein erkenntnisleitendes Regula237

Dazu oben sub. § 1 I. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 23; Rafi, Kriterien für ein Urteil, unternimmt den interessanten Versuch, „dem Richter Maßstäbe an die Hand zu geben, die ihm eine verantwortungsvolle Entscheidung ermöglichen (S. 149)“. 239 Ausführlich Endicott, Vagueness in law, insbesondere S. 7 ff. und 159 ff. 240 Vgl. grundlegend Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 277 ff.; ähnlich Hart, Concept of Law, S. 124 – „the open texture of law“; Putnam, Bedeutung von Bedeutung, S. 23; Raz, The Yale Law Journal, Vol. 81, S. 823 (846); zuvor bereits Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 91; Esser, Grundsatz und Norm, S. 111; vgl. dazu auch Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 117 f. 241 Siehe z. B. A. Kaufmann, Abduktion im Rechtsgewinnungsverfahren, S. 303 – „Kein Methodiker von Rang lehrt heute noch, daß die Subsumtion des Falles unter eine Norm im Sinne einer logischen Deduktion das wesentliche oder gar das einzige Instrument der Rechtsgewinnung sei.“; Perry, Ethics 1969, S. 1 (8); Raz, The Yale Law Journal, Vol. 81, S. 823 (843 ff.); Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 6 m. w. Nachw. 242 So wie hier der wissenschaftstheoretische Wahrheitsbegriff verwandt wird, spricht man im rechtstheoretischen Kontext oftmals auch von Richtigkeit, dazu namentlich „Is there Really No Right Answer in Hard Cases?“, Dworkin, A Matter of Principle, S. 119 ff. (no-right-answer thesis). 238

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tiv zurückweisen. Oder, um noch etwas genauer zu sein: Der Intuitionismus hält interpretative Lösungen von Rechtsfragen im Normalfall für möglich. Er geht aber nicht davon aus, daß für jede mögliche Rechtsfrage genau eine bereits vorhandene Antwort der jeweiligen normativen Ordnung gefunden werden kann, die der Erkenntnis prinzipiell zugänglich ist.243 Der Intuitionismus akzeptiert darüber hinaus auch nicht die Zuschreibung unterschiedlicher Wahrheitsähnlichkeiten zu unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Interpretationshypothesen. Die mit dem monistischen Subjektivismus sehr nah verwandte Auffassung, daß Wahrheit eine Konzeption ist, die vom Standpunkt des Betrachters abhängt, ist nun der eigentliche Relativismus. Der Intuitionismus setzt (insofern relativistisch) nicht auf Überlegungen zur Wahrheitsähnlichkeit, sondern, mehr pragmatisch, auf einzelfallbezogene „Gesamtabwägungen“ aller Umstände, einzelfallorientierte „Konkretisierungen“ von vorhandenen Rechtssätzen oder auf Substituierungen der Wahrheitsidee durch Konsensideen. Ideengeschichtlich beruhen dabei alle Einzelausprägungen des Intuitionismus auf dem – natürlich unbestreitbaren – Fehlen eines gültigen Wahrheitskriteriums zur Rechtfertigung richtiger Interpretationen. Wir können sofort zugeben, daß der Wahrheitspessimismus des Intuitionismus selbst ein Körnchen Wahrheit enthält, nämlich die Erfahrung, daß diejenigen, die sich in der Geschichte auf objektive Wahrheit beriefen, fast immer zugleich auch der Auffassung waren, die Wahrheit in ihrer jeweils eigenen Tasche zu haben. Falsch war, daß dabei fast nie unterschieden wurde, daß es eines ist, zu verstehen, was Wahrheit bedeutet, aber ein ganz anderes Problem darin liegt, geeignete Mittel zu finden, die darüber entscheiden, ob ein Satz wahr oder falsch ist.244 Kurz: Die regulative Idee der Wahrheit wurde irrtümlich fast immer gleichgesetzt mit dem methodologischen Problem der Beweisbarkeit der Wahrheit oder mit einem Kriterium der Wahrheit. Die intuitionistische Position zeigt sich stark beeindruckt vom Fehlen gültiger Wahrheitskriterien und strebt keine an der objektiven Wahrheit orientierte Methodologie für ihre Interpretationen an. Der subjektivistisch intuitionistische Standpunkt hält es deswegen für konsequent, lediglich einzelne Interpretationen einander relativistisch gegenüberzustellen, weil niemals eine der konkurrierenden Interpretationen aus sich heraus verifiziert werden kann.245 Mit anderen 243 Zum Problem sog. „hard cases“ siehe vor allem Hart, Concept of Law, S. 272 ff. einerseits und Dworkin, A Matter of Principle, S. 119 ff. andererseits. 244 Ausführlich Popper, Offene Gesellschaft II, S. 463. 245 Prononciert relativistisch im Anschluß an die Position des Wiener Kreises (namentlich formuliert durch Adolf Julius Merkl und Hans Kelsen): Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 266 Fn. 16 – „Die Identität des Erkenntnisobjekts ist bedingt durch die Identität der Erkenntnismethode! Eine prinzipiell andere Betrachtungsweise hat einen prinzipiell anderen Gegenstand zur Folge!“. Epistemologischer Relativismus

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Worten sind also das Fehlen allgemeiner Wahrheitskriterien sowie die logische Unmöglichkeit der Verifikation von Allsätzen246 das wesentliche Fundament des epistemologischen Relativismus. Allerdings: Der Zusammenhang zwischen Wahrheitsidee und Wahrheitskriterium ist sehr viel weniger trivial, als der relativistische Direktschluß vom fehlenden Wahrheitskriterium für Interpretationen auf das Fehlen der objektiven Wahrheit als regulativer Idee vielleicht auf den ersten Blick nahelegt. Objektive Wahrheit ist als regulative Idee möglich, ohne dabei auf Wahrheitskriterien angewiesen zu sein. Ein genaueres Verständnis dieses Zusammenhangs erfordert wiederum die präzise Unterscheidung zwischen positiven normativen Ordnungen auf der einen Seite und Interpretationen dieser Ordnungen andererseits. Dabei gilt, daß „normative Ordnungen als solche“ nicht wahrheitsfähig sind. Soweit also von objektiver Wahrheit und Wahrheitsfähigkeit die Rede ist, geht es nicht um die Wahrheit einer „Ordnung als solche“, sondern um die Wahrheit von Darstellungshypothesen über bestimmte Ordnungen. Um genauer zu sein: Es geht um die objektive Wahrheit von Hypothesen darüber, ob einzelne normative Aussagen Bestandteil einer zutreffenden Darstellung bestimmter normativer Ordnungen sind. Nicht wahrheitsfähig sind normative Einzelaussagen, also Aussagen darüber, welche Sachverhaltsalternativen wie entschieden werden.247 Sehr wohl wahrheitsfähig sind demgegenüber deskriptive Aussagen darüber, welche normativen Einzelaussagen Aussagen einer wahren Darstellung einer bestimmten normativen Ordnung sind, also welche deskriptiven Aussagen wahre Bereichsdarstellungen der jeweiligen normativen Ordnung sind. Diese wahrheitsfähigen deskriptiven Aussagen können auch realistisch interpretiert werden als Zugehörigkeitshypothesen, also als Hypothesen darüber, ob ausgewählte normative Einzelaussagen Bestandteile wahrer Darstellungen bestimmter normativer Ordnungen sind. ist darüber hinaus oftmals die wichtigste Grundlage für einen moralischen Relativismus etwa bei Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 15 – „Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis aus gesehen, gibt es nur Interessen und damit Interessenkonflikte, deren Lösung durch eine Interessenordnung erfolgt, die entweder das eine Interesse gegen das andere, auf Kosten des anderen befriedigt oder aber einen Ausgleich, einen Kompromiß zwischen den gegensätzlichen Interessen stiftet. Daß nur die eine oder die andere Ordnung absoluten Wert habe, d. h. aber ,gerecht‘ sei, ist im Wege rationaler Erkenntnis nicht begründbar. Gäbe es eine Gerechtigkeit in dem Sinne, in dem man sich auf ihre Existenz zu berufen pflegt, wenn man gewisse Interessen gegen andere durchsetzen will, dann wäre das positive Recht völlig überflüssig und seine Existenz ganz unbegreiflich. Angesichts des Vorhandenseins einer absolut guten, sich schon aus der Natur, der Vernunft oder dem göttlichen Willen ergebenden gesellschaftlichen Ordnung wäre die Tätigkeit des staatlichen Gesetzgebers der törichte Versuch einer künstlichen Beleuchtung bei hellstem Sonnenlicht.“ 246 Dazu auch unten sub. § 7 II. 247 Vgl. oben sub. § 1.

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Die Gesamtheit aller deskriptiven Hypothesen über die Zugehörigkeit einzelner normativer Aussagen zu einer bestimmten Rechtsordnung kann als Interpretation im engeren Sinne bezeichnet werden.248 Interpretationen im engeren Sinne (Zugehörigkeitshypothesen) sind – anders als normative Ordnungen an sich – ohne weiteres wahrheitsfähig. Wahrheitsfähig sind also beispielsweise alle deskriptiven Aussagen der Art: Der Satz „S“ ist eine normative Einzelaussage der Rechtsordnung „R“.249

Ein wichtiges methodologisches Argument dafür, alle deskriptiven Zugehörigkeitshypothesen als wahrheitsfähig anzusehen, kann sehr schön daran veranschaulicht werden, daß die gegenteilige Annahme zu den folgenden, völlig unannehmbaren Konsequenzen führt. Jeder Verzicht auf Wahrheitsfähigkeit von Interpretationen im engeren Sinne bedingt die logische Unmöglichkeit von Irrtümern in der Darstellung normativer Ordnungen. Freilich ist ein methodologischer Verzicht auf Irrtum nichts, was aus sich heraus unvorstellbar wäre. Aber logisch entfallen alle Aussagegehalte einer normativen Ordnung, falls keine einzige Zugehörigkeitshypothese falsch sein kann. Denn unter dieser (unwissenschaftlichen) methodologischen Voraussetzung (Verzicht auf Irrtum) darf jede beliebige Aussage – ebenso wie die dazu gehörige Negation – irrtumsfrei als normative Einzelaussage der interpretierten Ordnung bezeichnet werden. Die Wahrheitsfähigkeit von Zugehörigkeitshypothesen entsteht zusammen mit der regulativen Idee der objektiven Wahrheit immer dann, wenn normative Ordnungen in intersubjektiv nachprüfbarer250 Weise mit inhaltlichen Gehalten verbunden werden sollen. Umgekehrt entsteht die regulative Idee der Wahrheit jedoch immer dann nicht, wenn intersubjektiv nichtnachprüfbare – „gesetzlose“251 – Ausübung von Regierungsgewalt als Ordnungskonzept akzeptiert wird (eine derartige Willkürherrschaft wäre keine normative Ordnung [rule of law and not of men], sondern die unvorhersehbare Befehlskette eines Ordnenden).252 248

In einem weiteren Sinne kann auch die Gesamtheit der normativen Einzelaussagen als Interpretation einer Rechtsordnung bezeichnet werden. Der übliche Begriff der Interpretation unterscheidet freilich nicht zwischen den hier sog. Interpretationen im engeren Sinne (Zugehörigkeitshypothesen) und den Interpretationen im weiteren Sinne (Gesamtheit der normativen Einzelaussagen). 249 Beispiel (in Anlehnung an den Staudamm-Projekt Fall): „Bei ökologischer Unbedenklichkeit des Staudamms ist seine Errichtung nicht verboten.“ ist eine normative Einzelaussage der Beispiel-Rechtsordnung. 250 Ausführlich zur Objektivität als Prüfbarkeit unten sub. § 6 III. 1. 251 Eine der weitreichendsten Folgen des Rechtspositivismus liegt in der begrifflichen Einebnung des wichtigen Unterschieds zwischen einer Kette von unvorhersehbaren Einzelbefehlen einerseits und einer normativen Ordnung andererseits; dazu („order without command“) ausführlicher Hayek, Constitution of Liberty, S. 148 ff.; ders., Recht, Gesetz und Freiheit, S. 199 ff., 279 ff. 252 Die Methodologie der Wahrheitsfähigkeit von Zugehörigkeitshypothesen steht in enger Nähe zur rule of law, denn Gleichheit vor dem Gesetz setzt die Existenz einer normativen Ordnung mit inhaltlichen Gehalten voraus.

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Die hier in Grundzügen nachgezeichnete Konzeption verdankt wesentliche Bestandteile einer wichtigen Entdeckung des 20. Jahrhunderts, die man oftmals schlagwortartig als semantischen Wahrheitsbegriff bezeichnet hat. Diesen semantischen Wahrheitsbegriff formalisierte erstmals Alfred Tarski im Jahr 1935. Tarski entwickelte den Begriff theoretisch vollständig im Rahmen seiner berühmten Untersuchung über den „Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“253. Dabei gelangte er zu einer Beantwortung der bis dahin sehr berechtigterweise formulierten Kritik an allen überkommenen, naiven Wahrheitsdefinitionen und löste darüber hinaus lange bekannte technische Probleme, die bei Anwendung der klassischen (Aristotelischen) Korrespondenztheorie der Wahrheit auftreten. Tarskis bahnbrechender Lösungsansatz beruhte auf einer allgemeinen Unterscheidung zwischen zwei Sprachebenen, nämlich: auf einer Unterscheidung zwischen einer sogenannten Objektsprache einerseits sowie einer sogenannten Metasprache andererseits. In der Objektsprache sind alle deskriptiven Aussagen formuliert, die etwas über die Gegenstände des Untersuchungsbereichs behaupten. Die Metasprache formuliert demgegenüber alle Behauptungen über die Objektsprache.254 Übertragen auf normative Einzelaussagen und deskriptive Zugehörigkeitshypothesen entsprechen erstere einer Objektsprache im Sinne Tarskis und letztere einer seiner Metasprachen: Eine deskriptive Zugehörigkeitshypothese „Z“ (Interpretation im engeren Sinne) ist genau dann wahr, wenn die normative Einzelaussage, deren Zugehörigkeit zur Darstellung der Rechtsordnung „R“ durch „Z“ behauptet wird, Bestandteil der Darstellung der Rechtsordnung „R“ ist.

Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen in diesem Punkt sei freilich nochmals daran erinnert, daß Tarskis Rehabilitierung des Wahrheitsbegriffs nichts an der Nichtexistenz eines Wahrheitskriteriums für Interpretationen ändert. Die Explikation dessen, was mit Wahrheit gemeint ist, führt in keiner Weise dazu, daß gleichzeitig auch ein Probierstein erzeugt werden muß, der uns wahre Sätze sicher erkennen läßt.255 Ein solches Kriterium wäre zwar, wenn es

253 „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“, abgedruckt in: Studia Philosophica Commentarii Societatis philosophicae Polonorum, Vol. 1 (1935), S. 261 ff. 254 Alfred Tarski konstruierte eine Adäquatheitsbedingung zur Definition des Wahrheitsbegriffs. Bekannt geworden ist diese Bedingung unter dem Namen „convention T“ (wobei T ein Abkürzungszeichen für „truth“ darstellt, nicht für „Tarski“): Eine adäquate Wahrheitsdefinition für eine bestimmte Objektsprache impliziert alle Sätze, die sich aus der Adäquatheitsbedingung „z“ ist wahr (in der Objektsprache) genau dann, wenn p ergeben, indem an die Stelle von „z“ ein Satz der Objektsprache tritt und an die Stelle von „p“ die Übersetzung von „z“ in die Metasprache; ausführlicher dazu Tarski (Fn. 253); ferner etwa eine Darstellung bei Baumann, Erkenntnistheorie, S. 162 ff. (168).

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gefunden werden könnte, eine überaus nützliche Möglichkeit, um den Begriff festzulegen, aber es stellt nicht die einzige Möglichkeit dar. Zusammenfassend kann das Verhältnis zwischen den relativistischen Positionen, die wir als intuitionistisch bezeichnet haben, auf der einen Seite und dem Konzept der objektiven Wahrheit von Interpretationen auf der anderen Seite wie folgt dargestellt werden. Intuitionistische Haltungen (subjektivistische Positionen) können eingenommen werden, das heißt, sie setzen sich nicht als solche notwendigerweise inneren Widersprüchen aus. Gut möglich ist überdies, daß manche „Praxis der Rechtsanwendung“ intuitionistisch verfährt.256 Der Intuitionismus ist als Theoriesystem logisch unwiderlegbar.257 Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß logische Unwiderlegbarkeit für alle Theoriesysteme eine gravierende Schwäche darstellt.258 Objektiv unzutreffend ist die ganz andere Annahme, die Nichtexistenz der objektiven Wahrheit sei ihrerseits logisch begründbar.259 Diese intuitionistische Auffassung kann vielmehr als metaphysische Hypothese gekennzeichnet werden. Alle Versuche, den Intuitionismus logisch zu widerlegen, sind daher wenig aussichtsreich. Dementsprechend wird hier auch keine solche Unternehmung angestrebt. Für unsere Zwecke genügt statt dessen die Klarstellung, wie die Bedeutung der objektiven Wahrheit verstanden werden kann, sowie der Hinweis darauf, daß die regulative Idee der objektiven Wahrheit immer dort entsteht, wo es nicht nur um Beschreibungen und Information, sondern außerdem auch um Argumente und Kritik geht. Hier und im weiteren Fortgang der Untersuchung soll die intuitionistische Auffassung also weder als falsch, noch als widerlegt betrachtet werden. Wir sehen sie statt dessen als zu wenig ambitioniert an.260 Relativistisch betrachtet 255 Popper hält es für angemessen, die logische Situation zwischen Wahrheitsbegriff und Wahrheitskriterium wie folgt zu veranschaulichen (Offene Gesellschaft II, S. 333 f., Hervorhebungen im Original): „So können wir z. B. wissen, was wir mit ,gutem Fleisch‘ und mit ,verdorbenem Fleisch‘ meinen; aber zumindest in einigen Fällen wissen wir vielleicht nicht, wie wir entscheiden sollen, ob wir gutes oder verdorbenes Fleisch vor uns haben: Das meinen wir, wenn wir sagen, daß wir kein Kriterium für die ,Güte‘ guten Fleisches haben. [. . .] Ich gebe zu, ein Kriterium – eine eindeutige Entscheidungsmethode – würde, falls wir eines bekommen könnten, alles klarer, bestimmter und genauer machen. Es ist daher verständlich, daß Menschen, die sich nach Genauigkeit sehnen, nach Kriterien verlangen. Und falls wir sie bekommen können, dann ist ihre Forderung auch vernünftig. Es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, bevor wir ein Kriterium zur Entscheidung der Frage hätten, [. . .] ob Fleisch gut oder verdorben ist, habe es keinen Sinn, darüber nachzudenken, ob ein Stück Fleisch verdorben ist oder nicht [. . .].“ 256 Vgl. zum Verhältnis von Methodologie und Praxis unten sub. § 11. 257 Weil ein gültiges Wahrheitskriterium für den Nachweis einer „einzig richtigen“ Interpretation fehlt, kann die relativistische Behauptung, daß es keine „richtige“, sondern nur intuitive Lösungen gebe, nicht falsifiziert werden. Die intuitionistische Position darf insoweit als eine metaphysische Hypothese behandelt werden. 258 Dazu oben Fn. 33 sowie unten sub. § 8 IV. 2. 259 Zur sog. „Uneignung formal-logischer Systeme“ auch unten sub. § 6 III. 4.

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liegt der intuitionistischen Auffassung eine andere – hier nicht geteilte – Auffassung über die Funktionsbestimmung normativer Ordnungen zugrunde. Nichtrelativistisch kann das noch klarer formuliert werden: Der relativistische Intuitionismus ist nicht ethisch neutral. Er leugnet die Möglichkeit von Gleichheit vor dem Gesetz und unterminiert damit den Glauben an diese Gleichheit. Seine ethische Gefährlichkeit liegt mit anderen Worten darin, daß er die rule of law als unerreichbares Ideal desavouiert.261 Einwände gegen den Intuitionismus können einerseits als externe Kritik verstanden werden. Viel wichtiger scheint jedoch die Tatsache, daß die Theorie der Rechtsgüterrelationen als Variante zur Theorie der subjektivistischen Wertungsabhängigkeit jeder Rechtsanwendung in Betracht kommt. Widerlegbar in einem strengen Sinne ist somit zwar nicht der Intuitionismus als solcher, aber doch jedenfalls die These von der Alternativlosigkeit intuitionistischer Positionen. III. Interpretation als Negation Der hier verfolgte Plan weicht in seiner Zielsetzung von der Konzeption des wertenden – oder, was dasselbe ist: „ein Stück weit wertenden“ – Subjektivismus ab. Statt der zwar widerspruchsfrei durchzuhaltenden, aber wenig ambitionierten Akzeptanz „offener Rechtsbegriffe“262 als „Quelle der Unbestimmtheit“263, einer Lehre vom richterlichen Beurteilungsermessen oder anstelle des Glaubens an „unvermeidliche Wertungsabhängigkeiten der Rechtsanwendung“264, soll hier – zur Realisierung der rule of law – ein Konzept der Inter260 Noch unambitionierter sind die in der Methodenlehre bisweilen wiederholten Auffassungen, die bestreiten, daß Gesetzestexte überhaupt eine Bestimmungsfunktion haben. Bei diesen Positionen handelt es sich letztlich um (wenig originelle) Neuauflagen alter erkenntnistheoretischer Vorstellungen. Diese Ansätze verfolgen andere Ziele als die hier zugrunde gelegte realistische Wissenschaft. 261 Zum Problem der „Unterminierung der Einheit der Rechtsanwendung“ oben sub. § 1 I. 262 Vgl. Hart, Concept of Law, S. 124 ff. („open texture“); Endicott, Vagueness in Law, S. 37 f.; auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 214, S. 366 ff. spricht von „Begriffsbestimmtheit“: „Es läßt sich nicht vernünftig bestimmen noch durch die Anwendung einer aus dem Begriffe herkommenden Bestimmtheit entscheiden, ob für ein Vergehen eine Leibesstrafe von vierzig Streichen oder vierzig weniger eins [. . .] das Gerechte sei. Und doch ist schon ein Streich zuviel, [. . .]. [. . .] Daß das Gesetz etwa nicht diese letzte Bestimmtheit, welche die Wirklichkeit erfordert, festsetzt, sondern sie dem Richter zu entscheiden überläßt und ihn nur durch ein Minimum und ein Maximum beschränkt, tut nichts zur Sache, denn dies Minimum und Maximum [. . .] hebt es nicht auf, daß von dem Richter alsdann eine solche endliche, rein positive Bestimmung gefaßt werde, sondern gesteht es demselben, wie notwendig, zu.“ 263 Endicott, Vagueness in Law, S. 31 ff. („sources of indeterminacy“). 264 Siehe nur exemplarisch Esser, Grundsatz und Norm, S. 59 – „Aber selbst in scheinbar voll durchdachten geschlossenen Systemen bleiben jene offenen Wertungsfragen übrig, in denen der Richter vorrechtliche Wahrheiten ohne axiomatische An-

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pretation als Negation zugrunde gelegt werden. Das Erkenntnisziel der Interpretation als Negation besteht darin, den Kreis möglicher normativer Einzelaussagen der interpretierten Rechtsordnung möglichst weitgehend einzuschränken. Die Einschränkungsbedürftigkeit hängt sehr eng zusammen mit der Darstellungsfunktion normativer Einzelaussagen. Einzelaussage einer normativen Ordnung ist jeder Rechtssatz (Entscheidung), der die Rechtsordnung zutreffend darstellt.265 „Die Einzelaussagen“ einer normativen Ordnung entsprechen somit der Objektsprache im Sinne von Tarskis semantischem Wahrheitsbegriff.266 Den gewissermaßen bekannten Teil der Objektsprache bilden dabei zuvörderst diejenigen Sätze, die der Text einer positiven Rechtsordnung ausdrücklich im Wortlaut formuliert.267 Rechtsordnungen sind aber nicht identisch mit ihren positivierten Normtexten, sondern diese Texte sind dargestellter Ausdruck einzelner Teilausschnitte der normativen Ordnungen (Darstellungsfunktion der Einzelaussagen). Normtexte können als kontingente Darstellungen normativer Ordnungen aufgefaßt werden. Kontingenz bedeutet in diesem Zusammenhang, daß jede Rechtsordnung so oder auch anders dargestellt werden kann. Normative Einzelaussagen sind also stets ein gemeinsames Produkt aus Sprache und der normativen Ordnung an sich.268 Das hat zur Folge, daß Veränderungen in der Darstellung einer normativen Ordnung nicht notwendigerweise das Dargestellte beeinflussen. Also bilden andere normative Einzelaussagen nicht unbedingt eine andere „normative Ordnung an sich“ ab. Kurz: Unterschiedliche Darstellungen implizieren nicht die Unterschiedlichkeit des Dargestellten. Eine praktisch wichtige Funktion der theoretischen Rekonstruktion von „normativen Ordnungen an sich“ besteht nun darin, zusätzliche zutreffende norknüpfung in juristische Prinzipien übertragen muß.“; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 96 – „Kann man also dem wertenden, normativ-teleologischen, rechtspolitischen Element, das in jeder Interpretation steckt, schlechterdings nicht entgehen, so bleibt die Aufgabe, es im Rahmen des Möglichen zu erfassen und kontrollierbar zu machen. Die Fiktion, das rechtspolitische Element lasse sich aus dem juristischen Denken herausdrängen, führt zu nichts anderem, als dazu, daß diese Aufgabe nicht gesehen wird. Die Fiktion fördert, was sie verhindern wollte: Die Möglichkeit unkontrollierbarer Richterwillkür.“ 265 Unten sub. § 6 II. 5. 266 Zum semantischen Wahrheitsbegriff vor allem oben sub. § 6 II. 5. 267 Damit vollkommen identisch ist die Darstellungsfunktion der Präjudizien des Common Law. 268 Es ist diese Parallele, die den hier verwandten abstrahierten Tatsachenbegriff wesentlich rechtfertigt (dazu oben sub. § 6 II. 3.): Physische Tatsachen sind ebenso ein gemeinsames Produkt aus Sprache und Wirklichkeit (Welt 1), wie normative Einzelaussagen (insoweit als abstrahierte Tatsachen) ein gemeinsames Produkt aus Sprache und normativer Ordnung („Welt 3“) repräsentieren.

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mative Einzelaussagen formulieren zu können, die dasselbe Dargestellte (also dieselbe normative Ordnung an sich) darstellen. Es ist diese Funktion der Interpretation „normativer Ordnungen an sich“, von der das Gelingen oder das Nichtgelingen von Rechtsanwendung im Einzelfall abhängt. Die methodologische Problematik der Formulierung zusätzlicher normativer Einzelaussagen liegt in der Wahrheit der Darstellung. Denn alle zusätzlichen, „neuen“ normativen Einzelaussagen sind – anders als die textlich bereits bekannten, positivierten Aussagen von Rechtsordnungen – nicht notwendigerweise zutreffende Darstellungen der interpretierten Ordnungen. Vielmehr sind alle zusätzlichen, „neu“ durch Interpretation gewonnenen normativen Einzelaussagen falsche Darstellungen, falls sie entweder eine andere Rechtsordnung als die jeweils interpretierte Ordnung darstellen oder aber die richtige Rechtsordnung falsch darstellen. Die Erklärungsfunktion von Interpretationen kann somit wie folgt präzisiert werden: (1) Alle nicht notwendigerweise zutreffenden Darstellungen einer normativen Ordnung sind erklärungsbedürftig. (2a) Als notwendigerweise zutreffende Darstellungen könnten, wenn überhaupt, die textlich positivierten Einzelaussagen der interpretierten Ordnung angesehen werden, denn alle anderen, „neuen“ Einzelaussagen sind spekulativ und somit potentiell falsch. (2b) Wie nun allerdings die Kritik der Doktrin natürlicher Interpretationen zeigt, können auch textlich positivierte Einzelaussagen keine Aussagen darüber mit sich führen, was sie bedeuten.269 Normen schließen keinerlei Selbstdeutungen ein. (3) Die bekannten normativen Einzelaussagen beinhalten zwar dennoch sehr viel objektives Wissen über diejenige Rechtsordnung, die sie jeweils darstellen. Kein einziger Bestandteil einzelner Darstellungen ist aber absolut sicher. Textlich positivierte Einzelaussagen liefern also kein sicheres, interpretationsunabhängiges Fundament, sie sind vielmehr Bestandteile von Erklärungen. (4) Kurz: Alle normativen Einzelaussagen sind interpretationsgetränkt und stellen die interpretierte Rechtsordnung potentiell falsch dar. Die überkommene – zumeist als „hermeneutisch“ bezeichnete – Standarddeutung des Erklärungsvorgangs besteht darin, daß auf dem Weg der Erkenntnis von textlich positivierten normativen Einzelaussagen hin zu neuen normativen Einzelaussagen die textlich positivierten Einzelaussagen „konkretisiert“ werden. Andere Aussagen als textlich positivierte Aussagen werden also „hermeneutisch“ unter der Bedingung anerkannt, daß sie als „inhaltliche Präzisierungen“ 269

Dazu oben sub. § 6 II. 2.

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der positivierten Einzelaussagen begründbar sind. Die hermeneutischen Konkretisierungen formulieren also nicht so sehr „zusätzliche“ normative Einzelaussagen. Sie stellen lediglich klar, wie textlich positivierte Normen gemeint sind. Ihrem Selbstverständnis nach steht die hermeneutische Interpretation einer Norm geradezu in Opposition zur Erfindung neuer Normen.270 Hoch problematisch an dieser verbreiteten Vorstellung ist die Art und Weise, in der sie Darstellung und Gegenstand miteinander verknüpft.271 Denn es ist sehr zweifelhaft, inwiefern eine normative Einzelaussage als „Präzisierung“ oder „Konkretisierung“ einer anderen normativen Einzelaussage aufgefaßt werden kann, sofern alle normativen Einzelaussagen denselben Gegenstand (also dieselbe „normative Ordnung an sich“) darstellen.272 Um das zugrundeliegende Problem etwas deutlicher zu machen: Zwei verschiedene darstellende Aussagen können in dem Sinne äquivalent sein, daß sie miteinander übereinstimmen. Beide Aussagen stellen also denselben Aspekt desselben Gegenstandes dar. Unter dieser Bedingung vermehrt oder „präzisiert“ jedoch keine der beiden Aussagen die jeweils bereits durch die andere Aussage eingeführten Erkenntnisse über den Gegenstand.273 Andererseits können zwei darstellende Aussagen auch nicht-äquivalent sein. Das heißt, sie beziehen sich nicht auf denselben Aspekt desselben Gegenstandes. Wenn das der Fall ist, kann die Wahrheit der einen Aussage nicht mit der Wahrheit der anderen Aussage begründet werden.274 Die Idee der Konkretisierung darstellender Aussage entkommt also nicht dem folgenden Dilemma: Entweder fügt sie keinerlei Information über den Gegenstand hinzu oder das Hinzugefügte ist nicht mit dem Vorgefundenen begründbar.275 Unser Konzept der Interpretation durch Negation versucht deshalb – anders als die hermeneutische Konkretisierungsidee – nicht, die schon bekannten normativen Einzelaussagen zu präzisieren. Statt dessen beabsichtigt Interpretation 270 Zur Unterscheidung „Interpretation and Invention“ Endicott, Vagueness in Law, S. 179 ff.; ausführlicher zum Verhältnis der Interpretation als Negation zur hermeneutischen Konkretisierung unten sub. § 6 III. 2. 271 Auch diese Verschränkung ist letztlich eine natürliche Folge des interpretatorischen Monismus, der fest daran glaubt, Rechtsetzung und Rechtsanwendung könnten nicht voneinander getrennt werden; dazu oben sub. § 1. 272 Um den wichtigen Aspekt noch deutlicher zu machen: Es geht um „Darstellung“ im Sinne von Abbildung, nicht aber im Sinne von Verkörperung. D. h., daß eben keine Identität zwischen positivem Normtext und Rechtsordnung besteht. 273 Beispiel: Viele unterschiedliche Aussagen können wahrheitsgemäß dieselbe Tatsache beschreiben; wenn die Aussagen „Peter ist größer als Paul“ wahr ist, ist die andere Aussage „Paul ist kleiner als Peter“ ebenfalls wahr. 274 Beispiel: Wenn die Aussage „Peter ist größer als Paul“ wahr ist, sagt das nichts über die Wahrheit des Satzes „Paul ist früher zum vereinbarten Treffpunkt gekommen als Peter“. 275 Zum Analyse-Paradox ausführlicher unten sub. § 10 III.

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durch Negation, die jeweilige „Rechtsordnung an sich“ genauer zu erkennen. Unser Erkenntnisgegenstand ist die „normative Ordnung an sich“ und nicht eine ihrer kontingenten Darstellungen. Erkenntnistheoretisch eingeordnet geht es uns um die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen: Interpretation durch Negation soll die Erkenntnisse über das Dargestellte vermehren, nicht aber die Erkenntnisse über das Darstellende.276 Genauere Erkenntnisse über normative Ordnungen (das Dargestellte) erfordern stets zusätzliche, „neue“ normative Einzelaussagen, die bis dahin unbekannte Teile der interpretierten Rechtsordnung zutreffend darstellen. Anders als die hermeneutische Konkretisierungsidee annimmt, können zusätzliche normative Einzelaussagen nicht durch Präzisierung aus bereits bekannten Aussagen gewonnen oder abgeleitet werden. Die bekannten, textlich positivierten normativen Einzelaussagen einer Rechtsordnung dürfen also nicht als Ausgangspunkte – gewissermaßen als Anlässe – für eigene, präzisierende Entscheidungen eines Rechtsanwenders mißverstanden werden.277 Den vorhandenen normativen Einzelaussagen kommt vielmehr eine darstellende Funktion zu, die der Ansatz der Interpretation durch Negation auf folgende Weise erschließt: Interpretation als Negation zeichnet – allgemein – Klassen normativer Einzelaussagen als unvereinbar mit den interpretierten Rechtsordnungen aus. Das heißt, Interpretation als Negation vermutet allgemeine Kriterien zur Erkennung von denjenigen Aussagen, die eine „normative Ordnung an sich“ nicht zutreffend darstellen. Interpretation als Negation entspricht damit einer möglichen Metasprache im Sinne der semantischen Wahrheitskonzeption (sie beinhaltet Aussagen über eine Objektsprache).278 Dabei ist Interpretation als Negation keine beliebige Metasprache. Vielmehr sieht sie ausschließlich solche Konzepte als (metasprachliche) Interpretationen an, die objektive Kriterien zur Bestimmung derjenigen Aussagen bereitstellen, die keine wahren Darstellungen der „normativen Ordnung an sich“ sind. Deshalb können umgekehrt alle Informationen darüber, welche normativen Einzelaussagen trotz bestimmter (metasprachlicher) Interpretationen mögliche wahre 276 Exakt diese Unterscheidung dürfte auch zur Aufhellung des in der Literatur oft als „Naturrecht“ mißverstandenen Begriffs des „Law beyond Law“ bei Dworkin, Law’s Empire, S. 400 ff., beitragen. 277 Beispiel: Die Aussage „Peter ist größer als Paul“ kann nicht durch hermeneutische Interpretation dahingehend „konkretisiert“ werden, daß Paul früher zum vereinbarten Treffpunkt gekommen ist als Peter. 278 Ein Grund für die Probleme mit dem Wahrheitsbegriff im Zusammenhang mit der Interpretation normativer Ordnungen kann darin gesehen werden, daß für den Vorgang der Interpretation herkömmlich nicht zwischen den Teilen der Objektsprache (Interpretation im weiteren Sinne) und den wichtigeren Anteilen der Metasprache (Interpretation im engeren Sinne) unterschieden wird. Zum semantischen Wahrheitsbegriff oben sub. § 6 II. 5.

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Darstellungen der „normativen Ordnung an sich“ sind, als bloße Nebenfolgen des Negationsprinzips betrachtet werden.279 Jeden Informationszuwachs über ihren Gegenstand erreicht Interpretation durch Negation gewissermaßen im Ausschlußverfahren. Eine bestimmte normative Einzelaussage ist dabei unter der Bedingung eine zutreffende Darstellung der „normativen Ordnung an sich“, daß ihre Negation bereits als falsche Darstellung der Rechtsordnung gekennzeichnet ist. Jede Rechtsordnung kann also dargestellt werden anhand der Gesamtheit derjenigen normativen Einzelaussagen, die nicht mittels einer (metasprachlichen) Interpretation durch Negation auszuschließen sind. Die Genauigkeit einer Darstellung hängt sehr eng zusammen mit dem jeweiligen Gehalt der Interpretation durch Negation.280 Je gehaltvoller eine Interpretation durch Negation formuliert werden kann, desto größer wird der Bereich der ausgeschlossenen Aussagen und desto kleiner wird gleichzeitig der Bereich der potentiell unklaren Mehrdeutigkeiten der „normativen Ordnung an sich“. Je gehaltvoller also eine Interpretation durch Negation gerät, desto „besser“ – im Sinne von genauer – gelingt die Interpretation. Denn alle gültigen Ausschlüsse von Aussagen bedingen die Wahrheit der jeweiligen Negate. Metasprachliche Interpretationen versuchen demnach immer, möglichst viele objektsprachliche Aussagen aus dem mehrdeutigen Bereich möglicherweise wahrer Darstellungen gültig auszuschließen. Um das Gesagte zusammenzufassen: Das Konzept der Interpretation durch Negation zielt auf die Formulierung möglichst gehaltvoller Interpretationen ab. Gehaltvoll sind Interpretationen, die Folgerungen über mögliche Darstellungen der „Rechtsordnung an sich“ zulassen. Inhaltliche Aussagen über mögliche Darstellungen sind immer dann möglich, wenn das Interpretationskonzept allgemeine und objektive Kriterien aufzeigt, mit deren Hilfe Klassen von normativen Einzelaussagen aus dem Kreis möglicher Darstellungen ausgeschlossen werden können. Denn falls umgekehrt alle möglichen objektsprachlichen Aussagen (Darstellungen) gleichzeitig mit einem metasprachlichen Interpretationskonzept vereinbar sind, ist keine einzige objektsprachliche Aussage gegenüber einer anderen objektsprachlichen Aussage vorzugswürdig.281 Metasprachliche „Interpretationen“, die keine einzige Darstellung als unvereinbar mit einer normativen Ordnung an sich kennzeichnen können, sind mit anderen Worten inhaltslos. Sie sind jedenfalls dann überflüssig, wenn die Erklä279 Zur damit angesprochenen Asymmetrie zwischen Falsifikation und Verifikation (sowie einigen damit bisweilen einhergehenden Mißverständnissen) Popper, Realismus, S. 209 ff.; auch unten sub. § 8 IV. 1., insbesondere Fn. 876. 280 Ausführlich zum Begriff des Gehalts allgemeiner Sätze unten sub. § 8 IV. 281 Vgl. hierzu oben sub. § 6 II. 4. (Falsifizierbarkeit als Abgrenzungserfordernis), unten sub. § 8 IV. und V. (komparative Theoriebewertung).

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rung der „normativen Ordnung an sich“ (und damit: die Erklärung „neuer“ normativer Einzelaussagen) als Interpretationsaufgabe angesehen wird. Vom Standpunkt der Interpretation durch Negation werden dergestalt inhaltslose Interpretationen nicht als „Interpretationen“ anerkannt, denn inhaltslose Interpretationen unterscheiden sich nicht vom Fehlen einer Interpretation. So betrachtet erweist sich die Negation als das Unterscheidungsmerkmal zwischen Interpretationen und sonstigen „Bemerkungen über Rechtsordnungen“. Unsere weiteren Untersuchungen werden wesentlich darin bestehen, das hier nur knapp angedeutete Konzept der Interpretation durch Negation eingehender zu analysieren und darzulegen, daß man im Rahmen dieser Auffassung über beide Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht Auskunft geben kann. Noch zuvor muß allerdings etwas näher auf den bis hierhin bereits mehrfach unerklärt zugrunde gelegten Begriff der Objektivität eingegangen werden. Das ist nicht deshalb erforderlich, weil dieses Konzept der Objektivität anders als trivial wäre, oder auch nur deshalb, weil es in irgendeinem Aspekt vom allgemeinen wissenschaftstheoretischen Objektivitätsmodell abweichen würde. Die Notwendigkeit weiterer Ausführungen hängt vielmehr mit der Tatsache zusammen, daß die Möglichkeit objektiver Interpretationen von allen monistischen Interpretationstheorien zumeist geleugnet wird. 1. Objektivität als Nachprüfbarkeit Ein zutreffendes Verständnis der Ideen von Objektivität und von objektiver Wahrheit hängt sehr eng zusammen mit der Einsicht in den Umstand, daß weder Wissenschaft, noch wissenschaftliche Objektivität dem individuellen Streben einzelner Wissenschaftler zu verdanken ist, „objektiv zu sein“. Wissenschaftliche Objektivität ist vielmehr das Ergebnis der sogenannten Intersubjektivität der wissenschaftlichen Methode. Intersubjektivität bedeutet Nachprüfbarkeit theoretischer Annahmen. Somit handelt wissenschaftliche Objektivität niemals von einer Eigenschaft der Erklärenden, sondern immer von einer Eigenschaft der Erklärungen. Interpretationen normativer Ordnungen sind dementsprechend trivialerweise unter der Voraussetzung objektiv, daß sie intersubjektiv nachprüfbar sind. Indem Objektivität methodologisch ganz allgemein als Prüfbarkeit rekonstruierbar ist, hängt die Objektivität keiner einzigen Interpretation von der Neutralität oder Objektivität irgendeines Interpreten ab (das Paradigma des „unbefangenen Richters“ ist vor diesem Hintergrund hochinteressant282). Aus der Idee von Objekti282 Das institutionelle – nicht methodologische – Ideal richterlicher Unparteilichkeit und Neutralität gehört ideengeschichtlich den passivistischen Rechtserkenntnistheorien an (dazu oben sub. § 6 II. 2.). Das Unparteilichkeitsideal konserviert die Vorstellung, wonach Irrtümer vermieden werden können, falls persönliche Einmischungen in den passiv wahrgenommenen Inhalt unterbleiben: Nur von befangenen Richtern droht Ein-

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vität als Nachprüfbarkeit folgt darüber hinaus auch, daß subjektivistische Interpretationen, die an irgendeiner Stelle dezisionistische Eigenwertungen irgendeines Interpreten beinhalten, nicht objektiv sein können. Denn – zumindest – die persönlichen Wertungsbestandteile der Erklärungen sind nicht intersubjektiv überprüfbar. Der hier zugrunde gelegte Begriff der Objektivität entspricht in jeder Hinsicht dem allgemeinen Sprachgebrauch der Wissenschaftstheorie. Er unterscheidet sich jedoch deutlich von der üblichen Begriffsverwendung innerhalb der gängigen subjektivistischen (monistischen) Interpretationstheorien, die – nach wie vor – Objektivität üblicherweise gleichsetzen mit Neutralität, Vorurteilslosigkeit, Unvoreingenommenheit oder Unbefangenheit. Der historische Grund dafür, daß alle monistischen Interpretationstheorien gegenwärtig vom allgemeinen wissenschaftstheoretischen Standard abweichen, ist ihr überkommener, passivistischer Epistemologiekern.283 Der modifizierte Sprachgebrauch hängt jedoch mittlerweile vor allem damit zusammen, daß jede unmodifizierte Beachtung der allgemeinen wissenschaftstheoretischen Konvention unvermeidlich alle monistischen Interpretationstheorien als „nicht objektiv“ verwerfen muß. Anders ausgedrückt: Das allgemeine wissenschaftstheoretische Kriterium der Objektivität wird für die monistischen Interpretationstheorien deswegen angepaßt, weil es nicht zu deren subjektivistischen und wertenden Bestandteilen paßt (demgegenüber kann der methodologische Ansatz unserer Theorie der Rechtsgüterrelationen als Versuch verstanden werden, nicht das wissenschaftstheoretische Objektivitätskriterium der Interpretationstheorie anzupassen, sondern – umgekehrt – die Interpretationstheorie an das allgemeine Objektivitätskriterium).284 Ein Parallelphänomen kann im Verhältnis derselben monistischen Theorien zur Logik beobachtet werden.285 mischung. Andererseits: Solange Einmischungen methodologisch nicht sicher verhindert werden können, ist es sehr verständlich, befangene Richter zu fürchten; zum Spekulationismus-Einwand ausführlich unten sub. § 10 VI. 283 Vgl. oben sub. § 6 II. 2. 284 Nach wie vor exemplarisch sind Auffassungen wie diejenige A. Kaufmanns – „Die einen verneinen den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz, und zwar, wie vor allem Karl R. Popper („Logik der Forschung“), mit dem Argument, nur die deduktive Methode sei eine wissenschaftliche Methode, die Rechtswissenschaft verfahre aber normativ und damit nicht rein deduktiv. Problematisch erscheint hier die Prämisse, daß in den echten Wissenschaften nur die Deduktion statthaben könne.“ (in: A. Kaufmann/Hassemer [Hrsg.], Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 155). Noch weitreichender sind die Folgen einer anderen Variante, auf die wissenschaftstheoretische Entwicklung zu reagieren. So versuchen manche, die objektiven Probleme der Wissenschaftstheorie auf Fragen der richtigen Definition zu reduzieren – „Die Frage, ob die Rechtswissenschaft eine Wissenschaft sei, formuliert ein Scheinproblem: Solange kein konsensfähiger Katalog der notwendigen und zureichenden Kriterien der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin vorliegt, würde eine Antwort auf die Frage keine Behauptung über die Rechtswissenschaft, sondern eine Aussage über den zugrunde gelegten Begriff von ,Wissenschaft‘ artikulieren (Neumann, in: A.

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Das eigentliche Thema ist keine definitorische Spitzfindigkeit, sondern ein methodologisch tiefgreifendes Sachproblem. So liegt die methodologisch bedeutsamste Konsequenz der subjektivistischen Abweichung vom allgemeinen wissenschaftstheoretischen Standard in dem mit dieser Abweichung einhergehenden fehlenden Differenzierungsvermögen zwischen Findungs- und Begründungszusammenhängen.286 Alle monistischen Interpretationstheorien bringen der methodologisch irrelevanten Frage, auf welche Weise ein bestimmtes Ergebnis gefunden wurde, großes Interesse entgegen. Damit zerstören sie freilich die Objektivität ihrer Methodologie. Die monistischen Interpretationstheorien lassen sich dabei von den beiden Teilfragen beeinflussen, wer ein Ergebnis gefunden hat (Autoritätsfrage) und woher der jeweilige Finder sein Ergebnis im Einzelfall wissen konnte (Quellenfrage). Diese scholastische Art der Fragestellung ist seit jeher eng mit der Forderung verknüpft, wonach möglichst alle Fragen möglichst immer möglichst von denjenigen Personen beantwortet werden sollten, die sich durch große „Weisheit“ und „Neutralität“ (Autorität) sowie durch besondere „Unmittelbarkeit“ ihrer Wahrnehmung (Quelle) auszeichnen. Die beiden überkommenen Forderungen mögen plausibel erscheinen. Auch ist es unübersehbar, daß sie auf manche Autoren eine besondere Faszination ausüben. Dennoch sind beide Forderungen methodologisch ganz und gar fehlgeleitet, das heißt, sie lenken den Blick auf Irrelevantes und übersehen dabei gleichzeitig das Ausschlaggebende: Objektive Wissenschaften interessieren sich weder für Autoritätsfragen, noch für Quellenfragen. Die Methoden aller objektiven Wissenschaften betreffen also keinerlei Findungs- oder Entdeckungszusammenhänge. Objektive Methodologien behandeln statt dessen immer die Rechtfertigungs- beziehungsweise Erklärungszusammenhänge dieser Wissenschaften. Für objektive Erkenntnisse ist somit ausschließlich die Frage interessant: Auf welche Weise können – wie auch immer und durch wen auch immer – gefundene Erklärungen unabhängig (also durch Dritte) überprüft werden?

Die Intuition des Finders oder Entdeckers einer bestimmten Erklärung (oder einer Theorie) können ebenso wie seine Persönlichkeit287 psychologisch analyKaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 427).“ 285 Dazu ausführlicher unten sub. § 6 III. 4. (insbesondere Fn. 399). 286 Dazu oben sub. § 6 II. 1. 287 Psychologisierende Betrachtungen der „Finderpersönlichkeit“ sind, soweit damit die Qualität einer Erklärung beurteilt werden soll, sog. genetische Fehlschlüsse. Einen Spezialfall des genetischen Fehlschlusses stellt bspw. das Argument gegen den Mann dar, nach dem man schließt, daß eine Aussage deswegen falsch sei, weil sie von einer bestimmten Person gemacht worden ist, nämlich einer „verläßlichen Anti-Autorität“ (Beispiel: in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts lehnte die Kommunistische Partei Chinas die naturwissenschaftlichen Hypothesen Gregor Mendels ab, weil sie ihn

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siert werden. Aber weder die persönliche Intuition noch die individuelle Persönlichkeit irgendeines Finders haben etwas gemeinsam mit der methodologischen Problematik der Annehmbarkeit beziehungsweise der Wahrheitsnähe der jeweils gefundenen Erklärungen. Ganz im Gegenteil: Fahrlässige Verwechslungen von Erkenntnispsychologie und Erkenntnistheorie sind methodologisch nicht kompensierbar.288 Sobald der Unterschied zwischen Findungs- und Erklärungszusammenhängen erkannt worden ist und infolgedessen hinreichend genau zwischen Entdeckungen und Erklärungen unterschieden werden kann, ist die scholastische Frage an den Wissenschaftler: „Wie haben Sie ihre Ergebnisse gefunden?“

unschwer als methodologisch irrelevante Frage nach einer gewissermaßen reinen Privatangelegenheit des Forschers identifizierbar. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung erweist sich das alte passivistische Ideal der möglichst „neutralen Objektivität des Finders“ methodologisch gleichzeitig als zu eng und zu weit. Es ist zu eng, weil aufschlußreiche neue Erklärungen unter Umständen fälschlicherweise deshalb abgelehnt werden, weil die jeweiligen Entdecker (oder die spezifischen Entdeckungsvorgänge) dem Betrachter nicht „neutral-objektiv“ genug scheinen.289 Umgekehrt ist das passivistische Ideal aber auch viel zu weit. Denn selbst bei denjenigen Erklärungen, die von den „weisesten, neutralsten und objektivsten“ Findern herstammen, besteht methodologisch natürlich ebenfalls die Frage nach unabhängiger Prüfbarkeit dieser durch „neutrale und weise Autoritäten“ gefundenen Ergebnisse (und sei es, um damit allen Zweiflern die tiefe „Weisheit der Autorität“ demonstrieren zu können). als Vertreter eines „bourgeoisen Idealismus“ betrachtete). Ein anderer Spezialfall des genetischen Fehlschlusses ist das Argument aus der Autorität, also der Versuch, die Wahrheit einer Aussage damit zu begründen, daß sie von einer bestimmten Person stammt, einer „verläßlichen Autorität“. 288 Herbert Feigl, Theorie und Erfahrung in der Physik, S. 115, hob die überragende Wichtigkeit dieser Unterscheidung 1929 nachdrücklich hervor: „Wenn die Philosophie der Gegenwart überhaupt ein Verdienst aufzuweisen hat, so liegt es darin, daß sie gelernt hat, Historisches und Systematisches, Psychologisches und Logisches, Genesis und Gültigkeit klar zu unterscheiden.“ 289 Ein interessantes historisches Beispiel für die wissenschaftliche Unbeachtlichkeit der Findungszusammenhänge liefert der bedeutende indische Mathematiker Srinivasa Ramanujan (1887–1920), der darauf beharrte, daß die „Göttin von Namakkal“ ihn in seinen Träumen besuchte, um ihm mathematische Formeln zu offenbaren, die er nach dem Erwachen lediglich aufschreiben mußte (Theoreme über unendliche Reihen, uneigentliche Integrale, unendliche Kettenbrüche und Zahlentheorie); ähnlich einzuordnen wäre auch die bekannte – historisch aber wahrscheinlich unzutreffende – Legende betreffend den Entdeckungszusammenhang des Gravitationsgesetzes durch Isaac Newton, der in seinem Garten saß und dabei einen Apfel vom Baum herabfallen sah (ausführlicher Salmon, Logik, S. 25 ff.).

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Das Merkmal der intersubjektiven Nachprüfbarkeit als Kriterium der Wissenschaftlichkeit löst wissenschaftliche Objektivität von allen Subjektivismen im Entdeckungszusammenhang ab. Die Objektivität von Interpretationen hängt nicht ab von der „Objektivität eines Interpreten“. Ebensowenig impliziert der methodologische Anspruch auf Objektivität einer Erklärung seinerseits die „Neutralität des Interpreten“ oder die „vorurteilslose Unbefangenheit des Interpreten“.290 Der methodologische Anspruch auf Objektivität einer Erklärung impliziert ausschließlich die vollständige und unabhängige Nachprüfbarkeit der Erklärung. Wissenschaftlichkeit kann also, wenn man will, definiert werden als die intersubjektive Nachprüfbarkeit von Erklärungen. Unser Konzept der Interpretation durch Negation rekonstruiert dementsprechend nichts anderes als die Methode – das heißt: die Struktur der Erklärungszusammenhänge291 – aller entwickelten Wissenschaften. Das aber heißt gegenwärtig vor allem: Sie rekonstruiert die Methode der Naturwissenschaften. Diese wichtige methodologische Übereinstimmung ist es auch, die eine Kategorisierung der Wissenschaften von positiven Rechtsordnungen (unter bestimmten Bedingungen292) als Realwissenschaften293 rechtfertigt. 290 Wäre die Objektivität wissenschaftlicher Interpretationen von einer Vorurteilslosigkeit im Baconschen Sinne sowie von der Neutralität ihres Interpreten abhängig, so läge darin tatsächlich ein gravierendes Problem; methodologisch stellen sich die Dinge jedoch (glücklicherweise) anders dar. 291 Vgl. oben sub. § 6 II. 1. 292 Zu diesen Bedingungen siehe vor allem unten Fn. 309. 293 Jenseits vollkommen fruchtloser Bereichsabgrenzungen kann festgehalten werden, daß zweifellos bedeutende Unterschiede zwischen „geisteswissenschaftlichen“ und „naturwissenschaftlichen“ Disziplinen bestehen. Die Tatsache, daß Unterschiede in einer Hinsicht bestehen, schließt jedoch nicht aus, daß Gemeinsamkeiten in anderen Hinsichten existieren. Jedenfalls kann das allgemeine „naturwissenschaftliche“ Schema Problem1 ! Lösungsvorschlag (Theorie) ! Fehlereliminierung ! Problem2 auch verwandt werden, um die „Geisteswissenschaften“ zu charakterisieren, deren Theorien sich freilich zumeist auf sprachlich fixierte Produkte und andere Ergebnisse kultureller Aktivitäten beziehen. Der theoriebasierte Zugang zu „geisteswissenschaftlichen Gegenständen“ ist eine wissenschaftliche Alternative zu den hermeneutischen Ansätzen, die das Hauptproblem der Geisteswissenschaften allgemein darin sehen, subjektive Befindlichkeiten der jeweiligen Werkschöpfer nachzuvollziehen sowie die Akte der Herstellung zu verstehen (Bereichsausprägungen dieses Verständnisses führten zu einer „kreationistischen“ Rechtsquellenlehre, die den Normgeber (Schöpfer) mit seinem Normensystem (Werk) verknüpft). Die Alternative dazu liegt darin, Problemsituationen zu verstehen, indem diese hypothetisch rekonstruiert werden. Zu den typischen Bestandteilen von Problemsituationen gehören insbesondere alle diejenigen Annahmen, von denen die handelnden Personen beeinflußt sind. Geisteswissenschaften haben infolgedessen häufig metatheoretischen Charakter, sie formulieren also Theorien über Theorien. Allerdings: In allen Produkten menschlichen Handelns – auch in den Theorien – ist mehr und teilweise anderes enthalten, als die Hersteller ausdrücken wollten. Alle Geisteswissenschaften haben es somit mit einem Phänomen zu tun, das man als exosomatische Evolution bezeichnet. D. h., sie haben mit Gegenständen zu

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„Die Rechtswissenschaft“ wird zwar heute – das ist historisch bedingt – im Selbstverständnis vieler Rechtsanwender als sogenannte „normative Wissenschaft“294 angesehen. Jedenfalls klassifizieren viele Rechtsanwender ihre „Rechtswissenschaft“ lieber als eine besondere Geisteswissenschaft295, die es „gegen alle anderen Wissenschaften“296 klar abzugrenzen gilt. Aber alle Zuschreibungen sind natürlich unwichtig, denn wie die Erkenntnistheorie lehrt, kann alles, was nicht identisch ist, miteinander verglichen werden. Wichtig ist, vor allem eines nicht zu übersehen: Die herkömmlichen (in den letzten Jahrzehnten freilich schon wieder etwas unmodern gewordenen) Bemühungen um Unterscheidungskriterien zwischen der Rechtswissenschaft einerseits sowie den Naturwissenschaften andererseits beruhten von Anfang an auf viel zu holzschnittartigen epistemologischen Prämissen hinsichtlich der Naturwissenschaften. Diese Fehleinschätzungen gaben zu pauschalen Äußerungen Anlaß, Naturwissenschaften zielten als empirische Wissenschaften „auf die kausal-gesetzliche Erklärung natürlicher Vorgänge“297 ab, wohingegen die „spezifischen Existenzen von Normen“298 keinesfalls „natürliche Tatsachen“299 seien, die in „Raum und Zeit“300 verortet werden könnten. Diese überkommene gegenstandsbezogene301 Unterscheidungskonzeption (natürlicher Vorgang/spezifische Existenz von Normen) beruht erkenntnistheoretisch auf einer noch näher zu behantun, die sich nicht vollständig auf psychische oder physiologische Prozesse reduzieren lassen; zur damit verbundenen Abstrahierung des Wirklichkeitsbegriffs auch unten sub. Fn. 309. 294 So vor allem Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 9 und seine zahlreichen Schüler; eine scharfe Abrechnung mit dieser etablierten Begrifflichkeit unternimmt Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, S. 199 ff. (insbesondere Fn. 55): „Die ,reine Rechtslehre‘ ist somit eine jener Pseudo-Wissenschaften wie der Marxismus und die Freudsche Theorie, die als unwiderleglich hingestellt werden, weil alle ihre Aussagen per definitionem richtig sind, uns aber nichts über die Tatsachen sagen.“ 295 Selten werden in solchen Zusammenhängen die historischen Umstände der Begriffsprägung der „Geisteswissenschaften“ in Erinnerung gerufen. Den Ausgangspunkt dafür bildet im 19. Jahrhundert J. Schiels Übersetzung von Mills „A System of Logic“. Der Übersetzer formulierte damals die Überschrift des sechsten Buchs („On the Logic of the Moral Sciences“) für den deutschen Sprachkreis bis heute prägend als „Von der Logik der Geisteswissenschaften oder moralischen Wissenschaften“. Die noch nicht vollständig überwundene Anbindung der geisteswissenschaftlichen Methode an den Induktivismus kann somit bis zu ihren Anfängen (nämlich zum Induktivismus Mills) zurückverfolgt werden. 296 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 9. 297 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 9. 298 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 7. 299 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 7. 300 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 7. 301 Schon die gegenstandsbezogene Unterscheidung als solche geht am eigentlichen Problem vorbei, denn Wissenschaften unterscheiden sich von Nicht- und von Pseudowissenschaften niemals durch ihren Gegenstand, sondern stets durch ihre Methode (so stimmen bspw. die Gegenstände von Astronomie und von Astrologie überein).

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delnden302 Fehleinschätzung der naturwissenschaftlichen Methode. Die naturwissenschaftliche Methode wird in diesen Zusammenhängen irrtümlicherweise zumeist naturalistisch so beschrieben, daß „die Naturwissenschaften“ ihre Theorien durch „exakt ausgeführte Messung“303 und Experiment begründen und verifizieren.304 Ohne daß man zu diesem Zweck die methodologisch irrelevante begriffliche Abgrenzungsfrage zwischen Rechts- und Naturwissenschaften erneut aufwerfen müßte, kann festgehalten werden, daß die – jeweils richtig verstandenen305 – Erklärungsstrukturen (also die Methodologie) von Rechts- und Naturwissenschaften übereinstimmen (das Bestehen von Asymmetrien schließt eben nicht die gleichzeitige Existenz von Symmetrien aus306). Nicht besonders hervorzuheben ist dabei der Umstand, daß ein empiristischer Popanz der Naturwissenschaften (Naturwissenschaften als „Messung und Verifikation“) nichts gemein hat mit der Rechtswissenschaft. Ebensowenig trifft er auf die Naturwissenschaften selbst zu.307

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Ausführlich dazu unten sub. § 7 III. 3. Larenz, Methodenlehre, S. 6. 304 Exemplarisch Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, S. 5; dagegen Hayek, Anmaßung von Wissen, S. 284; Popper, Logik der Forschung, S. 224 – „Man kann sagen, der Fortschritt [der Naturwissenschaft] könne ,sich [. . .] nur in zwei Richtungen vollziehen: Sammlung neuer Erlebnisse und bessere Ordnung der bereits vorhandenen‘. Und doch scheint mir diese Kennzeichnung des wissenschaftlichen Fortschritts wenig charakteristisch; zu sehr erinnert sie [. . .] an die emsig gesammelten ,zahllosen Trauben‘, aus denen der Wein der Wissenschaft gekeltert wird – an jene sagenhafte Methode des Fortschreitens von Beobachtung und Experiment zur Theorie (eine Methode, mit der noch immer manche Wissenschaften zu arbeiten versuchen, in der Meinung, es sei die Methode der experimentellen Physik). Nicht darin liegt der wissenschaftliche Fortschritt, daß mit der Zeit immer mehr neue Erlebnisse zusammenkommen; auch nicht darin, daß wir es lernen, unsere Sinne besser zu gebrauchen. Von unseren Erlebnissen, die wir hinnehmen, wie sie uns treffen, kommen wir nie zur Wissenschaft – und wenn wir noch so emsig sammeln und ordnen.“ 305 Freilich oft mißverstanden, dazu unten sub. § 8 III. 2. 306 Beispiel: Die weitreichende Symmetrie zwischen positiven und negativen natürlichen Zahlen schließt nicht ihre fundamentale Asymmetrie hinsichtlich der Existenz natürlichen Quadratzahlen aus. 307 Aufschlußreiche Einzelanalysen dazu bei Feyerabend, Probleme des Empirismus I, S. 1 ff.; ders., a. a. O., S. 11 – „Eine allgemeine Abneigung gegen Spekulation [. . .] kennzeichnet in großen Teilen das Denken im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Sie und die Neigung, die Kosmologie zu säkularisieren, haben die meisten Prinzipien beseitigt [. . .]. Vieles am gegenwärtigen Empirismus ist das unvernünftige Endergebnis dieses philosophischen Frühjahrsputzes. Er ist ein Bruchstück, das nicht auf eigenen Füssen stehen kann. Zu der Zeit, als die Metaphysik noch eine ehrbare Unternehmung war, machte die Bezugnahme auf Beobachtung einen ausgezeichneten Sinn. Heute ist diese Bezugnahme kaum mehr als ein Glaubensartikel.“; ausführlicher zur Methodologie der Naturwissenschaften sowie zum Charakter der Naturgesetze unten sub. § 8 (insbesondere III. 2.). 303

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Schon die Idee, daß eine gegenstandsbezogen definierte308 Rechtswissenschaft mit einem gewissermaßen „nicht-wirklichen“309 Untersuchungsgegenstand befaßt wäre (oder über gar keinen Gegenstand verfügte), daß die Rechtswissenschaft also deshalb keine „Realwissenschaft“ wäre, vermag im Zusammenhang mit positiven Rechtsordnungen nicht zu überzeugen. Und weshalb methodologisch ausgerechnet im Hinblick auf das Kriterium der intersubjektiven Nachprüfbarkeit von Theorien für den Bereich der Rechtswissenschaft eine Ausnahme gelten sollte, die von keiner einzigen anderen Wissenschaft beansprucht wird, müßte erklärt werden.310 Keine Erklärung dieser methodologischen Ausnahme von Nachprüfbarkeit liefern insbesondere die häufig wiederholten Auffassungen, wonach die „Rechtswissenschaft auf die Erkenntnis von Normen“311 beschränkt sei. Denn nachprüfbare Erklärungen kommen diesem Erkenntnisinteresse immer näher als nichtnachprüfbare sonstige Behauptungen über Rechtsordnungen. Anders ausgedrückt: Die Beschränkung auf „Erkenntnis von Normen“ entspricht vollständig der hier zugrunde gelegten Auffassung über die objektive Wissenschaftlichkeit einer Interpretation als deren Nachprüfbarkeit. Das Konzept der Nachprüfbarkeit wird methodologisch überhaupt nur eingeführt, um eine „Erkenntnis von Normen“ zu ermöglichen; lediglich Interpretation durch Negation ist inhaltlich nicht gehaltlos und kann daher zur nachprüfbaren „Erkenntnis von Normen“ beitragen. Wenn also „Erkenntnis von Normen“ derjenige Zweck ist, der verfolgt wird, müssen die dazu erforderlichen wissenschaftlichen Mindestanforderungen eingehalten werden, um die Objektivität der Erkenntnis sicherzustellen. Zusammenfassend kann das Konzept „Interpretation als Negation“ gedeutet werden als methodologischer Standard zur Sicherstellung der Objektivität von Interpretationen. Dieser Standard ist identisch mit der Methodologie aller entwickelten Wissenschaften. Das Merkmal der Objektivität ist dabei ein Wert an 308

Dazu oben Fn. 301. Die Verwendung von Wörtern – „wirklich“ oder „real“ – sollte nicht überbewertet werden. Der Alltagsverstand – und diesem entsprechend die Alltagssprache – begreift die Welt der physischen Körper als „wirklich“. Etwas über den Alltagsverstand hinaus geht deshalb die abstrahierte Wirklichkeitsvorstellung, wonach auch abstrakte Gegenstände (wie etwa normative Ordnungen, vor allem jedoch Probleme und Theorien) „wirklich“ sind in dem Sinne, in dem auch physische Körper wirklich sind. Damit ist gemeint, daß sie zumindest partiell autonom sind gegenüber der Welt der physischen Körper („Welt 1“) und gegenüber der Welt der psychischen Vorgänge („Welt 2“), daß sie untereinander wechselwirken und daher wissenschaftlich untersucht werden können (für einen kurzen Überblick über die sog. „Welt 3“ siehe Popper, Das offene Universum, Anhang I, S. 118 ff.; ausführlicher ders., Objektive Erkenntnis, Kapitel 3 und 4 sowie ders., Knowledge and the Body-Mind Problem). 310 Das Kriterium der Nachprüfbarkeit kann seinerseits als methodologische Konsequenz des Ideals der „Gleichheit vor dem Gesetz“ aufgefaßt werden. 311 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 9. 309

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sich, der – wie jeder Wert312 – als Präferenzentscheidung dargestellt werden kann: Eine nachprüfbare Erklärung ist gegenüber einer nichtnachprüfbaren Behauptung vorzugswürdig.

Die Entscheidung zugunsten der Objektivität von Interpretationen ist keine Entscheidung derjenigen „normativen Ordnung an sich“, die mit den jeweiligen objektiven Interpretationen erklärt wird. Die Entscheidung zugunsten nachprüfbarer Erklärungen (also für objektive Interpretationen) betrifft vielmehr eine Eigenschaft der Interpretation. Als gebotene Eigenschaft der Interpretation ist Objektivität immer ein Metastandard. Denn während Interpretationen die Entscheidungen einer „normativen Ordnung an sich“ erklären, ist die Objektivität der dafür akzeptierten Erklärungen ihrerseits eine normative Entscheidung.313 Die (positivistische) Vorstellung, daß normative Ordnungen Standards für ihre eigenen Interpretationen beinhalten könnten, mündet demgegenüber wiederum in die bereits oben behandelte passivistische Vorstellung einer „Selbstdeutung sozialer Akte“ ein.314 Kurz: Während Interpretationen Erklärungen des Maßstabs sind, ist Objektivität ein Maßstab für Erklärungen. 2. Hermeneutische Konkretisierung und Interpretation als Negation Interpretation durch Negation unterscheidet sich in verschiedenen Aspekten von herkömmlich positivistischen und insbesondere hermeneutischen Vorstellungen über Interpretationen als idiographische Konkretisierungsverfahren.315 Der Hauptunterschied besteht – wie bereits oben knapp umrissen wurde – in der funktionalen Bedeutung, die den bekannten (insbesondere: den textlich positivierten) normativen Einzelaussagen im Hinblick auf konkurrierende Interpretationsvorschläge zukommt. Während die Idee der hermeneutischen Konkretisierung im Kern daran glaubt, textlich positivierte normative Einzelaussagen „präzisieren“ zu müssen (und darüber hinaus annimmt, das innerhalb bestimmter Grenzen auch zu können), dienen normative Einzelaussagen im Konzept der Interpretation durch Negation als sogenannte „Probiersteine der Wahrheit der Interpretationen“.

312 Zu dieser Konzeption von „Werten“ (oder, wie wir vorschlagen werden: „Prinzipien“) ausführlich unten sub. § 10 (insbesondere I.). 313 Ausführlicher dazu unten sub. § 8 V. 3.; § 10 VI., VII. und § 11. 314 Dazu oben sub. § 6 II. 2. 315 Zur Idee der Konkretisierung Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 15 f.; ferner Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 307 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 359 ff.; Honeyball/Walter, Integrity, S. 142 ff.

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Inhalt und Tragweite dieser abstrakten Differenzierung sollen im folgenden anhand eines einfachen Beispiels veranschaulicht werden, das sich zur Abhandlung einiger wesentlicher praktischer Unterschiede zwischen der Interpretation durch Negation sowie der Interpretation durch Konkretisierung eignet. Als Modell bietet sich dazu die bekannte Musternorm an: „Fahrzeuge sind innerhalb des Parks verboten.“316

Nach positivistischer – und hier auch geteilter – Standardauffassung stellen normative Einzelaussagen spezifische Bedingungen dar, die von denjenigen Sachverhaltskonstellationen erfüllt werden müssen, die durch Tatbestandsverwirklichung die jeweiligen Rechtsfolgen auslösen können.317 Die genaue Aufklärung dieser rechtsfolgenauslösenden „Bedingungen des Tatbestands“ ist immer Gegenstand der Interpretation. Es gibt also keine sich irgendwie „selbsterklärenden“ Normen.318 Um normative Einzelaussagen im Einzelfall interpretieren zu können, sind nach verbreiteter – hier jedoch abgelehnter – Auffassung „Konkretisierungen“ der jeweils innerhalb der Aussage verwendeten Begriffe erforderlich. Interpretation durch Konkretisierung bemüht sich mit anderen Worten für die vorliegende Musternorm um definitorische Präzisierungen der drei Ausdrücke „Fahrzeug“, „Park“ sowie „innerhalb“. Diese – oft auch als hermeneutisch bezeichneten – Konkretisierungen bestehen darin, daß in einem ersten Schritt sogenannte „klare Fälle“319 beziehungsweise „Paradigmen“320 angeführt werden, die gewissermaßen „ganz sicher“ unter den jeweiligen Begriff subsumierbar sind. Anschließend sollen die so benannten (subsumierbaren) „klaren Fälle“ im Konkretisierungsmodell dann die Einordnung der praktisch „schwierigeren Fälle“ anhand des Merkmals der hinreichenden Ähnlichkeit erleichtern (diejenigen, die sich technischer ausdrükken möchten, sprechen in Anlehnung an Wittgenstein bisweilen von „Familienähnlichkeit“321). Im Fall unserer Musternorm werden als – in diesem Sinne – „klare“ Konkretisierungen namentlich „PKW“, „Bus“ und „Motorrad“ angeführt.322 Als demgegenüber eindeutig zweifelhaft betrachtet man die Zugehörigkeit von „Flug316 Vgl. das Beispiel bei Hart, Concept of Law, S. 128 – „A rule that no vehicle may be taken into the park“. 317 Hart, Concept of Law, S. 129. 318 Dagegen Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 3; dazu schon oben sub. § 6 II. 2. 319 Hart, Concept of Law, S. 129 – „clear cases“. 320 Hart, Concept of Law, S. 129 – „paradigm“; Endicott, Vagueness in law, S. 155 ff. 321 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I, Bem. 67; Endicott, Vagueness in law, S. 47 f. 322 Hart, Concept of Law, S. 129.

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zeug“, „Fahrrad“ und „Rollschuhen“ zur Extension323 des Begriffs „Fahrzeug“.324 Interpretation als Konkretisierung gleicht auf diese Weise der Suche nach den gewissermaßen paradigmatischsten Beispielen für Gegenstände aus der Extension eines Rechtsbegriffs.325 Für den Rechtsanwender hat das zur Konsequenz, daß die Anwendbarkeit einer Norm in jedem Einzelfall davon abhängt, ob der jeweilige Einzelsachverhalt einem durch Konkretisierung gefundenen paradigmatischen „Musterfall“326 der Norm in allen „wesentlichen“ Eigenschaften hinreichend ähnlich ist.327 Die bekannteste Schwäche der Interpretation durch Konkretisierung hängt nun damit zusammen, daß die in jedem Einzelfall unvermeidlichen Ähnlichkeitsüberlegungen „komplex und mehrdeutig“ sind.328 Üblicher-, vor allem jedoch: interessanterweise wird diese gravierende konzeptionelle Schwäche der Interpretation durch Konkretisierung der „Ungenauigkeit menschlicher Sprache“329 zugeordnet und damit gewissermaßen als „natürliche Tatsache“ eingestuft, die zwar bedauert werden kann, die aber nicht abänderbar ist. Kurz: Ungenauigkeiten im Randbereich eines Begriffes erweisen sich aus der Perspektive der Interpretation durch Konkretisierung als nicht abwälzbarer Preis der Verwendung natürlicher Sprachen sowie deren allgemeiner Ausdrücke innerhalb von Gesetzestexten. Diese „open texture“-These330 der „natürlichen Ungenauigkeit der Sprache im Randbereich“ ist die eigentliche Pointe aller Konkretisierungsmodelle. Da323 Nach Rudolf Carnap wird die Gesamtmenge der unter einen Begriff fallenden Gegenstände als dessen Extension bezeichnet. Carnap unterscheidet seinen Begriff der Extension von der sog. Intension von Begriffen, damit bezeichnet er den Inhalt bzw. die durch den Begriff bezeichneten Eigenschaften (hierzu ausführlicher Carnap, Bedeutung und Notwendigkeit, S. 1 ff. [29 ff.]). 324 Hart, Concept of Law, S. 126. 325 Hart, Concept of Law, S. 126 – „if anything is a vehicle a motor-car is one“. 326 Hart, Concept of Law, S. 127 – „plain case“. 327 Hart, Concept of Law, S. 127. 328 Hart, Concept of Law, S. 127 – „The criteria of relevance and closeness of resemblance depend on many complex factors running through the legal system and on the aims and purpose which may be attributed to the rule. To characterize these would be to characterize whatever is specific or peculiar in legal reasoning.“ 329 Hart, Concept of Law, S. 128 – „general feature of human language“. In diesem Kontext wurde die Theorie entwickelt, Ungenauigkeiten sprachlicher Ausdrücke könnten auf die jeweiligen Sprachregeln zurückgeführt werden. Diese Idee nährte die (vergebliche) Hoffnung, wonach künstliche Sprachsysteme die Schwierigkeiten mit den Ungenauigkeiten sprachlicher Ausdrücke prinzipiell beheben könnten (zu physikalistischen Sprachen, der „Sprache der Einheitswissenschaft“ sowie zu weiteren Vorschlägen künstlicher Wissenschaftssprachen siehe vor allem Carnap, Der logische Aufbau der Welt, S. 147 ff. und – später – Carnap, Testability and Meaning, S. 427 ff.). 330 Hart, Concept of Law, S. 128; dazu Endicott, Vagueness in Law, S. 37 ff.; siehe zur Grundidee Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I, Bem. 84, 80.

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durch wird eine Eigenschaft der Interpretation (ungenau zu sein) mit einer Eigenschaft des Gegenstands der Interpretation (natürliche Ungenauigkeit des Wortes Fahrzeug) in Verbindung gebracht. Weshalb das Wort „Fahrzeug“ auf „natürliche Weise ungenau“ sein soll, entbehrt jedoch jeder Erklärung. Oder, um genauer zu sein: Ob ein Wort „ungenau“ oder statt dessen „genau“ ist, hängt immer von seiner jeweiligen Interpretation ab. Das „natürliche“ Prädikat der Sprache („Ungenauigkeit“) wird demnach erst durch den Vorgang der Interpretation festgelegt. Damit liegt also der „natürliche Grund“ für die Unvermeidlichkeit der Ungenauigkeit der Interpretation durch Konkretisierung in ihr selbst begründet.331 Eine Entscheidung der alten fruchtlosen Diskussion darüber, ob dieser hermeneutische Zirkel zu einem klassischen vitiosum herabgezogen wird (oder herabgezogen werden darf),332 oder ob er doch wenigstens sogenannte transzendentalpragmatische Einsichten333 vermittelt, kann dahinstehen.334 Denn bei Lichte betrachtet, muß am Konkretisierungskonzept mehr kritisiert werden als bloß die Plausibilität seiner angeblich „notwendigen Ungenauigkeit“. So weist bereits die erste Stufe der Interpretation durch Konkretisierung Elemente subjektiver Willkür auf (Dogmatismus). Um es am Beispiel zu verdeutlichen: Zwar ist im Ergebnis nicht ausgeschlossen, daß mit „Fahrzeug“ zwingend „PKW“ gemeint ist. Methodologisch wird dieser Schluß jedoch nicht nachprüfbar erklärt, sondern festgesetzt.335 Vor allem dürfen wir jedoch nicht übersehen, daß die behauptete (und von manchen wohl wirklich empfundene) Rationalität der auf der zweiten Stufe immer erforderlichen Argumentation mit („Familien“)-Ähnlichkeit unprüfbar ist: Es gibt keine nachprüfbaren Ähnlichkeitsschlüsse.336 Nur am Rande erwähnt sei hier, daß die Idee der Interpretation

331

Vgl. zur Doktrin der natürlichen Interpretation oben sub. § 6 II. 2. Siehe hierzu jedoch Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 251 – „Dieser Zirkel hat einen ontologisch positiven Sinn. Die Beschreibung als solche wird jedem Ausleger einleuchten, der weiß, was er tut.“ 333 Zur (Selbst-)Charakterisierung der hermeneutischen Methode vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 258 – „Im Gegenentwurf gegen den Perfektionsglauben der Aufklärung, der auf die Vollendung der Befreiung von ,Aberglauben‘ und den Vorurteilen der Vergangenheit denkt, gewinnt nun die Frühe der Zeiten, die mythische Welt, das vom Bewußtsein nicht zersetzte, ungebrochene Leben in einer ,naturwüchsigen Gesellschaft‘, die Welt des christlichen Rittertums romantischen Zauber, ja Vorrang an Wahrheit.“ 334 Gegen „Transzendentalpragmatismus“ etwa Albert, Wissenschaft, S. 58 ff. 335 Der Einwand lautet also nicht, daß statt „PKW“ irgend etwas anderes als offensichtlich richtig vorgeschlagen werden sollte. Vielmehr ist keine Konkretisierung des Begriffs „Fahrzeug“ offensichtlich. Ausführlich zum damit angesprochenen methodologischen Problem jeder Argumentation mit Evidenz sogleich unten sub. § 6 III. 3. 336 Dazu unten sub. § 7 III. 4. (Unmöglichkeit einer Argumentation mit Ähnlichkeit). Ein anschauliches Beispiel dafür wird unten in Fn. 534 behandelt. 332

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durch Konkretisierung das Problem der Veränderung im naturwissenschaftlichen Hintergrundwissen ebenfalls nicht bewältigen kann.337 Alle diese Eigenschaften (wie auch die sehr begrenzte Leistungsfähigkeit) der Interpretation durch Konkretisierung sind weitgehend bekannt. Die Frage, ob die Probleme der Interpretation durch Konkretisierung jemals lösbar sein werden, wollen wir hier dahinstehen lassen. Denn Interpretation durch Negation bietet sich als belastbare Alternative zur hermeneutischen Konkretisierungsidee an. Interpretation durch Negation eignet sich als leistungsfähiges Instrument zur Rekonstruktion normativer Ordnungen, ohne dabei auf die – von der Konkretisierungstheorie ausdrücklich als unvermeidlich behauptete – „natürliche Ungenauigkeit der menschlichen Sprache“ verweisen zu müssen. Infolgedessen ist Interpretation durch Negation gegenüber der Konkretisierungsidee vorzugswürdig, sofern das Ziel wissenschaftlicher Interpretationen in der Erzielung möglichst hoher Genauigkeit sowie in der intersubjektiven Nachprüfbarkeit der einzelnen Erklärungen gesehen wird.338 Interpretation durch Negation konzipiert die Kriterien für die Anwendbarkeit normativer Einzelaussagen negativ. Sie formuliert dazu allgemeine Merkmale, anhand derer diejenige Klasse normativer Einzelaussagen erkannt werden kann, die keine zutreffenden Darstellungen der jeweiligen „normativen Ordnung an sich“ liefern. Anders ausgedrückt: Die methodologisch entscheidende Interpretationsfrage im Hinblick auf normative Einzelaussagen ist immer darauf gerichtet, woran – allgemein – solche Aussagen erkannt werden können, die nicht Bestandteil einer zutreffenden Darstellung der jeweiligen „normativen Ordnung an sich“ sind. Falls also eine fragliche Aussage als eine normative Einzelaussage identifizierbar ist, die nicht Bestandteil einer zutreffenden Darstellung ist, gilt ihre Rechtsfolge nicht. Erkenntnistheoretisch ist dabei der folgende Zusammenhang entscheidend. Durch die Formulierung zusätzlicher Negationen kann der Bereich der ausgeschlossenen normativen Einzelaussagen (die Klasse unzutreffender Darstellungen der „normativen Ordnung an sich“) prinzipiell immer weiter vergrößert werden, ohne daß sich dabei irgendwelche Beschränkungen aus der oft beschworenen „Natur der menschlichen Sprache“ oder dem Interpretationsverfahren selbst ergeben. Durch Neu-Kennzeichnungen immer weiterer normativer Einzelaussagen als „nicht zur Rechtsordnung gehörig“ wird der Restbereich der verbliebenen Un337

Dazu oben sub. § 6 I. (Wissenschaftsakzessorietät). Wie dieses Ziel plausibel bestritten werden könnte, ist nicht ersichtlich. Denn falls inhaltliche Präzisierung nicht das Ziel wäre, könnte die Interpretation gänzlich entfallen. 338

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klarheiten immer kleiner. Das sich daraus ergebende methodologische Phänomen kann auch so formuliert werden: Zwar ist zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur eine endliche Anzahl von Interpretationen durch Negation bekannt. Das heißt, es gibt immer Paare339 normativer Einzelaussagen, für die (noch) nicht klar ist, welche der beiden möglichen Alternativen die unzutreffende Darstellung der „normativen Ordnung an sich“ liefert. Aber jederzeit können neue Interpretationen als Negation entdeckt und formuliert werden, die infolgedessen bestimmte, bis dahin bestehende Unklarheiten beseitigen. Richtig ist, daß auch die Konkretisierungsstrategie prinzipiell beliebig lange wiederholt werden kann. Jeder Begriff ist also, wenn man will, in immer weitere Einzelfacetten hinein „konkretisierbar“ und damit einhergehend scheint die erzielte begriffliche Genauigkeit immer weiter zuzunehmen.340 Diese Idee eines „Iterationsverfahrens der Konkretisierung“ ist es, die herkömmlich im Rahmen der hermeneutischen Vorstellung zur Aufstellung immer „präziserer Definitionen“ verleitet. Der methodologisch entscheidende Unterschied zwischen beiden „Präzisierungsstrategien“ liegt darin, daß nur das Verfahren der Interpretation durch Negation intersubjektiv prüfbar – also objektiv – ist. Demgegenüber beschränkt sich die Präzisierungsstrategie der Konkretisierung selbst auf die Postulierung nichtprüfbarer „Behauptungen über Wörter“, für deren objektive Erklärung keinerlei methodologische Anhaltspunkte vorhanden sind (eine sich daraus ergebende Konsequenz ist das starke, zum Rechtsanwendungselitismus führende Bedürfnis nach verbindlicher Letztentscheidung341).342 Mit diesem methodologischen Unterschied geht außerdem die folgende Informationsasymmetrie einher: Je höher der Informationsgehalt einer Interpretation durch Negation ausfällt, desto nachprüfbarer (und wiederum damit einhergehend: desto intersubjektiv nachvollziehbarer) wird die jeweilige Interpretation. Für die Interpretation durch Konkretisierung ergibt sich das umgekehrte Bild, denn je „exakter“ Begriffe definiert werden, desto weniger nachvollziehbar wird die Festsetzung gerade dieser Definitionsmerkmale (welche anderen möglichen Merkmalen vorgezogen werden). Besonders leicht nachvollziehbar ist Interpre-

339 Diese Paare setzen sich immer aus einer normativen Einzelaussage und dem dazugehörigen Negat zusammen. 340 Vom hier zugrundeliegenden Standpunkt ist jede weitere Konkretisierung so wenig Erkenntnis fördernd, wie die erste. Die vielfache Wiederholung wirkungsloser Strategien, mehrt eben nicht die Gesamtwirkung. 341 Die Konkretisierungsidee ist daher eine der Hauptquellen monistischer Interpretationstheorien, dazu oben sub. § 1 I. 342 Typischerweise soll daher auch die „aufklärerische Forderung“ nach objektiver Nachprüfbarkeit in der neueren Hermeneutik gerade überwunden werden; siehe hierzu etwa Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 258.

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tation durch Konkretisierung mit anderen Worten immer dann, wenn ihr Informationsgehalt niedrig ist.343 Das heißt, intersubjektive Nachvollziehbarkeit – die freilich nur bei Interpretation durch Negation mit intersubjektiver Nachprüfbarkeit gleichgesetzt werden kann und die im Zusammenhang mit hermeneutischer Konkretisierung über Plausibilität nicht hinauskommt – folgt bei Interpretation durch Negation stets aus informationsreichen Interpretationen, bei konkretisierenden Interpretationen jedoch immer aus informationsarmen Interpretationen. Die intersubjektive Nachprüfbarkeit der Interpretation durch Negation ist eine wichtige Konsequenz aus ihrer logischen344 Eigenschaft, mit ansteigendem Gehalt stets größere Mengen normativer Einzelaussagen als unvereinbar mit zutreffenden Darstellungen der jeweiligen „normativen Ordnung an sich“ kennzeichnen zu können. Gehaltvollere Interpretationen durch Negation greifen also mit anderen Worten immer weiter über den Darstellungsbereich einzelner normativer Einzelaussagen hinaus und enthalten somit zunehmend allgemeine Aussagen über immer größere Teilbereiche der jeweiligen „normativen Ordnung an sich“. Infolge der höheren Allgemeinheitsstufen der relativ gehaltvolleren Interpretationen kann die Wahrheit solcher Interpretationen anhand immer größerer Gruppen anderer normativer Einzelaussagen überprüft werden.345 Gehaltvolle Interpretationen setzen Theorien voraus. Man kann daher kein Beispiel für gehaltvolle Interpretationen theoriefrei darstellen. Eine mögliche gehaltvolle Interpretation – unsere Vermutung der Theorie der Rechtsgüterrelationen – beruht auf der Formulierung von Rechtsgütern und Präferenzrelationen. Um die etwas abstrakte Idee der Interpretation durch Negation näher zu veranschaulichen, wird im folgenden das allgemeine Deutungsschema der Theorie der Rechtsgüterrelationen in groben Umrissen skizziert, freilich ohne dabei ihre technischen Einzelheiten bereits hier vorwegzunehmen zu können (entfallen müssen insbesondere alle Abschnitte zur damit sehr eng verbundenen Prognosetheorie346). Gehaltvolle Interpretationen vermuten danach die Existenz genau spezifizierter Rechtsgüter. Nachprüfbare Konsequenzen eines vermuteten Rechtsguts sind Vermeidungen „schädlicher“ Entscheidungen gegen die jeweiligen Rechtsgüter.347 Je größer die Teile einer „normativen Ordnung an sich“ sind, die zu den 343 Beispiel: „Das Gute“ wird definiert als „das Gerechte“. Diese Definition ist gerade deshalb besonders nachvollziehbar (wohl fast jeder würde ihr zustimmen können), weil damit (nahezu) kein Informationsgehalt verbunden ist. 344 Dazu unten sub. § 8 III. 2 a) und IV. 1. 345 Zur Falsifikation von Interpretationen unten sub. § 10 VII. 346 Dazu unten sub. § 8 und § 9 sowie die Kritik in § 7. 347 Die gewissermaßen spiegelbildliche Konsequenz ist die Förderung „günstiger“ Entscheidungen für das Rechtsgut. Die mit den Begriffen „Schädigung“ und „Gün-

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vermuteten Rechtsgütern passen oder nicht passen können, desto besser prüfbar ist die jeweilige Interpretation. Die Wahrheitsprüfungen sind einseitig entscheidbar: Interpretationen können nicht verifiziert werden, sie sind aber falsifizierbar. Denn falls normative Einzelaussagen (also Darstellungen der „normativen Ordnung an sich“) bekannt sind, die rechtsgutschädliche Entscheidungen darstellen, widerlegt das prinzipiell348 die Wahrheit der jeweils vermuteten Rechtsgüterkombination. Eine methodologisch wichtige Funktion der – deskriptiven – normativen Einzelaussagen liegt demnach in der möglichen Falsifikation unzutreffender Rechtsgüterdeutungsschemata (Interpretationen durch Negation). Falls eine bestimmte normative Einzelaussage eine Entscheidung darstellt, die für kein einziges vermutetes Rechtsgut „förderlich“ ist und darüber hinaus mindestens ein vermutetes Rechtsgut sogar „schädigt“, kann daraus abgeleitet werden, daß das vermutete Deutungsschema nicht zutreffend sein kann. Daneben können auch „neue“ normative Einzelaussagen – nachprüfbar349 – aus dem Rechtsgüterdeutungsschema abgeleitet werden und müssen nicht – unprüfbar – als „konkretisierende Präzisierung“ textlich positivierter Einzelaussagen deklariert werden. Alle deskriptiven normativen Einzelaussagen können durch Rechtsgüterschemata und Prognosezusammenhänge rekonstruiert werden. Dabei werden einerseits die textlich positivierten Einzelaussagen als Bereichsdarstellungen der „normativen Ordnung an sich“ erklärt (die gleichzeitig auch als potentielle Falsifikatoren wirken). Andererseits beseitigen neue normative Einzelaussagen, die wir als neue Darstellungen derselben „normativen Ordnung an sich“ auffassen können, schrittweise – anhand der identischen Erklärungsstruktur – die noch vorhandenen „sprachlichen Unklarheiten“. Sofern also ein bestimmtes Rechtsgüterschema (als gehaltvolle Interpretation) alle bereits bekannten normativen Einzelaussagen zufriedenstellend erklärt, ist es unter bestimmten Voraussetzungen auch eine methodologisch akzeptable Erklärung für neue normative Einzelaussagen. Die vorstehenden Ausführungen mögen ansatzweise illustrieren, inwiefern Interpretation durch Negation darauf gerichtet ist, möglichst große Abschnitte „normativer Ordnungen an sich“ zu erklären. Aufgrund ihrer – an möglichst hoher Nachprüfbarkeit orientierten – Zielrichtung werden immer größere Gruppen bekannter deskriptiver Einzelaussagen zu Probiersteinen der Wahrheit der Erklärung. Gleichzeitig wird dadurch das anhand von Interpretation durch Nestigkeit“ verbundene Prognoseproblematik wird in ihren theoretischen Aspekten ausführlich entfaltet sub. § 8 I. 1. (und ff.). 348 Dazu unten sub. § 10 VI. (Falsifikation von Interpretationen). 349 Zu den technischen Einzelheiten ausführlich unten sub. §§ 8, 9 und 10.

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gation gewobene Netz immer dichter, „sprachliche Ungenauigkeiten“ werden also behoben. Die hermeneutische Idee von unhintergehbaren „natürlichen Ungenauigkeiten aufgrund menschlicher Sprache“ entfällt mit anderen Worten – methodologisch bedingt – im Zusammenhang mit Interpretation als Negation ersatzlos: Jede (noch) verbliebene Ungenauigkeit kann darauf zurückgeführt werden, daß die (bislang) gefundenen Interpretationen entweder (noch) nicht hinreichend gehaltvoll sind oder bloße konkretisierende „Behauptungen über Wörter“ darstellen.350 Der nachprüfbare Gehalt der Interpretationen kann jedoch immer weiter zunehmen, so daß niemals endgültig feststellbar sein kann, daß „normative Ordnungen an sich“ gewissermaßen „aus sich heraus“ ungenau sind (Unmöglichkeit der Verifikation der natürlichen Ungenauigkeit). Die methodologisch kennzeichnende Entwicklungsrichtung jeder fortschreitenden Interpretation durch Negation – das heißt: die Idee zunehmend gehaltvoller Interpretationen – widerspricht in einem wichtigen Punkt dem klassischen „rechtspositivistischen“ Interpretationsverständnis, das wesentlich darauf beruht, die Identität zwischen der Menge aller normativen Einzelaussagen und der „normativen Ordnung an sich“ zu behaupten.351 Besonders deutlich trat diese Vorstellung etwa bei Hans Kelsen hervor, als er darlegte, „[. . .] eine Norm [könne] auch einen sinnlosen Inhalt haben. Dann [sei] keine Interpretation imstande, ihr einen Sinn abzugewinnen. Denn durch Interpretation [könne] aus einer Norm nicht herausgeholt werden, was nicht schon vorher in ihr enthalten war.“352

Kelsens Idee des „Herauslesens vorgegebener Inhalte“ kombinierte auf sehr klare Weise eine eindeutig passivistische353 Rechtsepistemolgie mit einer deduktivistischen Konzeption, indem er annahm, die Interpretation einer Norm aus der Norm selbst ableiten („herausholen“) zu können. Folgerichtig bestand Kelsen darauf, daß der Informationsgehalt durch Interpretationen nicht zuneh350 Daraus ergibt sich unmittelbar, weshalb die Behauptung „PKW dürfen nicht in den Park“ keine gehaltvolle Interpretation sein kann. Denn diese Aussage kann an keiner einzigen sonstigen normativen Einzelaussage geprüft werden. Aussagen dieser Art sind nicht-prüfbar und deshalb keine wissenschaftlichen Erklärungen. Es handelt sich also nicht um Erklärungen, sondern um erklärungsbedürftige Aussagen. 351 Es handelt sich hierbei gewissermaßen um einen Transfer des Wittgensteinschen Postulats „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ hin zu einer (positivistischen) Rechtsepistemologie: „Die Rechtsordnung ist alles was der Fall sein soll.“ Aber ebenso, wie die Welt nicht aus Tatsachen besteht (entgegen Wittgenstein), kann keine normative Ordnung in normative Einzelaussagen atomisiert werden (entgegen Kelsen). Die Welt ist eben nicht mit den Tatsachen identisch. Und wenig hilfreich ist die (allerdings weithin geteilte) Behauptung, wonach eine „normative Ordnung an sich“ mit den sie darstellenden normativen Einzelaussagen identisch sei. 352 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 104. 353 Dazu oben sub. § 6 II. 2.

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men könne (eine Konsequenz, die zugleich seine kuriose Vorstellung „sinnloser Normen“ erklärt). Demgegenüber leitet unser Konzept der Interpretation durch Negation normative Einzelaussagen immer aus Interpretationen ab. Das geschieht mittels echter Deduktion und nicht anhand eines untechnischen „Herausholens aus Normen“. Unsere Auffassung unterscheidet sich mit anderen Worten besonders darin von der positivistischen Position Kelsens, daß wir nichts aus den normativen Einzelaussagen „heraus konkretisieren“, die wir statt dessen als Darstellungen der Rechtsordnung verstehen. Die Idee der Ableitung aus Interpretationen hat nun ihrerseits zur Folge, daß der Informationsgehalt jeder Interpretation notwendigerweise höher ist als der Informationsgehalt der durch sie jeweils rekonstruierten normativen Einzelaussagen.354 Wir können unsere Opposition zu Kelsens positivistischem Standpunkt somit noch weiter zuspitzen: In nahezu vollständiger Umkehrung seiner passivistischen Sichtweise kann eine normative Einzelaussage also nichts enthalten, was nicht bereits zuvor durch Interpretation gewissermaßen „in sie hineingelesen“ wurde. Wir würden in Anlehnung an Kelsens Ausdrucksweise und in Umkehrung seiner passivistischen Grundhaltung also formulieren: „In normativen Einzelaussagen ist ohne Interpretation nichts enthalten.“

Dieses methodologisch alles andere als triviale Verhältnis zwischen Interpretation einerseits und normativen Einzelaussagen andererseits können wir – in leichter Abwandlung einer berühmten Metapher Karl Poppers – auch so beschreiben: „Alle normativen Einzelaussagen sind interpretationsgetränkt.“355

Interpretation durch Negation ist zusammengefaßt dadurch gekennzeichnet, daß die Informationen über „normative Ordnungen an sich“ den Interpretationen zugeordnet werden. Statt von einer Ausdünnung des Informationsgehalts durch Interpretation muß daher von einem möglichst großen Informationszuwachs auf dem Weg von einer normativen Einzelaussage (dem Erklärten) hin zur Interpretation (der Erklärung) ausgegangen werden. Denn eine Erklärung, die kaum informativer als das durch sie Erklärte ausfällt, ist keine gute Erklärung, sondern eine ad hoc-Behauptung.356 Und je klei-

354 Ausführlicher zu technischen Einzelheiten der Deduktion und dem informativen Gehalt von Theorien unten sub. § 8 III., IV. 355 Das entspricht dem Fehlen „nicht-interpretativer“ Gehalte von Rechtsordnungen, dazu oben sub. § 6 II. 2; zum strukturidentischen Problem der „Theoriegetränktheit“ natürlicher Tatsachen unten sub. § 8 I. 2. 356 Siehe dazu vor allem unten sub. § 8 IV. und V.

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ner das Informationsgefälle zwischen Erklärung und Erklärtem ausfällt, desto weniger unabhängig nachprüfbar ist die jeweilige Interpretation. Kurz: Interpretationen holen niemals „das“ aus normativen Einzelaussagen heraus, „was [. . .] schon vorher in [. . . ihnen] enthalten war.“357 Den bekannten normativen Einzelaussagen (etwa den textlich positivierten Aussagen von Kodifikationen oder Präjudizien) kommt vielmehr die Funktion zu, falsche Interpretationen zu falsifizieren. Sie haben umgekehrt weder die Aufgabe, wahre Interpretationen zu liefern, noch sind sie identisch mit den Interpretationen. 3. Subjektivismus und Interpretation als Negation Interpretation durch Negation – und damit das allgemeine Erkenntnisinteresse an möglichst gehaltvollen Aussagen über einzelne normative Ordnungen – ist mit der „intuitionistischen“ Prämisse358 des Subjektivismus vereinbar, die ausschließt, daß die Wahrheit einer Interpretation logisch begründbar wäre. Interpretation durch Negation teilt also die zutreffende These des fehlenden Wahrheitskriteriums.359 Indem die Konstruktion gehaltvollerer Interpretationen für Rechtsordnungen immer mit einer Zunahme der Informationsmenge verbunden ist, können Interpretationen aus logischen Gründen niemals aus vorgefundenen Normen abgeleitet werden (Unmöglichkeit gehaltserweiternder Schlüsse). Statt dessen sind Interpretationen schöpferische Leistungen.360 Die schöpferischen Komponenten jeder Interpretation betreffen allerdings ausschließlich die jeweiligen Entdekkungs- beziehungsweise Findungszusammenhänge. Wichtig ist deshalb die Methodologie der Rechtfertigungs- bzw. Erklärungszusammenhänge. So kann es methodologisch im Hinblick auf diese Rechtfertigungs- und Erklärungszusammenhänge sowohl nachprüfbare (objektive) als auch nichtprüfbare Interpretationen geben. Die Klasse der nachprüfbaren Interpretationen zer-

Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 104. Dazu oben sub. § 6 II. 5. 359 Ebensowenig verfügen die sog. „exakten“ Naturwissenschaften über Wahrheitskriterien, obwohl gerade dies von Nicht-Naturwissenschaftlern häufig angenommen wird; vgl. aber die zutreffende Darstellung bei Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 45. Dazu im einzelnen unten sub. § 7 III. 2., 3. und § 8 III. 2. 360 Die Vorstellung von „sich selbst interpretierenden Normen“ erweist sich bei Lichte betrachtet als reiner Aberglaube; gleichwohl Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 4 – „Die das Recht begreifende Erkenntnis findet zumeist schon eine Selbstdeutung des Materials vor, die der von der Rechtswissenschaft zu leistenden Deutung vorgreift.“ Diese „Selbstdeutung“ grenzt Kelsen scharf von den Naturwissenschaften ab, a. a. O., S. 3 – „Eine Pflanze kann dem sie wissenschaftlich bestimmenden Forscher nichts über sich selbst mitteilen. Sie macht keinen Versuch, sich selbst naturwissenschaftlich zu erklären.“ 357 358

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fällt ihrerseits in solche Interpretationen, die besser prüfbar sind, und solche, die schlechter prüfbar sind. Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Objektivität müssen Interpretationen stets nachprüfbar sein.361 Und als „bessere“ Interpretationen sind vor demselben wissenschaftlichen Hintergrund die gehaltvolleren Interpretationen anzusehen, weil sie präzisere inhaltliche Aussagen erlauben als die weniger gehaltvollen Interpretationsvarianten.362 Das Ideal methodologischer Rationalität kann daher trotz des Fehlens von Wahrheitskriterien (also von Kriterien für wahre Interpretationen) in der Rechtswissenschaft aufrechterhalten werden.363 Die methodologische Rationalität beruht auf der Verbesserung vorhandener Interpretationen sowie der Bevorzugung besserer Interpretationen gegenüber schlechteren Interpretationen („komparative Theoriebewertung“364). Methodologische Rationalität geht nicht aus dem Beweis der Wahrheit einer Interpretation hervor („Verifikationismus“). Die intuitionistische Position, die subjektivistische Wertungen und dezisionistische Elemente methodologisch – das heißt: nicht nur in den Findungs- sondern auch in den Erklärungszusammenhängen – als unentbehrlich betrachtet, ist vom Standpunkt der Interpretation als Negation eine irrationale Übertreibung. Denn es trifft ganz einfach nicht zu, daß ein Fehlen von Wahrheitskriterien subjektivistische Wertungen impliziert.365 Interessanterweise ist der methodologische Ansatz der nachprüfbaren Interpretation als Negation aus der umgekehrten Perspektive des wertenden Subjektivismus keineswegs irrational, sondern – wenigstens – hilfreich, oder, wie man sagen könnte: „abwärtskompatibel“. Irrationalismus kann der Interpretation als Negation deswegen nicht zugeschrieben werden, weil gehaltvolle objektive Konzepte auch von denjenigen nachprüfbar sind, die nicht an die Existenz prüfbarer Interpretationen glauben („Erkenntnispessimismus“) oder die annehmen, durch subjektive Wertungen von allen vorgeschlagenen Regelmäßigkeiten abweichen zu dürfen („Relativismus“).

361 In diesem Desiderat unterscheidet sich Interpretation als Negation von allen Konzepten der Regeldurchbrechung, etwa Esser, Grundsatz und Norm, S. 7. 362 Ausführlich zu den Kategorien der „Allgemeinheit“ und des „Theoriegehalts“ unten sub. § 8 III. 2. und IV. 3. 363 Diese Situation der Rechtswissenschaft unterscheidet sich in keiner Weise von derjenigen, in der sich die Naturwissenschaften befinden. Zutreffender methodischer Ansatz daher bei Sartorius, Individual Conduct, S. 184 f. – „[. . .] truth cannot be equated with provability.“ 364 Dazu unten sub. § 8 V. (allgemein) und § 10 VI., VII. (Theorie der Rechtsgüterrelationen). 365 Zur Wertungsfreiheit des komparativen Theorievergleichs unten sub. § 8 V. 1.

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Theorieprüfungen sind immer möglich, weil auch überzeugte Intuitionisten, die ihre Ergebnisse ganz (oder „ein Stück weit“) mit subjektiven Wertungen begründen wollen, ihre gewerteten Begründungen natürlich immer ebenso gut nach Prüfung und in Kenntnis gehaltvoller Interpretationen festsetzen können. Wer seine Ergebnisse ohnehin subjektivistisch festsetzt, verletzt seine – fehlenden – methodologischen Standards also nicht durch die Nachprüfung – vorhandener – Theoriestandards objektiver Interpretationen. Beim Vergleich der Interpretation als Negation mit den subjektivistischen Positionen bedingt das methodologische Desiderat der Nachprüfbarkeit nicht notwendigerweise Veränderungen der – jeweils unterschiedlich rekonstruierten – Ergebnisse (normative Einzelaussagen). Ganz im Gegenteil: Die (Einzelfall-) Ergebnisse von vormals intuitiv angewendeten – also nicht nachprüfbaren – Interpretationen können durchaus auch objektiv erklärbar sein. Ergebnisse sind immer dann objektiv erklärbar, wenn sie wahr sind.366 Nebenbei und ganz allgemein wissenschaftshistorisch betrachtet ist der Übergang von „intuitiven“ oder auch „historisch tradierten“ Interpretationen hin zu nachprüfbaren Interpretationen der Weg jeder Wissenschaft.367 Auch wenn Interpretation als Negation und subjektivistisch wertender Intuitionismus methodologisch „aus sich heraus“ gleichberechtigt nebeneinander stehen mögen, sind Entscheidungen gegen Interpretation als Negation und für einen wertenden Intuitionismus natürlich mit bestimmten Konsequenzen verbunden. Diese Konsequenzen müssen als erhebliche Nachteile verstanden werden, sofern objektive Erklärungen gewünscht sind (oder anders ausgedrückt: sofern die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz geteilt wird). Bei einem möglichen methodologischen Verzicht auf gehaltvolle nachprüfbare Interpretationen sind alle dann verbleibenden Erklärungen (ganz oder „ein Stück weit“) auf Evidenzerlebnisse der Zuhörer angewiesen.368

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Unten sub. § 9 II. Zur Entwicklung der empirischen Wissenschaften bemerkt Popper, Erkenntnistheorie, S. 3 – „Die empirischen Wissenschaften sind, wie ihre Geschichte zeigt, fast durchweg aus dem Schoß der Metaphysik hervorgegangen: Ihre letzte vorwissenschaftliche Form war eine spekulativ-philosophische. Selbst die am höchsten entwickelte unter ihnen, die Physik, ist von den letzten Schlacken ihrer metaphysischen Vergangenheit vielleicht auch heute noch nicht restlos befreit. [. . .] Die weniger hoch entwickelten Wissenschaften (zum Beispiel Biologie, Psychologie, Soziologie) waren schon immer von metaphysischen Elementen ungleich stärker durchsetzt als die Physik und sind es auch jetzt. Ja, selbst die Ansicht, daß die Metaphysik als ,unwissenschaftlich‘ ausgeschaltet werden muß, wird von manchen Vertretern jener Wissenschaften ausdrücklich bestritten.“ 368 Siehe Esser, Grundsatz und Norm, S. 61 – „[D]ie juristische Methode müßte steril bleiben ohne die Einverleibung jener auf Evidenzen logischer oder sozialer Kraft reduzierten sittlichen Wahrheiten.“; dazu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 136. 367

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Ein naheliegendes Problem jeder Argumentation mit Evidenz erwächst dabei mit den Worten Robert Alexys aus der schlichten „Tatsache, daß verschiedene Menschen auch unter Bedingungen, die für Evidenzerlebnisse optimal sind (z. B. Emotionslosigkeit und geistige Klarheit), verschiedene Bewertungen als evident erleben, [und der Intuitionismus deshalb] kein definitives Kriterium für richtige und falsche, echte und unechte Evidenzen liefern kann“.369 Dieser Schwäche echter Evidenzen entsprechend ist die uns bis heute bekannte Menschheitsgeschichte mit widerlegten Einsichten gepflastert, die alle einst als selbstevident galten; exemplarisch sei nur an Francis Bacon erinnert, der noch diejenigen verhöhnte, die die selbstevidente Wahrheit leugneten, daß sich die Sonne und die Sterne um die klarerweise ruhende Erde bewegten.370 Die Proliferation amüsanter historischer Irrtümer ist dabei nur eine Eigenschaft der Evidenzargumentationen. Viel schwerwiegendere methodologische Bedenken ergeben sich bei genauerer Betrachtung aus der Art und Weise, wie potentielle Kritik an Evidenzargumentationen beantwortet werden muß. Für ein Verständnis dieser etwas subtileren Problematik aller Argumentationen mit Evidenz spielt es keine Rolle, was mögliche Kritiker im Einzelfall Evidenzargumentationen entgegensetzen mögen. Es ist nur wichtig zu sehen, daß subjektiv aufrichtige Kritik an Evidenzargumentationen immer möglich bleibt, soweit bestimmte Erklärungsbestandteile intersubjektiv nicht als „klar“, „evident“ oder „unbezweifelbar“ empfunden werden. Nichtprüfbare Evidenzargumentationen können – methodologisch bedingt – auf solche Kritik hin niemals einräumen, daß die Kritiker möglicherweise ihrerseits recht haben, denn das würde die erkenntnistheoretisch unerträgliche Aussicht eröffnen, daß die nächsten Personen wiederum andere Evidenzerlebnisse haben könnten, und so fort. Statt dessen müssen Evidenzargumentationen darauf bestehen, daß sich mögliche Kritiker entweder aufgrund von „Vorurteilen“ vorsätzlich weigern, „die klaren Evidenzen“ zu sehen, oder daß deren „natürliches Licht“ unzulänglich oder mangelhaft ist.371

369 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 137 m.w. N.; Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 161 – „Darum kann [etwas], das einer Gruppe von Wissenschaftlern nicht einmal demonstriert werden kann, einer anderen gelegentlich intuitiv als evident erscheinen.“; vgl. ferner Strawson, Ethical Intuitionism, S. 27; Podlech, Wertungen und Werte im Recht, AöR 95 (1970), S. 185 (205 f.); ders., Rechtstheorie 3 (1972), S. 129 (135). 370 Darauf weist Popper, Offene Gesellschaft II, S. 23, hin. 371 In seltener Deutlichkeit bezeichnetete Descartes konsequenterweise diejenigen, die das, was er für selbst-evident erachtete, nicht auch für selbst-evident hielten, entweder als durch Vorurteile bestimmt oder schwachsinnig (Meditationen Objections and Replies, S. 97 [Rn. 135]) – „I can only say, that it depends on the reader: if he attends carefully to what I have written he should be able to free himself from the preconceived opinions which may be eclipsing his natural light, and to accustom himself to believing in the primary notions, which are as evident and true as anything can be, in

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Unprüfbare Evidenzargumentationen können sich in der Praxis scheinbar dadurch bewähren, daß institutionell verbindliche Letztentscheider festgelegt werden. Was als Evidenzerlebnis gezählt wird und was nicht, kann dann fallweise entschieden werden („evident ist, was die Letztentscheider als evident ansehen“). Ganz unabhängig vom tatsächlichen Bestehen oder Nichtbestehen einer solchen – natürlich ihrerseits hochproblematischen – Praxis muß jedes Konzept als bankrotte Erkenntnistheorie angesehen werden, das vollkommen aufrichtige Kritiker methodologisch so behandeln muß.372 Der eigentliche Kern der Problematik aller Argumentationen mit Evidenz könnte gewissermaßen selbst als evident angesehen werden.373 Infolge seines – methodologisch für statthaft gehaltenen374 – Verzichts auf die Nachprüfbarkeit seiner Abgrenzungskriterien öffnet der wertende Intuitionismus seine Interpretationstheorie für subjektivistische Argumentationen.375 Dabei überantworten alle subjektivistischen Argumentationen die normativen Abgrenzungen im Rahmen der Rechtsanwendung (wenigstens „ein Stück weit“) der dezisionistischen Autonomie der Regelungsadressaten. Die außerordentliche Kuriosität dieser Methodologie hängt damit zusammen, daß die fundamentale Funktion von Regeln in der Vermeidung von Dezisionismus liegt (rule of law and not of men).376 Zwar gilt nicht, daß intuitionistische (Einzelfall-)Entscheidungen verfahrensmäßig unmöglich oder im Ergebnis unpreference to opinions which are abscure and false, albeit fixed in the mind by long habit.“ 372 Musgrave, Wissenschaft, S. 214. 373 Treffend Wittgenstein, Über Gewißheit, Bem. 239 – „Ja, ich glaube, daß jeder Mensch zwei menschliche Eltern hat; aber die Katholiken glauben, daß Jesus nur eine menschliche Mutter hatte. Und Andre könnten glauben, es gebe Menschen, die keine Eltern haben, und die aller gegenteiligen Evidenz keinen Glauben schenken. Die Katholiken glauben auch, daß eine Oblate unter gewissen Umständen ihr Wesen gänzlich ändert, und zugleich, daß alle Evidenz das Gegenteil beweist. Wenn also Moore sagte ,Ich weiß, daß dies Wein und nicht Blut ist‘, so würden Katholiken ihm widersprechen.“ 374 Vgl. z. B. Raz, Nature of the Theory of Law, S. 9 – „Explanations can more often than is sometimes supposed provide necessary and sufficient conditions for the application [. . .]. Nevertheless, it is a mistake to believe that all good explanations must do so.“ 375 Ähnlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 137; Hain, Grundsätze, S. 191. 376 Prägnant Thomas von Aquin, Summa Theologica, II.1 qu. 96, 1: „Was Richtlinie ist, muß für mehrere Dinge sein; denn alles innerhalb ein und derselben Gattung wird von einem einzigen bemessen, das das Erste innerhalb dieser Gattung ist. Gäbe es nämlich so viele Regeln oder Richtmaße, als es Bemessenes und Reguliertes gibt, dann wäre es um die Zweckdienlichkeit von Regel und Richtmaß getan[.]“; eine treffende Analyse auch bei Cardozo, Selected Writings, S. 311 – „The question is how long we are to be satisfied with a series of ad hoc conclusions. It is all very well to go on pricking the lines, but the time must come when we shall do prudently to look

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richtig wären. Das ergibt sich schon daraus, daß subjektivistisch bekanntlich alles auf jede Weise entschieden werden kann.377 Bei intuitiver Ergebniserklärung besteht allerdings nicht die Möglichkeit rationaler Entscheidungsbegründung und infolgedessen entfällt die intersubjektive Nachprüfbarkeit dieser Einzelfallentscheidungen.378 Die Nicht-Nachprüfbarkeit ist der Grund, weshalb die Position der Interpretation durch Negation methodologisch jeden Intuitionismus ablehnt, soweit er zur Erklärung eines Rechtssatzes angeführt werden soll. Es gibt keine Intuition (oder Evidenz), die die Wahrheit irgendeiner Interpretation einer beliebigen positiven Rechtsordnung verbürgt.379 Als den grundsätzlichen Schwachpunkt des Subjektivismus sowie der fehlenden Objektivität der Erklärungen sehen wir kein inhaltliches Problem an, also nicht die müßige Frage: „Ist es gut, daß Rechtsanwender selbst entscheiden?“380

Objektiv gravierend ist vielmehr das mit dem Subjektivismus verbundene – inhaltsunabhängige – theoretische Problem, daß Anwendungen beliebiger normativer Ordnungen auf Wirklichkeitssachverhalte zumindest „ein Stück weit“ der subjektiven Beliebigkeit der Regelungsadressaten anheimgestellt werden

them over, and see whether they make a pattern or a medley of scraps and patches.“; vgl. zur Problematik schon oben sub. § 1. 377 Der sog. systemtheoretische Ansatz stellt diesen subjektiven Lösungsweg („Systemrationalität“) in das Zentrum seiner Betrachtungen; hierzu Di Fabio, Offener Diskurs, S. 110 – „Man denke hier nur an die Beurteilung sehr voraussetzungsreicher und hochinterdependenter Situationen. Erweisen sich ökologische, politische oder ökonomische Probleme als zu kompliziert, werden sie vom Individuum je nach eigener Präferenz sinnhaft uminterpretiert. Im Fall von Krisen oder Katastrophen werden dann Schuldige gesucht und ihre Bestrafung gefordert, weil individuelle Verantwortungszurechnung individuell sinnhaft vermittelbar ist, die Komplexität der Situation brauchbar reduziert und die Erlebnisverarbeitung [. . .] kanalisiert werden können.“ (bezugnehmend auf Luhmann, Theorie sozialer Systeme, S. 115). Das mag psychologisch zutreffend beschrieben sein, kann aber nicht die Idee einer Rechtsordnung sein, denn diese zeichnet sich gerade durch jene Regelhaftigkeiten aus, die über die „je eigenen Präferenzen“ hinausgehen. 378 Vgl. Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 26. „Die reine Subjektivität trägt keinen [rechtlichen] Begriff. Dieser muß verallgemeinerungsfähige Aussagen ermöglichen; er bedarf also der objektiven Merkmale.“; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 137 – „Daß etwas nicht mit intersubjektiver Gewißheit erkannt werden kann, ist noch kein Argument gegen seine Existenz. Es ist aber ein Argument dagegen, auf seine Existenz eine wissenschaftliche Theorie zu gründen.“; Popper, Erkenntnistheorie, S. 322. 379 Allgemeiner Popper, Erkenntnistheorie, S. 323. 380 Diese Frage kann (unzweifelhaft) unterschiedlich beantwortet werden. Intuitionistische Positionen führen jedoch – unter anderem – zu Rechtsunsicherheit, fehlender Streitschlichtungsfunktion, Unvorhersehbarkeit sowie zu fehlender Gleichförmigkeit in der Rechtsanwendung.

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müssen, sofern keine objektiven Erklärungen verfügbar sind. Problematisch ist mit anderen Worten die Aussage: „Die Vermeidung von Dezisionismus (Funktion normativer Ordnungen) ist untrennbar verbunden mit Dezisionismen (Entscheidungen der Rechtsanwender).“

Die Frage der Bindung an die Rechtsordnung kann nicht den Rechtsanwendern überlassen werden, anderenfalls läge keine Bindung vor. Falls nämlich die Entscheidung darüber, ob eine normative Einzelaussage einen Sachverhalt betrifft oder nicht betrifft, dem Regelungsunterworfenen (bzw. dessen Intuition) überantwortet wird, entscheidet der Adressat der Entscheidung über die Geltung des an ihn gerichteten Normbefehls. „Befehle unter Zustimmungsvorbehalt“ sind vollständig entbehrlich, sie erklären mit anderen Worten nichts. Das solchen „Normbefehlen“ zugrundeliegende Erklärungskonzept ist daher zu bezweifeln. Sofern die intuitionistische Methodologie durch das Konzept der Interpretation als Negation ersetzt wird, können „Normbefehle“ (genauer: normative Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen)381 so erklärt werden, daß die „Befehlsempfänger“ keine dezisionistischen Widerspruchsmöglichkeiten haben. 4. Formal-logische Systeme Die Methodologie der Interpretation durch Negation rekonstruiert „normative Ordnungen an sich“ nomologisch-deduktiv, indem alle normativen Einzelaussagen – das heißt also: die Darstellungen der „Rechtsordnungen an sich“ – aus gehaltvollen Interpretationen (in Verbindung mit noch näher zu behandelnden Randbedingungen382) abgeleitet werden. Als „formal-logisches System“ ist Interpretation durch Negation deshalb allen Einwänden ausgesetzt, die von der seit einigen Jahrzehnten recht fest etablierten Doktrin der sogenannten „Uneignung formal-logischer Systeme“ im Hinblick auf Interpretationen normativer Ordnungen erhoben werden. Diese – hier ausdrücklich nicht geteilte – Auffassung lehnt sich in bestimmter Hinsicht an eine Position an, die üblicherweise als universale logische Skepsis bezeichnet wird.383 Man kann die Doktrin der „Uneignung formal-logischer Systeme“ so formulieren, daß „formale Logik“ ein weitgehend384 ungeeignetes Instrument im Zusammenhang mit Interpretationen normativer Ordnungen – ganz besonders im Rahmen der Rechtsanwendung – ist.385 Die Doktrin ist ihrerseits Aus381

Dazu oben sub. vor § 2. Ausführlich zur Ableitung singulärer Es-gibt-Sätze aus allgemeinen Sätzen und Randbedingungen als „Erklärung“ unten sub. § 8 IV. 3. 383 Zur universalen logischen Skepsis unten sub. Fn. 406. 384 Abgesehen von weichen Kriterien wie „innere Einheit und Folgerichtigkeit“ sowie ähnlichen Vorstellungen. 382

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druck dessen, was Karl Popper bereits einmal als einen der „beunruhigendsten Züge des gegenwärtigen intellektuellen Klimas bezeichnet hat, nämlich der Zuversicht, mit der irrationale Ansichten vertreten werden und so oft als fast selbstverständlich hingenommen werden“.386 In sehr prägnanter Zuspitzung formulierte etwa Claus-Wilhelm Canaris den Gedanken der Uneignung formallogischer Systeme wie folgt:387 „Ungeeignet, die innere Einheit und Folgerichtigkeit einer bestimmten positiven Rechtsordnung zu erfassen, ist weiterhin ein formal-logisches System. Gleichwohl hat dieses Ideal lange Zeit die deutsche Rechtswissenschaft beherrscht [. . .]. Nach unserer heutigen Denkgewohnheit bedeutet [. . . die Systematisierung] die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der wesentlichen Garantie entbehrt. [. . .] Diese Auffassung von Wesen und Zielen der Rechtswissenschaft darf man heute ohne Einschränkung als überholt bezeichnen. In der Tat ist der Versuch, das System einer bestimmten Rechtsordnung als formal-logisches oder axiomatisch-deduktives zu konzipieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn die innere Sinneinheit des Rechts, die es im System zu erfassen gilt, ist entsprechend ihrer Ableitung aus dem Gerechtigkeitsgedanken nicht logischer sondern wertungsmäßiger, also axiologischer Art.“388

Ganz und gar zutreffend an der Doktrin von der „Uneignung formal-logischer Systeme“ ist die intuitive Skepsis, die sie der Bedeutung reiner Analyse entgegenbringt. Damit übereinstimmend geht auch die hier zugrunde gelegte Methodologie der Interpretation durch Negation nicht davon aus, „rein analytisch“ im Sinne von Zergliederung, Zerlegung beziehungsweise Auftrennung einer positiven Rechtsordnung in ihre Bestandteile irgendwelche Erkenntniszuwächse erreichen zu können (sogenanntes Analyse-Paradoxon389).390

385 Zum sog. „Rechtsanwender“ und seiner Funktion im Rahmen der Interpretation normativer Ordnungen oben sub. § 1 I. 386 Popper, Der Mythos vom Unhintergehbaren, Vortrag vom 27. Juli 1982. 387 Vgl. ähnlich auch Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 80; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 320. 388 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 21 f. unter wörtlicher Bezugnahme auf Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft4, S. 396 (Hervorhebungen bei Canaris), dessen Auffassung von Wesen und Zielen der Rechtswissenschaft Canaris ohne Einschränkung als überholt ansieht. Exemplarisch für diese logik-skeptizistische Position auch Esser, Grundsatz und Norm, S. 99 – „[Für problemgebundenes Rechtsdenken ist] der Verzicht auf dogmatisch klare Ableitungen typisch [. . .].“ und S. 111 – „Aufdeckung der Zweispurigkeit von rationalen und irrationalen Urteilselementen“; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 97 ff. 389 Dazu unten sub. § 10 III. 390 Vgl. zur klassischen Position des analytisch-essentialistischen Ansatzes Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 17.

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Um damit eng zusammenhängende Mißverständnisse vermeiden zu können, müssen „Analysen“ und „Deduktionen“ sehr genau unterschieden werden. Die Deduktion ist als gültige formallogische Erklärungsstruktur – man muß wohl fast sagen: natürlich – keineswegs „von vornherein zum Scheitern verurteilt“. Von vornherein verfehlt ist statt dessen die sehr alte – essentialistisch geprägte – Hoffnung, jemals durch Zergliederungen und Zerlegungen neue Erkenntnisse gewinnen zu können. Positiv gewendet: Keine objektive Erkenntnismethode – insbesondere keine einzige wissenschaftliche Methode – erzielt irgendwelche Erkenntnisfortschritte auf analytischem Wege. Die objektiven Erkenntnisse der nomologischen Wissenschaften sind gleichwohl deduktiv strukturiert (im Idealfall: axiomatisch-deduktiv; darauf wird später einzugehen sein391). Davon ganz unabhängig existiert allerdings ein – offenbar weitverbreitetes – psychologisches Phänomen, wonach häufig intuitiv die sogenannte „quasiinduktive“392 Erfahrung des Alltagsverstandes, genauer: dessen „analytische Methode“ als erkenntnisleitend wahrgenommen wird.393 Und es scheint dieses psychologische Phänomen zu sein, das zur ebenso frühen wie weiten Verbreitung der essentialistischen Vorstellung beigetragen hat. Die Methodologie der Interpretation durch Negation erklärt normative Einzelaussagen nicht analytisch, sondern – wie noch näher zu behandeln sein wird: 391 Zur Funktion von Axiomen in nomologischen Wissenschaften unten sub. § 9 I.; ferner auch Fn. 1018. 392 Die quasiinduktive Erfahrung des Alltagsverstandes kann so beschrieben werden, daß Erkenntnisse sehr häufig erst nach der äußerst langwierigen Beschäftigung mit einem Gegenstand und dessen vielfacher „analytischer“ Zerlegung „hervorgebracht“ werden können (Entdeckungszusammenhang). Die daran Beteiligten glauben deshalb manchmal, daß ihre Erkenntnisse (Erklärungszusammenhang) gewissermaßen durch die Zerlegungen entstanden seien (Idee: sofern lange genug analysiert wird, können Erkenntnisse erzielt werden); leider hält diese (intuitiv naheliegende) Idee einer genaueren Untersuchung nicht stand (dazu unten sub. § 7 III. 3.), im Kern beruht sie auf einer In-eins-Setzung von Entdeckungs- und Erklärungszusammenhängen. 393 Vgl. die Beschreibung der quasiinduktiven Erfahrung des Alltagsverstandes bei Popper, Logik der Forschung, S. 224 – „Man kann sagen, der Fortschritt könne ,sich [. . .] nur in zwei Richtungen vollziehen: Sammlung neuer Erlebnisse und bessere Ordnung der bereits vorhandenen‘. Und doch scheint mir diese Kennzeichnung des wissenschaftlichen Fortschritts wenig charakteristisch; zu sehr erinnert sie [. . .] an die emsig gesammelten ,zahllosen Trauben‘, aus denen der Wein der Wissenschaft gekeltert wird – an jene sagenhafte Methode des Fortschreitens von Beobachtung und Experiment zur Theorie (eine Methode, mit der noch immer manche Wissenschaften zu arbeiten versuchen, in der Meinung, es sei die Methode der experimentellen Physik). Nicht darin liegt der wissenschaftliche Fortschritt, daß mit der Zeit immer mehr neue Erlebnisse zusammenkommen; auch nicht darin, daß wir es lernen, unsere Sinne besser zu gebrauchen. Von unseren Erlebnissen, die wir hinnehmen, wie sie uns treffen, kommen wir nie zur Wissenschaft – und wenn wir noch so emsig sammeln und ordnen.“; dazu auch Fn. 304.

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„konjektural-“394 – deduktiv. Dementsprechend betreffen die Einwände der Doktrin der „Uneignung formal-logischer Systeme“ nicht die Interpretation durch Negation, soweit sie – pauschal und ohne Differenzierung zwischen Findungs- und Erklärungszusammenhängen – „den analytischen Ansatz“ kritisieren. Darüber hinaus führt die Doktrin der „Uneignung formal-logischer Systeme“ möglicherweise auch noch ein weiteres Mißverständnis herbei, indem sie die Uneignung „der axiomatisch-deduktiven Methode“ als solcher zu behaupten scheint. Um die Problematik deutlich zu machen: „Die deduktive Methode“ bezeichnet üblicherweise – das heißt: in wissenschaftstheoretischen Kontexten und, dementsprechend, im Zusammenhang mit der Methodologie der Interpretation als Negation395 – nicht mehr (aber auch nicht weniger) als die Ableitung nachprüfbarer Konsequenzen aus Interpretationen (genauer: aus Theoriesystemen und spezifischen Randbedingungen)396. Infolgedessen wären also alle pauschalen Entscheidungen gegen „die deduktive Methode“ als Entscheidungen gegen die Intersubjektivität der Erklärungen zu verstehen, als Entscheidungen gegen Nachprüfbarkeit und damit gegen die Objektivität der Erklärungszusammenhänge. Diese unwillkommene Konsequenz, die von der Doktrin der „Uneignung formal logischer Systeme“ (selbstverständlich) nicht beabsichtigt ist, kann dadurch vermieden werden, daß konsequent zwischen den normativen Ordnungen an sich und deren jeweiligen Interpretationen unterschieden wird. Die potentielle logische Eigenschaft, eine geeignete Deduktionsgrundlage zu sein, kommt ausschließlich den Interpretationen zu, nicht aber den normativen Ordnungen an sich als den Gegenständen der Interpretationen. Dementsprechend kann eine vermutete Uneignung der axiomatisch-deduktiven Methode nicht an normativen Ordnungen erprobt werden, sondern immer nur an Interpretationen. Die „Uneignung der Deduktion“ besteht nur im Hinblick auf – nichtprüfbare – Interpretationen, nicht jedoch allgemein in bezug auf normative Ordnungen an sich.397 Man kann das auch so formulieren: Daß 394

Dazu im einzelnen ausführlich unten sub. § 10 VI., VII. Der Begriff der „deduktiven Methode“ führt jedoch – genauso wie der schon behandelte Begriff der Methode – mitunter zur Verwechslung und In-eins-Setzung von Findungs- und Begründungszusammenhängen: Richtig ist, daß keine Methode der Ergebnisfindung existiert, infolgedessen existiert auch keine „deduktiven Methode“ der Ergebnisfindung. Umgekehrt existieren aber prüfbare und nichtprüfbare Ergebnisbegründungen (Erklärungen). Die Prüfbarkeit der nachprüfbaren Begründungen ergibt sich stets aus der Möglichkeit, deduktiv Konsequenzen aus den Begründung ableiten zu können, die unabhängig vom Erklärten nachprüfbar sind. 396 Dazu unten sub. § 8 III. 397 Die manchmal reflexhafte Ablehnung deduktiver Methoden dürfte eine Überreaktion auf den Zusammenbruch der Begriffsjurisprudenz sein, die bisweilen irrtümlich mit Deduktionen gleichgesetzt wird. Der Zusammenhang ist freilich einseitig: Be395

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Deduktionen unmöglich sind, sagt zwar durchaus etwas über die verfügbaren Interpretationen aus, aber nichts über die interpretierten Rechtsordnungen an sich. Denn sobald objektive Interpretationen gefunden worden sind (Entdekkungszusammenhang), ermöglicht die deduktive Methodologie deren kritische Prüfung (Erklärungszusammenhang). Neben den beiden skizzierten Hauptquellen möglicher Mißverständnisse birgt die Doktrin von der Uneignung formal-logischer Systeme auch noch ein weiteres, etwas subtileres Problem. So beruht ihre Pauschalkritik an „der deduktiven Methode“ auf einer – methodologisch unzulässigen398 – ad hoc-Unterscheidung, indem die Kritik zwar einerseits Deduktionen kategorisch ausschließen möchte, andererseits jedoch gleichwohl „Ableitungen aus dem Gerechtigkeitsgedanken“ als „axiologische Methode“ sui generis anerkennt.399 Lange bekannt ist schließlich die Unhaltbarkeit der (modernistischen) Behauptung der Doktrin der Uneignung formal-logischer Systeme, jeder Versuch axiomatisch-deduktiver Rekonstruktionen von normativen Ordnungen sei von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dennoch wird diese, wie man sagen könnte: „Unmöglichkeits-Theorie“ mitunter als gewissermaßen gesichertes Wissen betrachtet und – in solchen Zusammenhängen üblicherweise – mit der empirischen Erfahrung „untermauert“, daß bislang alle deduktiven Rekonstruktionsversuche gescheitert sind. Hinter diesem Gedanken steht nichts anderes als die alte, idealistische Verwechslung von individuell-persönlichem Nicht-Verstehen eines bestimmten Gegenstandes mit dessen objektiver Beschaffenheit (Idee: „Was ich nicht weiß, kann niemand wissen“).400 Das Gegenteil ist richtig: Für keinen theoretisch griffsjurisprudenz impliziert Deduktionen, Deduktionen implizieren jedoch keineswegs die Begriffsjurisprudenz. 398 Dazu ausführlicher unten sub. § 8 IV. 2. und § 12 II. 399 Ob eine Ableitung „deduktiv“ ist, beruht ausschließlich auf der Methode des Schlusses und nicht auf dem „Wesen“ des Gedanken, aus dem abgeleitet wird. Es wäre also ein Mißverständnis anzunehmen, Deduktion bedeute konzeptionell, etwas gewissermaßen „aus der Logik“ abzuleiten und eine – auf diese Weise mißverstandene – Deduktion „axiologischen Schlüssen“ gegenüberzustellen, die demgegenüber „aus der Gerechtigkeit“ abgeleitet werden. Deduktionen betreffen ausschließlich die Art und Weise, in der bestimmte Sätze gültig aus anderen Sätzen (wenn man so will: aus anderen „Gedanken“) gewonnen werden können, also mit anderen Worten: das Schlußverfahren (zu Fehlern des Psychologismus in diesem Zusammenhang siehe Carnap, Logical Foundations of Probability, S. 37 ff.). In diesem Sinne können neue Sätze aus Theorien jeder Art (physikalischen, chemischen, biologischen, betriebswirtschaftlichen usw.), deduktiv abgeleitet werden, ohne daß diese Ableitungen deshalb von „physikalischer (bzw. chemischer, biologischer, betriebswirtschaftlicher usw.) Natur“ wären und nicht mehr „logischer Natur“; ausführlich zur Deduktion als Methode unten sub. § 8 III. 1. 400 Mit dem gleichen Argument hätte jeweils bis zum Tag vor der Entdeckung einer beliebigen Theorie die Unmöglichkeit ihrer Formulierung bewiesen werden können. Man könnte mutatis mutandis dergestalt auch die Unmöglichkeit des Aussterbens

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möglichen – scheinbar – regellosen Gegenstand kann jemals ein gültiger Nachweis seiner Regellosigkeit geführt werden. Trotz häufiger Wiederholung sind alle behaupteten Nachweise der Regellosigkeit normativer Ordnungen aus logischen Gründen nicht verifizierbar. Natürlich sind sie umgekehrt auch nicht falsifizierbar, weil dazu die Wahrheit einer bestimmten Regelhaftigkeit bewiesen401 werden müßte.402 Weil weder die Regellosigkeit noch die Regelhaftigkeit einer normativen Ordnung an sich beweisbar ist, kann nur gefragt werden, ob entweder das eine (die Regelhaftigkeit) oder das andere (die Regellosigkeit) hypothetisch angenommen werden sollte.403 Alles, was man diesbezüglich hoffen kann, ist die theoretische Annäherung an vermutete Regelmäßigkeiten. Eine Entscheidung zwischen vermuteter Regellosigkeit und vermuteter Regelhaftigkeit ist unausweichlich, weil keine der beiden Alternativen beweisbar ist (tertium non datur). Interessanterweise ist diese konjekturale Entscheidung jedoch sehr einfach zu treffen. Denn sofern – gewissermaßen probeweise – einmal die metaphysische Regellosigkeitsprämisse zugestanden wird (Entscheidung

jeder beliebigen Tierart damit beweisen, daß sie bisher noch nicht ausgestorben ist. Das ganze Problem stellt sich gewöhnlich nur solange, wie Regelmäßigkeiten noch nicht gefunden wurden. Die metaphysische Regellosigkeitsdiskussion verliert üblicherweise an Schärfe, sobald regelhafte Konzeptionen entwickelt worden sind. 401 Dazu unten sub. § 7 III. 2. und 3. 402 Die Behauptung der Regellosigkeit einer normativen Ordnung an sich ist deshalb ebenso wie die Behauptung ihrer Regelhaftigkeit ein metaphysischer Standpunkt, der eingenommen werden kann, aber nicht letztbegründbar ist. Die Untersuchung einer beliebigen Rechtsordnung an sich kann diese Frage jedenfalls in keiner Weise entscheiden; dazu im übergeordneten Zusammenhang Popper, Erkenntnistheorie, S. 310 ff. (312) – „Versuch, aus Logik Metaphysik zu machen“. Generell ist das metaphysische Vorverständnis einer Regellosigkeit des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes unvereinbar mit einer nachprüfbaren (!) wissenschaftlichen Untersuchung desselben. Erkenntnistheoretisch wird das hier berührte Problem üblicherweise im Rahmen der sog. Antinomie der Erkennbarkeit der Welt behandelt, also dem Problem, ob in der physischen Wirklichkeit („Welt 1“) Gesetzmäßigkeiten existieren. Dort ist die Antwort freilich ebenso metaphysisch wie die Antwort in bezug auf den viel kleineren Untersuchungsgegenstand in Form einer beliebigen Rechtsordnung. Die Sicherheit, mit der Canaris die Uneignung der „formal-logischen“ Methode der Deduktion feststellt („von vornherein zum Scheitern verurteilt“) ist daher erstaunlich. Die gleiche Sicherheit müßte ihn veranlassen können, insbesondere die hochentwickelte theoretische Physik von vornherein zum Scheitern zu verurteilen, denn diese verwendet die formallogischen Methode der Deduktion in besonders ausgeprägter Weise. Eine pointierte Konzeption der Regellosigkeits-Position formulierte Wittgenstein in bezug auf die „Wirklichkeit der Welt“ (und nicht lediglich auf einen eingegrenzten Bereich wie eine bestimmte „normative Ordnung an sich“), Tractatus logico-philosophicus, Sätze 1, 1.1, 1.2, 1.21, 6.3 – „Die Erforschung der Logik bedeutet die Erforschung aller Gesetzmäßigkeiten. Und außerhalb der Logik ist alles Zufall (Hervorhebungen im Original).“; zu weiteren Problemen einer konsequenten Anwendung der Regellosigkeitsposition auf die Rechtswissenschaft auch unten in Fn. 405. 403 Vgl. dazu Kant, Die Metaphysik der Sitten (Erstes Blatt), S. 263.

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zugunsten der Regellosigkeit), begraben die weiteren, sich daraus unmittelbar ergebenden logischen Konsequenzen404 den Entscheider sowie die ganze von ihm interpretierte Rechtsordnung sogleich unter sich.405 Zusammenfassung: Als wissenschaftliche Methode der Interpretation ist nicht die konjekturale Formulierung allgemeiner Sätze (Deduktionsgrundlagen) rechtfertigungsbedürftig, sondern ein kategorischer Verzicht darauf.406 Der Erkenntniswert allgemeiner Sätze sowie deren deduktiver Konsequenzen ist von ganz anderer Qualität als derjenige von besonderen Sätzen.407 Darin liegt einer der wesentlichen Gründe dafür, daß die hochentwickelten theoretischen (nomologischen) Wissenschaften, d. h. Wissenschaften, die bereits allgemeine Gesetze formulieren konnten, üblicherweise sehr viel höher eingeschätzt werden als die noch weniger entwickelten, individualisierenden (idiographischen) Wissenschaften, sowie dafür, daß ihnen jeweils in viel höherem Maße der Charakter einer Wissenschaft zugestanden wird.408

404 Für dieses Argument wird zunächst die Gültigkeit bestimmter Schlußregeln unterstellt; zu den Konsequenzen eines Bestreitens auch jeglicher Schlußregeln unten in Fn. 406 (allwissender Weltgeist). 405 Hier ergibt sich eine interessante Konsequenz des metaphysischen Regellosigkeitsstandpunkts: Falls die Prämisse der Regellosigkeit a priori wahr ist, sind alle theoretisch möglichen allgemeinen Sätze über potentielle normative Einzelaussagen a priori falsch. Das bedeutet, daß die Negate aller theoretisch möglichen allgemeinen Sätze über die normativen Einzelaussagen der jeweiligen Rechtsordnung a priori wahr sein müssen. Daraus ergibt sich weiter, daß jeder denkbare Satz eine normative Einzelaussage der untersuchten Rechtsordnung ist. Anders ausgedrückt gibt es in diesem Fall also keinen denkbaren Satz, der nicht normativer Inhalt der Rechtsordnung ist. Alle denkbaren normativen Aussagen sind mithin a priori wahre normative Aussagen der interpretierten positiven Rechtsordnung. Beispiel: „Es gibt keinen Rechtssatz, der Automobile in Parks verbietet.“ und „Es gibt keinen Rechtssatz, der Automobile in Parks erlaubt.“ sind allgemeine Sätze über eine regellose Rechtsordnung und daher a priori falsch. Das bedeutet, daß die beiden Negate „Es gibt mindestens einen Rechtssatz, der Automobile in Parks verbietet.“ und „Es gibt mindestens einen Rechtssatz, der Automobile in Parks erlaubt.“ a priori wahr sind. 406 Den (wissenschaftsfernen) Standpunkt, der keinerlei Deduktionsregeln anerkennt, bezeichnet man als „universale logische Skepsis“. Diese Position ist widerspruchsfrei vertretbar, aber sie kann nicht versuchen, etwas zu erklären, da sie die dafür erforderlichen Regeln bestreitet. Trotzdem vermag universaler logischer Skeptizismus prinzipiell eine unendliche Zahl wahrer Aussagen anzuerkennen, sofern er sie jeweils axiomatisch einführt (verwendbar wäre dazu etwa ein Appell an die „unmittelbare Einsicht“). Ein bekanntes Beispiel für einen universalen logischen Skeptiker liefert die alte Figur des „allwissenden Geistes“, der von vornherein alles weiß, ohne dabei auf Schlußregeln angewiesen zu sein; dazu ausführlich Stegmüller, Metaphysik, S. 333 f. 407 Zu „allgemeinen“ sowie zu „besonderen“ Sätzen (sog. singulären Es-gibt-Sätzen) unten sub. § 8 III. 2. und § 8 III. 3. 408 Vgl. Popper, Erkenntnistheorie, S. 306; anders aber Esser, Grundsatz und Norm, S. 314 – „[Die Rechtswissenschaft soll] durch idiographische Beschreibung einer Entwicklung den grundsätzlichen Ordnungswert einer Institution [aufdecken].“

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen

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Darüber, ob normative Ordnungen an sich regelhaft sind, kann nichts gewußt werden. Rechtsordnungen an sich können aber jederzeit so interpretiert werden, als ob Regelhaftigkeiten vorhanden wären. Und Rechtsordnungen müssen so interpretiert werden, falls die gefundenen normativen Einzelaussagen nachprüfbar begründet werden sollen (rule of law and not of men).409 Kurz: Die Existenz eines Gegenstandes, der Regelmäßigkeiten aufweist, wird methodologisch vermutet. Diese methodologische Vermutung ist weder mit dem Beweis der Wahrheit dieser Vermutung identisch, noch erfordert sie einen solchen Wahrheitsbeweis.410

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen Als Teilerklärung eines bestimmten Ausschnitts dieser beiden Grundprobleme der Risikoentscheidungen im Recht ist bereits in der Vergangenheit ein sehr charakteristischer Lösungsansatz formuliert worden, den man als „induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen“ kennzeichnen kann. Diese induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen werden wir nun zunächst darstellen, um sie dann zu kritisieren. Vorrangiges Ziel ist dabei nicht die Präsentation einer weiteren narrativen Gesamtdarstellung, die sich in irrelevante Einzelfacetten der Risikothematik verlieren müßte. Es geht statt dessen um eine stark problembezogene und somit notwendigerweise akzentuierende Darstellung entscheidender Grundzüge dieser Standardlösung. Besonders zu berücksichtigen ist die etablierte Problemsituation, das heißt also: diejenigen Hintergrundannahmen, die der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen wesentlich zugrunde liegen.411 Erst im Anschluß an eine solchermaßen problembezogene Darstellung kann systematisch untersucht werden, ob die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen methodologisch befriedigende Lösungsansätze für beide Grundprobleme der Risikoentscheidungen anzubieten vermag.412 Im Rahmen der Kritik verschiedener Einzeldoktrinen der induktiven Risikodogmatik werden sämtliche Einwände behandelt, die sich als durchgreifend erweisen. Dieselben Einwände sind es auch, die das Erfordernis einer grundlegenden Umdeutung der herkömmlichen Problemzusammenhänge aufzeigen.413

409 410

Vgl. Popper, Erkenntnistheorie, S. 314. Diese Unterscheidung ist nicht immer klar: vgl. nur Kelsen, Reine Rechtslehre1,

S. 36. 411

Dazu sogleich sub. § 7 I., II. Unten sub. § 7 III. 413 Zur „deduktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen“ (Theorie der Rechtsgüterrelationen) unten §§ 8, 9, 10. 412

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Sicherlich: Die nachstehende Untersuchung der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen steht unter dem Sachgesetz der intersubjektiven Nachprüfbarkeit und ist damit der Interpretation ohne Interpreten verpflichtet.414 Doch unabhängig davon könnte die Frage gestellt werden: Wer hat „die“ induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen geprägt, wer ist ihr Begründer, wer also ist im folgenden unser eigentlicher „Gegner“?415 Die eigentliche Problematik dieser Frage hängt nun allerdings damit zusammen, daß der Induktivismus der induktiven Risikodogmatik viel älter als moderne Rechtsordnungen ist und damit vor allem sehr viel älter als die wissenschaftliche Beschäftigung mit Recht. Dieser alte Induktivismus weist – gewissermaßen als sein Skelett – einige wenige, konstituierende Elemente auf, die wir eingehend untersuchen werden. Das heißt jedoch keineswegs, daß diejenigen Autoren, die im folgenden mit der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen in Zusammenhang gebracht werden, den Induktivismus begründet hätten. Ebensowenig soll die Einordnung ausdrücken, daß die Autoren ihn notwendigerweise selbst so darstellen würden, wie wir ihn darstellen. Unser Untersuchungsgegenstand ist eben nicht das Produkt eines bestimmten Autors, sondern eine abstrakte Idee; es handelt sich um einen der sogenannten „Ismen“. Die Auswahl der kritisierten Literaturstellen orientiert sich daher an denjenigen Darstellungen, die am höchsten ausdifferenziert sind. Es werden also vor allem diejenigen Texte berücksichtigt, die die komplexesten Illustrationen der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen bieten. I. Problemsituation Die Problemsituation der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen hängt sehr eng zusammen mit dem traditionellen Gegenstand ihrer Bemühungen um eine theoretische Durchdringung von „Vorsorge und Risiko“ im Recht.416 Vor dem Hintergrund dieser Problemsituation sind zwar Einzelaspekte der Problemsicht fortwährend variiert worden. Eine nuancierte Fortentwicklung erfuhren dabei insbesondere terminologische Details. Eine zwischenzeitlich zu beobachtende Konzentration auf „Gefahrenabwehr“ wurde begrifflich ergänzt um den weitergefaßten Topos der „Prognoseentscheidungen im Recht“417 sowie 414

Oben sub. § 1 I. Im größeren Zusammenhang zu den methodologischen Hintergründen, die den Reiz solcher Fragen ausmachen oben sub. § 6 II. 1., unten sub. § 8 V. 1. und § 10 VI., VII. 416 So ordnete Ossenbühl, FS Menger, S. 731, den Gegenstand als ein „ewiges Problem des Verwaltungsrechts“ ein. Das „ewige Problem des Verwaltungsrechts“ kann als allgemeines Regulierungsproblem generalisiert werden und führt dann zu den beiden Grundproblemen der Risikoentscheidungen im Recht. 417 Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 458 (496 ff.). 415

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um die Rede von den sogenannten „Bedingungen empirischer Ungewißheit“. Wichtig ist dabei aber vor allem, daß – ganz unabhängig von vordergründigen terminologischen Moden – die grundsätzliche Problemwahrnehmung der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen stets unverändert geblieben ist, indem „Gefahren“ und „Risiken“ als reale Phänomene, um genauer zu sein: wie empirische Eigenschaften der Wirklichkeit behandelt worden sind. Aufgrund ihrer einheitlichen Problemwahrnehmung lassen sich die verschiedenen Theorieansätze innerhalb der induktiven Grundkonzeption systematisch anhand von nur drei verschiedenen Aspekten charakterisieren. So sehen die variantenreichen induktiven Binnenentwürfe erstens unterschiedlich viele tatbestandliche Kategorien vor. Zweitens weichen sie voneinander in ihren Rechtsfolgenvorschlägen ab, und drittens unterscheiden sie sich auch in ihren jeweils verwendeten Begriffsapparaten. Natürlich ist dabei der erstgenannte Gesichtspunkt von vorrangiger Bedeutung, denn Rechtsfolgen können nur auf der Grundlage inhaltlich geklärter Tatbestände behandelt werden, und hinsichtlich terminologischer Fragen sind theoretische Konzepte ohnehin indifferent.418 Im einzelnen: (1) Tatbestandlich unterteilen die verschiedenen Konzepte innerhalb der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen die Gesamtheit der möglichen Sachverhaltskonstellationen in mindestens zwei, überwiegend jedoch drei419 und teilweise auch noch mehr Kategorien.420 „Gefahr“ kann dabei als Zentralkategorie angesehen werden.421 Die Gefährlichkeit eines Sachverhalts (Gefahr) wird zu diesem Zweck als das „Produkt seiner Schadenswahrscheinlichkeit und dem angenommenen Schadensausmaß“ definiert. Bereits die Einführung der Gefahrkategorie ist konzeptionell wenigstens mit einer Zweiteilung aller Sachverhaltskonstellationen verbunden, denn der einen Teilklasse, die „gefährlich“ ist, steht eine andere, demgegenüber „ungefährliche“ Teilklasse gegenüber.422 Diese tatbestandliche Zweiteilung wird allerdings ganz überwiegend noch um eine dritte Kategorie ergänzt, die man ihrerseits zumeist als „Risiko“ bezeichnet. Gängige Beschreibun418 Ob man eine bestimmte Kategorie als Gefahr, Risiko, Restrisiko, Gefährdung, Restgefährdung, Besorgnis oder Lebensrisiko bezeichnet, ist als rein terminologische Frage jeder rationalen Erörterung entzogen; Terminologien können sich lediglich als zweckmäßig oder unzweckmäßig in Hinblick auf bestimmte Problemstellungen erweisen; dazu oben sub. § 4 I. 419 Vgl. dazu etwa Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 104 ff. 420 Siehe etwa Dederer, Gentechnikrecht, S. 79, der zwischen „Gefahr“ und „Restgefahr“ sowie „Risiko“ und „Restrisiko“ unterscheidet. 421 Diese Kategorie findet seit jeher Verwendung und wurde namensgebend für das Recht der Gefahrenabwehr. 422 Terminologisch werden diese Konstellationen allerdings nicht als „sicher“ oder „ungefährlich“ bezeichnet, sondern als sog. „Restrisiken“.

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gen unterscheiden dabei Risiken dadurch von Gefahren, daß Risiken bloß den „Verdacht einer Gefahr“ (Gefahrverdacht) begründen, nicht aber eine Gefahr. Maßnahmen zur Abwendung von Risiken werden als Vorsorge bezeichnet, wohingegen die unmittelbare Bekämpfung von Gefahren Gegenstand der Gefahrenabwehr ist. (2) Die herkömmliche Rechtsfolgendifferenzierung in Hinblick auf die Kategorien Gefahr, Risiko und Restrisiko beruht innerhalb der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen auf abgestuften Rechtfertigungsstandards. Das Abstufungskonzept bedeutet, daß Gefahren eher vermieden werden müssen als Risiken. Außerdem werden die Risiken jeweils als nachteiliger angesehen als bloße Restrisiken. Gefahrenabwehr rechtfertigt dabei schwerwiegendere Rechtsgüterbeeinträchtigungen als bloße Risikovorsorge. Aus der Perspektive des Rechtsgüterschutzes bedeutet dies, daß der Schutz vor Gefahren Vorrang hat vor der Beseitigung von Risiken sowie sonstigen Maßnahmen im Bereich bloßer Restrisiken. Die wichtigste Funktion aller Risikotheorien innerhalb des induktiven Ansatzes liegt in der tatbestandlichen Abgrenzung der Kategoriegrenzen untereinander. Unterschieden werden müssen einerseits „Gefahren“ von „Risiken“423 sowie, andererseits, „Risiken“ von „Restrisiken“.424 Relevantes Unterscheidungskriterium aller induktiven Theorien ist die sogenannte Prognosewahrscheinlichkeit („Prognosesicherheit“) der jeweils im Einzelfall vermuteten Schadensverläufe. Es ist diese Prognosewahrscheinlichkeit, die im Einzelfall darüber entscheidet, ob einzelne Gefahrzusammenhänge – aus der induktiven Perspektive – als „lediglich hypothetisch“, „immerhin möglich“ oder sogar „hinreichend wahrscheinlich“ angesehen werden. Der „lediglich hypothetische Gefahrzusammenhang“ entspricht begrifflich einem „Restrisiko“, „mögliche Gefahrzusammenhänge“ führen zu „Risiken“ und „hinreichend wahrscheinliche Gefahrzusammenhänge“ sind „Gefahrprognosen“. Auf diese Weise werden alle theoretischen Abgrenzungsfragen auf Prognosewahrscheinlichkeiten abgebildet, für die anhand der induktiven Einzeltheorien allerdings keine starren Schwellenwerte festgelegt sind. Alle 423 Bzw. Gefahrverdacht, falls Risiko oder Gefährdung als Oberbegriffe verwendet werden. 424 Die fundamentale Unterscheidung zwischen gefährlichen und ungefährlichen Sachverhalten fällt mit der Grenze zwischen Risiko und Restrisiko zusammen, denn Gefahr und Risiko sind Unterfallgruppen derjenigen Sachverhalte, die nicht ungefährlich sind.

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Grenzwahrscheinlichkeiten müssen statt dessen in jedem Einzelfall „wertend konkretisiert“ werden. Bekannte Konkretisierungsformeln sind etwa die Grenze der sogenannten „praktischen Vernunft“425, jenseits derer Schadensverläufe „schlechterdings nicht mehr vorstellbar“ sein sollen.426 Des weiteren unterscheidet die konkretisierte Schwelle der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“ die „bloß möglichen“ Risiken von den „wahrscheinlichen“ Gefahren.427 II. Induktive Prämisse Alle Einzelvorschläge428 innerhalb der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen unterteilen ihre tatbestandlichen Kategorien anhand abgestufter Intensitäten der Erkenntnisgewißheit, sie sprechen dabei von „Prognosewahrscheinlichkeiten“.429 Dieser Ansatz bedeutet, daß sämtliche Gefahrzusammenhänge Prognosecharakter aufweisen und diese Prognosen ihrerseits prinzipiell alle mit individuellen Wahrscheinlichkeitsgraden verknüpft werden können. „Wahrscheinlichere Prognosen“ werden also von „unwahrscheinlicheren Prognosen“ unterschieden. Das Ergebnis dieses Unterscheidungsverfahrens soll möglichst darin bestehen, daß die jeweils „wahrscheinlichste“ Prognose der rechtlichen Würdigung einer Sachverhaltskonstellation zugrunde gelegt wird.430 425 Der Rechtsanwender entscheidet unter wertender Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles, ob die bestehenden Anhaltspunkte eines Gefahrverlaufs ausreichenden Realitätsbezug haben. Dabei legt er idealtypisch nicht seine eigenen Vorstellungen, sondern die herrschenden gesellschaftlichen Anschauungen zugrunde und orientiert sich unter Zuhilfenahme der probabilistischen Befunde der Fachwissenschaftler wiederum am Schutzgut und den Ausmaßen des ihm drohenden Schadens sowie am Eingriffsgut. 426 Folglich halten sich hinter der Grenze der praktischen Vernunft die Restrisiken verborgen. Hinter der Einstufung einer Möglichkeit als Spekulation – und damit als bloß theoretisch möglich – steht im Modell der induktiven Dogmatik eine wertende Entscheidung, die deswegen nicht im einzelnen nachzuvollziehen ist; dazu Breuer, DVBl. 1978, 829, 835; Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im technischen Sicherheitsrecht, S. 153. 427 Innerhalb des Referenzgebietes ist das Abgrenzungsproblem am Beispiel der beiden zentralen Vorschriften des Biosicherheitsprotokolls nachweisbar: Die von der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen entwickelten Differenzierungskriterien müßten also die Anwendungsfälle von Art. 2.2 BSP und Art. 10.6 BSP unterscheiden können. 428 Siehe nur Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 141; Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 170 f. 429 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 72. 430 Exemplarisch Ossenbühl, 25 Jahr BVerfG, S. 501 – „Prognose bedeutet die geistige Vorwegnahme der Zukunft. Deshalb ist Prognostik die „Kunst des Wahrscheinlichen“.“ Ossenbühl beruft sich in diesem Punkt auf eine Formulierung C. F. von Weizsäckers, der jedoch seinerseits spezifische quantenphysikalische Prämissen voraussetzt (dazu unten sub. § 8 III. 2. c). von Weizsäcker ist deshalb in diesem Punkt mißverständlich – „Es gibt überhaupt keine Möglichkeit, in logischer Strenge aus vergange-

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Entscheidenden Einfluß auf die so verstandene Prognosewahrscheinlichkeit hat namentlich die sogenannte empirische Absicherung als „Grad der Sicherheit des Wissens“ in einer bestimmten Sachverhaltskonstellation.431 Nach Auffassung der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen erlaubt der Grad der „empirischen Absicherung des Wissens“ Rückschlüsse auf die Einzelwahrscheinlichkeiten derjenigen Prognosen, die unter Verwendung dieses Wissens erstellt wurden. Es gilt besonders hervorzuheben, daß dieses Modell der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen – in Übereinstimmung mit der Epistemologie des Alltagsverstandes – insgesamt monistisch aufgestellt: Alle Prognosen haben „Wahrscheinlichkeiten“.432 Weil der induktive Ansatz somit fundamental von dieser monistischen Modellvorstellung abhängt, konzentrieren sich seine dogmatischen Klärungsbemühungen auf die Frage nach dem „Grad“433 der jeweils erforderlichen Erkenntnissicherheit, also der Mindestwahrscheinlichkeit434 derjenigen Prognosen, die rechtlich relevante Risiken oder Gefahren begründen können.435 Diese Untersuchungsperspektive in Hinblick auf zutreffende Prognoseauswahlverfahren ist charakteristisch für die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen. Als Charakteristikum dürfen dabei insbesondere die beiden zentralen Fragestellungen der induktiven Dogmatik aufgefaßt werden, also: „Wie wahrscheinlich ist ,hinreichend wahrscheinlich‘?“

sowie „Welche theoretischen Überlegungen sind ,zu theoretisch‘, um noch als ,praktisch vernünftige‘ Überlegungen angesehen zu werden?“

ner Erfahrung auf die Zukunft zu schließen. Und doch ist der Schluß auf die Zukunft die ganze Pointe der Physik. Die Physik prophezeit.“ (Die Einheit der Natur, S. 122). 431 Zur (induktiven) empirischen Absicherung im Verhältnis zur (deduktiven) komparativen Theoriebewertung unten sub. § 9 I. 3. b). 432 Demgegenüber ist die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen dualistisch konzipiert, weil nur auf diese Weise die beiden unterschiedlichen Zurechnungsmodalitäten unterschieden werden können; hierzu unten sub. § 8 II. 433 Aufgrund der (innerhalb der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen erkannten) Unmöglichkeit, unabänderliche – gewissermaßen absolute – Grenzwahrscheinlichkeiten zu ermitteln, beschränken sich die verbleibenden Bemühungen zumeist auf Standardisierungen der einzelfallabhängigen Grenzwertkonkretisierungen. Typische Folgeprobleme sind deshalb namentlich Fragen der Konkretisierungsspielräume, Einschätzungsprärogativen sowie der genauen Rolle von Sachverständigen in solchermaßen prozeßhaften Entscheidungsfindungen. Auf diese Einzelheiten wird im jeweiligen Zusammenhang noch näher einzugehen sein, hier ist zunächst nur die grundsätzliche Fragestellung von Interesse. 434 Bzw. der erforderlichen empirischen Mindestabsicherung des Wissens. 435 Gleichwohl wird von niemandem ein konkreter Wahrscheinlichkeitswert vorgeschlagen, der als Kategoriegrenze überprüft werden könnte.

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Obwohl diese bekannte Problemrekonstruktion der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen vielleicht auf den ersten Blick zwingend erscheinen mag, prägt sie im Raum der logischen Möglichkeiten keineswegs die einzige Struktur vor. Im Gegenteil: Sämtliche Einzelkonzepte innerhalb des induktiven Ansatzes können aufgrund ihrer spezifischen Annäherung an das Problem der Prognoseauswahl – trotz demgegenüber marginalen Unterschieden in anderen, eher unbedeutenden Aspekten – gemeinsam kritisiert werden. Die wichtige Gemeinsamkeit aller Einzelkonzepte liegt in ihrer induktiven Prämisse. Kennzeichnende Ausprägung dieser induktiven Prämisse ist es, daß alle Modellvorstellungen ausdrücklich oder stillschweigend voraussetzen, ausgehend von einer empirischen Tatsachenbasis436 – also sozusagen: den Erfahrungen der Vergangenheit – auf zukünftige Entwicklungen und – vor allem – auf Prognosewahrscheinlichkeiten der jeweiligen Entwicklungen schließen zu können. Die induktive Prämisse nimmt also an, daß von bekannten empirischen Tatsachen der Vergangenheit „mit Wahrscheinlichkeit“ auf noch unbekannte zukünftige Tatsachen geschlossen werden könnte.437 Derartige Schlußfolgerungen von einer (immer endlichen) Anzahl bekannter vergangener Ereignisse hin zu allgemeinen Regelmäßigkeiten, die ihrerseits Aussagen über zukünftige, unbekannte Fälle zulassen, bezeichnet man als Induktion.438 Das ideengeschichtlich sehr alte439 Induktionsprinzip ist sehr eng mit einer intuitiven Anschauung des Alltagsverstandes verbunden, wonach sich für alle gleichartigen Ereignisse auch zukünftig dasjenige als wahr erweisen wird, was sich schon für eine Reihe beobachteter Ereignisse der Vergangenheit als wahr erwiesen hat (Idee: „Seit Anbeginn der Welt geht die Sonne jeden Tag von neuem auf, also wird sie auch morgen wieder aufgehen“).440 436

Dazu unten sub. § 8 III. 3. Siehe nur Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 503 – „[Man] muß die gegenwärtige Wirklichkeit [. . .] in die Zukunft projizieren.“; so auch F. Klein, Richterliche Beurteilung politischer Fragen, S. 25; Peschau, Beweislast, S. 50; Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 168. 438 Ausführlich Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, S. 133. 439 Die induktive Vorstellung wird üblicherweise auf Aristoteles zurückgeführt, z. B. „Von den Grundgegebenheiten werden die einen durch Induktion erkannt, die anderen durch Intuition, die dritten durch eine Art von Gewöhnung und andere wiederum auf andere Weise (Nikomachische Ethik 1098 b)“. Alle genaueren historischen Darstellungen der Aristotelischen Induktionsphilosophie (epago¯ge¯) erfordern freilich weitere Differenzierungen. So unterschied Aristoteles hinsichtlich der Induktion zumindest zwei Dinge, nämlich diejenige Methode, die anleiten soll, allgemeine Prinzipien zu finden sowie eine weitere Methode, um Beweise zu erbringen. 440 Vgl. C. F. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, S. 122; zwar ist die Vorstellung solcher Verallgemeinerungen juristisches Allgemeingut und Bestandteil vieler Argumente, wird aber kaum je als Induktionsproblem erkannt (übersehen etwa von Hart/ Honoré, Causation in the Law, S. 44 ff. – „causal generalizations“). 437

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Das Induktionsverfahren erweist sich also als eine sogenannte wahrheitserweiternde Schlußtechnik,441 deren logisches Zentralproblem auf die einfache Frage hinausläuft, ob man gewissermaßen mehr wissen kann, als man weiß. Die Antwort darauf fällt verneinend aus. Induktive Schlüsse können nämlich nicht „streng“ gültig sein im Sinne von absoluten Gewißheiten.442 Den wahrgenommenen Problemhintergrund des Induktionsprinzips bildet statt dessen die Einsicht in die prinzipielle Unmöglichkeit, universell gültige – also verbindliche – allgemeine Aussagen (Allsätze)443 sicher auf ein eingegrenztes Fundament singulärer Einzelerfahrungen (Es-gibt-Sätze)444 gründen zu können (Idee: „Für alle Zeiten gilt mit Sicherheit, daß die Sonne jeden Tag aufgehen wird.“).445 Gehaltserweiternde Schlüsse sollen nach Auffassung und im Rahmen der induktiven Modellvorstellung jedoch gleichwohl zu Ergebnissen führen können, die zwar nicht „absolut sicher“, aber doch – immerhin – in gewisser Weise „abgestützt“446 sind. Induktive Prognosen können danach zwar nicht als „wahr“ im Sinne von absoluter Sicherheit betrachtet werden, aber doch als mehr oder weniger wahrscheinlich. Dementsprechend werden sämtliche induktiven Schlußfolgerungen auf der Basis empirischer Einzelerfahrungen als unterschiedlich bestätigt angesehen. Diese unterschiedlichen Bestätigungsgrade der induktiven Wahrscheinlichkeiten bewegen sich innerhalb einer Spanne447 zwischen „sicher ausgeschlossen“ auf der einen Seite und „gewiß zutreffend“ auf der anderen Seite.448 Die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit ermittelter Prognosen hängt dementsprechend nach Auffassung des Induktivismus ganz wesentlich von der Anzahl der bereits beobachteten Ereignisse ab.

441 Jede Verallgemeinerung ist wahrheitserweiternd (so wird im Beispiel von einer nur endlichen Anzahl beobachteter Sonnenaufgänge auf die allgemeine Regel geschlossen, dies sei immer so). Jede allgemeine Regel betrifft unendlich viele Sachverhalte und „erweitert“ auf diese Weise die Wahrheit der endlichen Beobachtungsbasis. 442 Beispiel: Auch nach jahrtausendelanger Erfahrung kann nicht mit „absoluter“ Gewißheit angenommen werden, daß auch morgen wieder die Sonne aufgeht. 443 Dazu unten sub. § 8 III. 2. 444 Dazu unten sub. § 8 III. 3. 445 Das bedeutet, daß auch eine sehr große Anzahl von bereits beobachteten Schwänen, die alle weiß waren, nicht den sicheren Schluß darauf zuläßt, daß alle Schwäne weiß sind und in Zukunft weiß sein werden. 446 Rudolf Carnap spricht in seinem System der „induktiven Logik“ (etwa Logical Foundations of Probability, S. 43) von „degree of confirmation“. 447 Die unterschiedlichen Prognosewahrscheinlichkeiten (p) können demnach durch den Wahrscheinlichkeitskalkül ausgedrückt werden (0  p  1). 448 Insoweit wird angenommen, daß nach der Beobachtung einer Vielzahl von Schwänen, die alle weiß waren, der Schluß auf den Satz „Die überwiegende Anzahl der Schwäne ist weiß“ (Induktion) wahrscheinlicher ist als die These „Alle Schwäne sind schwarz, mit Ausnahme derjenigen, die wir bisher beobachtet haben“ (sog. Counterinduktion).

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Die etablierte Standardformel der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen kann somit zusammenfassend wie folgt formuliert werden: „[W]ie bei jeder Zukunftsprognose sind . . . verschiedene Stufen der Beurteilungssicherheit denkbar, die Teil der kognitiven Aussage sind. Der Schaden kann gewiß, wahrscheinlich, möglich oder nur nicht ausgeschlossen sein.“449

Es ist diese induktive Prämisse des Standardmodells, die dessen Problemsituation und dementsprechend alle wichtigen Folgeprobleme konzeptionell vorprägt. Aufgrund dieses charakteristischen Ansatzes kann das Standardmodell insgesamt als induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen bezeichnet werden. III. Kritik der Doktrinen Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen hat die alte Problematik der Risiken im Recht zweifellos terminologisch sehr weitgehend erschlossen.450 Die charakteristische induktive Problemrekonstruktion führt allerdings methodologisch zu unannehmbaren Konsequenzen. So sind die Argumente und Lösungsvorschläge der induktiven Theorie – vor allem ihre einzelnen Systematisierungsund Abgrenzungskriterien – nicht geeignet, normative Einzelaussagen intersubjektiv nachprüfbar und in diesem Sinne: objektiv zu erklären.451 Das Grundproblem fehlender objektiver Erklärungen kommt darin zum Ausdruck, daß jede Rechtsanwendung innerhalb des Theorierahmens der induktiven Risikodogmatik auf subjektive Akte der „Wertung“ angewiesen bleibt, die – prinzipiell jederzeit – „so oder auch anders“ ausfallen können (Kontingenzproblem). Die induktive Risikodogmatik erweist sich daher gleichermaßen als ideengeschichtlicher Hintergrund und als Quelle aller subjektivistischen Interpretationslehren (Mythos der monistischen Verschränkung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung).452 Um alle methodologisch unannehmbaren Konsequenzen der induktiven Risikodogmatik genauer darstellen zu können, sollen ihre unterschiedlichen Abgrenzungsvorschläge im folgenden einzeln behandelt werden. Unsere Kritik dieser Doktrinen berücksichtigt dabei auch weniger abstrakte Konkretisierungen der induktiven Theorie, denn am Beispiel ihrer weniger abstrakten Fassungen kann deutlicher erklärt werden, weshalb die induktive Theorie – trotz ihrer allem An449 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 67. Die entsprechende Passage läßt sich so bei allen anderen modernen Vertretern der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen nachweisen; vgl. etwa Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 27; Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 168 – „There remains in all cases [. . .] the question how unlikely a conjunction of events must be [. . .].“ 450 Ossenbühl, FS Menger, S. 731 ff.; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 98 ff. 451 Zur Objektivität als Prüfbarkeit oben sub. § 6 II. 5. 452 Oben sub. § 1 I. und § 6 III. 3.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

schein nach hohen intuitiven Plausibilität – keinen Maßstab für normative Prognoseabgrenzungen bereitstellt. Ausschlaggebend für dieses Negativurteil ist, daß die induktive Risikodogmatik diejenigen methodologischen Mindestvoraussetzungen nicht erfüllt, die ihrerseits intersubjektiv nachprüfbare Erklärungen erst ermöglichen.453 Im folgenden gilt es die These aufzustellen und zu verteidigen, daß die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen mangels Objektivität ihrer Erklärungen insgesamt als mögliche Theorie der Risikoentscheidungen im Recht verworfen werden muß. Die nachfolgenden Einzeluntersuchungen zur Uneignung der induktiven Doktrinen als Methoden der Abgrenzung gestalten dabei gleichzeitig das Anforderungsprofil für die im Anschluß daran zu entwickelnde deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen.454 1. Tautologien und Wertungen Tautologien und Wertungen scheiden als Abgrenzungskriterien jeder Risikotheorie aus. Sie liefern keinerlei intersubjektiv nachprüfbare Gehalte. Durch beide Argumentationsbehelfe kann das Fehlen objektiver Unterscheidungskriterien lediglich verdeckt werden. In der „tautologischen Variante“455 wird das Abgrenzungsproblem durch die – gegebenenfalls mehrfache – Ineinanderschachtelung von Definitionen verborgen.456 Demgegenüber weist die „wertende Alternative“ die erforderlichen Sachverhaltskategorisierungen offen als unvermeidlich subjektive Einzelfall-Konkretisierungen aus.457 Im Rahmen von Erklärungszusammenhängen normativer Einzelaussagen sind Tautologien ebenso wie Wertungen Fremdkörper, die das Fehlen objektiver Unterscheidungskriterien auf den ersten Blick der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen können. Wichtig ist deshalb eine genaue Unterscheidung zwischen objektiven Erklärungen einerseits sowie Tautologien und Wertungen andererseits. Wertung. Abgrenzungsprobleme werden üblicherweise dadurch offen als Wertungsfrage ausgewiesen, daß die Kategoriegrenzen mit eigenen Bezeichnungen versehen werden, deren Inhalte dann einzelfallabhängig konkretisiert werden sollen. Besonders exemplarisch für diese Methode ist die sogenannte 453

Oben sub. § 6 II. 3 und 4. Dazu unten sub. §§ 8, 9 und 10. 455 Siehe hierzu etwa Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 144 – „Wenn unsicher ist, ob Unsicherheit vorliegt, liegt Unsicherheit vor.“ 456 Bei jeder Definition handelt es sich um eine Tautologie, weil der definierte Ausdruck und die Definitionsformel als jeweils inhaltsgleich paarweise ersetzt werden dürfen. 457 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 82; Breuer, DVBl. 1978, S. 829 (837); Kloepfer, Technik und Recht, S. 89. 454

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„Grenze der praktischen Vernunft“,458 die Sachverhaltskonstellationen des Restrisikos von Risiko-Sachverhalten unterscheidet. In ganz entsprechender Weise ist die sogenannte „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ eines Schadenseintritts der Name der Schwelle zwischen den Kategorien Gefahr und Risiko.459 Alle Grenzbezeichnungen werden typischerweise anhand weiterer Formeln definiert, aber auch die zusätzlichen – definierenden – Formeln lösen Abgrenzungsprobleme nur dann in prüfbarer Weise, wenn sie ihrerseits intersubjektiv nachprüfbar sind. Die methodologische Problematik kann etwa daran verdeutlicht werden, daß die erklärungsbedürftige Einordnung, daß eine bestimmte Prognose „diesseits“ oder „jenseits“ der „Grenze der praktischen Vernunft“ liegt, nicht dadurch nachprüfbar wird, daß der Bereich „jenseits der praktischen Vernunft“ seinerseits definiert wird als die Gruppe derjenigen Rechtsgutsverletzungen, die „schlechterdings nicht mehr vorstellbar“ sind.460 Wertungen sind als Erklärungen für normative Einzelaussagen methodologisch deswegen untragbar, weil sie die Frage der Normgeltung subjektivieren.461 Denn falls einzelne Rechtsanwender – als „Entscheider“ – subjektiv wertend den Tatbestand einer Norm festlegen, entscheiden sie anstelle der normativen Ordnung über die Geltung der Norm. Dieser methodologischen Konsequenz kann auch nicht mit Hilfe der verbreiteten salvatorischen Klausel entgangen werden, daß subjektive Wertungen lediglich „innerhalb gewisser Grenzen“ zugelassen werden.462 Denn ohne nachprüfbare Abgrenzungskriterien können auch die Grenzen eines Wertungsspielraums nicht nachprüfbar bestimmt werden, diese Grenzen müßten also ihrerseits wertend – das heißt nichtprüfbar – durch subjektive Entscheidungen der Rechtsanwender bestimmt werden und so fort. Der stärkste Einwand gegen die Idee der „Kategorisierung durch wertende Konkretisierung“ ist die damit verbundene Festlegung auf nichtprüfbare normative Einzelaussagen.463 Jede Wertungskonzeption erhebt damit die Nicht-Erklär458

Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 82. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 105 m.w. N.; Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 193. 460 Zutreffend daher Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 267 – „[D]ie Bemessung des Restrisikos [kann] nicht als geklärt bezeichnet werden.“; auch J. Ipsen, VVDStRL 48 (1990), S. 177 (187 f.) – „keine quantifizierbare Größe“. 461 Dazu oben sub. § 1 I. und § 6 III. 3. 462 Zur methodologischen Unzulässigkeit einer Argumentation mit Beurteilungsspielräumen unten sub. § 7 III. 6. 463 Die Festlegung ergibt sich daraus, daß die Grenzbezeichnungen (sowie die dazugehörigen Definitionen) als wertende Einzelfallentscheidungen konzipiert werden, die „nicht im einzelnen nachzuvollziehen“ sind; vgl. Breuer, DVBl. 1978, S. 829 (835); dazu auch Hansen-Dix, Gefahr im Polizeirecht, S. 153; Kloepfer, Technik und Recht, S. 89; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 110; Dederer, Freisetzung, S. 77; Gusy, DÖV 1996, S. 573 (579); Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 187 und S. 259 459

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

barkeit zum Erklärungsprinzip, was methodologisch gewissermaßen als AntiMethode gekennzeichnet werden kann.464 Das vorläufige Fehlen nachprüfbarer Erklärungen kann wissenschaftstheoretisch zwar durchaus als Fehlen einer Theorie gedeutet werden. Es kann aber nicht als „Theorie der Unmöglichkeit von Erklärungen“ ausgegeben werden.465 Alle Theorien über die Unmöglichkeit von Erklärungen immunisieren sich sowohl gegenüber Widerlegungen466 als auch gegenüber jeglichem Erkenntnisfortschritt. Konkretisierung durch Wertung ist jedenfalls keine Erklärung (Methode), ganz unabhängig davon, ob der Wertungsakt – rein terminologisch – als Methode bezeichnet wird oder nicht. Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen grenzt sich von dieser Anti-Methode nicht konsequent ab.467 Ganz im Gegenteil: Sie sieht auch Wertungsergebnisse bisweilen als Erklärung für normative Einzelaussagen an.468 Wertende Abgrenzungen führen dazu, daß Rechtsanwender durch Rechtsordnungen dazu verpflichtet werden, das zu tun, was sie – aufgrund eigener Wertung – für „richtig“ halten. Hier ist der Haupteinwand die völlige Fruchtlosigkeit der Konzeption. Denn für Regelungsadressaten ändert sich nichts, falls normative Ordnungen auf solche Normbefehle verzichten.469 Zur Grundlegung einer Theorie der Risikoentscheidungen, deren Aufgabe darin liegen soll, daß normative Einzelaussagen objektiv erklärt werden können,470 leistet ein Konzept der wertenden Konkretisierung keinen Beitrag.471 – „Gefahr ist [. . .] das Ergebnis einer [. . .] Wertung“; Scherzberg, VerwArch 84 (1993), S. 484 (490); vgl. auch Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 168 – „perhaps it is impossible to state any more precise criterion than ,very unlikely‘ for those conjunctions which are inconsistent with causal connection“. 464 Methode ist das Verfahren der Erklärung (siehe oben sub. § 6 II. 1.), demnach handelt es sich bei der Festlegung auf Nichterklärbarkeit um eine Anti-Methode. 465 Zur sog. Antinomie der Erkennbarkeit der Welt vgl. oben sub. § 6 III. 4. Fn. 402. 466 Es kann keine Begründung gegen die Theorie der Unmöglichkeit von Begründungen geben, denn die Existenz von Begründungen wird durch die Theorie ausgeschlossen. 467 Hier müssen die praktische Notwendigkeit zur Entscheidung trotz (noch) fehlender theoretischer Durchdringung sowie die theoretische Suche nach solchen Kriterien unterschieden werden. Die „Anti-Methode“ der Wertung ist für die Praxis (jedenfalls vorübergehend) während eines Theoriedefizits unerläßlich. Sie führt aber obskurantistisch zu sofortigem theoretischen Stillstand, falls sie ihrerseits als Theorie mißverstanden wird. 468 Siehe bspw. Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 188 – „[Es wird deutlich], daß der Gefahrbegriff einen Wertungsbegriff darstellt, der [. . .] als [. . .] gegossenes [. . .] [R]echt erscheint.“ 469 Nichtsdestotrotz identifiziert Möstl (Öffentliche Sicherheit, S. 195) rechtsstaatliche Sicherungsmechanismen: „[. . . So ist eine] Ermächtigung [. . .] nur dann rechtsstaatlich zulässig [. . .], wenn sie an ein Tatbestandsmerkmal [. . .] gebunden wird, das [. . .] gewährleisten kann, daß [. . .] Freiheitseingriffe grundsätzlich gerechtfertigt sind.“

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen

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Tautologie. Tautologische Abgrenzungsformeln sind dadurch gekennzeichnet, daß die unterscheidungsbedürftigen Kategorien jeweils paarweise wechselseitig definiert werden können (so beispielsweise der Begriff der „Gewißheit“ unter Verwendung des Begriffs der „Ungewißheit“ und umgekehrt). Auf diese Weise sind beide Kategorien zwar exakt definiert. Sie sind aber nicht nachprüfbar anwendbar, falls nicht zumindest einer Kategorie eine unabhängig prüfbare – also objektive – Eigenschaft zugeordnet werden kann.472 Sehr eng verbunden mit tautologischen Abgrenzungsformeln ist zudem die Gefahr der Verwechslung von Fragen zweckmäßiger Terminologien einerseits mit dem Problem konzeptioneller Unterscheidung von Kategorien andererseits. Hierbei gilt, daß definitorische Bemühungen um „richtige“ Kategoriebezeichnungen die Kategorien nicht voneinander abgrenzen können, weil dazu nicht die Begriffe „exakt gefaßt“ werden, sondern die unabhängig nachprüfbaren Eigenschaften der unterschiedlichen Sachverhaltskonstellationen beschrieben werden müssen. Mit anderen Worten muß also erklärt werden, worin sich Sachverhaltskonstellationen (die etwa als „gefährlich“ bezeichnet werden mögen) unabhängig nachprüfbar von anderen Sachverhaltskonstellationen unterscheiden (die man beispielsweise als „ungefährlich“ bezeichnen mag). Falls diese objektive Erklärung gelingt, sind Bezeichnungen entbehrlich.473 Umgekehrt hilft kein noch so breiter definitorischer Konsens über den treffendsten – um nicht zu sagen: „richtigen“ – Kategorienamen weiter, solange unklar ist, wo sich die objektiven Grenzen der bezeichneten Kategorien befinden. Resümee: Unerläßlich zur Vermeidung von Mißverständnissen ist die genaue Unterscheidung zwischen konzeptionellen (theoretischen) Fragen474 einerseits und bloß terminologischen Zweckmäßigkeiten475 andererseits.476 Die methodo470

Dazu oben sub. § 6 III. 3. Die vorliegende Frage der Abgrenzung durch Wertung darf nicht mit der Frage nach dem grundsätzlichen Bestehen eines Beurteilungsspielraums verwechselt werden. Denn wenn ein Beurteilungsspielraum angenommen wird, ergeben sich die Probleme mutatis mutandis an den Grenzen des Spielraums; vgl. dazu unten sub. § 7 III. 6. 472 Mates, Elementare Logik, S. 120 f. 473 Ebensogut könnte die „Schwelle der hinreichenden Wahrscheinlichkeit“ dann auch umgetauft werden in die „Schwelle des Übergangs von Risiko zu Gefahr“ oder – beliebig – in „Schwelle A“. 474 Also Fragen der Form: „Worin unterscheiden sich X, Y, Z voneinander?“ 475 D. h. Fragen der Form: „Wie nennt man X, Y, Z günstigstenfalls, um Mißverständnisse zu vermeiden?“ 476 Mißverständlich daher das Herstellen eines Zusammenhangs zwischen der (rein konzeptionellen) „Methode der Bewältigung der jeder Prävention immanenten Ungewißheit“ (Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 188) und Begriffsexplikationen der folgenden Art: „Der Ausgleich [. . .], den der Gefahrbegriff bewirkt, kann hierbei [. . .] nur so verstanden werden, daß [. . .] ein Punkt [. . .] der optimalen Konkordanz [. . .], weder des längstmöglichen Zuwartens, noch frühestmöglichen Intervenierens [. . .] gefunden 471

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logisch schwerwiegenden Konsequenzen einer Verwechslung dieser beiden Aspekte können an folgendem Beispiel zur Abgrenzung zwischen „Unsicherheit“ und „Sicherheit“ veranschaulicht werden: „[G]anz allgemein hat es darauf anzukommen, ob eine Frage außerhalb praktisch beachtlichen Zweifels steht. Wo die Grenzlinie zu ziehen ist, mag theoretisch schwer zu sagen sein. Praktisch kommt es auf diese Frage kaum an. [Man] kann . . . von einer einfachen Zweifelsregel ausgehen: Wenn unsicher ist, ob Unsicherheit vorliegt, liegt Unsicherheit vor“.477 Nun muß die Verwendung von Tautologien zwar keineswegs kategorisch vermieden werden (das hängt vor allem damit zusammen, daß der Übergang von echten Tautologien hin zu schwachen ad hoc-Erklärungen fließend ist,478 sowie damit, daß Tautologien die Lesbarkeit von Texten im Einzelfall durchaus erhöhen können). Tautologien müssen aber kategorisch von methodologisch relevanten Erklärungen unterschieden werden. Denn als rhetorische Mittel können Definitionen nur zweckmäßig oder unzweckmäßig sein. Erklärungen sind demgegenüber richtig oder unrichtig. Begriffliche „Auflösungen“ echter konzeptioneller Probleme sind deshalb undurchführbar. Tautologien erwecken bei diesem Versuch bestenfalls den Anschein von erklärenden Abgrenzungen.479 2. Induktives Verfahren Die induktive Prämisse der Standarddogmatik der Risikoentscheidungen geht einher mit dem vollständigen Fehlen „des induktiven Verfahrens“ in den Naturwerden soll.“ (Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 188); dieser letzte Satz stellt keine Methode der Bestimmung einer Gefahrschwelle dar, sondern umschreibt ein Ziel, das nur mittels geeigneter Methoden gegebenenfalls erreicht werden kann. 477 Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 144; diese Ausführungen können so ergänzt werden, daß „Unsicherheit“ a fortiori auch dann vorliegen muß, wenn „sicher“ ist, daß „Unsicherheit“ vorliegt. Somit verbleiben in der Kategorie „Sicherheit“ nur diejenigen Sachverhalte, die „sicher“ nicht „unsicher“ sind; der Kreis schließt sich. Ein etwas komplizierteres weiteres Beispiel hinsichtlich der Frage, „in welcher Weise die vom Gefahrbegriff geforderte Wahrscheinlichkeitsschwelle [. . .] zu bemessen ist“ (Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 186) liefern die folgenden Ausführungen: „Der Gefahrbegriff ist [. . . ein] Rechtsmaßstab dafür [. . .], ob der Eintritt eines Schadens [. . .] als wahrscheinlich genug erscheint, um [. . .] einen Gefahrenabwehreingriff zu rechtfertigen (Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 186).“ Auch hier findet sich wieder dieselbe (tautologische) Argumentationsstruktur. Denn erstens soll nur bei hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Gefahr angenommen werden. Zweitens soll nur als hinreichend wahrscheinlich angesehen werden, was einen Gefahrenabwehreingriff rechtfertigt. Damit lautet die Antwort in Thesenform, daß eine Gefahr bei einem Sachstand angenommen werden soll, der einen Gefahrenabwehreingriff rechtfertigt. 478 Zum Begriff der ad hoc-Erklärungen unten sub. § 8 IV. 2. 479 Sie sind Grundlage des methodologischen Essentialismus, der es für das Ziel der Wissenschaft hält, Wesenheiten zu enthüllen und mit Hilfe von Definitionen zu beschreiben (den Gegensatz dazu bildet der methodologische Nominalismus); vgl. ausführlich Popper, Offene Gesellschaft I, S. 39 ff.

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen

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wissenschaften. Daraus ergibt sich für den ganzen induktiven Theorierahmen die interessante Problematik einer unvermeidbaren Abhängigkeit von nichtexistenten Erklärungsbestandteilen. Sämtliche Varianten der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen kombinieren ihre Gefahrprognosen mit spezifischen Wahrscheinlichkeitswerten (sogenannten Beurteilungsgewißheiten), auf deren Grundlage die jeweils zutreffende Prognoseauswahl vorgenommen werden soll.480 Dessen ungeachtet hat jedoch bislang noch keine wissenschaftliche Disziplin – insbesondere keine der naturwissenschaftlichen Fachrichtungen – irgendwelche induktiven Verfahren zur Bestimmung von Prognosewahrscheinlichkeiten entwickelt.481 Keine einzige Naturwissenschaft verfügt über Wahrscheinlichkeitswerte für die von ihr selbst formulierten Naturgesetze. Mit anderen Worten: Keine einzige Wissenschaft kann den von ihr aufgestellten Gesetzmäßigkeiten irgendeine objektiv erklärbare Wahrscheinlichkeit zuweisen. Obwohl die Verwendung von Prognosewahrscheinlichkeiten für die Konzeption der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen von fundamentaler Bedeutung ist – Prognosewahrscheinlichkeiten sind gewissermaßen das induktive Schlüsselkriterium zur Klassifizierung aller Gefahrenkonstellationen482 –, geht die induktive Dogmatik nicht näher auf die Frage ein, auf welche Weise die für sie so wichtigen Prognosewahrscheinlichkeiten bestimmt werden sollen. Daraus ergibt sich methodologisch folgende empfindliche Verschärfung der ohnedies bereits problematischen Abgrenzungen durch Wertung.483 Konzeptionsimmanent müssen Prognosewahrscheinlichkeiten „hinreichend hoch“ sein, um innerhalb der induktiven Theorieansätze Gefahrurteile zu rechtfertigen. Dabei wird die Antwort auf die Frage, welcher Wahrscheinlichkeitsbetrag in diesem Sinne „hinreichend“ hoch ist, den Einzelwertungen der Rechtsanwender überlassen. Darüber hinaus bleiben auch die beiden weiteren – naheliegenden – Fragen, wie und von wem diese Prognosewahrscheinlichkeiten überhaupt zu ermitteln sind, ganz offen.484 Das kann mit anderen Worten auch so verstanden werden, daß der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen nicht nur der Maßstab,485 sondern auch die beurteilten Gegenstände fehlen.486 480

Vgl. dazu oben sub. § 7 II. Dennoch wird das häufig geglaubt, vgl. etwa Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, S. 5. 482 Vgl. oben sub. § 7 I. und II. 483 Oben sub. § 7 III. 1. 484 Diejenigen Autoren, die das Problem behandeln, knüpfen freilich ausdrücklich an den Induktivismus an; anschaulich etwa Darnstädt, der auf die „von der Wissenschaftstheorie [her] bekannte Explikation von „Wahrscheinlichkeit“ als „induktive Wahrscheinlichkeit“ (Gefahrenabwehr, S. 46)“ verweist. Die Wissenschaftstheorie verfügt jedoch nicht über derlei Explikationen. 485 D. h. die entscheidenden „Grenzwahrscheinlichkeiten“. 486 Dies hängt damit zusammen, daß die zu beurteilenden Prognosewahrscheinlichkeiten nicht existieren. Inhaltliche Gehalte der induktiven Dogmatik der Risikoent481

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Der deklaratorische Hinweis auf das Fehlen „induktiver Verfahren“ in den Naturwissenschaften sollte freilich nicht mißverstanden werden. Natürlich ist es nicht die Aufgabe juristischer Theoriebildung, sämtliche für die Bewertung empirischer Sachverhaltskonstellationen erforderlichen Erkenntnisse neu und eigenständig zu entwickeln. Methodologisch vollkommen unproblematisch – und zudem in der Praxis oft erforderlich – ist es statt dessen, die Lösungen für spezifische Erkenntnisprobleme den jeweils sachverständigen Fachwissenschaften zu entnehmen.487 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen geht von solchermaßen verfügbaren „vorfindlichen Lösungsvorschlägen“ aus, indem sie Prognosewahrscheinlichkeiten – gewissermaßen wie Blutalkoholkonzentrationen, Schadstoffimmissionswerte oder radioaktive Zerfallsraten – für prinzipiell durch Experten feststellbare objektive Größen hält. Eine Kritik dieser induktiven Modellvorstellung berührt nicht die erkenntniszusammenführende Kooperation mit externen Fachwissenschaftlern als solche. Der Einwand ergibt sich – ganz einfach – aus der davon zu unterscheidenden Tatsache, daß „induktive Wahrscheinlichkeitswissenschaftler“ in der Wirklichkeit außerhalb induktiver Risikotheorien schlichtweg nicht existieren. Kurz gesagt: Das induktive Verfahren ist weder eine einzelwissenschaftliche Methode,488 noch eine sonstige, irgendwie objektiv feststellbare Größe. Die Frage nach Prognosewahrscheinlichkeiten kann also deswegen nicht mit Hilfe von Sachverständigen beantwortet werden, weil sich diese Problematik möglichen Erkenntnissen von Sachverständigen verschließt. scheidungen können damit in diesem Punkt vollständig ausgeschlossen werden: wenn p(Prognose)  hinreichende Wahrscheinlichkeit sein muß, setzt das die (normative) Bestimmbarkeit der hinreichenden Wahrscheinlichkeiten sowie geeignete Verfahren zur Ermittlung von p(Prognose) voraus. Ersteres soll innerhalb der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen durch Einzelwertung der Rechtsanwender geschehen. Die Art und Weise, in der letzteres bewältigt werden soll, wird gar nicht beschrieben. 487 Zur sog. Risikoentscheidung im wissenschaftlichen Meinungsstreit unten sub. § 8 III. 2. a). 488 Die führenden Induktionstheoretiker gestehen das auch ausdrücklich ein: Carnap/Stegmüller, Induktive Logik, S. IV – „Das System [der induktiven Logik] läßt sich vorläufig noch nicht auf den gesamten Bereich der wissenschaftlichen Sprache mit ihren quantitativen Größen, wie Masse, Temperatur usw., anwenden, sondern nur auf eine viel einfachere Sprache (entsprechend dem, was niedere Funktionslogik genannt wird, einschließlich der Theorie der Relationen und der Identität) [. . .].“; noch deutlicher insbesondere Carnap, Logical Foundations of Probability, S. 194 f. – „Given: a sentence e as evidence; wanted: a hypothesis h which is highly confirmed by the evidence e and suitable for a certain purpose. For instance, a report concerning observations of certain phenomena on the surface of the sun is given; a hypothesis concerning the physical state of the sun is wanted which, in combination with accepted physical laws, furnishes a satisfactory explanation for the observed facts. [. . .] There is no effective procedure for solving these problems; that is the point emphasized by Einstein and Popper, as mentioned above.“; vgl. dazu ferner Russel, Problems, S. 41 ff. (48); Poser, Wissenschaftstheorie, S. 110 f.

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen

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Es ist unverständlich, daß eine Risikotheorie ihr fundamentales Unterscheidungskriterium von einer Größe abhängig machen möchte, die niemand objektiv feststellen kann. Ganz im Gegenteil: Auch von (selbsternannten) „Sachverständigen“ ist auf Fragen dieser Art nichts anderes zu erwarten als unverantwortliche Wahrsagerei.489 Der eindeutige Negativbefund hinsichtlich wissenschaftlicher induktiver Verfahren ist mit der Kernprämisse der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen unvereinbar. Allerdings scheint die Anerkennung der schlichten Nichtexistenz induktiver Prognosewahrscheinlichkeiten in so hohem Maße kontraintuitiv zu sein, daß die epistemologisch gegenteilige These im Alltagsverständnis geradezu Allgemeingut werden konnte. Diese falsche Idee wurde dann unkritisch in die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen übernommen und dabei nicht weiter hinterfragt: „Im Grunde einhellig wird unter Gefahr eine Sachlage verstanden, in der . . . mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einem Schaden . . . zu rechnen ist.“490

Der richtige – wenn auch kontraintuitive – empirische Befund der Nichtexistenz induktiver Verfahren in der Wissenschaft ist für die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen außerordentlich problematisch, weil sie in Form der Prognosewahrscheinlichkeiten fortwährend auf Informationen angewiesen ist, die sie weder selbst ermitteln, noch durch interdisziplinäre Anhörungen oder Befragungen von Sachverständigen beschaffen kann.491 3. Induktive Wahrscheinlichkeiten Unser empirischer Hinweis auf die Nichtexistenz induktiver Prognoseverfahren in den existierenden Wissenschaften bedeutet unter anderem, daß normative Einzelaussagen auf Grundlage der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidun489 Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 140 (Fn. 514), verweist auf das folgende, auch seiner Einschätzung nach „interessante Beispiel“, freilich ohne aus dem interessanten Befund dogmatische Konsequenzen zu ziehen: Das Bundesverfassungsgericht wurde in seinem Verhandlungsunfähigkeitsbeschluß (E 51, 324 [331]) mit Sachverständigen konfrontiert, die sich zur Wahrscheinlichkeit eines möglichen Schlaganfalls des Angeklagten während der Durchführung einer Hauptverhandlung äußerten; die drei Sachverständigen urteilten „nicht wahrscheinlich“, „mehr als 50%“ und „Wahrscheinlichkeit von mehr als 25%“. Das Beispiel belegt sehr deutlich, daß, solange Gerichte nach Prognosewahrscheinlichkeiten fragen, wohl stets „Experten“ auftreten werden, die solche Wahrscheinlichkeiten behaupten, und zwar unabhängig davon, ob sie über die dafür erforderliche induktive Methode verfügen oder nicht. 490 Hierzu nur Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 162, der darauf hinweist, daß die grundlegenden Konturen des Gefahrbegriffs in einer „langen Begriffsgeschichte“ geklärt werden konnten. 491 Grundsätzlich zur Funktion von Sachverständigen im Rahmen von „Risikoentscheidungen“ siehe unten sub. § 8 III. 2. a).

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

gen bislang nicht objektiv erklärbar sind.492 Daraus könnte der falsche Eindruck entstehen, daß das Problem der Feststellung von Prognosewahrscheinlichkeiten gleichwohl lösbar wäre, sofern nur zukünftig ein geeignetes – also objektives – Beurteilungsverfahren für Prognosewahrscheinlichkeiten entwickelt würde.493 Mit anderen Worten stellt also der empirische Einwand die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen scheinbar lediglich unter den Vorbehalt zukünftiger Perfektionierungen des induktiven Verfahrens. Dieser Vorbehalt ist jedoch endgültig, denn induktive Wahrscheinlichkeitsschlüsse sind aus logischen Gründen unmöglich, die nichts mit praktischen Umsetzungsschwierigkeiten zu tun haben. Infolgedessen wird auch zukünftig kein objektives Verfahren entwickelt werden können, das die für alle induktiven Einzelkonzepte unerläßlichen Prognosewahrscheinlichkeiten intersubjektiv nachprüfbar ermittelt. Das vermeintlich „praktische“ Problem der Nichtexistenz induktiver Verfahren kann als Folge eines theoretischen Webfehlers der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen gedeutet werden. Denn die logische Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse führt zur Unannehmbarkeit der zentralen Prämisse der induktiven Risikodogmatik. Die theoretisch erklärbare logische Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse kann – anders als das empirische Argument494 – nicht unter einen Praxisvorbehalt gestellt werden. Wegen dieser grundsätzlichen Konsequenz ist das Argument von herausragender Bedeutung. Sein größter Schwachpunkt ist eine gewisse Abstraktheit. Zudem widerspricht die logische Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse sehr verbreiteten intuitiven Anschauungen der Epistemologie des Alltagsverstandes, was einerseits die Abstraktheit des erforderlichen Gedankengangs bedingt und andererseits die – noch immer erstaunlich hohe – Akzeptanz der induktiven Theorie erklärt. Die nachfolgenden Einzelerwägungen gehören einem speziellen Zweig der Erkenntnistheorie an und somit einem Teilgebiet der allgemeinen Methodenlehre495, das bisher weder den Ruf genießen konnte, besonders anschaulich zu sein, noch jemals den Charakter hatte, einfache Plausibilitätsüberlegungen zu kontrastieren. So wird gerne daran erinnert, daß auf diesem Gebiet bereits David Hume die eigenen Schlußfolgerungen zu abstrakt, abstrus und irrelevant für

492 Dazu oben sub. § 6 III. 3.; apodiktische Urteile unter Berufung auf diese Dogmatik sind damit freilich nicht ausgeschlossen. 493 So lautet tatsächlich der die Auffassung von Carnap (vermittelt über Stegmüller) rezipierende Vorschlag von Darnstädt, Gefahrenabwehr, S. 60 – Die eigentliche Aufgabe läge darin, eine „induktive Logik“ zu errichten. 494 Oben sub. § 7 III. 2. 495 Zur Methodologie siehe oben sub. § 6 II.

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen

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das wirkliche Leben erschienen, daß er nicht ernsthaft erwartete, daß auch nur einer seiner Leser ihm länger als eine Stunde Glauben schenken werde.496 Da jedoch Auswirkungen auf das „wirkliche Leben“ bekanntlich immer davon abhängen, inwieweit theoretische Überlegungen intersubjektiv verstanden werden, sollen diese Auswirkungen hier nicht beurteilt werden. Das Argument der Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse ist jedenfalls zweifellos relevant als Nachweis der Unannehmbarkeit der induktiven Prämisse. Darüber hinaus betrifft es wesentliche theoretische Grundlagen jedes vollständigeren Verständnisses der Theorie der Risikoentscheidungen.497 Das Problem induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse, das auch als Induktionsproblem498 oder „Humes Problem“ (Popper) diskutiert wurde, hängt sehr eng zusammen mit dem Problem sogenannter wahrheitserweiternder Schlüsse, man kann auch sagen: mit gültigen Verallgemeinerungen. Induktive Schlüsse versuchen – anders als Deduktionen499 – von besonderen Einzelereignissen (Sätzen) auf allgemeine Regelmäßigkeiten (Sätze) zu schließen. Induktive Wahrscheinlichkeitsschlüsse bezeichnen demnach Schlüsse der folgenden Art: „Alle Schwäne, die bisher gefunden wurden, waren weiß. Also sind wahrscheinlich alle Schwäne weiß.“ Nun sind induktive Schlüsse niemals gültig im Sinne von „völlig sicher“, denn es besteht immer die Möglichkeit, zukünftig auf neue, überraschende Ergebnisse zu stoßen.500 Konsequenterweise wird die Idee induktiver Prognosewahrscheinlichkeiten deshalb üblicherweise so formuliert, daß Induktionen, wenn auch nicht völlig sicher, so aber doch mehr oder weniger wahrscheinlich sein können.501 Mit anderen Worten soll also mit Hilfe (hypothetischer502) 496 Dazu Popper, Vermutungen, S. 4; vgl. ähnlich (zu erkenntnistheoretischen Überlegungen Humes und Mills) auch Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 13 – „[this] treatment is on a level of generality which is au-dessus de la mêlée of the lawyer“. 497 Die überragende Bedeutung dieser Grundlagen wird meist vollkommen unterschätzt, etwa bei Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 14 f. – „Even on the broadest interpretation of legal philosophy, the truth and status of the belief in universal causation seems a problem which may be safely left outside it, except perhaps when the moral foundations of criminal responsibility are under scrutiny [. . .]. [. . . L]ittle of this makes contact with lawyer’s special problems about causal connection.“; siehe ebenso die Einschätzung von Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 143 f. 498 Vgl. zum „Irrgarten“ des Induktionsproblems etwa Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 183. 499 Beispiel: Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich. Siehe unten sub. § 8 III. 1. 500 Diese (erste) Erkenntnis wird auch nicht von den Vertretern der induktiven Dogmatik bezweifelt. 501 C. F. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, S. 248; so auch schon der klassische Empirismus Francis Bacons, der die Induktion als wichtiges Verfahren zur Erzielung „mittelbarer“ Erkenntnis herausstellte, die von Beobachtungen „auf richtiger, stetiger Stufenleiter erst zu den niedrigsten Grundsätzen, dann höher zu den mittleren

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Theorien induktiver Wahrscheinlichkeiten konkreten Einzelvermutungen – etwa „Alle Schwäne sind weiß.“ oder „Der nächste Schwan, der gefunden wird, wird weiß sein.“ – auf der Grundlage begrenzter empirischer Erfahrungen – etwa der Untersuchung aller Schwäne in Europa – ein Wahrscheinlichkeitswert zwischen 0 und 1 zugeordnet werden können.503 Die These von der logischen Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse bedeutet in diesem Zusammenhang, daß induktive Schlüsse nicht lediglich „nicht wahr“ im Sinne von gültig sind, sondern, daß sie darüber hinaus auch „nicht wahrscheinlich“ im Sinne eines Wahrscheinlichkeitskalküls sein können.504 Die theoretische Erklärung der Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse ist mehrgliedrig und dabei leider nicht sonderlich anschaulich. Sie muß inhaltlich vor allem dann vollständig nachvollzogen werden, wenn anderenfalls intuitiv an die Wahrheit der induktiven Prämisse geglaubt wird. Mit Blick auf ein eher nachvollziehendes Verständnis möglicher Theorien der Risikoentscheidungen im Recht genügt demgegenüber notfalls auch die Anerkennung des Ergebnisses, also die Einsicht in die Unannehmbarkeit der induktiven Prämisse. Kurz: Es geht um das Resultat, daß Prognosewahrscheinlichkeiten nicht objektiv begründet werden können,505 sowie darum, daß deshalb alle Theorien der und erst zuletzt zu den allgemeinsten emporsteigt“ (Neues Organon der Wissenschaften, I. Buch, 104. Aphorismus, S. 78 f.). 502 Zur empirischen Nichtexistenz des induktiven Verfahrens oben sub. § 7 III. 2. 503 Vgl. oben sub. § 7 I. und II.; siehe ferner Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 156 f. 504 Das Problem faßt Popper wie folgt zusammen: „Aber induktive Schlüsse sind in diesem Sinne nie gültig. Wie können dann die „guten“ (Alle Schwäne, die wir beobachtet haben, sind weiß – Konklusion: Alle europäischen Schwäne sind weiß) von den „schlechten“ (Prämisse wie vorher – Konklusion: Alle Schwäne sind schwarz mit der Ausnahme derer, die wir beobachtet haben) unterscheiden? Antwort. Durch die Wahrscheinlichkeitstheorie. Sie macht die (mehr oder weniger) guten Induktionen oder Generalisationen wahrscheinlicher als die (mehr oder weniger schlechten). So schien es. Aber es ist eben nicht wahr. Und wie wir gesehen haben, läßt es sich sogar widerlegen (Logik der Forschung, S. 451 f.)“. Popper zieht daraus die eindeutige Konsequenz: „Das alte Wissenschaftsideal, das absolut gesicherte Wissen [episte¯me¯], hat sich als ein Idol erwiesen. Die Forderung der wissenschaftlichen Objektivität führt dazu, daß jeder wissenschaftliche Satz vorläufig ist. Er kann sich wohl bewähren – aber jede Bewährung ist relativ, eine Beziehung, eine Relation zu anderen, gleichfalls vorläufig festgesetzten Sätzen. Nur in unseren subjektiven Überzeugungserlebnissen, in unserem Glauben, können wir ,absolut sicher‘ sein (a. a. O., S. 225 [Hervorhebung im Original]).“ 505 Damit sind subjektive Interpretationen im Ergebnis nicht ausgeschlossen. So kann etwa ein Rechtsanwender persönlich durchaus mehr oder weniger überzeugt sein von der Richtigkeit seiner Prognose. Unmöglich ist jedoch eine rational-objektive (intersubjektive) Erklärung derlei subjektiver Überzeugungen; vgl. dazu auch Russel, History of Western Philosophy, S. 646.

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen

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Risikoentscheidungen im Recht auf Prognosewahrscheinlichkeiten verzichten müssen, sofern ihre Erklärungen intersubjektiv nachprüfbar sein sollen. Der nachfolgende Gang der Erklärung folgt einer berühmten Darstellung Karl Poppers über die Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse (aus: Logik der Forschung, S. 431 ff.). Diese ist eine von vielen Möglichkeiten, die Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse zu entwickeln. Ausdrücklich hervorzuheben ist, daß es sich dabei nicht um eine von mehreren konkurrierenden Meinungen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse handelt, sondern um eine Widerlegung derjenigen Konzepte, die am induktiven Ansatz festhalten wollen. Die Lösung des Humeschen Problems induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse kann also eindeutig formuliert werden in Form einer Negativantwort: Induktive Wahrscheinlichkeitsschlüsse sind unmöglich.506 Die Erklärung verwendet Theorien507 (abgekürzt t) sowie Randbedingungen508 im Sinne von Sätzen über die „empirische Erfahrung“ (abgekürzt b). Die Wahrscheinlichkeit (abgekürzt p) einer bestimmten Theorie t aufgrund von gegebenen Randbedingungen b – das heißt also den empirischen Tatsachen der Vergangenheit – kann mit …1†

p…t; b†

bezeichnet werden. Der Ausdruck p…t; b† steht dabei für die Wahrscheinlichkeit, daß die Theorie t wahr ist, sofern die Bedingungen b als „sichere Tatsachen“ angesehen werden. Gemäß dem Kalkül der Wahrscheinlichkeitsrechnung folgt daraus, daß der Wahrscheinlichkeitswert von t nicht kleiner als 0 und nicht größer als 1 liegen kann. Dabei entspricht der numerische Wert 0 der „sicheren Unwahrheit“ von t, die Theorie wäre also bei gegebenen Randbedingungen b gewiß unrichtig. Umgekehrt steht der Wert 1 für die sichere Wahrheit von t, bei gegebenen Randbedingungen b wäre die Wahrheit der Theorie also mit Gewißheit erwiesen. Dementsprechend gilt also, daß

506 Popper, Logik der Forschung, S. 431 ff., betrachtet seinen – hier vollständig wiedergegebenen – Beweis der Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse keineswegs als neu, sondern schreibt ihn den Vorsokratikern zu. Popper (Vermutungen, S. 38) übersetzt namentlich Xenophanes wie folgt (Die Fragmente, F 18 und 34): „Keineswegs haben die Götter von Anfang an alles den Sterblichen aufgezeigt, sondern mit der Zeit finden sie suchend Besseres vor. Und das Genaue hat nun freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch niemanden geben, der es weiß über die Götter und alles, was ich sage. Denn wenn es ihm auch im höchsten Grade gelingen sollte, Wirkliches auszusprechen, selbst weiß er es gleichwohl nicht. Für alles gibt es aber Vermutung.“ 507 Zu Theorien als „allgemeinen Sätzen“ unten sub. § 8 III. 2. 508 Zu „Rand-“ bzw. „Anfangsbedingungen“ unten sub. § 8 III. 3.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

…2†

0  p…t; b†  1:

Weiter folgt daraus für die Negation der Theorie t – also für t (gesprochen: „nicht-t“) – ein komplementärer Wahrscheinlichkeitswert, da die Wahrscheinlichkeit dafür, daß entweder t oder  t wahr sind, gleich 1 ist. Also gilt immer, daß p…t; b† ˆ 1

…3†

p…t; b†:

Wissenschaftlich interessante und damit möglicherweise zurechnungsrelevante Theorien – also Theorien mit „hinreichend hohen Wahrscheinlichkeiten“ – müssen deswegen immer wesentlich größer sein als p = 1/2. Denn falls im Einzelfall von einem Wahrscheinlichkeitswert …4†

p…t; b† < 1=2

ausgegangen wird, bedeutet das nichts anderes, als daß die konkret untersuchte Theorie t vor dem Hintergrund der empirischen Erfahrungen b unwahrscheinlicher ist als ihre Negation, t ist also in einem solchen Fall unwahrscheinlicher als t. Daraus ergibt sich, daß t die „bessere“ (weil „wahrscheinlichere“) Theorie ist, die Verwendung von Theorie t also gewiß nicht mit einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ von t begründet werden kann. Nun gilt außerdem im Rahmen des allgemeinen Kalküls der Wahrscheinlichkeitsrechnung, daß die numerischen Wahrscheinlichkeitswerte aller theoretisch gleichzeitig möglichen Theorien, deren jeweilige Wahrheit paarweise deswegen ausgeschlossen werden kann, weil sich die unterschiedlichen Theorien untereinander (bei gleichzeitig gegebenen Randbedingungen b) logisch widersprechen, insgesamt addiert nicht den Wert 1 überschreiten. Das bedeutet mit anderen Worten, daß für zwei oder mehrere miteinander paarweise unvereinbare Theorien …t1 ; t2 ; t3 ; . . . tn † die summierten Gesamtwahrscheinlichkeiten nicht größer als 1 sind. Danach ist also, …5†

n X ; p…ti ; b† ˆ p…t1 ; b† ‡ p…t2 ; b† ‡ p…t3 ; b† ‡ . . . ‡ p…tn ; b†  1 : iˆ1

Dieser Zusammenhang kann so interpretiert werden, daß die jeweils anzunehmenden Einzelwahrscheinlichkeiten der Theorien bei zunehmender Gesamtanzahl gleichzeitig möglicher Theorien immer weiter gegen Null sinken. Theoretisch ist es allerdings immer möglich, für jede beliebige empirische Erfahrungsgrundlage b unendlich viele gleichzeitig „passende“ Theorien zu formulieren, die sich – vor der Erfahrungsgrundlage b – paarweise logisch ausschließen.509 Das gilt ganz unabhängig vom Gesamtumfang der empirischen Er-

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen

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fahrung, zusätzliche Erfahrungstatsachen machen eine Erfahrungsgrundlage also keineswegs eindeutiger.510 Alle diese gleichzeitig formulierbaren Theorien sind jeweils für sich mit den identischen empirischen Tatsachen der Vergangenheit vereinbar.511 Sie passen also jeweils zu den Randbedingungen b und widersprechen sich dennoch untereinander. Wenn somit alle n gleichzeitig formulierbaren Theorien durch b in ganz ähnlicher Weise „gestützt“ werden können, ergibt sich folgende Relation: …6†

p…t1 ; b†  p…t2 ; b†  p…t3 ; b†  . . .  p…tn ; b†  1=n:

Der Wahrscheinlichkeitswert für jede einzelne der zu b passenden Theorien konvergiert somit gegen Null, sofern n gegen 1 (Unendlich) läuft. Jede einzelne dieser n Theorien ist daher sehr unwahrscheinlich; und wenn die Anzahl der Theorien weiter erhöht wird, was immer möglich ist, kann gezeigt werden, daß sich die Wahrscheinlichkeit jeder passenden und „durch b bestätigten“ Theorie beliebig weiter verkleinert, also beliebig nahe an Null liegt.512 Theorien sind somit aus demselben Grund, der ihre Verifizierbarkeit ausschließt, auch nicht durch eine beliebige empirische Erfahrungsgrundlage zu „bestätigen“. Alle Theorien behaupten sehr viel mehr über die Wirklichkeit, als man je verifizieren oder bestätigen könnte.513 Diese Erklärung ist eines der entscheidenden Argumente gegen die wissenschaftliche Verwendung von wahrscheinlichkeitstheoretischen Induktionsmodel509 Als historische Beispiele führt Popper (Logik der Forschung, S. 432) ein breites Spektrum physikalischer Gravitationstheorien an, das die abstrakte Möglichkeit des Theorien-Pluralismus praktisch besonders deutlich sichtbar werden läßt: So steht t1 für die heliozentrische Hypothese in der Form, in der sie Galileo Galilei vertreten konnte; t2 ist Johannes Keplers Form mit der Sonne im gemeinsamen Fokus von genau elliptischen Planetenbahnen; t3 ist Keplers Form mit dem Schwerpunkt des Systems im gemeinsamen Fokus; t4 steht für Isaac Newtons Form (einschließlich seiner Störungstheorie); t5 ist die Theorie verbunden mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie. 510 Zu der damit eng verbundenen Idee der empirischen Absicherung unten sub. § 9 I. 3. b). 511 Vor dem Hintergrund der gegenwärtig vorliegenden Erfahrungsgrundlage sind die älteren Gravitationstheorien des historischen Beispiels oben in Fn. 509 (vorläufig) widerlegt. 512 So der Gedankengang bei Popper, a. a. O., der sich vielleicht weiter zuspitzen läßt aufgrund der Zwischenaussage in (4). Denn wenn jede ernstzunehmende Einzeltheorie für sich bereits wahrscheinlicher ist als 1/2 – was der Fall ist, denn sonst wäre sie keine ernsthafte Theorie (ihr Negat wäre besser) – folgt daraus bereits ein einfacher Widerspruch zu dem Befund, mehr als eine Theorie gleichzeitig anzuerkennen. In diesem Sinne findet sich das Argument in Popper, Realismus, S. 396 f.; zu diesem Wahrscheinlichkeitswert (Null) jeder Theorie kommt auch Carnap, Logical Foundations of Probability, S. 571 (12). 513 Popper, Vermutungen, S. 408.

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len, unabhängig davon, ob sie nun „objektivistisch“ oder „subjektivistisch“ interpretiert werden.514 Kurzum: Die Induktion als Idee gültiger Verallgemeinerungen ist, wie David Hume klar erkannte, eine Fiktion.515 Gleichzeitig mit Verabschiedung der alten Induktionsidee entfällt auch die kanonisierte Frage nach der dogmatischen Vorzugswürdigkeit subjektiver oder objektiver (Gefahr-)Prognosewahrscheinlichkeiten.516 Die Diskussion darüber ist deswegen so fruchtlos geblieben, weil Prognosewahrscheinlichkeiten immer nur intuitionistisch festgelegt werden können und sich daher – als intuitionistische Aussagen – der wissenschaftlichen Objektivität sowie intersubjektiver Nachprüfbarkeit entziehen.517 Weder „subjektive“, noch sogenannte „objektive“ Gefahrprognosewahrscheinlichkeiten bereichern mögliche Dogmatiken der Risikoentscheidungen im Recht, sofern nachprüfbare Erklärungen beabsichtigt sind.518 Keinen relevanten Einwand gegen diese epistemologisch zu erklärende Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse liefern die älteren – mitunter noch anzutreffenden – rein terminologischen Klassifizierungsversuche der Rechtswissenschaft als „Normwissenschaft“519. Die Beschwörung eines methodologischen Selbststands der Rechtswissenschaft gegenüber allen übrigen Wissenschaften widerlegt nicht die Unrichtigkeit des Arguments, sondern appelliert daran, die Kritik zu übergehen.520 Die Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse hat jedoch nichts zu tun mit Namen oder Klassifizierungen einer – wie auch immer verstandenen – Rechtswissenschaft. Das Induktionspro514 Nicht verwendbar sind damit in diesem (!) Zusammenhang die verschiedenen Versionen der Bayesschen Wahrscheinlichkeitsheorie, denn die induktive Wahrscheinlichkeitstheorie nach Bayes interpretiert Wahrscheinlichkeiten als Grad des Glaubens (credence) bzw. der Glaubwürdigkeit. Sie geht dabei davon aus, daß der Fall der Sicherheit bei Theorien nicht erreichbar ist, ihr Ideal sind statt dessen hohe Wahrscheinlichkeiten. Zu „Theorie und Wahrscheinlichkeitsaussage“ unten sub. § 8 III. 2. b) sowie zum Verhältnis zwischen Bewährungsgrad und induktiver Prognosewahrscheinlichkeit unten sub. § 9 I. 3. a). 515 David Hume, A Treatise of Human Nature, Vol. I, Part III, Section VI: Of the Inference from the Impression to the Idea, S. 61 ff. 516 Neuerdings wieder umfassend zu diesem Thema Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 164 ff. m.w. N., 660 f. 517 Vgl. oben sub. § 6 III. 3. 518 Siehe oben sub. § 6 III. 1. 519 Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 9; Esser, Grundsatz und Norm, S. 314. 520 Der Einwand ist klassisch und soll die Rechtswissenschaft gegenüber naturwissenschaftlichen sowie philosophischen Erkenntnissen abschirmen; vgl. dazu Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 9 ff. Es fehlt dabei auch nicht an geistreichen Beispielen dafür, zwischen „philosophischen“, „wissenschaftlichen“ bzw. „alltagssprachlichen“ Kausalitätsbeschreibungen zu unterscheiden (vgl. dazu etwa die Darstellung bei Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 21, behandelt am Beispiel von John Stuart Mill; ferner Lepsius, Steuerungsdiskussion, S. 31 ff.). Man darf diese Replik im Kern als „Schneewittchen-Effekt“ bezeichnen: Der Spiegel, der Unerwünschtes zeigt, wird abgehängt.

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blem betrifft statt dessen ganz allgemein die Gültigkeit von Verallgemeinerungen, die innerhalb von beliebigen Erklärungszusammenhängen verwendet werden. Auch das „Argument der normativen Wissenschaft“ beruht letztlich auf einer Konfusion zwischen den Gegenständen der Interpretation (den normativen Ordnungen an sich) und deren möglichen Interpretationen (den Erklärungszusammenhängen).521 Das methodologische Konzept der induktiven Wahrscheinlichkeiten ist zwar eine denkbare – wenn auch falsche – Interpretation normativer Ordnungen. Als Interpretation ist sie jedoch nicht Bestandteil irgendeiner normativen Ordnung an sich.522 Zusammenfassung: Induktion ist keine methodologisch annehmbare Form der Verallgemeinerung. Ein Grund dafür ist, daß es bis heute keine Theorie der Induktion gibt. Insbesondere existiert keine Theorie der Induktion, die sagt, was eigentlich gültige induktive Formen dieses Schlußverfahrens sind und was nicht.523 Darüber hinaus sind induktive Verallgemeinerungen jedenfalls niemals objektiv. Alle intuitiv als plausibel wahrgenommenen „anscheinend induktiven Schlüsse“ stellen sich stets entweder als ungültige524 Fehlschlüsse heraus oder sie sind konjektural deduktiv525 rekonstruierbar. 4. Ähnlichkeit Ähnlichkeiten zwischen Sachverhaltskonstellationen kommen als Abgrenzungskriterien ebenfalls nicht in Betracht.526 Vielmehr sind Ähnlichkeiten (ebenso wie „Unähnlichkeiten“) immer erst das Ergebnis von Unterscheidungs521

Zu dieser Unterscheidung oben sub. § 6 II. Vgl. die Differenzierung bei Soper, Legal Theory and the Obligation of a Judge, S. 3; deshalb richtet sich die hier wiederholte Kritik am Induktivismus nicht gegen eine mögliche normative Ordnung an sich, sondern gegen eine davon zu unterscheidende Klasse von Interpretationen. Eine möglicherweise auf die Normativität einer bestimmten Rechtsordnung gestützte Replik – „diese Rechtsordnung will induktiv interpretiert werden“ – läge daher sachlich auf einer unrichtigen Argumentationsebene. Diese Replik wäre wiederum ein induktivistisches Interpretationskonzept und als ein solches den gleichen Einwänden ausgesetzt, wie die Doktrin der induktiven Wahrscheinlichkeitsschlüsse. 523 Dazu oben sub. § 7 III. 2. 524 Eine Kritik (zurückgehend etwa auf Carnap und Wittgenstein) dieser hier zugrundeliegenden Position argumentiert dagegen wie folgt: (1) Man kann unterscheiden zwischen induktiver Gültigkeit und deduktiver Gültigkeit. (2) Die angebliche Widerlegung der Induktion besteht in nichts anderem als dem Nachweis, daß das induktive Muster nicht dem deduktiven Muster entspricht. (3) Also zwingt die angebliche Widerlegung lediglich dazu, zwischen „spezifisch induktiver“ Gültigkeit und „spezifisch deduktiver“ Gültigkeit von Schlüssen zu unterscheiden. Die Hauptschwäche dieser Erwiderung besteht darin, daß sie ihrerseits die Existenz von Regeln des „spezifisch induktiven“ Schließens voraussetzt, solche Regeln bestehen aber gerade nicht; zudem ist insbesondere bewiesen, daß der Wahrscheinlichkeitskalkül mit einer Induktionstheorie unvereinbar ist. 525 Dazu unten sub. §§ 8, 9 und 10. 522

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kriterien, die Sachverhaltskonstellationen nicht entnommen werden können, sondern von außen an sie herangetragen werden müssen.527 Einzelne Ansätze innerhalb des induktiven Theorierahmens empfehlen dennoch Abgrenzungen anhand von Ähnlichkeiten.528 Das Ähnlichkeitsargument besteht im Kern darin, daß neu zu bewertende Sachverhalte mit bereits klassifizierten Konstellationen verglichen werden sollen. So begründen beispielsweise Ähnlichkeiten mit „bekanntermaßen gefährlichen“ Konstellationen die Klassifikation als gefährlich; umgekehrt erscheinen Sachverhalte, die „erwiesenermaßen ungefährlichen“ Sachverhalten ähnlich sind, ungefährlich. Das Ähnlichkeitsargument befindet sich dabei in enger Nähe zu tautologischen Abgrenzungsdefinitionen.529 Eine Schwäche des Ähnlichkeitsarguments liegt darin, daß es kein unabhängiges Abgrenzungskriterium anbietet, sondern nur akzessorisch ausgestaltet ist. Denn jede Ähnlichkeitsargumentation setzt notwendigerweise eine sichere Vergleichsbasis voraus, die herangezogen werden kann, um die noch unbekannten Sachverhalte einzustufen. Daraus folgt, daß die Zuordnung der Sachverhaltseigenschaft „Gefährlichkeit“ zur Vergleichsbasis selbst nicht durch das Ähnlichkeitsargument vorgenommen werden kann (unendlicher Regreß). Als objektive Erklärung für Abgrenzungen eignet sich Ähnlichkeit aber selbst dann nicht, wenn das Problem der sicheren Vergleichsbasis einmal außer Betracht bleibt. Inhaltlich hängt die Qualität einer Abgrenzung aufgrund von Ähnlichkeitsüberlegungen davon ab, daß die als „sicher gefährlich“ eingestufte Ver526 Vgl. theoretisch sehr aufwendig Carnap, Der logische Aufbau der Welt, S. 109 ff.; ferner Posner, Problems, S. 86 ff.; Stavropoulos, Hart’s Semantics, S. 59 (96 f.). 527 Abschließend dazu bereits Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 96 f. – „Daß [. . .] argumentum a contrario und [. . .] Analogie völlig wertlos sind, geht schon daraus zur Genüge hervor, daß beide zu entgegengesetzten Resultaten führen und es kein Kriterium dafür gibt, wann das eine oder das andere zur Anwendung kommen soll“. Freilich hat die erklärbare logische Ungültigkeit jeder Ähnlichkeitsargumentation nicht immer zum methodologischen Verzicht auf dieses Argument geführt, sondern bisweilen statt dessen zur irrationalistischen Verabschiedung der Logik: „Wenn [. . .die] Untersuchung über die logische Struktur der Analogie mit der – unbestreitbaren – Feststellung endet, die Antwort auf die ,in der Praxis so wesentliche‘ (man darf wohl sagen: in der Praxis allein wesentliche) Frage nach der jeweiligen Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer bestimmten Analogie lasse sich nicht mit den Mitteln der Logik geben, sondern hänge von der Definition des jeweiligen ,Ähnlichkeitskreises‘, die nur nach teleologischen Kriterien erfolgen könne, ab, so erhellt daraus sehr deutlich, wie wenig die formale Logik (in ihrer ,klassischen‘ oder in ihrer ,modernen‘ Form) der Jurisprudenz zu geben vermag. Denn sobald der ,Ähnlichkeitskreis‘ bestimmt ist, ist – ganz ähnlich wie bei der sog. Subsumtion – das Wesentliche erledigt; der Rest geht wieder sozusagen automatisch vor sich (Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 24 f., Hervorhebung im Original).“; vgl. ideengeschichtlich aufschlußreich Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 176 ff. 528 Vgl. Dederer, Freisetzung, S. 47. 529 Dazu oben sub. § 7 III. 1.

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gleichsbasis mit dem noch unbekannten Zustand in möglichst allen sogenannten risikorelevanten Aspekten verglichen wird. Sofern dabei Übereinstimmungen in allen risikorelevanten Punkten festgestellt werden, darf der untersuchte Sachverhalt „wohl begründet“ als gefährlich angesehen werden. Der unvermeidliche Rückgriff auf den Ausdruck „Risikorelevanz“ ist der methodologische Schwachpunkt, denn das Prädikat „risikorelevant“ verlangt Kenntnis derjenigen Eigenschaften, durch die Gefahrurteile erklärt werden können. Für alle Abgrenzungen aufgrund von Ähnlichkeit impliziert dies zwei interessante Vorgaben: Erstens setzt jede Verwendung des Ähnlichkeitsarguments voraus, daß die Eigenschaften der untersuchten „neuen“ Sachverhaltskonstellation im einzelnen bekannt sind, denn anderenfalls können diese nicht mit der Vergleichsbasis verglichen werden. Zweitens muß aus der Gesamtheit dieser Eigenschaften derjenige Teilausschnitt bekannt sein, der als risikorelevant anzusehen ist, denn auch das ist eine notwendige Voraussetzung der Vergleichbarkeit risikorelevanter Eigenschaften. Insofern setzen also Abgrenzungen durch Ähnlichkeit stets voraus, daß schon vorab von der „neuen“ Sachverhaltskonstellation bekannt ist, daß sie risikorelevante Eigenschaften aufweist. Wenn aber Sachverhalte bekanntermaßen risikorelevante Eigenschaften aufweisen, ist damit zugleich bekannt, daß sie risikorelevant (also gefährlich) sind. Damit handelt es sich bei Anwendbarkeit des Ähnlichkeitsarguments nicht mehr um unbekannte, sondern um bekanntermaßen gefährliche Sachverhaltskonstellationen. Das – angeblich klassifizierende – Ähnlichkeitsargument kann also nur auf solche Sachverhaltskonstellationen angewendet werden, die bereits klassifiziert sind. Das hat nun allerdings methodologisch keinen Wert und vermag das Abgrenzungsproblem im übrigen nicht zu lösen: Einen gefährlichen Zustand deshalb als gefährlich anzusehen, weil er mit einem anderen gefährlichen Zustand in seiner Eigenschaft „gefährlich zu sein“ übereinstimmt, vermag intersubjektiv nur diejenigen zu überzeugen, die schon die Prämisse teilen. Ein nachprüfbares Abgrenzungskriterium zur objektiven Abschichtung von gefährlichen und ungefährlichen Konstellationen stellt das Ähnlichkeitsargument also nicht zur Verfügung. Ganz allgemein setzen alle Ähnlichkeitsüberlegungen notwendigerweise Gesichtspunke (exemplarisch: „Risikorelevanz“) voraus, die als ähnlichkeitsbegründend angesehen werden.530 Diese vorausgesetzten, ähnlichkeitsbegründenden Merkmale sind immer theoretische Relationen.531 Jeder Umgehungsversuch 530 Vgl. Popper, Historizismus, S. 74; Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 390 f., 399; Honeyball/Walter, Integrity, S. 79; so im Ansatz auch Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 454, der jedoch „Risikokonzepte“ für tragfähige Vergleichsgrundlagen hält. 531 Insoweit zutreffend Putnam, Bedeutung von Bedeutung, S. 35.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

– etwa die Vermutung, Sachverhaltskonstellationen seien „aus sich heraus“ ähnlich – kann nur zur Selbsttäuschung führen und dazu, daß – unkritisch – unbewußte Gesichtspunkte verwendet werden.532 Dieser einfache Nachweis methodologisch überflüssiger Doppelbegründungen genügt allerdings nicht ohne weiteres zur vollständigen Zurückweisung aller Abgrenzungskonzepte durch Ähnlichkeit. Einer abschließenden Negativbewertung des Ähnlichkeitsarguments steht der sogenannte methodologische Essentialismus entgegen, der glaubt, Ähnlichkeiten bisweilen mehr entnehmen zu können als bloße Tautologien. Nach essentialistischer Auffassung können Ähnlichkeitsargumentationen durchaus Erkenntniszuwächse herbeiführen und somit über inhaltlich redundante Reformulierungen bereits bekannter Einsichten hinausgehen.533 Die essentialistische Erwiderung auf den Einwand entbehrlicher Doppelerklärungen beruht wesentlich auf einer „Theorie der Evidenz“. Zwar sind auch aus Sicht dieser Evidenztheorie theoretische Erklärungen für ähnlichkeitsbegründende Merkmale grundsätzlich erforderlich und prinzipiell immer nützlich. Aber für spezifische, sogenannte „offensichtliche“ Sachverhaltskonstellationen wird doch angenommen, daß „unmittelbare Ähnlichkeiten“ zwischen einzelnen Sachverhaltskonstellationen mehr oder weniger „direkt ins Auge“ springen können.534 Mit Hilfe derartiger Evidenzerlebnisse sollen theoretische Vorüberlegungen substituiert und Erkenntniszuwächse erzielt werden können.535 Auffällig ist auch an dieser Stelle wiederum der starke Einfluß der monistischen Interpretationslehre, die in einer für alle Spielarten der Evidenzargumentation charakteristischen Weise individuelle Wahrnehmungserlebnisse einzelner Rechtsanwender in den Vordergrund ihrer Erklärungen rückt.

532

Popper, Offene Gesellschaft II, S. 306. Exemplarisch Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 453 f.; Mackie, Philosophy & Public Affairs 1977, S. 3 (9). 534 Ohne nachprüfbare Erklärung für das „direkt ins Auge“ springende Phänomen führen einzelne Beobachtungen aber nicht zu Erkenntnissen: Extrapolationen sind immer gefährlich und verhelfen – wenn sie zu etwas verhelfen – bisweilen zur Unterdrückung von Zweifeln. Ein interessantes Beispiel einer Extrapolation liefert der sorgfältige (und zutreffende) Nachweis der Mathematik des 17. Jahrhunderts, daß die folgenden Zahlen Primzahlen sind – 31; 331; 3.331; 33.331; 333.331; 3.333.331; 33.333.331. Weil der Nachweis der Primeigenschaft für größere Zahlen immer aufwendiger wird, war die Versuchung groß, das bereits bekannte Muster zu extrapolieren. Das nächste Element dieser Folge (333.333.331) war allerdings, wie sich einige Jahre später herausstellen sollte, nicht prim – (333.333.331 = 17  19.607.843). 535 Evidenzargumentationen finden sich in großer Zahl, siehe etwa Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 46 – „Solange die Kernbereiche in klarem Kontrast stehen und hinreichend groß bleiben, ändern Grenzfälle nichts an der Sinnhaftigkeit einer Unterscheidung.“ 533

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Alle so konzipierten Abgrenzungen durch Ähnlichkeit erweisen sich jedenfalls als weitere Variante intuitiver Evidenztheorien.536 Das bedeutet, Ähnlichkeitsargumentationen unter Rückgriff auf Evidenzen sind nicht objektiv, weil die verwendeten Evidenzen ihrerseits nicht nachprüfbar sind.537 Dabei ist die dem Ähnlichkeitsargument zugrundeliegende Gesamtproblematik nicht neu, sondern geradezu ehrwürdigen Alters.538 Aristoteles lehrte die philosophische Richtung, der seither der methodologische Essentialismus entspringt, indem er annahm, daß wissenschaftliche Forschung gewissermaßen zum „Wesen der Dinge“ vordringen müsse, um diese zu erklären.539 Methodologischer Essentialismus neigt seitdem dazu, wissenschaftliche Fragen als „Was ist . . .?“-Fragen zu formulieren.540 Sein Ziel ist die gründliche Beantwortung solcher Fragen, um damit die „wahre“ und „wesentliche“ Bedeutung von Begriffen (und in Verbindung damit die „wahre Natur“ der durch sie bezeichneten Essenzen) zu enthüllen. Solcherlei „Wesensschauen“ neigen immer zu tautologischen Wortspielen.541 Anschaulich verspottete Molière diese Geisteshaltung in der Person eines Arztes, der die Wirksamkeit des Opiums als Schlafmittel mit dessen einschläferndem Wesen erklärte.542 Evidenzen und Ähnlichkeiten (sowie Kombinationen aus beiden) mögen interessant sein und können möglicherweise die Kreativität eines Betrachters anregen.543 Jedenfalls sind sie niemals objektiv. Als potentielle Bestandteile von Erklärungen müssen sie deshalb methodologisch zurückgewiesen werden, so536

Dazu oben sub. § 6 III. 3. Treffend Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 518 – „Der Eine könnte die beiden Gesichter genau abzeichnen; der Andere in dieser Zeichnung die Ähnlichkeit bemerken, die der erste nicht sah.“; die Position wäre wiederum intuitionistisch, dazu oben sub. § 6 III. 3. 538 Im Kern handelt es sich dabei um das Problem der Natur von Begriffen, die Qualitäten ausdrücken, das sog. Universalienproblem, einem der ältesten Probleme der Philosophie, das während des Mittelalters Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen war und seine Wurzeln in den philosophischen Systemen von Platon und Aristoteles hat (Popper, Historizismus, S. 21); ausführlicher dazu Popper, Erkenntnistheorie, S. 368 ff. 539 Vgl. Popper, Historizismus, S. 23. 540 Bspw. „Was ist Gerechtigkeit?“, „Was ist Kraft?“, „Was ist Materie?“; siehe dazu Popper, Historizismus, S. 23. 541 Wortspiele dieser Art tauchen seit der mittelalterlichen Scholastik als Problem auf und konnten auch als Bestandteil der induktiven Dogmatik nachgezeichnet werden (oben sub. § 7 III. 1.). Vgl. die Zuspitzung bei Popper, Offene Gesellschaft II, S. 15 – „Die Entwicklung des Denkens seit Aristoteles läßt sich, wie mir scheint, so zusammenfassen: Jede Disziplin, die die aristotelische Methode des Definierens verwendet hat, blieb in einem Stadium leerer Wortmacherei und in einem unfruchtbaren Scholastizismus stecken, und das Ausmaß, in dem die verschiedenen Wissenschaften fähig waren, Fortschritte zu machen, hing ab von dem Ausmaß, in dem sie fähig waren, sich von dieser essentialistischen Methode zu befreien.“; dagegen wiederum kritisch Döring, Offene Gesellschaft, S. 89 ff. 542 Beispiel nach Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 116 f. 537

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fern die Nachprüfbarkeit der Argumentation und damit ihre Wissenschaftlichkeit nicht aufgegeben werden soll. 5. Beweislast Der Gedanke der sogenannten Beweislast wird von verschiedenen Einzelausprägungen der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen als Lösungsansatz für Abgrenzungsprobleme angesehen, indem die konzeptionelle Frage nach objektiven Differenzierungsmöglichkeiten zwischen gefährlichen und ungefährlichen Sachverhaltskonstellationen in Verbindung gebracht wird mit dem Aspekt der Beweisbarkeit.544 Auch dieser Argumentationsansatz ist eng an das Ähnlichkeitsargument angelehnt und muß, wie dieses, aus methodologischen Gründen zurückgewiesen werden. Das Beweislastargument betrifft den Grenzbereich zwischen den jeweils als sicher bekannt angenommenen Bereichen gefährlicher Sachverhalte einerseits sowie den ungefährlichen Sachverhaltskonstellationen anderseits. Dabei zielt es im Kern darauf ab, daß mit dem Hinweis auf „unsichere“ Gefahren derjenige nicht gehört werden kann, der die Beweislast zu tragen hat.545 Das Beweislastargument stellt mit anderen Worten einen Zusammenhang her zwischen dem Inhalt einer Norm und der Beweisbarkeit ihres Tatbestands. Dabei wird die „Gewißheit der Gefahr“ als Eigenschaft von Gefährlichkeit eingeführt. Das Beweislastargument verwendet die folgenden beiden Prämissen: (1) Es ist eine notwendige Voraussetzung für die Einstufung eines Sachverhalts als gefährlich, daß hinreichende Gründe die Annahme konkreter Gefahrzusammenhänge rechtfertigen (Beweisbarkeit). (2) Aus „logischen Gründen“ kann es nur hinreichende Gründe für den Beweis von Gefährlichkeit geben. Das heißt, hinreichende Begründungen der Ungefährlichkeit von Sachverhaltskonstellationen sind theoretisch von vornherein ausgeschlossen.

Aus diesen beiden Prämissen wird abgeleitet, daß notwendigerweise derjenige beweispflichtig sei, der sich auf die Gefährlichkeit einer Sachverhaltskonstellation beruft; „normative Ungefährlichkeit“ liege solange vor, wie „konkrete Gefahrzusammenhänge“ noch unbewiesen sind; umgekehrt sei jeder Sachverhalt „normativ gefährlich“, für den bereits ein konkreter Gefahrzusammenhang erwiesen wurde.

543 Zum Verhältnis der Interpretation als Negation zur intuitionistischen Prämisse oben sub. § 6 III. 3. 544 Vgl. so Dederer, Freisetzung, S. 47 m.w. N.; zur Beweislast ferner Wolfrum, Precautionary Principle, S. 211. In diese Richtung schon Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 516. 545 Siehe Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 209; Peschau, Beweislast, S. 132 ff.

§ 7 Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen

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Die erste Prämisse des Beweislastarguments birgt eine problematische Verengung des Gefahrbegriffs, indem sie „unerkannte Gefahren“ als Kategorie zwangsläufig ausscheidet, weil Hinweise auf noch Unentdecktes immer Ungewißheit implizieren (sichere Gefahren sind nicht gleichzeitig unerkannt). Das heißt, „normative Ungefährlichkeit“ wird mit der Ungewißheit des Unerkannten erklärt. Auf die damit verbundene inhaltliche Problematik546 braucht hier allerdings nicht näher eingegangen zu werden, denn das Beweislastargument muß aus methodologischen Gründen ohnedies zurückgewiesen werden. Die zweite Prämisse unterstellt eine wesensmäßig asymmetrische Beweissituation. So sei – im Gegensatz zu Gefährlichkeit – eine Ungefährlichkeit deswegen nicht direkt nachweisbar, weil stets unbegrenzt viele Möglichkeiten der Gefahrbegründung theoretisch denkbar blieben.547 Deshalb könnten gewissermaßen aus der „Natur der Sache“ heraus nur hinreichende Gründe für die Annahme von Gefährlichkeit vorhanden sein. Zwar vermöge ein einziger bekannter Gefahrzusammenhang zu beweisen, daß etwas gefährlich ist. Aber umgekehrt könne selbst eine große Vielzahl untersuchter Eigenschaften immer nur beweisen, daß die untersuchten Eigenschaften vorläufig für unbedenklich gehalten werden. Vor dem Hintergrund dieser Idee setzt jeder vollständige Beweis der Ungefährlichkeit einer Sachverhaltskonstellation im Einzelfall voraus, daß zuvor alle Eigenschaften untersucht und jeweils in Hinblick auf alle möglichen Gefahrzusammenhänge als unbedenklich eingestuft worden sind.548 546 Die inhaltliche Problematik hängt mit der Frage zusammen, ob es eine erfolgreiche Strategie darstellt zu glauben, daß etwas ungefährlich ist, solange es noch nicht verstanden ist. 547 Dederer, Freisetzung, S. 89. 548 Hinzuweisen ist auf eine versteckte Weichenstellung in der Argumentation des Beweislastarguments. „Gefährlichkeit“ wird definiert als ein sog. Es-gibt-Satz: „Es gibt mindestens ein gefahrbegründendes Merkmal.“ Es-gibt-Sätze sind stets nur verifizierbar, niemals falsifizierbar. Das ergibt sich daraus, daß die Falsifikation eines Esgibt-Satzes der Verifikation eines allgemeinen Satzes gleichkäme. Denn die Negate der Es-gibt-Sätze sind immer allgemeine Sätze. Bspw. ist der Satz „Alle Merkmale sind nicht gefahrbegründend.“ das Negat von „Es gibt mindestens ein gefahrbegründendes Merkmal.“ Daß allgemeine Sätze ihrerseits nicht verifizierbar sind, ist logisch begründet (Unmöglichkeit gehaltserweiternder Schlüsse) und gilt für alle allgemeinen Sätze, unabhängig von ihrem jeweiligen Inhalt. Die vom Beweislastargument behauptete „wesensmäßige“ Unbeweisbarkeit der „Ungefährlichkeit“ folgt deshalb keineswegs aus der „Natur der Sache“. Sie ergibt sich statt dessen aus der definitorischen Gleichsetzung von „Gefährlichkeit“ mit einem Es-gibt-Satz. Schon deshalb geht der Gedankengang des Beweislastarguments an der eigentlichen Fragestellung vorbei. Überdies ließe sich die ganze Argumentation ohne größere Schwierigkeiten umkehren, sofern man bereit ist, einmal probeweise „Ungefährlichkeit“ anhand eines Es-gibt-Satzes zu definieren (was zweifellos möglich wäre). Etwa: „Es gibt mindestens ein Merkmal, daß sicherstellt, daß nichts Gefährliches passieren wird.“ Daß die Ungefährlichkeit einer Sachverhaltskonstellation bislang noch niemals dergestalt gefaßt wurde (und die Tatsache, daß eine solche Definition vielleicht intuitiv fernliegend erscheint), er-

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Nun können natürlich stets potentiell unendlich viele Eigenschaften untersucht werden und diese unendlich vielen verschiedenen Eigenschaften sind jeweils in ebenso vielen Gefahrzusammenhängen prüfbar. Die sich daraus ergebende, gewissermaßen doppelte Unendlichkeit der beweisrelevanten Aspekte führt dazu, daß – jedenfalls eine auf diese Weise definierte549 – Ungefährlichkeit niemals bewiesen sein kann. Die so vom Beweislastargument behauptete „theoretische Unbeweisbarkeit“ von Ungefährlichkeit ist die Grundlage seiner normativen Forderung, daß immer die Gefährlichkeit eines Sachverhalts und niemals die Ungefährlichkeit nachgewiesen werden muß. Das Beweislastargument scheint vordergründig schlüssig und von hoher intuitiver Plausibilität zu sein. Die Kritik kann deshalb wiederum nicht auf eine geringfügige Abstraktion verzichten. Im Ergebnis müssen die beiden Prämissen des Beweislastarguments entweder als widersprüchlich oder als unprüfbar interpretiert werden.550 Darüber hinaus verwechselt die Argumentation in methodologisch unzulässiger Weise Beweislastfragen mit inhaltlich-konzeptionellen Fragen.551 (1) Die Widersprüchlichkeit oder Unprüfbarkeit des Beweislastarguments ergibt sich daraus, daß die zweite der beiden Prämissen inhaltlich zu weit gefaßt ist und dabei die Geltung des Gesetzes des ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) im Verhältnis zwischen „Gefährlichkeit“ und „Ungefährlichkeit“ von Sachverhaltskonstellationen mißachtet. Alle Sachverhaltskonstellationen sind entweder gefährlich oder ungefährlich.552 Die zweite Prämisse des Beweislastarguments übersieht die Möglichkeit einer hinreichenden Begründung von Gefährlichkeit in allen Fällen, für die Ungefährlichkeit ausgeschlossen werden kann. Aufgrund des überschießenden Gehalts der zweiten Prämisse sind Zuordnungen noch nicht eingestufter Sachverhaltskonstellationen anhand des Beweislastarguments unmöglich. Jeder gefährliche Zustand kann definiert werden als „Abwesenheit von Ungefährlichkeit“. Jede Situation, die die Eigenschaft der Ungefährlichkeit nicht aufweist, zeichnet sich also dadurch aus, daß sie gefährlich ist. Insofern kann aus der Gesamtmenge aller möglichen Sachverhaltskonstellationen mit hinreichenden Gründen diejenige Teilmenge als gefährlich betrachtet werden, für die gilt, daß sie nicht die Eigenschaft ungefährlich zu sein aufweist. Eine hinreichende gibt sich ebensowenig aus der „Natur der Sache“. Die Erklärung dafür hängt vielmehr eng mit einem bestimmten naturalistischen Fehlschluß zusammen (Gefahr als Tatsache), auf den (unten sub. § 8 I. 2., 3.) noch einzugehen sein wird. 549 Zum Problem oben in Fn. 548. 550 Dazu sogleich sub. (1). 551 Unten sub. (2). 552 Vgl. im einzelnen ausführlich auch unten sub. § 8 II. 3. (tertium non datur).

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Erklärung553 für die Einstufung einer beliebigen Konstellation als gefährlich folgt also immer daraus, daß bewiesen werden kann, daß keine Gründe für ihre Ungefährlichkeit vorliegen können (sogenannter umgekehrter Beweis).554 Die zweite Prämisse der Beweislastargumentation nimmt jedoch an, daß niemals hinreichende Gründe für die Annahme von Ungefährlichkeit vorliegen können. Dieser Ausschluß hinreichender Gründe für die Annahme von Ungefährlichkeit kann nun subjektiv („praktische Unmöglichkeit“) oder objektiv gedeutet werden. Die Prämisse ist mehrdeutig und läßt beide Interpretationen zu. Allerdings: Eine objektive Interpretation der zweiten Prämisse führt zu einem logischen Widerspruch, eine subjektive Interpretation demgegenüber zu einem – methodologisch auszuschließenden – unprüfbaren Abgrenzungskonzept. Ein objektives Verständnis der zweiten Prämisse in dem Sinne, daß in der Wirklichkeit keine Sachverhalte existieren können, die hinreichende Merkmale für die Annahme von Ungefährlichkeit aufweisen, führt dazu, daß alle Voraussetzungen zum Beweis des Nichtvorliegens hinreichender Gründe für die Annahme von Ungefährlichkeit – innerhalb555 des Beweislastarguments – immer vorliegen. Daraus folgt weiter, daß in allen Sachverhaltskonstellationen a priori hinreichende Gründe für die Annahme von Gefährlichkeit gegeben sind. Das widerspricht der ersten Prämisse des Beweislastarguments, die davon ausgeht, daß Gefährlichkeit notwendigerweise einen hinreichend bewiesenen „konkreten“ Gefahrzusammenhang voraussetzt. Eine widerspruchsfreie Diskussion des Beweislastarguments setzt daher voraus, daß keine objektive Deutung der zweiten Prämisse unterstellt wird (ex falso quodlibet556). Auf der anderen Seite führen subjektivierende Interpretationen (Idee: „Es gibt zwar ungefährliche Sachverhaltskonstellationen, diese sind aber für die Rechtsanwender nicht erkennbar.“) der zweiten Prämisse dazu, daß zwar Sachverhalte existieren können, die an sich hinreichende Merkmale zur Begründung von Ungefährlichkeit aufweisen. Diese Merkmale sind aber – trotz ihres objektiven Vorhandenseins – durch Rechtsanwender nicht feststellbar. Ungefährlichkeit wird damit als nicht-feststellbare Eigenschaft konstituiert. Eine dergestalt subjektive Interpretation der zweiten Prämisse des Beweislastarguments ist anders als die objektive Deutung zwar nicht logisch widersprüchlich. Sie führt aber 553 Zu betonen ist, daß auch andere hinreichende Gründe daneben denkbar sind, etwa die hinreichenden Gründe im Sinne der ersten Prämisse des Beweislastarguments, die konkrete Gefahrzusammenhänge aufzeigen. Es handelt sich eben nicht um notwendige, sondern um hinreichende Gründe. 554 Solange nicht sichergestellt werden kann, daß Ungefährlichkeit nicht vorliegt, kann in der tertium non datur Konstellation nicht auf Gefährlichkeit geschlossen werden. 555 Weil das Beweislastargument diese These als Prämisse verwendet, kann sie innerhalb dieser Argumentationszusammenhänge verwendet werden. 556 Dazu oben sub. § 6 II. 4. insbesondere Fn. 221.

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einen obskurantistischen, der intersubjektiven Nachprüfbarkeit entzogenen Gefahrbegriff in die Theorie der Risikoentscheidungen im Recht ein.557 Eine so aufgestellte Gefahrkonzeption ist unprüfbar, weil sie nicht falsifizierbar ausgestaltet ist, wie sich aus folgendem ergibt: Angenommen werde ein ungefährlicher Sachverhalt, mit anderen Worten also ein Sachverhalt, der die Eigenschaft hat, daß alle theoretisch möglichen Gefahrbegründungen unwahr sind. Gleichwohl existiert immer wenigstens ein vorläufig noch nicht falsifizierter Gefahrzusammenhang. Denn gemäß der subjektiv interpretierten zweiten Prämisse ist ausgeschlossen, daß jemals alle potentiellen Gefahrzusammenhänge tatsächlich falsifiziert sind. Jeder möglichen Sachverhaltskonstellation entspricht damit zumindest ein vorläufig empirisch unwiderlegter Gefahrzusammenhang. Daraus ergibt sich vorderhand ein Bewertungsproblem, denn angesichts nichtfalsifizierter Gefahrzusammenhänge ist auf den ersten Blick weder zu rechtfertigen, deshalb Gefährlichkeit anzunehmen, noch, aus diesem Grund Ungefährlichkeit anzunehmen. Interessanterweise besteht das Beweislastargument gleichwohl darauf, daß Sachverhalte als ungefährlich eingestuft werden, solange noch kein Gefahrzusammenhang benannt ist, obwohl bereits feststeht, daß mindestens ein solcher Gefahrzusammenhang existiert, der seinerseits auch nicht falsifiziert werden kann. Die Erklärung des Übergangs von Ungefährlichkeit zu Gefährlichkeit hängt somit ausschließlich davon ab, daß der nicht-falsifizierbare – weil echte – Gefahrzusammenhang entdeckt wird. Der problematische Teil dieser Argumentation ist weniger die Zufälligkeit, mit der jeder beliebige Zustand zu jedem beliebigen Zeitpunkt als gefährlich erkannt werden kann. Diese Zufälligkeit ist eine unvermeidliche Folge der immer nur begrenzten menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. Bemerkenswert ist vielmehr der Aspekt, daß die Änderung der normativen Bewertung eines Sachverhalts aufgrund des zufälligen Auffindens eines Merkmals vollzogen werden soll, von dem schon zuvor bekannt war, daß es vorhanden ist. Um zusammenzufassen: Auf der Basis einer objektiv interpretierten zweiten Prämisse des Beweislastarguments kann Gefährlichkeit abstrakt – das heißt: ohne Hinweis auf konkrete Gefahrzusammenhänge – für alle Sachverhaltskonstellationen „bewiesen“558 werden. Damit bricht das Beweislastargument als Unterscheidungskriterium zusammen, denn alle theoretisch möglichen Fälle werden nicht unterschieden, sondern – unterschiedslos – gleichbehandelt. Bei subjektiver Betrachtung der zweiten Prämisse wird der normative Gefahrbegriff auf der anderen Seite hin zu unprüfbarer Beliebigkeit geöffnet. (2) Das Beweislastargument entspringt zudem einer Verwechslung von inhaltlichen und prozessualen Aspekten, oder, wie man sagen könnte: von Erkenntnis557 558

Zur „Wissenschaftlichkeit“ als Nachprüfbarkeit oben sub. § 6 III. 1. Der „Beweis“ setzt freilich voraus, daß die zweite Prämisse wahr ist.

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und Umsetzungsproblemen. Es übersieht, daß mit der Beantwortung von Beweislastfragen inhaltliche Abgrenzungsfragen nicht aufgelöst werden können. Methodologisch interessant ist diese Verwechslung deshalb, weil sie – einmal mehr – die monistische Interpretationslehre sichtbar macht, die „den Rechtsanwender“ mit seinem Erkenntnisgegenstand verschmilzt.559 Das inhaltliche Abgrenzungsproblem erfordert objektive Kriterien, die erkennen lassen, ob Sachverhalte gefährlich oder ungefährlich sind.560 Erst wenn solche Kriterien bereits bekannt sind, vermögen Überlegungen zur Beweislast etwas darüber auszusagen, welche Rechtsanwender (oder welche „Dritten“) das jeweilige objektive Kriterium nachweisen müssen, oder ob das Kriterium als gegeben vermutet wird, solange nicht sein Fehlen aufgezeigt worden ist.561 Mit anderen Worten kann also das Beweislastargument immer nur über „prima facie“-Zuordnungen fraglicher Sachverhaltskonstellationen hin zu bestimmten Kategorien entscheiden. „Prima facie“-Zuordnungen sind Zuordnungen bis zum Beweis des Gegenteils. So erlaubt eine „prima facie“-Zuordnung beispielsweise die Aussage, daß alle Sachverhaltskonstellationen als gefährlich eingestuft werden können bis zum Beweis des Gegenteils (oder umgekehrt: als ungefährlich bis zum gegenteiligen Nachweis). Dabei bleibt immer unbeantwortet, anhand welcher Kriterien das jeweilige, nicht-vermutete Gegenteil bewiesen werden kann. Die vollständige Trennung zwischen dem Inhalt eines objektiven Abgrenzungskriteriums und seinem Nachweis kann anhand der vielfach behandelten Unterscheidung zwischen „Tag“ und „Nacht“ näher veranschaulicht werden.562 Dazu wird unterstellt, ein objektives Differenzierungskriterium zwischen Tag und Nacht sei unbekannt (Abgrenzungsproblem).563 Bekannt sei lediglich, daß jeder mögliche Zeitpunkt im Verlauf von 24 Stunden einem der beiden Zustände zuzuordnen ist (tertium non datur). Ein mögliches Beweislastargument sagt dann beispielsweise, daß alle Zeitpunkte solange als „Nacht“ einzuordnen sind, wie nicht das Gegenteil bewiesen ist. Der Beweisbelastete muß damit den Nachweis des Gegenteils erbringen (also den Nachweis des Vorliegens von „Tag“ im jeweiligen Zeitpunkt).

559 560 561 562

Dazu oben sub. § 1 I. und § 6 III. 3. Zum Abgrenzungsproblem oben sub. § 3 II., III. und § 6 II. 2. Das ist die Funktion jeder Beweislastumkehr. Das Beispiel ist weit verbreitet, vgl. nur Canaris, Grundrechte und Privatrecht,

S. 46. 563 Tatsächlich lassen sich Tag und Nacht natürlich – bspw. – am Stand der Sonne unterscheiden, das ist zwar im Zustand der Dämmerung nicht leicht durchführbar, aber diese Meßschwierigkeit berührt nicht die objektive Eignung des Kriteriums. Die Richtigkeit dieses Kriteriums kann also nicht mit Hinweis auf den Tatbestand der Dämmerung widerlegt werden.

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Beweislastargumente implizieren also immer, daß objektiv unterscheidende Abgrenzungskriterien bekannt sind, denn sonst könnte kein Gegenbeweis gelingen. Daß die Kenntnis eines Abgrenzungskriteriums Voraussetzung jeder Verwendung des Beweislastarguments ist, bedeutet zugleich, daß die Erkenntnis des Abgrenzungskriteriums nicht ihrerseits anhand einer Verwendung des Beweislastarguments möglich ist. Abschließend muß das Beweislastargument also deshalb methodologisch ausgeschlossen werden, weil seine beiden Prämissen entweder widersprüchlich oder unprüfbar sind. Überdies können durch seine Verwendung nur solche Sachverhaltskonstellationen unterschieden werden, von denen schon bekannt ist, daß sie gefährlich bzw. ungefährlich sind. Kategorisierungen unbekannter Sachverhalte sind damit unmöglich. 6. Beurteilungsspielraum Das Institut des sogenannten Beurteilungsspielraums wird innerhalb des induktiven Theorierahmens als instrumentalistische Lösung des Abgrenzungsproblems verwendet.564 Dabei nimmt das Spielraumargument im Induktivismus seit jeher eine zentrale Stellung ein.565 Es steht inhaltlich in enger Nähe zur induktiven Prämisse und kann ideengeschichtlich ebenfalls Aristoteles zugeschrieben werden.566 Die folgende Untersuchung führt aus, weshalb das Spielraumargument kein nachprüfbares Abgrenzungskriterium zwischen Sachverhaltskonstellationen bereitstellt und zieht daraus die Konsequenz, daß es innerhalb objektiver Theorien aus methodologischen Gründen zurückgewiesen werden muß. Argumentationen mit Beurteilungsspielraum können allgemein auf drei Grundannahmen zurückgeführt werden. Seinen Ausgangspunkt nimmt das Argument in der ersten Behauptung, daß Gefahreinschätzungen für jede Sachverhaltskonstellation – angesichts ihrer Zukunftsbezogenheit – komplex und schwerverständlich sind (Komplexitätsthese).567 Damit hafte, zweitens, allen Gefahreinschätzungen gewissermaßen naturnotwendig ein unhintergehbares Maß an 564 Ossenbühl, FS Menger, S. 731 (742 ff.); außerdem Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 13 ff. – „[zum] steinigen und tückenreichen Weg einer Spielraumdogmatik“; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 141 ff.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 83 f. 565 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 462 ff.; Bohanes, Columbia Journal of Transnational Law 40, S. 322, 345 (2002). 566 Dazu gleich sub. (3). 567 Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 500 – „Die [. . .] Problematik der Prognosekontrolle wurzelt in ihrem Defizit an Rationalität, welches sich bis zur bloßen Intuition steigern kann. Dieser Charakter der Prognose kennzeichnet sie als eine im Prozeß der Rechtsanwendung atypische Kategorie, die sich nach dem Maß des Rationalitätsdefizits der rechtlichen Kontrolle entzieht.“; Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 62.

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Irrationalität an (Irrationalitätsthese).568 Als dritte These wird konsequenterweise formuliert: Falls normativ regulierte Entscheidungen dergestalt kompliziert ausfallen, seien verschiedene Einschätzungen hinnehmbar, sofern sich diese nur im Rahmen eines – im Einzelfall näher zu bestimmenden – Beurteilungsspielraums befinden. Im Hinblick auf ihre rationalitätsstiftende Wirkung stoßen normative Ordnungen dort an Leistungsgrenzen, wo der Regulierungsgegenstand als solcher nicht rational ist (These der Unmöglichkeit von rationalen Abgrenzungen irrationaler Gegenstände).569 Das Spielraumargument kann auch so formuliert werden: Wenn zukunftsbezogene Aussagen über die Gefährlichkeit bestimmter Sachverhaltskonstellationen aus sich heraus mehrdeutig sind, sollten sie sinnvollerweise normativ nicht wie eindeutige Zustände behandelt werden.570 Im Ergebnis setzt das Spielraumargument eine Klasse erlaubter Handlungsvarianten571 voraus, die im Einzelfall vor dem Hintergrund der jeweiligen normativen Ordnung alle als rechtmäßig angesehen werden. Diese „Klasse rechtmäßiger Handlungen“ wird auf der einen Seite begrenzt durch evident ungefährliche Sachverhaltskonstellationen, die schlechterdings nicht als gefährlich eingestuft werden dürfen, sowie durch evident gefährliche Fälle auf der anderen Seite, die normativ zwingend als gefährlich eingestuft werden müssen (These von der Abgrenzung durch Spielraum).572 Die Spielraumargumentation schließt somit – essentialistisch – von der Natur des Regelungsgegenstandes (Irrationalität von Prognosen) auf die Schwierigkeit seiner normativen Beurteilung. Die so erklärte Abgrenzungsschwierigkeit begründet dann ihrerseits die Existenz eines Spielraums. Zuletzt löst die Idee vom „angemessenen Spielraum“ das komplexe Abgrenzungsproblem mit Hilfe von Evidenzbetrachtungen auf. Alle drei Schlüsse des Spielraumarguments sind ungültig, Beurteilungsspielräume beantworten das Abgrenzungsproblem nicht. Denn objektive Abgrenzungskriterien können erstens nicht aus Beurteilungsspielräumen gewonnen 568

Ossenbühl, FS Menger, S. 731 (733). Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 502 – „Ist für die Prognose ein Defizit an Rationalität, also Unsicherheit charakteristisch, so hängt die Prognosekontrolle logischerweise von dem Maß dieses Rationalitätsdefizits ab.“; ferner ders., FS Menger, S. 731 (733) sogar – „[Eine vollständige Kontrolle von Prognosen scheidet aus], weil es hierfür an rechtlich rationalisierbaren Maßstäben mangelt.“; Pache, Beurteilungsspielraum, S. 517. 570 Zum Problem oben sub. § 1 vor I. 571 Vgl. zur Unterscheidung zwischen handlungs- und entscheidungsbezogenen Interpretationsansätzen oben sub. vor § 2, insbesondere Fn. 31. 572 Siehe Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 518 – „[Relevant sind nur] evidente Fehlprognosen“; Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 61 – „Effektive Risikosteuerung [. . .] [kommt] ohne Wertung nicht [aus] [. . .].“ 569

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werden. Zweitens folgen Beurteilungsspielräume nicht aus der Schwierigkeit von Abgrenzungen und drittens vermag keine „natürliche Irrationalität“ eines Regelungsgegenstandes eine „natürliche Abgrenzungsschwierigkeit“ objektiv zu erklären. Diese drei Einwände werden im folgenden näher behandelt. (1) Die Unmöglichkeit der Ableitung von Abgrenzungskriterien aus Spielräumen hängt damit zusammen, daß die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen gegenüber dem Vorhandensein eines Unterscheidungskriteriums logisch nachrangig ist. Die Existenz eines Spielraums setzt immer ein Unterscheidungskriterium voraus. Denn ohne Kenntnis eines Unterscheidungskriteriums können die „evidenten Fälle“ (und damit die Grenzen des Beurteilungsspielraums) nicht erkannt werden.573 Aus der bloßen Anerkennung eines Beurteilungsspielraums kann kein Abgrenzungskriterium abgeleitet werden. Das Abgrenzungsproblem würde dadurch lediglich von der Bestimmung des Unterscheidungsmerkmals zwischen den Sachverhaltskonstellationen hin zur Bestimmung der Grenzen des Spielraums verschoben.574 Ein inhaltliches Unterscheidungsmerkmal muß daher auch bei Vorliegen eines Beurteilungsspielraums benannt werden, sofern die Konsequenz interpretatorischer Beliebigkeit vermieden werden soll.575 (2) Beurteilungsspielräume setzen zwar stets das Vorhandensein inhaltlicher Abgrenzungskriterien voraus, von denen im Rahmen „gewisser Schwankungsbreiten“ abgewichen werden kann.576 Unterscheidungsschwierigkeiten setzen aber nie aus sich heraus Beurteilungsspielräume voraus, selbst dann nicht, wenn die fraglichen Abgrenzungen aufgrund einer wirklichen (oder angeblichen) „Komplexität“ des Gegenstandes sehr577 schwierig durchzuführen sind, und auch dann nicht, wenn der Gegenstand selbst für „irrational“ gehalten wird. 573 Dazu Raz, The Yale Law Journal, Vol. 81, S. 823 (854) – „[It] is a very weak argument, which rejects a distinction because it admits the existence of borderline cases.“; nicht erneut eingegangen wird hier auf die methodologische Unzulässigkeit (Unprüfbarkeit) jeder Argumentation mit Evidenzen, dazu oben sub. § 6 III. 3. und § 7 III. 4. 574 Die Idee einer Umgehung des Abgrenzungsproblems durch Spielräume hat humoristisches Potential. Frage: „Wo sollte die Chinesische Mauer ursprünglich erbaut werden?“ – Antwort: „Ich weiß es leider überhaupt nicht.“ – Hilfsfrage: „Weil die Frage wirklich nicht einfach ist, sagen Sie es doch bitte wenigstens auf 1000 Meter genau.“ 575 Das widerspricht dem methodologischen Desiderat der intersubjektiven Nachprüfbarkeit (Objektivität); dazu oben sub. § 6 III. 1. (rule of law). 576 Das gilt unabhängig von deren Dimensionierung im Einzelfall. Dieser Schluß zielt in die entgegengesetzte Richtung und nützt dem Spielraumargument deshalb nicht. 577 Unklar ist insbesondere, wie der Grad der Komplexität intersubjektiv nachprüfbar bestimmt werden soll. Entweder kann ein Sachverhalt systematisiert werden, dann ist er nicht (mehr) komplex. Oder er kann nicht systematisiert werden und wirkt regellos, dann kann aber eine Aussage über einen „Grad der Komplexität“ nicht gemacht

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Die methodologische Unzulässigkeit der essentialistischen Herleitung von Spielräumen aus der Natur einer Unterscheidung hängt damit zusammen, daß – ganz unabhängig von jedem Komplexitätsgrad – diejenigen Konstellationen eindeutig entscheidbar sind, die das Unterscheidungsmerkmal entweder aufweisen oder nicht. Für eindeutige Fälle müssen Beurteilungsspielräume nicht anerkannt werden, denn Beurteilungsspielräume beinhalten immer die Aussage, daß Konstellation „so oder auch anders“ entschieden werden können (Kontingenz), was in eindeutigen Fällen gerade nicht der Fall ist.578 Somit kann also, wenn überhaupt, nur die Natur mehrdeutiger Fälle zur Begründung der These notwendiger Beurteilungsspielräume herangezogen werden. Mögliche Mehrdeutigkeiten „komplexer Sachverhaltskonstellationen“ können sich vorderhand aus dem Befund ergeben, daß die jeweiligen Sachverhalte weder das Unterscheidungsmerkmal aufweisen, noch das Unterscheidungsmerkmal nicht aufweisen. Das ist logisch unmöglich.579 Zur Erklärung der Mehrdeutigkeit komplexer Sachverhaltskonstellationen verbleibt dementsprechend einzig diejenige Variante, in der ein Sachverhalt sowohl das Unterscheidungsmerkmal als auch das Gegenteil des Unterscheidungsmerkmals erfüllt. Das ist logisch möglich. Jedoch handelt es sich, falls solche Befunde tatsächlich auftreten, bei Unterscheidungsmerkmalen dieser Art nicht um intersubjektiv nachprüfbare Unterscheidungskonzeptionen, sondern – günstigstenfalls – um Theoriesurrogate, die häufig als „Typusmerkmale“ bezeichnet werden.580 werden. Komplexität ist daher keine objektive Eigenschaft einer Sachverhaltskonstellation, sondern eine subjektive Perspektive. Die Aussage, „A ist komplex“ kann ebenfalls ausgedrückt werden als „Ich kann in A keine Regelmäßigkeit entdecken“. Wissenschaftshistorisch können diese Zusammenhänge anhand unzähliger Beispiele dokumentiert werden; vgl. etwa zum Phänomen der Pendelbewegung, das noch für Aristoteles ein „komplexer Vorgang“ war, spätestens seit Galilei jedoch systematisch naturgesetzlich rekonstruiert wird, Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 136 f. 578 Gleichwohl können – natürlich – Beurteilungsspielräume in eindeutigen Konstellationen anerkannt werden. Behandelt wird hier nur die Frage notwendiger Zusammenhänge. 579 Man könnte die Aussage „Ein Sachverhalt ist gefährlich“ dem Buchstaben a zuordnen, sowie die Aussage „Ein Sachverhalt ist ungefährlich“ dem Buchstaben b. Immer wahr ist dann die folgende Aussage: „…a ^ b† ! a _ b“, in Worten: „wenn es nicht wahr ist, daß ein Sachverhalt gleichzeitig gefährlich und ungefährlich ist, dann ist er nicht gefährlich oder er ist nicht ungefährlich.“ Das ist immer wahr, denn der Schluß hat keinen normativen, sondern einen logischen Grund. Nach einer allgemeinen logischen Gesetzmäßigkeit, die schon der Logik der Spätscholastik bekannt war, gilt „…a ^ b† ! a _ b“, ganz unabhängig davon, welche Aussagen für a und b eingesetzt werden; allgemein gesagt: „wenn a und b nicht zugleich wahr sind, ist a oder b falsch, einerlei was für Aussagen a und b sind“. 580 Das ergibt sich daraus, daß eine Gesamtmenge G aller möglichen Fälle dann genau abgegrenzt ist, wenn gilt, daß G in zwei Teilmengen T1 und T2 zerlegt wird, für die erstens gilt, daß G ˆ T1 [ T2 und zweitens, daß T1 \ T2 ˆ é. Eine Eigenschaft A

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Die These von „durch schwierige Abgrenzungen implizierten Beurteilungsspielräumen“ gerät also in ein Dilemma. Sie verweist wahlweise auf logisch unmögliche Konstellationen581 oder darauf, daß ohne nachprüfbare Abgrenzungskonzeptionen keine objektiven Abgrenzungen möglich sind. Die letztgenannte Aussage ist zwar (tautologisch) wahr. Sie erklärt aber ganz sicher keinen „notwendigen Spielraum“, sondern umschreibt nichts anderes als die Wichtigkeit einer objektiven Antwort auf das Abgrenzungskriterium.582 (3) Methodologisch ebenfalls unhaltbar ist die dritte These des Spielraumarguments, die eine Existenz „irrationaler Regelungsgegenstände“ annimmt, die auf „naturgegebene Weise“ nicht eindeutig kategorisierbar sind. Diese obskurantistische, jede Theoriediskussion vernebelnde Vorstellung ist keineswegs neu, sondern eine bereichsspezifische Reformulierung der schon im antiken Griechenland geläufigen Idee der Aporie.583 Wir können sie – ebenso wie den irrationalen Glauben an das Induktionsprinzip584 – auf Aristoteles zurückverfolgen,585 der damit cum grano salis als geistiger Urheber zweier wesentlicher Bekann nur dann als definitives Teilungskriterium angesehen werden, wenn weiter gilt, daß alle Elemente der Teilmenge T1 die Eigenschaft A besitzen und zugleich jedes Element der Teilmenge T2 die Eigenschaft A (nicht A) aufweist. Daraus folgt, daß bei keinem Element der Teilmenge T1 die Eigenschaft A vorhanden ist. Nur unter diesen Voraussetzungen ist das Vorhandensein der Eigenschaft A ein hinreichendes Merkmal zur Klassifizierung der möglichen Sachverhalte. Dann gilt umgekehrt, falls mindestens ein Element einer der beiden Teilmengen sowohl A als auch A erfüllt, daß das Merkmal kein hinreichendes Teilungskriterium ist, denn dann ist entweder A oder A kein hinreichendes Merkmal zur Begründung der beiden Teilmengen T1 und T2. Ein solches Merkmal A kann dann bestenfalls als Typusmerkmal angesehen werden. 581 Das Abgrenzungskriterium wird nicht erfüllt und ein Nichtvorliegen des Abgrenzungskriteriums liegt ebenfalls nicht vor. 582 Die Idee ist wiederum eng verwandt mit der idealistischen Verwechslung, wonach der „Geist“ dem Gegenstand sein eigenes Defizit vorschreiben kann; dazu oben sub. § 6 III. 4. 583 Gemeint ist damit die Unmöglichkeit ein Problem zu lösen, weil die Begründbarkeit gegensätzlicher Auffassungen auf Widersprüchen in der Sache selbst beruht. Erkenntnistheoretischer Relativismus stützt sich gemeinhin auf die Idee der Aporie zur Ablehnung des Strebens nach Erkenntnis. 584 Etwa Aristoteles, Nikomachische Ethik 1098 b: „Von den Grundgegebenheiten werden die die einen durch Induktion erkannt, die anderen durch Intuition, die dritten durch eine Art von Gewöhnung und andere wiederum auf andere Weise“; vgl. zu diesem „Bruch mit der rationalistischen Überlieferung“ Popper, Parmenides, S. 25. 585 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1098 a: „Doch wollen wir uns auch der früher ausgesprochenen Warnung erinnern und Genauigkeit nicht in gleicher Weise bei allen Gegenständen erstreben, sondern in jedem Fall nur so, wie der gegebene Stoff es gestattet und bis an die Grenze hin, die dem Gang der wissenschaftlichen Untersuchung gemäß ist.“ Diese Idee wird seitdem immer wieder aufgegriffen, etwa von Thomas von Aquin, Summa Theologica, II.1 qu. 96, 1: „,Nicht auf allen Gebieten darf man gleiche Sicherheit verlangen‘ (Aristoteles). Im Bereich des Zufälligen – und dazu gehör[t] das Naturgeschehen [. . .] – genügt eine Gewißheit, der zufolge etwas in der Mehrzahl der Fälle wahr ist, mag auch bisweilen in weniger häufigen Fällen ein Fehler unterlaufen.“ Nunmehr wird dieser alte Gedanke auch der modernen Physik ent-

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standteile der modernen induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen angesehen werden kann.586 Die metaphysische Idee der Aporie muß methodologisch sehr genau unterschieden werden von allen Erklärungen, die Anspruch auf Objektivität erheben (Wissenschaftlichkeit als intersubjektive Nachprüfbarkeit).587 Das Zusprechen des Prädikats „irrational“ zu gewissen Gegenständen erfordert stets die gleichzeitige Benennbarkeit eines entsprechenden Rationalitätsmaßstabs. Mit anderen Worten kann also kein Gegenstand „aus sich heraus“ irrational sein, sondern – wenn überhaupt – nur vor einem näher zu bezeichnenden theoretischen Deutungshintergrund.588 Statt in essentialistischer Weise naturgegebene Irrationalitäten eines beliebigen Gegenstands (etwa Gefahrprognosen) zu postulieren, scheint das Spielraumargument oftmals eher darauf abzustellen, daß sich sein Regelungsgegenstand im Einzelfall nicht „erkennbar regelhaft“ verhält, was – genau genommen – nicht als ein „irrationales“, sondern als ein „chaotisches“ Verhalten des Gegenstandes gedeutet werden müßte.589 Nun sind allerdings auch chaotische Strukturen keine naturgegebenen Eigenschaften irgendeines Regelungsgegenstandes. Die Zuschreibung chaotischen (und in diesem Sinne regellosen) Verhaltens kann objektiv stets nur so interpretiert werden, daß bisher noch keine ordnenden Strukturen des Regelungsgegenstandes theoretisch formuliert werden konnten. Niemals kann jedoch umgekehrt bewiesen oder erkannt werden, daß ein „Gegenstand als solcher“ keine regelhaften Strukturen aufweist.590 nommen, etwa von Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 131 – „Nach der Quantenphysik liegt die Wurzel für die Notwendigkeit dafür, zur Statistik zurückzugreifen, in der Sache und nicht in menschlicher Unvollkommenheit.“ (Hervorhebung nicht im Original). 586 Schwer nachvollziehbar deshalb der explizite Vorstoß bei Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 26, der sich sogar auf Aristoteles beruft. Alexy führt im Zusammenhang aus: „Verfassungsrecht ist kein Stoff, der [. . .] fein gegliedert ist.“ Solche Aussagen entbehren an sich einer Fragestellung; vgl. sehr kritisch zu dieser Art des Diskurses Dworkin, Taking Rights seriously, S. 75 – „You would think me mad because I had asked entirely the wrong sort of question about the material at hand.“ Deutlich gegen Aristoteles – freilich ohne diesen zu nennen – Dworkin, a. a. O., S. 75 f. – „[p]ropositions are ways of presenting [. . .] information, but the number of propositions used will depend on considerations independent of the content of the information [. . .]“. 587 Zur Wissenschaftlichkeit als intersubjektiver Nachprüfbarkeit oben sub. § 6 III. 1. Wenn Argumente dieser Art zugelassen werden, kann vollständig auf Erklärungen verzichtet werden, denn metaphysische Positionen sind nicht widerlegbar; sie können an der Wirklichkeit nicht scheitern. 588 Zu diesem Gedanken unten sub. § 15 I. 2. a). 589 Zu der – diesen Verwechslungen zugrundeliegenden – Antinomie der Erkennbarkeit der Welt oben sub. § 6 III. 4. (insbesondere Fn. 402). 590 Das ergibt sich unmittelbar aus der Unmöglichkeit einer Verifikation (Antinomie der Erkennbarkeit der Welt).

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Ganz im Gegenteil: Jeder Versuch, die Regellosigkeit oder chaotische Komplexität eines Regelungsgegenstands endgültig zu begründen, endet entweder in der – zutreffenden – Erkenntnis der Nichtbegründbarkeit dieser Annahmen,591 oder – irrtümlich – in mehr oder weniger plausiblen Scheinargumentationen, die sich um methodologisch unzulässige Gleichsetzungen des subjektiven Denkens mit dem Sein bemühen. Das Prädikat der Regellosigkeit kann infolgedessen für alle Gegenstände nur axiomatisch eingeführt werden. Aber auch solche Regellosigkeitsaxiome bleiben der ständigen Gefahr aller Thesen von der Nichtexistenz beliebiger Eigenschaften ausgesetzt, nämlich dem Problem der Falsifikation durch das Auffinden eines einzigen Gegenbeispiels – hier also das mögliche Auffinden einer nachprüfbar regelhaften Struktur, die auf alle Prognosen zutrifft. Solche Gegenbeispiele können jederzeit als – dann freilich externe592 – Kritik die axiomatische Grundannahme der Regellosigkeit herausfordern.593 Ergebnis: Die Frage nach der Existenz „normativer Beurteilungsspielräume“ ist für sich genommen durchaus berechtigt. Zur objektiv erklärenden Lösung von Abgrenzungsproblemen vermag die (induktivistische) Rede von Beurteilungsspielräumen aber keinen Beitrag zu leisten.594 Auch in Hinblick auf die spezielle Frage nach objektiven Abgrenzungskonzeptionen zwischen gefährlichen und ungefährlichen Sachverhaltskonstellationen ist das Spielraumargument somit nicht weiterführend. Aufgrund seiner konzeptimmanent unvermeidbaren Verwendung nichtprüfbarer Evidenzerlebnisse ausgewählter Rechtsanwender (monistische Interpretationstheorie595) muß das Spielraumargument als potentielle Lösung des Abgrenzungsproblems methodologisch ausgeschieden werden.596

591

Dazu oben Fn. 589. Jedes Gegenbeispiel ändert nichts daran, daß die „Irrationalität“ bzw. „chaotische Struktur“ des Regelungsgegenstandes gleichwohl axiomatisch eingeführt werden kann. Aber es unterminiert gewiß die Bereitschaft Unvoreingenommener, ein solches Dogma zu akzeptieren. Anders als die Induktion (epagoge¯) des Aristoteles ist diese Widerlegung durch Gegenbeispiele die Sokratische Argumentation, der Elenchus. 593 Eine solche (überraschend einfache) Systematisierbarkeit der angeblich „irrationalen“ bzw. „chaotischen“ Prognosen wird im weiteren Fortgang dieser Arbeit aufgezeigt werden können; dazu vor allem unten sub. § 9 I., II. 594 Die dogmatische Figur des Beurteilungsspielraums kann durch die Klasse der jeweils rechtmäßigen Handlungsvarianten innerhalb einer einzelnen Sachverhaltskonstellation objektiv substituiert werden. Denn sofern durch die Bereitstellung einer nachprüfbaren Abgrenzungskonzeption alle potentiellen Handlungsvarianten trennscharf eingeteilt werden können in die (Teil-)Klasse der rechtmäßigen Optionen einerseits sowie die (Teil-)Klasse der rechtswidrigen Möglichkeiten andererseits, kann das Institut des Beurteilungsspielraum trivialerweise gleichgesetzt werden mit der rechtmäßigen Teilklasse. 595 Dazu oben sub. § 1 I. 592

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7. Komplexität Die vorangegangenen Kritiken sämtlicher Abgrenzungsdoktrinen der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen ermöglichen abschließend die Rekonstruktion des sogenannten Komplexitätsproblems. Bei dieser Rekonstruktion des Komplexitätsproblems handelt es sich um eine unannehmbare Konsequenz mehrerer verschiedener Hintergrundannahmen des induktivistischen Theorierahmens.597 Oder anders ausgedrückt: Es handelt sich bei dieser Zusammenstellung um eine spezifisch induktive – und theoretisch jederzeit mögliche – Interpretation beliebiger Sachverhaltskonstellationen, der die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen theorieintern nicht wirksam begegnen kann.598 Das Komplexitätsproblem weist zwei wichtige Eigenschaften auf. Einerseits werden auf seiner Grundlage gegenständlich unbegrenzte „Gefährdungsanalysen“ ermöglicht, das heißt: Jede Sachverhaltskonstellation kann – theoretisch – als „gefährlich“ angesehen werden; wir können diesen Aspekt des Komplexitätsproblems als Phänomen der „Universalgefährdung“ bezeichnen.599 Andererseits erlaubt das Komplexitätsproblem auch, daß alle Entscheidungsvarianten als Pattsituationen aufgestellt werden, die ihrerseits anhand des Erklärungsinstrumentariums der induktiven Dogmatik nicht mehr rational auflösbar sind; dieser zweite Aspekt des Komplexitätsproblems kann als objektive „Optionsparalyse“ charakterisiert werden. Nun bedeutet dieser doppelte Befund zwar sicherlich nicht, daß intuitionistische Entscheidungen in solchermaßen „komplexen“ Sachverhaltskonstellationen unmöglich wären. Das ergibt sich (wie immer) daraus, daß subjektivistisch bekanntlich alles auf jede beliebige Weise entschieden werden kann.600 Das Komplexitätsproblem zeigt aber sehr deutlich, daß die intuitionistischen Entscheidungen mit Hilfe des theorieinternen Instrumentariums der induktiven Dogma-

596 Zu den weiteren Einwänden gegen das Spielraumargument in diesem Paragraphen oben sub. (1), (2) und (3). 597 Das Komplexitätsproblem wird hier lediglich als Kürzel für eine konstruktionsbedingte Schwäche der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen verwendet. Innerhalb der sog. Systemtheorie ist der Komplexitäts-Begriff von zentraler Bedeutung (etwa Di Fabio, Offener Diskurs, S. 109 – „Die Welt gibt in ihrer unendlichen Komplexität den sich in ihr generierenden Systemen eine unendliche Abgrenzungsmöglichkeit, damit aber auch das ständige Problem der Komplexitätsbewältigung vor.“), bleibt dort allerdings dunkel (Luhmann, Theorie sozialer Systeme, S. 115, spricht von einem „schwierigen Begriff“). 598 Vgl. Popper, Historizismus, S. 109, S. 10, S. 30; Di Fabio, Risikoentscheidung, S. 70. 599 Exemplarisch Beck, Risikogesellschaft, S. 75 – „Die Industriegesellschaft [. . .] produziert systematisch ihre eigene Bedrohung und Infragestellung in der Potenzierung und wirtschaftlichen Ausschlachtung der Risiken.“ 600 Siehe oben Fn. 377.

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tik der Risikoentscheidungen nicht intersubjektiv nachprüfbar erklärt werden können. Sofern die Nachprüfbarkeit von Einzelentscheidungen als Voraussetzung für die Anerkennung einer Erklärung angesehen wird (rule of law and not of men), demonstriert das Komplexitätsproblem die methodologische Unannehmbarkeit der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen.601 (1) Der Effekt der hier sogenannten Universalgefährdung hängt dabei mit folgender Betrachtungsweise zusammen. Das Komplexitätsproblem nutzt aus, daß innerhalb jeder „Risikoanalyse“ – also der Klassifikation unbekannter Sachverhaltskonstellationen – immer die Möglichkeit eröffnet ist, an beliebige Sachverhalte alle denkbaren Konsequenzen zu knüpfen, indem nötigenfalls hinreichend „komplexe Wirkungszusammenhänge“ heraufbeschworen werden. Die Komposition derartiger Erklärungen ist im Einzelfall lediglich abhängig von hinreichender Kreativität sowie von einer möglichst hohen Suggestivkraft der Darstellung.602 Die Strategie aller Argumentationen mit Universalgefährdungen beruht ganz einfach darauf, daß Prognosen, die einen beherrschbaren Komplexitätsgrad überschreiten oder Ereignisse jenseits überschaubarer zeitlicher Distanzen prophezeien, gegen alle Widerlegungen immunisiert werden können.603 Durch dieses Vorgehen können somit – unter Berufung auf „hochinterdependente“ Situationsmerkmale – unwiderlegbare Gefährdungspotentiale für jede Entscheidung sowie für jede Sachverhaltskonstellation formuliert werden. Auf diese Weise führt der Aspekt der Universalgefährdung zu einer theoretisch unbegrenzten Proliferation neuer Gefahrenquellen. (2) Der problemverschärfende weitere Aspekt des Komplexitätsproblems, den wir als Optionsparalyse bezeichnet haben, ist eine Konsequenz jederzeit konstruierbarer Pattsituationen. Denn ebenso, wie für jede mögliche Entscheidung theoretische Gefahrenpotentiale benannt werden können, sind umgekehrt auch entsprechende Gefahrprognosen für die jeweils korrespondierenden Unterlassungen – also für die Entscheidungen zugunsten der jeweiligen Alternative – formulierbar.604 601 Treffend Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 26 – „Die reine Subjektivität trägt keinen [. . . rechtlichen] Begriff. Dieser muß verallgemeinerungsfähige Aussagen ermöglichen; er bedarf also der objektiven Merkmale.“ 602 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 60 – „[. . .] Erkenntnisse und Wahrnehmungen [sind] in hohem Maße konstruktive Eigenleistungen des beobachtenden Systems [. . .], die sich bestimmten, im jeweiligen System verwendeten Selektionen verdanken.“ 603 Genau genommen lassen sich Prognosen ex ante niemals falsifizieren, daß macht ihre spezifische Schwierigkeit aus; dazu unten sub. § 8 I. 2. 604 Vgl. zum Zusammenhang zwischen objektiven Entscheidungen als Wahl zwischen – immer genau zwei – Sachverhaltsalternativen sowie den handlungsbezogenen

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Auch hierbei handelt es sich, wie bei den Argumentationen mit Universalgefährdungen, um immer lösbare Konstruktionsaufgaben.605 Pattsituationen dieser Art führen zu rationaler Unentscheidbarkeit. Denn indem beide möglichen Entscheidungsvarianten als gleichermaßen gefährlich darstellbar sind, kann jede mögliche Entscheidung als normativ gleichermaßen ungünstig betrachtet werden. Für die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen im Recht mündet das Komplexitätsproblem somit in ein interessantes Paradox ein: Falls – im Sinne der Universalgefährdung – alle Entscheidungen gefährlich sind, müßte konsequenterweise darauf reagiert werden. Im Idealfall wären alle Entscheidungen zu verhindern. Zugleich ergibt sich aber umgekehrt aus der Pattsituation – im Sinne der Optionsparalyse –, daß methodologisch keine Gründe dafür vorliegen, ein Übel gegen ein gleichwertiges anderes Übel auszutauschen. Somit ist jede mögliche Entscheidung gewissermaßen genauso gefährlich wie ihr Gegenteil. Jede mögliche Reaktion auf das Komplexitätsproblem scheint infolgedessen normativ ebenso gut zu sein wie gar keine Reaktion auf das Komplexitätsproblem.606 Eine zufriedenstellende Auflösung dieser offenkundig relativistischen Paradoxie setzt eine nachprüfbare Auswahl relevanter Gefahrprognosen voraus. Das bedeutet, daß objektive Merkmale zur Unterscheidung irrelevanter und relevanter Prognosen vorhanden sein müssen.607 Nur eine solchermaßen objektive Auswahlkonzeption stellt sicher, daß nicht alle Entscheidungen als gefährlich angesehen werden können (Universalgefährdung); und auch nur durch solche Aus(zumeist subjektivierenden) Kategorien „Tun“ und „Unterlassen“ oben sub. vor § 2, insbesondere Fn. 31. 605 Typischerweise ist eine solche Pattsituation schon ohne jeden konstruktiven Aufwand gegeben, wenn sich (handlungsbezogen) Tun und Unterlassen auf das identische Rechtsgut auswirken, z. B. im Rahmen der Arzneimittelzulassungsverfahren. Läßt man weitgehend unerprobte Medikamente zu, so sterben die Patienten möglicherweise an unerwarteten Nebenwirkungen. Erprobt man die Medikamente dagegen zuerst aufwendig im Rahmen umfangreicher Studien, sterben eventuell dieselben Patienten wegen zu später medizinischer Hilfe. Aber auch in allen anderen Fällen kann diese Argumentationstechnik verwendet werden. Im Bereich der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen besteht eventuell das Risiko schädlicher Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die biologische Vielfalt. Verweigert man sich jedoch einer Erforschung der Technologie, so droht (wiederum potentiell) die Gefahr, daß die landwirtschaftlichen Anbauflächen global unter der zunehmenden Last der Bevölkerungsexplosion durch Überdüngung und Intensivnutzung vernichtet werden. 606 Siehe Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 61 – „[. . .] die Diskussion über Risiken [kann] [. . .] keine umfassenden [. . .] Wahrheitsansprüche formulieren [. . .] weil sie selbst immer nur – einer eigenen Logik folgend – Selektion ist, die auch anders hätte ausfallen können (Kontingenz)“. 607 Dazu oben sub. § 4 IV., insbesondere das Zitat zu Fn. 105.

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wahlkriterien kann objektiv erklärt werden, weshalb nicht jede Entscheidung ebenso riskant ist wie ihr Gegenteil (Optionsparalyse). Um innerhalb interpretierender Regulierungsmodelle diese Auswählbarkeit relevanter Prognosen zu gewährleisten, müssen die Auswahlkriterien nachprüfbar (das heißt: objektiv) erklärt werden können. Anderenfalls sind intuitionistische ad hoc-Entscheidungen durch ausgewählte Rechtsanwender unvermeidbar (monistische Interpretationslehre).608 Eine zentrale Aufgabe der Theorie der Risikoentscheidungen im Recht ist somit die objektive Auswahlerklärung zurechnungsrelevanter Gefahrprognosen. Dieser Anforderung wird die induktive Risikodogmatik nicht gerecht. Daher kann sie das Komplexitätsproblem nicht objektiv auflösen. IV. Resümee Eine zusammenfassende Gesamtwürdigung der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen im Recht ergibt einen ambivalenten Befund. Im Kern zutreffend ist der induktivistische Ausgangspunkt, der – entschieden antirelativistisch – zurechnungsrelevante und zurechnungsirrelevante Prognosen unterscheiden möchte. Dabei bemerkte die induktive Dogmatik bereits sehr früh, daß relativistische Gefahrkonzeptionen (Komplexitätsproblem609) nur dann vermeidbar sind, wenn objektive Erkenntnis über zurechnungsrelevante Prognosen möglich ist. Bei ihrem Versuch der Beantwortung dieser erkenntnistheoretischen Frage positionierte sich die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen nicht skeptizistisch, sondern empfiehlt bis heute das Verfahren der Induktion als strategischen Ausweg aus dem Problem der Prognoseauswahl. Zur angemessenen Beurteilung dieses sehr berechtigten, anti-relativistischen Forschungsprogramms der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen muß jedoch unmittelbar die Frage angeschlossen werden, ob die induktive Dogmatik ihrem eigenen Anspruch konzeptionell gerecht wird. Es muß also beantwortet werden, ob mit diesem spezifischen Ansatz eine objektive Abgrenzung zwischen denjenigen Kategorien gelingt, die der induktivistischen Unterscheidung zwischen Gefahr und Sicherheit zugrunde liegen. Die Frage lautet also: Trägt die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen als Hypothese etwas zur Klärung desjenigen Problems bei, zu dessen Lösung sie vorgeschlagen wird? In seiner einfachsten Form kann dieses Abgrenzungsproblem formuliert werden als objektive Unterscheidbarkeit der beiden Kategorien, also als nachprüfbare Erklärung dafür, warum normativ für einen empirischen Sachverhalt im 608 Zum Ziel der Vermeidung subjektivistischer Beliebigkeit (rule of law and not of men) oben sub. § 6 II. 3., III. 3. 609 Vgl. oben sub. § 7 III. 7.

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Einzelfall Gewißheit („Sicherheit“) anzunehmen ist bzw. warum nicht statt dessen derselbe Sachverhalt als ungewiß („gefährlich“) kategorisiert wird. Diese Aufgabe scheint von der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen im Recht nicht gelöst zu sein. Die Kritik aller Abgrenzungsdoktrinen der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen hat gezeigt, daß sie über kein objektives Erklärungsmodell verfügt, mit dessen Hilfe das Abgrenzungsproblem nachprüfbar aufgelöst werden könnte. Die induktive Dogmatik verfügt statt dessen über etwas rundweg anderes: Sie stellt begrifflich Kategorien zur Verfügung, zwischen denen intuitionistisch entschieden werden muß (ihr berühmter eigener Terminus technicus dafür lautet „wertende Konkretisierung“610). So unterteilt die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen zwar konzeptionell die unterschiedlichen – von ihr als relevant angesehenen – Kategorien anhand des Merkmals der sogenannten Prognosewahrscheinlichkeit. Intersubjektiv nachprüfbare Verfahren, die solche „Wahrscheinlichkeiten“ bestimmen könnten, existieren allerdings weder derzeit,611 noch werden zukünftig induktive Verfahren zur objektiven Bestimmung von Prognosewahrscheinlichkeiten gefunden werden können.612 Das induktive Auswahlkonzept ist auch deshalb nicht objektiv, weil es unvollständig ist; es möchte diejenigen Prognosen als „relevante“ Gefahrprognosen ansehen, denen „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ zukommt, ohne dabei das Merkmal des „Hinreichens“ konzeptimmanent zu bestimmen.613 Entsprechendes gilt hinsichtlich der Objektivität aller anderen Abgrenzungsdoktrinen der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen.614 Deshalb gestattet sie keine nachprüfbaren Erklärungen ihrer eigenen Kategorisierungen und deshalb sind allein begriffliche Umschreibungen intuitionistischer Entscheidungen ausgewählter Rechtsanwender möglich. Das methodologische Objektivitätsdefizit der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen im Recht ist jedoch vermeidbar. Oder, um etwas genauer zu sein: Falls das methodologische Ziel einer Theorie der Risikoentscheidungen – in völliger Übereinstimmung mit dem alten Ideal der rule of law – in der Objektivität ihrer Erklärungen gesehen wird,615 muß vor allem ein fundamentaler 610

Dazu oben sub. § 6 III. 2. Dementsprechend verfügt keine einzige wissenschaftliche – insbesondere: keine naturwissenschaftliche – Disziplin über objektive Verfahren zur Bestimmung von Prognosewahrscheinlichkeiten; dazu oben sub. § 7 III. 2. 612 Dazu oben sub. § 7 III. 3. (Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse). 613 Oben sub. § 7 III. 1. 614 Oben sub. § 7 III. pass. 615 Dazu oben sub. § 6 II., III. 611

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Fehler im Theorieansatz vermieden werden. Dieser Fehler ist es, der die subjektivistischen, intuitionistischen und wertungsgebundenen Erklärungsdefizite der induktiven Theorie überhaupt erst herbeiführt. Der vermeidbare Fehler im Theorieansatz der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen beruht nämlich darauf, daß die vergebliche Suche nach der alles entscheidenden „hinreichenden Prognosewahrscheinlichkeit“ – oder, was dasselbe ist: die verbreitete monistische Neigung, den Rechtsanwendern „wertende Konkretisierungen“ zu übertragen – einer Formulierung der zugrundeliegenden Problemsituation entspringt, die ihrerseits der Kritik nicht standhält. Die „hinreichende Prognosewahrscheinlichkeit“ – bzw. der „wertende Rechtsanwender“ – als archimedischer Punkt der induktiven Risikodogmatik basiert auf einer falschen Fragestellung, die eng zusammenhängt mit einer falschen Darstellung der wirklichen Problemsituation. Der überwältigende, gegenteilige „empirische Befund“, wonach sich bislang nahezu616 alle theoretischen Konzeptionen auf die induktive Problemsituation konzentriert haben, bedeutet nicht, daß die damit jeweils akzeptierte Fragestellung an sich unproblematisch wäre. Es gibt nun einmal keine theorieunabhängigen Fragestellungen.617 616 In bemerkenswerter Klarheit umschrieb allerdings Robert Nozick – abstrakt – zwei Möglichkeiten einer Reformulierung der Problemsituation, interessanterweise ohne dabei eine konkrete Reformulierungsmöglichkeit zu sehen: „One might plausibly argue that beginning with probabilities that may vary continuously and asking that some line be drawn misconstrues the problem and almost guarantees that any position of the line (other than 0 and 1) will appear arbitrary. An alternative procedure would begin with considerations ,perpendicular‘ to those about probabilities, theoretically developing them into an answer to the question about risky actions. Two types of theories could be developed. A theory could specify where a line is to be drawn without this position’s seeming arbitrary, because though the line comes at a place which is not special along the probability dimension, it is distinguished along the different dimensions considered by the theory. Or, a theory could provide criteria for deciding about the risky actions that do not involve drawing a line along the probability (or expected value or some similar) dimension, whereby all the actions falling on one side of the line are treated in one way and all those on the other side in another. The considerations of the theory do not place the actions in the same order effected by the probability dimension, nor does the theory partition actions into equivalence classes coextensive with some interval partition of the unit line. The considerations the theory adduces merely treat the question differently [. . .]. Unfortunately, no satisfactory specific alternative theory has yet been produced.“ (Anarchy, State, and Utopia, S. 75; Hervorhebungen nicht im Original); die hier hervorgehobene zweite Reformulierungsmöglichkeit umschreibt Eigenschaften unserer Konzeption der deduktiven Theorie des Rechtsgüterrelationen. 617 Allgemein dazu die – zu selten beachtete – kurze Schrift Kants von 1793 „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“. In diesem – freilich modifizierten – Sinne ist Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus, Satz 4.003) zuzustimmen – „Die meisten Sätze und Fragen [. . .] sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen.“

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Positiv gewendet gilt dementsprechend, daß jede vollständige Theorie der Risikoentscheidungen im Recht die besonderen Voraussetzungen ihrer eigenen Problemstellung sehr genau (mit-)berücksichtigen muß. Und dennoch: Es bleibt immer dabei, daß die Wahrnehmung der jeweils eigenen Problemsituation ihrerseits falsch und irreführend sein kann.618 Zur Überwindung des dargelegten methodologischen Objektivitätsdefizits der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen im Recht werden wir ihre hergebrachte Abgrenzungsfrage geringfügig umformulieren müssen.619 Diese Umdeutung der induktiven Fragestellung soll in Form des nun folgenden Vorschlags der objektiven Theorie der Rechtsgüterrelationen vollzogen werden. Die wichtigsten Vorteile der dadurch erreichbaren Objektivität hängen unmittelbar zusammen mit einer einfachen Verknüpfung zwischen Normativität und Risikoentscheidung. Es handelt sich um einen Zusammenhang, den Karl Popper so darstellte: „Der Glaube an die Durchführbarkeit eines Rechtsstaats und an die Möglichkeit von Freiheit und Gerechtigkeit ist unvereinbar mit einer Erkenntnistheorie, die lehrt, daß es objektive Tatsachen nicht gibt: weder in diesem Fall, noch in einem andern; und daß der Richter sich über Tatsachen schon deshalb nicht irren kann, weil Tatsachen ebensowenig falsch beurteilt werden können, wie richtig.“620

§ 8 Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage Die Theorie der Rechtsgüterrelationen schlägt vor, das zentrale induktivistische Abgrenzungskriterium „Prognosewahrscheinlichkeit“ durch eine objektiv nachprüfbare Unterscheidungskonzeption zu ersetzen. Diese Theoriemodifikation ermöglicht vor allem die vollständig nachprüfbare Auswahl zurechnungsrelevanter Prognosen in jedem Einzelfall.621 Daneben erklärt sie aber auch umfassend die herkömmliche Funktionsweise sämtlicher induktiver Risikokategorien.622 Sehr grob umrissen beruht das objektive Unterscheidungsmodell der Theorie der Rechtsgüterrelationen auf einer komparativen Bewertung der theoretischen Erklärungskomponenten623 konkurrierender Gefahrprognosen. Anders als im 618 Allgemein dazu Albert, Kritische Vernunft, S. 17; Popper, Vermutungen und Widerlegungen, S. 36; Wittgenstein, Über Gewißheit, Bem. 342 f. 619 Die Umformulierung beantwortet auch die Frage von Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, S. 180 – „Es ist auch nicht ersichtlich, wie die Frage, wann ein Ereignis zwar theoretisch möglich, aber „praktisch ausgeschlossen“ ist, anders als durch Wahrscheinlichkeitsurteile beantwortet werden kann.“ 620 Popper, Vermutungen und Widerlegungen, S. 5. 621 Unten sub. § 8. 622 Unten sub. § 9 II. 623 Unten sub. § 8 IV. und V.

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Rahmen der – unprüfbaren – induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen werden konkurrierende Tatsacheninterpretationen miteinander verglichen und nicht unmittelbar Tatsachen an sich gewürdigt. Es handelt sich also um komparative Theoriebewertungen. Der entscheidende konzeptionelle Unterschied liegt dabei in der Funktion, die der vorhandenen empirischen Erfahrung für die Beurteilung von Prognosen zukommt: Während das induktive Modell seine Gefahrprognosen unmittelbar auf die empirischen Tatsachen gründen möchte (und bei diesem Versuch scheitert), sind dieselben empirischen Tatsachen innerhalb der objektiven Theorie der Rechtsgüterrelationen ausschließlich Probiersteine der Wahrheit der Regeln im Sinne Kants624. Unser Gegenentwurf zum Induktivismus vermutet also nicht, daß Prognosen aus Tatsachenbefunden abgeleitet werden können. Er vermutet statt dessen, daß Konsequenzen theoretischer Annahmen an Tatsachenbefunden überprüft werden können. Die genaueren Einzelheiten der – hier vorab nur schematisch skizzierbaren – deduktiven, oder, wie man auch sagen kann: „fallibilistischen“ Methode der komparativen Theoriebewertung werden im folgenden ausführlich dargestellt.625 Noch zuvor muß allerdings näher auf einige wichtige, jedoch eher technische Einzelheiten aller normativen Gefahrkonzeptionen eingegangen werden. Dabei handelt es sich vor allem um das Problem sogenannter naturalistischer Fehlschlüsse sowie die beiden verschiedenen Grundmodalitäten möglicher Gefahrzurechnung.626 I. Gefahr als wissenschaftsakzessorische Zurechnungskonzeption Gefahren an sich sind der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit entzogen. Falls also Gefahrprognosen erstellt werden sollen, muß anders vorgegangen werden, das heißt: „indirekt“. Bei etwas genauerer Betrachtung bezeichnet das sogenannte „Erkennen von Gefahren“ stets Theorien, oder, wie man sagen könnte: Vermutungen. Wichtig ist dabei, daß das Erkennen einer Gefahr niemals vollständig auf reine Sinneseindrücke627 reduzierbar ist. Im Zusammenhang mit Gefahrenerkennungen kommt zwar den Sinneseindrücken (und allen sonstigen, technischen Meßergebnissen) eine sehr wichtige Funktion zu, was unter anderem erklärt, daß bestimmte Wahrnehmungserleb624

Unten sub. § 8 I. 3. Unten sub. § 8 und § 9. 626 Unten sub. § 8 I., II. und III. 627 Den „Sinneseindrücken“ als sinnlichen Wahrnehmungen können prinzipiell auch alle sonstigen empirischen Wahrnehmungen, die mit technischen Hilfsmitteln sowie technischen Aufzeichnungsverfahren gewonnen werden, gleichgestellt werden; dazu Musgrave, Alltagswissen, S. 87 ff. 625

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nisse bisweilen unkritisch mit der jeweiligen Gefahr gleichgesetzt werden.628 Aber spätestens dann, wenn auch Gefährdungspotentiale schwierigerer Sachverhaltskonstellationen erklärt werden sollen, die nicht mehr ad hoc – „praktisch eindeutig“ – erfaßbar sind, ist diese intuitive Gleichsetzung vollkommen unzureichend. Wahrnehmungserlebnisse und Meßwerte als empirische Erfahrungen müssen spätestens dann methodologisch streng unterschieden werden von Gefahren als theorieabhängigen Prognosen. Gefahren sind also niemals empirische Tatsachen, sondern statt dessen erst das theoriegeleitete Ergebnis wissenschaftsakzessorischer Zurechnungen. Anders ausgedrückt: „Gefahr“ bezeichnet keine reale629 Erscheinung, sondern immer ein theoretisches Konstrukt. Dieser strikte Primat der Theorie darf jedoch nicht zu der falschen Einschätzung verleiten, „Konstruktion“ gleichzusetzen mit Relativismus, oder dazu, die Objektivität der Wirklichkeit zu bezweifeln. Ganz im Gegenteil: Die Wahrheit wissenschaftsakzessorischer Zurechnungen ist absolut. Zurechnungszusammenhänge sind also prinzipiell der – wie man sagt: „wahrheitsnahen“ oder „annähernden“630 – objektiven Erkenntnis zugänglich. Alle in diesem Sinne konstruierten Gefahren sind kritisierbar sowie, gegebenenfalls, widerlegbar. Das kann auch so formuliert werden: Die Wahrheit jeder Gefahrkonstruktion ist an der Wirklichkeit überprüfbar.631 Damit hängt sie ausschließlich von dieser Wirklichkeit ab. Dieser Zusammenhang hat Konsequenzen, die vor allem den Relativismus betreffen. Denn die Wahrheitswerte von Gefahrprognosen hängen damit – entgegen der anderslautenden Vermutung des ebenso modernen wie verbreiteten Relativismus – niemals von einzelnen Beobachtern oder Interpreten ab.632 Relativistische, subjektivierende oder intuitionistische Wertungen sind also keine notwendigen Erklärungsbestandteile theoretisch konstruierter Gefahren. 1. Prospektive Zurechnung von Rechtsgüterbeeinträchtigungen Gefahr als wissenschaftsakzessorische Zurechnungskonzeption betrifft die prospektive Zuordnung künftiger Rechtsgüterbeeinträchtigungen zu gegenwärtigen Sachverhaltskonstellationen. Daran wird wiederum deutlich, daß Gefahren in diesem Sinne keine empirischen Tatsachen (Erfahrungen) sind, sondern theoretische Interpretationen vor628 629 630 631 632

Beispiel: „Der Sachverständige sieht, daß das Haus einsturzgefährdet ist.“ Gefahren sind keine Bestandteile von „Welt 1“. Ausführlicher zur Idee der Wahrheitsnähe unten sub. § 8 IV. und § 9 I. 3. Dazu unten sub. § 8 IV. Zur „Wertungsfreiheit“ des Maßstabs unten sub. § 8 V. 1.

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handener Tatsachen: Gefahr ist die Interpretation von verfügbaren empirischen Tatsachen als zukünftig normativ nachteilig. Konzeptionell verknüpft Gefahr also gegenwärtige Sachverhaltskonstellationen mit zukünftigen Sachverhaltskonstellationen (Rechtsgüterbeeinträchtigungen). Oder anders, ganz allgemein ausgedrückt: Anhand des Gefahrkonzepts werden gegenwärtigen Sachverhaltskonstellationen deren zukünftigen Entwicklungsperspektiven zugerechnet. Dieser Ansatz weist – mit den Worten Bertrand Russells – Gefahr als einen „kausalen Begriff“ aus.633 Die normative Nachteiligkeit der zukünftigen Entwicklungsperspektiven eines beliebigen gegenwärtigen Sachverhalts hängt einerseits davon ab, welche Rechtsgüter eine normative Ordnung als relevant ansieht sowie andererseits davon, welche zukünftigen Entwicklungsperspektiven der Beurteilung im Einzelfall zugrunde gelegt werden. 2. Naturalistische Fehlschlüsse Sogenannte naturalistische Fehlschlüsse sind gewissermaßen das exakte Gegenteil unserer wissenschaftsakzessorischen, theoriegeleiteten Zurechnungskonzeption. Sie sind gleichzeitig eine besonders wichtige Quelle der induktivistischen Vorstellung rein empirischer Gefahrzurechnungen.634 Naturalistische Fehlschlüsse gehen davon aus, daß empirische Tatsachen vorliegen können, die bereits aus sich heraus Gefahrprognosen begründen. Die zugrundeliegende Idee hat sehr ernste Defizite und jedes vertiefte Verständnis des objektiven Gegenvorschlags der komparativen Theoriebewertung setzt Vertrautheit mit dieser Problematik voraus. Bereits die vorangegangene Kritik der induktivistischen Abgrenzungsdoktrinen hat ergeben, daß rein empirische Gefahrkonzeptionen methodologisch nicht tragfähig sind.635 Man darf Gefährlichkeit aufgrund ihrer Zukunftsgewandtheit nicht als empirische Tatsache mißverstehen.636

633

Vgl. Russel, History of Western Philosophy, S. 646. In der Geistesgeschichte wurden oftmals diejenigen Verstandesoperationen als „natürliche Interpretationen“ bezeichnet, die sich als „sein [d. h. des Verstandes] natürlicher, selbständiger Gange“ (Francis Bacon, Neues Organon der Wissenschaften, Vorrede, S. 22) darstellen, mit der Folge, daß solche „natürlichen Interpretationen“ nur schwer von den Wahrnehmungen zu trennen sind; instruktiv zur Ideengeschichte Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 89 ff. 635 Vgl. dazu oben sub. § 7 III. 636 Nicht ganz präzise insoweit die Formulierung von Ossenbühl, 25 Jahr BVerfG, S. 503 – „Inwieweit [man] die Wirklichkeit [. . . in Gestalt] zukünftiger Tatsachen in seine Rechtsentscheidung übernehmen darf [hängt vom Kontext ab].“ 634

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Statt dessen kann für alle Sachverhaltskonstellationen mit der objektiv feststellbaren (Beispiel-)Eigenschaft E immer dann und nur dann gesagt werden, daß sie zukünftig das (Beispiel-)Rechtsgut R zerstören werden (Gefahrurteil), falls gleichzeitig auch ein allgemeiner Satz des Inhalts akzeptiert werden kann, wonach alle Sachverhaltskonstellationen mit der objektiven Eigenschaft E immer mit einer Zerstörung von R einhergehen.637 Dieser Hinweis auf allgemeine Sätze (Theorien) mag zunächst unbedeutend klingen. Möglicherweise erscheint er manchem sogar geradewegs trivial. Darüber hinaus muß selbstverständlich auch zugegeben werden, daß allgemeine Sätze – als Theorien – alltagssprachlich wohl fast nie ausdrücklich bezeichnet werden, wenn von Gefahren die Rede ist. Weit weniger trivial und aus methodologischer Sicht ganz entscheidend ist es jedoch, daß die objektiven empirischen Eigenschaften einzelner Sachverhaltskonstellationen für sich alleine genommen niemals Gefahren erklären können, weil sie immer der theoretischen Ergänzung durch wenigstens einen allgemeinen Satz bedürfen.638 Jedes objektiv erklärte Gefahrurteil besteht also mit anderen Worten nicht nur aus empirischen Komponenten. Hinzukommen müssen notwendigerweise immer auch noch allgemeine Sätze, die nicht „empirischer“, sondern „intellektuelltheoretischer“ Natur sind. Dieser zweite, theoretische Bestandteil jedes objektiv erklärten Gefahrurteils ist seinerseits „nicht-empirisch“ in dem Sinne, daß er als Theorieannahme (Vermutung) ganz sicher nicht sinnlich wahrnehmbar ist.639 Unter anderem deshalb lassen sich die spezifischen Probleme, die mit der theoretischen Komponente jeder objektiven Gefahrerklärung verbunden sind, weder mittels Beweislastüberlegungen, noch mit Einschätzungsspielräumen oder Ähnlichkeitsuntersuchungen lösen.640 637 Darstellbar als Invarianzrelation: „Für jedes E gilt, daß R anschließend nicht unversehrt ist.“ bzw. „Alle E’s sind zukünftig beschädigte R’s.“ 638 Das wird nicht immer ganz deutlich, etwa in der Darstellung bei Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 24 – „The existence of a bent rail, together with the factors relating to the weight and speed of the train, account for its running off the lines.“ Mit anderen Worten gibt es also keinen „Übergang vom Erfahrungswissen zur theoretischen Schadensermittlung“ (Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 78), sondern die vormals mehr intuitiv verwendeten, eher trivialen Theorieelemente des Alltagsverstandes werden im Zuge anwachsender Erkenntnisse durch anspruchsvollere Theoriebestandteile ersetzt; hierzu unten sub. § 8 IV., § 9 I. 3. 639 Theorien sind typische „Welt 3 Produkte“, dazu oben Fn. 309; vgl. deutlich Albert, Kritische Vernunft, S. 31 – „Die für die Deutung der Realität interessanten Theorien sind jedenfalls, im Gegensatz zu dem, was die klassische Lehre nahelegt, keine Offenbarung durch die Vernunft, sondern vielmehr Erfindungen, Konstruktionen, also: Phantasieprodukte – gleichgültig, ob es sich dabei um falsche oder wahre Aussagenmengen oder um solche mit mehr oder minder großem Wahrheitsgehalt handelt.“; dazu auch Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 84. 640 Dazu jeweils oben sub. § 7 III. 4., 5., 6.

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Bei näherer Betrachtung betont der unscheinbare, zunächst trivial erscheinende Hinweis auf die allgemeinen Sätze neben den empirischen Tatsachen somit vor allem den wichtigen nichtempirischen Teil aller objektiven Gefahrerklärungen. Nun könnte die – hier so nachdrücklich hervorgehobene – theoretische Komponente jedes objektiv erklärten Gefahrurteils auf den ersten Blick einleuchtend, wenn auch etwas spitzfindig erscheinen. Außerdem könnte man sicherlich darauf hinweisen, daß die Theorie-Komponente bereits im Rahmen der herkömmlichen induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen seit langem – jedenfalls intuitiv – wahrgenommen wird, indem die Gefahrprognosen dort häufig in einen engen Zusammenhang mit „Naturgesetzen“641, „Erfahrungssätzen“642 beziehungsweise „Kausalgesetzen“643 gebracht werden. Methodologisch ist jedoch ganz entscheidend, den Zusammenhang nicht nur zu bemerken, sondern auch zu sehen, daß er nicht fakultativ, sondern obligatorisch ist. Denn Gefahrprognosen haben nicht lediglich „häufig“ etwas mit Naturgesetzen zu tun, sondern immer. Es ist dieser obligatorische Zusammenhang zwischen allgemeinen Sätzen und Gefahrprognosen, der regelmäßig dann übersehen wird, wenn Gefahren als Tatsachen beschrieben werden.644 Unrichtig – und in ihrer Verfehltheit gleichzeitig besonders deutlich – sind diejenigen Vorschläge, die Gefahrurteile „idealtypisch“ als „reine Tatsachenfeststellungen (Diagnosen)“ ansehen,645 indem sie – irrtümlich – glauben hinweisen zu können auf den „Zusammenhang von Diagnose und Prognose, der letztlich darin [gründe], daß jede Prognoseaussage in lauter einzelne Diagnoseschritte

641

Unten sub. § 8 III. 2. a). Vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 169. 643 Vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 170; auch Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 23. 644 Exemplarisch etwa Auffassungen wie diejenige, „man [könne] nicht in endlicher Zeit die unendliche Menge aller möglichen Tatsachen durchprüfen, um zu demonstrieren, daß es darunter eine bestimmte Tatsache (ein Risiko) definitiv nicht [gebe] (Dederer, Freisetzung, S. 89, Hervorhebungen nicht im Original)“; vgl. ferner Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 287 – „Man ist sich über die zu akzeptierenden normativen Sätze einig, die Entscheidung hängt allein davon ab, welche Tatsachen ihr zugrunde zu legen sind.“; auch Ossenbühl nimmt einen „Tatsachencharakter“ der Gefahrprognosen an, indem er Prognoseentscheidungen und zukünftige Sachverhalte als „reale Sachverhalte“ betrachten möchte. Er weist zwar selbst darauf hin, daß „[man] gegen diese Einbeziehung gewiß einwenden [könne], daß ein zukünftiger Sachverhalt niemals zugleich ein realer Sachverhalt sein könne“ (25 Jahre BVerfG, S. 466), hält die Gleichsetzung aber für „unabdingbar“. 645 So Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 171. Diese „idealtypischen Diagnosen“ bleiben seiner Auffassung nach nur deshalb notwendig unvollständig, weil die Zeit für eine vollständige Sachverhaltsaufklärung nicht zur Verfügung stehe, Öffentliche Sicherheit, S. 171; ähnlich Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 77 – „[Fehlende] ausreichende empirisch-praktische Erfahrung“. 642

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zerlegt werden [könne]“646; die Liste mit (empiristischen) Aussagen dieser Art kann fast beliebig ergänzt werden.647 Zusätzliche Einzelnachweise dieser fast diagnostischen Auffassung sind hier nicht weiter interessant. Denn hier soll lediglich verdeutlicht werden, welche Art von Erklärungen durch die These der obligatorischen theoretischen Gefahrkomponente methodologisch ausgeschlossen wird. Diejenigen Gefahrprognosen, die auf der Grundlage naturalistischer Fehlschlüsse erstellt werden, sind methodologisch deswegen ungültig, weil das theoretische Element jedes Gefahrurteils weder „diagnostisch“, noch „empirisch“ oder „analytisch“ festgestellt werden kann. Objektiv erklärte Gefahrurteile können – als Prognosen – nun einmal nicht vollständig anhand einzelner Diagnoseschritte rekonstruiert werden.648 Beizupflichten ist daher den Worten Carl Friedrich von Weizsäckers, wonach ganz allgemein jede „Häufung empirischen Materials“ schlechterdings „nur eine Vorstufe der Wissenschaft“ (und damit zugleich auch nur eine „Vorstufe“ wissenschaftlicher Prognosen) ist, denn stets muß „harte theoretische Vorarbeit geleistet werden“, ehe ein Empirist auch nur ahnt, was er empirisch fragen soll.649

646 Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 171 (Fn. 72) unter Hinweis auf Darnstädt, Gefahrenabwehr, S. 93. 647 Vgl. ferner etwa Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 472, „[D]as Bundesverfassungsgericht [wählt] einen rationalen und empirischen Ansatz [zur Überprüfung von Prognosen]“. Weniger deutlich in dieser Frage Di Fabio, Offener Diskurs, S. 191, „Aus der empirisch sichtbaren Unmittelbarkeit [. . .] darf [. . .] nicht auf eine kausale Steuerungskapazität [. . .] geschlossen werden.“ Hier klingt die Idee einer empirischen Wahrnehmbarkeit von „Unmittelbarkeitszusammenhängen“ jedenfalls an. Empiristische Vorstellungen teilen auch Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 24 – „genuinely factual“. 648 Dazu Albert, Kritische Vernunft, S. 30. Mit Karl Popper läßt sich die Kritik an der „diagnostischen Auffassung“ folgendermaßen zusammenfassen: manche Leute glauben, die Wahrscheinlichkeit dafür, daß das nächste Ding, das beobachtet werden kann, rot sein wird, steige aus rein logischen Gründen allgemein mit der Zahl der in der Vergangenheit gesehenen roten Dinge. Aber das ist ein Glaube an Zauberei – an die Zauberkraft der menschlichen Sprache. Denn „rot“ ist nur ein Prädikat; und es wird immer Prädikate A und B geben, die beide auf alle bis zu einem gewissen Zeitpunkt beobachteten Dinge zutreffen, hinsichtlich des nächsten Dinges aber zu unverträglichen Wahrscheinlichkeitsprognosen führen. Solche Prädikate kommen möglicherweise in den natürlichen Sprachen nicht vor. Sie können aber jederzeit konstruiert werden (Logik der Forschung, S. 322); Poser, Wissenschaftstheorie, S. 117 ff. 649 Vgl. C. F. v. Weizsäcker, Aufbau der Physik, S. 639; Popper, Logik der Forschung, S. 71 – „Es ist also nicht so, wie der naive Empirist, der Induktionslogiker glaubt: daß wir unsere Erlebnisse sammeln, ordnen und so zur Wissenschaft aufsteigen; oder, wenn wir das mehr ,formal‘ ausdrücken: daß wir, wenn wir Wissenschaft treiben wollen, zunächst Protokolle sammeln müssen.“; Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 89 – „Wissenschaftstheoretiker haben wiederholt demonstriert, daß auf eine gegebene Sammlung von Daten immer mehr als eine theoretische Konstruktion paßt.“

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Die gegenteilige – bis heute im Alltagsverständnis vorherrschende – empiristische Gefahrvorstellung (naturalistischer Fehlschluß) ist ideengeschichtlich sehr eng verwandt mit den alten, vorwissenschaftlichen, sogenannten animistischen Kausalauffassungen.650 Besonders hochentwickelt innerhalb des weiten Rahmens dieser Vorstellung war der ebenso ambitionierte wie einflußreiche Versuch Rudolf Carnaps,651 ein auf dieser Anschauung beruhendes wissenschaftliches System der „induktiven Logik“ zu errichten.652 Nahezu ebenso alt wie die intuitiven Kausal- und Gefahranschauungen ist allerdings auch die dagegen vorgebrachte Kritik. So betonte beispielsweise der skeptische Mediziner Sextus Empiricus653 bereits im zweiten nachchristlichen Jahrhundert – insoweit im Vorgriff auf David Hume654 – die logische Unmöglichkeit, kausale Notwendigkeiten im Ablauf der Ereignisse aufgrund von Tatsachenbeobachtungen zu rechtfertigen. Alle Kritik beruht seitdem immer wieder auf dem gleichen elementaren Hinweis: Niemand kann beobachten, daß ein einzelnes Ereignis ein anderes Ereignis verursacht (beob-

650 Der angesprochene historische, vorwissenschaftliche Kausalbegriff ist eng verknüpft mit der Idee des Erzeugens „von Etwas“ durch einen „Schöpfer“. Man deutet Kausalität auf diese Weise aktivisch: Ursachen „bewirken“ etwas. Der Animismus begreift „Ursachen“ dabei instinktiv gewissermaßen als „Handelnde“, oder, wenn man so will: als „Beweger“. Das ideengeschichtliche Erbe des Animismus offenbart sich dabei heute vielleicht am deutlichsten im Zusammenhang mit der immer noch anzutreffenden Verwunderung über die rätselhafte Kausalität eines Unterlassens, also einer „Kausalität ohne Beweger“. 651 Bereits vor Carnap wurde der Gedanke, daß man Prognosen unter Verzicht auf allgemeine Sätze aufstellen könnte, bspw. von J. S. Mill, System of Logic, Book II, chapter III, § 3 – „All inference is from particulars to particulars“ ausführlich dargelegt. 652 Carnap wirft in seinen „Logical Foundations of Probability“ die interessante Frage auf, ob ein Wissenschaftler (er nennt ihn Mr. X) Gesetzmäßigkeiten (allgemeine Sätze) benötigt, um Prognosen erstellen zu können. Carnap verneint die Frage und ordnet Gesetzmäßigkeiten allgemein als pädagogische Hilfsmittel ein (S. 574 f.): „[W]e see that X need not take the roundabout way through the law l [d. h. die Gesetzmäßigkeit] at all, as is usually believed; he can instead go from his observational knowledge [. . .] directly to the singular prediction [. . .]. [. . .] We see that the use of laws is not indispensable for making decisions. Nevertheless it is expedient, of course, to state universal laws in books on physics, biology, psychology, etc.“; vgl. dagegen, insbesondere zum „sinnlosen Theorieprüfen“, Popper, Realismus, S. 385 ff. 653 Sextus Empiricus, Pyrrhonische Skepsis, S. 206. 654 David Hume (A Treatise of Human Nature, Book I, Part III) machte geltend, daß kein gültiges (oder logisches) Argument existieren kann, das zu zeigen erlaubt, „that those instances, of which we had no experience, resemble those, of which we have had experience“ (Sect. 6, Hervorhebung im Original). Infolgedessen ist es vielmehr so, „that there is nothing in any object, consider’d in itself, which can afford us a reason for drawing a conclusion beyond it; and, that even after the observation of the frequent or constant conjunction of objects, we have no reason to draw any inference concerning any object beyond those of which we have had experience.“ (Sect. 12, Hervorhebung im Original)

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achtbar sind immer nur zeitliche Abfolgen einzelner Ereignisse, von denen vermutet werden kann, daß das frühere das spätere Ereignis verursacht hat).655 Die grob skizzierte, allgemein etwas abstrakte Problematik kann auch näher veranschaulicht werden. So würden typische naturalistische Fehlschlüsse (ebenso wie animistische Kausalauffassungen) beispielsweise die Lebensgefahr für einen Menschen bedenkenlos mit dem Satz begründen:656 „Dieser Mensch hat Zyankali eingenommen.“

Dagegen betont die Kritik seit jeher, daß aus dem rein empirischen Befund an sich gar nichts folgt. Statt dessen muß indirekt vorgegangen werden, wenn eine Lebensgefahr objektiv prognostiziert werden soll. Eine objektive Gefahrerklärung erhält man nur, falls zusätzlich zu den empirischen Tatsachen noch eine weitere Prämisse eingeführt wird. Wenigstens ein allgemeiner Satz muß als theoretische Erklärungskomponente die empirischen Tatsachen ergänzen. In unserem Zyankali-Beispiel wäre dieser theoretische, allgemeine Satz (AS1) etwa wie folgt formulierbar: „Alle Menschen, die wenigstens drei Milligramm Zyankali einnehmen, sterben binnen zehn Minuten.“

Eine dazu gewissermaßen passende empirische Tatsache wäre:657 „Dieser Mensch hier hat kürzlich, aber vor weniger als zehn Minuten, wenigstens drei Milligramm Zyankali eingenommen.“

Diese beiden Sätze – die empirische und die theoretische Prämisse – erklären zusammengenommen in vollständig nachprüfbarer Weise (ausschließlich anhand deduktiver Schlußfolgerungen) eine mögliche objektive Gefahrprognose.658 Das Zyankali-Beispiel erscheint vielleicht banal. Seine Bedeutung für die Theorie der Risikoentscheidungen erhält es jedoch dadurch, daß der Teil der Gefahrerklärung, der hier vorläufig als empirische Tatsache bezeichnet wird, für sich genommen keine objektive Gefahrerklärung abgibt. Es ist diese These, die von allen induktivistischen Ansätzen abgelehnt wird. Die induktivistische Ablehnung theoretischer Prämissen kann allenthalben damit erklärt werden, daß intuitiv die Bereitschaft hoch ist, empirische Tatsachen 655 Siehe zur logischen Unmöglichkeit, Theorien aus empirischen Beobachtungen abzuleiten Popper, Conjectures, S. 256 f.; ders., Erkenntnistheorie, S. 397 mit vielen weiteren Nachweisen dieser Einsicht, unter anderem bereits bei dem Mystiker Abu Hamid Muhammad al-Ghasali (11. Jahrhundert), dem Spätscholastiker Nikolaus von Autrecourt (14. Jahrhundert) sowie im 17. Jahrhundert bei Nicole Malebranche. 656 Beispiel in Anlehnung an Popper, Objektive Erkenntnis, S. 364. 657 Zum Deduktionszusammenhang bei Prognoseableitungen unten sub. § 8 III. 658 Vgl. unten sub. § 8 III. 1.

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wie „Dieser Mensch hier hat Zyankali eingenommen.“ auch ohne weitere allgemeine Sätze über Wirkungsweisen von Zyankali jedenfalls als praktisch tragfähige Begründungen einer akuten Lebensgefahr zu akzeptieren. Die „evident gefährliche“ empirische Tatsache der Zyankalieinnahme erscheint aber in vollkommen anderem Licht, sobald einmal probeweise innerhalb des ansonsten unveränderten naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens659 ein anderer allgemeiner Satz (AS2) folgenden Inhalts angenommen wird: „Alle Menschen, die Zyankali einnehmen, erfreuen sich fortan außerordentlich guter Gesundheit und werden besonders leistungsfähig.“660

Auf der Folie eines dergestalt abgeänderten naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens (unter Einschluß des hypothetischen allgemeinen Satzes AS2) wäre es ausgeschlossen, die „Einnahme von Zyankali“ weiterhin als empirische Begründung unmittelbarer Lebensgefahren anzusehen. Der naturalistische Fehlschluß übersieht die überragend wichtige Funktion, die allgemeinen Sätzen im Hinblick auf alle Erklärungen zukommt, sowohl „positiv“, im Rahmen der Vervollständigung objektiver Gefahrerklärungen, als auch „negativ“, bei Widerlegungen falscher Erklärungen. So ermöglicht die empirische Tatsache im Zyankali-Beispiel zusammen mit dem ersten allgemeinen Satz (AS1) zweifellos die Ableitung einer objektiven Gefahrprognose. Der andere allgemeine Satz (AS2) im Beispiel würde jedoch jede potentielle Gefahrprognose, die dieselbe empirische Prämisse verwendet, widerlegen. Kurzum: Die empiristische Fehlvorstellung, die darauf hofft, Gefahrprognosen unmittelbar aus empirischen Tatsachen ableiten zu können, scheitert unweigerlich beim Versuch der Bewältigung von Veränderungen innerhalb des naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens. Methodologisch muß beachtet werden, daß jede Gefahrprognose eine theoretische Erklärungskomponente besitzt. Das gilt auch dann, wenn dieser theoretische Bestandteil lediglich triviales Allgemeingut beinhaltet. Anders ausgedrückt: Die alltagssprachlich abkürzende – zur Vermeidung von Banalitäten zweifellos berechtigte661 – Auslassungen mancher allgemeinen Sätze darf nicht dahin gehend mißverstanden werden, daß „theorieentkleidete“ empirische Tatsachen gewissermaßen aus sich heraus Gefahrprognosen erklären könnten.662

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Zum Begriff des „naturwissenschaftlichen Hintergrundwissens“ oben sub. § 6 I. Beispiel wie oben Fn. 656. 661 Diesen Aspekt betonen Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 15. 662 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 364; vgl. bspw. die in diesem Sinne unvollständige Erklärung bei Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 24 – „The existence of a bent rail, together with the factors relating to the weight and speed of the train, account for its running off the lines.“ 660

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Die gegenwärtig noch immer weite Verbreitung naturalistischer Fehlschlüsse – davon betroffen sind freilich zumeist die wissenschaftsferneren Risikodiskussionen – dürfte ganz wesentlich auf den nachhaltigen Eindruck zurückzuführen sein, den „statistische Feldstudien“ vieler einzelner Fachrichtungen bei manchen Autoren hinterlassen zu haben scheinen. Vor allem der Begriff des sogenannten „statistischen Risikos“663 konnte methodologisch in diesem Zusammenhang große Verwirrung stiften. Er leistet seit jeher übereilten In-eins-Setzungen von „statistischen Gesetzmäßigkeiten“, „Störfallanalysen“ und „Trends“664 mit tragfähigen objektiven Gefahrkonzeptionen Vorschub. So werden „statistische Gefahrprognosen“ oftmals fälschlicherweise mit derjenigen Häufigkeit gleichsetzt, mit der Unfälle einer bestimmten Art in der Vergangenheit vorgekommen sind.665 In letzter Konsequenz glaubt dieser (sich selbst bisweilen als probabilistisch bezeichnende) Ansatz sogar daran, daß fehlende empirische Feldstudien simuliert werden könnten, um damit die „statistischen Risiken“ unbekannter Gefahrenquellen zu beurteilen.666 Trends, die jeder Statistiker errechnen kann, existieren natürlich tatsächlich. Ebensowenig sollten Tendenzen einzelner Störfallstatistiken in Abrede gestellt werden. Schließlich ist zuzugeben, daß man in gewisser Weise sogar berechtigt ist, solche Statistiken als „rein empirische“ Grundlage für Gefahrprognosen anzusehen, da sie sich im Kern in der Auswertung von Störfällen der Vergangenheit – also quantitativen empirischen Informationen – erschöpfen. Das alles zusammen widerspricht unserer These vom notwendigen theoretischen Bestandteil jeder objektiven Gefahrerklärung allerdings nur scheinbar. Denn weder statistische Trends noch Störfallstatistiken sind allgemeine Sätze,

663 Siehe etwa Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 125; Peschau, Beweislast, S. 48; vgl. Popper, Erkenntnistheorie, S. 406 – „Ganz allgemein ist uns der Gedankengang naheliegend, bei gewissen Vorgängen (wo wir ebenso gut an die Atomtheorie denken können wie an eine Sterblichkeitsstatistik), wo Einzelprognosen versagen, anzunehmen, daß gerade deshalb hier die Statistik bzw. die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht versagen wird.“ 664 So bspw. Marburger, Stand der Technik, S. 126 f.; vgl. auch Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 168 – „in the theory the chances of an intervening event occuring might be decided by statistics“; Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 73, 112. 665 Besonders deutlich herausgestellt von C. F. v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur, S. 248 f. – „Die Frage ist, was man meint, wenn man die Zuschreibung eines Wahrscheinlichkeitswerts zu einem [zukünftigen!] Ereignis korrekt nennt. Sie müßte wenigstens im Prinzip eine empirische Prüfung zulassen. Faktisch mißt man Wahrscheinlichkeiten als relative Häufigkeiten in langen Beobachtungsreihen unter konstanten Bedingungen“; diese Ausführungen von C. F. v. Weizsäcker beruhen auf der von ihm zugrunde gelegten (Kopenhagener) Interpretation der Quantentheorie, dazu ausführlicher unten sub. § 8 III. 2. c). 666 Siehe die sog. „probabilistische Risikoforschung“. Damit ist wiederum nichts anderes angesprochen als die alte, induktivistische Frage danach, ob man mehr wissen kann als man weiß. Dazu oben sub. § 7 II.

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und die Bedeutung dieser Unterscheidung kann kaum überschätzt werden.667 Kurz gesagt: Alle statistischen Größen unterrichten uns immer nur über die Vergangenheit.668 Jede Anwendung von Störfallstatistiken auf bestimmte gegenwärtige Sachverhaltskonstellationen, das heißt: jede Auswahl einzelner empirischer Trends aus der Vergangenheit im Hinblick auf bestimmte gegenwärtige Sachverhaltskonstellationen, setzt zusätzlich mindestens eine theoretische Annahme voraus. Diese theoretische Annahme betrifft die Anwendbarkeit des speziellen Trends auf die jeweilige Sachverhaltskonstellation. Denn jeder Trend ist seinerseits vom Vorliegen spezifischen Bedingungen abhängig, die ihrerseits in bestimmten Sachverhaltskonstellationen fehlen oder sich ändern können.669 Die implizite theoretische Annahme aller „statistischen Gefahren“ läßt sich in ihrer Grundform wie folgt formulieren: Für alle Sachverhaltskonstellationen mit der objektiven Eigenschaft E gilt, daß ein zukünftiger Schaden gemäß der Störfallstatistik S eintreten wird.

Die Wahrheit jedes „statistisch“ – empiristisch oder naturalistisch – erklärten Gefahrurteils hängt infolgedessen ab von der Wahrheit der jeweiligen theoretischen Aussage über die relevante Sachverhaltseigenschaft E.670 667 Vgl. Popper, Historizismus, S. 90 f. – „Ein Satz, der die Existenz eines Trends behauptet, ist ein Es-gibt-Satz, kein All-Satz. Ein Satz, der die Existenz eines Trends zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort aussagt, wäre also ein singulärer [. . .] Satz und kein universales Gesetz. [. . .] wir können zwar Gesetze, nicht aber die bloße Existenz von Trends zur Grundlage wissenschaftlicher Prognosen machen (wie jeder vorsichtige Statistiker weiß)“; zutreffend auch Darnstädt, Gefahrenabwehr, S. 47. Die von Karl Popper häufig betonte Unterscheidung zwischen singulären „Esgibt-Sätzen“ als empirische Anfangsbedingungen sowie universellen „Allsätzen“ als allgemeinen Gesetzen widerspiegelt die empirische und die theoretische Dimension objektiver Gefahrerklärungen; zur objektiven Rekonstruktion von Prognosen siehe unten sub. § 8 III. 4. 668 Hayek, Freiburger Studien, S. 12. 669 Wer dies – wie in Teilen der Sozialwissenschaften in der Vergangenheit geschehen – leugnet, befürwortet sog. absolute Trends. Aus methodologischen Gründen ergibt sich jedoch, wie Popper (Logik der Forschung, S. 40) gezeigt hat, daß man den Glauben an einen absoluten Trend als unwissenschaftlich iSv metaphysisch bezeichnen muß. Denn keine Beobachtung einer Abweichung von einem absoluten Trend kann den Satz „Es gibt den und den Trend“ widerlegen, denn man kann stets den Standpunkt einnehmen, daß jedenfalls auf Dauer Abweichungen in die entgegengesetzte Richtung einen Ausgleich schaffen werden (vgl. dens., Historizismus, S. 100 Fn. 87). 670 Störfallstatistiken können üblicherweise nur für vergleichsweise kurze Zeiträume gebildet werden, denn häufig fehlen entsprechende Aufzeichnungsdaten oder die untersuchten Phänomene sind neuartig. Aber sogar Trends, die durch Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende anhielten (z. B. Bevölkerungswachstum, klimatische Temperaturschwankungen), können sich innerhalb kurzer Zeitspannen ändern, falls die spezifischen Bedingungen (E), die ihnen zugrunde lagen, sich ändern. „[D]aß es Trends gibt, ist nicht zu bezweifeln. Daher haben wir die schwierige Aufgabe, sie so gut zu erklä-

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Das heißt gleichzeitig aber auch: Falls die vermutete Sachverhaltseigenschaft E falsch formuliert wird, ist für die im Einzelfall beurteilte Sachverhaltskonstellation – entgegen der Statistik – keinerlei „statistisches Risiko“ gegeben. Ein „statistisches Risiko“ fehlt unter diesen Umständen nicht deshalb, weil die Risikostatistik falsch wäre, sondern deshalb, weil gewissermaßen eine „richtige“ Risikostatistik auf die „falsche“ Sachverhaltskonstellation angewendet wurde. Ob die – als relevant vermutete – Sachverhaltseigenschaft E zutreffend erkannt wurde oder nicht, kann weder „empirisch“ noch „analytisch“ festgestellt werden. Denn E ist kein Sinneseindruck, sondern eine theoretische Vermutung.671 Die bedeutende Unterscheidung zwischen den spekulativen „trendbegründenden empirischen Tatsachen“ (also der theoretischen Sachverhaltseigenschaft E) einerseits sowie den „Trends als empirischen Tatsachen“ andererseits, wird durch die Gleichsetzung von Trends und allgemeinen Sätzen eingeebnet; diese Verwechslung ist alt.672 Sie hängt vor allem damit zusammen, daß Menschen seit jeher bestimmte Trends (wie beispielsweise den Ablauf der Jahreszeiten, klimatische oder gesellschaftliche Veränderungen) intuitiv wahrgenommen haben und diese fortwährend unbewußt als Gesetzmäßigkeiten interpretieren.673 ren, wie wir können, d. h. so genau wie möglich die Bedingungen [E] festzustellen, unter denen sie wirken (Popper, Historizismus, S. 101).“; hierzu auch ders., Erkenntnistheorie, S. 415 ff. 671 Zur Unterscheidung oben sub. § 8 I. 2. 672 Fast tagesaktuell muten die folgenden, in den Jahren 1944/45 (und damit lange vor den jüngsten Entdeckungen der „komplexen Gesellschaft“ sowie den „Globalisierungstrends“) entstandenen Ausführungen Poppers an – „Die modernen Historizisten scheinen sich jedoch des würdigen Alters ihrer Lehre nicht bewußt zu sein. Sie glauben – und womit sonst könnte sich ihre Vergötzung des Modernismus zufrieden geben? –, daß ihre spezielle Art des Historizismus die jüngste und kühnste Errungenschaft des menschlichen Geistes ist, eine so atemberaubende Neuerung, daß nur wenige Denker genügend weit fortgeschritten sind, um sie zu begreifen. Sie glauben tatsächlich, die Entdecker des Problems der Veränderung zu sein – eines der ältesten Probleme der spekulativen Metaphysik. Sie setzen ihr ,dynamisches Denken‘ dem ,statischen‘ Denken aller vorhergehenden Generationen entgegen und meinen, ihre eigene Errungenschaft sei dadurch möglich geworden, daß wir ,in einer Revolution leben‘, welche die Geschwindigkeit unserer Entwicklung so gesteigert hat, daß heute ein Mensch den sozialen Wandel innerhalb seines Lebens unmittelbar erfahren kann. Das ist natürlich ein reiner Mythos. Wichtige Revolutionen hat es schon vor unserer Epoche gegeben, und das Phänomen der Veränderung wird seit den Tagen Heraklits immer wieder entdeckt“ (Historizismus, S. 125 f.). 673 Popper, Historizismus, S. 91, 95, 100. Die Faszination, die von Trends ausgeht, wird in den verschiedensten Konstellationen sichtbar, etwa in der vielbeschworenen „technischen Realisation“ (Forsthoff), „der steigenden Geschwindigkeit, [die den] Wandel der tatsächlichen Bedingungen antreibt“ (Hain, Grundsätze, S. 180) oder der „zunehmenden Komplexität moderner Gesellschaften“ (Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 61). Häufig sind die systemtheoretisch inspirierten Ideen besonders pointiert: „[D]ie Sozialstrukturen der neuen, funktional differenzierten Gesellschaft entzogen sich in ihrem rasanten Komplexitätswachstum rasch dem Zugriff des

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Wir fassen zusammen. Gefahren können wegen ihrer theoretischen Erklärungskomponente weder naturalistisch noch als empirische Tatsache erklärt werden, sofern methodologisch Objektivität der Erklärungen verlangt wird. Alle scheinbar rein empirisch wahrnehmbaren Gefahren sind immer schon gewissermaßen „theoriegetränkt“.674 Das bedeutet nicht, daß alle naiv-empiristischen Gefahrurteile falsch wären. Ganz im Gegenteil: Vieles, was intuitionistisch für eine Gefahr gehalten wird, ist auch objektiv gefährlich. Und es ist immer besser, wenigstens über nichtprüfbare Erklärungen zu verfügen, als gar keine Erklärung zu haben (fast alle modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse konnten nur auf älteren Grundlagen metaphysischer Ideen entstehen675). Aber empirische Beobachtungen an sich können nicht, wie der naive Empirist glaubt, Gefahrurteile „bestätigen“.676 Daher eignen sie sich auch nicht als objektive Erklärungen im Zusammenhang mit der rule of law. Neben den empirisch feststellbaren Bestandteil objektiver Gefahrerklärungen treten vervollständigend immer auch allgemeine Sätze.677 Dementsprechend kann niemals von empirischen Ursachen und ihren Wirkungen „schlechthin“ gesprochen werden, obwohl der naturalistische Fehlschluß genau dies annimmt. Statt dessen sind empirische Tatsachen jeweils nur in Ansehung spezieller allgemeiner Sätze als „Ursachen“ anderer Ereignisse zu interpretieren.678 3. Theoretische Erklärungskomponente Die objektive Variante zu allen empiristischen (induktiven) Theorien in der angedeuteten Tradition animistischer Kausalauffassungen beruht auf Gefahrzurechnungen unter Einschluß theoretischer Erklärungskomponenten. Bei dieser theoretischen Dimension der Gefahrzurechnung handelt es sich um (natur-)wissenschaftliche Interpretationen empirisch festgestellter Sachverhaltskonstellationen.

omnipotent wähnenden Bewußtseins (Di Fabio, Offener Diskurs, S. 160, Hervorhebungen nicht im Original)“. 674 Zur „Interpretation von Tatsachen im Lichte von Theorien“ Popper, Vermutungen, S. 53 Fn. 3. 675 Dazu auch unten Fn. 1539 (Beispiel des metaphysischen Atomismus). 676 Popper, Vermutungen, S. 53, der außerdem verweist auf die „bestätigenden Beobachtungen, auf die die Astrologen in ihrer Praxis täglich stoßen.“ 677 Dazu Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 138 – „Die Arbeiten und Messungen, die ein Wissenschaftler im Labor durchführt, sind nicht ,das Gegebene‘ der Erfahrung, sondern eher ,das mit Schwierigkeiten Gesammelte‘. [. . .] Die Wissenschaft führt nicht alle nur möglichen Labormanipulationen durch. Sie wählt vielmehr jene aus, die [. . .] relevant sind.“ 678 Popper, Historizismus, S. 97.

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In der objektiven Variante entwickelt sich das Konzept der Begründungen weiter zu einem Konzept der Erklärungen. Das heißt, daß die alte, empiristische Frage „Welche Tatsachen begründen ein Gefahrurteil?“

durch folgende nachprüfbare, man könnte auch sagen: „kritische“ oder „objektive“ Alternative ersetzt wird „Welche Tatsacheninterpretationen (Theorien) erklären ein Gefahrurteil?“

Alle objektiven Interpretationen empirischer Tatsachen sind vermutete Regelmäßigkeiten desjenigen empirischen Gegenstandes, den die Tatsachen darstellen.679 Als wissenschaftliche Vermutungen werden objektive Tatsacheninterpretationen weder deduktiv aus den interpretierten Tatsachen abgeleitet, noch werden sie analytisch aus diesen gewonnen. Objektive Tatsacheninterpretationen können vor allen Dingen nicht als empirisch wahrnehmbare Sinneseindrücke aufgefaßt werden.680 Alle objektiven Tatsacheninterpretationen sind „spekulative“ Vermutungen.681 Als wissenschaftliche Tatsacheninterpretationen zeichnen sich diese Spekulationen jedoch dadurch aus, daß sie potentiell anhand der durch sie interpretierten empirischen Tatsachen widerlegt werden können, das heißt dadurch, daß Unvereinbarkeiten zwischen der Interpretation und ihrem Gegenstand bestehen können.682 Der methodologische Zusammenhang zwischen objektiven Interpretationen und darstellenden empirischen Tatsachen ist also in diesem Sinne fallibilistisch. Als Darstellung dieser Einsicht bis heute unübertroffen ist die äußerst verdichtete Formel Immanuel Kants. Er entfaltete damit bereits den fundamentalen Zusammenhang zwischen empirischen Tatsachen sowie den auf sie Bezug nehmenden Interpretationen (in kantischer Ausdrucksweise entspricht dies dem methodologischen Verhältnis zwischen „Verstandeserkenntnissen“ einerseits und deren „systematischer Einheit“ andererseits): „Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln. Umgekehrt ist die systematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß; 679 „Wertungsnotwendigkeiten“ ergeben sich daraus nicht; siehe exemplarisch für die entgegengesetzte Idee etwa Esser, Grundsatz und Norm, S. 110 f. – „Es ist heute universal anerkannt, daß die Kausalitätsfrage kein ,empirisches‘, sondern ein wertmäßiges Ausleseprinzip voraussetzt [. . .], das sich nicht auf logische Strukturen, sondern auf Gesichtspunkte der Konvenienz, der Opportunität und des common sense gründet [. . .]“. 680 Dazu oben sub. § 8 I. 2. 681 Ausführlich zum „Spekulationismus-Einwand“ unten sub. § 10 VI. 682 Ausführlich zur „Falsifikation“ wissenschaftlicher Theorien unten sub. § 8 IV. 1.

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welche aber dazu dient, zu dem mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Principium zu finden, und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen.“683

Kants etwas abstrakte, sogenannte „Fälle, die nicht gegeben sind“, erfassen in unserem Zusammenhang wissenschaftliche Gefahrprognosen insofern, als diese die zukünftigen Entwicklungsperspektiven gegenwärtiger Sachverhaltskonstellationen (Verstandeserkenntnisse) antizipieren. Die Art und Weise, in der diese „Fälle, die nicht gegeben sind“, prognostiziert werden,684 hängt methodologisch von der „projektierten Einheit“ der empirischen Tatsachen ab, einer „bloßen Idee“, die an sich weder eine empirische Tatsache noch eine sinnliche Wahrnehmung darstellt. Dabei gilt, daß die „bloße Idee“ nicht „gegeben“ ist. Wissenschaftliche Gefahrprognosen als objektive Aussagen über zukünftige Entwicklungsperspektiven – also als Aussagen über diejenigen „Fälle, die nicht gegeben sind“ – folgen aus dieser „bloßen Idee“, die ihrerseits eine „systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse“ vermutet. In diesem Sinne entspricht unsere theoretische Dimension der Gefahrzurechnung der Kantischen „systematischen Einheit der Verstandeserkenntnisse“. Bevor nun sogleich der deduktive Zusammenhang zwischen objektiven Tatsacheninterpretationen einerseits und empirischen Tatsachen andererseits in seinen technischen Einzelheiten ausführlicher behandelt werden kann,685 müssen noch kurz die beiden unterschiedlichen Modalitäten möglicher Gefahrzurechnungen vorangestellt werden. II. Zurechnungsmodalitäten Die methodologisch gebotene Unterscheidung zwischen empirischen und theoretischen Erklärungskomponenten führt dazu, daß innerhalb der Klasse möglicher objektiver Gefahrerklärungen zwei verschiedene Zurechnungsarten entstehen. Die Zweiteilung der Zurechnungsmodalitäten hängt vor allem damit zusammen, daß der theoretische Bestandteil objektiver Gefahrerklärungen – anders als sein empirisches Gegenstück – nicht „unmittelbar wahrnehmbar“ ist und infolgedessen nicht einfach „festgestellt“ werden kann. Der theoretische Erklärungsbestandteil kann also im Hinblick auf bestimmte Sachverhaltskonstellationen bisweilen fehlen (Theoriedefizit).

683 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 674; dazu Popper, Erkenntnistheorie, S. 321 (567); vgl. auch Wittgenstein, Über Gewißheit, Bem. 225 – „Das, woran ich festhalte, ist nicht ein Satz, sondern ein Nest von Sätzen (Hervorhebung im Original).“ 684 Diese wird bezeichnet als die „lediglich nur projektierte Einheit“. 685 Dazu unten sub. § 8 III.

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Objektive Tatsacheninterpretationen führen dementsprechend entweder zu „gewissen“ oder zu „ungewissen“ Ergebnissen. Falls für eine empirische Sachverhaltskonstellation (noch) keine objektiven theoretischen Erklärungskomponenten vorliegen, erscheinen die jeweiligen empirischen Tatsachen als „ungewiß“ im Sinne von mehrdeutig. Umgekehrt werden dieselben empirischen Tatsachen jedoch dadurch „gewiß“ im Sinne von eindeutig, daß überzeugende theoretische Erklärungskomponenten entdeckt werden. Sowohl „Gewißheiten“ (Eindeutigkeiten) als auch „Ungewißheiten“ (Mehrdeutigkeiten) in Hinblick auf bestimmte Sachverhaltskonstellationen sind also stets Reflexe auf das Vorhandensein beziehungsweise auf das Fehlen der theoretischen Erklärungskomponenten. Im Sinne der Kantischen „projektierten Einheit der Verstandeserkenntnisse“686 kann das so ausgedrückt werden, daß beliebige Gruppen empirischer Tatsachen entweder (schon) einheitlich projektiert sind oder (bislang noch) nicht einheitlich projektiert werden konnten. Objektive Tatsacheninterpretationen (Theorien687) können somit Gefahren einerseits dadurch erklären, daß die Zurechenbarkeit zukünftiger Rechtsgüterbeeinträchtigungen insofern „eindeutig“ ist, als für die interpretierten Sachverhaltskonstellationen jeweils lediglich eine bestimmte Tatsacheninterpretation ernsthaft in Betracht gezogen werden kann.688 Andererseits ist die Gefährlichkeit einer bestimmten Gruppe empirischer Tatsachen aber auch damit erklärbar, daß objektive Interpretationen der entsprechenden Sachverhaltskonstellationen noch nicht – oder nicht mehr – verfügbar sind. Letzteres ist immer dann der Fall, wenn für die interpretationsbedürftigen empirischen Sachverhaltskonstellationen entweder mehrere, paarweise unvereinbare, objektive Interpretationen gleichermaßen in Betracht zu ziehen sind, oder dann, wenn alle vorhandenen objektiven Tatsacheninterpretationen widerlegt werden konnten.689 Den objektiven Theoriebefund der „interpretatorischen Gewißheit“ (beziehungsweise: die Eindeutigkeit des empirischen Materials) werden wir im folgenden zweckmäßigerweise abgekürzt als sogenannte (erste) Gefahrmodalität der Zurechnung durch eine Prognose bezeichnen.690 Dementsprechend kann dann auch der theoretische Befund „interpretatorischer Ungewißheit“ einer Sachverhaltskonstellation (beziehungsweise: die Mehrdeutigkeit des empirischen Materials) ausgedrückt werden als sogenannte (zweite) Gefahrmodalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose.691 686

Dazu oben sub. § 8 I. 3. Ausführlich zu Theorien als allgemeinen Sätzen unten sub. § 8 III. 2. 688 Ausführlich zum „ernsthaften Inbetrachtziehen“ unten sub. § 8 IV. und V. (komparativer Theorievergleich). 689 Vgl. oben Fn. 688. 690 Dazu sogleich unten sub. § 8 II. 1. 691 Unten sub. § 8 II. 2. 687

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Jedes Element der Menge aller gefährlichen Sachverhaltskonstellationen wird also entweder deshalb als gefährlich eingestuft, weil ihm zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen eindeutig zugerechnet werden können (erste Gefahrmodalität der „Zurechnung durch eine Prognose“), oder umgekehrt deshalb, weil aufgrund der Mehrdeutigkeit der jeweiligen Sachverhaltskonstellation das „ob“ zukünftiger Rechtsgüterbeeinträchtigungen nicht prognostizierbar ist (zweite Gefahrmodalität der „Zurechnung des Fehlens einer Prognose“). Die zweite Gefahrmodalität unterscheidet sich von der ersten Gefahrmodalität dadurch, daß nicht die Eindeutigkeit zukünftiger Rechtsgüterbeeinträchtigungen das Gefahrurteil erklärt, sondern statt dessen die eindeutige gegenwärtige Mehrdeutigkeit im Hinblick auf zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen, die ihrerseits als gegenwärtige Rechtsgüterbeeinträchtigung verstanden werden kann. 1. Zurechnung durch Prognosen Als „Zurechnung durch eine Prognose“ bezeichnen wir diejenige Gefahrmodalität, die auf der Grundlage einer eindeutigen objektiven Interpretation des empirischen Tatsachenmaterials für bestimmte Sachverhaltskonstellationen die Zurechenbarkeit zukünftiger Rechtsgüterbeeinträchtigung erklärt. Der dieser Beschreibung zugrundeliegende wissenschaftsakzessorische Prognosebegriff ist dabei inhaltlich in keiner Weise eingeschränkt. Wichtig ist dementsprechend vor allem, daß die sogenannte Eindeutigkeit der objektiven Tatsacheninterpretationen keinesfalls verwechselt werden darf mit dem Nachweis einer 100%igen Wahrscheinlichkeit der interpretierenden Theorie im Sinne des Wahrscheinlichkeitskalküls. „Eindeutig“ bedeutet hier – anders als die induktivistischen Konzeptionen glauben – nicht „sicher“ im Sinne von „wahrscheinlich“. Auch Wahrscheinlichkeitsrelationen kommen daher als mögliche „eindeutige“ Interpretationen in Betracht. In Hinblick auf ihre objektive Zurechnungsmodalität können also Aussagen, die 100%ige zukünftige Schädigungen eines Rechtsguts prognostizieren, durchaus strukturgleich mit solchen Aussagen sein, die eine lediglich 50%ige oder nur 1%ige zukünftige Schädigung eines Rechtsguts annehmen. Alle drei Aussagen unterscheiden sich zwar quantitativ in der Höhe des jeweils zugerechneten zukünftigen Nachteils. Sie unterscheiden sich aber nicht notwendigerweise in der Modalität der Gefahrzurechnung. Die Quantität einer Gefahrprognose (also ihr prognostizierter Inhalt) muß sehr deutlich abgesondert werden von der völlig verschiedenen Frage nach ihrer Qualität (also von der Frage, ob die jeweilige Prognose zutreffend ist oder nicht).692

692 Siehe zur Unterscheidung zwischen komparativen Theoriebewertungen und induktiven Prognosewahrscheinlichkeiten unten sub. § 9 I. 3. a).

§ 8 Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage

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Die damit angesprochene Unterscheidung zwischen Inhalt und Qualität von Prognosen – eine Unterscheidung, die innerhalb der objektiven Theorie der Rechtsgüterrelationen von großer Bedeutung ist – weicht sehr deutlich vom Konzept der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen ab. Der Induktivismus setzt die inhaltliche Frage nach der Schadenswahrscheinlichkeit mit der Güte (also der Qualität) der Gefahrprognose gleich. Eine etwas anschaulichere Illustration des eben Gesagten erhält man, wenn man die beiden nachfolgenden Beispiele betrachtet. (1) Eine „eindeutige“ objektive Tatsacheninterpretation – im Sinne der Gefahrmodalität der Zurechnung durch eine Prognose – liefert etwa die triviale Vermutung „Sokrates wird sterben“ unter Zugrundelegung der empirischen Annahme, daß es sich bei Sokrates um einen Menschen handelt. So widerlegt die Gesamtheit der empirischen Erfahrungen alle bisher vermuteten Regelmäßigkeiten, die wenigstens für einige Menschen deren Sterblichkeit ausschließen wollen.693 Mit anderen Worten ist zu vermuten, daß regelmäßig alle Menschen sterblich sind. Vermutlich ist daher auch Sokrates sterblich.694 Der Tod des Sokrates ist auf diese Weise „eindeutig“ prognostizierbar. Eine individuelle Lebensgefahr kann Sokrates also durch eine Prognose zugerechnet werden. Diese objektive Erklärung für den vermutlichen zukünftigen Tod des Sokrates ergibt sich aus der (bislang) eindeutigen Regelmäßigkeit menschlicher Sterblichkeit. Sie ergibt sich jedoch nicht – wie der Induktivismus annehmen würde – aus der niedrigen Wahrscheinlichkeit seiner Unsterblichkeit. (2a) Ebenfalls im Sinne der Gefahrmodalität der Zurechnung durch eine Prognose können „eindeutige“ objektive Tatsacheninterpretationen auch aus einzelnen Wahrscheinlichkeitsaussagen zusammengesetzt sein. Ein triviales Beispiel für „eindeutige“ Wahrscheinlichkeitsaussagen gibt etwa die Vermutung beim Würfelspiel ab, wonach der jeweils nächste Wurf mit der Ereigniswahrscheinlichkeit von p = 1/2 eine gerade Augenzahl zeigen wird. Das empirische Hintergrundwissen für diese eindeutige Wahrscheinlichkeitsprognose liefert vor allem die Einzelvermutung, daß alle Augenzahlen handelsüblicher Würfel näherungsweise gleich häufig zu erwarten sind, verbunden mit der jeweils zusätzlichen empirischen Annahme, daß der im Einzelfall beurteilte Würfel handelsüblichem Durchschnitt entspricht. Die vermutete Ereigniswahrscheinlichkeit p = 1/2 für das prognostizierte Ereignis „gerade Augenzahl im nächsten Wurf“ ist „eindeutig“, weil die empirische Erfahrung mit handelsübli-

693 Die Gesamtheit der empirischen Erfahrungen widerlegt (natürlich) nicht die möglichen unwissenschaftlichen (nicht-objektiven) ad hoc-Annahmen in bezug auf Sokrates; zu dieser speziellen Problematik unten sub. § 8 IV. 2. und 3. 694 Zu dem exakten methodologischen Vorgehen bei der Ableitung einer Prognose unten sub. § 8 III. 1.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

chen Würfeln (bislang) alle anderen Regelmäßigkeiten in bezug auf Häufigkeitsverteilungen widerlegt hat. Mit anderen Worten ist die vermutete Wahrscheinlichkeitsprognose also nicht deshalb „eindeutig“, weil sie 100%ig wahrscheinlich wäre, sondern es ist „eindeutig“, daß die 50%ige Wahrscheinlichkeitsprognose (p = 1/2) die einzige geeignete Wahrscheinlichkeitsprognose ist. (2b) Noch etwas deutlicher tritt der methodologisch sehr wichtige Unterschied zwischen „Eindeutigkeit“ der Prognoseauswahl einerseits und „Wahrscheinlichkeit“ des prognostizierten Ereignisses andererseits hervor, falls unser Würfelbeispiel geringfügig modifiziert wird. Als relevantes Ereignis soll dazu das 1000fach nacheinander wiederholte Würfeln der Augenzahl „Sechs“ angesehen werden. Die in diesem modifizierten Modell zu prognostizierende Rechtsgüterbeeinträchtigung hängt also davon ab, daß mit einem handelsüblichen Würfel eine längere Zeit hindurch ausnahmslos „Sechsen“ gewürfelt werden. Auch für diese Modifikation der Prognosefrage kann wiederum eine eindeutige objektive Tatsacheninterpretation benannt werden, denn „eindeutig“ prognostizierbar ist die niedrige Ereigniswahrscheinlichkeit695 p ˆ 6 1000 . Die lange, ununterbrochene Serie von „Sechsen“ ist somit zwar außerordentlich unwahrscheinlich.696 Aber die Gefahrprognose, die den niedrigen Wahrscheinlichkeitswert vermutet, ist gleichwohl als objektive Tatsacheninterpretation „eindeutig“. Denn andere vermutete Häufigkeitsverteilungen entbehren jeder Grundlage, sie könnten nur als unprüfbare ad hoc-Hypothese697 vorgeschlagen werden. Somit erweist sich auch das modifizierte Würfelbeispiel als ein Fall „eindeutiger“ Gefahrzurechnung durch eine Prognose.698 2. Zurechnung des Fehlens einer Prognose Die andere der beiden theoretisch möglichen Gefahrmodalitäten haben wir als „Zurechnung des Fehlens einer Prognose“ bezeichnet. Diese Gefahrmodalität zeichnet sich dadurch aus, daß die jeweiligen empirischen Sachverhaltskonstellationen mehrdeutig sind, also dadurch, daß gleichzeitig unterschiedliche 695 Die Gesamtereigniswahrscheinlichkeit kann hier berechnet werden als Produkt der jeweiligen Einzelwahrscheinlichkeiten für das Würfeln einer Sechs p ˆ 6 1 . 696 Im konkreten Beispiel ist die Eintrittswahrscheinlichkeit deutlich kleiner als 0,00000001%. 697 Zu dieser speziellen Problematik unten sub. § 8 IV. 2. und 3. 698 Anders verhält sich dazu die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen. Sie wird in der Abwandlung mit dem – aus ihrer Perspektive – schwerwiegenden Problem konfrontiert, ob die sehr niedrige Ereigniswahrscheinlichkeit (im Beispiel: p ˆ 6 1000 ) noch für „hinreichend wahrscheinlich“ gehalten wird oder ob diese Wahrscheinlichkeit statt dessen lediglich „hypothetischer Art“ ist, bzw. bereits jenseits der „Grenze der praktischen Vernunft“ liegt. Aus induktivistischer Perspektive ist die sehr niedrige Wahrscheinlichkeit nicht eindeutig einzuordnen (dazu ausführlicher oben sub. § 7 I., II.).

§ 8 Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage

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objektive Tatsacheninterpretationen gleichermaßen in Betracht zu ziehen sind. Mehrdeutigkeiten von Sachverhaltskonstellationen führen dazu, daß hinsichtlich bestimmter zukünftiger Rechtsgüterbeeinträchtigung keine Prognosen erstellt werden können, denn unterschiedliche objektive Tatsacheninterpretationen führen miteinander unvereinbare Prognosen herbei.699 Die Gefahrmodalität des Fehlens einer Prognose unterscheidet sich strukturell von der Modalität der Zurechnung durch eine Prognose. So erklärt das Fehlen von Prognosen eine Gefahr nicht dadurch, daß zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen gegenwärtigen Sachverhaltskonstellationen zugerechnet werden können. Kennzeichnend für die Gefahrmodalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose ist vielmehr, daß für einzelne zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen inhaltliche Aussagen unmöglich sind. Einer solchermaßen mehrdeutigen Sachverhaltskonstellation wird also anstelle anderer, zukünftiger Rechtsgüterbeeinträchtigungen ihre eigene Mehrdeutigkeit in Form des Fehlens eindeutiger Prognosen zugerechnet. Damit liegt das gefahrerklärende Merkmal der zweiten Zurechnungsmodalität also mit anderen Worten in einem Moment gegenwärtiger Ungewißheit. Die Zurechnung des Fehlens einer Prognose darf ebenfalls nicht verwechselt werden mit induktiven Prognosewahrscheinlichkeiten. Das heißt: Mehrdeutigkeiten empirischer Sachverhaltskonstellationen haben – ebenso wie ihre mögliche Eindeutigkeit700 – nichts zu tun mit Ereigniswahrscheinlichkeiten. Die Kategorie der Zurechnung des Fehlens einer Prognose kann vielmehr im Rahmen der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen überhaupt nicht abgebildet werden. Die Erklärung dafür hängt mit einem ebenso interessanten wie weiterführenden Theoriedefizit zusammen, das sich aus einer bestimmten Klasse induktiver Prognose-Fiktionen ergibt. Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen fingiert eine prinzipiell jederzeitige Formulierbarkeit von Prognosen, die im ungünstigsten Fall als „empirisch wenig abgesichert“, „sehr ungewiß“ beziehungsweise „in hohem Maße unwahrscheinlich“ angesehen werden. Umgekehrt sollen sie im günstigsten Fall „empirisch gut abgesichert“, „gewiß“ oder „sehr wahrscheinlich“ sein. Demnach fehlen im Rahmen der induktivistischen Konzeption niemals die Prognosen als solche, sondern die den Prognosen jeweils zugeordneten Prognosewahrscheinlichkeiten erscheinen ungünstigstenfalls sehr niedrig, beziehungsweise: Man betrachtet die vorliegenden Prognosen als wenig „abgesichert“.701 699 Siehe zum Verhältnis von Tatsacheninterpretationen (Theorien) und Prognosen unten sub. § 8 III. 4. 700 Dazu oben sub. § 8 II. 1. 701 Daß die zweite Zurechnungsmodalität nie in das Modell der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen integriert wurde, ergibt sich theorieimmanent daraus, daß alle induktivistischen Definitionsansätze im Zusammenhang mit ihren Gefahrbegriffen

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Diese induktivistische Fiktion der stets möglichen Prognosebildung erweist sich bei etwas genauerer Betrachtung als unberechtigt und sehr unzweckmäßig zur Lösung zentraler Problemstellungen. Die gleichwohl hohe intuitive Plausibilität der induktivistischen Fiktion kann mit ihrer engen Nähe zum sogenannten naiven Empirismus der Epistemologie des Alltagsverstands erklärt werden. Die inhaltliche Tragweite der induktivistischen Fiktion stets möglicher Prognosebildung soll anhand der zwei folgenden Beispiele („Längengrad“ und „Wanderer“) etwas näher entfaltet werden. Beide Illustrationen präzisieren zudem nochmals den methodologisch sehr wichtigen Unterschied zwischen der Zurechnung des Fehlens einer Prognose einerseits sowie niedrigen Prognosewahrscheinlichkeiten andererseits. Das erste Beispiel ist an das sogenannte Längengrad-Problem angelehnt. Es handelt sich dabei um ein historisches Risiko der Seefahrt.702 So waren in früheren Zeiten vor allem Hochseeschiffe ständig der Gefahr versehentlicher Kollisionen mit Riffen ausgesetzt, weil es damaligen Schiffsbesatzungen unmöglich war, den exakten Längengrad ihrer aktuellen Schiffspositionen auf See festzustellen. Die Seeleute konnten lediglich die genauen Breitengrade bestimmen, sie erhielten also nur Information darüber, wie weit nördlich beziehungsweise südlich ihre Schiffe sich augenblicklich befanden. Damit war es den Seeleuten zwar möglich, auf ihren Seekarten gerade Linien zu verzeichnen, von denen ihre wahren Schiffspositionen nicht abweichen konnten. Niemals konnten sie jedoch die exakten Standorte der Schiffe auf diesen Linien ermitteln. Denn zu deren Bestimmung fehlten die zweiten Koordinaten: die jeweiligen Längengrade. Kapitäne und Navigatoren konnten die ihnen gleichzeitig zugänglichen empirischen Tatsachen (als Sachverhaltskonstellationen) somit niemals eindeutig in Hinblick darauf interpretieren, ob die angelegten Kurse ungefährlich waren oder statt dessen auf geradem Wege in gefährliche Seegebiete, Riffe oder Untiefen hinein führten.703 Infolgedessen war selbst bei Verfügbarkeit detaillierter Seenicht auf den Bestandteil der Eintrittswahrscheinlichkeit verzichten können. Sofern eine Definition jedoch einen Zusammenhang zwischen Sachverhaltskonstellationen und möglichen Rechtsgutsbeeinträchtigung unter Verwendung des Wahrscheinlichkeitskalküls herstellt, verwendet sie notwendig Prognosen. 702 Wissenschaftshistorisch kann das Längengrad-Problem als die zentrale technologische Herausforderung gleich mehrerer Jahrhunderte angesehen werden. Neben Galileo Galilei bemühten sich auch Giovanni Domenico Cassini, Edmond Halley und Isaac Newton intensiv um Lösungsmöglichkeiten. King Charles II. gründete 1675 das Royal Observatory in Greenwich zur Lösung des Längengrad-Problems; um die Suche nach praktikablen Möglichkeiten, aktuelle Längengrade auf See korrekt zu bestimmen, schließlich noch weiter zu beschleunigen, lobte die britische Regierung 1714 in ihrem „Longitude Act“ die Summe von 20.000 Pfund für eine Lösung aus. Erst 1773 erhielt der Uhrmacher John Harrison dieses Preisgeld. 703 Die Unmöglichkeit, den genauen Längengrad und damit die eigene Position exakt zu bestimmen, führte das Geschwader von Admiral Clowdisley Shovell am

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karten, die sämtliche Riffe und Untiefen verzeichneten, niemals auszuschließen, daß Kurs auf ein Riff genommen wurde. Vor der Auflösung des Längengrad-Problems im Jahr 1773 waren die gleichzeitig verfügbaren empirischen Tatsachen nicht deshalb gefährlich, weil zu vermuten gewesen wäre, daß die Schiffe tatsächlich auf Riffe zugesteuert wurden. Statt dessen waren diese Sachverhaltskonstellationen deshalb bedrohlich, weil eindeutig bekannt war, daß die Schiffspositionen unbekannt waren (Gewißheit der Ungewißheit). Hervorzuheben ist dabei, daß Prognosewahrscheinlichkeiten im induktiven Sinne für hypothetische Kollisionsgefahren bei bestimmten Fahrtrichtungen überhaupt nicht angegeben werden konnten. Die Gefährlichkeit des Längengrad-Problems lag also nicht in hinreichend hohen Kollisionswahrscheinlichkeiten, sondern in der Kenntnis über die Nichtverfügbarkeit relevanter Gefahrprognosen (Zurechnung des Fehlens einer Prognose). Unser zweites Beispiel ist rein fiktiv und kann als „Wanderer-Dilemma“ bezeichnet werden. Die Aufgabe des Beispiels liegt darin, noch näher zu verdeutlichen, weshalb für die Gefahrmodalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose kein Rückgriff auf statistische Risiken möglich ist.704 Ein Wanderer wird dazu mit der für ihn unangenehmen Entscheidungssituation konfrontiert, auf eine ihm unbekannte Weggabelung zu treffen. Zusätzlich wird diese Entscheidungssituation noch durch die empirische Tatsache verschärft, daß der Wanderer lediglich diejenige Menge an Trinkwasser mit sich führt, die sein Verdursten unter der Voraussetzung verhindert, daß er sein Ziel auf dem kartierten Weg erreicht. Das Dilemma der unbekannten Abzweigung erweist sich für den Wanderer als Problem der Zurechnung des Fehlens einer Prognose, denn die gleichzeitig verfügbaren empirischen Tatsachen sind mehrdeutig interpretierbar. Der Wanderer weiß mit anderen Worten eindeutig, daß er einen ungefährlichen Weg nicht kennt. Die interessanteste Facette des Beispiels liegt darin, daß eine Schadenswahrscheinlichkeit (Gefahr des Verdurstens) – die von der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen vorausgesetzt wird – nicht bestimmbar ist, obwohl ein induktivistisch analysierender Wanderer vielleicht vorschnell glauben könnte, mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit verdursten zu müssen. Zu dieser falschen Vermutung könnte er dadurch gelangen, daß er erstens annimmt, den kürzesten Weg nehmen zu müssen, und zweitens unterstellt, daß nur einer der beiden Wege richtig ist. Unter diesen beiden Voraussetzungen be-

22. 10. 1707 in ein Unglück. Bei dem Untergang von vier seiner fünf Kriegsschiffe vor den Scilly Islands ertranken 1.700 Marinesoldaten. 704 Zum „statistischen Risiko“ vgl. oben sub. § 8 I. 3. sowie unten sub. § 8 III. 2. d).

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steht auf den ersten Blick eine Wahrscheinlichkeit von p = 1/2 dafür, den falschen Weg einzuschlagen und damit zu verdursten. Seine Überlegung kann der Wanderer im Beispiel allerdings durch kurzes Nachdenken selbständig widerlegen. Denn angesichts der ihm bekannten empirischen Tatsachen ist für ihn keineswegs auszuschließen, daß beide Wege gleich lang sind. Durchaus möglich ist nämlich, daß der nicht auf der Karte verzeichnete zweite Weg lediglich ebenso lang oder sogar kürzer ist als der kartierte Weg. Das bedeutet, daß keine vermutete Wahrscheinlichkeit für ein Verdursten objektiv erklärbar ist.705 Weitere Beispiele, die strukturell unserem Wandererdilemma beziehungsweise dem Längengradproblem gleichen, ließen sich beliebig konstruieren. Beide Muster sollen an dieser Stelle jedoch lediglich verdeutlichen, daß Sachverhaltskonstellationen mit sehr umfangreichen empirischen Informationen existieren, für die gleichwohl – hinsichtlich ausgewählter Fragestellungen – keine eindeutigen Interpretationen vorliegen. Um zusammenzufassen: Ob empirische Sachverhaltskonstellationen eindeutig oder mehrdeutig sind, hängt nicht ab von der Menge der vorhandenen empirischen Tatsachen. Eindeutigkeiten und Mehrdeutigkeiten sind vielmehr Folgen der Verfügbarkeit oder des Fehlens bewährter Tatsacheninterpretationen (Theorien). Soweit empirische Sachverhaltskonstellationen mehrdeutig interpretierbar sind, können weder Gefahren noch ungefährliche Alternativen prognostiziert werden. Objektive Unsicherheiten, die mit der – theoriebedingten – Mehrdeutigkeit einer empirischen Sachverhaltskonstellation objektiv erklärbar sind, ordnen wir der Gefahrmodalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose zu. 3. Systematik Bis hierhin haben wir uns der Kategorie der Zurechnung des Fehlens einer Prognose – ebenso wie der anderen Gefahrmodalität, also der Zurechnung durch eine Prognose – vor allem deskriptiv genähert. Das eigentliche Theorieproblem hat jedoch sehr wenig mit adäquaten Beschreibungen zu tun. Es hängt mehr damit zusammen, daß alle empirischen Sachverhaltskonstellationen jeweils einer der beiden Zurechnungskategorien objektiv zuordenbar sein müssen. Um diese theoretische Zuordnungsfrage ausführlicher behandeln zu können,706 müssen vorab noch zwei Einzelheiten des systematischen Verhältnisses der beiden Modalitäten zueinander vertieft werden. In systematischer Hinsicht kann die Menge aller Sachverhaltskonstellationen den beiden Zurechnungsmodalitäten (Zurechnungen durch Prognosen sowie Zu705

Siehe zur Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse oben sub. § 7

III. 3. 706

Vgl. dazu unten sub. § 8 III., IV. und V.

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rechnungen des Fehlens von Prognosen) vollständig und exklusiv zugeordnet werden. Es gibt also keine empirisch mögliche Sachverhaltskonstellation, die gleichzeitig die objektiven Voraussetzungen beider Zurechnungsmodalitäten erfüllt (Exklusivitäts-Theorem).707 Darüber hinaus gilt im Verhältnis der beiden Zurechnungsmodalitäten zueinander auch das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur)708. a) Exklusivitäts-Theorem Das Exklusivitäts-Theorem zwischen den beiden Zurechnungsmodalitäten kann formuliert werden als wechselseitige Definierbarkeit der beiden Kategorien untereinander. Mit anderen Worten sind also die mehrdeutigen Sachverhaltskonstellationen der Modalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose identisch mit den Sachverhaltskonstellationen, die nicht eindeutig sind im Sinne der Modalität der Zurechnung durch eine Prognose. Umgekehrt gilt für die Gesamtheit der eindeutigen Sachverhalte der Zurechnung durch eine Prognose, daß diese identisch ist mit der Menge aller Sachverhaltskonstellationen, die nicht mehrdeutig sind im Sinne der Modalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose. Diese Definitionen klären die Begriffsverwendungen. Als terminologische Frage erlaubt das Exklusivitätsverhältnis aber selbstverständlich keinerlei inhaltliche Aussagen darüber, welche empirischen Sachverhaltskonstellationen im Einzelfall welcher Kategorie objektiv erklärbar zugeordnet werden können.709 b) Gesetz des ausgeschlossenen Dritten Die Sachgerechtigkeit des Exklusivitätstheorems hängt eng zusammen mit der Geltung des Gesetzes des ausgeschlossenen Dritten im Verhältnis der beiden Zurechnungsmodalitäten untereinander, also mit der Tatsache, daß alle in der Wirklichkeit möglichen Sachverhaltskonstellationen nachprüfbar einer der beiden Kategorien zugeordnet werden können. Es ist wichtig, die damit aufgeworfene Frage nach sachgerechter Kategorienbildung von dem Gemeinplatz zu unterscheiden, daß Kategorien rein terminologisch beliebig definiert werden können. Denn unsere – terminologisch somit trivialerweise mögliche – scharfe Unterscheidung zwischen eindeutigen und mehrdeutigen Sachverhaltskonstellationen erscheint jedem Induktivisten wenig sachgerecht, beziehungsweise: Unsere Unterscheidung mutet demjenigen absei-

707 708 709

Siehe sogleich unten sub. § 8 II. 3. a). Unten sub. § 8 II. 3. b). Siehe oben sub. § 7 III. 1. (Doktrin der Abgrenzung durch Tautologie).

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tig an, der eine verbreitete Hintergrundannahme der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen unkritisch teilt. Bei dieser induktivistischen Hintergrundannahme handelt es sich um eine Einzelausprägung des naturalistischen Fehlschlusses.710 Ein genaueres Verständnis unserer Kategorien und deren Sachgerechtigkeit erfordert daher die Kenntnis dieser Hintergrundannahme. Aufzuhellen ist der Zusammenhang zwischen dem naturalistischen Fehlschluß sowie dem Gesetz des ausgeschlossenen Dritten. Unter Zugrundelegung des naturalistischen Fehlschlusses der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen erscheinen die beiden Zurechnungsmodalitäten als geradezu „praxisferne“ Grenzfälle. Die strikte Binärkodierung in eindeutige und mehrdeutige Sachverhaltskonstellationen erscheint zwar auch aus induktivistischer Perspektive prinzipiell möglich, aber doch fernliegend. Denn in der Standarddeutung der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen überlagert – jedenfalls dem ersten Anschein nach711 – die Kategorie „Risiko“ jegliche scharfe Abgrenzung zwischen unseren beiden Zurechnungsmodalitäten. Das hängt nun damit zusammen, daß induktivistisch diejenigen Sachverhaltskonstellationen als Risiken eingestuft werden, die zwar Rechtsgüterbeeinträchtigungen als „möglich“ erscheinen lassen, aber dabei auf „Wahrscheinlichkeitsprognosen“ beruhen, für die keine „hinreichend hohe Beurteilungssicherheit“ besteht.712 Die induktivistisch gedeutete713 Risikokategorie umfaßt also solche Prognosen, die wohl am treffendsten als Prognosen mittlerer Art und Güte beschrieben werden können. Jedenfalls nimmt die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen eine weit ausgedehnte und in ihren Rändern unscharfe Grauzone zwischen „eindeutig gefährlichen“ und „eindeutig ungefährlichen“ Sachverhaltskonstellationen an. Eine deutlich sichtbare Auswirkung dieser angenommenen Übergangszone ist etwa die Tatsache, daß die dogmatischen Hauptschwierigkeiten aller induktiven Risikotheorien – dementsprechend – die Abgrenzungen der Risikokategorie zu den Nachbarkategorien betreffen.714 Man kann die sich – aus induktiver Perspektive – ergebende Unzweckmäßigkeit unserer Unterscheidung zwischen den beiden Zurechnungsmodalitäten kurz so formulieren: Die Annahme des Exklusivitätstheorems ist unzweckmäßig, 710

Dazu oben sub. § 8 I. 2. Zur Möglichkeit objektiver Umdeutungen der induktivistischen Standardkategorien jedoch unten sub. § 9 II. 712 Nur „hinreichend hohe Beurteilungssicherheiten“ liefern nach induktivistischer Vorstellung gewissermaßen „vollwertige Gefahrurteilen“; vgl. insoweit exemplarisch Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 105. 713 Siehe aber oben Fn. 711. 714 Also die Abgrenzung Risiko/Gefahr sowie Risiko/Restrisiko; dazu schon oben sub. § 7 I. 711

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weil damit praktisch seltene Grenzfälle zur Regel erhoben werden. Die Binärkodierung ist außerdem deswegen unzweckmäßig, weil sie die in der Praxis (zumeist einzig) problematische Risikokategorie gar nicht abbilden kann. Diese induktivistische Einschätzung beruht auf dem naturalistischen Fehlschluß. Sie verwechselt Beurteilungen der Güte (oder: Qualität) von Prognosen – also Aussagen über Prognosen – mit den inhaltlichen Aussagen der Prognosen selbst. Alle Aussagen bezüglich der Qualität einer Prognose (das heißt, alle Aussagen des Inhalts, es handele sich etwa um eine „gute“, eine „mittelmäßige“ oder eine „schlechte“ Prognose) sind ihrerseits Vermutungen über zukünftige Ereignisse, nämlich darüber, ob sich die jeweils beurteilte Prognose zukünftig bewahrheiten wird oder nicht. Es handelt sich also bei allen Qualitätsbeschreibungen in bezug auf Prognosen immer um zusätzliche, neue Prognosen, die methodologisch sehr klar von den durch sie beurteilten Prognosen unterschieden werden müssen. Der induktive Risikobegriff – also die Kategorie der mittelmäßigen Gefahrannahmen „mittlerer Art und Güte“715 – beruht infolgedessen auf einer Kombination zweier, verschiedener Prognosen. Eine erste Prognose (die Beurteilungsprognose) sagt aus, daß angesichts einer bestimmten Sachverhaltskonstellation zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen möglich sind. Eine zweite Prognose (die beurteilende Prognose) hat ihrerseits zum Inhalt, daß die erste Prognose nicht wirklich abgesichert, also möglicherweise unzutreffend ist. Die Qualität dieser Einstufung der Beurteilungsprognose durch die beurteilende Prognose müßte nun ihrerseits durch eine dritte Prognose (eine beurteilende Prognose über die beurteilende Prognose) vorgenommen werden. Das Problem pflanzt sich fort, sobald man auch die Qualität dieser dritten Prognose problematisiert. Das typische, allen Varianten des Induktivismus gemeinsame Problem des unendlichen Regresses wird also an dieser Stelle sichtbar.716 Der unendliche Regreß, der sich in Wahrheit hinter dem induktivistischen Begriff des Risikos als Gefahrprognose „mittlerer Art und Güte“ verbirgt, kann dadurch vermieden werden, daß die induktive Zwischenkategorie „mittelmäßiger“ Prognosen auf unsere Binärkodierung der beiden Zurechnungskategorien abgebildet wird.717

715 Induktivistisch werden diejenigen Sachverhaltskonstellationen als Risiken eingestuft, die Rechtsgüterbeeinträchtigungen als „möglich“ erscheinen lassen, freilich ohne daß diesbezügliche Wahrscheinlichkeitsprognosen mit der für „vollwertige“ Gefahrurteile erforderlichen Beurteilungssicherheit abgegeben werden können. 716 Als mögliche Varianten zum unendlichen Regreß stehen dem Induktivisten stets entweder offener Dogmatismus oder ein willkürlicher Abbruch des Begründungsverfahrens zur Verfügung; dazu ausführlicher unten sub. § 10 VI. (insbesondere Fn. 1481). 717 Zur Möglichkeit einer deduktiven Umdeutung der induktivistischen Theoriekategorien unten sub. § 9 II.

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Unsere beiden Zurechnungskategorien sind unter anderem deshalb sachgerecht, weil sie den unendlichen Regreß des Induktivismus vermeiden718; inadäquat ist die induktivistische Risikokategorie, die nur auf den ersten Blick – und auch nur auf Grundlage des naturalistischen Fehlschlusses – unsere beiden objektiven Zurechnungskategorien „praxisfern“ erscheinen läßt. Auch „in der Praxis“ gibt es mit anderen Worten keine Sachverhaltskonstellationen, die nicht entweder als Zurechnung durch eine Prognose oder als Zurechnung des Fehlens einer Prognose rekonstruiert werden können (tertium non datur), sofern nur methodologisch zwischen dem Inhalt einer Prognose und der Güte einer Prognose unterschieden wird. Zu diesem Zweck müssen vor allem zwei Aspekte auseinandergehalten werden, die aufgrund des induktivistischen Vorverständnisses häufig verwechselt werden. Auseinanderzuhalten sind die – inhaltsbezogene – „Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgüterbeeinträchtigung“ einerseits sowie der – qualitätsbezogene – „Wahrheitswert einer Prognose“ andererseits. Wahrscheinlichkeiten sind immer dem Prognoseinhalt zugeordnet. Demgegenüber erweist sich der Wahrheitswert einer Prognose als prognoseexterne Aussage über eine Prognose. Vor dem Hintergrund dieser methodologischen Unterscheidung bezieht sich unsere Binärkodierung – Zurechnungen durch Prognosen und Zurechnungen des Fehlens von Prognosen – ausschließlich auf den Qualitätsaspekt, also den Wahrheitswert der Prognosen. Die objektive Binärkodierung berührt nicht die inhaltliche Frage nach Beeinträchtigungswahrscheinlichkeiten.719 III. Objektivität der Zurechnungsmodalitäten Aus methodologischer Sicht ist es besonders wichtig zu sehen, daß unsere beiden Zurechnungsmodalitäten in jedem Einzelfall objektiv erklärbar, also intersubjektiv nachprüfbar sind. Anders ausgedrückt: Alle empirischen Sachverhaltskonstellationen können objektiv – ohne jedes monistische Zugeständnis an subjektivistische Positionen720 – entweder den Fällen der Zurechnung des Fehlens einer Prognose oder denjenigen der Zurechnung durch eine Prognose zugeordnet werden.721

718

Dazu oben Fn. 717. Das fehlende Differenzierungsvermögen der induktivistischen Risikokategorie wird unter anderem darin sichtbar, daß ihr Begriff der „Prognosewahrscheinlichkeit“ neben dem inhaltlichen Aspekt der Wahrscheinlichkeit von Rechtsgüterbeeinträchtigungen auch die Qualität der Prognose beinhaltet. 720 Zu monistischen Interpretationstheorien oben sub. § 1 I. 721 Normative Zuordnungen der rule of law erfordern objektiv nachprüfbare Unterscheidungskriterien, wenn ausgeschlossen werden soll, daß Normadressaten über die Anwendbarkeit der Normen entscheiden. 719

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Eine methodologische Voraussetzung dieser objektiven Erklärbarkeit sämtlicher Zuordnungen liegt darin, daß alle zurechnungsrelevanten Prognosen ableitbar sind (insofern sind wir berechtigt, von einer deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen zu sprechen722). Das methodologische Erfordernis der Ableitbarkeit erfüllen diejenigen Prognosen, die aus allgemeinen Sätzen (Theorien) sowie besonderen Sätzen (Anfangsbedingungen oder auch Randbedingungen) deduziert werden können. Innerhalb des Rahmens der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen stellt die methodologische Vorgabe der Ableitbarkeit sicher, daß alle Prognoseauswahlentscheidungen auf der Grundlage einer objektiven Prognoseeigenschaft erklärt werden können. Diese objektive Prognoseeigenschaft kann – sehr kurz – formuliert werden als Qualität derjenigen allgemeinen Sätze (Theoriesysteme), aus denen eine Prognose im Einzelfall abgeleitet worden ist.723 Die deduktive Theorie der Risikoentscheidungen ersetzt mit Hilfe des Konzepts der „Ableitbarkeit der Prognosen“ das induktivistische Theorieelement der „Prognosewahrscheinlichkeit“. Ersetzt wird also derjenige Theoriebestandteil, der für die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen seit jeher eine Schlüsselstellung einnimmt. Methodologisch geboten ist diese Ersetzung, weil die induktivistische Idee der Prognosewahrscheinlichkeiten keine nachprüfbaren Zuordnungserklärungen zuläßt.724 Im Konzept unserer deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen führt die Ableitbarkeit der Prognosen dazu, daß alle Prognosen mit jeweils spezifischen Theoriesystemen verknüpft sind, genauer: mit denjenigen Theoriesystemen, aus denen sie zuvor abgeleitet wurden. Die deduktive Verbindung zwischen Theoriesystemen und Prognosen kompensiert die – sehr eng mit dem Induktionsproblem zusammenhängende – Schwierigkeit, daß Prognosen niemals „aus sich heraus“ objektiv vergleichbar sind. So haftet insbesondere keiner einzigen Prognose eine objektiv nachprüfbare Prognosewahrscheinlichkeit an.725 Demgegenüber sind jedoch die mit den Prognosen verknüpften Theoriesysteme (Systeme allgemeiner Sätze) – anders als die einzelnen Prognosen – durchaus komparativen Bewertungen zugänglich. Als Deduktionsgrundlagen der abgeleiteten Prognosen gewährleisten Theoriesysteme damit methodologisch eine gewissermaßen mittelbare Vergleichbarkeit 722 Formal betrachtet sind Theorien an sich nicht deduktiv, sie sind vielmehr Deduktionsgrundlagen; ausgedrückt werden soll mit dieser etwas beiläufigen Redeweise lediglich der (wichtige!) methodologische Gegensatz zu „induktiven“ Theorien. 723 Das Merkmal der Qualität wird zu präzisieren sein; dazu unten sub. § 8 IV. und V. 724 Dazu oben sub. § 7 III. 3. 725 Zur Kritik der entgegengesetzten induktivistischen Fehlvorstellung oben sub. § 7 III. 3.

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der abgeleiteten Prognosen untereinander.726 Im scharfen Gegensatz zum Konzept der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen werden Prognosen in jedem Einzelfall also nicht unmittelbar anhand ihrer angeblichen (oder, was dasselbe ist, anhand ihrer induktiv bestimmten) Wahrscheinlichkeiten miteinander verglichen. Sie werden vielmehr – indirekt – anhand der ihnen jeweils zugrundeliegenden Ableitungsbasis ausgewählt. Entscheidend sind also die jeweiligen Ausgangspunkte. Der objektive Erklärungsansatz der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen kann somit – zunächst untechnisch727 – so beschrieben werden, daß diejenigen Prognosen zurechnungsrelevant sind, die aus den „bewährtesten“ Theoriesystemen abgeleitet wurden. Das deduktive Erfordernis der Prognoseableitung wird methodologisch dementsprechend damit gerechtfertigt, daß die Objektivität der Prognoseauswahlerklärungen sichergestellt werden soll (rule of law).728 Ein sehr schwerwiegendes Mißverständnis läge allerdings darin, das deduktive Erfordernis der Prognoseableitung nun so zu interpretieren, daß theorieunabhängige, also nicht-abgeleitete, sogenannte ad hoc-Prognosen notwendigerweise unzutreffend wären und deshalb methodologisch ausgeschlossen werden sollen. Denn theoretisch kann (natürlich) nicht ausgeschlossen werden, daß beispielsweise Wahrsager, Propheten oder auch „Kräuterhexen“ zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen in Einzelfällen zutreffend prophezeien729. Denn derlei okkulte Mutmaßungen über die Zukunft zeichnen sich entgegen der induktivistischen Grundüberzeugung – wie bereits dargelegt730 – nicht durch eine spezifische Unwahrscheinlichkeit oder – wie noch gezeigt wird731 – durch fehlende „empirische Absicherung“ aus. Aber Zufallstreffer müssen nicht unmöglich sein, um die dazugehörigen Orakel methodologisch gleichwohl ausschließen zu dürfen. Die deduktive Theorie scheidet nicht-abgeleitete Prognosen (theorieunabhängige ad hoc-Prognosen) als methodologisch irrelevante „Prophezeiungen“ aus, ohne damit deren potentielle Wahrheitsgehalte zu bestreiten. Ganz im Gegen726 Zur Darstellung des Vergleichsmaßstabs für allgemeine Sätze siehe unten sub. § 8 IV. und V. 727 Zu den genaueren Einzelheiten unten sub. § 8 IV. und V. 728 Zur Problematik der „Rechtfertigung“ methodologischer Vorgaben oben sub. § 6 II. 729 Zur methodologisch wichtigen Unterscheidung zwischen Prognosen und Prophezeiungen unten sub. § 8 III. 4. 730 Obwohl dies der Annahme des naiv empiristischen Induktivismus entspricht. Jedenfalls können Mutmaßungen von Wahrsagern und „Kräuterhexen“ nicht als unwahrscheinlich im Sinne des Wahrscheinlichkeitskalküls identifiziert werden; siehe oben sub. § 7 III. 3. (Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse). 731 Ausführlich unten sub. § 9 I. 3. b).

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teil: Gerade weil die Wahrheitsgehalte von Prognosen nicht ex ante bestimmt werden können, sind Diskussionen darüber so überaus unfruchtbar und methodologische Festsetzungen in diesem Punkt nicht zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung der obligatorischen Ableitbarkeit gestaltet sich anders: Unabhängig vom induktivistischen Ideal der ex ante-Bestimmung von Wahrheitsgehalten sind objektive Prognoseauswahlerklärungen unmöglich, sobald die Nachprüfbarkeit des Auswahlmaßstabs aufgegeben wird. Das Ableitbarkeitsdesiderat ist mit anderen Worten lediglich eine methodologische Konsequenz des Prüfbarkeitsdesiderats. Das Merkmal der obligatorischen Prognoseableitbarkeit kann methodologisch also nur dann zurückgewiesen werden, falls – abweichend von der Idee der rule of law – die unabhängige, intersubjektive Nachprüfbarkeit von Erklärungen als entbehrlich angesehen wird.732 Ohne weiteres ist das Erfordernis der Prognoseableitbarkeit zwar eine unentbehrliche Voraussetzung jeder objektiven Prognoseauswahlerklärung. Gewissermaßen aus sich heraus liefern Prognoseableitbarkeiten aber noch keine hinreichende Auswahlkonzeption. Das hängt damit zusammen, daß für alle empirischen Sachverhaltskonstellationen stets unendlich viele unterschiedliche – und paarweise miteinander unvereinbare – abgeleitete Prognosen konstruierbar sind. Das folgt daraus, daß die Gesamtzahl unabhängiger Theoriesysteme (und damit die Anzahl gleichzeitig verfügbarer Ableitungsgrundlagen) ihrerseits unbeschränkt ist. Ein vollständiges Konzept objektiver Auswahlerklärungen bedarf deshalb zusätzlicher Kriterien, deren Theorie gleich ausführlicher zu behandeln sein wird.733 Zur Vermeidung unnötiger Mißverständnisse wollen wir jedoch vorab kurz auf das bereits mehrfach angesprochene „deduktive Verfahren der Prognoseableitungen“ eingehen.734 1. Deduktion Das deduktive Schlußverfahren der Prognoseerstellung ist die methodologische Voraussetzung objektiver Prognoseauswahlerklärungen. „Deduktiv“ wird dabei im Rahmen der Ableitung von Einzelprognosen aus allgemeinen Sätzen (Theorien)735 sowie zusätzlichen singulären Sätzen (Anfangsbedingungen, Randbedingungen, empirischen Tatsachen)736 geschlossen. Der Begriff der Deduk732 Eine direkte Folge der möglichen Zurückweisung obligatorischer Prognoseableitbarkeiten ist eine monistische Interpretationstheorie (dazu oben sub. § 1 I.); siehe zur Wissenschaftlichkeit als Prüfbarkeit oben sub. § 6 III. 1. 733 Dazu unten sub. § 8 IV. und V. 734 Unten sub. § 8 III. 1., 2., 3. und 4. 735 Unten sub. § 8 III. 2. 736 Unten sub. § 8 III. 3.

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tion bezeichnet gültige (das heißt: wahrheitserhaltende737) Schlüsse vom Allgemeinen auf das Besondere.738 Mit anderen Worten ist das Ziel einer Deduktion dem Anliegen des induktiven Verfahrens genau entgegengesetzt. Denn Induktionen möchten vom Besonderen auf Allgemeines schließen („abstrahieren“) und müssen an diesem wahrheitserweiternden Vorhaben unausweichlich scheitern (man weiß nicht mehr als man weiß).739 Ein triviales Beispiel für deduktive Prognoseerstellung liefert die Ableitung der Einzelprognose „Sokrates wird sterben“ aus dem allgemeinen Satz „Alle Menschen sind sterblich“ in Verbindung mit der Anfangsbedingung „Sokrates ist ein Mensch“. Ganz allgemein setzen gültige Prognosededuktionen immer sowohl allgemeine Sätze (Theorien) als auch bestimmte Anfangsbedingungen (singuläre Sätze) voraus. Daher kommen deduktive Prognoseerstellungen immer dann nicht in Betracht, wenn entweder (noch) keine geeigneten allgemeinen Sätze zur Verfügung stehen oder die (theoriebezogen erforderlichen) Anfangsbedingungen empirisch nicht feststellbar sind.740 Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Bei Würfelspielen sollen die Anfangsbedingungen den Beteiligten üblicherweise unbekannt sein. Denn weil sich bei bekannten Anfangsbedingungen jeder Würfelwurf theoretisch prognostizieren ließe, sind die Spielregeln („Schütteln im Würfelbecher“) so ausgestaltet, daß sie mit der vorherigen genauen Feststellung der Anfangsbedingungen unvereinbar sind.741 Umgekehrt scheitern Prognosededuktionen in vielen anderen Sachverhaltskonstellationen daran, daß keine geeigneten allgemeinen Sätze verfügbar sind.742 Ein solches Fehlen allgemeiner Sätze (Theoriedefizit) hat immer zur Folge, daß die bekannten Anfangsbedingungen nicht für Prognoseerstellungen verwendet werden können. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß derlei theoriedefizitäre Konstellationen häufig für theoretisch besonders anspruchsvoll gehalten werden;743 sie 737 Wahrheitserhaltend sind Schlüsse dann, wenn die Wahrheit der Prämissen niemals zu einer unwahren Konklusion führen kann; vgl. oben Fn. 442. 738 Dazu allgemein Albert, Kritische Vernunft, S. 13 f. 739 Zum Problem sog. wahrheitserweiternder Schlüsse bereits oben sub. § 7 III. 2. und 3. 740 Popper, Logik der Forschung, S. 158 f. 741 Beispiel bei Popper, Logik der Forschung, S. 158 f. 742 Das Fehlen allgemeiner Sätze kann damit zusammenhängen, daß bislang noch keine geeigneten allgemeinen Sätze formuliert werden konnten, oder damit, daß jeder bislang formulierte allgemeine Satz falsifiziert werden konnte; siehe zur Falsifikation allgemeiner Sätze unten sub. § 8 IV. 1.

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führen bei manch einem der Beteiligten zu Resignation oder sogar zur subjektiven Überzeugung, niemals brauchbare allgemeine Sätze finden zu können. Allerdings: Mit der bisherigen Nichtverfügbarkeit allgemeiner Sätze an sich kann nicht erklärt werden, daß innerhalb eines bestimmten Gebiets keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten existieren.744 Denn alle anderslautenden Behauptungen kommen, wie wir bereits dargelegt haben, nicht als wissenschaftliche Thesen in Betracht (Unmöglichkeit einer Verifikation, die mit fehlender Falsifizierbarkeit einhergeht, sogenannte – metaphysische – Antinomie der Erkennbarkeit der Welt).745 Sofern für eine bestimmte Sachverhaltskonstellation sowohl allgemeine Sätze als auch die dazugehörigen Anfangsbedingungen vorliegen, sind einzelne Prognoseableitungen entweder trivial und damit prinzipiell für jeden Interessierten nachvollziehbar (unser Beispiel: „Tod des Sokrates“). Oder die Prognoseableitungen sind abstrakter und dementsprechend technisch anspruchsvoller. Im äußersten Fall können besonders abstrakte Prognosen nur noch von sachverständigen Experten erstellt werden (Beispiele: mathematisierte Wettervoraussagen, Prognosen auf Grundlage der Quantenelektrodynamik).746 Dabei gilt allerdings für alle Abstraktionsgrade, daß deduktive Prognoseerstellungen keine subjektivistischen „Akte der Wertung“ beinhalten.747 Der objektive Zusammenhang zwischen Prognosen einerseits sowie allgemeinen Sätzen und Anfangsbedingungen andererseits ist ein rein logisches Problem. Daher können Deduktionen, falls sie erst einmal – mit oder ohne Hilfe sachverständiger Experten – gelungen sind, prinzipiell von jedem nachvollzogen werden, der mit den Gesetzmäßigkeiten logischen Schließens sowie mit Äquivalenzumformungen vertraut ist. Alle deduktiven Schlüsse sind gültig und vollständig intersubjektiv überprüfbar. Die logische Tatsache, daß Deduktionen wertungsfrei sind, ist für die rule of law überragend wichtig. Diese Wertungsfreiheit gewährleistet in jedem Fall die

743

Siehe Hayek, Anmaßung von Wissen, S. 281 ff. Popper, Logik der Forschung, S. 158 f. 745 Vgl. zu diesem Problemkreis oben sub. § 6 III. 4. insbesondere Fn. 402 („Uneignung formal-logischer Systeme“). 746 Ein besonders eindrucksvolles historisches Beispiel für objektiv bekannte, aber keineswegs von jedem Laien nachprüfbare Deduktionszusammenhänge ist der Beweis der Fermatschen Vermutung: Der Amateurmathematiker und Jurist Pierre de Fermat behauptete im Jahr 1637 die Unmöglichkeit, die Gleichung xn + yn = zn für natürliche Zahlen von x, y, z sowie für ganzzahlige n > 2 lösen zu können. Es dauerte danach mehr als 300 Jahre, bis 1995 dem englischen Mathematiker Andrew J. Wiles erstmals ein vollständiger Beweis für diese Vermutung gelang. Der entdeckte Beweisgang, das Ergebnis zehnjähriger Forschungstätigkeit Wiles, war über 100 Seiten lang. 747 Hierzu unten sub. § 8 V. 1. 744

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Unabhängigkeit aller deduktiv erstellten Prognoseergebnisse von Rechtsanwendern und sachverständigen Experten. Innerhalb der Theorie der Rechtsgüterrelationen ergibt sich zudem folgender Zusammenhang zwischen Deduktionen und den beiden objektiven Gefahrmodalitäten: Alle Gefahrprognosen der ersten Gefahrmodalität (Zurechnung durch Prognosen748) sind aus allgemeinen Sätzen und Anfangsbedingungen abgeleitet. Demgegenüber schließt die andere Gefahrkonstellation (Zurechnungen des Fehlens einer Prognose749) Prognosededuktionen aus. Dabei hängt der Ausschluß von Prognosededuktionen nicht immer mit der Unmöglichkeit von Prognosededuktionen zusammen (also mit dem Fehlen von Anfangsbedingungen oder dem Fehlen allgemeiner Sätze). Die Gefahrmodalität der Zurechnung durch eine Prognose kann auch dadurch ausgeschlossen sein, daß mehrere gleichermaßen bewährte, jedoch paarweise unvereinbare Prognosen deduktiv erstellt werden können.750 2. Allgemeine Sätze Sogenannte allgemeine Sätze – inhaltlich übereinstimmend kann auch von „Theorien“, „Regeln“ oder, im Fall von herausragend bewährten allgemeinen Sätzen über die Wirklichkeit: von „Naturgesetzen“ gesprochen werden – sind stets Aussagen, die folgende Struktur aufweisen: „Jedes Ereignis1 geht niemals mit einem (nachfolgenden) Ereignis2 einher.“751

oder, noch etwas abstrakter: „Alle A’s sind B’s.“

Im Rahmen der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen sind allgemeine Sätze von überragender Bedeutung, weil sie als Deduktionsgrundlagen zur Prognoseerstellung Verwendung finden. Ausnahmslos jeder in diesem Sinne allgemeine Satz ist hypothetischer („konjekturaler“) Art; allgemeine Sätze sind also vorläufige Vermutungen. Umgekehrt sind allerdings nicht alle Vermutungen (etwa vorläufige medizinische Diagnosen) ihrerseits als allgemeine Sätze einzustufen.752

748

Oben sub. § 8 II. 1. Oben sub. § 8 II. 2. 750 Zum Maßstab der komparativen Theoriebewertung unten sub. § 8 IV. und V. 751 Zur sog. Interpretation als Negation oben sub. § 6 III. 752 Bspw. wäre es möglich, eine vorläufige medizinische Diagnose als „Hypothese“ zu bezeichnen, obwohl eine solche Hypothese kein allgemeiner Satz ist, sondern – technisch betrachtet – einen sog. singulären-historischen Charakter hat, vgl. Popper, Historizismus, S. 84. 749

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Hervorzuheben ist insbesondere der konjekturale Charakter aller innerhalb der hochentwickelten Naturwissenschaften formulierten Naturgesetze, denn alle Naturgesetze sind allgemeine Sätze. Damit sind Naturgesetze – entgegen einem bisweilen anzutreffenden Mißverständnis – weder beweisbar,753 noch sehr wahrscheinlich.754 Anders ausgedrückt: Naturwissenschaftliche Naturgesetze haben bezogen auf eine Wirklichkeit, die in irgendeiner Weise (beispielweise zeitlich) unendlich ist, einen Wahrscheinlichkeitswert, der ununterscheidbar ist von Null.755 Der konjekturale Charakter allgemeiner Sätze wirkt sich auch auf die Beurteilung von Theoriebildung aus, denn die Konzeption allgemeiner Sätze kann dementsprechend als schöpferisch-kreative Tätigkeit dargestellt werden. Mit anderen Worten ist Theoriebildung niemals bloß eine passive Schau, bei der Gegebenes gespiegelt würde.756 Und im Widerspruch zur unbefangenen Anschauung des Alltagsverstandes (man spricht in diesem Zusammenhang vom „naiven Empirismus“ der Epistemologie des Alltagsverstandes) werden auch naturwissenschaftliche Naturgesetze (als allgemeine Sätze über die Wirklichkeit) nicht passivistisch „durch Naturbeobachtung“ aufgestellt.757

753 Dieser Irrtum findet sich ebenso exemplarisch wie prominent bei Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 36, der seine Unterscheidung zwischen „Naturwissenschaft“ einerseits und „Rechtswissenschaft“ andererseits ausdrücklich damit begründet, daß nur Naturwissenschaften über beweisbare Gesetze (Naturgesetze) verfügen. Manch anderer teilt diese Fehleinschätzung der Naturwissenschaften freilich bis „heute“, etwa Larenz, Methodenlehre, S. 6 und passim. 754 Zur Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeiten oben sub. § 7 III. 3. 755 Popper, Vermutungen, S. 408; übereinstimmend Carnap, Logical Foundations of Probability, S. 571 (12). 756 Der kreativ-schöpferische Anteil wissenschaftlicher Theorien ist freilich vollständig innerhalb der Entdeckungszusammenhänge bzw. innerhalb der Wissenschaftspsychologie verortet, er hat keine Bedeutung innerhalb der Methodologie (dazu oben sub. § 6 II.); zusammenfassend Popper, Historizismus, S. 106 – „[Wir können sagen], daß es vom Standpunkt der Wissenschaft irrelevant ist, ob wir zu unseren Theorien durch voreilige Schlüsse gelangen oder dadurch, daß wir sozusagen einfach über sie stolpern, also durch ,Intuition‘ [. . .]. Die Frage ,Wie haben Sie Ihre Theorie gefunden?‘ berührt nämlich eine völlig private Angelegenheit, im Gegensatz zu der Frage ,Wie haben Sie Ihre Theorie geprüft?‘, die allein wissenschaftlich relevant ist.“; zur Frage der normativen Standards der Theorieprüfung ausführlich unten sub. § 8 IV. und V. 757 Der klar anti-spekulative Positivismus bei Hans Kelsen (Reine Rechtslehre1, S. 3) beruht auf diesem Mißverständnis, indem er die „ohne weiteres“ wahrnehmbaren „Eigenschaften und Funktionen“ natürlicher Gegenstände mit den „nicht ohne weiteres“ wahrnehmbaren Bedeutungen gesellschaftlicher Akte kontrastieren möchte. Diese (innerhalb Kelsens Werk fundamentale) Unterscheidung zwischen Natur- und Rechtswissenschaft übergeht für den Bereich der Naturwissenschaften vor allem die wichtige Einsicht Kants, daß jede (insbesondere: naturwissenschaftliche) Wahrnehmung apriorisches Wissen voraussetzt, also weder voraussetzungslos gedacht noch als passive Wahrnehmung aufgefaßt werden kann; vgl. auch den identischen Irrtum bei Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, S. 5.

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Weil alle naturwissenschaftlichen Naturgesetze als allgemeine Sätze formuliert werden können,758 sind Naturgesetze unbeweisbare Vermutungen, deren Wahrheit nicht abgesichert werden kann.759 Man kann naturwissenschaftliche Forschung dementsprechend als spekulative Suche nach allgemeinen Sätzen deuten. Zumindest mißverständlich ist dagegen die noch immer verbreitete (szientistische) Vorstellung, Naturwissenschaften suchten nach „Kausalgesetzen“.760 Soweit darunter verstanden wird, daß Naturgesetze einzelne Ereignisse als „Ursachen“ mit anderen Ereignissen als „Wirkungen“ verknüpfen,761 ist das günstigstenfalls dunkel; genaugenommen sind Naturgesetze Invarianzrelationen, also Bezeichnungen des Unwandelbaren in der Wirklichkeit.762 a) Universalität Methodologisch entscheidend ist das Kriterium der Allgemeinheit, das heißt: Theorien müssen universelle Sätze sein, um als Deduktionsgrundlagen in Betracht zu kommen. Allgemeine Sätze beanspruchen universelle Geltung in zeitlicher Hinsicht und sind räumlich nicht eingeschränkt. Sie gelten mit anderen Worten überall und in gleicher Weise für alle Prozesse der Vergangenheit, der Gegenwart sowie für diejenigen der Zukunft („Universalitäts-Bedingung“).763 Diese Universalität erzwingt methodologisch, daß allgemeine Sätze keine Ausnahmen ihrer Geltung zulassen, denn anders verstandene „allgemeine Sätze“ wären keine objektiven Deduktionsgrundlagen für Prognosen.764 Allgemeine Sätze teilen aufgrund ihrer Struktur die methodologische Eigenschaft aller Interpretationen durch Negation,765 sie können also stets in Verbote

758 Dazu Albert, Wissenschaft, S. 19 Fn. 28; im Ansatz zutreffend gesehen von Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 10 – „discovery of generalizations and construction of theories“. 759 Entgegen Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 80 f. (zur möglichen Eindeutigkeit sachverständiger Entscheidungen). 760 Vgl. etwa Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 9; ebenso Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 14, 23. 761 So Kelsen, Reine Rechtslehre1, S. 22. 762 Deutlich Einstein, Mein Weltbild, S. 143 – „Höchste Aufgabe [. . .] ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist.“; vgl. ferner pointiert Hayek, Freiburger Studien, S. 9 – „Ich nehme an, daß ich es nicht zu rechtfertigen brauche, wenn ich als Wissenschaft im engeren Sinne nur theoretische Einsicht betrachte. Kenntnis von Tatsachen ist nicht Wissenschaft [. . .].“ 763 Poser, Wissenschaftstheorie, S. 65; siehe zur Frage „Warum sind die Kalküle der Logik und Arithmetik auf die Wirklichkeit anwendbar?“ Popper, Vermutungen, S. 292 ff. 764 Popper, Erkenntnistheorie, S. 317. 765 Ausführlich zur Interpretation als Negation oben sub. § 6 III.

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umformuliert werden. Der Verbotscharakter allgemeiner Sätze bedeutet, daß beispielsweise der allgemeine Satz Allgemeiner Satz1 „Alle Schwäne sind weiß.“

äquivalent umgeformt werden kann in den nachfolgenden Verbotssatz766: Äquivalenter Verbotssatz „Es gibt keinen nichtweißen Schwan.“

Umgekehrt sind die Negationen allgemeiner Sätze (Beispiel: „Nicht alle Schwäne sind weiß.“) immer als sogenannte singuläre Es-gibt-Sätze darstellbar (Beispiel: „Es gibt mindestens einen nicht-weißen Schwan.“).767 Eine methodologisch wichtige Folge dieser Äquivalenz zwischen allgemeinen Sätzen und den ihnen entsprechenden Verbotssätzen ist ein direkter Zusammenhang zwischen dem Grad der Allgemeinheit eines allgemeinen Satzes und der Größe des empirischen Bereichs, den er verbietet, also denjenigen empirischen Tatsachen, deren Existenz der allgemeine Satz ausschließt, sofern er wahr ist. Demzufolge nimmt der Informationsgehalt allgemeiner Sätze – man kann auch ganz allgemein von ihrem „Gehalt“ sprechen – mit steigender Allgemeinheit der Theorien immer weiter zu.768 Aus diesem Grund sind allgemeine Sätze um so gehaltvoller, je allgemeiner sie formuliert werden können. Daraus folgt weiter, daß jeder allgemeine Satz durch Herabsetzung seines Informationsgehalts in einen weniger allgemeinen (das heißt: in einen spezielleren) allgemeinen Satz überführt werden kann. Der obengenannte allgemeine Satz1 kann unter Verzicht auf einen Teil seines Informationsgehalts769 weniger allgemein etwa wie folgt formuliert werden: Allgemeiner Satz2 – (geringere Allgemeinheit gegenüber dem allgemeinen Satz1) „Alle männlichen Schwäne sind weiß.“

766

Dazu Popper, Logik der Forschung, S. 39; ders., Historizismus, S. 109. Dem angesprochenen Negationsverhältnis zwischen allgemeinen Sätzen und singulären Es-gibt-Sätzen entspricht ihre Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit: allgemeine Sätze sind empirisch nur falsifizierbar, was der empirischen Verifikation ihrer Negate (den singulären Es-gibt-Sätzen) entspricht. 768 Die sehr klare Einsicht in die Bedeutung des empirischen Gehalts einer Theorie – kurz: der Gehalt wächst mit der Klasse der Falsifikationsmöglichkeiten der Theorie, also mit der Klasse derjenigen Zustände, die sie verbietet oder ausschließt – sowie der Gedanke, daß der Gehalt einer Theorie durch deren Unwahrscheinlichkeit zu messen ist, gehen auf Popper zurück (Logik der Forschung, S. 347). Der Gedanke wurde schnell übernommen, etwa von Carnap, Logical Foundations of Probability, S. 406. Die entgegengesetzte Auffassung ist dennoch bis heute verbreitet, siehe etwa Hain, JZ 2002, 1036, 1038 – „[die allgemeinen Sätze sind] weniger gehaltvoll [. . .]“. 769 Der neue allgemeine Satz ist daher mit dem ursprünglichen allgemeinen Satz nicht äquivalent; vgl. dazu Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Satz 5.14. 767

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Die auf diese Weise herabgesetzte Allgemeinheit des allgemeinen Satzes2 verkleinert den empirischen Bereich der durch ihn verbotenen empirischen Tatsachen. Infolgedessen reduziert die Umformulierung zugleich den Informationsgehalt des allgemeinen Satzes2. So schließt der allgemeine Satz2 beispielsweise nicht aus, daß zukünftig schwarze Schwäne weiblichen Geschlechts aufgefunden werden können. Demgegenüber ist das Auffinden eines schwarzen Schwans weiblichen Geschlechts ein mögliches empirisches Ereignis, das der gehaltvollere allgemeine Satz1 verbietet (Verbotssatz), für das er mit anderen Worten empirische Informationen beinhaltet.770 Man kann nun den gehaltvolleren allgemeinen Satz1 ebenso wie den informationsärmeren allgemeinen Satz2, wenn man will, als potentielle Naturgesetze auffassen, beziehen sich doch diese allgemeinen Sätze auf die physische Wirklichkeit („Welt 1“)771. Naturwissenschaftlich sind beide allgemeinen Sätze allerdings vollkommen uninteressant, weil sie zu geringe empirische Gehalte aufweisen und somit zu informationsarm sind. Anders als unsere Beispieltheorien haben die Allgemeinheitsgrade der bereits formulierten Naturgesetze – und damit deren empirische Gehalte – in den hochentwickelten Naturwissenschaften mittlerweile Abstraktionshöhen erreicht, die sie für fachfremde Außenstehende unverständlich werden lassen.772 Zunehmende Informationsgehalte verhalten sich bei allgemeinen Sätzen üblicherweise antiproportional zur intersubjektiven Verständlichkeit.773 Laien gewinnen also nicht ohne weiteres verwertbare Informationen über die Wirklichkeit, sofern sie beispielsweise den allgemeinen Satz erfahren, daß „Energie“ immer der „Ruhemasse“ multipliziert mit der „quadrierten Lichtgeschwindigkeit“ entspricht.774 770

D. h., daß ein Teil der ursprünglichen Verbote insoweit suspendiert ist. Zur „Welt 1“-Konzeption oben Fn. 309 m. w. Nachw. 772 Zur scheinbaren Gegensätzlichkeit des Einfachen und des Abstrakten C. F. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, S. 126 f., der sich dafür auf Werner Heisenberg beruft – „Die Theorien werden zwar immer abstrakter, aber diese Abstraktheit erweist sich für den, der sie versteht, als eine höhere Einfachheit. Die Theorien werden im Prinzip immer einfacher. Gerade das sehr Einfache ist eben in den Formen konkreter Einzelheiten, konkreter Bilder nicht mehr zu sagen, denn das Konkrete ist immer kompliziert. Die Einfachheit unserer modernen Theorien und ihre Abstraktheit sind zwei verschiedene Aspekte genau desselben Wesenszugs.“; dieser Zusammenhang überrascht bisweilen, vgl. Di Fabio, Offener Diskurs, S. 205 – „[T]rotz erneuter Abstrahierung der Theorie [kann man] zu ,einfacheren‘ [. . . Erklärungen . . .] gelangen.“ 773 Die Relation zwischen Verständlichkeit und Informationsgehalt kann nicht ohne weiteres objektiv interpretiert werden, weil „Verständlichkeit“ abhängig ist vom jeweils „Verstehenden“; zur Möglichkeit objektiver Interpretationen in diesem Zusammenhang unten sub. § IV. 4., insbesondere Fn. 944. 774 Gemeint ist die Einsteinsche Konjektur E = mc2 (spezielle Relativitätstheorie). Noch weniger „laienverwertbar“ ist seine allgemeine Relativitätstheorie, also die gegenwärtig bestbewährte Gravitationstheorie. Diese verknüpft die Wirkungen der Gravitation mit der Raumzeitstruktur. Alle Objekte werden gleichermaßen von der Gravitation beeinflußt, daher kann man die sich ergebenden gravitativen Effekte nach Ein771

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Dieselbe Schwierigkeit der Laienverwertbarkeit hoher Informationsgehalte allgemeiner Sätze stellt sich etwa für die physikalische Theorie, wonach für alle Oszillatoren gilt, daß ihre Energie niemals unter einen bestimmten Betrag (2–1  hu) absinken kann. Der dargelegte Zusammenhang zwischen Theorien und den jeweils äquivalenten Verbotssätzen führt zu der weiteren methodologisch wichtigen Einsicht, daß durch Anwendung von Naturgesetzen auf beliebige Sachverhaltskonstellationen (genauer: durch die Interpretation bestimmter Sachverhaltskonstellationen im Lichte bestimmter Theoriesysteme) immer nur einzelne potentielle Entwicklungsperspektiven der Wirklichkeit auszuschließen sind.775 Ausgeschlossen wird immer nur eine Teilmenge möglicher zukünftiger Tatsachen: der „Verbotsbereich“ der jeweils herangezogenen allgemeinen Sätze. Man kann daher zukünftige Ergebnisse irgendeiner gegenwärtigen Sachverhaltskonstellation günstigstenfalls für künstlich isolierte Systeme exakt vorhersagen.776 Die unerreichbare Vollständigkeit der Prognosen ist jedoch selten problematisch. Denn praktisch besteht fast nie das Bedürfnis, sämtliche Eigenschaften irgendeiner zukünftigen Sachverhaltskonstellation im Vorhinein zu kennen (ständige Irrelevanz der meisten Einzelheiten). Statt dessen sind zumeist wenige ausgewählte Faktoren von herausgehobenem Interesse. Derlei Einzelaspekte sind – entsprechend der logischen Situation von Prognosen – theoretisch vorhersagbar. Man kann diesen Befund als „Verbots-Asymmetrie“ bezeichnen: Das Eintreten bestimmter zukünftiger Tatsachen ist nicht prognostizierbar, wissenschaftliche Vorhersagen betreffen immer nur das Ausbleiben bestimmter Tatsachen. Die Verbots-Asymmetrie erklärt unter anderem, weshalb das kanonisierte Problem sogenannter Prognoseungenauigkeiten777 methodologisch ein Mythos stein als Eigenschaften der Raumzeit deuten. Die Eigenschaften hängen dabei vom Materie- und Energieinhalt des Raumes ab; das hat zur Folge, daß sich jegliche Form von Energie in gewisser Weise auf die Krümmung des Raumes und damit auf seine Geometrie auswirkt. 775 Vgl. Popper, Historizismus, S. 109. 776 Die Entstehung isolierter Systeme ist namentlich davon abhängig, daß alle Außeneinflüsse auf das jeweilige System ausgeschlossen werden (vgl. dazu Popper, Historizismus, S. 109). In der Wirklichkeit sind isolierte Systeme seltene Ausnahmen. D. h.: die oftmals pauschal mit den Naturwissenschaften assozierte Präzision ihrer Prognosen ist nur eine scheinbare und hängt eng mit einem falschen Verständnis der Naturgesetze zusammen. Seit Isaac Newton sehen freilich viele in der hohen Genauigkeit astrophysikalischer Vorhersagen der Planetenbewegungen das Paradigma „präziser naturwissenschaftlicher Prognosen“ – unser Sonnensystem befand sich jedoch im Fall Newtons (wie auch noch gegenwärtig) in einer Konstellation natürlicher Isolation; kein wissenschaftlich tragfähiger Grund rechtfertigt die Annahme, daß die Planetenbewegungen vorhersagbar bleiben, falls zukünftig hinreichend große externe Störungen unser Planetensystem treffen sollten. 777 Etwa Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 109 Fn. 45.

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ist. So kann die in der Epistemologie des Alltagsverstands festverwurzelte Idee unvermeidbarer Prognoseungenauigkeiten – „man kann nie ganz sicher darüber sein, was die Zukunft bringt“ – nämlich nicht damit erklärt werden, daß alle Naturgesetze („Kausalgesetze“) mehr oder weniger wahrscheinlich wären.778 Der richtige Kern der intuitiv wahrgenommenen Prognoseungenauigkeiten hängt methodologisch vielmehr damit zusammen, daß in den meisten Sachverhaltskonstellationen nicht für alle zukünftigen Tatsachen, die als relevant angesehen werden, mit Hilfe der verfügbaren allgemeinen Sätze alle relevanten möglichen Entwicklungsperspektiven gültig ausgeschlossen werden können.779 Zum methodologischen Verständnis der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen ist lediglich die Grundstruktur allgemeiner Sätze von Interesse. Es geht also nicht um spezifische Schwierigkeiten, die mit dem Auffinden und Entdecken allgemeiner Sätze (das heißt: mit der Heuristik theoretischer Naturwissenschaften) oder einzelnen Prognosededuktionen (das heißt: mit der täglichen Praxis angewandter Naturwissenschaften) verbunden sind. Sowohl die Entdeckung allgemeiner Sätze als auch alle technischen Feinheiten der Prognoseableitungen im Einzelfall sind mit anderen Worten Domänen (natur-)wissenschaftlicher Fachdisziplinen.780 Die einzige methodologische Vorgabe, die den naturwissenschaftlichen Fachdisziplinen auferlegt ist, besteht darin, daß allgemeine Sätze in ihrer Grundform so zu benennen sind, daß sie die Struktur universeller Invarianzrelationen aufweisen: „Alle A’s sind B’s“.781 778

Dazu oben sub. § 7 III. 3. (Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsur-

teile). 779 Beispiel: Falls die zukünftige empirische Tatsache „Regenwetter morgen (in 24 Stunden)“ prognostiziert werden soll, hilft ein allgemeiner Satz, der verbietet, daß zu diesem Zeitpunkt die Sonne scheint. Ergänzend wäre freilich auch ein allgemeiner Satz informativ, der „lediglich bedeckten Himmel ohne Niederschlag“ ausschließt. Die naiv empiristische (induktivistische) Sichtweise würde demgegenüber nach der Niederschlagswahrscheinlichkeit fragen. Zusammenfassend dazu Popper, Erkenntnistheorie, S. 398 – „Die geschilderte Auffassung macht es klar, daß wir immer nur aus Sätzen (Naturgesetze, Sätze über Ereignisse) auf Sätze (Prognosen über Ereignisse) schließen können. Jeder Satz läßt der ,Wirklichkeit‘ einen gewissen Spielraum, was wir, wenn wir die metaphysisch-realistische Ausdrucksweise vermeiden wollen, auch in der formalen Redeweise ausdrücken können: jeder noch so ausführliche Existentialsatz steht immer zu beliebig vielen möglichen Existentialsätzen in einem solchen logischen Verhältnis, daß er mit ihnen vereinbar ist, und unter diesen gibt es wiederum beliebig [. . .] [viele] Existentialsätze, die mit dem ersten Existentialsatz in beliebig enger, raumzeitlicher nachbarschaftlicher Beziehung stehen.“ 780 „Juristische“ Theorien der Risikoentscheidungen verzichten daher zumeist – in berechtigter fachspezifischer Zurückhaltung – auf Einzelbeschreibungen konkreter allgemeiner Sätze (Naturgesetze); siehe so auch Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 11 – „lawyer[s] are not primarily concerned to discover laws or generalizations, but often apply known or accepted generalisations“. Zum Zusammenhang zwischen naturwissenschaftlichen Fachdisziplinen sowie der Interpretation von normativen Ordnungen auch unten sub. § 8 V. 1.

§ 8 Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage

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Die dargelegte – sehr knappe – Verwendungsskizze für naturwissenschaftliche allgemeine Sätze innerhalb der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen beschreibt bereits vollständig die konzeptionelle Einbeziehung aller sonstigen wissenschaftlichen Fachdisziplinen in die Interpretation normativer Ordnungen. Anders ausgedrückt: Der funktionale Beitrag, den naturwissenschaftliche Experten im Zusammenhang mit Rechtsanwendung zu leisten vermögen, liegt einerseits darin, daß sie allgemeine Sätze über die Wirklichkeit zur deduktiven Prognoseerstellung aufzeigen können (im Idealfall: hochgradig bewährte Naturgesetze782). Andererseits liegt der Beitrag der Naturwissenschaftler aber auch darin, daß sie die von Fachkollegen angebotenen allgemeinen Sätze kritisieren sowie möglicherweise falsifizieren können.783 Kurz: Naturwissenschaftler befassen sich mit Vermutungen und Widerlegungen. Diese Eingliederung des objektiven naturwissenschaftlichen Wissens in den Deduktionszusammenhang der Theorie der Rechtsgüterrelationen ist die einzige „interdisziplinäre“ 784 Komponente normativer Gefahrbewertungen. Also erschöpfen sich die häufig eher diffus wahrgenommenen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der „Interdisziplinarität moderner Risikobeurteilungen“ im – freilich mitunter schwierigen und anspruchsvollen – Auffinden, Ableiten, Kritisieren und Falsifizieren allgemeiner Sätze.785 Als weitreichende und methodologisch wichtige Konsequenz ergibt sich aus dieser Einordnung, daß die monistische Vorstellung786 einer untrennbaren Verquickung von naturwissenschaftlichem Sachverstand einerseits mit rechtsanwendungsbezogenen Wertungsaspekten andererseits verfehlt ist.787 Die oft wieder781

Oben sub. § 8 III. 2. a). Alle Naturgesetze haben den Charakter allgemeiner Sätze (dazu oben sub. § 8 III. 1.) und zeichnen sich durch hohe Bewährungsgrade aus (dazu ausführlich unten sub. § 8 IV. und V.). 783 Siehe zur kritischen Prüfung und zur Falsifikation allgemeiner Sätze unten sub. § 8 IV. 1. 784 Mit anderer Akzentuierung zur Interdisziplinarität Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 286. 785 Ähnlich Albert, Kritik der reinen Hermeneutik, S. 190 f.; zutreffend Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 11; demgegenüber sieht Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 286, in diesem Punkt erheblichen Klärungsbedarf unter Einbeziehung der „gesamte[n] wissenschaftstheoretischen sowie [der] sich mit dem Erkenntnisprozeß beschäftigende[n] psychologische[n] und soziologische[n] Literatur“, erforderlich sei eine „entsprechende Ausbildung“ zu „interdisziplinärer Kooperation“. 786 Siehe etwa Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 80 f. – „Der Charakter staatlicher Beratung durch externe Sachverständige wandelt sich in dem Maße, wie die Entscheidungen der Sachverständigen als nicht mehr eindeutig betrachtet und deshalb vom juristischen Entscheidungssystem auch nicht mehr unbearbeitet rezipiert werden können.“ 787 Diese Idee steht in enger Nähe zur monistischen Interpretationstheorie, die „den Rechtsanwender“ mit „seiner“ Rechtsordnung verschränkt (dazu oben sub. § 1); ganz 782

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holte788 Behauptung, Rechtsanwendung gerate spätestens in „modernen Industriegesellschaften“ (bzw. in „Wissens-“ oder doch jedenfalls in „globalisierten Gesellschaften“) zum Spielball externen Sachverstands oder ins Kraftfeld von Expertenkommissionen, ist durch nichts zu rechtfertigen. Sie überhöht die ausschließlich dienende Erkenntnisfunktion, die den Naturwissenschaften innerhalb von Deduktionszusammenhängen zukommt, voreilig hin zu Entscheidungs- und Wertungskompetenzen.789 Normative Risikoentscheidungen erfordern objektives (naturwissenschaftliches) Expertenwissen funktional ausschließlich in der Weise, in der es zur Aufstellung neuer allgemeiner Sätze führt oder, wenigstens, deskriptiv die bereits in Fachkreisen bekannten allgemeinen Sätzen wiedergibt.790 Die durch sachverständige Naturwissenschaftler vorgelegten allgemeinen Sätze dürfen also erkenntnistheoretisch weder mißverstanden werden als subjektive Meinungen einzelner Wissenschaftler noch als – gegebenenfalls im Rahmen der weiteren Rechtsanwendung zu korrigierende – Wertungen der Experten. Ganz im Gegenteil: Allgemeine Sätze sind nur als überprüfbare – objektive – Invarianzrelationen von methodologischem Interesse. Das schließt natürlich nicht aus, daß einzelne Fachwissenschaftler ihre eigenen Aussagen unabhängig von deren methodologischer Bedeutung subjektiv für „hoch wahrscheinlich“ oder sogar „erwiesen“ halten. Umgekehrt kann aber auch die – methodologisch ebenso irrelevante – Tatsache nicht ausgeschlossen werden, daß ein angehörter Experte seiner eigenen Theorie sehr kritisch gegenübersteht.791 Derlei – vielleicht wissenschaftspsychologisch interessante – subjektidem auf die Rechtsordnung bezogenen Monismus entsprechend wird hier „der Rechtsanwender“ mit „seinen“ naturwissenschaftlichen Experten verschmolzen. 788 Besonders typisch sind in diesem Zusammenhang die vielen Spielarten entwicklungsgesetzlich historisierender Betrachtungen, dazu auch oben Fn. 672. 789 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 110 – „Wertungsfragen [. . .] überschreiten [. . .] die Beurteilungskompetenz von Sachverständigen, ohne daß jedoch auf Sachverständige verzichtet werden könnte, weil Wissen und Werten einen kaum zu scheidenden Zusammenhang bilden.“; nun dürfte diese Vorstellung einer Abhängigkeit von externen Wertungen durch Wissenschaftler einer der Hauptgründe dafür sein, daß immer mehr einzelne Rechtsgebiete als isolierte Spezialdisziplinen betrieben werden, die mit naturwissenschaftlichen oder auch ökonomischen Grundlagenfächern verschränkt werden. Deren jeweilige „Rechtsanwendungsexperten“ wollen gleichzeitig auch „außerjuristisches Expertenwissen“ vorhalten, um somit selbst entscheiden zu können (Monismus). Von einer Berechtigung eines solchen Vorgehens kann aber gar keine Rede sein, denn methodologisch sind immer die bewährtesten allgemeinen Sätze einer Disziplin ausschlaggebend, niemals jedoch zufällige (subjektive) Kenntnisse einzelner Rechtsanwender. 790 Experten sind zur bloßen Wiedergabe objektiv bekannter allgemeiner Sätze solange nötig, wie die Bekanntheit des jeweiligen allgemeinen Satzes nicht schon den Grad von Allgemeinwissen erreicht hat. 791 In der wissenschaftshistorischen Rückschau fällt auf, daß „große“ Wissenschaftler zumeist dieser zweiten Gruppe angehörten.

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vistische Positionen sind methodologisch irrelevant. Sie spielen keine Rolle im Rahmen der rule of law und im Zusammenhang mit objektiven Erklärungen.792 Aus methodologischer Sicht sind Naturwissenschaftler nicht aufgefordert, subjektivistisch die von ihnen genannten allgemeinen Sätze zu bewerten (also Aussagen zu präsentieren wie: „Ich vertraue als Autorität darauf, daß . . .“) oder Auskünfte über deren Wahrscheinlichkeiten zu geben. Derlei persönliche Einschätzungen könnten methodologisch nur in ihrer apodiktischen Subjektivität anerkannt werden (Dogmatismus793) oder sie mündeten in einen unendlichen Regreß794 und müßten daher an irgendeiner Stelle willkürlich suspendiert werden.795 b) Theorie und Wahrscheinlichkeitsaussage Einer wichtigen Klarstellung innerhalb der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen bedarf nun das Verhältnis zwischen allgemeinen Sätzen und Wahrscheinlichkeitsaussagen. So wurde zwar bereits im Rahmen unserer Kritik der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen dargelegt, weshalb die sogenannte Prognosewahrscheinlichkeit nicht als objektives Prognosemerkmal interpretierbar ist; die induktivistische Prämisse der Standarddogmatik der Risikoent-

792 Die modernistische Vorstellung wertender Sachverständiger weist wissenschaftshistorisch interessante Parallelen zur empiristischen Erkenntnistheorie des frühen 17. Jahrhunderts auf; so war es wesentlicher Bestandteil der Lehre Francis Bacons, daß wissenschaftlicher Fortschritt durch den „guten Willen“ des Forschers (und natürlich durch die Beobachtung von Tatsachen) erzielt werde. Infolgedessen sah Bacon sowohl zu starkes Selbstvertrauen als auch übertriebenen Skeptizismus des Forschers als Gefährdungen der Wissenschaftlichkeit an. „Privater Ambitionen“ sollte sich daher jeder Wissenschaftler enthalten, um die Objektivität der Wahrheit nicht zu verunreinigen. Diese alte empiristische Furcht vor der Verunreinigung wissenschaftlicher Forschung ist bis heute die Grundlage des (vermeintlichen) Problems „wertender Sachverständiger“. Denn sobald erkannt ist, daß die Herkunft wissenschaftlicher Hypothesen methodologisch irrelevant ist, sofern sie nur objektiv kritisierbar sind oder als unkritisierbar abgelehnt werden können, verschwindet das (empiristische) Problem der Verunreinigung des Wissens ebenso wie das (rechtstheoretische) Problem der Sachverständigenwertung im Prozeß der Rechtsanwendung. 793 Die Selbsteinschätzungen unterscheiden sich nur durch das Ausmaß der persönlichen Überzeugtheit jedes einzelnen Wissenschaftlers. Daher müßte normativ ad hoc bestimmt werden, welcher individuelle Wissenschaftler zur maßgeblichen Instanz im konkreten Fall erhoben wird, denn induktive Wahrscheinlichkeitsschlüsse, die den Grad persönlicher Überzeugungen objektiv erklären könnten, sind nicht verfügbar; dazu oben sub. § 7 III. 3. 794 Alle Würdigungen der Güte allgemeiner Sätze durch Wissenschaftler betreffen die Frage nach möglichen Falsifizierungen in der Zukunft. Die würdigenden Aussagen haben damit ihrerseits Prognosecharakter und bedürfen wiederum der Rechtfertigung (und so fort); siehe dazu oben sub. § 8 II. 3. b). 795 Vgl. dazu ausführlich unten sub. § 10 VI., insbesondere Fn. 1481 („Münchhausen-Trilemma“).

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scheidungen konnte in diesem Punkt falsifiziert werden.796 Es wäre aber ein grobes Mißverständnis, die Kritik so aufzufassen, daß Wahrscheinlichkeitsaussagen innerhalb der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen keinerlei Relevanz zukäme. Das Gegenteil ist richtig, denn auch Wahrscheinlichkeitsaussagen (Wahrscheinlichkeitsrelationen) werden – wenn auch nur unter bestimmten Bedingungen797 – naturwissenschaftlich als allgemeine Sätze verwendet; die quantenphysikalische Unschärferelation798 ist das berühmteste Beispiel dafür. Anders als die verschiedenen induktivistischen Sichtweisen interpretiert die deduktive Theorie der Risikoentscheidungen alle Wahrscheinlichkeitsaussagen als Theorien. Dabei betrachtet die deduktive Theorie Wahrscheinlichkeitsaussagen keinesfalls als Theorieeigenschaften.799 Um den Unterschied etwas deutlicher zu machen: Ein konsequenter Induktivist nimmt typischerweise die Aussage a als seine Theorie sowie die „Wahrscheinlichkeit von a unter den empirischen Bedingungen b“ – konventionsgemäß abgekürzt als p (a, b) – als den Grad seines Glaubens an die Theorie, also: als seine Gewißheit. Im Gegensatz dazu betrachtet die deduktive Theorie der Risikoentscheidungen die Gleichung „ p…a; b† ˆ r “

als eine selbständige Theorie – genau wie a –, deren Wahrheitswert seinerseits völlig unabhängig ist von individuellen Gefühlen des subjektiven Fürwahrhaltens irgendeiner Gruppe von Betrachtern.800 Die Verschiedenheit zwischen der deduktiven Sicht auf Wahrscheinlichkeitsaussagen und allen induktivistischen Vorstellungen kann auch so dargestellt werden, daß Wahrscheinlichkeitsaussagen nur im deduktiven Zusammenhang streng von empirischen Tatsachen unterschieden werden. Anders gewendet: Die deduktive Theorie hat sich Klarheit darüber verschafft, daß die Zurechnungsrelevanz jeder einzelnen Wahrscheinlichkeitsaussage erklärt werden muß und nicht einfach unterstellt werden darf; handelt es sich doch bei Wahrscheinlichkeitsaussagen um Theorien.

796

Vgl. oben sub. § 7 II. und III. 3. Diese Bedingung besteht ganz wesentlich darin, daß es sich bei der jeweiligen Ausgangsfrage um ein statistisches Problem handeln muß. 798 Heisenberg-Relation aus dem Jahr 1927: x  p  h  …4† 1 ; dazu unten x Fn. 835. 799 Demgegenüber fragt der allgemeine Problemhintergrund der induktiven Dogmatik irrtümlich nach der Wahrscheinlichkeit von Prognosen an sich, etwa: „Wie wahrscheinlich ist der Satz ,Jeden Morgen geht die Sonne auf?‘“ 800 Ausführlich Popper, Realismus, S. 341 ff.; dazu auch unten sub. § 9 I. 3. a). 797

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Die prinzipielle Verwendbarkeit von Wahrscheinlichkeitsaussagen innerhalb der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen folgt, anders erklärt, auch daraus, daß die methodologische Wissenschaftsakzessorietät801 auf die objektive Gesamtheit aller naturwissenschaftlichen Invarianzrelationen verweist, damit also auch auf Wahrscheinlichkeitsaussagen, sofern diese in der nachprüfbaren Struktur allgemeiner Sätze formuliert werden können. Ergebnis: Wahrscheinlichkeitsaussagen sind keine objektiven Theoriemerkmale, sondern – in deutlicher Abgrenzung zum Induktivismus – ihrerseits als Theorien zu interpretieren. Wahrscheinlichkeitsaussagen dienen deshalb nicht der Auswahl von Prognosen, können jedoch im Rahmen von Theorieanwendungen Bedeutung erlangen.802 Das setzt allerdings voraus, daß diejenige Theorie, die Wahrscheinlichkeitsaussagen beinhaltet, zurechnungsrelevant ist. Die deduktive Theorie der Risikoentscheidungen weist Wahrscheinlichkeitsaussagen nur innerhalb des Rahmens anwendbarer Theorien eine Funktion zu, also nur dann, wenn bereits über die Vorfrage entschieden ist, „daß“ die fragliche probabilistische Theorie anwendbar ist. Wahrscheinlichkeitsaussagen entscheiden jedoch nicht darüber, „ob“ eine (probabilistische) Theorie anwendbar ist. c) Indeterminismus und deterministische These Innerhalb der moderneren Rezeptionsgeschichte allgemeiner Sätze sind (insbesondere im Hinblick auf Naturgesetze) verschiedene Verwechslungen zwischen „Wahrscheinlichkeitsaussagen“, „der wissenschaftlichen Prognostizierbarkeit“ und „dem Indeterminismus“ weitverbreitet. Weil nun diese populären Gleichsetzungen ein richtiges Verständnis unserer Interpretation allgemeiner Sätze erschweren, vor allem jedoch deswegen, weil manche dieser vermeidbaren Mißverständnisse bis heute zu folgenreichen antirealistischen und relativistischen Fehleinschätzungen der Problemsituation geführt haben, sollen im folgenden einige wesentliche Aspekte dieser Zusammenhänge etwas näher behandelt werden. Hilfreich ist zunächst eine Vergewisserung der bis heute einflußreichsten Formulierung der sogenannten deterministischen These, die auf den französischen Mathematiker und Physiker Pierre Simon Marquis de Laplace zurückgeht: „Wir müssen [. . .] den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, 801

Oben sub. § 6 I. Ganz anders wiederum die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen: exemplarisch Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, S. 221 – „Daß eine Prognose auf einem Wahrscheinlichkeitsurteil beruht, ist ein Gemeinplatz; daß sie ein Wahrscheinlichkeitsurteil ist, wird meist übersehen.“; dieser „Gemeinplatz“ ist der verbreitete induktivistische Fehlschluß (dazu oben sub. § 8 I. 2.) und das „bislang Übersehene“ läuft hier auf eine weitere Folgerung aus dem unrichtigen Grundgedanken hinaus. 802

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welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen.“803

Unter anderem mit diesen Ausführungen versuchte Laplace im Jahr 1814 deutlich zu machen, daß die Theorie der Wahrscheinlichkeit – seiner Auffassung nach – ausschließlich solche Vorgänge betrifft, über die aus subjektiver Sicht Erkenntnisse fehlen. Seine Wahrscheinlichkeiten bezogen sich niemals auf indeterminierte Prozesse in der Wirklichkeit. Laplace interpretierte den Wahrscheinlichkeitskalkül also als Ungewißheitskalkül im Sinne subjektiv (!) fehlenden Wissens über die Wirklichkeit. Das Gedankenexperiment im Zitat illustriert diese subjektivistische Interpretation. Denn für den sogenannten Laplaceschen Weltgeist (die hypothetische „Intelligenz“) gibt es ebensowenig Zufälle wie Ungewißheiten. Dieser Laplacesche „Determinismus-Hintergrund“, der seinerseits eng mit der Laplaceschen Wahrscheinlichkeitstheorie verknüpft ist, hat im Verlauf der späteren Diskussion (insbesondere während des 20. Jahrhunderts) zu übervereinfachenden und dabei mißverständlichen Bezugnahmen auf das heute sogenannte „klassische Weltbild“ geführt, das – nach jetzt populärer Auffassung – durch „die moderne Naturwissenschaft“ überwunden wurde. Natürlich kommt es, wie immer, nicht auf „richtige“ Verwendungen des Wortes „klassisch“ an. Differenziert werden muß aber doch wenigstens wie folgt: So ist zwar heute das mechanistische Weltbild der älteren Physik überwunden. Aber im Verlauf dieses Abschieds vom mechanistischen Weltbild hat die metaphysische Idee des Determinismus durchaus nicht gleichzeitig abgedankt. Denn die „klassische“ Physik des „alten Weltbildes“ sagte dreierlei:804 (1) Alles, was in der Welt geschieht, ist an sich vorbestimmt. (2) Die Vorbestimmung beruht auf Gesetzen. (3) Die Gesetze sind die Gesetze der Mechanik.

Das „neue Weltbild“ der modernen Naturwissenschaften hat lediglich den dritten (cartesianischen) Satz überwunden. Denn die mechanischen Gesetzmäßigkeiten der Welt (Isaac Newtons „Philosophiae naturalis principia mathematica“), die man zunächst als allumfassende allgemeine Invarianzrelationen vermutet hatte,805 konnten später durch neuentdeckte Phänomene in vielen Punkten falsifiziert werden. 803 Pierre Simon Marquis de Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, S. 2 f. 804 Ausführlich C. F. v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur, S. 136.

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Die – unter bestimmten Bedingungen demonstrierbare – Falschheit der mechanistischen Gesetze des klassischen Weltbildes beweist ganz sicher nicht die Falschheit aller anderen Gesetze. Daher hatte die naturwissenschaftlich bedeutende Überwindung des (cartesianischen) dritten Satzes bereits rein logisch keine Auswirkungen auf die Diskussion des zweiten Satzes. Ohnedies kann eine Überwindung der zweiten Aussage – also eine Überwindung der metaphysischen Idee des Determinismus – nicht806 mit einem Verzicht auf Naturgesetze gleichgesetzt werden. Zwar muß eine Wirklichkeit, in der nicht alles vorherbestimmt ist, die also nicht vollständig anhand von Invarianzrelationen beschreibbar ist, insgesamt als indeterminiert verstanden werden. Die indeterministische Vermutung eines „offenen Universums“807 schließt aber nicht aus, daß bestimmte Gesetzmäßigkeiten existieren und dementsprechend Teile der indeterminierten Wirklichkeit anhand von Invarianzrelationen beschreibbar sind. Kurz: Die Existenz von Gesetzmäßigkeiten verträgt sich sowohl mit der deterministischen These als auch mit indeterministischen Weltbildern. Die Vereinbarkeit erklärt, weshalb die (sehr alte) Determinismus-Frage weder in das Problem deduktiver Prognoseerstellungen einmündet noch sonst irgendein Zurechnungsproblem innerhalb der rule of law darstellt. Ganz im Gegenteil: Die deterministische These muß von der theoretischen Zurechnungsdiskussion scharf getrennt werden. Denn sie hat innerhalb (!) der Zurechnungsproblematik keinerlei Bedeutung. Unabhängig von diesen logischen Implikationen der naturwissenschaftlichen Widerlegung von Satz-(3) sind die beiden erstgenannten Aussagen des „alten Weltbildes“ als metaphysisch einzuordnen. Das heißt, sie sind beide nicht falsifizierbar (oder, wenn man eine realistische Ausdrucksweise bevorzugt: Beide Sätze sind durch keinerlei empirische Beobachtungen irgendwelcher Art überwindbar).808 Schon deshalb haben die modernen Naturwissenschaften den Determinismus weder bislang überwunden, noch kann von ihnen auch nur erwartet werden, daß sie die deterministische These zukünftig mit naturwissenschaftli805 So betrachtete namentlich René Descartes die Welt als gigantisches, äußerst präzises Uhrwerk, das er für mechanisch beschreibbar hielt. Vor diesem cartesianischen Theoriehintergrund erschien jede Verursachung als mechanischer Stoß. 806 Entgegen verschiedener populärer Fehlvorstellungen. 807 Dem indeterministischen „offenen Universum“ wäre das deterministische „Blockuniversum“ (die Idee wurde bspw. vertreten von Parmenides, Spinoza und Einstein) gegenüberzustellen. 808 Zum Unternehmen einer Kritik metaphysischer Auffassungen vor allem Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 771 – „Auf solche Weise gibt es eigentlich gar keine Antithetik der reinen Vernunft. Denn der einzige Kampfplatz für sie würde auf dem Felde der reinen Theologie und Psychologie zu suchen sein; dieser Boden aber trägt keinen Kämpfer in seiner ganzen Rüstung, und mit Waffen, die zu fürchten wären. Er kann nur mit Spott oder Großsprecherei auftreten, welches als ein Kinderspiel belacht werden kann.“

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chen Mitteln überwinden.809 Es gilt vielmehr die – eher schlichte – naturwissenschaftliche Wahrheit zu akzeptieren, daß der Determinismus innerhalb der modernen Physik ganz unterschiedlich beurteilt werden kann. Diese Tatsache wird durch den Realbefund illustriert, daß sich (auch moderne) Physiker in der metaphysischen Determinismus-Frage immer ganz unterschiedlich positioniert haben.810 Diese kurzen Anmerkungen mögen die Fragwürdigkeit derjenigen Problembeschreibungen verdeutlichen, denen bisweilen holzschnittartig die Auffassung zugrunde liegt, „die neuere Naturwissenschaft“811 gehe etwa bei „physikalischen, biologischen oder ökologischen“812 Systemen davon aus, daß diese in ihren „Kausal- und Wirkungszusammenhängen . . . komplex, diffus und von häufig nicht-linearen, sprunghaften, chaotischen Entwicklungen und Veränderungen“813 geprägt seien. Feuilletonistische Beschreibungen dieser Art werden bisweilen irrtümlich als überzeugende Belege dafür angesehen, daß „die einer herkömmlichen Wahrscheinlichkeitsbeurteilung zugrundeliegenden Prämissen linearer und durch naturwissenschaftliche Gesetze determinierbarer Geschehensabläufe schon von vornherein angezweifelt werden mü[ßt]en und von der neueren Naturwissenschaft – in Abkehr von dem früheren mechanistischen Weltbild – auch angezweifelt w[ü]rden (sog. epistemologischer Bruch)“.814 809 Davon zu unterscheiden ist die unabhängige metaphysische Fragestellung, ob die indeterministische Position wahr ist (und der Determinismus dementsprechend unwahr). Diesbezüglich gibt es wichtige Gründe anzunehmen, daß das der Fall ist (siehe dazu als „Prolegomenon zu der Frage der menschlichen Freiheit und Kreativität“ Popper, Das offene Universum). Diese Fragestellung hat aber – um das bereits Gesagte zu wiederholen – nichts zu tun mit der Zurechnungsproblematik der rule of law und dem Problem der Prognoseauswahl. 810 Als Deterministen sind unter anderem David Joseph Bohm sowie die beiden Nobelpreisträger Albert Einstein und Louis Victor, 7. Herzog von Broglie anzusehen. Eine indeterministische Gegenposition nahmen bspw. die Nobelpreisträger Niels Henrick David Bohr, Erwin Schrödinger und Wolfgang Pauli ein. 811 In diesem Sinne etwa Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 258; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 126; zur „unüberschaubaren Kausalitätsstruktur moderner Gesellschaften“ siehe nur Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 166 ff., 257 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 449 f., 476, 570. 812 Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 257. 813 Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 257. 814 Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 257 f.; vgl. ferner auch Köck, AöR 121 (1996), S. 1 (8); Ladeur, Umweltrecht der Wissensgesellschaft, S. 81 und 84 ff.; Preuß, in: Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, S. 335, 545; Scherzberg, VerwArch 1993, S. 484 (493 ff.). Derlei antirealistische Annahmen sind wissenschaftstheoretisch reine Metaphysik, sie ziehen unter Verkennung der logischen Situation bestimmter (nämlich zumeist quantenphysikalischer) Wahrscheinlichkeitsrelationen zu weit gehende Schlüsse; dazu ausführlicher Popper, Erkenntnistheorie, S. 405 f. Der gleichwohl recht hohe Verbreitungsgrad dieser kausalmetaphysischen Auffassung dürfte diskurspsychologisch auf das hohe Ansehen zurückzuführen sein, das ihre namhaften Urheber in naturwissenschaftlichen Kontexten erworben haben (dazu ausführlicher unten, insbesondere Fn. 826, 827, 829 und 831).

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Die wohl populärste „These“ im Zusammenhang mit dem neuen Weltbild moderner Naturwissenschaften verweist auf die „Kontingenz von Risikoentscheidungen“815. Nun werden zwar (in der philosophischen Tradition seit jeher) solche Ereignisse als kontingent bezeichnet, die nicht notwendig sind, sondern sein oder auch nicht sein können.816 Aber die im vermeintlich modernen Kleid der Kontingenz-Begrifflichkeit wiederum aufgeworfene Determinismus-Frage kann, wie dargelegt, weder durch die neueren Naturwissenschaften beantwortet werden, noch steht sie überhaupt im Zusammenhang mit der normativen Zurechnungsproblematik, sofern nur die drei unterschiedlichen Aussagen des „klassischen Weltbildes“ konsequent auseinandergehalten werden. Der vielzitierte Erklärungszusammenhang zwischen der „Kontingenz der modernen Welt“ und der Hypothese, wonach „herkömmliche Wahrscheinlichkeitsaussagen“817 daher (!) inakzeptabel scheinen, ist jedenfalls nicht objektiv nachvollziehbar. Ebensowenig überzeugt freilich das – gleichfalls oft behauptete – konträre Gegenteil, wonach mit dem neuen Weltbild die Statistik gewissermaßen zur alleinigen Deutungskategorie avanciert sei: „[D]ie moderne Naturwissenschaft [geht] mit den Theorien der Quantenphysik von Vorgängen im mikrophysikalischen Bereich aus, die nur als statistische, nicht als kausal determinierte, beschrieben werden können“.818 Die populären Bezugnahmen auf (quantenphysikalische) Wahrscheinlichkeitsaussagen bewegen sich mit anderen Worten zwischen ganz unterschiedlichen Extremen. Viele unklare Ausführungen, die inhaltlich den genannten Beispielen nahestehen, können mit inhaltlichen Unsicherheiten im Hinblick darauf erklärt werden, welche der drei „klassischen Aussagen“819 der Begriff „Determinismus“ im jeweiligen Kontext eigentlich bezeichnen soll.820 815 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 58 ff. (61), 109, anknüpfend an Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 62 ff. 816 C. F. v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur, S. 137; dazu auch Hart/Honoré, Causation in the Law, S. 23. 817 Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 257 f., der gleichwohl – ohne nähere Begründung – am Merkmal der Wahrscheinlichkeit festhalten will, a. a. O., S. 162, 661. 818 Exemplarisch Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 126 – „Aber man muß gar nicht den physikalischen Indeterminismus [. . .] bemühen.“; auch Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 113, hält trotz „Kontingenz“ weiter an „Wahrscheinlichkeitsurteilen“ fest. 819 Die – nichthaltbare – Gleichsetzung von „Determiniertheit“ und „Prognostizierbarkeit“ liegt vielen Ausführungen zugrunde, etwa Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 127. Zur Unterscheidung ausführlicher oben sub. § 8 III. 2. c). 820 Diese Unverständlichkeiten folgen häufig daraus, daß die Idee einer „statistischen Determiniertheit“ Unsinn ist (Trends sind keine Gesetze, dazu oben sub. § 8 I. 3.) und die als Beleg angeführten „Theorien der Quantenphysik“ ihrerseits Naturgesetze sind, die als Gesetze (Invarianzrelationen) immer – wenn man so will – „determinieren“ (dazu oben sub. § 8 III. 2. a)); siehe dennoch bspw. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 131 – „Die moderne Physik behauptet [. . .] den Indeterminismus“;

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Ganz erhebliche Relevanz für ein Verständnis der objektiven Problemsituation hat die Unterscheidung zwischen modernen physikalischen Theorien einerseits und deren jeweiligen Interpretationen andererseits. Denn auch die Naturwissenschaften trennen – den sogenannten Geisteswissenschaften821 entsprechend – sehr deutlich zwischen Theorien und deren Konsequenzen auf der einen Seite und der – gewissermaßen „hermeneutischen“ – Frage, was diese Theorien „bedeuten“, auf der anderen Seite. Naturwissenschaftliche Theorien bedürfen also, ebenso wie Tatsachen, der Interpretation.822 Innerhalb der methodologisch relevanten Zurechnungszusammenhänge kommt es aber ausschließlich auf die Theorien als Deduktionsgrundlagen an. Interpretationen naturwissenschaftlicher Theorien sind natürlich ebenfalls interessant. Über diese herrscht unter den beteiligten Fachwissenschaftlern – insbesondere im Hinblick auf die jeweils modernsten Theorien – auch selten Einigkeit. Dennoch: Derlei offene Interpretationsprobleme wirken sich nicht innerhalb deduktiver Prognoseerstellungen aus. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß die heute üblichen Textbausteine zur Beschreibung sogenannter moderner Gesellschaften fast wörtlich mit quantentheoretischen Schriften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts belegt werden können. So liegt der wissenschaftshistorische Ursprung der antirealistischen und relativistischen „modernen Zurechnungsverwirrungen“ namentlich in der – physikalisch bis heute sehr einflußreichen – „Kopenhagener Deutung“ der Quantentheorie durch Niels Henrick David Bohr und Werner Karl Heisenberg. Diese spezifische – als physikalische Interpretation durchaus umstrittene823 – Kopenhagener Lesart der Quantentheorie beinhaltete bereits den vollständigen ausführlich zum Verhältnis der Quantenphysik zum Determinismus Popper, Erkenntnistheorie, S. 404 ff. 821 Zum Begriff der Geisteswissenschaften vgl. oben Fn. 295. 822 Ausführlicher dazu Agassi, The Nature of Scientific Problems and Their Roots in Metaphysics, S. 207 ff. Ein exponiertes historisches Beispiel für das Verhältnis zwischen Theorie und Interpretation liefert etwa die Lorentz-Transformation, die der Physiknobelpreisträger Hendrik Antoon Lorentz zur Überführung der Koordinaten eines Bezugssystems in die eines anderen als Lösungsversuch des Michelson-Experiments vorschlug. Eine wesentliche Umdeutung (Interpretation!) der Lorentz-Transformation beinhaltete später die spezielle Relativitätstheorie Einsteins. Ein weiteres berühmtes Beispiel dieser Unterscheidung innerhalb der Naturwissenschaften ist die Wellenrelation Erwin Schrödingers und deren berühmte – von Schrödinger zeitlebens als antirealistisch abgelehnte – Wahrscheinlichkeitsdeutung des Amplitudenquadrats durch Max Born (der Deutungsunterschied betrifft in diesem Fall die Frage, was kontinuierlich verteilt wird: die elektrische Ladung [Schrödinger] oder die Wahrscheinlichkeit einer elektrischen Ladung [Born]). 823 Namentlich David Joseph Bohm, Alfred Landé, Max von Laue sowie die Nobelpreisträger Albert Einstein, Max Karl Ernst Planck, Erwin Schrödinger, Louis Victor,

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Kern des mittlerweile so populären „komplex-indeterministischen“ Weltbildes, das nunmehr mit fast allen Prozessen der Wirklichkeit in Verbindung gebracht wird. Weit über den Bereich der modernen Physik hinaus schulbildend und stilprägend war vor allem die – monistische!824 – Kopenhagener Behauptung, daß „der Beobachter“ oder „das Subjekt“ in der Atomtheorie deswegen als besonders wichtig anzusehen wären, weil der „besondere Charakter der Atomtheorie“ durchgängig darin liege, daß das Subjekt mit dem untersuchten Objekt „wechselwirke“.825 Die exponiertesten Vertreter der Kopenhagener Deutung äußerten sich schon früh ganz im Sinne des gegenwärtig vorherrschenden Zurechnungsskeptizismus: „Tatsächlich bringt die endliche Wechselwirkung zwischen den Objekten und den Meßgeräten, . . . die Notwendigkeit mit sich, . . . endgültig auf das klassische Kausalitätsideal zu verzichten und unsere Haltung gegenüber dem Problem der physikalischen Wirklichkeit von Grund aus zu revidieren (Niels Bohr im Jahr 1955)“.826

Eine exemplarische Stellungnahme Werner Heisenbergs lautete ganz ähnlich: In der „naturwissenschaftlichen Tradition . . .“ sei „eine strenge Trennung der Welt in Subjekt und Objekt und eine präzise Formulierung des Kausalgesetzes erlaubt. . . . In der Atomphysik jedoch [. . . dürfe] man diese Annahme nicht machen, da wegen der Diskontinuitäten im atomaren Geschehen jede Wechselwirkung teilweise unkontrollierbare, verhältnismäßig große Änderungen hervorrufen [könne].“827

Methodologisch besonders interessant sind die (monistischen828) Gleichordnungen spezifisch quantenphysikalischer Deutungsschwierigkeiten mit allen sonstigen Erkenntnisproblemen, die Heisenberg bereits im Jahr 1930 formulierte. Er regte an, in der „Atomphysik Nutzen zu ziehen aus der für alle Erkenntnistheorie grundlegenden Diskussion über die Schwierigkeiten, die mit der Trennung von Subjekt und Objekt verbunden sind.“829

7. Herzog von Broglie akzeptierten die Kopenhagener Deutung nicht als Interpretation der quantenphysikalischen Gleichungen. Diese exemplarische (keineswegs vollständige) Aufzählung einiger Gegner ermöglicht es heute – wie Karl Popper (Quantenphysik, S. 44) es formulierte – „den historischen Mythos [. . . zu] bekämpfen, daß nur Philosophen (und völlig inkompetente oder senile Physiker) die Kopenhagener Deutung bezweifeln können.“ 824 Zum Problem monistischer Interpretationstheorien oben sub. § 1 I. 825 Popper, Quantentheorie, S. 48. 826 Hervorhebung im Original, Erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik, S. 115 (143). 827 Werner Heisenberg, The Physical Principles of the Quantum Theory, S. 2 f. 828 Dazu oben Fn. 824. 829 Werner Heisenberg, The Physical Principles of the Quantum Theory, S. 65; ausdrücklich rezipiert findet sich diese Auffassung etwa bei Richard Phillips Feynman, Lectures on Physics, Vol. III Quantum Mechanics, Chapter 2 (6).

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Wir fassen zusammen: Die im Zusammenhang mit Prognoseerstellungen und Risikoentscheidungen so häufig beschworene metaphysische DeterminismusProblematik steht in keinem Zusammenhang mit der Methodologie naturwissenschaftlicher Prognoseverfahren.830 Objektive naturwissenschaftliche Prognosen über die Wirklichkeit setzen zwar vermutete Regelmäßigkeiten voraus („konjekturale Invarianzrelationen“), sie erfordern aber keinen Determinismus im Sinne eines (parmenideischen) Blockuniversums.831 Der allgemeinen Methodologie der Naturwissenschaften entspricht es, daß die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen nur den universellen Charakter der verwendeten allgemeinen Sätze verlangt.832 Sie erzwingt keinerlei Vorentscheidung in der Determinismus-Frage. Darüber hinaus sind zur zukünftigen Vermeidung irreführender Einordnungen der sogenannten modernen, insbesondere „quantenphysikalischen“833 Indeterminismus-Problematik abschließend drei Feststellungen möglich.

830 Ein solcher Zusammenhang wurde bislang nicht stichhaltig erklärt. Bevor also (erneut) dogmatische Konsequenzen aus Begriffen wie Determinismus bzw. Indeterminismus gezogen werden, wäre näher aufzuzeigen, was damit eigentlich bezeichnet werden soll. Die Begriffe „wissenschaftlich“ und „deterministisch“ sind jedenfalls weder synonym, noch untrennbar miteinander verbunden. 831 Das übersieht – weil ausgehend von der Kopenhagener-Deutung der Quantenphysik – der Physiker und Nobelpreisträger Richard Phillips Feynman, Lectures on Physics, Vol. III Quantum Mechanics, Chapter 1 (7) – „We would like to emphasize a very important difference between classical and quantum mechanics. We have been talking about the probability that an electron will arrive in a given circumstance. We have implied that in our experimental arrangement (or even in the best possible one) it would be impossible to predict exactly what would happen. We can only predict the odds! This would mean, if it were true, that physics has given up on the problem of trying to predict exactly what will happen in a definite circumstance. Yes! Physics has given up. We do not know how to predict what would happen in a given circumstance, and we believe now that it is impossible – that the only thing that can be predicted is the probability of different events. It must be recognized that this is a retrenchment in our earlier ideal of understanding nature. It may be a backward step, but no one has seen a way to avoid it (Hervorhebungen im Original).“ 832 Dazu oben sub. § 8 III. 2. a). 833 Wie bereits angedeutet, ist „die richtige“ Interpretation der quantenphysikalischen Gleichungen naturwissenschaftlich umstritten (dazu oben Fn. 823); vgl. dazu die Debatte um die sog. deBroglie-Bohm-Interpretation der Quantenmechanik im Gegensatz zur Kopenhagener-Interpretation; umfassender zum „Deutungsproblem der Quantentheorie“ auch C. F. v. Weizsäcker, Aufbau der Physik, S. 489 ff.; ferner ders., Die Einheit der Natur, S. 157, 224 ff.; Popper, Erkenntnistheorie, S. 396; Rae, Quantenphysik, S. 80 ff. Die außergewöhnlichen Interpretationsschwierigkeiten innerhalb der Quantentheorie beschreibt Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 332 so: „[D]ie Quantentheoretiker [unterscheiden sich möglicherweise so stark] wie die Katholiken und die verschiedenen Arten von Protestanten: sie haben dasselbe Buch (doch nicht einmal das steht fest – man vergleiche nur einmal Dirac mit von Neumann), aber sie lesen es auf sehr verschiedene Weise.“

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Erstens kann das berechtigte Anliegen aller Determinismus- bzw. Indeterminismus-Überlegungen vollständig von der rechtstheoretisch und methodologisch relevanten Prognoseproblematik abgelöst werden, denn bei allen834 in Rede stehenden physikalischen Relationen handelt es sich um allgemeine Sätze (das ist physikalisch unstreitig).835 Zweitens ist die (intuitiv vielleicht plausible) Vorstellung unrichtig, daß statistische Interpretationen der Wirklichkeit Determiniertheit ausschließen.836 Deshalb kann drittens jede Auffassung als unrichtig bezeichnet werden, die – aus einem vermeidbaren Mißverständnis „des modernen“ physikalischen Indeterminismus heraus – ableiten möchte, daß bei „Risiken . . . durch Globalität, Kollektivität und Diffusität . . . identifizierbare Zurechenbarkeitszusammenhänge häufig nicht mehr etabliert werden können und . . . auf Kausalzusammenhänge zwischen einem Störer und einem Schaden verzichtet werden“837 müsse. Irrationale Aussagen dieser Art führen unweigerlich in konzeptionelle Widersprüchlichkeiten, denn als „Störer“ kann (ernstlich838) nur derjenige bezeichnet werden, dem ein Schaden zugerechnet wird. Das zentrale methodologische Problem der Risikotheorie betrifft dementsprechend die Frage, welche zukünftigen Rechtsgüterbeeinträchtigungen gegenwärtig wem unter welchen Voraussetzungen zugerechnet werden dürfen. Die genannten Ausführungen839 können gewissermaßen als konzeptionelles Nicht-Konzept angesehen werden – von diesem Standpunkt aus müßten alle Störer willkürlich benannt werden.

834 Nochmals sei daran erinnert, daß die sog. empirischen Naturwissenschaften täglich mit nichts anderem beschäftigt sind, als der Suche nach allgemeinen Sätzen; dabei sind die als „Naturgesetze“ bezeichneten allgemeinen Sätze herausragend bewährte Theorien. 835 So lautet die Heisenberg-Relation (Formel): x  p  h  …4† 1 . Dabei ist h x das sog. Plancksche Wirkungsquantum, x die Ortskoordinate und px die Impulskomponente; dazu A. March, Die Grundlagen der Quantenmechanik, S. 55. Die Formel ist offensichtlich ein allgemeiner Satz in der Form einer Ungleichung. Sofern dieser allgemeine Satz statistisch interpretiert wird, ist er physikalisch falsifizierbar (insoweit mißverständlich daher Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 141 Fn. 526). 836 So aber wohl Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 126. 837 Hier exemplarisch Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 211; Aussagen dieser Art finden sich auch bei Di Fabio – etwa „[Es geht darum], der Erkenntnis Bahn zu schaffen, daß bei hoher [. . .] Komplexität kausale Steuerungen [. . .] prinzipiell unmöglich werden und [deshalb] nicht mehr einheitlich theoretisch bearbeitet werden können (Offener Diskurs, S. 206)“ und „[E]ine kausale Zurechenbarkeit [. . .] [zählt] nicht zwingend zum Eingriffstatbestand [bei Risiken] (Risikoentscheidungen, S. 113 f.)“. Vorsichtiger als Möstl a. a. O. formuliert Di Fabio jedoch berechtigterweise – „Daraus sollte weder der Schluß gezogen werden, [. . .] Einflußnahme sei unmöglich oder unkalkulierbar, noch daß man nur alle Umstände genau kennen müsse, um doch exakt vorhersehbar planen zu können.“ (Offener Diskurs, S. 184). 838 Sofern freilich nicht jeder zum „Störer“ erklärt wird, was den Aussagegehalt auf Null reduzieren würde. 839 Oben Fn. 837.

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d) Theorie und Statistik Die Unterscheidung zwischen allgemeinen Sätzen (Invarianzrelationen) einerseits und (Störfall-)Statistiken und Trends andererseits ist im Rahmen der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen weitgehend unproblematisch. Wichtig ist lediglich, daß die methodologische Verschiedenheit zwischen Statistiken und allgemeinen Sätzen überhaupt klar gesehen wird.840 Trends und Statistiken sind keine Gesetzmäßigkeiten, sondern sie sind statt dessen den empirischen Tatsachen zuzuordnen. Also hängt die Anwendbarkeit bestimmter Störfallstatistiken auf einzelne Sachverhaltskonstellationen jeweils ihrerseits von allgemeinen Sätzen ab. Das heißt zugleich, daß es im Rahmen einer objektiven Methodologie keine absoluten Trends geben kann.841 Dabei zeichnet sich die Praxis der Rechtsanwendung durch zweierlei aus: Für diejenigen Sachverhaltskonstellationen, die anhand von Häufigkeitsverteilungen beurteilt werden, stehen zwar meist keine einzelfallbezogenen, nicht-statistischen Prognosen zur Verfügung. Denn anderenfalls wären diese präziseren – besser nachprüfbaren842 – Prognosen methodologisch vorzugswürdig.843 Umgekehrt kann aber niemals anhand der gegenwärtigen Verwendung von Häufigkeitsverteilungen erklärt werden, daß einzelfallbezogene nichtstatistische Prognosen auf der Grundlage neuformulierter allgemeiner Sätze auch zukünftig nicht erstellt werden können.844 3. Anfangsbedingungen Anfangsbedingungen – gleichbedeutend kann auch von Randbedingungen gesprochen werden – sind darstellende Aussagen in der Form singulärer Es-gibtSätze. Als darstellende Sätze entsprechen die Anfangsbedingungen dabei gewissermaßen den Tatsachen im Hinblick auf die Wirklichkeit. Man könnte auch

840

Dazu oben sub. § 8 I. 2. und 3. Oben sub. § 8 I. 2. („Für alle Sachverhaltskonstellationen mit der objektiven Eigenschaft E gilt, daß ein zukünftiger Schaden gemäß der Störfallstatistik S eintreten wird.“). 842 Zur Nachprüfbarkeit als Faktor der komparativen Theoriebewertung unten sub. § 8 IV. 2. 843 Nicht übersehen werden darf aber, daß statistische Theorien nicht immer Ausdruck des Fehlens nichtstatistischer Theorien sind. Ganz im Gegenteil: es gibt statistische Probleme, die nur mit statistischen Theorien gelöst werden können. 844 Popper, Erkenntnistheorie, S. 309 ff., 425 f. zur sog. „Antinomie von der Erkennbarkeit der Welt“; dazu auch schon oben sub. § 6 III. 4. insbesondere Fn. 402. Anders als hier (mit metaphysischer Begründung) Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Sätze 1, 1.1, 1.2 und 1.21 mit dem berühmten Ergebnis: „[. . .] Und außerhalb der Logik ist alles Zufall (Tractatus logico-philosophicus, Satz 6.3)“. 841

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sagen: Zwischen Satz und Tatsache besteht ein analoges Verhältnis wie zwischen Begriff und Gegenstand.845 Mögliche Anfangsbedingungen im Rahmen der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen sind alle empirischen Befunde der Vergangenheit und der Gegenwart, mit anderen Worten also die Gesamtheit der bekannten Tatsachen. Anfangsbedingungen sind festgestellte oder feststellbare Aussagen. Sie sind also objektiv im Sinne von intersubjektiv nachprüfbar. Die Anfangsbedingungen der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen finden ihre konzeptionelle Entsprechung in der sogenannten „empirischen Basis“, auf die sich die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen im Rahmen ihrer Prognoseauswahl glaubt stützen zu können.846 Welche Aussagen Erfahrungstatsachen sind, ist dementsprechend klar. Dabei gilt es jedoch wiederum auch umgekehrt zu sehen, welche Aussagen keine Tatsachen sind und deshalb nicht als Randbedingungen im Sinne deduktiver Prognoseauswahlerklärungen in Betracht gezogen werden können: Es ist die wichtigste Eigenschaft von Randbedingungen, daß sie keine allgemeinen Sätze sind. Das mögliche methodologische Mißverständnis liegt deshalb auch hier wieder in einer Verwechslung von Trends und allgemeinen Sätzen.847 Empirische Erfahrungstatsachen (Anfangsbedingungen) sind keine Gesetzmäßigkeiten. Die Auswahl der für Prognosededuktionen im Einzelfall relevanten Anfangsbedingungen hängt innerhalb der deduktiven Konzeption immer ab vom Charakter der jeweils zusammen mit den Anfangsbedingungen verwendeten allgemeinen Sätze. Daraus folgt, daß die Frage nach der Verfügbarkeit der „an sich notwendigen“ empirischen Informationen über eine konkrete Sachverhaltskonstellation nie abstrakt beantwortet werden kann, sondern immer nur relativ zu den jeweils verwendeten allgemeinen Sätzen. Empirische Sachverhalte können mit anderen Worten im Hinblick auf einzelne Prognosefragen weder aus sich heraus „empirisch unsicher“ noch umgekehrt „empirisch vollständig aufgeklärt“ sein. „Empirische Gewißheit“ ist eine Metaaussage über Sachverhaltskonstellationen im Lichte spezifischer theoretischer Annahmen (das ist einer der wichtigsten Gründe dafür, daß die induktivistische Formel von der sogenannten „empirischen Absicherung“ so problematisch ist848). Eine gemeinsame Eigenschaft aller Anfangsbedingungen liegt darin, daß sie feststellbar sind. Anfangsbedingungen müssen also nicht zwangsläufig bereits festgestellt worden sein oder zukünftig erneut tatsächlich festgestellt werden. 845

Popper, Erkenntnistheorie, S. 376. Oben sub. § 7 II. 847 Vgl. oben sub. § 8 I. 2. und III. 2. d). 848 Zum Verhältnis der Formel der sog. „empirischen Absicherung“ zum deduktiven Bewährungsgrad unten sub. § 9 I. 3. a). 846

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Die vor allem in der Praxis häufig im Vordergrund stehende Thematik, ob bestimmte Anfangsbedingungen mühelos oder nur schwer feststellbar sind – etwa deshalb, weil nur wenige sachverständige Experten einen bestimmten Parameter messen können, weil die Messungen teuer sind, ihrerseits von bestimmten Umweltbedingungen abhängen oder weil sonstige Erschwernisse auftreten –, ist risikotheoretisch und methodologisch irrelevant.849 Die praktische Schwierigkeit der Bestimmung von Anfangsbedingungen ist keine spezifische Problematik der Risikoentscheidungen im Recht. Statt dessen muß in bezug auf die empirische Feststellung jeweils erforderlicher850 Anfangsbedingungen sehr genau zwischen „vorsorglichen“ und „vorläufigen“ Entscheidungen differenziert werden.851 Sofern theoretisch bekannt ist, welche prognoserelevanten Anfangsbedingungen verfügbar sein sollten, diese erforderlichen Tatsachen jedoch noch nicht festgestellt werden konnten, betrifft das die Frage nach vorläufigen – interimistischen, also überbrückenden – Maßnahmen bis zu dem Zeitpunkt, in dem die erforderlichen Informationen bereitgestellt sind. Dieses vorläufige Problem „vorübergehender Ungewißheit“ ist vollkommen unabhängig vom Regulierungsproblem der vorsorglichen Risikoentscheidungen. Bei vorläufigen Maßnahmen handelt es sich immer um subjektive und behebbare Erkenntnisdefizite. Die Tatsache, daß derlei subjektive Erkenntnisdefizite bis heute regelmäßig mit Risikoentscheidungen im Recht in Verbindung gebracht werden, zeigt einmal mehr den nachhaltigen Einfluß der Laplaceschen Interpretation des Wahrscheinlichkeitskalküls.852 Demgegenüber betreffen vorsorgliche Risikoentscheidungen diejenigen Konstellationen, deren Unentscheidbarkeit sich aus dem theoretischen Aspekt der Gefahrzurechnung ergibt, wenn man so will: aus einem „Theoriedefizit“ resultiert (theoretische Mehrdeutigkeit). Der Anwendungsbereich vorsorglicher Risikoentscheidungen kann daher auch dann eröffnet sein, wenn für alle konkurrierenden Theorien deren jeweils relevante Anfangsbedingungen empirisch eindeutig festgestellt worden sind, die betreffenden Sachverhaltskonstellationen somit bereits „empirisch vollständig aufgeklärt“ sind.853 Vorläufig unbekannte Tatsachen führen jedoch niemals zu theoretischen Mehrdeutigkeiten. Somit unterscheiden sich „vorsorgliche“ und „vorläufige“ Entscheidungen in der Möglichkeit, die Ungewißheiten durch zusätzliche empirische Feststellungen 849

Unrichtig daher Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, S. 11. Welche Tatsachenfeststellungen erforderlich sind, hängt von den jeweils vermuteten Theoriesystemen ab; siehe dazu oben sub. § 8 III. 2. 851 Selbstverständlich ist hierbei nicht die Terminologie entscheidend, allein die beiden Sachfragen verdienen eine Unterscheidung. 852 Dazu oben sub. § 8 III. 2. c). 853 Eine derartige Vollständigkeit besteht nur relativ zu den jeweiligen Theorieannahmen (siehe oben Fn. 850). 850

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überwinden zu können: „Vorsorge“ betrifft ausschließlich solche Ungewißheiten, die auch durch zusätzliche Tatsachenfeststellungen nicht zu beseitigen sind, solange das maßgebliche Theoriedefizit nicht behoben ist. Demgegenüber berührt das Problem „vorläufiger“ Maßnahmen ausschließlich solche Ungewißheiten, die durch zukünftige empirische Tatsachenbeweise aufklärbar sind. Beide Merkmale (Vorsorglichkeit und Vorläufigkeit) liegen gleichzeitig vor, falls Tatsachenunkenntnis neben ein außerdem noch vorhandenes Theoriedefizit tritt.854 4. Zurechnungsrelevante Prognosen und zurechnungsirrelevante Prophezeiungen Es ergibt sich aus dem dargelegten Konzept der deduktiven Prognoseerstellung, welche Teilklasse möglicher Aussagen über zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen methodologisch als zurechnungsrelevant anerkannt werden kann. So setzt die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen voraus, daß alle Prognosen aus allgemeinen Sätzen (Theorien) und besonderen Sätzen (Anfangsbedingungen) abgeleitet werden können. Umgekehrt scheiden alle anders erklärten oder unerklärten zukunftsbezogenen Aussagen methodologisch als irrelevant aus.855 Wir werden die potentiell zurechnungsrelevanten – abgeleiteten – Aussagen über die Zukunft als „Prognosen“ im Sinne der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen bezeichnen. Alle anderen – also nichtabgeleiteten – zukunftsbezogenen Aussagen sind demgegenüber methodologisch irrelevante Äußerungen, die man terminologisch als „Prophezeiungen“ darstellen kann.856 854 Diese Konstellation ist unter der speziellen Voraussetzung möglich, daß einerseits die erforderlichen Daten noch nicht verfügbar sind und andererseits auch bei ihrer späteren Verfügbarkeit keine zurechnungsrelevanten Prognosen erstellt werden können. Ob „vorläufige“ Entscheidungen innerhalb normativer Ordnungen erlaubt sind, ist völlig unabhängig von der Frage, ob „vorsorgliche“ Entscheidungen zugelassen werden. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang vor allem diejenige Konstellation interessant, in der die Feststellung der noch unbekannten Anfangsbedingungen zeitlich erst nach dem zu prognostizierenden Ereignis erfolgen kann. Das entspricht dem Problem der sog. „Vorwegnahme der Hauptsache“ als Anomalie des vorläufigen Rechtsschutzes. Zwar wird dieses Thema innerhalb der Dogmatik des vorläufigen Rechtsschutzes breit diskutiert. Sofern jedoch klar zwischen Vorsorglichkeit einerseits und Vorläufigkeit andererseits unterschieden wird, kann diese „Anomalie“ als Maßstabswechsel von vorläufigen hin zu vorsorglichen Entscheidungen erklärt werden. 855 Anders Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 115, der „Vorhersagen aufgrund von Gesetzmäßigkeiten“ aus seinem Prognosebegriff ausscheiden möchte; Bach, Einfluß von Prognosen, S. 133 f., hält Prognosen dann für entbehrlich (!), wenn „die Zukunft durch naturgesetzliche, unangreifbare Daten exakt berechenbar sei“. 856 Prägnant in diesem Sinne bereits Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 502 f. – „Prognosenkontrolle findet statt nach Maßgabe der Rationalität. Dies sei zunächst jenen entgegengehalten, die Zukunftsprognosen schlechthin mit Weissagerei gleichset-

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Diese nur methodologisch erklärbare Unterscheidung zwischen deduktiven Prognosen und nichtabgeleiteten Prophezeiungen hängt mit der Zielsetzung der rule of law zusammen, über objektiv nachprüfbare Maßstäbe der Prognoseauswahl zu verfügen.857 Dabei ist die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Prognosen und Prophezeiungen methodologisch verzichtbar, sofern Prognoseauswahlerklärungen nicht nachprüfbar sein müssen (also etwa im Zusammenhang mit allen Methodologien, die Subjektivismus und Relativismus bevorzugen).858 Dabei beinhaltet die methodologische Unterscheidung zwischen Prognosen und Prophezeiungen weder die Aussage, Prophezeiungen könnten sich nicht bewahrheiten, noch die Aussage, Prophezeiungen wären besonders unwahrscheinlich.859 Ebensowenig sagt die Differenzierung aus, daß abgeleitete Prognosen besonders „hochwertig“ (etwa im Sinne hoher Wahrscheinlichkeiten) sind. Die wichtige epistemologische Konsequenz der Unhaltbarkeit des Induktivismus liegt vielmehr darin, daß sich alle Prognosen deswegen als unzutreffend erweisen können, weil es keine objektiven Verfahren zur wissenschaftlichen ex-ante Begründung von Prognosewahrscheinlichkeiten gibt. Die Zukunft ist offen. Daher können induktivistische Prognosewahrscheinlichkeiten nur falsche – methodologisch unhaltbare – Sicherheiten suggerieren.860 Aussagen über die Zukunft, die inhaltlich mehr aussagen wollen, als Vermutungen über das zukünftige Nichteintreffen bestimmter empirischer Tatsachen, sind rational nicht zu rechtfertigen. Trotz dieser – für Induktivisten enttäuschenden – Konsequenz ist ein Wachstum des objektiven Wissens möglich. Erreichbar sind Verbesserungen der vorhandenen objektiven Theoriesysteme (und damit zugleich: bessere abgeleitete Prognosen). Man kann Lehren aus der Vergangenheit, also aus der empirischen Erfahrung ziehen, ohne dabei auf Prognosewahrscheinlichkeiten zurückzugreifen: Die methodologische Alternative besteht darin, daß konjekturale allgemeine Sätze darüber Auskunft geben, was – vermutlich – unmöglich ist. Allgemeine Sätze vermuten objektiv die Nichtexistenz bestimmter Klassen empiri-

zen [. . .].“; die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Prognosen und Prophezeiungen entspricht derjenigen bei Popper (behandelt bspw. in: ders., Historizismus, S. 94 ff., 101 zur Untersuchung „historischer Sukzessionsgesetze“; ders., „Prediction and Prophecy and their Significance for Social Theory“). 857 Nachprüfbare Prognosededuktionen sind die conditio sine qua non für die Möglichkeit objektiver Entscheidungserklärungen. Zur (davon verschiedenen) Frage nach der methodologischen Notwendigkeit objektiver Erklärungen siehe oben sub. § 4 II. 858 Dazu oben sub. § 6 II. 5. und III. 3. 859 So aber die unzutreffende Annahme der induktiven Theorie. 860 Die durch subjektive Sicherheitsbedürfnisse inspirierte Frage nach Prognosewahrscheinlichkeiten liefert keinerlei nachprüfbare Auswahlkriterien; sie mündet statt dessen in eine gefährliche Sackgasse; siehe dazu oben sub. § 7 III. 3.

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scher Tatsachen (Interpretation durch Negation). Umgekehrt entspricht der – immer subjektive – Glaube an das zukünftige Eintreten objektiv ausgeschlossener Tatsachen einem vorwissenschaftlichen Glauben an Wunder (es geht also um Einstellungen wie: „ich glaube daran, obwohl es bisher unmöglich gewesen zu sein scheint, daß . . .“). Zusammengefaßt sind Prognosen im Konzept der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen alle zukunftsbezogenen Aussagen, die aus allgemeinen Sätzen und Anfangsbedingungen abgeleitet werden können. Alle sonstigen Aussagen über die Zukunft sind methodologisch irrelevante Prophezeiungen. Prophezeiungen können zwar subjektiv als „völlig sicher“ und „gewiß“ empfunden werden, und sie vermögen bisweilen intuitiv von mächtiger Überzeugungskraft zu sein. Methodologisch dürfen sie aber im Rahmen der Interpretation normativer Ordnungen nicht berücksichtigt werden, falls die normativen Einzelaussagen objektiv nachprüfbar sein sollen (rule of law).861 IV. Objektive Grundlage des Auswahlmaßstabs862 Das wahrheitserhaltende deduktive Schlußverfahren der Theorie der Rechtsgüterrelationen – das heißt: die Prognoseerstellung anhand von allgemeinen Sätzen und Anfangsbedingungen – ist zwar eine wichtige Voraussetzung für nachprüfbare Auswahlerklärungen hinsichtlich zurechnungsrelevanter Prognosen im Einzelfall. Vollständige Auswahltheorien können sich aber nicht in dieser methodologischen Forderung nach Deduktionen erschöpfen. Denn vor jedem möglichen empirischen Erfahrungshintergrund – als endlicher Zusammenstellung unterschiedlicher Anfangsbedingungen – sind theoretisch unendlich viele, paarweise unvereinbare Prognosen ableitbar. Die unendliche Anzahl gleichzeitig erklärbarer und dennoch unvereinbarer Prognosen ist eine Folge der unbegrenzten Anzahl unterschiedlicher Theorien, die ihrerseits vor jedem Erfahrungshintergrund als mögliche Systematisierungen formuliert werden können.863 Anders ausgedrückt: Selbst auf der Grundlage einer völlig eindeutig festgestellten „empirischen Prognosebasis“864 sind die dann gleichzeitig möglichen Prognosen niemals aus sich heraus eindeutig.865 Viel861

Dazu oben sub. § 6 II. 5. und III. 3 sowie § 4 IV. Vgl. zur Theorie der Bewährung Popper, Logik der Forschung, Kapitel X und Anhang *IX, S. 220; Schurz/Weingartner, Verisimilitude, S. 47 ff.; siehe ferner auch Quine, Wort und Gegenstand, S. 51 ff. 863 Dazu oben sub. § 8 III. 2. 864 Um hier diesen Begriff der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen zu verwenden. 865 Zur Unmöglichkeit der ausschließlichen Verwendung empirischer Tatsachen bei der Prognoseerstellung bereits ausführlich oben sub. § 8 I. 2. (naturalistischer Fehlschluß). 862

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mehr bleiben die Prognosen abhängig von den jeweils zur Deduktion verwendeten Theorien. Man kann dieses Phänomen als empirisch unbegrenzte Prognosemehrdeutigkeit bezeichnen. Die Problemsituation eines objektiven Maßstabs zur Prognoseauswahl ist zudem dadurch gekennzeichnet, daß sich normative Ordnungen indifferent gegenüber der Qualität von Einzelprognosen verhalten (Wissenschaftsakzessorietät).866 Das heißt, es gibt keinerlei normative Festlegungen darauf, welche Prognose an sich die jeweils „beste Prognose“ ist. Die Auswahl der „besten“ Prognosen erfolgt vielmehr wissenschaftsakzessorisch objektiv und nicht normativ. Als potentielle Maßstabseigenschaften kommen dabei alle intersubjektiv nachprüfbaren Merkmale allgemeiner Sätze in Betracht. Dies bedeutet, daß objektive Auswahlerklärungen nur solche Theorieeigenschaften verwenden dürfen, die an der Realität scheitern können.867 Ausführlich dargestellt wurde bereits, daß die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen in diesem zentralen Punkt falsch aufgestellt ist:868 Sie interpretiert normative Ordnungen unter Hinweis auf Prognosewahrscheinlichkeiten und beabsichtigt, zurechnungsrelevante Prognosen anhand der ihnen zuzumessenden Wahrscheinlichkeiten auszuwählen. Das induktivistische Merkmal der Prognosewahrscheinlichkeit kann allerdings nicht empirisch ermittelt werden – es existiert naturwissenschaftlich nicht – und ebensowenig wird es den Prognosen im Einzelfall normativ zugewiesen (Wissenschaftsakzessorietät). Die Auswahltheorie der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen hält also an einem unprüfbaren Auswahlmaßstab fest, das heißt: Keine Erklärung ist mit dem induktiven Maßstab objektiv unvereinbar.869 Es ist nun die Aufgabe des deduktiven Maßstabs, zuverlässig die Objektivität aller Auswahlerklärungen zu gewährleisten. Zur Lösung dieses Problems verwendet die Theorie der Rechtsgüterrelationen objektive Eigenschaften allgemeiner Sätze. Untechnisch ausgedrückt: Die Objektivität ihres Auswahlmaßstabs für zurechnungsrelevante Prognosen im Ein-

866

Dazu oben sub. § 6 I. Klassisch in diesem Zusammenhang die Problemzusammenfassung Kants – „[D]ie Grundsätze, deren sie [die Vernunft; K.S.] sich bedient, da sie über die Grenzen aller Erfahrung hinausgehen, [anerkennen] keinen Probierstein der Erfahrung [. . .]. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik.“ (Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl., Riga 1781, Vorrede S. VIII). Dazu oben sub. § 6 II. 4. 868 Vgl. oben sub. § 7 II. 869 Siehe oben sub. § 7 III. 7. (Komplexitätsproblem) und IV.; die – von den Vertretern der induktiven Risikodogmatik zumeist bemerkte – Unmöglichkeit, „falsche“ Prognosen am induktiven Maßstab erkennen zu können, dürfte einer der Hauptgründe für den verbreiteten Subjektivismus sein. 867

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zelfall beruht auf der „Qualität“ der den abgeleiteten Einzelprognosen jeweils zugrundeliegenden Theoriesysteme.870 1. Falsifikation Allgemeine Sätze können vor dem Hintergrund bestimmter empirischer Erfahrungen falsifiziert sein. Falsifizierte Theorien kommen nicht als Deduktionsgrundlage für zurechnungsrelevante Prognosen in Betracht. Anders ausgedrückt: Einzelprognosen, die mit bereits falsifizierten allgemeinen Sätzen erklärt werden müssen, sind methodologisch irrelevant.871 Falsifikationen sind deswegen objektive Ausschlußkriterien für Theorien, weil allgemeine Sätze die Wahrheit bestimmter Regelmäßigkeiten vermuten. Jedes Gegenbeispiel beweist somit die Unwahrheit eines allgemeinen Satzes.872 Falsifizierungen allgemeiner Sätze ergeben sich objektiv aus allen empirischen Feststellungen (Anfangsbedingungen)873, die als singuläre Es-gibt-Sätze mit den jeweiligen Theorien unvereinbar sind. Mögliche Unvereinbarkeiten zwischen singulären Es-gibt-Sätzen einerseits und allgemeinen Sätzen andererseits werden mit Hilfe desselben Verfahrens erklärt, das auch die deduktive Prognoseerstellung für die Zukunft ermöglicht.874 Zur Falsifikation einer Theorie sind mithin wenigstens zwei empirische Tatsachen erforderlich, von denen eine als Anfangsbedingung in Verbindung mit dem zu falsifizierenden allgemeinen Satz die Ableitung einer Prognose erlaubt, die ihrerseits der anderen empirischen Tatsache widerspricht. In dieser Form können empirische Erfahrungen als „Probiersteine der Wahrheit der Regel“875 (Kant) verwendet werden. Der einzige Unterschied zwischen deduktiven Prognoseerstellungen und deduktiven Falsifikationen allgemeiner Sätze hängt damit zusammen, daß erstere mit Blick auf unbekannte zukünftige Ereignisse, letztere demgegenüber stets mit Blick auf bekannte empirische Erfahrungen der Vergangenheit vorgenommen werden. Falsifikationen allgemeiner Sätze können daher auch als virtuelle Prognosen in der Vergangenheit verstanden werden.

870

Zur Maßstabsbildung siehe unten sub. § 8 IV., V. Daneben sind alle nichtabgeleiteten Prognosen („Prophezeiungen“) methodologisch ebenfalls irrelevant; siehe dazu oben sub. § 8 III., IV. 872 Sehr irreführend in diesem Zusammenhang ist daher der populäre Gemeinspruch von den Ausnahmen, die Regeln angeblich bestätigen. 873 Vgl. zum Zusammenhang zwischen „Tatsache“ und „Satz“ bereits oben sub. § 8 III. 3. 874 Dazu oben sub. § 8 III. 875 Im Sinne Kants, dazu oben sub. § 8 I. 3. 871

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Allgemeine Sätze sind mit anderen Worten dann falsifiziert, wenn auf ihrer Grundlage die Unmöglichkeit solcher Phänomene abgeleitet werden kann, für die gleichwohl empirische Nachweise erbracht worden sind. Mit anderen Worten: Allgemeine Sätze werden dadurch falsifiziert, daß sie vorläufig akzeptierten singulären Es-gibt-Sätzen widersprechen.876 Dabei falsifiziert schon eine einzelne empirische Tatsache, die mit einem bestimmten allgemeinen Satz unvereinbar ist, diese Theorie insgesamt (genauer: bereits ein einzelner vorläufig akzeptierter singulärer Es-gibt-Satz kann zur vorläufig vollständigen Zurückweisung eines allgemeinen Satzes führen).877 876 Eine (mehr praktische als theoretische) Schwierigkeit ergibt sich insofern, als jede erfolgreiche Falsifikation dadurch bestritten werden kann, daß die Existenz des falsifizierenden Ereignisses bezweifelt wird. Naheliegend scheint deshalb die Frage, wie oft das falsifizierende Phänomen eigentlich seinerseits beobachtet werden muß, um gewissermaßen „endgültig“ zu gelten. Die Antwort darauf lautet, daß Falsifikationen niemals endgültig sind; und zur vorläufigen Falsifikation sind in manchen Fällen gar keine Wiederholungen notwendig. Popper bildete dazu folgendes Beispiel: „Wenn ich behaupte, daß im Tiergarten zu N. eine Familie von weißen Raben lebt, dann behaupte ich damit etwas prinzipiell Nachprüfbares. Wenn jemand diese Behauptungen nachprüfen will und bei seiner Ankunft in N. erfährt, daß die weißen Raben tot sind oder daß niemand jemals von ihnen gehört hat, dann bleibt es ihm überlassen, ob er meinen Basissatz [singulären Es-gibt-Satz; K. S.] annimmt oder verwirft. In der Regel stehen ihm Mittel zur Verfügung, mit deren Hilfe er sich eine Meinung bilden kann, etwa Zeugen, Dokumente usw., d. h. der Rückgriff auf andere intersubjektiv nachprüfbare und reproduzierbare Tatsachen (Logik der Forschung, S. 55, Hervorhebung im Original).“ Das Problem der vorläufigen [d. h. nicht endgültigen] Falsifikationen wird also dadurch aufgelöst, daß falsifizierende Tatsachen ihrerseits als theorieabhängige Effekte gedeutet werden können (jede Tatsachenbeobachtung ist „theoriegetränkt“): Von Falsifikation eines allgemeinen Satzes kann dann gesprochen werden, wenn zur Erklärung des Effektes Theorien vorliegen, die ihrerseits bewährter sind, als der ihnen widersprechende allgemeine Satz. Poppers „Mittel zur Meinungsbildung“ stellen sich damit als Bewährungen derjenigen Theorien dar, die den falsifizierenden Effekt erklären. Diese Klarstellung erscheint hier notwendig, da die Zusammenhänge der vorläufigen Falsifikation noch immer sehr häufig mißverstanden werden, etwa Chalmers, Wissenschaftstheorie, S. 73 f.; Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, S. 10 f.; Stegmüller, Metaphysik, S. 289 ff.; Stokes, Popper, S. 27 ff.; sofern innerhalb des Mechanismus nicht zwischen allgemeinen Sätzen und vorläufig falsifizierenden theoriegetränkten Effekten differenziert wird, kommt man leicht zu einer Position, die man gewöhnlich als Überprüfungsholismus bezeichnet. Diese Position wird in jüngerer Zeit zumeist Quine zugeschrieben, sie wurde aber auch schon in einer sehr ähnlichen Fassung von Pierre Duhem vertreten (danach sog. Duhem-Quine-These); ausführlich zur Duhem-Quine-These Lakatos, Methodology, S. 93 ff.; zu vielen Einzelaspekten des Mißverständnisses der Asymmetrie siehe eingehend Popper, Realismus, S. 214 ff. 877 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. 819 – „Der modus tollens der Vernunftschlüsse, die von den Folgen auf die Gründe schließen, beweiset nicht allein ganz strenge, sondern auch überaus leicht. Denn, wenn auch nur eine einzige falsche Folge aus einem Satze gezogen werden kann, so ist dieser Satz falsch.“; siehe zum modus tollens der klassischen Logik Popper, Logik der Forschung, S. 44 ff.: „Ist p aus t ableitbar und ist p falsch, so ist auch t falsch.“; anschaulich auch Einstein, Mein Weltbild, S. 172.

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Um das allgemeine Erklärungsschema von Falsifikationen an einem konkreten Beispiel näher zu verdeutlichen, kann nun wiederum der allgemeine Satz (Schwan-Theorie) betrachtet werden: „Alle Schwäne sind weiß.“

Die Schwan-Theorie ist unter anderem878 durch den Nachweis der beiden folgenden empirischen Tatsachen falsifizierbar (vorläufige Annahme von zwei singulären Es-gibt-Sätzen): „Das am 12.5.2008 in Bonn aufgefundene Tier ist ein Schwan.“

und „Das am 12.5.2008 in Bonn aufgefundene Tier ist schwarz.“

Aus der Schwan-Theorie in Verbindung mit der ersten empirischen Tatsache folgt deduktiv, daß das aufgefundene Tier – als Schwan – weiß gefärbt sein muß.879 Diese nachprüfbare Konsequenz der Schwan-Theorie in Verbindung mit der ersten empirischen Tatsache widerspricht der zweiten empirischen Tatsache. Praktische Schwierigkeiten können immer dadurch entstehen, daß vor jeder möglichen Falsifizierung allgemeiner Sätze zunächst intersubjektiv Einigkeit über die dabei verwendbaren empirischen Tatsachen hergestellt werden muß (genauer: es muß intersubjektiv akzeptierte singuläre Es-gibt-Sätze geben880). Deshalb werden zumeist dann, wenn besonders anerkannte allgemeine Sätze – etwa Naturgesetze881 – falsifiziert werden sollen, die falsifizierenden Tatsachen ihrerseits bezweifelt. Denn durch erfolgreiches Bestreiten der Existenz des Gegenbeispiels kann die Falsifikation eines angegriffenen allgemeinen Satzes zunächst abgewendet werden.882 Bei dieser bereits behandelten Frage der intersubjektiven „Einigung über Tatsachen“ handelt es sich nicht um das Problem einer Risikotheorie, sondern um – davon verschiedene – Fragen der Tatsachenfeststellbarkeit.883 Wir fassen zusammen. Für mögliche Erklärungen der Zurechnungsrelevanz von Prognosen sind Falsifizierungen von herausragender Wichtigkeit. Bereits 878

Theoretisch sind stets unendlich viele falsifizierende Sätze denkbar. (Syllogismus): Alle Schwäne sind weiß, dieses Tier ist ein Schwan, also ist dieses Tier weiß. 880 Zum Konventionalismus der „Basissätze“ (singuläre Es-gibt-Sätze) Popper, Logik der Forschung, S. 69 ff. (71); das übersieht Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, S. 11. 881 Siehe zu deren Charakter oben sub. § 8 III. 2. a). 882 Endgültig abwendbar sind Falsifikationen von allgemeinen Sätzen niemals, denn dies käme ihrer Verifikation gleich und entspräche der Falsifikation ihres Negates (Esgibt-Satz); dazu oben sub. § 7 III. 5. insbesondere Fn. 548. 883 Siehe oben sub. § 8 III. 3. (zur Unterscheidung von „vorläufigen“ und „vorsorglichen“ Maßnahmen). 879

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

die erste (intersubjektiv nachprüfbare) Falsifizierung eines allgemeinen Satzes liefert ein hinreichendes Kriterium dafür, die jeweilige Theorie vorläufig zu verwerfen. Zurechnungsrelevante Prognosen können aus falsifizierten allgemeinen Sätzen nicht abgeleitet werden. 2. Prüfbarkeit Die Prüfbarkeit allgemeiner Sätze – gleichbedeutend kann auch von ihrer Falsifizierbarkeit gesprochen werden – beschreibt eine jeweils charakteristische objektive Eigenschaft aller Theoriesysteme. Das Merkmal der Prüfbarkeit hat im Rahmen der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen große Bedeutung für alle Prognoseauswahlerklärungen.884 Prüfbar sind diejenigen allgemeinen Sätze, die potentiell durch empirische Tatsachen widerlegt werden können885 (um genauer zu sein: die mit möglichen singulären Es-gibt-Sätzen logisch unvereinbar sind).886 Widerlegbar sind demnach alle Theorien, die mögliche Ereignisse logisch ausschließen.887 Die Prüfbarkeit allgemeiner Sätze folgt somit ohne weiteres aus deren Eignung, als Deduktionsgrundlage für Prognosen herangezogen werden zu können. Dies kann an einem einfachen Beispiel näher verdeutlicht werden. So schließt etwa der prüfbare allgemeine Satz „Alle Schwäne sind weiß.“ (Schwan-Theorie1)

unter anderem888 das an sich mögliche Ereignis (den singulären Es-gibt-Satz) aus, daß zukünftig ein schwarzer Schwan aufgefunden wird. Ein Beispiel für nichtprüfbare Theorien liefert demgegenüber etwa der allgemeine Satz „Alle Schwäne sind weiß oder sie haben eine andere Farbe.“ (Schwan-Theorie2)889

Methodologisch besonders wichtig ist dabei vor allem die logische – nichtkonventionalistische – Unterscheidbarkeit von Prüfbarkeit und Nichtprüfbarkeit. Nichtprüfbare Theorien sind aus logischen Gründen nichtfalsifizierbar. Denn sie

884

Dazu Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 165. Zur Falsifikation oben sub. § 8 IV. 1. 886 Vgl. zu den Zusammenhängen zwischen Tatsache und Satz oben sub. § 8 III. 3. (Anfangsbedingungen). 887 Zur Interpretation durch Negation oben sub. § 6 III.; zur realistischen Interpretation von singulären Es-gibt-Sätzen als „Vorgang“ und „Ereignis“ Popper, Logik der Forschung, S. 69. 888 Ebenfalls ausgeschlossen wären etwa die Möglichkeiten, grüne, gelbe oder rote Schwäne zu finden. 889 Die sog. Bauernregeln wie „Kräht der Hahn früh auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.“ entsprechen strukturell den nichtprüfbaren allgemeinen Sätzen. Nichtprüfbar sind daneben auch alle singulären Es-gibt-Sätze, dazu oben sub. § 8 III. 3. 885

§ 8 Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage

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haben die logische Eigenschaft, mit allen möglichen singulären Es-gibt-Sätzen vereinbar zu sein. Alle prüfbaren Theorien zeichnen sich dagegen durch die – ebenfalls logische, nicht-konventionalistische – Eigenschaft eines spezifischen Informationsgehalts aus; das heißt, prüfbare Theorien sind jeweils mit einer bestimmbaren Menge singulärer Es-gibt-Sätze unvereinbar. In Abhängigkeit von diesen Informationsgehalten ermöglichen nachprüfbare Theorien Prognosededuktionen.890 Je höher der Informationsgehalt einer Theorie ausfällt, desto höher ist auch der potentielle Informationsgehalt der aus ihr abgeleiteten Prognosen einzuschätzen. Daher gilt: Je mehr Informationen eine Theorie beinhaltet, desto prüfbarer ist sie.891 Falls also die Farbe eines zukünftig noch zu beobachtenden Schwans prognostiziert werden soll, liefert die exemplarische Schwan-Theorie1 eine Erklärung der Annahme, daß es sich dabei um einen Schwan mit weißem Federkleid handeln wird. Denn von der durch die Schwan-Theorie1 vermuteten Regelmäßigkeit würde abgewichen, falls ein zukünftig beobachtbarer Schwan anders gefärbt wäre. Das kann auch so ausgedrückt werden: Es wäre irrational, in Kenntnis einer bewährten Schwan-Theorie1 von der Möglichkeit nichtweißer Schwäne überzeugt zu sein. Auf Grundlage der Theorievariante im Beispiel (Schwan-Theorie2) kann überhaupt keine Farbe zukünftiger Schwäne prognostiziert werden. Die nichtprüfbare Schwan-Theorie2 enthält also keine Informationen. Es wäre daher irrational, in Kenntnis der Schwan-Theorie2 (und in Unkenntnis der Schwan-Theorie1) von der Auffindbarkeit irgendeiner speziellen Färbung bei zukünftig zu beobachtenden Schwänen überzeugt zu sein.892 Wir fassen zusammen. Alle allgemeinen Sätze, die informative Prognosededuktionen ermöglichen, sind prüfbar.893 Umgekehrt sind alle prüfbaren allgemeinen Sätze zur deduktiven Prognoseerstellung geeignet.894 Die Prüfbarkeit allgemeiner Sätze ist daher, wenn man will, gleichbedeutend mit ihrer Eignung zur Prognosededuktion.895 890

Zur Prognosededuktion oben sub. § 8 III. 1. Das ist einer der Gründe dafür, daß gehaltvolle Theorien üblicherweise als wissenschaftlicher Fortschritt angesehen werden. 892 Der Schluß von „Alle Schwäne sind weiß oder haben eine andere Farbe“ auf die Prognose (den Satz) „Der nächste gefangene Schwan ist weiß“ wäre gehaltserweiternd und somit ungültig. Gültig wäre nur die Ableitung der Prognose „Der nächste gefangene Schwan wird weiß sein oder eine andere Farbe haben“, was keine Farbe prognostiziert. 893 Denn die Prüfung ergibt sich aus einem Vergleich des prognostizierten Ereignisses mit der Realität; zur Falsifikation oben sub. § 8 IV. 1. 894 Denn inhaltlich kann das Nichteintreten der durch den allgemeinen Satz jeweils ausgeschlossenen Ereignisse prognostiziert werden. 895 Dazu oben sub. § 8 III. 1. 891

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Eine Konsequenz der so konzipierten Prüfbarkeit von Theorien ist der enge Zusammenhang zwischen der Prüfbarkeit und dem Grad der Allgemeinheit einer Theorie einerseits, sowie zwischen Prüfbarkeit und Bestimmtheit (Präzision) der allgemeinen Sätze andererseits.896 Präzise und klar formulierbare prognostische Aussagen sind stets besser prüfbar als vage und diffuse Aussagen.897 Außerdem können Theorien höherer Allgemeinheit leichter geprüft werden als weniger allgemeine Theorien. Denn die jeweiligen allgemeinen Sätze sind – einhergehend mit ihrer höheren Allgemeinheit – auf größere Teilbereiche der empirischen Erfahrung anwendbar, können also an umfangreicheren Teilen der Wirklichkeit scheitern und sind infolgedessen leichter nachprüfbar.898 Herabgesetzt wird die Prüfbarkeit allgemeiner Sätze jedoch durch die Verwendung von ad hoc-Hypothesen (das entspricht im übrigen auch einem intuitiven Prinzip der Epistemologie des Alltagsverstandes, demzufolge ad hoc-Hypothesen unbefriedigend sind und möglichst vermieden werden sollten). Die methodologische Forderung nach Prüfbarkeit von Theorien hängt von nichts anderem ab als der unseren Überlegungen zugrundeliegenden Absicht, objektive Prognosen zu erstellen (und daneben, wie man zeigen kann: von der Notwendigkeit, empirische Tatsachen erklären zu müssen899). Die methodologische Unterscheidung zwischen der prüfbaren Schwan-Theorie1 und der nichtprüfbaren Schwan-Theorie2 dient daher einer Klarstellung im Hinblick auf diese Absicht. Um essentialistische Mißverständnisse in diesem Punkt zu vermeiden: Prüfbare Theorien sind nicht „wesensmäßig“ – also gewissermaßen „aus sich heraus“ – besser als nichtprüfbare Theorien. Prüfbarkeit ist kein Werturteil über Theorien. Es wäre auch vollkommen müßig, die Frage zu diskutieren, ob prüfbare Theorien „an sich“ besser sind als unprüfbare Theorien.900 Die einfache Wahrheit ist statt dessen, daß lediglich prüfbare allgemeine Sätze als Deduktionsgrundlage zur Prognoseerstellung verwendbar sind (insofern sind prüfbare Theorien immer dann „besser“, wenn Prognosen benötigt werden). Sofern Pro-

896

Zum Grad der Allgemeinheit allgemeiner Sätze oben sub. § 8 III. 2. a). Dergestalt kann die Forderung, qualitative Aussagen möglichst durch quantitative Aussagen zu ersetzen, auf das Bemühen um größere Prüfbarkeit zurückgeführt werden. Ein Beispiel dafür liefert die Ablösung von Keplers und Galileos Theorien durch die Newtonsche Theorie. 898 Dementsprechend sind die Prophezeiungen einer Wahrsagerin deshalb regelmäßig uninteressant, weil sie so unbestimmte Prognosen aufstellt, daß die logische Wahrscheinlichkeit, später Recht zu behalten, a priori sehr groß ist (ausführlich Popper, Logik der Forschung, S. 215). Auf diese Weise kommen Prophezeiungen in die Nähe der „Bauernregeln“, siehe oben Fn. 889. 899 Dazu unten sub. § 8 IV. 3. 900 Die Zuordnung nichtprüfbarer Theorien zur Metaphysik ist keine Abwertung, sondern Konsequenz des spezifischen Bemühens um Prognosededuktionen. 897

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gnosen erklärt werden sollen, sind nichtprüfbare Theorien nicht hilfreich und insofern entbehrlich. Ausschließlich unsere Problemstellung – das Auswahlproblem zurechnungsrelevanter Prognosen im Einzelfall901 – grenzt also den Kreis methodologisch relevanter Theorien auf die Klasse prüfbarer allgemeiner Sätze ein. Die methodologische Forderung kann vor dem Hintergrund dieser Problemstellung dementsprechend auch so formuliert werden, daß jederzeit – möglichst – die prüfbarsten Theorien verwendet werden müssen.902 Nicht übersehen werden darf dabei, daß alle prüfbaren Theorien zukünftig falsifizierbar bleiben, auch wenn sie in der Vergangenheit bereits häufig geprüft wurden und sich möglicherweise schon lange bewährt haben.903 3. Erklärungsvermögen Allgemeine Sätze zeichnen sich relativ zu empirischen Erfahrungstatsachen (genauer: relativ zu anerkannten singulären Es-gibt-Sätzen) jeweils durch ein charakteristisches Erklärungsvermögen aus. Diese eigenständige Theorieeigenschaft ist zur objektiven Beurteilung zurechnungsrelevanter Sätze im Einzelfall von ebenso großer Bedeutung wie das Merkmal der Prüfbarkeit. Das hängt damit zusammen, daß Prüfbarkeit als alleiniges positives904 Auswahlkriterium eine schwerwiegende Komplikation herbeiführen müßte: So ist es natürlich 901

Dazu ausführlich oben sub. § 4 II. Darüber hinaus sprechen sehr gute Gründe dafür, dieses methodologische Prinzip als eine Formulierung der Aufgabe der Wissenschaft anzusehen, mithin als Maßstab dafür, was in der Wissenschaft als Fortschritt angesehen werden kann. Diese Frage gleitet indes sehr leicht in Wortstreitigkeiten ab (exemplarisch Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 385 ff.). Denn falls jemand etwas anderes als Aufgabe der („seiner“) Wissenschaft ansehen möchte – bspw. die Befriedigung von Gemütsbedürfnissen anstelle von Bemühungen um objektive Erkenntnis –, kann er die methodologischen Forderungen selbstverständlich abändern (dazu Popper, Objektive Erkenntnis, S. 366 ff.). Die Frage nach „der Aufgabe der Wissenschaft“ ist hier indes irrelevant. Denn sofern prüfbare allgemeine Sätze formuliert werden, können sie innerhalb der deduktiven Theorie verwendet werden, unabhängig davon, ob sie als „Wissenschaft“ bezeichnet werden. Umgekehrt dienen nichtprüfbare allgemeine Sätze – wie gesehen – schon aus logischen Gründen niemals der Prognosededuktion, unabhängig davon, ob sie dennoch als „Wissenschaft“ bezeichnet werden. 903 Zutreffend in diesem Punkt Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 248 – „Wissenschaftliche Gesetze können revidiert werden, sie sind oft nicht nur partiell unrichtig, sondern ganz falsch, d. h., sie reden über Dinge, die es überhaupt nicht gibt. Es gibt Revolutionen, die keinen Stein auf dem anderen lassen, keinen Grundsatz unangetastet. [. . .] Die Antwort ist keinesfalls neu. Alle fortschrittlichen Wissenschaftler haben sie immer für eine Trivialität gehalten. Sie erscheint aber denen ganz neu, und sogar unannehmbar, die die Wissenschaften nur aus sicherer Ferne, und auf dem Umweg über Lehrbücher [. . .] und philosophische Träumereien kennengelernt haben.“ 904 Neben dem negativen Auswahlkriterium der Falsifizierung (dazu oben sub. § 8 IV. 1.). 902

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

schon rein praktisch von vornherein ausgeschlossen, auch nur annähernd alle gleichzeitig verfügbaren prüfbaren Theorien mit hohen Falsifizierungsgraden in überschaubaren Zeitabschnitten zu überprüfen, um dadurch alle falschen Theorien zu verwerfen.905 Exemplarisch wäre etwa hinzuweisen auf Hilary Putnams „Dämon-Theorie“ des kuriosen Inhalts, daß ein Dämon erscheinen wird, wann immer jemand sich einen Mehlsack über den Kopf zieht und 99-mal auf einen Tisch klopft.906 Eine so gefaßte Dämon-Theorie – es handelt sich dabei um einen allgemeinen Satz – wäre zwar ganz offenbar in hohem Maße prüfbar und damit präzise falsifizierbar. Dennoch wird keine Theorie dieser Art tatsächlichen wissenschaftlichen Prüfungen unterzogen und infolgedessen auch nicht falsifiziert. Die Erklärung dafür, daß Theorien dieser Art üblicherweise wenig bis gar kein Interesse auslösen, ergibt sich aus deren äußerst geringfügigen Erklärungsvermögen.907 Praktisch kommen wissenschaftliche Überprüfungen von Theorien der „Dämon“-Klasse vor allem deshalb nicht ernsthaft in Betracht, weil sich ohne Schwierigkeiten jederzeit beliebig viele ähnliche Theorien formulieren lassen, die konsequenterweise alle geprüft werden müßten.908 Allgemeine Sätze auf diesem Niveau sind also gewissermaßen viel zu „billig“ zu haben. Die wissenschaftstheoretische Erklärung, weshalb die Dämon-Theorie trotz hoher Prüfbarkeit wissenschaftlich uninteressant ist, hängt mit ihrem objektiven Erklärungsvermögen zusammen. Die Formulierung einer typischen DämonTheorie vermehrt nun einmal nicht das schon vorhandene objektive Wissen über die Wirklichkeit. Deshalb wäre ihre potentielle Widerlegung909 auch nicht als wissenschaftlicher Fortschritt zu betrachten.

905 Zur Falsifikation ausführlich oben sub. § 8 IV. 1. Das damit angesprochene Problem umschreibt Putnam (im Anschluß an Bronowski) ohne eine Lösung zu sehen: „Du würdest nicht behaupten, daß Wissenschaftler jede falsifizierbare Theorie prüfen sollen, wenn über deinen Schreibtisch so viele verrückte Theorien gingen wie über meinen! (Werte und Normen, S. 310).“ 906 Beispiel von Putnam, Vernunft, S. 260 f. 907 Das übersieht Putnam, Vernunft, S. 261; vergleichbarer Irrtum auch bei Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, S. 8. 908 Für die Frühphase der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert galt mitunter durchaus noch anderes. Werner Heisenberg schildert namentlich die Bemühungen der Royal Society in London, den verbreiteten Aberglauben der damaligen Zeit dadurch zu bekämpfen, daß die Behauptungen aus „magischen Büchern“ systematisch experimentell widerlegt wurden (Der Teil und das Ganze, S. 243): „So war etwa behauptet worden, daß ein Hirschkäfer, den man unter bestimmten Beschwörungsformeln um Mitternacht in die Mitte eines Kreidekreises auf den Tisch setzt, diesen Kreis nicht verlassen könne. Also zeichnete man einen Kreidekreis auf den Tisch, setzte unter genauer Beachtung der geforderten Beschwörungsformeln den Käfer in die Mitte und beobachtete dann, wie er sehr vergnügt über den Kreis weglief.“

§ 8 Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage

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Das Erklärungsvermögen bezeichnet ganz allgemein die objektive Eignung allgemeiner Sätze, empirische Erfahrungstatsachen – also singuläre Es-gibtSätze der Vergangenheit und Gegenwart – untereinander in Beziehung zu setzen.910 Solche theoriebezogenen, systematischen Relationen zwischen einzelnen Erfahrungstatsachen (als objektive Erklärung der empirischen Erfahrung) werden ebenfalls anhand des jetzt schon wiederholt dargelegten deduktiven Verfahrens vorgenommen.911 Das bedeutet mit anderen Worten, daß einzelne empirische Sachverhalte dann als erklärt betrachtet werden können, wenn sie aus anderen empirischen Tatsachen und allgemeinen Sätzen abgeleitet werden können (Deduktion). Deduktive – in diesem Sinne: „kausale“912 – Erklärungen der empirischen Erfahrung sind wissenschaftlich dann annehmbar, wenn die dabei verwendeten allgemeinen Sätze gut geprüft und in hohem Maße bewährt sind.913 Den allgemeinen Sätzen kommt dabei im Zusammenhang mit der Erklärung vergangener und gegenwärtiger Tatsachen die entscheidende Ordnungs- und Systematisierungsfunktion zu. Als theoretische Einordnungen der empirischen Einzelerfahrungen stellen allgemeine Sätze die „systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse“ im kantischen Sinne914 her. Das rückwärtsgewandte, vergangenheitsbezogene Erklärungskonzept der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen ist – ebenso wie Falsifikation915 und Prüfbarkeit916 – sehr eng verwandt mit der zukunftsbezogenen, deduktiven Methode der Prognoseerstellung.917 Denn die Verwendungsmöglichkeit allgemeiner Sätze als Deduktionsgrundlage zur Prognoseerstellung entspricht sehr 909 Ein ernsthafter Widerlegungsversuch wäre entsprechend der präzisen theoretischen Behauptung durchzuführen (Überziehen des Mehlsacks, Klopfen). 910 Zum Erklärungsvermögen der speziellen Relativitätstheorie Einstein, Relativitätstheorie, S. 29. 911 Hier meint Erklärung (wiederum) den „hypothetischen Vernunftgebrauch“ als „systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse“ im Sinne Kants; dazu oben ausführlich sub. § 8 I. 3.; vgl. auch Popper, Historizismus, S. 96 f. 912 Man bezeichnet das deduktiv-nomologische Erklärungsverfahren auch häufig als sog. Hempel-Oppenheim-Schema („H-O-Schema“, benannt nach Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim). Deutliche Ansätze für dieses Konzept deduktiver „Kausalerklärungen“ finden sich – freilich unter Vernachlässigung der strengen Unterscheidung zwischen Anfangsbedingungen und allgemeinen Sätzen – bereits bei John Stuart Mill, A System of Logic, Book III, Chapter XII, § 1 und § 6. 913 Popper, Historizismus, S. 97. 914 Dazu ausführlich oben sub. § 8 I. 3. (theoretische Erklärungskomponente). 915 Oben sub. § 8 IV. 1. 916 Oben sub. § 8 IV. 2. 917 Damit hängt zusammen, daß die deduktive Theorie der Risikoentscheidungen auf alle sog. Kausalitätsprobleme in Rechtsordnungen erstreckt werden kann. Namentlich die überkommeine Diskussion um die sog. „Kausalität durch Risikoerhöhung“

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

weitgehend deren Eignung im Rahmen der Erklärung bereits festgestellter empirischer Tatsachen der Vergangenheit.918 Diese Strukturgleichheit zwischen historischer Erklärung einerseits und zukunftsbezogener Prognose andererseits kann so dargestellt werden, daß die deduktiv-nomologische Form der Erklärung empirischer Erfahrungstatsachen einer einfachen Rekombination des Verfahrens bei Prognosededuktionen entspricht.919 Im Fall von Prognosededuktionen sind allgemeine Sätze bereits vorgegeben (also die wissenschaftlichen Theorien im Zeitpunkt der Prognoseerstellung, das aktuelle wissenschaftliche Hintergrundwissen920) und darüber hinaus sind auch die Anfangsbedingungen empirisch festgestellt. Anfangsbedingungen und allgemeine Sätze stellen zusammen ein vollständiges Explikans für (entsprechende) Prognosen dar.921 Die Prognosen als Explikandum können deshalb durch Deduktion aus allgemeinen Sätzen und Anfangsbedingungen erstellt werden.922 Demgegenüber ist bei der Erklärung empirischer Erfahrungen ein bestimmtes Explikandum (also das zeitlich in der Vergangenheit relativ spätere Ereignis) bekannt und ein dazu passendes Explikans (das zeitlich in der Vergangenheit relativ frühere Ereignis sowie ein allgemeiner Satz) muß bezeichnet werden.923 Dabei kann – jedenfalls in allen nicht-historischen Wissenschaften924 – der jeweils im Explikans verwendete allgemeine Satz als interessanteste Erklärungskomponente angesehen werden. Dieser allgemeine Satz entscheidet darüber, wieviele empirische Tatsachen in Relation zueinander gesetzt werden können. Anders ausgedrückt: Es hängt von der Struktur des erklärenden allgemeinen Satzes innerhalb des Explikans ab, in wieviele Einzeltatsachen „die“ empirische Erfahrung aufgelöst werden kann.925

entspricht vollständig den allgemeinen Problemen der induktiven Risikodogmatik und kann mit den gleichen Überlegungen aufgeklärt werden. 918 Popper, Historizismus, S. 98, 104. 919 Eine Möglichkeit, das Ereignis B zu prognostizieren, besteht darin, daß ein Ereignis A ermittelt werden kann und zusätzlich ein bewährter allgemeiner Satz A ! B (§ 8 III. 2.) zur Verfügung steht; zur vollkommene Strukturgleichheit zwischen Erklärungen und Prognosen siehe Fn. 923. 920 Dazu schon oben sub. § 6 I. 921 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 366. 922 Dazu oben sub. § 8 III. 923 Eine Möglichkeit, das Ereignis A zu erklären besteht darin, daß ein Ereignis B ermittelt werden kann und zusätzlich ein bewährter allgemeiner Satz B ! A (§ 8 III. 2.) zur Verfügung steht; bzw. ein Ereignis C kann ermittelt werden und eine bewährte Theorie C ! A ist verfügbar und so fort. 924 Innerhalb der historischen Wissenschaften kehrt sich das Erkenntnisinteresse um, es geht diesen also – anders als den nomologischen Wissenschaften – zuvörderst darum, unbekannte Ereignisse (singuläre Es-gibt-Sätze) wiederzuentdecken; die dabei verwendeten allgemeinen Sätze sind zumeist trivial.

§ 8 Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage

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Wissenschaftlich befriedigende Erklärungen einzelner empirischer Tatsachen (Explikanda) setzen immer Theorien voraus, die unabhängig vom Explikandum überprüft werden können.926 Das heißt, jede objektiv erklärende Theorie muß über diejenigen empirischen Fälle, die zu ihrer Aufstellung geführt haben, hinausgehen. Eine erklärende Theorie muß mehr erklären, als den im Einzelfall erklärten Sachverhalt. Anderenfalls sind zirkuläre Erklärungen unvermeidlich.927 Die Zirkelförmigkeit einer Erklärung ist dabei immer eine Sache des Grades.928 Das läßt sich an einem Beispiel leicht näher verdeutlichen: So kann etwa der Wirkmechanismus eines Tranquilizers nicht durch den bloßen Hinweis auf „die einschläfernde Wirkung des rätselhaften Mittels“929 intersubjektiv zufriedenstellend erklärt werden. Akzeptabel sind immer nur Erklärungen, die vom unmittelbar erklärten Sachverhalt unabhängig sind. Eine objektive Erklärung des Schlafmittels setzt also wenigstens eine zusätzliche empirische Tatsache (z. B. eine bestimmte Wirksubstanz, die auch in anderen Stoffen nachweisbar ist) sowie einen unabhängig nachprüfbaren allgemeinen Satz (etwa eine medizinische oder biochemische Theorie) voraus. Die Gesamtheit der empirischen Erfahrungstatsachen – gewissermaßen die Menge aller vorläufig anerkannten Sachverhalte – kann untereinander durch konjekturale allgemeine Sätze mehr oder weniger eng zusammenhängend verknüpft sein. Dabei hängt der Verknüpfungsgrad vom Informationsgehalt der erklärenden allgemeinen Sätze ab, also gewissermaßen von der Qualität der Theorien.

925 Daraus folgt unmittelbar, daß niemals sinnvoll gefragt werden kann, aus wievielen Tatsachen eine bestimmte empirische Erfahrung als Gegenstand der Erklärung besteht. Jeder Gegenstand besteht aus ebenso vielen Einzelheiten, wie theoretisch erklärt werden können. Falls die Erklärungen genauer werden, liegen dementsprechend gewissermaßen mehr einzelne Tatsachen vor. Entgegen Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus, Sätze 1, 1.1) muß also daran festgehalten werden, daß die Welt nicht aus Tatsachen besteht, sondern aus Prozessen. Tatsachen sind immer ein gemeinsames Produkt aus Sprache und Wirklichkeit. 926 Zur Prüfbarkeit allgemeiner Sätze ausführlich oben sub. § 8 IV. 2. 927 Dieses methodologische Prinzip widerspricht der positivistischen Anschauung und allen naiv-empirischen Tendenzen diametral. Denn methodologisch wird die Aufstellung kühner Theorien bevorzugt, die neue Beobachtungsgebiete aufschließen. Unfruchtbar sind demgegenüber die vorsichtigen, induktivistischen Verallgemeinerungen „gegebener“ Beobachtungen; dazu Popper, Objektive Erkenntnis, S. 369. 928 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 200, bildet exemplarisch folgenden Dialog: „Wieso ist das Meer heute so stürmisch?“ – „Weil Neptun heute sehr zornig ist.“ – „Auf welche Gründe kannst du deine Aussage stützen, daß Neptun heute sehr zornig ist?“ – „Ja, siehst du denn nicht, daß das Meer sehr stürmisch ist? Und ist es nicht immer stürmisch, wenn Neptun zornig ist?“ 929 Beispiel in Anlehnung an Molière, Le Malade Imaginaire; zur Problematik von ad hoc-Annahmen auch Einstein, Relativitätstheorie, S. 33.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Im hypothetischen Idealfall könnte deduktiv-nomologisch mittels eines einzigen – entsprechend gehaltvollen – allgemeinen Satzes die Gesamtheit aller zusammenhängenden empirischen Tatsachen erklärt werden.930 Die bislang formulierten allgemeinen Sätze (vor allem die wissenschaftlichen Naturgesetze931) interpretieren bekanntlich – in Ermangelung einer alles erklärenden Theorie („G.U.T.“) – nur weniger umfassend einzelne Teilbereiche der Wirklichkeit. Im Verhältnis unterschiedlicher allgemeiner Sätze zueinander gilt, daß diejenige Theorie objektiv allgemeiner ist (und infolgedessen mehr erklärt), auf deren Grundlage die andere, weniger allgemeine Theorie deduktiv hergeleitet werden kann.932 Falls sich also aus einem allgemeinen Satz andere allgemeine Sätze ableiten lassen, erklärt die ursprüngliche Theorie stets mehr als die einzelnen abgeleiteten Theorien selbst unter günstigsten Voraussetzungen erklären können. Das Erklärungsvermögen einer Theorie höherer Allgemeinheitsstufe umfaßt dabei immer mindestens die Summe aus den jeweiligen Erklärungsmächtigkeiten der einzelnen aus ihr abgeleiteten Theorien geringerer Allgemeinheit.933 Das objektive Theoriemerkmal Erklärungsvermögen kann somit als komparative Größe verstanden werden: Das Erklärungsvermögen einer Theorie ist um so größer, je mehr empirische Tatsachen der Vergangenheit durch sie erklärt werden können. Daraus folgt ohne weiteres das äußerst niedrige Erklärungsvermögen aller typischen Dämon-Theorien934, denn hinsichtlich möglicher Verknüpfungen anerkannter empirischer Erfahrungstatsachen leisten Theorien dieser Art nicht das Geringste. Theorien, die keine bekannten empirischen Erfahrungen verknüpfen können, erklären nichts.

930

Zwar sucht insbesondere die (theoretische) Physik grundsätzlich einen solchermaßen universellen allgemeinen Satz. Dieser würde gewissermaßen die „Weltformel“ (sog. Great Unification Theory [G.U.T.]) darstellen, sofern er eines Tages bestimmt werden könnte. Aber von einer einheitlichen Beschreibung aller empirischen Tatsachen kann natürlich bislang noch gar keine Rede sein. Abgesehen von den sehr heterogenen Untersuchungsfeldern innerhalb einzelner Disziplinen, drückt auch die Aufspaltung der Naturwissenschaften in einzelne Fächer aus, daß bislang nur bereichspezifische Theorien aufgestellt werden konnten. 931 Zum Zusammenhang zwischen allgemeinen Sätzen und Naturgesetzen bereits ausführlich oben sub. § 8 III. 2. 932 Dazu schon ausführlich oben sub. § 8 III. 2. a). Die Theorie „Alle männlichen Schwäne sind schwarz.“ kann aus der allgemeineren Theorie „Alle Schwäne sind schwarz.“ abgeleitet werden. 933 Vgl. Popper, Erkenntnistheorie, S. 306; das bedeutet, daß die Theorie „Alle Schwäne sind schwarz.“ (unter anderem) alle empirischen Tatsachen erklären kann, die durch die Theorie „Alle männlichen Schwäne sind schwarz.“ erklärt werden. 934 Dazu oben sub. § 8 IV. 3.

§ 8 Rechtsgüterrelationen als Deduktionsgrundlage

255

Bei der komparativen Beurteilung des Erklärungsvermögens allgemeiner Sätze muß deutlich unterschieden werden zwischen diesem eher quantitativen Merkmal (Anzahl der verknüpften Tatsachen) und einer davon stark abweichenden qualitativen Komponente. Für die objektive Einordnung des Erklärungsvermögens einer Theorie ist weniger ausschlaggebend, ob die erklärten empirischen Tatsachen sehr zahlreich sind. Es kommt vielmehr darauf an, ob es sich bei den erklärten Tatsachen um sehr unterschiedliche Phänomene handelt. Die „Unterschiedlichkeit der erklärten Phänomene“ ist jedoch kein Merkmal, das dem Erklärten an sich unvergänglich anhaftet. Unterschiedlich oder ähnlich sind erklärte Tatsachen immer nur relativ zum gesicherten Hintergrundwissen einer Zeit. „Unterschiedlichkeit“ ist mit anderen Worten keine Eigenschaft, die den erklärten Tatsachen anhaftet, sondern eine Eigenschaft, die einer Situation innewohnt (einer Situation, der unter anderem die erklärten Tatsachen angehören). „Unterschiedlichkeiten“ zwischen Tatsachen hängen in jeder Situation damit zusammen, daß objektives Wissen hinsichtlich übergeordneter Gesetzmäßigkeiten fehlt, das – nachdem es entdeckt wurde – vormals „unterschiedliche“ Ereignisse einheitlich erklären kann.935 Ähnlichkeiten zwischen Ereignissen bestehen umgekehrt immer nur dann, wenn die ähnlichen Ereignisse bereits einheitlich erklärbar sind, also immer dann, wenn schon objektive Gesetzmäßigkeiten bekannt sind. Kurz: Tatsachen sind „aus sich heraus“ weder ähnlich noch unterschiedlich, sondern alle Unterschiedlichkeit hängt von bewährten allgemeinen Sätzen ab, die als situatives Hintergrundwissen zu verstehen sind. Die qualitative Dimension des Erklärungsvermögens allgemeiner Sätze zeigt, weshalb „neue“ Erklärungen für ähnliche Ereignisse methodologisch wenig relevant sind. Denn Theorien, die sich lediglich auf sehr ähnliche Vorgänge beziehen, betreffen ausschließlich solche Phänomene, die bereits zuvor durch noch allgemeinere Sätze des situativen Hintergrundwissens erklärt werden konnten.936 Das bedeutet beispielsweise, daß naturwissenschaftliches Hintergrundwissen, das bereits über eine bewährte allgemeine Theorie der Schwerkraft937 verfügt, keinerlei qualitativen Erklärungsnutzen aus einer neuen „Apfel-Theorie“

935 Wenn das neue allgemeine Gesetz Teil des Alltagswissens geworden ist, gelten die beiden Ereignisse als ähnlich; ähnlichkeitsbegründend ist somit die neue Gesetzmäßigkeit. 936 Daß diesen Situationen allgemeine Gesetzmäßigkeiten (zumindest stillschweigend) zugrunde liegen, ergibt sich daraus, daß die Vorgänge sonst nicht als „sehr ähnlich“ empfunden werden könnten (ausführlich oben sub. § 7 III. 4.). 937 Etwa die Newtonsche Theorie oder – noch allgemeiner – Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

„Alle Äpfel fallen nach unten, also in Richtung Fußboden, wenn man sie fallenläßt.“

ziehen kann. Denn alle Sachverhaltskonstellationen fallender Äpfel sind schon im Lichte der bekannten Gravitationstheorie sehr ähnlich. Im Fall eines – hypothetisch unterstellten – Fehlens des gegenwärtig bewährten Hintergrundwissens einer allgemeinen Gravitationstheorie wäre die ApfelTheorie jedoch möglicherweise nützlich: Unter diesen Bedingungen könnte ihr in qualitativer Hinsicht durchaus Erklärungswert zugeordnet werden (Situationsgebundenheit der Ähnlichkeit). Das Gesagte verdeutlicht, daß das Erklärungsvermögen allgemeiner Sätze sehr eng mit ihrer Prüf- beziehungsweise Falsifizierbarkeit zusammenhängt.938 Denn mit steigendem Allgemeinheitsgrad einer Theorie nimmt nicht nur ihre Prüfbarkeit zu, sondern auch der Bereich der empirischen Ereignisse wird größer, über den sie etwas aussagt, den sie also potentiell erklärt. Das erhöht gleichzeitig die Anzahl der Gelegenheiten für mögliche Falsifikationen. Kurz: Eine Theorie, die mehr erklärt, ist auch zumeist die besser prüfbare Theorie.939 Zusammenfassend kann das objektive Erklärungsvermögen allgemeiner Sätze als deren prüfbare Eignung zur möglichst umfassenden Systematisierung bekannter empirischer Tatsachen verstanden werden. 4. Erfolglose Widerlegungsversuche Der Begriff „erfolglose Widerlegungsversuche“ bezeichnet eine zusammengesetzte Theorieeigenschaft. Dabei meint „zusammengesetzt“, daß diese Eigenschaft allgemeiner Sätze auch anhand der drei bereits behandelten objektiven Merkmale „Falsifikation“, „Prüfbarkeit“ und „Erklärungsvermögen“ beschrieben werden könnte. Für alle Auswahlerklärungen zwischen konkurrierenden allgemeinen Sätzen sind erfolglose Widerlegungsversuche jedoch methodologisch besonders aussagekräftig. Deshalb sollen die erfolglosen Widerlegungsversuche als mögliche Beurteilungsgrundlage gesondert theoretisch vertieft werden. Als objektive Theorieeigenschaft können nur erfolglose Widerlegungsversuche relevant sein. Denn erfolgreiche Widerlegungen führen immer dazu, daß die dann falsifizierten allgemeinen Sätze methodologisch insgesamt verworfen werden (sog. modus tollens der Falsifikation).940 938

Zur Prüfbarkeit siehe oben sub. § 8 IV. 2. Dazu Popper, Objektive Erkenntnis, S. 370; Gadenne, Bewährung, S. 89, 98 ff.; hierin liegt allerdings eine Asymmetrie: Theorien, die viel erklären, sind gut prüfbar; umgekehrt gilt jedoch auch für sehr gut prüfbare Theorien nicht notwendigerweise, daß ihnen ein (wenn auch nur geringfügiger) Erklärungswert zukommt (dafür exemplarisch: die Dämon-Theorie). 940 Dazu oben sub. § 8 IV. 1. 939

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Die charakteristische Besonderheit erfolgloser Widerlegungsversuche besteht aber nicht darin, daß bestimmte allgemeine Sätze bislang mit allen anerkannten empirischen Erfahrungstatsachen vereinbar sind. Denn eine solche Vereinbarkeit mit den vorhandenen Tatsachen gilt immer für alle miteinander konkurrierenden allgemeinen Sätze im Hinblick auf alle Tatsachen. Auch erfolglose Widerlegungsversuche dürfen daher – wie alle empirischen Tatsachen – nicht als „Bestätigungen“ der geprüften Theorien mißverstanden werden.941 Erfolglose Widerlegungsversuche bezeichnen statt dessen den von „Bestätigungen“ streng zu unterscheidenden Befund, daß „überraschenderweise zutreffende“, „bislang unbeobachtete“, vor allem jedoch: „möglichst absurde“ Erfahrungstatsachen aus einer neuen Theorie abgeleitet werden können. Solchermaßen unerwartete – idealerweise absurde – Konsequenzen können sich bisweilen aus sehr allgemeinen Theorien ergeben, die in besonders hohem Maße nachprüfbar sind.942 Die Ableitbarkeit neuer, absurder Tatsachen stellt sich als Prognostizierbarkeit von singulären Es-gibt-Sätzen dar, die im Prognosezeitpunkt entweder durch keine andere konkurrierende Theorie erklärbar sind oder – bestenfalls – durch das bewährte Hintergrundwissen sogar als unmöglich ausgeschlossen werden können. Für den Nachweis eines erfolglosen Widerlegungsversuchs muß zunächst feststellbar sein, daß alle miteinander konkurrierenden allgemeinen Sätze mit den bislang bekannten empirischen Erfahrungen übereinstimmen (keine Falsifikationen943). Darüber hinaus müssen für eine der konkurrierenden Theorien eben jene unerwarteten – günstigstenfalls absurde944 – Konsequenzen prognostizierbar sein,945 die ihrerseits nicht mit den objektiven Erwartungen des bewähr941

Zur sog. Hempels-Paradoxie siehe unten Fn. 958 (Raben-Paradoxie). Vgl. zur Prüfbarkeit oben sub. § 8 IV. 2. 943 Dazu oben sub. § 8 III. 4. 1. 944 Die objektive Einstufung bestimmter Einzelprognosen als absurd kann (selbstverständlich) nicht den subjektiven Einstellungen einzelner Experimentatoren hinsichtlich einzelner Ergebnisse entnommen werden. Vielmehr sind Prognosen solange objektiv absurd, wie das theoretische Umfeld (also das bewährte situative Wissen einer Zeit) andere Ergebnisse anstelle der neuen, „kühnen“ Prognose erwarten läßt. In dem Ausmaß, wie sich das theoretische Umfeld einer vormals „kühnen“ Theorie seinerseits wandelt (etwa durch substantielle Bewährung der neuen Theorie), verändert sich auch die objektive Bewertung der Theorie als kühn, bzw. diejenige ihrer Prognosen als absurd. So war bspw. die Astronomie von Kopernikus im Jahr 1543 kühn, ebenso die Gleichungen Maxwells im Jahr 1864 und sehr kühn war auch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie von 1915. Heute sind alle diese ursprünglich kühnen Theorien (jedenfalls in bestimmten Zusammenhängen) bewährtes Wissen, Abweichung von ihren Aussagen könnten deshalb möglicherweise ihrerseits als kühn beurteilt werden; zu ausführlicheren Beispielen unten bei Fn. 950. 945 Erklärt werden – auch hier – alle Konsequenzen einer Theorie wiederum deduktiv; dazu im einzelnen ausführlich oben sub. § 8 III. 1., 2. und 3. 942

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ten Hintergrundwissens übereinstimmen.946 Nach Erstellung dieser unerwarteten (oder absurden) Prognose kann eine entsprechend entworfene empirische Überprüfung der vorhergesagten Konsequenzen günstigstenfalls den objektiven Befund eines erfolglosen Widerlegungsversuchs herbeiführen (das geschieht selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, daß die prognostizierten absurden Ergebnisse tatsächlich beobachtet werden können und nicht – umgekehrt – der geprüfte allgemeine Satz anhand des Beobachteten falsifiziert wird). Die methodologische Relevanz erfolgloser Widerlegungsversuche (also die Bedeutung der Tatsache, daß empirische Beobachtungen eines absurden Effekts gelingen) ergibt sich daraus, daß zur Erklärung des gewissermaßen neuen (absurden) Phänomens ausschließlich die erfolglos widerlegte Theorie zur Verfügung steht, also derjenige allgemeine Satz, der vor der erstmaligen Durchführung des entscheidenden Experiments als Ableitungsgrundlage der unerwarteten Prognose verwendet wurde.947 Alle erfolglos widerlegten allgemeinen Sätze genießen somit einen substantiellen Bewährungsgradvorsprung gegenüber ihren Konkurrenten: Diejenigen allgemeinen Sätze, die mit Blick auf den nachgewiesenen neuen Effekt keine inhaltlichen Gehalte aufweisen,948 werden durch die „neue“ Tatsache zwar nicht widerlegt. Ihnen kommt aber aufgrund ihrer inhaltlichen Indifferenz ein geringeres Erklärungsvermögen zu als der erfolglos widerlegten Theorie, die ihrerseits den neuen Effekt erklären kann. Alle sonstigen allgemeinen Sätze beinhalten theoretische Aussagen949 über den neuartigen Effekt und werden infolgedessen durch seinen Nachweis falsifiziert (sog. experimentum crucis).950 946 Siehe zum Hintergrundwissen etwa Chalmers, Wissenschaftstheorie, S. 68 ff. und oben sub. § 6 I. 947 Im ebenfalls denkbaren Fall, daß sich die theoretisch erklärte absurde Prognose bei empirischer Überprüfung als unzutreffend erweist, liegt jedenfalls bei experimentell abgesicherten (vorläufig akzeptierten) Ergebnissen eine klare Falsifikation desjenigen allgemeinen Satzes vor, der zuvor als Prognosegrundlage gedient hat (§ 8 IV. 1.). 948 So wird die Theorie „Alle Schwäne sind schwarz.“ durch eine „neu“ gefundene Tierart inhaltlich gar nicht berührt. 949 Inhaltlich gilt dabei, daß alle Theorien, die hinsichtlich des neuen Phänomens überhaupt etwas aussagen, diesen Effekt anders vorhersagen oder ausschließen müssen. Anderenfalls wäre kein Fall „absurder“ Prognosen gegeben, es läge mit anderen Worten gar kein „erfolgloser Widerlegungsversuch“ im hier verwendeten Sinne vor. 950 Ein besonders anschauliches historisches Beispiel eines erfolglosen Widerlegungsversuchs liefert die naturwissenschaftliche Kontroverse um Augustin Jean Fresnels Wellentheorie des Lichts. Aus verschiedenen Gründen widersprach seine neuartige Theorie der zur damaligen Zeit herrschenden Standardtheorie. Im Jahr 1818 konnte Siméon Denis Poisson aus der Fresnelschen Theorie schließlich eine „absurde“ theoretische Vorhersage ableiten und hoffte, die Theorie dadurch in Mißkredit bringen (falsifizieren) zu können: Falls eine lichtundurchlässige Scheibe auf eine bestimmte Weise beleuchtet würde, müßte man – so die „absurde“ Konsequenz der neuen Theorie Fresnels – in der Mitte der anderen Seite der Scheibe gleichwohl einen hellen Fleck beobachten können (die heute sog. Fresnelsche Beugungserscheinung). Weithin

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Resultat: Die zusammengesetzte objektive Theorieeigenschaft der „erfolglosen Widerlegungsversuche“ bezeichnet den – seltenen – empirischen Befund, daß allgemeine Sätze auf neue, absurde, andersartige Sachverhaltskonstellationen angewendet werden konnten und dabei unerwartet erfolgreich an solchen empirischen Erfahrungstatsachen überprüft wurden, die bei Aufstellung der Theorie noch nicht bekannt waren (wären die zur erfolglosen Widerlegung verwendeten Tatsachen bei Aufstellung der Theorie nicht unbekannt gewesen, handelte es sich bei den erfolglosen Widerlegungen gar nicht um absurde Prognosen neuer Phänomene). Erfolglose Widerlegungsversuche sind nur unter der Voraussetzung anspruchsvoll (und damit einhergehend: besonders aussagekräftig für komparative Theoriebewertungen), daß sie neuartige Sachverhalte aufzeigen und dadurch besonders strenge Prüfungen einer Theorie ermöglichen. Das erfolgreiche Bestehen ungewöhnlicher Prüfungen erhöht den Bewährungsgradvorsprung erfolglos widerlegter Theorie gegenüber ihren Konkurrenten. Theorien bewähren sich dabei um so mehr, je besser die erfolglosen Widerlegungsversuche erdacht waren.951 V. Komparativer Referenzmaßstab Die dargelegten objektiven Theorieeigenschaften bilden nun die Ausgangspunkte für den Referenzmaßstab der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen. Dieser Referenzmaßstab soll die allgemeine Struktur verdeutlichen, die objektive Erklärungen von Prognoseauswahlentscheidungen im Einzelfall aufweisen. Dabei ist unser Referenzmaßstab als Maßstab komparativer Theoriebewertungen konzipiert. Er verzichtet vollständig auf subjektivistische und wertende Elemente im Zusammenhang mit einzelnen Prognoseauswahlerklärungen.952 wurde damals die Falsifikation der Theorie bei Durchführung dieses Widerlegungsversuchs erwartete; die „absurde“ Prognose erwies sich indes als zutreffend und der erfolglose Widerlegungsversuch Poissons trug auf diese Weise (wenn auch unfreiwillig) zur substantiellen Erhöhung des Bewährungsgrads der fresnelschen Theorie bei (siehe ausführlicher dazu Chalmers, Wissenschaftstheorie, S. 69; ders., Grenzen der Wissenschaft, S. 86). Ein weiteres historisches Beispiel für „absurde“ theoretische Prognosen war die 1915 aus Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie erstmalig ableitbare Vermutung, das Licht von Fixsternen könnte am Sonnenrand während einer Sonnenfinsternis gebeugt (also abgelenkt) werden. Diese Prognose war „absurd“, weil das bewährte Hintergrundwissen zu dieser Zeit die Annahme enthielt, daß sich das Licht im Vakuum geradlinig ausbreitet. Auch dieser Widerlegungsversuch verlief freilich erfolglos, der Effekt der Lichtbeugung konnte also beobachtet werden (siehe dazu Popper, Offene Gesellschaft II, S. 312 f.; Einstein, Weltbild, S. 172; ders., Relativitätstheorie, S. 33, 84 ff.). 951 Vgl. dazu Popper, Logik der Forschung, S. 354. 952 Ausführlich zur Wertungsfreiheit unten sub. § 8 V. 1.

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Das deduktive Konzept komparativer Theoriebewertungen beruht auf der methodologischen Erkenntnis, daß die Vorzugswürdigkeit zurechnungsrelevanter Prognosen gegenüber allen konkurrierenden Prognosen anhand der zugrundeliegenden Theoriesysteme erklärt werden kann. Vorzugswürdig ist jeweils diejenige Prognose, die unter Verwendung der gewissermaßen qualitativ besten Theorie abgeleitet werden kann. Die Qualität allgemeiner Sätze hängt dabei ab von ihrem objektiven Bewährungsgrad.953 Anders ausgedrückt: Der deduktive Referenzmaßstab vergleicht nicht unmittelbar die einzelnen Prognosen miteinander, sondern er erklärt Zurechnungsrelevanzen indirekt anhand der jeweiligen Theoriesysteme, also mit Hilfe der Ableitungsgrundlagen der Einzelprognosen. Im Einzelfall ist nicht „die beste Prognose“ als solche vorzugswürdig, sondern diejenige Prognose, die aus dem bestbewährten Theoriesystem abgeleitet werden kann.954 Die relative Vorzugswürdigkeit eines Theoriesystems gegenüber konkurrierenden allgemeinen Sätzen ist anhand der jeweiligen Bewährungsgrade objektiv erkennbar. Bewährungsgradunterschiede sind objektive Größen, die sich ihrerseits aus den oben dargelegten objektiven Eigenschaften allgemeiner Sätze zusammensetzen. Damit kann unter ausschließlicher Verwendung objektiver Einzelmerkmale für jede Theorie ein spezifischer relativer Bewährungsgrad – intersubjektiv vollständig nachprüfbar – in der folgenden Weise erklärt werden. Allgemeine Sätze können nur solange im Sinne des komparativen Referenzmaßstabs bewährt sein, wie sie vor dem Hintergrund der empirischen Erfahrungen (genauer: relativ zu den anerkannten singulären Es-gibt-Sätzen) noch nicht falsifiziert worden sind.955 Jede Wahl zwischen konkurrierenden Prognosen wird somit in Anbetracht völliger Übereinstimmung aller konkurrierenden Theorien mit der Gesamtheit der akzeptierten Erfahrungstatsachen getroffen. Es muß daher nochmals besonders hervorgehoben werden, daß paarweise unvereinbare allgemeine Sätze dennoch gleichzeitig mit den anerkannten Tatsachen vereinbar sein können. Unvereinbare Theorien stimmen dann zwar jeweils für sich mit denselben akzeptierten Tatsachen überein. Aber sie können nicht beide gleichzeitig wahr sein.956 953

Dazu oben sub. § 8 III. Siehe Popper, Erkenntnistheorie, S. 306; dieser Ansatz muß zwingend gewählt werden, solange nicht Unterscheidungskriterien benannt werden können, die unmittelbar an den Prognosen selbst ansetzen. 955 Zur Falsifikation oben sub. § 8 IV. 1. 956 Beispiel: Die beiden Theorien „Alle Schwäne sind schwarz.“ und „Alle Schwäne sind weiß.“ scheinen auf den ersten Blick miteinander unvereinbar zu sein. Das ist jedoch nicht ganz richtig, denn paarweise unvereinbar werden die beiden Theorien erst dadurch, daß wenigstens ein weiterer singulärer Es-gibt-Satz hinzugenommen wird (als Tatsache akzeptiert wird): „Es gibt Schwäne.“ Relativ zu diesem singulären Es-gibt-Satz sind die Theorien miteinander unvereinbar, sie können also 954

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Damit hängt die wichtige methodologische Erkenntnis zusammen, daß die relative Vorzugswürdigkeit einer einzelnen Theorie gegenüber ihren Konkurrenten niemals damit erklärt werden kann, daß die als vorzugswürdig betrachtete Theorie mit „allen vorhandenen Daten“ übereinstimmt. So ist das Streiten für eine Theorie durch die hartnäckige Betonung einer „völligen Übereinstimmungen dieser Theorie mit allen vorhandenen Daten“ tautologisch und beruht methodologisch auf einem schwerwiegenden Mißverständnis. Denn bewährt sind nur unwiderlegte Theorien. Also sind alle bewährten Theorien unwiderlegt und damit können Hinweise auf die vorläufige Unwiderlegtheit methodologisch keine Bevorzugung einer bestimmten bewährten Theorie gegenüber einer anderen bewährten Theorie erklären (verifikationistisches Mißverständnis).957 Aus diesem Grund muß sehr genau unterschieden werden zwischen dem – maßstäblich entscheidenden – relativen Bewährungsgrad einer Theorie und der – methodologisch immer irrelevanten958 – Möglichkeit, zusätzliche empirische nicht beide wahr sein. Dennoch sind beide Theorien (jeweils für sich genommen) mit dem singulären Es-gibt-Satz vereinbar; ausführlicher Popper, in: Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of Karl Popper, Bd. 2, S. 989 ff. (reply to „Quine on My Avoidance of the ,Paradoxes of Confirmation‘“). 957 Dieses verifikationistische Mißverständnis gilt es vor allem angesichts einer verbreiteten – aber methodologisch verfehlten – Neigung hervorzuheben, die Vorzugswürdigkeit von Theorien durch Tatsachen zu belegen, die mit der jeweiligen Theorie vereinbar sind. Anhand eines mokanten Beispiels wandte sich Francis Bacon gegen das verifikationistische Mißverständnis – „Hat der menschliche Verstand einmal an Etwas Gefallen gefunden (es sei nun, weil er es so glaubt und angenommen hat, oder weil es ihm Vergnügen macht), so zieht er alles Übrige mit Gewalt hinein, damit zusammenzustimmen. Und wenn auch für das Gegenteil weit bessere Beweise sich anbieten, so übersieht er sie oder verkennt ihren Werth, oder schafft sie durch Spitzfindigkeiten bei Seite, nicht ohne die größten, schädlichsten Vorurtheile; alles, um nur die Autorität seiner ersten Annahme ungeschmälert zu erhalten. Man zeigte Jemandem eine Motivtafel, welche die vom Schiffbruch Geretteten im Tempel aufgehängt hatten, und fragte ihn, ob er jetzt die schützenden Götter anerkennen wolle. – Wo sind aber, erwiderte er treffend, die Namen Derer, die trotz allen Gelübden dennoch zu Grunde gegangen sind? – Fast ebenso steht es nun mit allem Aberglauben, mit der Sterndeuterei, mit Träumen, Vorgeschichten, Strafzeichen u. dgl. Treffen sie ein, so machen die Gläubigen ein Geschrei davon; schlagen sie, wie gewöhnlich, fehl, so übergehn sie die Sache mit Stillschweigen (Neues Organon der Wissenschaften, I. Buch, 46. Aphorismus, S. 34 f.).“ 958 Die sog. Raben-Paradoxie (oder, nach Carl Hempel, Hempels-Paradoxie) verdichtet das verifikationistische Grundproblem sehr stark: (1.) Sofern von zwei Hypothesen a priori bekannt ist, daß sie inhaltlich äquivalent sind, bestätigen alle Daten, die eine der beiden Hypothesen bestätigen, zugleich auch die jeweils andere. (2.) Theorien können äquivalent umgeformt werden, etwa T1 („Alle Raben sind schwarz.“) in die Form von T2 („Es gibt keine Raben, die nicht schwarz sind.“) sowie als T3 („Alles, was nicht-schwarz ist, ist ein Nicht-Rabe.“). Jede Paarung der drei Beispieltheorien ist inhaltlich äquivalent, T1 entspricht also T2 und T3, zusätzlich entspricht T2 auch T3. Die Paradoxie besteht nun darin, daß sowohl ein „weißer Schuh“ als auch ein „rotes Feuerwehrauto“ – als Bestätigungen von T3 – die mit T3 äquivalente Hypo-

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Tatsachen zu bezeichnen, die zur Theorie „passen“. Weil jederzeit beliebig viele paarweise unvereinbare allgemeine Sätze formulierbar sind, die jeweils für sich zu den vorhandenen Erfahrungsdaten passen, kann die bloße „Übereinstimmung mit den Tatsachen“ kein Grund sein, eine bestimmte Theorie als vorzugswürdig anzusehen.959 Das objektive Theoriemerkmal der Übereinstimmung mit den Tatsachen ist also deshalb kein Argument für eine Theorie, weil dasselbe Argument zugleich auch gegen die Theorie verwendbar ist.960 Somit hängt die Güte eines Theoriesystems nicht mit der verifikationistischen Frage zusammen, wieviele Tatsachen die jeweilige Theorie „stützen“ können. Denn die Antwort auf diese Frage lautet immer, daß die Theorie von allen bekannten Tatsachen „gestützt“ wird, anderenfalls wäre sie widerlegt. Kurz: Das Entscheidungsproblem stellt sich überhaupt nur zwischen unwiderlegten Theorien, die alle durch die bekannten Tatsachen „gestützt“ werden.961 Der relative Bewährungsgrad im Sinne des deduktiven Maßstabs der komparativen Theoriebewertung ermöglicht objektive Entscheidungen zwischen potentiell unendlich vielen Theorien, die alle – einzeln betrachtet – mit dem empirischen Erfahrungshintergrund vereinbar sind. Dabei ist unerheblich, ob viele oder wenige Tatsachen zu einer Theorie „passen“. Denn diese Frage, die aufgrund ihrer Nähe zum naiven Empirismus des Alltagsverstandes, häufig als besonders wichtig angesehen wurde, beruht auf nichts anderem, als dem induktivistischen Mißverständnis (damit ist sie spätestens seit David Hume nicht mehr zu rechtfertigen).962

these T1 mitbestätigen, wonach alle Raben schwarz sind (das folgt aus den Annahmen 1. und 2.); siehe ausführlicher zur Raben-Paradoxie etwa Sainsbury, Paradoxien, S. 121 ff. 959 Subjektive Überzeugungen von der Richtigkeit der je eigenen Auffassungen können im Prinzip dazu führen, daß konkurrierende Theorien übersehen werden. Hilfreich ist deshalb die Vergewisserung darüber, daß selbst die moderne Physik, also diejenige Wissenschaft, die heute sowohl über das größte als auch das präziseste Tatsachensubstrat aller Wissenschaften verfügt, fortwährend neue, entscheidende Experimente erforderlich macht, weil ihr vorhandenes Tatsachensubstrat mit unterschiedlichen und unvereinbaren Theorien übereinstimmt. Dabei ist die Intersubjektivität der wissenschaftlichen Methode die einzige Möglichkeit, nachhaltig die naiv-subjektivistische Idee zurückzudrängen, irgendein Tatsachensubstrat ließe sich jemals auf nur eine Weise interpretieren. 960 Ausführlich zu diesem Argument sog. „Counterinductions“ Popper, Logik der Forschung, S. 445 ff.; das Argument vernichtet alle Ansätze der probabilistischen Induktion („Prognosewahrscheinlichkeit“); vgl. dazu oben sub. § 7 III. 3. 961 Zu einigen speziellen, mit diesem Aspekt häufiger verbundenen Mißverständnissen Popper, in: Schilpp Bd. 2, S. 993 ff. 962 Dazu oben sub. § 7 III. 3.

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Unter konsequentem Verzicht auf die induktivistische Frage nach der Anzahl „bestätigender“ Tatsachen können Auswahlentscheidungen zwischen konkurrierenden Theoriesystemen objektiv erklärt werden. Denn weil alle Theorien Modellvorstellungen (oder, wie man sagen könnte: Abstraktionen) sind, bedürfen sie stets einer Anzahl mehr oder weniger plausibler Hilfshypothesen,963 um ihrer Falsifikation an der Wirklichkeit zu entgehen. Vor allem sind jedoch nicht alle allgemeinen Sätze gleichermaßen geeignet, eine Reihe von Tatsachen (singulären Es-gibt-Sätzen) zu verbinden, die andere Interpretationen ohne Schwierigkeiten erklären können.964 Im Hinblick auf die oben behandelten objektiven Theorieeigenschaften kann jeder komparative Theorievergleich zwischen konkurrierenden allgemeinen Sätzen zu insgesamt drei unterschiedlichen Befunden führen: (1) „Standardtheorie“ Die erste Variante besteht darin, daß einer der allgemeinen Sätze gegenüber allen anderen konkurrierenden Theorien herausragend bewährt ist.

In allen Konstellationen dieser Art steht eine sogenannte Standardtheorie zu Verfügung. Die Prognosesituation wird daher subjektiv – jedenfalls von den eingeweihten fachkundigen Experten – zumeist als „eindeutig“, als „weitgehend geklärt“ oder sogar als „völlig problemlos“ erlebt.965 (2a) „Theoriedefizit“ Der komparative Theorievergleich kann zweitens ergeben, daß keines der konkurrierenden Theoriesysteme in signifikanter Weise als bewährt anzusehen ist.

In Konstellationen dieser Art erkennen Sachverständige, daß sie (jedenfalls bislang noch) keine wissenschaftlichen Antworten auf die konkreten Prognosefragen geben können.966 Üblicherweise wird das Problem der Nichtentscheid963 „Hilfshypothesen“ sind spezifische Darstellungen der Anfangsbedingungen, also Darstellungen der Wirklichkeit in Satzform (Tatsachen). Dieser Punkt wird zweifellos leicht mißverstanden, exemplarisch etwa bei Putnam, The „Corroboration“ of Theories, S. 221 (225 ff.), im Sinne seines ergänzend (!) gemeinten Hinweises auf „auxiliary statements“. Anschaulich zum Kriterium der Reduktion von Hilfshypothesen auch Einstein, Relativitätstheorie, S. 29. 964 Vgl. Popper, Offene Gesellschaft II, S. 312 f.; von der Verbindung einer „Reihe von Tatsachen“ kann nur relativ zu anderen Theorien gesprochen werden (Tatsachen sind „theoriegetränkt“), es gibt also keine Tatsachen, die aus sich heraus verbunden werden könnten. Der Aspekt der Verbindung von Tatsachen ist somit wiederum eine Folge der relativen Bewertung von Theorien gegenüber dem wissenschaftlichen Hintergrundwissen; siehe dazu auch oben sub. § 8 IV. 3. 965 Beispiel: Sofern eine Gefahrprognose darüber Auskunft geben soll, ob ein rohes Ei einen freien Fall aus 2 Meter Höhe unbeschadet übersteht, kann (derzeit) kein allgemeiner Satz bezeichnet werden, der auch nur annähernd so bewährt ist, wie die vorherrschende Gravitationstheorie (Standardtheorie). 966 Beispiele für diese Konstellation liefern alle Fälle, die anhand bloßer ad hocVermutungen entschieden werden müssen, wie etwa der Wanderer-Fall (dazu oben sub. § 8 II. 2.).

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barkeit richtigerweise als sogenanntes Theoriedefizit erfaßt. Bisweilen wird es aber auch – etwas mißverständlich – „fehlender“ empirischer Erfahrung zugeschrieben.967 (2b) „Echte Theoriekonkurrenz“ Für die dritte Möglichkeit gilt, daß zwar zwei (bezogen auf die bekannten Tatsachen968) unvereinbare allgemeine Sätze jeweils für sich genommen hochgradig bewährt sind, daß aber zwischen ihren beiden relativen Bewährungsgraden kein relevanter Unterschied objektiv feststellbar ist.

Dieser – praktisch sehr seltene – letzte Fall setzt ein bereits weitentwickeltes wissenschaftliches Verständnis der relevanten Zusammenhänge voraus und kann als Situation echter Theoriekonkurrenz verstanden werden.969 Die daran beteiligten Sachverständigen anerkennen zumeist die methodologische Gleichwertigkeit zwischen der einen (subjektiv vielleicht bevorzugten) Theorie und der konkurrierenden anderen Theorie. Objektive Entscheidungen zwischen den rivalisierenden Theorien (und damit: eindeutige Prognoseerstellungen970) sind im Fall echter Theoriekonkurrenz unmöglich. Sie gelingen erst nach weiterem theoretischen Fortschritt, um genauer zu sein: erst dann, wenn die Möglichkeit eines Entscheidungsexperiments (experimentum crucis) entdeckt worden ist. Die beiden letztgenannten Vergleichskonstellationen (2a und 2b) erweisen sich – risikotheoretisch betrachtet – als non liquet-Situationen. Der methodologisch entscheidende Ergebnisunterschied möglicher komparativer Theorievergleiche liegt deshalb zwischen dem ersten Vergleichsergebnis (Standardtheorie) einerseits und den beiden letzten Varianten (Theoriedefizit und echte Theoriekonkurrenz) andererseits. Nur in der – praktisch freilich häufigen – ersten Fallkonstellation können methodologisch zufriedenstellende Erklärungen für die Bevorzugung einer einzelnen Prognose gegenüber allen anderen mit ihr konkurrierenden Prognosen formuliert werden. Demgegenüber liegen im – praktisch ebenfalls häufigen – zweiten Fall gar keine ernstzunehmenden971 Prognosen vor, infolgedessen kann keine dieser unbewährten Prognosen objektiv erklärbar bevorzugt werden (non liquet-Situation). Aufgrund echter Theoriekonkurrenz (non liquet-Situation) kann auch im – praktisch seltenen – dritten Fall keine der konkurrierenden Prognosen objektiv erklärbar bevorzugt werden.

967 Siehe zum Verhältnis zwischen Bewährungsgrad und „empirischer Absicherung“ unten sub. § 9 I. 3. b). 968 Siehe Fn. 956. 969 Beispiele dafür ergeben sich nur aus den (wissenschaftshistorisch seltenen) experimenta crucis Situationen hochentwickelter Wissenschaften. 970 Zur Zurechnung durch Prognosen oben sub. § 8 II. 1. 971 Statt dessen liegen ad hoc-Annahmen vor.

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Um zusammenzufassen: Der deduktive Maßstab der komparativen Theoriebewertung erklärt die Zurechnungsrelevanz solcher allgemeinen Sätze (und damit indirekt: die Zurechnungsrelevanz der daraus abgeleiteten Prognosen), deren objektiver Bewährungsgrad substantiell972 höher ausfällt als die jeweiligen Bewährungsgrade aller konkurrierenden Theorien. Objektiv erklärbar ist damit die Zurechnungsirrelevanz solcher Prognosen, die aus konkurrierenden unbewährten oder annähernd gleichbewährten Theoriesystemen abgeleitet worden sind. 1. Wertungsfreiheit Alle einordnenden Erklärungen auf der Grundlage des komparativen Maßstabs der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen beinhalten weder intuitive Wertungen der Rechtsanwender (Interpreten) noch sonstige Zugeständnisse an subjektivistische Positionen. Die Erklärungen sind wertungsfrei, das heißt, sie können jeweils vollständig nachprüfbar – objektiv – als Erkenntnisprobleme rekonstruiert werden (Wertungsfreiheit des komparativen Maßstabs). Zwar folgt die Wertungsfreiheit des komparativen Maßstabs bereits aus dem bisher Gesagten. Weil aber die Idee der „Wertungsfreiheit der Risikoentscheidungen im Recht“973 der induktiven Theorie der Risikoentscheidungen (damit zusammenhängend: den monistischen Interpretationstheorien974) fundamental widerspricht, erscheint uns eine ausführlichere Darlegung dieses Aspekts gerechtfertigt. Die Wertungsfreiheit des Maßstabs ist eine Konsequenz der komparativen Konzeption, die ihrerseits in bezug auf jeden einzelnen Erklärungsbestandteil prüfbar ausgestaltet ist. Weil jeder Erklärungsbestandteil nachprüfbar ist, kann jede falsche Kategorisierungserklärung widerlegt werden. Das Instrument der Widerlegbarkeit falscher Kategorisierungen schirmt somit im Rahmen der objektiven Nachprüfbarkeit alle Kategorisierungserklärungen wirksam gegenüber subjektivistischer und intuitionistischer Einflußnahme ab. Die beiden häufig als besonders wichtig erachteten Fragen „von wem“975 (Autorität) bzw. „auf welche Weise“976 (Entdeckungsverfahren) einzelne Kategorisierungserklärungen gefunden werden, sind methodologisch irrelevant, weil alle falschen Erklärungen widerlegbar sind (es bedarf hier keiner erneuten Her-

972

Zur genaueren Bestimmung dieses Abbildungsparameters unten sub. § 9 IV. 1. Dazu oben sub. § 1 (normative Ordnungen unter Bedingungen empirischer Ungewißheit). 974 Dazu oben sub. § 1 I. 975 Also die scholastische Frage nach der „wahren Autorität“. 976 Also die scholastische Frage nach der „Neutralität“ der „wahren Autorität“. 973

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vorhebung, daß dabei der Unterschied zwischen Findungs- und Erklärungszusammenhängen methodologisch beachtet werden muß977). Die Wertungsfreiheit des komparativen Maßstabs ist damit letztlich eine methodologische Konsequenz seiner Nachprüfbarkeit.978 Unsere These, daß alle Kategorisierungserklärungen wertungsfrei und intersubjektiv nachprüfbar sind, kann in zwei Teilaspekte zerlegt werden: Jede vermutete Kategorisierung ist objektiv erklärbar und alle falschen Kategorisierungen sind objektiv widerlegbar. Sofern man die Kategorisierungserklärungen einmal analytisch betrachtet, wird deutlich, daß sie lediglich drei wertungsfreie Einzelkomponenten beinhalten: – Erstens werden Theoriesysteme (allgemeine Sätze) benannt, die spezifische Zurechnungszusammenhänge erklären, indem sie bestimmte zukünftige Ereignisse ausschließen.979 – Zweitens müssen die den jeweiligen Theoriesystemen entsprechenden relativen Bewährungsgrade ermittelt werden, also gewissermaßen die Strenge der jeweils bereits erfolgten Theorieprüfungen.980 – Schließlich werden drittens die objektiven Bewährungsgrade der paarweise unvereinbaren Theoriesysteme komparativ miteinander verglichen. Alle drei Teilschritte der möglichen Erklärungen sind objektive Erkenntnisprobleme, die mit oder ohne die Hilfe von Sachverständigen gelöst werden können. Falls Kategorisierungserklärungen im Einzelfall unter Hinzuziehung naturwissenschaftlichen Sachverstands erstellt werden (Expertenanhörung), ändert das also nichts an der Wertungsfreiheit der Erklärungen.

977

Ausführlich zu dieser Unterscheidung oben sub. § 6 I. Die intersubjektive Nachprüfbarkeit der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen folgt aus dem vollständigen Verzicht auf metaphysische Erklärungskomponenten, denn der deduktive Maßstab verwendet – anders als das induktive Modell – keine absoluten „Wahrheitsgrade“ von Prognosen. Absolute Wahrheitswerte (Wahrscheinlichkeiten) können nämlich niemals intersubjektiv nachprüfbar bestimmt werden, was die Prämisse der induktiven Risikodogmatik inakzeptabel macht. Die Unmöglichkeit intersubjektiver Überprüfungen von Prognosewahrscheinlichkeiten ist es auch, die dafür sorgt, daß Induktivisten „Wertungen durch Rechtsanwender“ für unerläßlich halten. Demgegenüber vergleicht die deduktive Theorie der Risikoentscheidungen ausschließlich die objektiven Bewährungsgrade der im Entscheidungszeitpunkt konkurrierenden Theorien. Die allgemeine methodologische Bedeutung einer solchen Umwandlung der Problemsituation (absolute Rechtfertigungen hin zu komparativen Bewertungen) wurde in aller Deutlichkeit immer wieder von Hans Albert betont (so etwa in: Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, S. 11). 979 Dazu oben sub. § 8 III. 2. a) – allgemeine Sätze als Verbotsgesetze. 980 Dazu oben sub. § 8 IV. 978

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Entgegen einer häufig – gelegentlich bis zur Übersättigung – vorgetragenen Behauptung, die ihrerseits auf einer irrtumsbehafteten Wahrnehmung der Problemsituation beruht, üben Sachverständige bei der Benennung methodologisch wichtiger Erklärungselemente also kein subjektives „Entscheidungsermessen“ aus. Ebensowenig rücken Sachverständigenerklärungen in die Nähe dessen, was mit erklärungsrelevanten „Wertungs-“ oder „Beurteilungsspielräumen“ gemeint ist.981 Das hängt damit zusammen, daß allgemeine Sätze auch dann nichts anderes als „bloße Vermutungen“ (überprüfbare Konjekturen) darstellen, wenn sie von sachverständigen Experten benannt worden sind.982 Ebenso wie die (sachverständig benannten) Theorien selbst sind auch die diesen jeweils sachverständig zugeordneten Bewährungsgrade vollständig überprüfbar. Denn Sachverständige müssen alle Bewährungsgrade relativ zum (natur-)wissenschaftlichen Hintergrundwissen sowie relativ zu den empirischen Erfahrungen erklären. Objektive Bewährungsgrade können also nicht subjektivistisch zugemessen werden, weshalb sie durch jedermann nachprüfbar sind.983 Infolgedessen bewähren sich Theorien nicht – wie etwa die mittelalterliche Scholastik glaubte984 – dadurch, daß sie von besonders anerkannten Experten („auctoritas“) befürwortet und unterstützt werden. Ganz im Gegenteil: Allgemeine Sätze halten objektiver Kritik entweder stand oder nicht. Daß eine vermutete Theorie sowie ihr vermuteter objektiver Bewährungsgrad einmal „sachverständig vermutet“ wurden, ändert nichts daran, daß sich Theorie und Bewährungsgrad jederzeit als falsch erweisen können und für immer widerlegbar bleiben. Sachverständige Experten haben demzufolge – rein praktisch betrachtet – durchaus die Möglichkeit, andere allgemeine Sätze heranzuziehen als die objektiv bestbewährte Theorie. Das kann man auch, wenn man will, als „Beurteilungsermessen des Sachverständigen“ bezeichnen, also als seine persönliche 981 Dazu oben sub. § 7 III. 6.; unberechtigt sind daher die Behauptungen hinsichtlich einer notwendigen Verknüpfung von Sachverständigenaussagen mit Eigenwertungen oder gar Rechtsetzungsbefugnissen (siehe dazu z. B. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 83: „Die Reaktorsicherheitskommission [. . .] definier[t] neben den Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke [. . .] faktisch den Sicherheitsstandard für Kernkraftwerke.“). 982 Umgekehrt werden nicht-allgemeine Sätze auch nicht dadurch zu allgemeinen Sätzen, daß sie von „Sachverständigen“ geäußert werden. Im übrigen gilt: Falls einmal unklar ist, ob ein Satz ein allgemeiner Satz ist, können notfalls weitere Sachverständige dazu befragt werden. Die Frage der Allgemeinheit kann jedenfalls immer eindeutig beantwortet werden, denn es handelt sich dabei um ein ausschließlich formales Kriterium, eine logische Eigenschaft des jeweiligen Satzes. 983 Dazu oben sub. § 8 IV. 984 Siehe zur Relevanz der scholastischen „auctoritas“ am Beispiel der wissenschaftlichen Arbeiten Anselms von Canterburry ausführlich Grabmann, Geschichte der scholastischen Methode, Bd. 1, S. 265 ff.

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Freiheit, den bestbewährten Satz vorzuschlagen oder statt dessen eine weniger bewährte Theorie zu verwenden. Allein ein solches Verständnis von „Beurteilungen durch Sachverständige“ würde die methodologische Situation nur sehr unvollständig erfassen, denn jedermann kann „sachverständige“ Ausführungen kritisieren, widerlegen und gegebenenfalls durch bessere Aussagen ersetzen. Daher sind die Meinungen derjenigen Sachverständigen, deren persönliche Auffassung (aus welchen Gründen auch immer) intuitiv-wertend von der objektiv bewährtesten Theorie abweicht, konzeptionsbedingt irrelevant: Es kommt nicht auf die „Autorität“ eines Sachverständigen an, sondern auf den komparativen Bewährungsgradvorsprung seiner Theorie. Subjektive Wertungen spielen daher methodologisch keine Rolle, sofern sie nicht zur Heranziehung der bestbewährten Theorie führen. Das kann auch so formuliert werden: Die Wahrheit jeder Erklärung ist objektiv und damit hängt sie niemals von persönlichen oder autoritativen Einschätzungen ab.985 Vor diesem Hintergrund erscheint es sehr irreführend, von „Wertungen durch Sachverständige“ zu sprechen. Die maßstabsbedingte Wertungsfreiheit aller Kategorisierungserklärungen wird darüber hinaus auch nicht dadurch beeinträchtigt, daß sich alle objektiv erklärten Zurechnungszusammenhänge ihrerseits auf normativ geschützte Rechtsgüter beziehen (Zurechnungszusammenhänge „adressieren“ Rechtsgüter).986 Denn daß alle prognostischen Gefahrzusammenhänge Rechtsgüter („normative Werte“) beinhalten, macht sie als „Aussagen über Rechtsgüter“ nicht selbst zu Werturteilen.987 Mit großen Schwierigkeiten ist natürlich die Frage verbunden, inwiefern die Rechtsgüter einer normativen Ordnung ihrerseits objektiv erkennbar sind. Vorläufig darf hier jedoch eine solche objektive Erkennbarkeit der Rechtsgüter einmal unterstellt werden. Denn alle damit verbundenen Einzelprobleme werden – im Anschluß an einige weitere theoretische Vorüberlegungen – noch ausführlich im entsprechenden Zusammenhang behandelt.988

985

Zu Alfred Tarskis Begriff der objektiven Wahrheit siehe oben sub. § 6 II. 5. Dazu schon oben sub. § 8 I. 1. 987 Ausführlicher zu diesem Punkt Albert, Kritischer Rationalismus, S. 74 f.: denn wenn schon die Auswahl bestimmter Gefahrzusammenhänge für eine Sachanalyse dazu führte, daß die betreffenden Aussagen damit selbst zu Werturteilen würden, könnte überhaupt nur noch von Werturteilen gesprochen werden; dies gälte namentlich für alle Naturwissenschaften. Davon ganz abgesehen erfordert jede rechtlich abschließende Einstufung einer beliebigen Sachverhaltskonstellation stets zutreffende Gefahrprognosen in bezug auf sämtliche Rechtsgüter der jeweiligen normativen Ordnung, folglich entfällt die Notwendigkeit einer „wertenden Auswahl“ relevanter Rechtsgüter durch Rechtswender. 988 Dazu unten sub. § 10 I., III., IV. und VI. 986

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Ergebnis: Die populäre Vorstellung vom angeblich „unhintergehbaren Wertungsspielraum des Sachverständigen“ muß als plausibler, aber unhaltbarer Mythos zurückgewiesen werden. Die Auswahl zurechnungsrelevanter Prognosen ist in jedem Einzelfall objektiv nachprüfbar und dabei nicht auf Zugeständnisse an subjektivistische Positionen angewiesen. Alle unprüfbaren – notwendig subjektivistischen – Implikationen haften nicht den prognostischen Aussagen selbst an, sondern resultieren allein aus der falschen induktivistischen Prämisse (sogenannte Prognosewahrscheinlichkeit).989 Als Theoriebestandteil ist die induktive Prämisse jedoch ebenso ersetzbar wie die darauf aufbauende induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen. Der Referenzmaßstab der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen verzichtet auf die scheinbare Objektivität induktiver Prognosewahrscheinlichkeiten zugunsten der Objektivität komparativer Theoriebewertungen. 2. Kongruenztheorem Unser komparativer Maßstab der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen ist mit den zutreffenden Entscheidungen der induktiven Praxis der Rechtsanwendung ergebniskongruent. Die Übereinstimmung des komparativen Maßstabs mit der Rechtspraxis – soweit diese zutreffend ist990 – besteht mit Blick auf deren im Ergebnis formulierte „normative Einzelaussagen“991, also mit Blick auf konkrete Einzeldarstellungen der normativen Ordnungen an sich. Demgegenüber ungleichartig sind jedoch die Erklärungen der Ergebnisse, also die Methodologien des Induktivismus einerseits und der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen andererseits. Das Kongruenztheorem kann daher kurz so formuliert werden: Das Erklärte stimmt überein, obwohl sich die Erklärungen unterscheiden. Nun scheint das Kongruenztheorem allerdings zwei naheliegenden Einwänden ausgesetzt zu sein. Denn erstens weicht die deduktive Methodologie der komparativen Theoriebewertung fundamental ab vom klassischen Induktivismus.992 Erklärungsbedürftig ist demnach, weshalb ungleichartige Erklärungen zuverlässig übereinstimmende Ergebnisse rekonstruieren können. Zudem geht das methodische Selbstverständnis der ganz überwiegenden Rechtsanwendungspraxis – getragen vom Theorierahmen des Induktivismus993 – nicht nur davon aus, daß ihre Entscheidungen induktiv begründbar sind. Sie nimmt vor allem auch an, daß die Entscheidungen in der Praxis auch tatsächlich induktiv gefun989 990 991 992 993

Dazu oben sub. § 7 II. und III. 3. Allgemein zum Verhältnis von Methodologie und Praxis unten sub. § 11. „Interpretation im weiteren Sinne“; dazu oben sub. § 6 II. 5. Dazu oben sub. § 7 II. Ausführlich oben sub. § 7.

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den und erklärt werden. Etwas zugespitzt fragt dieser zweite Einwand also danach, inwiefern in Wahrheit anders entschieden werden kann, als subjektiv von den „Entscheidern“ wahrgenommen wird. Mit anderen Worten: Kann davon ausgegangen werden, daß alle subjektiven Überzeugungen vom induktiven Entscheiden gewissermaßen auf Selbsttäuschungen beruhen? Richtig ist, daß die implizierte „Selbsttäuschung der Praxis“ nicht mit der Tatsache widerlegt werden kann, daß die Ergebnisse konkreter Entscheidungen (normative Einzelaussagen) zweifellos der Terminologie des induktiven Theorierahmens entsprechen, denn das ist gerade Ausdruck der Selbsttäuschung und soll mit dem Kongruenztheorem gar nicht bestritten werden.994 Die Tatsache, daß induktivistische Erwägungen als Entscheidungsgründe benannt werden, bedeutet aber nicht zwangsläufig, daß die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen auch methodologisch ausschlaggebende Konzepte zur Entscheidungserklärung beisteuern kann. Denn übereinstimmende Ergebnisse können bekanntlich intuitionistisch gefunden werden (Heuristik) und gleichzeitig sowohl terminologisch vielgestaltig ausgedrückt als auch unterschiedlich gerechtfertigt werden (Methodologie).995 So sind alle diejenigen, die sich entweder mit Wissenschaftsgeschichte oder mit Fragen der Methodologie der Wissenschaft schon näher beschäftigt haben, mit dem recht häufigen Befund vertraut, daß Unterschiede feststellbar sind zwischen dem, was Akteure tatsächlich tun, und dem, von dem sie sagen, daß sie es tun.996 Eine genauere Untersuchung der induktivistischen Abgrenzungsdoktrinen zeigt, daß die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen zu keinem Zeitpunkt einen objektiven Maßstab der Praxis dargestellt hat, denn alle Abgrenzungskriterien können als nicht-nachprüfbar erkannt werden.997 Damit hängt unmittelbar zusammen, daß der induktive Maßstab die wichtigste Eigenschaft aller unprüfbaren Maßstäbe teilt: Kein Ergebnis kann jemals als falsch erwiesen werden (das entspricht der akzeptierten Selbstdiagnose des In994 Treffend Raz, The Yale Law Journal, Vol. 81, S. 823 (850) – „Some judges may themselves be captives of the myths they help to perpetuate. But the fact that they are misled should not mislead us. Occasional deviations from [. . .] good reasoning can be dismissed as mistakes, but when constant use is made of a pattern of argumentation completely devoid of logical validity it is time to distinguish between myth and rhetoric on the one hand and reality on the other. And the law should be understood to encompass reality, not rhetoric.“ 995 Zu diesem Phänomen Esser, Grundsatz und Norm, S. 335 – „Im allgemeinen hat die heutige [. . . Doktrin] solche Selbstherrlichkeit überwunden und sucht eifrig, ihre Prinzipien von der legislativen und judiziellen Praxis her zu kontrollieren. Der Abgrund zwischen Lehrformeln und Praktikerdenken wird von beiden Seiten her ständig aufgefüllt [. . .].“ 996 Nachdrücklich betont von Carnap, Logical Foundations of Probability, S. 37; zum methodologischen Induktivismus, dem sich Isaac Newton verpflichtet sah, siehe unten sub. Fn. 1002. 997 Dazu oben sub. § 7 III.

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duktivismus, der seine Entscheidungen – methodologisch durchaus zutreffend – stets als wertungsabhängig kennzeichnet).998 Daraus folgt weiter, daß kein induktives Argument irgendein konkretes Ergebnis erklärt, weil jedes andere Ergebnis induktiv genauso erklärbar wäre. Der Induktivismus liefert keine Erklärungen für Ergebnisse der Praxis, weil er nichts erklärt. Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen „paßt“ nur deshalb zu den konkreten Praxisergebnissen, weil sie mit allen Ergebnissen vereinbar ist. Natürlich stellt sich die Folgefrage, weshalb die Praxis gleichwohl zu richtigen normativen Einzelaussagen findet und nicht statt dessen – gewissermaßen mit statistischer Regelmäßigkeit – falsche, gegenteilige Entscheidungen produziert. Etwas anders formuliert mündet diese Frage in Pragmatismus: Der Induktivismus scheint nicht falsch sein zu können, solange er sich in der Praxis bewährt. Dieser falschen Idee muß erneut die methodologische Unhaltbarkeit aller induktiven Wahrscheinlichkeitsschlüsse entgegengehalten werden. Das „induktive Verfahren“ ist trotz seiner intuitiv hohen Plausibilität (die es seiner Nähe zur Epistemologie des Alltagsverstands verdankt) allgemein und in allen Einzelausprägungen ungültig. Dementsprechend bewährt sich die Induktion immer nur scheinbar. Der Aussagegehalt des Kongruenztheorems kann so gefaßt werden, daß sich bisher – trotz induktiver Terminologie – in Wahrheit der hier vorgestellte komparative Maßstab der Theorie der Rechtsgüterrelationen in der Praxis bewährt hat. Die bisherige Praxis wird also am besten anhand desjenigen Maßstabs erklärt, der seinerseits alle richtigen Entscheidungen objektiv erklären kann. Anders formuliert besagt das Kongruenztheorem somit, daß der methodologisch unhaltbare Induktivismus auch für die Praxis entbehrlich ist.999 Die lange vorherrschende Auffassung, wonach die einzige Variante zur Induktion in Relativismus einmünde, hat sich als unzutreffend erwiesen.1000 Zusammenfassung: Die methodologischen Konsequenzen des komparativen Maßstabs der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen liegen nicht darin, 998 Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 108 ff.; dazu jeweils im einzelnen oben sub. § 7 I. und III. 1. 999 Siehe auch Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Bem. 287): „Das Eichhörnchen schließt nicht durch Induktion, daß es im nächsten Winter Vorräte brauchen wird. Und ebensowenig brauchen wir ein Gesetz der Induktion, um unsre Handlungen oder Vorhersagen zu rechtfertigen.“ 1000 Noch nicht sehr alt sind jedoch prononcierte Äußerungen, die hier Unsicherheiten vermuten lassen, siehe nur Russel, History of Western Philosophy, S. 646 – „It is therefore important to discover whether there is any answer [to the problem of induction; K. S.]. If not, there is no intellectual difference between sanity and insanity. The lunatic who believes that he is a poached egg is to be condemned solely on the ground that he is in a minority, or rather – since we must not assume democracy – on the ground that the government does not agree with him. This is a desperate view, and it must be hoped that there is some way of escaping from it.“

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daß „neue Wahrheiten“ gesagt werden, sondern darin, die gewissermaßen „alte Wahrheit“ neu zu sagen. Dabei läßt die Kongruenz des Erklärten (Kongruenztheorem) unter anderem Raum für die Annahme, daß in der Praxis der Rechtsanwendung schon immer anhand der nachprüfbaren komparativen Konzeption entschieden wurde. Die von dieser methodologischen Deutungsmöglichkeit streng zu unterscheidende, psychologisierende Frage, inwiefern intuitiv anhand von Kriterien der deduktiven Theorie entschieden worden sein kann, ohne daß sich diese Theorie bereits klar im „Bewußtsein“1001 der Akteure aktualisiert hat, wird durch das Kongruenztheorem methodologisch entbehrlich. Wie Ergebnisse „gefunden“ werden, ist, wenn überhaupt, von erkenntnispsychologischem oder heuristischem Interesse.1002 Aus methodologischer Sicht alleine entscheidend ist das Problem, ob die gefundenen Ergebnisse (die normativen Einzelaussagen) relativ zu bestimmten normativen Ordnungen als wahr oder unwahr erklärt werden können.1003 3. Tu quoque-Einwand Leicht zu sehen ist, daß gegen die objektive Konzeption der komparativen Theoriebewertungen keiner derjenigen Einwände erhoben werden kann, die wir oben als Kritik an den Abgrenzungsdoktrinen der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen behandelt haben. Der komparative Referenzmaßstab der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen erfüllt mit seinen nachprüfbaren Abgrenzungserklärungen statt dessen das methodologische Desiderat objektiver 1001 Ferner wird die zunächst einfach klingende Frage nach der „bewußten Kenntnis“ bestimmter Regelmäßigkeiten bei näherer Betrachtung erheblich erschwert durch die kontinuierliche Graduierbarkeit des Bewußtseins. D. h., daß Regelmäßigkeiten sehr lange unbewußt geübt werden können, bis sie irgendwann – vielleicht durch zufällige Entdeckung – erstmalig sprachlich formuliert werden. Vor allem Hayek hat nachdrücklich die Wichtigkeit betont, die Möglichkeit unbewußter Regelbefolgungen nicht zu übersehen (etwa in: Recht, Gesetz und Freiheit, S. 45 ff.); diese Einsicht findet sich breits früher, so hob auch Montesquieu hervor: Die einzelnen Arten von Vernunftwesen können Gesetze haben, die von ihnen geschaffen wurden; aber sie haben auch welche, die sie nicht selbst gemacht haben (Vom Geist der Gesetze, Buch I. 1. Kap., S. 96). 1002 Interessant ist bspw. die historische Tatsache, daß Isaac Newton als Entdecker der Himmelsmechanik (Dynamik) in methodologischer Hinsicht ein überzeugter Induktivist war; er erklärte ausdrücklich, seine neue Theorie – sie deckt unter anderem die Planetenbewegungen im Sonnensystem ab – vollständig induktiv aus Beobachtungsdaten gewonnen zu haben. Wie Newton seine Theorie finden konnte, ist erkenntnis-psychologisch unklar. Logisch unmöglich ist jedenfalls, daß er sie induktiv hergeleitet hat; instruktiv zur wichtigen Rolle der Intuition in der „exakten Wissenschaft“ äußerte sich (methodologisch strikt anti-induktivistisch) auch Einstein, Relativitätstheorie, S. 82. 1003 Dazu oben sub. § 6 II. (insbesondere 5.).

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Entscheidungserklärbarkeit. Ganz unabhängig von der Gültigkeit unserer Kritik an der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen kann gegen die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen ein Einwand formuliert werden, der dem Gedankenkreis des Verifikationismus angehört. Vor diesem verifikationistischen Hintergrund scheint das Hauptproblem, das sich bei einer kritischen Untersuchung des komparativen Maßstabs ergibt, das folgende zu sein: Liefert die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen ihrerseits eine gültige Begründung dafür, daß ausgerechnet das Merkmal der Prognosebewährung zur Lösung des Abgrenzungsproblems herangezogen werden muß?

Verifikationistisch etwas anders gefaßt, könnte gefragt werden, inwiefern die behauptete Richtigkeit der deduktiven Begründung ihrerseits begründet werden kann. Somit scheint sich spätestens mit dieser Zuspitzung die Sidgwicksche Frage als Kritik des komparativen Maßstabs aufzudrängen: quis custodiet custodem?1004 Man kann diese Art der Kritik als sogenannten tu quoque-Einwand auffassen, wonach zwar der Maßstab der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen von einem bestimmten Standpunkt aus fehlerhaft ist, die Richtigkeit der deduktiven Theorie der Risikoentscheidungen aber ihrerseits nicht unabhängig von einem bestimmten Standpunkt bewiesen werden kann. Dieser Gedanke ist oftmals und in ganz unterschiedlichen – vorwiegend relativistischen – Einzelausprägungen vorgetragen worden innerhalb der Diskussion1005 um die sogenannte rationale Begründbarkeit des kritischen Rationalismus. Eine Aufklärung des tu quoque-Arguments ist wichtig, denn die auf den ersten Blick plausible Frage nach der „Begründbarkeit einer Begründung“ hängt sehr eng zusammen mit einem fundamentalen methodologischen Mißverständnis. Vorweg muß das Argument der fehlenden „zureichenden Begründbarkeit der Begründungen“ genau unterschieden werden von Kritiken oder Ersetzungen einzelner objektiver Kriterien des komparativen Maßstabs. Mögliche Kritik kann also darauf abzielen, die oben dargelegten objektiven Theoriemerkmale durch andere – ihrerseits ebenfalls objektive – Theoriemerkmale zu ersetzen. Kritik dieser Art wäre konstruktiv und weiterführend. Alle bislang bekanntgewordenen erkenntnistheoretischen Konzeptionen haben jedoch keine überzeugenderen objektiven Eigenschaftsvarianten aufdecken können, was der abstrakten Frage nach einer theoretischen Ersetzbarkeit der objektiven Kriterien einen gewissermaßen „mehr akademischen“ Charakter verleiht (um die Frage jedoch ausdrücklich zu beantworten: Komparativ bessere Konzepte wären methodologisch selbstverständlich vorzugswürdig).

1004

Dazu Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, S. 111. Dazu Albert, Wissenschaft, S. 12 ff.; vgl. etwa Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, S. 12, 19 Fn. 36. 1005

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Einflußreich in der Praxis ist vor allem die oben ausführlich behandelte Ersetzungsvariante der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen, deren bevorzugtes Theoriemerkmal „Prognosewahrscheinlichkeit“ sich aber als objektiv unprüfbares Scheinmerkmal erwiesen hat. Die induktivistische Kritik ist demnach kein konstruktiver Gegenentwurf. Das Merkmal der Prognosewahrscheinlichkeit kommt somit nicht als mögliche objektive Alternative im komparativen Theorievergleich in Betracht. Ganz allgemein hätte jede komparative Kritik an den oben dargelegten objektiven Theorieeigenschaften strukturell keine Gemeinsamkeiten mit dem tu quoque-Problem der „Begründbarkeit der Begründung“.1006 Demgegenüber schlägt der tu quoque-Einwand des fehlenden zureichenden Grundes – also der Einwand der fehlenden „Begründbarkeit der Begründung“ – gar keine anderen objektiven Theoriemerkmale vor. Er zielt statt dessen allein darauf ab, alle Kriterien abzulehnen, die nicht begründet sind.1007 Der tu quoque-Einwand übersieht dabei, daß wir die Methodologie nicht als empirische Disziplin auffassen, die sich einer Überprüfung durch Fakten zu unterziehen hätte, und daß Methodologie auch nicht als empirische Disziplin aufgefaßt werden kann.1008 Erkenntnistheoretisch ist der tu quoque-Einwand deswegen falsch, weil er von der Entbehrlichkeit methodologischer Festsetzungen ausgeht und dabei notwendig in eine naturalistische Methodenlehre verfällt.1009 Wir betrachten die methodologischen Regeln als Festsetzungen. Man könnte sie die Spielregeln des Spiels „Rechtsanwendung“ nennen. Sie unterscheiden sich von den Regeln der Logik in ähnlicher Weise wie etwa die Regeln des Schachspiels, die man ja auch nicht als einen Zweig der Logik zu betrachten pflegt: Da die Regeln der Logik Festsetzungen über die Umformung von Formeln sind, so könnte man zwar die Untersuchung der Regeln des Schachspiels vielleicht als „Logik des Schachspiels“ bezeichnen, nicht aber als „die Logik“ schlechthin; und ähnlich können wir die Regeln des Rechtsanwendungsspiels auch „Logik der Rechtsanwendung“ nennen.1010 1006 So führt eine Ersetzung einzelner objektiver Theoriemerkmale durch andere objektive Theoriemerkmale nicht zur Begründung der Begründung. 1007 Eine interessante Sichtweise auf „unbegründete“ Methodologien lieferte Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 385 ff. – „Im Grunde gibt es kaum einen Unterschied zwischen dem Vorgang, der zur Verkündung eines neuen wissenschaftlichen Gesetzes führt, und dem, der zum Erlaß eines neuen Gesetzes in der Gesellschaft führt: es werden entweder alle Bürger oder die unmittelbar Betroffenen unterrichtet, es werden ,Tatsachen‘ und Vorurteile gesammelt, es wird diskutiert und schließlich abgestimmt (a. a. O., S. 388).“ 1008 Allgemeiner Popper, Realismus, S. XX; ausführlich ders., Logik der Forschung, S. 23 ff.; dazu unten sub. § 11. 1009 Dazu Popper, Logik der Forschung, S. 23 ff.

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Methodologische Festsetzungen (und damit auch der komparative Maßstab der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen) werden nicht ihrerseits begründet, sondern sie können als Beschlüsse verstanden werden über die Art, wie bei der Rechtsanwendung verfahren werden muß, sofern man diese oder jene Ziele verfolgt.1011 Methodologische Vorgaben für Interpretationen (die Regeln des Rechtsanwendungsspiels) lassen sich immer nur durch die Ziele rechtfertigen, die mit den Interpretationen jeweils verfolgt werden.1012 Dementsprechend werden unsere methodologischen Festsetzungen nicht begründet (weshalb uns der tu quoque-Einwand auch nicht berührt), sondern damit erklärt („gerechtfertigt“), daß Abweichungen von unseren Festsetzungen die intersubjektive Nachprüfbarkeit der Rechtsanwendung vernichten. Das spezielle Rechtsanwendungsspiel, das nach intersubjektiv nachprüfbar erklärten normativen Einzelaussagen verlangt, ist dasjenige Spiel, das wir als rule of law and not of men bezeichnen.1013 Innerhalb dieses Rechtsanwendungsspiels ist das tu quoque-Argument, mehr oder minder, präkludiert: Natürlich können die methodologischen Festsetzungen des Rechtsanwendungsspiels „rule of law“ abgelehnt und mißachtet werden. Aber dann handelt es sich um ein anderes Spiel.1014 Das hier zugrunde gelegte objektive Erklärungsmodell der komparativen Theoriebewertung ermöglicht nachprüfbare Entscheidungsrekonstruktionen, ohne daß „zureichende Begründungen“ im traditionellen Sinne verfügbar sind. Es gewährleistet die Objektivität der Erklärungen, wenn „gesichertes Wissen“ (episte¯me¯) über die Wahrheit der Prämissen fehlt. Im deutlichen Gegensatz dazu entspringt der naiv-empiristische Wunsch nach „abgesichertem Wissen“, nach dem „Beweis der Wahrheit der Prämissen“ und damit zuletzt auch die Frage nach der „Begründung der Begründung“ einer methodologisch unvollständigen – sehr unkritischen – Problemwahrnehmung: Prämissen sind niemals vollständig beweisbar. Diese lange bekannte Einsicht in die 1010

Es wird angespielt auf Abschnitt 11 der „Logik der Forschung“ (a. a. O., S. 25). Allgemeiner Popper, Logik der Forschung, S. 22. 1012 Dazu oben § 6 II. 5. 1013 Dazu oben sub. § 6. 1014 Manchmal wird dieser Gedanke mißverstanden, indem geglaubt wird, es ginge um eine Definition des Begriffs der „rule of law“, aber das ist nicht richtig. Falls es also jemand bevorzugt, andere (oder sogar, wie Kelsen: alle) Rechtsanwendungsspiele als „rule of law“ zu bezeichnen, dann kann er das (selbstverständlich) tun. Es wäre für die hier vertretene Auffassung auch ganz unproblematisch, wenn er unsere speziellen methodologischen Festsetzungen, die wir als „rule of law“ bezeichnen, lieber als „Ideologie“ oder „Naturrechtsdenken“ bezeichnen wollte. Wir müßten dann lediglich klarstellen, daß wir eine „Ideologie“ bzw. ein „Naturrechtsdenken“ in seinem Sinne untersuchen. 1011

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Unmöglichkeit, die Wahrheit von Prämissen vollständig zu beweisen, wurde beispielsweise zur Grundlage des Skeptizismus Humescher Prägung; in der Unbeweisbarkeit der Wahrheit aller Prämissen liegt auch der entscheidende Ausgangspunkt und die hohe intuitive Überzeugungskraft des methodologisch unhaltbaren Induktivismus – dem Wunsch nach „Wahrscheinlichkeit von Prämissen“ als Substitution der unerreichbaren „Wahrheit von Prämissen“1015. Angesichts der logischen Unmöglichkeit, die Wahrheit von Prämissen vollständig zu beweisen („Begründungen zu begründen“), beschäftigen sich alle theoretischen Wissenschaftsdisziplinen konsequenterweise nicht mit irgendwelchen (vergeblichen) Versuchen, die Wahrheit ihrer Axiome zu beweisen. Ihr Vorgehen ist anders, mehr indirekt: Wissenschaften formulieren gehaltvolle Theorien, die sich durch hohe Prüfbarkeit1016 und möglichst umfängliches Erklärungsvermögen1017 auszeichnen. Die Frage nach „Begründungen für Begründungen“ ist somit nicht nur aus logischer Sicht müßig, sondern auch ganz und gar unwissenschaftlich, wie beispielsweise Albert Einstein anschaulich beschrieb: „Sobald eine Wissenschaft über das primitivste Stadium hinausgekommen ist, entstehen theoretische Fortschritte nicht mehr durch bloß ordnende Tätigkeit. Der Forscher entwickelt vielmehr [. . .] ein Gedankensystem, das logisch auf eine meist geringe Zahl von Grundannahmen, die sogenannten Axiome aufgebaut ist. Ein solches Gedankensystem nennen wir eine Theorie. Die Theorie schöpft ihre Daseinsberechtigung daraus, daß sie eine größere Zahl von [. . . Sätzen] verknüpft; hierin liegt ihre ,Wahrheit‘.“1018

Der tu quoque-Einwand geht danach im Hinblick auf methodologische Festsetzungen fehl. Er beruht auf einer Verkennung der Problemsituation, soweit er an beliebigen Maßstabsvorschlägen – den „Axiomen“ möglicher Rechtsanwendungsspiele – das Fehlen gültiger Letztbegründungen kritisieren möchte. Wir wollen aber sogleich zugeben, daß der tu quoque-Einwand auch Spuren des sprichwörtlichen „Körnchens Wahrheit“ enthält. Um genauer zu sein: Die Tatsache, daß Axiome nicht vollständig beweisbar sind (und noch nicht einmal wahrscheinlich sein können), bedeutet nicht, daß sie deshalb als „willkürlich“ im Sinne relativistischer Beliebigkeit verstanden werden müssen. Axiome (Theorien) können sich vielmehr in ganz unterschiedlicher Weise bewähren. Es gibt also ebenso „bessere“ und „schlechtere“ Theorien, wie es falsche Theorien gibt.

1015

Dazu oben sub. § 7 II., III. 3. Dazu oben sub. § 8 IV. 2. 1017 Dazu oben sub. § 8 IV. 3. 1018 Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, S. 82; ausführlicher zum Zusammenhang zwischen den Einzelerfahrungen der Erfahrungswissenschaften und Sätzen bzw. Tatsachen bereits oben sub. § 8 III. 3. 1016

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Der komparative Referenzmaßstab der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen bildet diesen wichtigen Aspekt des Theorievergleichs im Hinblick auf festgesetzte Ziele ab: So sind Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Axiomensystemen nicht beliebig im Hinblick auf das Anliegen des komparativen Maßstabs (also den Festsetzungen des speziellen Rechtsanwendungsspiels „rule of law“). Es ist dieses methodologische Anliegen, Beliebigkeit zu vermeiden, das übereinstimmt mit dem berechtigten Kern des tu quoque-Arguments. Allein die Frage nach der Beweisbarkeit der Axiome (die Frage nach der „Begründung der Begründung“) muß ersetzt werden durch den komparativen Theorievergleich. Der Verifikationismus wird also ausgewechselt durch die Idee der „Annäherung an die Wahrheit“, wie Karl Popper stets betont hat: „Der Glaube an die wissenschaftliche Gewißheit und an die Autorität der Wissenschaft ist bloßes Wunschdenken: Die Wissenschaft ist fehlbar, weil die Wissenschaft menschlich ist. Aber die Fehlbarkeit unseres Wissens – oder die These, daß all unser Wissen Vermutungswissen ist, von dem ein Teil aus Vermutungen besteht, die äußerst streng geprüft worden sind – darf nicht zur Unterstützung des Skeptizismus oder Relativismus angeführt werden. Aus der Tatsache, daß wir uns irren können, und daß es kein Wahrheitskriterium gibt, das uns vor Irrtum bewahren könnte, folgt eben nicht, daß die Wahl zwischen Theorien willkürlich oder nicht-rational ist; eben nicht, daß wir nicht lernen oder der Wahrheit näherkommen können; eben nicht, daß unser Wissen nicht wachsen kann.“1019

Resümee: Die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen beantwortet den tu quoque-Einwand deswegen nicht mit dem Nachweis der Wahrheit ihres Abgrenzungskriteriums, weil es für methodologische Festsetzungen (Maßstäbe) keine Wahrheitskriterien gibt. Ihre Entgegnung liegt vielmehr im Hinweis darauf, daß der Maßstab des komparativen Theorievergleichs eine Alternative zu allen relativistischen Positionen darstellt.1020 Ein konsequentes Verständnis der Funktion normativer Ordnungen als objektive Ordnungsideen – also das intersubjektiv nachprüfbare Rechtsanwendungsspiel der rule of law and not of men – ist unvereinbar mit einer gleichzeitigen relativistischen Ablehnung aller unbewiesenen Prämissen. Wer seine Aufgabe darin sieht, keine Prämissen zu akzeptieren, deren Wahrheit nicht logisch zwingend bewiesen ist, der verfährt also nicht als Teilnehmer des Rechtsanwendungsspiels in unserem Sinne, also als Teilnehmer eines Rechtsanwendungsspiels, das seine normativen Einzelaussagen intersubjektiv nachprüfbar erklärt.1021

1019 1020 1021

Popper, Offene Gesellschaft II, S. 467 (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu Albert, Kritische Vernunft, S. 222. Allgemeiner Popper, Logik der Forschung, S. 22.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

§ 9 Theorieverallgemeinerungen Das objektive Erklärungsvermögen einer Theorie hängt wesentlich ab von der Größe derjenigen Sachgebiete, auf die sie anwendbar ist. Vor allem wird es jedoch davon bestimmt, wie verschiedenartig die einzelnen mit Hilfe der Theorie erklärbaren Bereiche sind.1022 Die Prüfung erweiternder Anwendungsmöglichkeiten einer bestimmten theoretischen Annahme auf zusätzliche (und bestenfalls andersartige) Sachgebiete kann dabei verstanden werden als Versuch der weiteren Verallgemeinerung der jeweiligen Theorie. Falls solche Verallgemeinerungen gelingen, erhöhen sie das Erklärungsvermögen der verallgemeinerten Theorie. Wir wollen im folgenden einigen Verallgemeinerungsmöglichkeiten der im letzten Paragraphen bereits grob umrissenen Theorie der Rechtsgüterrelationen etwas genauer nachgehen. Dazu wird die Theorie zunächst axiomatisch zusammengefaßt.1023 Von diesen konjekturalen Grundannahmen1024 ausgehend kann das Standardproblem der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen umfassend erschlossen und, wie wir zeigen wollen, nachprüfbar gelöst werden. Gewissermaßen als Einstieg sollen dafür alle induktivistischen Theoriekategorien anhand der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen vollständig objektiv rekonstruiert werden.1025 Eine weitere – anschließend naheliegende – Verallgemeinerungsmöglichkeit besteht in der objektiven Erklärung des „normativen Gehalts des Vorsorgeprinzips“.1026 Oder, um genauer zu sein: Alle Vorsorgestrukturen1027 innerhalb normativer Ordnungen können objektiv einheitlich als allgemeine Strukturprinzipien der Rechtsgüterrelationen erklärt werden. Die so erreichbare objektive Rekonstruktion „des Vorsorgeprinzips“ als ein allgemeines Strukturprinzip der Rechtsgüterrelationen ermöglicht unter anderem die vollständige Darstellbarkeit aller Regulierungsmöglichkeiten, die normative Ordnungen im Hinblick auf „Risiken“ eröffnen. Anhand der verallgemeinerten deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen können also alle theoretisch möglichen Regulierungsvarianten abgebildet werden.1028

1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028

Ausführlich dazu oben sub. § 8 IV. 3. (Erklärungsvermögen). Dazu sogleich sub. § 9 I. Im Sinne der Terminologie Einsteins, dazu oben sub. § 8 V. 3. Dazu unten sub. § 9 II. Dazu unten sub. § 9 III. Dazu oben sub. § 3 III. Dazu unten sub. § 9 IV.

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

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I. Axiomatischer Aufbau Die Wahrheit wissenschaftlicher Theorien kann nicht bewiesen werden.1029 Dementsprechend werden auch deren Axiomensysteme wissenschaftlich nicht „letztbegründet“1030. Wie alle objektiven Interpretationen ist die Theorie der Rechtsgüterrelationen jedoch kritisierbar, das heißt, sie kann mit anderen objektiven Theorien verglichen werden. Dabei dient ein geeignetes Axiomensystem für die Theorie der Rechtsgüterrelationen ihrer verdichteten, möglichst unzweideutigen – und deshalb besser nachprüfbaren1031 – Theoriedarstellung. Mit Hilfe eines axiomatischen Aufbaus kann zwar nicht die Wahrheit einer Theorie und ihrer Theoreme durch Ableitung aus solchen Axiomen bewiesen werden, deren Wahrheit ihrerseits „sicher“, „selbst-evident“ oder auch nur „jenseits vernünftig begründbarer Zweifels“ wäre; daher beabsichtigt auch kein wissenschaftliches Axiomensystem möglichst hohe „Plausibilität“.1032 Aber ein axiomatischer Aufbau fördert immer die rationale Kritisierbarkeit einzelner theoretischer Annahmen und erleichtert damit den Theorievergleich. Die wohl wichtigste Grundannahme der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen liegt in der Vermutung, daß das einheitliche Sachgebiet der „Risikoentscheidungen im Recht“ in zwei ganz verschiedene Regulierungskonstellationen zerfällt. Um genauer zu sein: Auseinanderzuhalten sind zwei Konstellationen, deren normative Konsequenzen von völlig unterschiedlicher Art sind. Alle Sachverhaltskonstellationen in der Wirklichkeit betreffen entweder „quantifizierte Gefährlichkeit“1033 oder statt dessen etwas davon sehr Verschie-

1029 Ausführlich zur logischen Unmöglichkeit der Verifikation allgemeiner Sätze oben sub. § 8 III. 2. 1030 Dazu oben sub. § 8 V. 3. 1031 Zum Zusammenhang zwischen Klarheit und Nachprüfbarkeit oben sub. § 8 IV. 2. 1032 Wissenschaftshistorisch interessant ist vor allem das Schicksal der gegenteiligen Auffassung, wonach ideale Axiome „offensichtlich“ oder „selbstevident“ sein sollten. Das rationalistische Paradigma dieser Auffassung war 2000 Jahre lang das Axiomensystem der euklidschen Geometrie des Raumes mit Axiomen wie „Das Ganze ist größer als sein Teil“ und „Je zwei Punkte liegen auf einer geraden Linie“. Lediglich die Selbst-Evidenz – nicht die Wahrheit (!) – eines euklidschen Axioms, des sog. Parallelen-Axioms, wurde bezweifelt: „Wenn zwei gerade Linien durch eine dritte in der Weise gekreuzt werden, daß die inneren Winkel auf einer Seite kleiner sind als zwei rechte Winkel, dann werden sich die beiden treffen, wenn sie auf dieser Seite verlängert werden“. Seit Entdeckung der sog. nicht-euklidschen Geometrien durch Nikolai Iwanowitsch Lobadschefsky und János Bolyai ist jedoch bekannt, daß auch diese nicht-euklidschen Geometrien, in denen das Parallelen-Axiom nicht gilt, möglicherweise wahre Beschreibungen des Raumes sind. Eine ausführliche Darstellung der Ideengeschichte enthält Musgrave, Alltagswissen, S. 182, 228 ff. 1033 Dazu sogleich sub. § 9 I. 1.

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denes, das wir im folgenden als „nichtquantifizierte Gefährlichkeit“1034 bezeichnen wollen. Interessant ist, daß die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen innerhalb ihres Theorierahmens nicht zwischen den beiden fundamentalen Fallgruppen unterscheiden kann. Die damit zusammenhängende theoretische Unterkomplexität des gesamten induktivistischen Ansatzes wird zwar häufig wahrgenommen. Aber irrtümlicherweise deutet man dieses Theorieversagen meist als Eigenschaft der jeweiligen normativen Ordnung. Darin liegt wiederum eine der Haupteinbruchstellen subjektivistischer Positionen in die Interpretationstheorie.1035 Das heißt, die Beliebtheit monistischer Interpretationstheorien kann als Folge der idealistischen Verwechslung von individuell-persönlichem Unverständnis für einen bestimmten Gegenstand mit dessen objektiver Beschaffenheit aufgefaßt werden.1036 1. Quantifizierte Gefährlichkeit Alle „quantifiziert gefährlichen“ Sachverhaltskonstellationen zeichnen sich objektiv dadurch aus, daß ihnen durch bewährte1037 Prognosen zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen eindeutig zurechenbar sind. Um genauer zu sein: Quantifizierte Gefährlichkeit betrifft objektive Zurechnungszusammenhänge zwischen Sachverhalten und spezifischen Rechtsgütern in der Weise, daß bewährte Prognosen alle diejenigen zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten der quantifiziert gefährlichen Konstellationen ausschließen können, die das jeweilige – quantifiziert gefährdete – Rechtsgut unversehrt lassen würden (Verbotscharakter allgemeiner Sätze)1038. In quantifiziert gefährlichen Sachverhaltskonstellationen ist also anhand allgemeiner Sätze „eindeutig“1039 erklärbar, daß ein quantifiziert gefährdetes Rechtsgut nicht unbeeinträchtigt bleiben wird. 2. Nichtquantifizierte Gefährlichkeit Objektiv „nichtquantifiziert gefährlich“ sind alle empirischen Sachverhaltskonstellationen, denen bestimmte zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen weder zugerechnet noch nicht zugerechnet werden können. Für nichtquantifiziert gefährliche Sachverhaltskonstellationen können also deduktiv überhaupt keine vorzugswürdigen – also bestbewährten – Prognosen erstellt werden, die im Hinblick auf die Rechtsgüter der jeweiligen normativen Ordnung entweder alle 1034 1035 1036 1037 1038 1039

Dazu unten sub. § 9 I. 2. Dazu oben sub. § 1 I. Dazu schon oben sub. § 6 III. 4. Dazu oben sub. § 8 IV. und V. Dazu oben sub. § 8 III. 2. a). Zum theoretischen Erklärungsbestandteil von Gefahrurteilen oben sub. § 8 I. 3.

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schädigenden Entwicklungsmöglichkeiten oder umgekehrt alle nichtschädigenden Entwicklungsmöglichkeiten der jeweiligen Sachverhaltskonstellation ausschließen.1040 Das „Nichtquantifizierte“ der Gefährlichkeit besteht dementsprechend in der Zurechnung des Fehlens einer Prognose, also in der Zurechnung der Ungewißheit über zukünftige Entwicklungsperspektiven.1041 Das kann auch so formuliert werden: Die Rechtsgüter einer normativen Ordnung sind dann nichtquantifiziert gefährdet, wenn „gewiß“ ist, daß ihre zukünftige Unversehrtheit „ungewiß“ ist. Bei Lichte besehen liegen nichtquantifizierte Gefährdungen der Rechtsgüter einer normativen Ordnung häufig in denjenigen Sachverhaltskonstellationen vor, die – subjektivistisch – mit „Komplexitätszunahmen“1042 innerhalb „moderner Gesellschaften“ in Verbindung gebracht werden. Dieser, wenn man will: empirisch erfahrbare Zusammenhang ist jedoch unvollständig. Das Auftreten nichtquantifiziert gefährlicher Sachverhaltskonstellationen ist weder ein neues noch ein vermeidbares Phänomen. Anders ausgedrückt: Das Entstehen nichtquantifizierter Gefährdungen kann mit dem Wachstum des objektiven – insbesondere naturwissenschaftlichen – Wissens nicht korreliert werden.1043 Innerhalb des Modellansatzes der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen handelt es sich bei allen nichtquantifizierten Gefährlichkeiten um objektive Beurteilungen derjenigen Sachverhaltskonstellationen, die als „Risiken“ bezeichnet werden können. Natürlich hängt von dieser Begrifflichkeit nichts ab. Sie entspricht aber sehr häufig dem natürlichen Sprachgebrauch. Vor allem erlaubt sie die klare Abgrenzung der „riskanten“ Sachverhalte von den – ebenfalls objektiv erklärten – „gefährlichen“ Konstellationen.1044 3. Komparative Theoriebewertung Die objektive Unterscheidung zwischen quantifizierter und nichtquantifizierter Gefährlichkeit beruht innerhalb der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen auf dem Vorhandensein oder – umgekehrt – auf dem Fehlen „bestbewährter“ Prognosen im Einzelfall. Das objektive Merkmal der Bestbewährtheit ist dabei das nachprüfbare Ergebnis der komparativen Theoriebewertungen.1045 1040

Zur Prognose durch Negation ausführlich oben sub. § 8 III. 2. a). Zur Zurechnung des Fehlens einer Prognose siehe oben sub. § 8 II. 2. („Wanderer-Dilemma“ und „Längengrad-Problem“). 1042 Zum „Komplexitätsproblem“ des Induktivismus oben sub. § 7 III. 7. 1043 Die (pessimistische) Annahme, ein Wachstum des objektiven Wissens führe zu mehr nichtquantifizierten Gefährdungen ist also ebenso falsch wie die (optimistische) Vermutung, es führe zu einer Reduzierung solcher Gefährdungen. 1044 Zur deduktiven Umdeutung der induktiven Theoriekategorie „Risiko“ unten sub. § 9 II. 2. 1045 Dazu oben sub. § 8 IV., V. 1041

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Zur theoretischen Vertiefung dieses sehr wichtigen Kriteriums sollen nun abschließend wesentliche Unterschiede zwischen dem intersubjektiv nachprüfbaren deduktiven Bewährungsgrad einerseits sowie der unprüfbaren induktiven Prognosewahrscheinlichkeit1046 und dem Konzept der sogenannten empirischen Absicherung von Prognosen andererseits behandelt werden.1047 a) Bewährungsgrad und induktive Prognosewahrscheinlichkeit Bei der weithin bekannten Eigenschaft, die innerhalb des induktiven Theorierahmens als Prognosewahrscheinlichkeit bezeichnet wird, handelt es sich um ein nichtprüfbares (bzw. wie man auch sagen könnte: metaphysisches) Konzept. Im Gegensatz dazu stellt der komparative Bewährungsgrad der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen die intersubjektive Nachprüfbarkeit des Erklärten – also methodologische Objektivität und Wissenschaftlichkeit der rule of law – in jedem Fall sicher.1048 Der methodologische Unterschied folgt wesentlich daraus, daß Prognosebewährungen immer auf komparativen Theoriebewertungen beruhen.1049 Das Auswahlkonzept der Prognosebewährung sagt daher inhaltlich ausschließlich darüber etwas aus, ob für bestimmte empirische Sachverhaltskonstellationen – gegenwärtig1050 – bestimmte Einzelprognosen rational erklärbar bevorzugt werden können, oder ob umgekehrt – ebenfalls gegenwärtig – rational erklärbar davon ausgegangen werden muß, daß keine vorzugswürdige („bestbewährte“) Prognose verfügbar ist. Dabei erklären einzelne Bewährungsgrade von Theoriesystemen, die prognostische Zusammenhänge zwischen einer gegenwärtigen Sachverhaltskonstellation und einer zukünftigen Rechtsgüterbeeinträchtigung annehmen oder ausschließen, aus sich heraus nichts. Statt dessen erfordert der komparative Maßstab immer Vergleiche zwischen allen konkurrierenden Prognosen (beziehungsweise deren jeweiligen Theoriesystemen). Somit eignen sich absolute Bewährungsgrade immer nur als bloße Vorstufen für objektive Auswahlerklärungen. Das hängt damit zusammen, daß kein absoluter Bewährungsgrad existiert, der seinerseits methodologisch sicherstellt, daß eine entsprechend bewährte Prognose in jedem Fall zurechnungsrelevant ist.1051

1046

Dazu sogleich sub. § 9 I. 3. a). Dazu unten sub. § 9 I. 3. b). 1048 Ausführlich dazu oben sub. § 6 III. 1. (Objektivität). 1049 Vgl. dazu Albert, Wissenschaft, S. 11. 1050 Jede Auswahlerklärung steht unter dem Vorbehalt, daß nicht doch ein besseres Theoriesystem benannt werden kann, das im direkten Vergleich noch bewährter ist. 1051 Vgl. Albert, Wissenschaft, S. 11; dazu bereits oben sub. § 8 V.; anders etwa Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 495, der – in induktivistischer Weise – davon 1047

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In Hinblick auf komparative Maßstäbe ist die Frage nach „hinreichend hohen absoluten Werten“ immer falsch gestellt. Denn hinreichend hoch sind nur diejenigen relativen Bewährungsgrade, die höher sind als alle gleichzeitig konkurrierenden anderen Beträge.1052 Oder anders ausgedrückt: Selbst „sehr hohe“ Bewährungsgrade einer Theorie lassen stets offen, daß andere, noch bewährtere allgemeine Sätze die Ableitung gegenteiliger Prognosen ermöglichen.1053 Das bedeutet, daß auch „sehr hohe“ Bewährungsgrade nicht notwendig komparativ vorzugswürdig sind. Theoriebewährung als komparative Theoriebewertung bildet also keine absoluten Qualitäten einzelner Theorien auf bestimmte Skalen ab. Anhand des Konzepts der Theoriebewährung wird aber die relative Bevorzugung einzelner Prognosen gegenüber konkurrierenden anderen Prognosen rational erklärbar – als komparative Vorzugswürdigkeit. Die Vorzugswürdigkeit einer einzelnen Theorie ist damit gewissermaßen mehr eine Eigenschaft der Situation, in der die Vorzugswürdigkeit objektiv vorliegt, als eine Eigenschaft der bevorzugten Theorie an sich (situativer Erklärungsansatz). Ganz anders aufgestellt als der situative Erklärungsansatz der komparativen Theoriebewertung ist das Modell der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidung. Es glaubt, allen Einzelprognosen absolute Wahrheits- bzw. Wahrscheinlichkeitswerte auf einer einzigen Skala zuschreiben zu können.1054 Das induktiausgeht, epistemische Beurteilungsspielräume nutzen und Unsicherheiten gewichten zu können. 1052 Die Frage: „Wie bewährt muß eine Gefahrprognose sein?“ wäre deshalb verfehlt. Um die volle Tragweite des Problems zu verdeutlichen, könnte die Problemstellung des komparativen Maßstabs auf folgendes Spiel übertragen werden: Von zwei Teilnehmern (A und B) gewinnt derjenige, der heimlich (!) die höhere Zahl auf einen Zettel notiert. In dieser Spiel-Konstellation entspricht die Frage nach der Höhe der für A erforderlichen Zahl, um das Spiel gegen B zu gewinnen, dem erforderlichen Bewährungsgrad einer bestimmten Theorie, um als Theorie zurechnungsrelevant zu sein. 1053 Wissenschaftshistorisch illustriert vor allem die Ablösung der Newtonschen Himmelsmechanik durch die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins die Fruchtlosigkeit jeder Spekulation über absolute Bewährungswerte von Theorien. Wohl alle zeitgenössischen Physiker – bis hin zu Jules Henri Poincaré (1854–1912) – hielten Newtons seinerzeit extrem bewährte Theorie für wahr und unanfechtbar. Kant glaubte sogar, ihre a priorische Wahrheit in seinen „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften“ von 1786 bewiesen zu haben (in: Schriften zur Naturphilosophie). Überwältigenden Eindruck machte die Theorie Newtons auch auf J. S. Mill (A System of Logic, Book III, Chapter 12, § 5). Falls also eine wissenschaftliche Theorie jemals wirklich „extrem bewährt“ gewesen ist, so war es diese Newtonsche Himmelsmechanik. Selbst diese Theorie wurde jedoch durch Falsifikation überwunden. 1054 Der Unterschied zum komparativen Maßstab wird jedoch manchmal insofern mißverstanden, als die Bewährungsgrade als „Grade der Falsifizierung“ angesehen werden, die – entsprechend der induktiven Prognosewahrscheinlichkeit – doch wiederum eine absolute Skalierung zu ermöglichen scheinen; unzutreffend deshalb Chalmers, Wissenschaftstheorie, S. 74; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 141; vgl. dazu auch oben Fn. 876.

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vistische Modell nimmt außerdem an, zurechnungsrelevante Prognosen daran erkennen zu können, daß konkrete Prognosewahrscheinlichkeiten spezifische Grenzwerte1055 einer hypothetischen Wahrscheinlichkeitsskala überschreiten. Der methodologische Unterschied zwischen (induktiv) „absoluten“ und (deduktiv) „situativ-komparativen“ Maßstäben hat sehr weitreichende Konsequenzen.1056 So steht beispielsweise die verbreitete Redeweise vom sogenannten „Grad des rationalen Fürwahrhaltens“1057 einer Prognose in enger Nähe zum induktivistischen Glauben an absolute Wahrscheinlichkeitswerte. Dieser Ausdruck muß als folgenschwere Begriffsverwirrung aufgefaßt werden. Denn in Wahrheit ist stets der „Grad der Rationalität des Fürwahrhaltens“ gemeint.1058 Eine Ursache dieser fundamentalen Verwechslung liegt in der subjektiven Deutung der Prognosewahrscheinlichkeit als Maß der Stärke bzw. der „Intensität“ eines bestimmten subjektiven Fürwahrhaltens.1059 Subjektive Überzeugtheit hängt jedoch immer von persönlicher Intuition ab.1060 Die daraus resultierende objektivitätszerstörende Unprüfbarkeit subjektiver Gewißheit formulierte Kant sehr klar: „Der pragmatische Glaube [hat] nur einen Grad, der nach Verschiedenheit des Interesses, das dabei im Spiel ist, groß oder auch klein sein kann.“1061 Um alle unprüfbaren intuitionistischen Gehalte dieser subjektivistischen Deutung der Wahrscheinlichkeit vollständig zu verdrängen, muß „Wahrscheinlichkeit einer Prognose“ gedeutet werden als Grad eines Dafürhaltens, sofern dieses rational zu rechtfertigen ist.1062 Nun ergibt sich allerdings eine solche „Rechtfertigung des Fürwahrhaltens“ nur aus dem komparativen Bewährungsgrad einer Theorie, nicht aber aus induktiven Prognosewahrscheinlichkeiten.1063 Der „rechtfertigende“ objektive Bewährungsgrad ist seinerseits von allen subjektiv-intuitionistischen Evidenzerlebnis1055 Bspw. die Grenzwerte der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“ sowie die Vorstellbarkeit der „praktischen Vernunft“; dazu ausführlich oben sub. § 7 I. 1056 Die Unterschiede werden oft verkannt, etwa bei Stokes, Popper, S. 30 – „It is difficult to deny that corroboration [d. h. Bewährung; K. S.] involves a trace of induction, in which one accepts a statement as confirmed because of the number of severe tests that it has survived in the past.“ 1057 Dazu Carnap, Logical Foundations of Probability, S. 554 f. 1058 Popper, Logik der Forschung, S. 359 – „degree of rational belief“. 1059 Die oft als modern angesehene subjektive („personalistische“) Deutung der Wahrscheinlichkeit als Wette über den Ausgang (vgl. etwa Knapp, Logik der Prognose, S. 33) wird schon von Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 852 f., erwogen und als ungeeignet erkannt. 1060 Popper, Logik der Forschung, S. 360; zum Intuitionismus vgl. oben sub. § 6 II. 5. 1061 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 853. 1062 Popper, Logik der Forschung, S. 360. 1063 Zur Unmöglichkeit induktiver Wahrscheinlichkeitsschlüsse oben sub. § 7 III. 3.

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sen vollständig abgekoppelt.1064 Deshalb kann der Begriff vom „Grad des Fürwahrhaltens“ (subjektivistische Interpretation des Wahrscheinlichkeitskalküls) durch den Begriff der „Rationalität des Fürwahrhaltens“ ersetzt werden (objektive Methodologie).1065 Rein terminologisch besteht hier natürlich – wie auch bei allen sonstigen definitorischen Fragen – kein grundsätzliches Hindernis, die im Einzelfall zurechnungsrelevante Theorie mit dem höchsten Bewährungsgrad kurz als die „wahrscheinlichste“ Theorie zu bezeichnen.1066 Allerdings scheint diese Terminologie nachhaltig dazu beigetragen zu haben, das Problem zu verwirren und seine mögliche Lösung zu erschweren.1067 Denn die bisherigen Bemühungen der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen belegen deutlich, daß ihre Begrifflichkeit in die Irre führt. So sind alle induktiven Wahrscheinlichkeitspositionen unzutreffend, sofern sie bedeuten sollen, daß zwischen wahr und falsch eine irgendwie geartete „Wahrscheinlichkeit“ mit objektivem Geltungswert existiert.1068 Die alltagssprachlich offenbar klare1069 Begrifflichkeit der „Prognosewahrscheinlichkeit“ legt jedoch augenfällig zwei assoziative Schlußfolgerungen nahe und sollte vermieden werden, weil beide Folgerungen unrichtig sind. Einerseits verleitet der Begriff der Prognosewahrscheinlichkeit zu der irrtümlichen Annahme, Wahrscheinlichkeitsaussagen seien bereits aus sich heraus einer Beurteilung zugänglich. Das hängt damit zusammen, daß der Wahrscheinlichkeitskalkül dadurch einen Maßstab enthält, daß sich seine Angaben im Wertebereich zwischen 0 und 1 bewegen. Damit kommt jedem konkreten Wahrscheinlichkeitswert eine absolute Bedeutung zu und jeder Wahrscheinlich-

1064

Zur Wertungsfreiheit des komparativen Maßstabs vgl. oben sub. § 8 V. 1. Popper, Logik der Forschung, S. 361. 1066 Interessant ist dabei freilich der klare – und kontraintuitive – Befund, daß alle sehr gut bewährten naturwissenschaftlichen Gesetze (etwa die Naturgesetze der Physik und Chemie) Wahrscheinlichkeiten aufweisen, die beliebig nahe dem Wert Null bestimmt werden können (dazu oben sub. § 7 III. 3.; Carnap, Logical Foundations of Probability, S. 571 [12]), wohingegen allen reinen Existenzsätzen (singulären Es-gibtSätzen) – ebenfalls kontraintuitiv – maximale Wahrscheinlichkeiten zukommen. Popper bildete das instruktive Beispiel eines „vermutlich falschen, aber maximal wahrscheinlichen, nicht-empirischen Satzes“ (Vermutungen, S. 363): „Es existiert eine endliche Folge lateinischer Distichen, die, wenn man sie feierlich ausspricht, und zwar zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, die Erscheinung des Teufels zur Folge hat – d. h., die Erscheinung eines menschenähnlichen Wesens mit zwei kleinen Hörnern und einem Pferdefuß.“ 1067 Bloße Umbenennungen in der Begrifflichkeit helfen (wie immer) nicht über objektiv existierende Probleme hinweg. 1068 Vgl. ausführlicher Popper, Erkenntnistheorie, S. 324. 1069 „Klar“ bedeutet hier alltagssprachliche Klarheit, die sich auf theoretische Überlegungen auswirkt. 1065

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keitswert kann somit aus sich heraus interpretiert werden (so ist 0,1 eher unwahrscheinlich und 0,9 eher wahrscheinlich).1070 Andererseits führt die terminologische Verwendung des Wahrscheinlichkeitskalküls in den Händen vieler Rechtsanwender sehr zuverlässig zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.1071 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann aber methodologisch nicht mit dem Auswahlproblem zwischen konkurrierenden Prognosen verknüpft werden.1072 Denn die Vergrößerung des relativen Bewährungsgradunterschieds zwischen der bestbewährten Theorie und den konkurrierenden anderen Theorien ist für Prognoseauswahlerklärungen irrelevant. Vom relativen Bewährungsgradvorsprung einer Theorie hängt methodologisch ausschließlich ab, „ob“ die Theorie den konkurrierenden anderen (d. h. mit ihr unvereinbaren) Theorien rational vorgezogen werden kann.1073 Sofern also der Bewährungsgradvorsprung der besten Theorie gegenüber den konkurrierenden Theorien weiter anwächst1074, wirkt sich das nicht auf die rationale Vorzugswürdigkeit („Grad der Rationalität des Fürwahrhaltens“) der bereits zuvor vorzugswürdigen Prognose aus.1075 Denn graduelle Abstufungen hinsichtlich der Frage des „ob“ einer Vorzugswürdigkeit sind unmöglich; eine Prognose ist entweder vorzugswürdig oder sie ist es nicht. Die Nicht-Abstufbarkeit des „ob“ einer Prognosebevorzugung darf nicht verwechselt werden mit der – sehr wohl möglichen – „stufenlosen“ Nachteiligkeit von normativen Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen. Denn während es sich bei der abstufbaren Nachteiligkeit einer Entscheidung um die Folge unterschiedlich gewichteter Rechtsgüter innerhalb einer normativen Ord-

1070 Siehe nur Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 67 – „Der Eintritt des Schadens kann gewiß, wahrscheinlich, möglich oder nur nicht ausgeschlossen sein.“ 1071 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 442; Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 28 – „Je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto größer muß die Gewißheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein.“; Alexy bezeichnet dies prinzipientheoretisch als epistemisches Abwägungsgesetz. Der so präzisierte Gedanke liegt – freilich unscharf – wohl schon den früher häufig anzutreffenden sog. Je-desto-Formeln zugrunde (in diesem Sinne auch Alexy, a. a. O., S. 19). Dagegen ist Bewährung als Konzept des komparativen Theorievergleichs mit allen gleitenden Übergängen unvereinbar. 1072 A. A. Alexy (Fn. 1071), der dazu ausdrücklich sein epistemisches Abwägungsgesetz annimmt. 1073 Ausführlich dargestellt wurde schon die (Gefahr-)Modalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose, in der nicht zwischen zwei konkurrierenden Theorien unterschieden werden kann; siehe dazu oben sub. § 8 II. 2. 1074 Das kann dadurch geschehen, daß konkurrierende Theorien falsifiziert werden (dazu § 8 IV. 1.) oder dadurch, daß die bestbewährte Theorie weiter verallgemeinert (dazu § 8 IV. 2., 3.) oder erfolglos widerlegt wird (dazu § 8 IV. 4.). 1075 Denn die Information, daß eine bestimmte Theorie bewährter ist als eine konkurrierende andere Theorie, erlaubt lediglich die Unterscheidung rechtlich relevanter Prognosen von rechtlich irrelevanten Prognosen.

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nung handelt,1076 ergibt sich die Nicht-Abstufbarkeit des „ob“ der Prognoseauswahl aus der methodologischen Struktur der Zurechnungsmodalitäten.1077 Die zunehmende „Nachteiligkeit“ einer Entscheidung erhöht die Rechtfertigungslast dafür,1078 daß nicht anders entschieden wird. Demgegenüber entscheidet das „ob“ einer Prognoseauswahl – also der Bewährungsgrad einer Theorie – lediglich darüber, welche Rechtsgüter überhaupt zur Rechtfertigung einer Entscheidung methodologisch herangezogen werden dürfen. Dementsprechend nimmt die „Nachteiligkeit“ einer Entscheidung nicht dadurch zu, daß die bislang bekannten Zurechnungszusammenhänge zwischen einem Sachverhalt und einer zukünftigen Rechtsgüterbeeinträchtigung auf noch besser bewährte Theorien gestützt werden können. „Nachteiliger“ werden Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen nur durch Zurechnung zusätzlicher zukünftiger Beeinträchtigungen weiterer Rechtsgüter.1079 Daraus ergibt sich – wiederum1080 – die wichtige Konsequenz, daß die absolute Höhe des Bewährungsgrads einer Theorie eine bloße Vorstufe zur Erklärung von Entscheidungen darstellen kann. Methodologisch entscheidend ist stets 1076 Ausführlich zum „Gewicht“ eines Rechtsguts innerhalb normativer Ordnungen unten sub. § 9 IV. 2. und § 10 I., III., IV., VI. und VII. 1077 Um dies zu illustrieren, können folgende Beispiele unterschieden werden. (1) Von einer „mysteriösen Substanz“ gehe für Menschen eine Lebensgefahr aus, die offensichtlich (Theorie1) mit dem Verzehr der Substanz zusammenhängt. Dieser nachteilige Verzehr wird nicht dadurch nachteiliger, daß der diffus erkannte Wirkungszusammenhang wissenschaftlich genauer erklärt wird, die Theorie1 also durch eine bessere Theorie2 abgelöst wird. (2) Nachteiliger wird die Bewertung des Sachverhalts nur dann, wenn neben der bekannten Gefährdung des Lebens weitere Rechtsgüter bedroht sind und diese weiteren Gefährdungen ebenfalls dem Verzehr der Substanz zugerechnet werden können (der Verzehr beeinträchtigt z. B. die Religionsfreiheit der Hersteller der Substanz oder ähnliches). 1078 Die Rechtmäßigkeit einer nachteiligen Entscheidung muß erklärt werden; die Rechtswidrigkeit einer nicht-nachteiligen Entscheidung ist ebenfalls erklärungsbedürftig; siehe dazu oben sub. § 8 I. 1. 1079 Das ergibt sich im Umkehrschluß aus folgender Überlegung. Sofern die bewährteste Theorie eine Beeinträchtigung des betroffenen Rechtsguts ausschließt, kann eine weniger bewährte Theorie gleichwohl eine Beeinträchtigung desselben Rechtsguts prognostizieren. Sofern diese Beeinträchtigung berücksichtigt werden soll, ergeben sich die folgenden beiden Möglichkeiten: Alle beeinträchtigenden Prognosen werden berücksichtigt, auch wenn sie wenig bewährt sind. Das würde zum oben aufgezeigten Komplexitätsproblem führen, da alles gefährlich wäre und ebenso das jeweilige Gegenteil. Oder die Auswahl der zusätzlich relevanten Prognosen wird dadurch eingeschränkt, daß nur diejenigen berücksichtigt werden, die einen annähernd gleichen Bewährungsgrad wie die beste Prognose aufweisen. Wenn das geschieht, handelt es sich jedoch um die Gefahrmodalität der Zurechnung-des-Fehlens-einer-Prognose. Wie oben (sub. § 8 II. 3.) ausgeführt gelten für diese beiden Kategorien das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten sowie die Exklusivitätsthese, insofern ist eine Verwendung des Verhältnismäßigkeitssatzes ausgeschlossen. 1080 Zu einer anderen Erklärung der methodologischen Irrelevanz „absoluter Bewährungsgrade“ oben sub. § 9 I. 3. a).

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

das Bestehen eines komparativen Bewährungsgradvorsprungs gegenüber allen konkurrierenden Theorien. Danach ergeben sich aus dem Fortschritt der Naturwissenschaften (genauer: aus dem Anwachsen des objektiven Wissens über die Wirklichkeit) folgende praktische Konsequenzen für die Beurteilung empirischer Sachverhaltskonstellationen: Keine wissenschaftliche Theorie kann jemals so bewährt sein, daß sie auch zukünftig mit Gewißheit zurechnungsrelevante Prognosen zur Verfügung stellt, denn stets kann es bessere – „wahrheitsnähere“ – Theorien geben. Ein weiteres Anwachsen des objektiven Wissens bleibt immer möglich und gleichzeitig führt kein zukünftiges Anwachsen endgültige Gewißheiten herbei. Diese Einsicht konnte zwar Allgemeingut werden (Gemeinspruch vom „Wissen als neuestem Stand unwiderlegten Irrtums“). Sowohl objektive Gewißheiten („Eindeutigkeiten“ von Sachverhaltskonstellationen) als auch objektive Ungewißheiten („Mehrdeutigkeiten“ von Sachverhaltskonstellationen) können dementsprechend immer nur als bloß vorläufige Ergebnisse komparativer Theoriebewertungen gedeutet werden. Weniger bekannt ist aber, daß kein Zusammenhang besteht zwischen anwachsendem objektiven Wissen und objektiver Ungewißheit, also der Anzahl derjenigen empirischen Sachverhaltskonstellationen, für die keine bestbewährte Einzelprognose zurechnungsrelevant ist.1081 Neue, besser bewährte Theorien können objektive Ungewißheiten beseitigen, indem es mit ihrer Hilfe irrational wird, an weniger bewährten Theorien festzuhalten, also an die weniger bewährte Theorie zu glauben und von ihrer Wahrheit überzeugt zu sein.1082 Ebenso kann neues objektives Wissen aber auch zur Falsifizierung bisher bewährter Theorien führen und objektive Ungewißheit dadurch verursachen, daß anschließend keine bewährten Theorien mehr verfügbar sind. Schließlich ruft auch die dritte Variante der möglichen Wirkungen wissenschaftlichen Fortschritts objektive Ungewißheit hervor, indem eine neue Theorie formuliert wird, die zwar ebenso bewährt ist, wie die bereits zuvor etablierte Standardtheorie1083, aber gleichzeitig zu anderen Prognosen führt als die Standardtheorie (mit dieser also unvereinbar ist).1084 Objektive Ungewißheit kann also sowohl eine Folge „echter Theoriekonkurrenz“ als auch die Folge eines „Theoriedefizits“ sein.

1081

Zur Zurechnung des Fehlens einer Prognose oben sub. § 8 II. 2. Zu den damit verbundenen Gefahren oben sub. § 4 IV. Dies zu bezweifeln, fasziniert jedoch seit Hume immer wieder, vgl. auch Di Fabio, Offener Diskurs, S. 200 – „[D]ie erkenntnistheoretische Paradoxie [ist], daß Wissensvermehrung zu weniger Gewißheit führt [. . .].“ 1083 Zum Begriff der Standardtheorie oben sub. § 8 V. (vor 1.). 1084 Zu praktischen Beispielen dieser Variante oben sub. § 8 V. (vor 1.). 1082

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Zusammenfassung: Die Bezeichnung „wahrscheinlich“ ist als Aussage über eine Theorie verwendbar, sofern damit nichts anderes gesagt werden soll, als daß objektive Bewertungen von Theorieerfolgen immer nur komparative Beurteilungen ihrer Bewährungen sind. Es hat sich aber als äußerst unzweckmäßig erwiesen, das Konzept der „Bewährung einer Theorie“ mit ihrer Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit gleichzusetzen. Diese Unzweckmäßigkeit hängt eng damit zusammen, daß der ganz eindeutige Sprachgebrauch diese Gleichsetzung ebenfalls vermeidet:1085 So kann über Theorien sehr wohl gesagt werden, daß sie sich „noch nicht bewährt“ haben.1086 Demgegenüber wäre jedoch die Einschätzung, daß eine Theorie „noch sehr wenig wahr“ oder sogar „noch falsch“ sei, ganz und gar unverständlich.1087 b) Bewährungsgrad und empirische Absicherung Ebenfalls innerhalb des induktiven Theorierahmens1088 versucht eine geringfügig modifizierte Variante zur Idee der Prognosewahrscheinlichkeit, die zurechnungsrelevanten Prognosen im Einzelfall anhand des Merkmals ihrer sogenannten „empirischen Absicherung“ zu ermitteln.1089 Der inhaltliche Gehalt dieser Rede vom „empirischen Absichern“ wird dabei allerdings methodologisch nicht sehr deutlich konturiert. Diese Unklarheit erschwert nicht nur eine Unterscheidung zwischen „empirischer Absicherung“ einerseits und induktiver Prognosewahrscheinlichkeit andererseits, sondern ebenso eine mögliche Kritik dieser Vorstellung. Denn die Art und Weise, in der Prognosen „empirisch abgesi1085 Das Argument besagt nicht, daß Wörter entgegen ihrer üblichen Verwendung unverwendbar sind (dazu schon oben sub. § 4 I.). Vielmehr wird lediglich der klarstellende Erklärungsaufwand unverhältnismäßig groß, falls tatsächlich so verfahren wird. 1086 Ein wissenschaftshistorisches Beispiel: Die Allgemeine Relativitätstheorie vor der Durchführung des „erfolglosen Widerlegungsversuchs“ (dazu oben sub. § 8 IV. 4. insbesondere Fn. 950) der „Lichtablenkung im Sonnengravitationsfeld“ durch Arthur Stanley Eddington und Andrew Crommelin am 29. Mai 1919; siehe dazu Einstein, Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, S. 84 ff. 1087 Vgl. Popper, Logik der Forschung, S. 221. 1088 Dazu oben sub. § 7 II. 1089 Der Grundgedanke der Idee einer „empirischen Absicherung“ findet sich im Kern bereits bei Aristoteles, z. B. Nikomachische Ethik 1098 a – „Man muß ja doch wohl zuerst die Rohform herausarbeiten und dann kommen die feineren Linienzüge. Dabei kann wohl jeder leicht das voranbringen und schärfer gliedern, was in der Grundform richtig dasteht. Auch ist die Zeit bei solchem Werk eine treffliche Erfinderin und Helferin – auch bei Kunst und Handwerk sind auf diese Weise Fortschritte zustande gekommen – denn das kann jeder: hinzufügen, was noch fehlt.“; zwar fehlen ausdrückliche Bezugnahmen auf Aristoteles, aber im Konzept der empirischen Absicherung kann neben der Idee der Induktion sowie der Vorstellung von „natürlicher Irrationalität“ gewissermaßen der dritte aristotelische Bestandteil der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen gesehen werden (vgl. dazu oben sub. § 7 III. 3. und 6.).

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chert“ werden sollen, wird auch an keiner anderen Stelle innerhalb der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen näher behandelt.1090 Zwei sehr alte Ideen, auf die sich das Konzept der „empirischen Absicherung“ offenbar gründet, sind gleichwohl erkennbar: – Erstens scheint gewissermaßen durch Zeitablauf, in Kombination mit zusätzlichen bestätigenden empirischen Beobachtungen eine qualitative Verbesserung von Prognosen in dem Sinne möglich zu sein, daß zukünftige Widerlegungen mit höherer Sicherheit ausgeschlossen werden können. Die erste Idee geht mit anderen Worten von der Möglichkeit einer Verfestigung des Wissens aus („Idee der Absicherung“).1091 – Zweitens betont das Konzept der „empirischen Absicherung“ erneut den – seit Francis Bacon bereits unzählige Male akzentuierten – Aspekt der „empirischen Grundlage“ von Prognosen. Um genauer zu sein: Es wird betont, daß zuverlässige Prognosen nur dann gebildet werden könnten, wenn von vorhandenen Daten auf zukünftige Daten geschlossen wird („Idee des Empirismus“).1092 Sofern es diese beiden Ideen sind, die hinter dem Konzept der „empirischen Absicherung“ stehen – dafür spricht die tiefe Verankerung der Vorstellung von 1090 Vgl. etwa die Auslassungen bei Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 77; Hain, Grundsätze, S. 201; prägnant C. F. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, S. 249 – „[J]ede vorhergesagte Größe [kann] empirisch nur in einem Wahrscheinlichkeitsspielraum, aber nicht mit Sicherheit verifiziert werden, wobei die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung sich dem Wert Eins nähern kann, wenn die Anzahl der geprüften Fälle unbegrenzt zunimmt“ (Hervorhebungen nicht im Original); eine Ausnahme stellt das ausführliche Konzept bei Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 27 ff. dar, der die „empirische Absicherung“ innerhalb seiner Prinzipientheorie durch ein „epistemisches Abwägungsgesetz“ abbilden möchte. 1091 Vgl. nur BVerfGE 49, 89, 143 – „Erfahrungswissen [. . ., das] sich zur Form des naturwissenschaftlichen Gesetzes verdichtet hat“; Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 28 – „Je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto größer muß die Gewißheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein.“; auch Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 170 f. – „Je mehr Ermittlungen er anstellt, je weiter er also die Diagnose treibt, desto sicherer und besser kann auch seine Prognose werden, ja idealerweise würde er seine Diagnose auf alle relevanten Einflußfaktoren erstrecken, um eine möglichst sichere Vorhersage treffen zu können.“; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, S. 58; ähnlich ferner Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 131; Hain, Grundsätze, S. 201 – „Je intensiver ein prinzipieller Leitgedanke [. . .] betroffen wird, desto höher sind die Anforderungen an Prognosen [. . .]“. 1092 Siehe zu diesem Aspekt (Schluß vom Besonderen auf Besonderes) oben Fn. 652 und 653; exemplarisch für die empirische Fundierung Möstl, Öffentliche Sicherheit, S. 171 (Fn. 72) – „[Der] charakteristische Zusammenhang von Diagnose und Prognose, der letztlich darin gründet, daß jede Prognoseaussage in lauter einzelne Diagnoseschritte zerlegt werden kann“; ebenso Darnstädt, Gefahrenabwehr, S. 93; deutlich auch Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 511 – „Experiment und Prognose gehören eng zusammen. Das Experiment kann die Prognose erleichtern [. . .]. Aber es bedarf der Zeit, kann also für unaufschiebbare Entscheidungen keine Hilfe leisten.“

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einer Verfestigung des Wissens in der Epistemologie des Alltagsverstandes –, ist die Vorstellung vom „empirischen Absichern“ ganz sicher unrichtig. Darüber hinaus widerspricht die Vorstellung von empirischen Absicherungen dem objektiven Konzept des deduktiven Bewährungsgrades in fundamentaler Weise. Die Unterschiede ergeben sich dabei wesentlich aus dem Folgenden. Ein Anwachsen deduktiver Bewährungsgrade führt niemals dazu, die Falsifizierung einer Theorie zukünftig unwahrscheinlicher werden zu lassen. Vielmehr liegt die (logische) Wahrscheinlichkeit aller unwiderlegten Theorien jetzt und in Zukunft immer beliebig nahe dem Wert Null.1093 Außerdem sind hohe Bewährungsgrade einer Theorie keineswegs von einer Vielzahl bestätigender Experimente abhängig, die durchgeführt wurden, nachdem die Theorie formuliert wurde, oder – wie Empiristen seit Francis Bacon glauben – um die Theorie aufzustellen.1094 Im Gegenteil: Jedem Experiment geht eine Theorie – mindestens in Form einer einfachen Hypothese – voraus. Neue Theorien mit sehr hohen Bewährungsgraden entstehen also nicht durch Experimente, sondern dadurch, daß für vorhandene, bislang unzusammenhängende empirische Erfahrungen gemeinsame Strukturprinzipien gefunden werden.1095 Damit verhält sich der Bewährungsgrad einer Theorie gerade nicht – wie der Verifikationismus zu Unrecht annimmt – proportional zur quantitativen Übereinstimmung zwischen Theorie und bekannten Versuchsergebnissen.1096 Vielmehr muß der Charakter des Experiments, aus dem „empirisch“ Steigerungen der Bewährungsgrade „abgeleitet“ werden sollen, methodologisch mitberücksichtigt werden.1097 Außerdem steht die Vorstellung von empirischen Absicherungen als solche in einem interessanten Spannungsverhältnis zum Induktionsprinzip, ein Konflikt besteht hier also gewissermaßen gegenüber dem eigenen Theorierahmen. Die Idee von empirischen Absicherungen führt die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen nämlich in ein Erklärungsdilemma, das sie nicht selbst zu lösen vermag. Dieses Thema ist allgemein als sogenannte „Paradoxie des empirischen Befundes“ oder auch als „Paradoxie der idealen Tatsachenfeststellung“ bekanntgeworden.1098 1093

Dazu oben sub. § 8 III. 2. insbesondere Fn. 755. Anders Ossenbühl, 25 Jahre BVerfG, S. 511, der eine „Zeit-Erfahrungs-Komponente“ betont. In diesem Sinne konzediert auch BVerfGE 37, 104 (118) dem Gesetzgeber eine „Zeit zur Sammlung von Erfahrungen“; dagegen geht BVerfGE 39, 1 (60) davon aus, daß auf Prognosen nie „sicher“ geschlossen werden könne und stellt dann fest – „Experimente sind bei dem hohen Wert des zu schützenden Rechtsguts nicht zulässig.“ 1095 Das gilt bspw. für die Maxwellschen Gleichungen sowie für die allgemeine Relativitätstheorie; siehe dazu auch oben sub. § 8 IV. 4. insbesondere Fn. 944. 1096 Zum Problem oben sub. § 8 IV. 3. 1097 Dazu oben sub. § 8 IV., V. 1098 Ausführlich dazu Popper, Logik der Forschung, S. 360 ff. 1094

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Das Paradoxon folgt innerhalb des induktiven Theorierahmens daraus, daß sich induktive Prognosewahrscheinlichkeiten bei einer bestimmten Klasse empirischer Sachverhaltskonstellationen immun erweisen gegenüber neuen „bestätigenden“ empirischen Befunden. Die Immunisierung kann verdeutlicht werden am Beispiel eines einfachen Spielwürfels und der konkreten Prognosefrage, ob beim nächsten Wurf mit einer ungeraden oder mit einer geraden Augenzahl gerechnet werden muß. Noch vor einem ersten Probewurf (Experiment) im Beispiel, also nicht „empirisch abgesichert“, könnte vorläufig eine induktive Prognosewahrscheinlichkeit für handelsübliche Würfel zugrunde gelegt werden. Das heißt, auszugehen wäre von einer Wahrscheinlichkeit p = 1/2 für das prognostizierte Ereignis „ungerade Augenzahl beim nächsten Wurf“. Selbstverständlich wäre diese vorläufige, noch nicht „empirisch abgesicherte“ Wahrscheinlichkeitsannahme für einen Induktivisten sehr problematisch: Die vorläufige Vermutung p = 1/2 wäre in induktivistischer Wahrnehmung mit erheblichen empirischen Unsicherheiten behaftet, denn der Würfel könnte etwa unerkannt manipuliert worden sein, was im Beispiel – mangels empirischer Erfahrungsdaten – bei der Erstellung der vorläufigen Prognose noch nicht berücksichtigt wird. Nachdem diese „empirisch unsichere“, vorläufige Voraus-Prognose erstellt worden ist, kann der Beispielswürfel experimentell umfangreichen Tests unterzogen werden, um empirisch zu überprüfen, ob er tatsächlich handelsüblich normal ist oder statt dessen manipuliert wurde. Falls dann nach einer großen Stichprobe (beispielsweise eine Million Probewürfe) 498.128 gerade und 501.872 ungerade Augenzahlen empirisch gezählt werden können, handelt es sich – statistisch betrachtet – um ein für handelsübliche Standardwürfel sehr achtbares Ergebnis. Anders ausgedrückt: Der Beispielswürfel wäre „vollkommen normal“. Vom induktiven Standpunkt aus müßte eine anschließend in Kenntnis der sehr großen Stichprobe erstellte zweite Prognose in irgendeiner Weise „empirisch abgesicherter“ sein als die erste, vorläufige Prognose, die vor Beginn der langen Versuchsreihe gewissermaßen ins Blaue hinein vermutet wurde. Der neue empirische Erfahrungshintergrund (die große experimentell gewonnene Stichprobe) kann jedoch innerhalb des induktiven Theorierahmens erstaunlicherweise nicht abgebildet werden: Vor dem ersten Probewurf war die Annahme der Ereigniswahrscheinlichkeit von p = 1/2 „empirisch unabgesichert“ und wäre unter anderem im Fall eines manipulierten Würfel unrichtig gewesen. Aber auch nach Durchführung der Experimente kann die Prognose einer ungeraden Augenzahl nicht anders als mit p = 1/2 angegeben werden.1099 1099 Ganz konsequent müßte letztlich sogar eine an die Stichprobe angepaßte Wahrscheinlichkeit vorgeschlagen werden (p = 498128/1000000 = 0,498128).

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Dieses Ergebnis irritiert vor dem Hintergrund der induktiven Grundidee, wonach gerade die Vielzahl gleichartig beobachteter Ereignisse induktive Wahrscheinlichkeitsschlüsse sowie „empirische Absicherungen“ rechtfertigen soll.1100 Die im Beispiel erkennbare Unbeachtlichkeit der großen Stichprobe ist mit dieser induktivistischen Annahme unvereinbar. Die Tatsache, daß die vermutliche Prognosewahrscheinlichkeit durch das experimentell angesammelte Erfahrungswissen von 1.000.000 Testwürfen überhaupt nicht berührt wird, beziehungsweise „empirisch abgesichert“ werden kann, muß deshalb innerhalb des induktiven Theorierahmens stark beunruhigen.1101 Die „Paradoxie der idealen Tatsachenfeststellung“ verschwindet freilich, sobald die Wahrscheinlichkeiten – wie beispielsweise im Konzept der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen – objektiv interpretiert werden.1102 Wir fassen zusammen: Die Grundidee der „empirischen Absicherung“ hat einen wahren Kern, soweit sie die Ungültigkeit des Induktionsschlusses offenlegt und sich nicht unmittelbar auf Prognosewahrscheinlichkeiten stützen möchte. Als „Präzisierung“ der Induktion kommt sie dabei allerdings nicht in Betracht, weil „empirische Absicherungen“ methodologisch ebensowenig existieren wie induktive Prognosewahrscheinlichkeiten. c) Auflösung des Komplexitätsproblems Das Komplexitätsproblem wurde oben zur gleichzeitigen Prüfung verschiedener Facetten der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen eingeführt.1103 Bei diesem Problem handelte es sich um eine theoretische Konstruktion, die – unter gleichzeitiger Ausnutzung verschiedener konzeptioneller Defizite des Induktivismus – alle empirisch möglichen Sachverhaltskonstellationen so reinterpretiert, daß innerhalb des induktiven Theorierahmens rationale Prognoseauswahlentscheidungen unmöglich werden („Universalgefährdungen“ und „Optionsparalysen“).1104 Die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen löst das Komplexitätsproblem vollständig, indem sie – auf der Grundlage komparativer Theoriebewertungen anhand objektiver Bewährungsgrade – alle methodologisch erforderlichen Abgrenzungen zwischen den gleichzeitig verfügbaren Prognosen gewährleistet.

1100 1101 1102 1103 1104

Ausführlich oben sub. § 7 II. Vgl. Popper, Logik der Forschung, S. 361. Dazu im einzelnen oben sub. § 8 III. 2. b). Vgl. dazu oben sub. § 7 III. 7. Vgl. zum Konzept der „rationalen Entscheidung“ oben sub. § 7 III. 7.

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Die unbegrenzten Komplexitätssteigerungen („Universalgefährdungen“ innerhalb des Komplexitätsproblems) können nur dadurch erzielt werden, daß im jeweiligen Erklärungszusammenhang auch vollständig unbewährte allgemeine Sätze methodologisch akzeptiert werden.1105 Die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen vermeidet die unbegrenzte Verwendung unbewährter allgemeiner Sätze (ad hoc-Erklärungen) mittels ihrer methodologischen Differenzierung zwischen Prognosen und Prophezeiungen.1106 Denn innerhalb des deduktiven Theorierahmens ist methodologisch in jedem Fall – also auch bei vermeintlich komplexen Wechselwirkungszusammenhängen – eine Mindestbewährung aller rechtlich relevanten Prognosen sichergestellt. Die Grundkonstruktion des Komplexitätsproblems verstößt somit gegen die methodologisch gebotene Mindestbewährung, indem sie für alle „komplexen Prognosen“ lediglich allgemeine Sätze mit minimalen Bewährungsgraden oder sogar ganz unbewährte Prognosen zur Verfügung stellen kann.1107 Die deduktive Theorie der Rechtsgüterrelationen erklärt die methodologische Irrelevanz aller „komplex“ rekonstruierten Sachverhaltskonstellationen und Prognosezusammenhänge. Sie gewährleistet damit in allen Einzelfällen „Komplexitätsreduktionen“1108 auf objektive Erklärungszusammenhänge. Nebenbei erklärt sie gleichzeitig den sehr wichtigen Grundsatz der Epistemologie des Alltagsverstandes: „Ad hoc-Erklärungen sollten möglichst vermieden werden.“ Die zutreffende intuitive Vorstellung, daß die in Form des Komplexitätsproblems dargestellten theoretischen Konsequenzen des induktiven Ansatzes unhaltbar sind, kann auch so formuliert werden: Das Komplexitätsproblem ist irrational, weil nicht jede Sachverhaltskonstellation gefährlich ist. Der Fehler liegt allerdings nicht in der Darstellung des Komplexitätsproblems, sondern in der induktiven Methodologie, die Darstellungen dieser Art nicht wirksam verhindern kann.

1105 Jede Begrenzung der Klasse zulässiger allgemeiner Sätze versperrt also den Weg hin zu beliebigen Komplexitätszunahmen. 1106 Dazu oben sub. § 8 III. 4. 1107 Zum Bewährungsgrad oben sub. § 8 IV., V. 1108 Das kann auch so ausgedrückt werden: Stufenlose und unbegrenzte Komplexitätssteigerungen – man darf alles behaupten – sind nur im Rahmen undisziplinierter Methodologien erreichbar (wie sie etwa wissenschaftstheoretisch prononciert von Paul Feyerabend als „anarchistische Erkenntnistheorie“ in „Against Method“ vertreten werden). Natürlich kann man derartige Methodologien vorschlagen. Ein schwerwiegendes Mißverständnis liegt aber in der weitergehenden Annahme, daß jede undisziplinierte („anarchistische“) Methodologie auch ihrerseits mit der gleichzeitigen Anwendbarkeit einer normativen Ordnung (rule of law) vereinbar wäre.

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II. Deduktive Umdeutung der induktiven Standardkategorien Der Verzicht auf die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen kann auch verstanden werden als ein Verzicht auf den kanonisierten Erklärungshintergrund ihrer Standardkategorien („Gefahr“, „Risiko“ und „Restrisiko“ in der induktivistischen Deutung1109). Wir verzichten damit aber keineswegs auf das induktiv Erklärte, sondern lediglich auf die induktive Erklärung. Die bekannten induktiven Standardkategorien lassen sich mühelos deduktiv umdeuten. Sie können also objektiv anhand der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen erklärt werden. Die Möglichkeit einer deduktiven Umdeutung hat unter anderem zur Folge, daß die Theorie der Rechtsgüterrelationen die bislang in der Praxis der Rechtsanwendung anerkannten Ergebnisse erklären kann. Nicht verwechselt werden darf die deduktive Umdeutung der induktiven Theoriekategorien („Umdeutung des Erklärten“) freilich mit einem Versuch, inhaltliche Übereinstimmungen zwischen dem deduktiven und dem induktiven Theoriehintergrund nachzuweisen („Umdeutung der Erklärung“). Eine Gleichartigkeit dieser beiden Theorierahmen kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen – im Gegensatz zur Theorie der Rechtsgüterrelationen – normative Einzelaussagen nicht objektiv erklären kann. Das Ziel der deduktiven Umdeutung liegt methodologisch ausschließlich darin, alle nichtprüfbaren normativen Einzelaussagen einheitlich objektiv1110 zu rekonstruieren. Anders ausgedrückt: Die bislang intuitiv-wertend gefundenen normativen Einzelaussagen, die oft für Entscheidungen „des Rechtsanwenders“ (Monismus) gehalten und in der Terminologie der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen ausgedrückt werden, sollen vollständig objektiv erklärt werden. Durch die deduktive Umdeutung kann außerdem die Anzahl theoretisch notwendiger Erklärungskategorien von drei auf zwei reduziert werden. Diese Reduktion verallgemeinert die Theorie der Rechtsgüterrelationen und vereinheitlicht die theoretischen Beschreibungen vormals zusammenhangloser Phänomene.1111 Sie führt darüber hinaus zur These der „Identität des Abgrenzungsproblems“. So ist die Problematik der Unterscheidung zwischen „Gefahr und Risiko“ identisch mit dem Abgrenzungsproblem zwischen „Risiko und Restrisiko“. Es gibt also nicht zwei unterschiedliche Kategoriegrenzen, sondern der Unterschied 1109 1110 1111

Dazu oben sub. § 7 I. Zur Wissenschaftlichkeit als Prüfbarkeit siehe oben sub. § 6 III. 1. Zum methodologischen Nutzen von Verallgemeinerungen oben sub. § 9.

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zwischen „Gefahr und Risiko“ stimmt überein mit dem Unterschied zwischen „Risiko und Restrisiko“. 1. Gefahr Der induktive Theoriehintergrund konzipiert seine Kategorie „Gefahr“ wesentlich mit Hilfe einer Proportionalitätsrelation, die oft kurz als „Je-desto-Formel“ bezeichnet wird. Danach verhält sich eine „Gefahr“ proportional sowohl zur „Eintrittswahrscheinlichkeit“ einer Rechtsgüterbeeinträchtigung als auch zu dem dabei erwarteten „Schadensausmaß“. Im einfachsten Fall entspricht eine Gefahr also der Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert mit dem Schadensausmaß.1112 Dieses leichtverständliche induktivistische Erklärungsmuster bricht zusammen, sobald aus methodologischen Gründen auf die unprüfbare Kategorie „Eintrittswahrscheinlichkeit“ (Prognosewahrscheinlichkeit) verzichtet werden muß. Deduktiv umgedeutet fällt das, was vor dem induktiven Erklärungshintergrund als Gefahr empfunden wird, in die Fallgruppe zurechnungsrelevanter, also bestbewährter Prognosen (Gefahrmodalität der Zurechnung durch Prognosen).1113 Mit anderen Worten kann also in allen Sachverhaltskonstellationen, die richtigerweise als gefährlich eingestuft worden sind, eine vorzugswürdige Prognose der Rechtsgüterbeeinträchtigung erstellt werden (diese Prognose ist vorzugswürdig, weil das dazugehörige Theoriesystem bestbewährt ist). Um genauer zu sein: In allen gefährlichen Sachverhaltskonstellationen negiert1114 eine methodologisch vorzugswürdige Prognose, daß eine spezifische Rechtsgüterbeeinträchtigung nicht eintritt. Denn bei Gefahr kann mit Hilfe der bestbewährten Prognose ausgeschlossen werden, daß die gefährliche Situation für ein bestimmtes Rechtsgut zukünftig „gut ausgehen“ wird.1115 Beispielsweise betrachtet die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen die empirische Sachverhaltskonstellation „Ein Haus brennt.“1116

1112

Dazu oben sub. § 7 I. Zur Gefahrmodalität der Zurechnung durch eine Prognose oben sub. § 8 II. 1. 1114 Ausführlich zur Interpretation als Negation sowie zu allgemeinen Sätzen als Verbots-Sätzen oben sub. § 6 III. und § 8 III. 2. 1115 Zum Verbotsgehalt aller Prognosen oben sub. § 8 III. 2. a) (methodologischer Hintergrund der sog. Prognoseungenauigkeit). 1116 Zur Darstellung von Sachverhalten als (Kombination) singuläre(r) Es-gibt-Sätze ausführlich oben sub. § 8 III. 3.; als singulärer Es-gibt-Satz könnte unser Beispiel wie folgt ausgedrückt werden: „Es gibt an der Stelle X zur Zeit Y ein Haus, das brennt.“ 1113

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unter anderem als Gefahr für das – hier einmal beispielhaft1117 zugrunde gelegte – Rechtsgut „Unversehrtheit des Eigentums“. Die induktivistische Begründung dieser Gefahr hängt zusammen mit der „hohen Wahrscheinlichkeit“ (Prognosewahrscheinlichkeit) dafür, daß die Bausubstanz von Häusern durch Brände beschädigt wird. Als Deduktionsgrundlage einer objektiven Erklärung könnte beispielsweise der folgende allgemeine Satz formuliert werden: „Es gibt keine Häuser, deren Bausubstanz nach einem Brand unversehrt ist.“1118

Diese – natürlich triviale1119 – „Häuserbrand-Theorie“ erlaubt in Verbindung mit der empirischen Sachverhaltskonstellation unseres Beispiels als passender Anfangsbedingung die Ableitung der bewährten Gefahrprognose: „Die Substanz des brennenden Hauses wird nicht unversehrt bleiben“.1120

2. Risiko Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidungen konturiert auch ihre Standardkategorie „Risiko“ nicht scharf. Induktivistisch „begrenzt“ sind Risiken lediglich durch die „Schwelle der praktischen Vernunft“ einerseits sowie die „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ einer Gefahr andererseits (oder man verwendet sonstige, funktional diesen Formeln entsprechende salvatorische Ausdrücke). Ausgehend vom induktiven Erklärungsansatz müssen daher beide Ränder der Risikokategorie „vom Rechtsanwender“ wertend konkretisiert werden (Monismus). Die damit verbundenen Schwierigkeiten – insbesondere die Einbruchstelle des Subjektivismus – wurden bereits eingehend dargelegt.1121 Von Interesse ist hier lediglich die induktivistische These von angeblichen Abgrenzungsschwierigkeiten „aus der Natur der Sache“, die essentialistisch aus dem Wesen des Risikos abgeleitet wird. Alle „natürlichen“ Abgrenzungsungenauigkeiten verschwinden, sofern die bislang richtigerweise als „Risiko“ eingestuften empirischen Sachverhaltskon-

1117 Zur wichtigen Frage, welche Rechtsgüter die konkreten Rechtsgüter einer bestimmten normativen Ordnung sind, ausführlich unten sub. § 10 I., III., IV., VI. und VII. 1118 Zur Äquivalenz von Allsätzen (Theorien) und der Negation singulärer Es-gibtSätze oben sub. § 8 III. 2. a). 1119 Zur Unentbehrlichkeit theoretischer Erklärungsbestandteile – auch dann, wenn diese trivial sind und alltagssprachlich ausgelassen werden können – oben sub. § 8 I. 2. 1120 Ausführlich zur Prognosendeduktion oben sub. § 8 III. 1. 1121 Ausführlich oben sub. § 7 III. 1.

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stellationen unter Verzicht auf die methodologisch unhaltbaren Induktionsschlüsse objektiv rekonstruiert werden. Diejenigen Sachverhaltskonstellationen, die schon bisher der Kategorie „Risiko“ zugeordnet worden sind, können objektiv erklärt werden, indem sie gleichgesetzt werden mit der zweiten Zurechnungskategorie der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen. Die induktive Standardkategorie „Risiko“ entspricht damit der deduktiven Gefahrmodalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose.1122 „Risikosachverhalte“ sind also Sachverhalte, deren zukünftige Entwicklungsperspektiven in Hinblick auf Rechtsgüterbeeinträchtigungen nicht anhand methodologisch vorzugswürdiger Prognosen dargestellt werden können. Das kann auch so formuliert werden: Für alle Sachverhaltskonstellationen, die objektiv als „Risiko“ einzustufen sind, liegen zwar möglicherweise allgemeine Sätze vor, die ausschließen, daß die jeweilige Konstellation für das jeweils gefährdete Rechtsgut „gut ausgeht“.1123 Gleichzeitig schließt dann aber eine ebenso bewährte Theorie aus, daß dieselbe Sachverhaltskonstellation für dasselbe Rechtsgut „nicht gut ausgeht“.1124 Aufgrund des Fehlens einer bestbewährten Prognose kann also in „Risikosachverhalten“ methodologisch keine der konkurrierenden, paarweise unvereinbaren Prognosen bevorzugt werden. Das heißt, daß keine einzelne Prognose einer Bewertung der jeweiligen Konstellation zugrunde gelegt werden kann. Das methodologische Charakteristikum aller Risiko-Konstellationen liegt in der objektiven Gewißheit der objektiven Ungewißheit einer zukünftigen Rechtsgüterbeeinträchtigung. Diese „Gewißheit der Ungewißheit“ folgt daraus, daß paarweise unvereinbare allgemeine Sätze als objektiv gleichermaßen bewährt erkannt werden.1125 Die Tatsache, daß zurechnungsrelevante Prognosen in allen Risiko-Konstellationen objektiv fehlen, erklärt auch die bekannte – innerhalb der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidung vielfach wahrgenommene – Schwierigkeit der Erstellung von Wahrscheinlichkeitsurteilen im Hinblick auf die jeweils potentiellen Schadensereignisse. So zeigt die objektive Risiko-Umdeutung, daß Prognosewahrscheinlichkeiten in allen Risikosachverhalten nicht „schwierig“ sind, sondern gar nicht erstellt werden können. Denn wie bereits oben ausführlich behandelt wurde,1126 ist jede Aussage über die Wahrscheinlichkeit einer prognostizierten Rechtsgüterbeeinträchtigung ihrerseits eine Prognose. Damit

1122

Dazu oben sub. § 8 II. 2. Zu dieser Umdeutung der Kategorie „Gefahr“ oben sub. § 9 II. 1. 1124 Zu dieser Umdeutung der Kategorie „Restrisiko“ unten sub. § 9 II. 3. 1125 Ausführlich zur Zurechnungsmodalität des Fehlens einer Prognose oben sub. § 8 II. 2. 1126 Dazu oben sub. § 8 II. 3. b). 1123

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folgt unmittelbar aus der deduktiven Konzeption der Risikokategorie (Zurechnung des Fehlens einer Prognose), daß Schadenseintrittswahrscheinlichkeiten (Prognosewahrscheinlichkeiten) nicht bekannt sein können, weil vorzugswürdige Prognosen insgesamt fehlen.1127 Zur Illustration des Gesagten eignet sich wiederum die Sachverhaltskonstellation des „Wanderer-Dilemmas“.1128 Der Wanderer wird darin mit der objektiv mehrdeutigen Anfangsbedingung der „unbekannten Weggabelung“ konfrontiert: „Ein Wanderer führt genug Trinkwasser für den kürzesten Weg mit sich und trifft auf eine ihm unbekannte Weggabelung.“1129

Die induktive Dogmatik der Risikoentscheidung kann nun, wenn „der Rechtswender“ im Einzelfall will, ein Risiko des Verdurstens damit erklären, daß „möglicherweise“ ein falscher Weg eingeschlagen wird, der verhindert, daß der Wanderer sein Ziel noch rechtzeitig erreicht. Dazu müßte allerdings noch näher begründet werden, weshalb weder bereits eine induktive „Gefahr“, noch lediglich ein induktives „Restrisiko“ vorliegt: Eine induktivistisch „hinreichende Prognosewahrscheinlichkeit“ (Gefahr) des Verdurstens liegt im Beispiel – wenn „der Rechtswender“ will – deshalb nicht vor, weil nicht „sicher“ davon auszugehen ist, daß überhaupt einer der beiden Wege zu lang ist; eine induktivistisch „lediglich hypothetische Lebensgefahr“ (Restrisiko), die „schlechterdings nicht vorstellbar“ ist und daher „jenseits der Grenzen der praktischen Vernunft“ liegt, kann nicht angenommen werden, weil das Risiko-Szenario – wenn „der Rechtsanwender“ will – bereits „hinreichend konkret“ ist. Dabei sind beide induktivistischen Begründungsbestandteile nicht objektiv. Sie könnten also – bei anderer Wertung durch „den Rechtsanwender“ – jederzeit auch anders ausfallen.1130 Eine mögliche objektive Rekonstruktion des Wanderer-Dilemmas liegt in der genannten Sachverhaltskonstellation als Anfangsbedingung in Verbindung mit folgenden drei allgemeinen Sätzen:

1127 Falls der Wahrscheinlichkeitskalkül in irgendeiner Form zur Anwendung gelangen soll, kann die induktive Kategorie Risiko nur dadurch gekennzeichnet werden, daß die befürchtete Schadenswahrscheinlichkeit einen Wahrscheinlichkeitswert aufweist. Wenn irgendein Wahrscheinlichkeitswert in dieser Konstellation ausgeschlossen werden kann, liegt zwingend kein Fall des Risikos mehr vor, denn auch der Ausschluß eines Wahrscheinlichkeitswertes erfordert stets eine Prognose, die, wenn sie objektiv gewählt werden kann, ihrerseits die Annahme der Kategorie Risiko ausschließt. 1128 Dazu oben sub. § 8 II. 2. 1129 Formaler formuliert: „Es gibt einen Wanderer am Ort X zur Zeit Y, der . . .“; siehe dazu oben Fn. 1116. 1130 Die induktive Theorie weist die Fragen ausdrücklich als wertende Konkretisierung aus; siehe dazu oben sub. § 7 III. 1.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

1. „Es gibt keine Möglichkeit, mittels des linken Weges rechtzeitig das Ziel zu erreichen.“ 2. „Es gibt keine Möglichkeit, mittels des rechten Weges rechtzeitig das Ziel zu erreichen.“ 3. „Keiner der beiden Wege ist zu lang, um das Ziel rechtzeitig erreichen zu können.“1131

Alle drei Theorien bewähren sich vor dem Hintergrund der empirischen Erfahrung des Wanderer-Dilemmas sowie dem sonstigen objektiven Hintergrundwissen in derselben Weise. Darüber hinaus sind sie paarweise unvereinbar. Damit ermöglichen sie für beide Wege jeweils sowohl die Prognose, daß die Konstellation für den Wanderer „gut ausgeht“ als auch die umgekehrte Prognose, daß dieselbe Situation für ihn „nicht gut ausgeht“. Auffällig ist, daß alle drei Theorien annähernd unbewährt sind, denn ihnen fehlt nahezu jegliches Erklärungsvermögen.1132 Es handelt sich also jeweils um „ad hoc-Spekulationen“. Infolgedessen kann in der Sachverhaltskonstellation des Wanderer-Dilemmas keine Prognose objektiv erklärbar bevorzugt werden. Im Hinblick auf ein zukünftiges Verdursten des Wanderers ist jedoch der objektive Befund des Fehlens einer Prognose nachprüfbar zurechenbar. Um zusammenzufassen: Die deduktive Gefahrmodalität der Zurechnung des Fehlens einer Prognose erklärt objektiv – das heißt: vollständig wertungsfrei – welche empirischen Sachverhaltskonstellationen bislang von der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidung in unprüfbarer Weise – genauer: unter Verwendung mehrfacher Wertungen „des Rechtsanwenders“ – als „Risiko“ klassifiziert werden.1133 3. Restrisiko Innerhalb der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen darf das sogenannte Restrisiko als dritte Grundkategorie angesehen werden. Diese Sachverhaltsklasse umfaßt alle empirischen Konstellationen, für die „hypothetische“ zukünftige Schadensszenarien nicht von vornherein ausgeschlossen werden können. Oder, um aus der induktiven Perspektive genauer zu sein: In diesem Sinne 1131 Zur Äquivalenz von Allsätzen (Theorien) und der Negation singulärer Es-gibtSätze oben sub. § 8 III. 2. a). 1132 Die Theorien im Wanderer-Dilemma entsprechen strukturell der bereits behandelten „Mehlsack-Theorie“; dazu und zur Bedeutung des Erklärungsvermögens im Rahmen des Bewährungsgrads oben sub. § 8 IV. 3. 1133 Die deduktive Umdeutung der induktiven Risikokategorie erlaubt zugleich eine entsprechende Erklärung der – ebenfalls induktivistischen – Kategorie der sog. „mittelbaren Rechtsgutsbeeinträchtigen bzw. -eingriffe“. „Mittelbare Rechtsgutseingriffe“ sind danach alle (Eingriffs)Entscheidungen, die sich für ein Risiko in diesem Sinne entscheiden. Umgekehrt können „unmittelbare Rechtsgutseingriffe“ aufgefaßt werden als Entscheidungen zugunsten einer Gefährdung des jeweiligen Rechtsguts.

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

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„hypothetische Schadensszenarien“ sind diejenigen „spekulativen“ Schadensverläufe, deren mögliche Realisierung – vom „Rechtsanwender“ gewertet – als „jenseits der Grenze der praktischen Vernunft“ liegend eingeschätzt wird (beziehungsweise „jenseits“ anderer, funktional dieser Formel entsprechenden, ebenfalls vom „Rechtsanwender“ gewerteten Grenzen). Auch die Klasse der „Restrisiken“ ist vor dem induktiven Theoriehintergrund nicht objektiv trennscharf darstellbar, sondern kann nur intuitiv anhand „wertender Konkretisierung“1134 durch „den Rechtsanwender“ von induktiven Risiken unterschieden werden.1135 Die Möglichkeit einer vollständig objektiven Rekonstruktion der induktiven Risikokategorie folgt wesentlich aus den bereits behandelten Ansätzen zur deduktiven Umdeutung der induktiven Kategorien „Gefahr“ und „Risiko“.1136 Innerhalb der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen kann die Kategorie „Restrisiko“ objektiv abgebildet werden auf die Menge derjenigen Sachverhaltskonstellationen, für die vorzugswürdige, also bestbewährte Prognosen erstellt werden können. Die induktivistisch – wertend – richtigerweise als „bloße Restrisiken“ eingeschätzten empirischen Sachverhaltskonstellationen sind also deduktiv – vollständig wertungsfrei – damit erklärbar, daß in den jeweiligen Sachverhaltskonstellationen zurechnungsrelevante (also bestbewährte) Prognosen die jeweiligen Rechtsgüterbeeinträchtigungen ausschließen. Deduktiv auf diese Weise rekonstruiert ist die Kategorie „Restrisiko“ zurechnungsmodal mit der Kategorie „Gefahr“ identisch. So liegen in beiden Fällen bestbewährte Einzelprognosen vor, die gegenüber allen anderen konkurrierenden Theorien methodologisch vorzugswürdig sind. Ein oberflächlicher Unterschied zwischen den beiden zurechnungsmodal identischen Kategorien „Gefahr“ und „Restrisiko“ ergibt sich lediglich daraus, daß die vorzugswürdigen Prognosen im Fall einer „Gefahr“ jeweils ausschließen, daß die Sachverhaltskonstellationen „gut ausgehen“, wohingegen die vorzugswürdigen Prognosen im Fall von „Restrisiko“-Konstellationen jeweils ausschließen, daß die Situation „nicht gut ausgeht“.1137 Zur näheren Veranschaulichung der etwas abstrakten Unterscheidung kann nochmals auf die „Häuserbrand“-Konstellation verwiesen werden.1138 Deren Anfangsbedingung „Ein Haus brennt.“1139

1134 1135 1136 1137 1138 1139

Vgl. dazu ausführlich oben sub. § 7 III. 1. und § 6 III. 2. Dazu oben sub. § 9 II. 2. Dazu oben sub. § 9 II. 1., 2. Zur Umdeutung der Kategorie Gefahr oben sub. § 9 II. 1. Dazu oben sub. § 9 II. 1. Siehe oben Fn. 1116.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

erklärte oben zusammen mit folgender trivialen, aber bestbewährten Häuserbrand-Theorie „Es gibt keine Häuser, deren Bausubstanz nach einem Brand unversehrt ist.“1140

eine „Gefahr“-Prognose in Hinblick auf das Rechtsgut „Unversehrtheit des Eigentums“. Demgegenüber kann ausgehend von der modifizierten Anfangsbedingung „Das Haus brennt nicht.“

in Verbindung mit dem ebenfalls trivialen und bestbewährten allgemeinen Satz „Es gibt keine nichtbrennenden Häuser, deren Substanz plötzlich versehrt ist.“

eine „Restrisiko“-Prognose für das Rechtsgut „Unversehrtheit des Eigentums“ erstellt werden.1141 Ergebnis: Objektiv rekonstruiert sind „Restrisiken“ denjenigen empirischen Sachverhalten zuzuordnen, für die bestbewährte Theorien Schädigungszusammenhänge zwischen der jeweiligen Konstellation sowie einer bestimmten zukünftigen Rechtsgüterbeeinträchtigung ausschließen.1142 Vereinfacht gesagt lehrt die „empirische Erfahrung“ – selbstverständlich in Form von Theorien1143 – im Fall „bloßer Restrisiken“, daß es keine Schädigungszusammenhänge zwischen der spezifischen Anfangsbedingung und potentiellen Rechtsgüterbeeinträchtigungen gibt. Ausdruck dieser Unmöglichkeit von Schädigungszusammenhängen sind immer bestbewährte allgemeine Sätze. Die Erwartung einer zukünftigen Rechtsgüterbeeinträchtigung ist in allen „Restrisiko“-Konstellationen insofern irrational, als dazu erstmalige Regelabweichungen von bestbewährten allgemeinen Sätzen prophezeit werden müssen. Weil Regelabweichungen nicht ihrerseits mit Hilfe von Regelmäßigkeiten er-

1140 Zur Äquivalenz von Allsätzen (Theorien) und der Negation singulärer Es-gibtSätzen oben sub. § 7 III. 5., insbesondere Fn. 548. 1141 Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die Gefahr für einen Menschen, sein Leben dadurch zu verlieren, daß er von der Erdoberfläche in den Weltraum fällt, ist ein „bloßes Restrisiko“, denn die (sehr bewährte) Standardtheorie der Gravitation besagt: „Es gibt keine Objekte, die ohne erhebliche Beschleunigung (Energiezufuhr) das Gravitationsfeld der Erde verlassen.“ 1142 Eine Konsequenz dieser deduktiven Umdeutung der Kategorie Restrisiko liegt darin, daß jegliche Form sog. „Schutzpflichten“ zur „Abwehr“ von Restrisiken ausgeschlossen wird: Restrisiken sind konzeptionell die sicherste Deutung, die in Hinblick auf einzelne Sachverhaltskonstellationen überhaupt möglich ist. Sie könnten also statt als Restrisiko auch als „sicher“ oder „ungefährlich“ bezeichnet werden. Die Bezeichnung ist letztlich irrelevant, entscheidend ist jedoch, daß das Erklärungsmodell in sich zusammenbricht, falls nicht nur Gefahren und Risiken, sondern auch Restrisiken „abgewehrt“ werden dürfen. Denn wenn die Abwehr von Restrisiken rechtfertigend herangezogen werden darf, gibt es nichts mehr, was nicht rechtfertigend wäre. 1143 Es wird darauf angespielt, daß Tatsachen als solche natürlich nichts „lehren“; siehe dazu oben sub. § 8 I. 2. (naturalistischer Fehlschluß).

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

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klärt werden können, sind vermutete Rechtsgüterbeeinträchtigungen im Fall von „Restrisiken“ methodologisch stets nicht-abgeleitete Prophezeiungen.1144 III. Vorsorgestrukturen als Rechtsgüterrelationen Alle Vorsorgestrukturen innerhalb normativer Ordnungen – und damit, wenn man will, die Normativität „des Vorsorgeprinzips“1145 – können anhand der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen nachprüfbar rekonstruiert werden.1146 Dabei muß die Rede von „normativen Vorsorgestrukturen“ als bloße Kurzformel verstanden werden, deren Gegenstand aber objektiv erklärt werden kann. Dieser Gegenstand zerfällt in zwei ungleiche, deutlich voneinander unterscheidbare Einzelbestandteile.1147 Um genauer zu sein: „Das Vorsorgeprinzip“ kann objektiv rekonstruiert werden als allgemeines Strukturprinzip der Rechtsgüter innerhalb normativer Ordnungen. Dessen Zweck ist formal darstellbar als Rechtsgüterschutz. Formal bedeutet, daß alle normativen Vorsorgestrukturen als allgemeine Strukturprinzipien wertneutral sind. Sie sind unabhängig von der jeweiligen Fassung der Rechtsgüter einer bestimmten normativen Ordnung.1148 Normative Ordnungen bestimmen aus sich heraus, welche Rechtsgüter geschützt werden. Jede normative Ordnung weist also ein jeweils charakteristisches „Rechtsgüterprofil“ auf.1149 Der Schutz dieser normativ konstituierten Rechtsgüter, genauer: das Verhältnis der jeweiligen Rechtsgüter zueinander – jede einzelne Rechtsgüterrelation – ist dabei jedoch immer gleich strukturiert. Kurz: „Rechtsgüterprofile“ sind variabel, und unterschiedliche normative Ordnungen unterscheiden sich in ihren jeweiligen Profilen. „Vorsorgestrukturen“ sind demgegenüber invariant. Alle normativen Ordnungen stimmen also in der allgemeinen Struktur ihrer Rechtsgüterrelationen überein. Die Stabilität dieser allgemeinen Struktur wird durch Veränderungen der „Rechtsgüterprofile“ nicht berührt. Die invarianten Vorsorgestrukturen können abgebildet werden auf die beiden unterschiedlichen Regulierungen „quantifizierter“ und „nichtquantifizierter“ Gefährlichkeit.1150 1144 Zur Unterscheidung zwischen „Prognosen“ und „Prophezeiungen“ vgl. oben sub. § 8 III. 4. 1145 Zum Begriff des „allgemeinen Vorsorgeprinzips“ unten sub. § 13 IV. 2. 1146 Dazu oben sub. § 8. 1147 Zu den beiden verschiedenen Bestandteilen normativer Vorsorgestrukturen unten sub. § 9 III. 1., 2., 3. 1148 Zur objektiven Erkennbarkeit der Rechtsgüter einer normativen Ordnung ausführlich unten sub. § 10 I., III., IV., VI. und VII. 1149 Zum „Rechtsgüter-Schema“ einer normativen Ordnung unten sub. § 10 III. 1150 Denn andere Gefahrmodalitäten sind theoretisch ausgeschlossen; dazu oben sub. § 8 II. 3. b) (Gesetz des ausgeschlossenen Dritten).

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Dieser Zweiteilung entsprechend erklärt – für quantifizierte Gefährdungen – ein Optimierungsgebot das erste Element jeder Vorsorgestruktur. Für nichtquantifizierte Gefährdungen ist dieses Optimierungsgebot fakultativ um einen atypischen Erlaubnissatz ergänzbar, man hat es also mit einem asymmetrischen Verhältnis der beiden Theorieelemente zu tun. Jede normative Vorsorgestruktur ist somit entweder durch ein Optimierungsgebot vollständig erklärbar oder durch ein Optimierungsgebot in Verbindung mit einem atypischen Erlaubnissatz. Daher können alle Vorsorgestrukturen („Risikoregulierungen“1151) durch entsprechend angepaßte Kombinationen dieser beiden Teilelemente rekonstruiert werden.1152 Aus induktiver Perspektive umfaßt die deduktive Deutung der normativen Vorsorgestrukturen also sowohl den Bereich der sogenannten „klassischen Gefahrenabwehr“ als auch das, was vor dem induktiven Theoriehintergrund üblicherweise als „Gefahrenvorsorge“ umschrieben wird. Das induktivistische „klassische Gefahrenabwehrrecht“ ist dann erklärbar als Spezialfall deduktiv rekonstruierter Vorsorgestrukturen. Das asymmetrische Verhältnis der beiden deduktiven Theorieelemente zueinander erklärt die isolierte Regulierbarkeit quantifizierter Gefährdungen (induktivistisch: die Existenz des „klassischen“ Gefahrenabwehrrechts).1153 Es erklärt umgekehrt auch die Unmöglichkeit isolierter Regulierungen ausschließlich nichtquantifizierter Gefährdungen (induktivistisch: Risikovorsorge).1154 Denn der Anlaß jeder Vermeidung nichtquantifizierter Gefährlichkeit ist deren potentielle quantifizierte Gefährlichkeit (objektive Gewißheit der objektiven Ungewißheit).1155 Das normative Vermeidungsinteresse hinsichtlich nichtquantifizierter Gefährlichkeit impliziert dabei stets ein normatives Vermeidungsinteresse hinsichtlich quantifizierter Gefährlichkeit. Umgekehrt schließt die Unbeachtlichkeit zurechnungsrelevanter Prognosen (Unbeachtlichkeit quantifizierter Gefährdungen) aus, die objektive Ungewißheit über das Vorliegen einer solchen Prognose als relevant anzusehen (Unbeachtlichkeit nichtquantifizierter Gefährdungen). Verschiedene Einzelfragen, die mit beiden Teilelementen des formalen Strukturprinzips zusammenhängen, so vor allem die Problematik des Binnenverhältnisses zwischen Optimierungsgebot und atypischem Erlaubnissatz, werden im folgenden ausführlicher behandelt. 1151 1152 1153

D. h.: jede Form der Gefahrenabwehr (also jeder Rechtsgüterschutz). Zur Abbildung beliebiger Regulierungsmodelle unten sub. § 9 IV. Vgl. zur deduktiven Umdeutung der induktiven Gefahrkategorie oben sub. § 9

II. 1. 1154

Zur deduktiven Umdeutung der induktiven Risikokategorie siehe oben sub. § 9

II. 2. 1155

Dazu oben sub. § 8 II. 2.

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

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1. Optimierungsgebot Das vorrangige Theorieelement zur Erklärung normativer Vorsorgestrukturen kann als Optimierungsgebot zur Vermeidung quantifiziert gefährlicher Sachverhalte dargestellt werden. 1. Optimierungsgebot „Jeder Sachverhalt, der das geschützte Rechtsgut quantifiziert gefährdet, soll möglichst vermieden werden.“

Die Theorie der Rechtsgüterrelationen wendet Optimierungsgebote ausschließlich auf die Gefahrmodalität der Zurechnung durch eine Prognose an.1156 Umgekehrt sind Optimierungsgebote also auf alle Sachverhaltskonstellationen, die wegen des Fehlens zurechnungsrelevanter (bestbewährter) Prognosen als nichtquantifiziert gefährlich eingestuft werden, nicht anwendbar. 2. Atypischer Erlaubnissatz Das fakultative, immer nur ergänzende Theorieelement zur Erklärung normativer Vorsorgestrukturen kann als atypischer Erlaubnissatz abgebildet werden. Dabei zeichnen sich alle atypischen Erlaubnissätze durch folgende allgemeine Struktur aus: 2. Atypischer Erlaubnissatz „Jeder Sachverhalt, der das geschützte Rechtsgut nichtquantifiziert gefährdet, darf verhindert werden.“

Zur theoretischen Vertiefung der atypischen Erlaubnissätze sollen im folgenden Abschnitt zwei besonders wichtige Einzelaspekte etwas näher behandelt werden. Geklärt wird zunächst, weshalb normative Vorsorgestrukturen nur mit Hilfe atypischer Erlaubnissätze rekonstruiert werden können, die als fakultative Erklärungsbestandteile die Optimierungsgebote ergänzen müssen. Es soll mit anderen Worten geklärt werden, weshalb sowohl „zwingende Verbotsnormen“ als auch sonstige „Abwägungsregeln“ als objektive Erklärungsschemata ausscheiden. Darüber hinaus wird die allgemeine Struktur atypischer Erlaubnissätze auch aus der Theorie der Rechtsgüterrelationen abgeleitet. a) Alleinstellungstheorem Atypische Erlaubnissätze sind als Erklärungsschema für normative Vorsorgestrukturen alternativlos. Oder, um etwas genauer zu sein: Unerläßlich ist ein Erklärungsbestandteil, der die Funktion des atypischen Erlaubnissatzes erfüllt. Dieses „Alleinstellungstheorem“ kann so verstanden werden, daß die allge1156

Dazu oben sub. § 8 II. 2.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

meine Struktur der atypischen Erlaubnissätze im Hinblick auf den Schutz von Rechtsgütern vor nichtquantifizierten Gefährdungen nicht weiter zu verbessern („optimierbar“) ist. Als naheliegende Widerlegungen des Alleinstellungstheorems scheinen vor allem zwei Regulierungsvarianten vorstellbar: Einerseits könnten „strikte Verbote“ nichtquantifizierter Gefährdungen möglich sein – wir bezeichnen diese Variante im folgenden als Verbotsoption. Andererseits könnten die spezifischen Besonderheiten unterschiedlicher nichtquantifizierter Gefährdungen aber auch, gewissermaßen in jedem Einzelfall, im Rahmen situativer „Abwägungsgebote“ Berücksichtigung finden – wir werden diese zweite Variante als Abwägungsoption bezeichnen. Zur Verbotsoption: Die Verbotsoption ist eine schon recht alte Idee, die ihre erste Blütezeit wohl im rationalistischen Konstruktivismus des 18. Jahrhunderts erlebte. Daß sie ihre damalige Strahlkraft bis heute ein Stück weit bewahren konnte, verdeutlicht vor allem der engagiert geführte, internationale Diskurs um „das Vorsorgeprinzip“. Die Verbotsoption wird dabei (häufig unter dem Stichwort eines „starken“ bzw. „großen“ Vorsorgeprinzips1157) ergebnisoffen diskutiert und man hält sie bisweilen für „rechtspolitisch wünschenswert“. Um genauer zu sein: Die modernen Konstruktivisten glauben fest daran, daß normative Vorsorgestrukturen möglich sind, die alle Sachverhaltskonstellationen verbieten, die nicht erwiesenermaßen (das heißt „mit Sicherheit“1158) ungefährlich sind.1159 Man kann das hypothetische „starke Vorsorgeprinzip“ also kurz wie folgt formulieren:

1157 Vgl. hierzu grundsätzlich Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 89 – „In der Situation des Nicht- oder Nicht-genau-Wissens entspricht es einer Haltung der Vorsicht, möglichst alle Quellen, die als theoretisch vorstellbare Ursachen für Schäden in Betracht kommen, zu begrenzen oder zu verschließen.“; Wolfrum, Precautionary Principle, S. 211 m. w. Nachw.; hinsichtlich der parallelen Konstellation der Grundrechtseingriffe bei „empirischer Unsicherheit“ hält auch Alexy den Gedanken für theoretisch möglich – „[Dies hätte zur Konsequenz], daß der Gesetzgeber nur noch aufgrund mit Sicherheit wahrer Prämissen in Grundrechte eingreifen darf (VVDStRL 61, S. 7, 27).“ 1158 Siehe dazu indes bereits Wittgenstein, Über Gewißheit, Bem. 669 – „Der Satz ,Ich kann mich darin nicht irren‘ wird sicher in der Praxis gebraucht. Man kann aber bezweifeln, ob er dann in ganz strengem Sinne zu verstehen ist, oder ob er eher eine Übertreibung ist, die vielleicht nur zum Zweck der Überredung gebraucht wird.“ 1159 Diese Idee wird derzeit umweltrechtlich oftmals als eine Frucht neuester Erkenntnis angesehen. In größerer Allgemeinheit („Utrum dubia sint in meliorem partem interpretanda“) sieht und behandelt diese Thematik indes schon Thomas von Aquin, Summa Theologica, II.2 qu. 60, 4 – „Etwas nach der guten oder schlechten Seite auslegen geschieht auf doppelte Weise. Einmal auf dem Wege einer Unterstellung. Wenn wir daher für bestimmte Übel, seien es eigene, seien es fremde, ein Heilmittel anwenden müssen, ist es gut, damit das Heilmittel um so sicherer wirkt, das Schlimmere anzunehmen; denn das Heilmittel, das gegen ein größeres Übel wirksam ist, ist es erst recht gegen ein kleineres Übel. – In anderer Weise legen wir etwas zum Guten oder Bösen aus, indem wir eine Entscheidung treffen. Dann müssen wir im Urteil über

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Starkes Vorsorgeprinzip „Verboten sind alle Sachverhalte1160, die nicht erwiesenermaßen ungefährlich sind.“

Normative Vorsorgestrukturen im Sinne der Verbotsoption starker Vorsorgeprinzipien sind innerhalb moderner Rechtsordnungen nicht nachweisbar. Vom Standpunkt des positiven Rechts aus gibt es also kein solches starkes Vorsorgeprinzip. Hier soll auch nicht näher eingegangen werden auf das Überangebot rechtspolitischer Stellungnahmen zu angeblichen Vor- und Nachteilen, die mit der Verbotsoption de lege ferenda verknüpfbar erscheinen.1161 Statt dessen interessiert die – vorrangige – Untersuchung konzeptimmanenter Widersprüchlichkeiten innerhalb eines hypothetischen „starken Vorsorgeprinzips“. So ist jegliche „Ausweitung“ des Rechtsgüterschutzes in Form der Verbotsoption des „starken Vorsorgeprinzips“ nämlich – wie gezeigt werden kann – konzeptionell unhaltbar. Nur auf den ersten Blick erscheint „besserer“ vorsorglicher Schutz für Rechtsgüter dadurch erreichbar, daß jeder nichtquantifiziert gefährliche Sachverhalt verboten wird, denn jede solche Verbotsformulierung verwikkelt sich unvermeidbar in logische Widersprüche. Rechtspolitische Präferenzen verlieren damit ihren Gegenstand. Ein Verbot jeder nichtquantifiziert gefährlichen Sachverhaltskonstellation (also die normative Entscheidung gegen die verbotene Sachverhaltskonstellation)1162 setzt voraus, daß der gegenteilige Sachverhalt1163 seinerseits ungefährlich ist und nicht ebenfalls den Tatbestand der Verbotsnorm erfüllt. Anderenfalls wären sowohl der (Ausgangs-)Sachverhalt als auch seine Vermeidung1164 gleichermaßen verboten, was eine widersprüchliche Interpretation der jeweiligen normativen Ordnung bedeuten würde.1165 Gegen dieses methodologische Desiderat der Widerspruchsfreiheit verstößt nun aber jedes „starke Vorsorgeprinzip“, weil die tatbestandliche Beschreibung Sachen darauf achten, daß wir jede Sache auslegen nach dem, was sie ist; beim Urteil über Personen aber, daß man zum Günstigeren auslegt.“ 1160 Die Formulierung entspricht der allgemeinen Fassung. Eingeschränkt werden kann das starke Vorsorgeprinzip dementsprechend beliebig: etwa „Verboten sind alle Kunststoffe, die nicht erwiesenermaßen ungefährlich sind“, „Verboten sind alle Arzneimittel, die nicht erwiesenermaßen ungefährlich sind“ und so fort. 1161 Sicher wäre eine so diskutierte Verschärfung unabhängig von ihrer dogmatischen Schlüssigkeit teuer zu erkaufen, da andere Rechtsgüter preisgegeben werden müßten; vgl. dazu die Bedenken bei Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 28 – „[D]as kann eine Verfassung [. . .] nicht wollen.“ 1162 Ausführlich zum Verhältnis der Sachverhaltsalternativen untereinander als objektive Entscheidungen oben sub. vor § 2. 1163 Die Vermeidung des Sachverhalts, handlungsbezogen ausgedrückt heißt das: das Unterlassen der nichtquantifiziert gefährlichen Handlung. 1164 D. h. sowohl die Handlung als auch das Unterlassen der Handlung. 1165 Siehe zum kategorischen Verbot widersprüchlicher Interpretationen oben sub. § 6 II. 3.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

der verbotenen Sachverhalte als „nichtquantifiziert gefährlich“ nicht allen möglichen Sachverhaltsalternativen gerecht werden kann. Im Kern folgt das daraus, daß besonders häufig im Zusammenhang mit dem, was üblicherweise beschrieben wird als empirisch unübersichtliche „Situation komplexer Wechselwirkungen“,1166 die Konsequenzen der bewußt herbeigeführten Sachverhaltskonstellationen genausowenig abschätzbar sind wie die Konsequenzen der jeweils bewußt vermiedenen Sachverhaltsalternativen. In solchen Konstellationen können beide Entscheidungsvarianten objektiv als nichtquantifiziert gefährlich erkannt werden. Jedes Verbot „der“ nichtquantifiziert gefährlichen Alternative richtet sich dann gegen sich selbst.1167 Die Tatsache, daß das „starke Vorsorgeprinzip“ dennoch bis heute intuitiv plausibel erscheint, hängt vor allem damit zusammen, daß es nahe verwandt ist mit der Epistemologie des Alltagsverstandes. Sowohl seine Grundidee, als auch die vollständige methodologische Erklärung seiner Selbstwidersprüchlichkeit sind dabei keinesfalls neu, sondern spätestens seit René Descartes (1637)1168 bekannt. Bereits dessen methodologische Auffassung beinhaltete bekanntlich die Forderung, alle Behauptungen zu verwerfen, für die keine „hinreichenden“ (empirischen) Befunde vorliegen, und nur solche anzunehmen, die durch Sinneswahrnehmungen beweisbar („verifizierbar“) sind. Man kann das modernistische „starke Vorsorgeprinzip“ auffassen als triviale Übertragung der Cartesianischen Epistemologie in die Form praktischer Handlungsmaximen. In der Weise, in der Descartes für „erlaubte Behauptungen“ Gewißheit glaubte einfordern zu können, macht das „starke Vorsorgeprinzip“ mutatis mutandis „erlaubte Sachverhaltsalternativen“ abhängig von sicherer Erkenntnis über deren Auswirkungen. Dabei läßt sich die Position der Cartesianischen Epistemologie ebenso wie das „starke Vorsorgeprinzip“ summarisch analysieren durch folgende Äquivalenzen: p ist empirisch bewiesen = es gibt hinreichende Gründe an p zu glauben = wir behaupten oder wissen, daß p wahr ist = p ist wahr = p.1169 Das Problem liegt nun methodologisch darin, daß die Beweisbarkeit einer Aussage vermischt wird mit der Aussage selbst und infolgedessen das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten abgelehnt werden muß: Leicht erkennbar können 1166

Ausführlich zum Komplexitätsproblem oben sub. § 7 III. 7. Ein deutliches Beispiel stellt die Zulassung von Arzneimitteln dar: Eine zu frühe Zulassung rettet möglicherweise kranke Patienten, setzt sie aber den unerforschten Nebenwirkungen aus. Eine zu späte Zulassung „rettet“ die Patienten möglicherweise vor schlimmen Nebenwirkungen, setzt sie aber länger ohne Hilfe ihren Krankheiten aus. Das Verdeutlicht die Beliebigkeit von Tun und Unterlassen. 1168 Vgl. Descartes, Discours de la méthode, S. 67 ff. (Quatrième Partie). 1169 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 132; vgl. dazu auch Musgrave, Critical Rationalism, S. 19 ff.; man ist also zurückgeworfen auf Berkeleys Diktum „esse est percipi“. 1167

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

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Situationen entstehen, in denen weder p noch nicht-p (also die Negation von p) „empirisch bewiesen“ werden können.1170 Falls kein „Grund“ vorliegt, p1171 zu glauben, verlangt die Cartesianische Epistemologie an nicht-p1172 zu glauben (oder sie muß das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten ablehnen). Ganz dieser Problematik entspricht es, wenn das „starke Vorsorgeprinzip“ einen nicht „sicher ungefährlichen“ Sachverhalt (SV1) verbietet, wenn also SV2 (das Gegenteil von SV1) durch das „starke Vorsorgeprinzip“ geboten wird, oder anders: SV1 unterlassen werden muß.1173 Immer kann nämlich die Abwesenheit von Gründen an p zu glauben (und entsprechend die nichtquantifizierte Gefährlichkeit von SV1) mit der Abwesenheit von Gründen, an nicht-p zu glauben (sowie mit der entsprechenden nichtquantifizierten Gefährlichkeit von SV2), verträglich sein, so daß p weder bewiesen ist noch zu verwerfen ist (und entsprechend: SV1 und SV2 jeweils zugleich verboten und geboten sind).1174 Das „starke Vorsorgeprinzip“ kann nicht als ein Regulierungskonzept angesehen werden, das allgemein – also für alle Fälle – Geltung beansprucht. Alle „starken Vorsorgeprinzipien“ sind daher aufgrund ihrer strukturellen Perplexität weder durch normative Ordnungen positivierbar, noch als widerspruchsfreie Interpretationen existierender normativer Ordnungen methodologisch möglich.1175 Kurz: Es gibt keine „starken Vorsorgestrukturen“. Zur Abwägungsoption: Nach dem methodologischen Ausschluß der Verbotsoption verbleibt noch die Möglichkeit von „Abwägungskonzeptionen“ als Variante zur Rekonstruktion von Vorsorgestrukturen durch atypische Erlaubnissätze. Die Abwägungsoption zur Regulierung nichtquantifizierter Gefährlichkeit verdient dabei schon deshalb besondere Beachtung, weil „Abwägungen“ bereits frühzeitig mit dem Gedanken der Vorsorge in Verbindung gebracht wurden.1176 Allerdings erschwert der bekannte Umstand, daß jegliche Form rationaler wie irrationaler Entscheidungsfindungen als „Abwägung“ bezeichnet werden kann, auch diese Untersuchung von Abwägungskonzepten als mögliche Modellvarianten. Methodologisch interessant sind natürlich nur die Abwägungskonzeptionen, die Objektivitätsansprüche erheben können. Anders ausgedrückt: Es geht im folgenden ausschließlich um Abwägungskonzeptionen als Bestandteil von Er-

1170 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 132 unter Hinweis auf Luitzen Egbertus Jan Brouwer. 1171 Bspw. „Ein göttliches Wesen existiert.“ 1172 Im Beispiel also „Ein göttliches Wesen existiert nicht.“ 1173 Siehe zum Zusammenhang zwischen Sachverhaltsalternativen und dem Unterschied zwischen Tun und Unterlassen bereits oben Fn. 31. 1174 Vgl. dazu Popper, Objektive Erkenntnis, S. 132. 1175 Dieses Problem übergeht freilich bereits Thomas von Aquin, Summa Theologica, II.2 qu. 60, 4; dazu Fn. 1159. 1176 Ossenbühl, NVwZ 1986, 161 (167 f.); Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 71.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

klärungszusammenhängen und nicht um subjektivistische Abwägungsheuristiken.1177 Als methodologisch ernsthafter Vorschlag mit wenigstens partiellem Objektivitätsanspruch bietet sich die Prinzipientheorie an.1178 So hat Robert Alexy ein hochentwickeltes Konzept vorgelegt, das anhand einer Differenzierung zwischen sogenannten „formellen“ und „materiellen“ Prinzipien eine Rekonstruktion des Problems „empirischer Ungewißheiten“ anhand eines prinzipientheoretischen Abwägungsmodells anstrebt.1179 Dieses Modell beruht – ebenso wie alle unschärferen Abwägungsheuristiken – auf der Grundannahme, daß „Eingriffe in Rechtsgüter“ auf einer möglichst sicheren Erkenntnisgrundlage vorgenommen werden sollten. Das kann in der Weise als Optimierungsrelation verstanden werden, daß die Erkenntnissicherheit über die beabsichtigten rechtfertigenden Folgen um so größer sein sollte, je schwerwiegender sich der zu rechtfertigende Eingriff darstellt.1180 Die so verstandene „Optimierung der Erkenntnissicherheit“ verkürzt ihrerseits vorhandene Entscheidungsspielräume1181 möglicher Regelungsadressaten, indem die gebotene „hohe Erkenntnissicherheit“ nicht jederzeit erreichbar ist.1182 Auf sehr interessante Weise kompensiert Alexy diese Einschränkung der Entscheidungsspielräume dadurch, daß er „formelle“ Prinzipien zur Erweiterung normativer Entscheidungsspielräume einführt. Formelle Prinzipien begründen sogenannte „empirische Erkenntnisspielräume“, indem sie dem Prinzip möglichst hoher Erkenntnisgewißheit entgegen gerichtet sind und mit diesem „abgewogen“ werden.1183 Das so formulierte prinzipientheoretische Abwägungsmodell stellt ganz offenbar das dar, was hier als „Abwägungsoption“ zur Rekonstruktion nichtquantifizierter Gefährdungen bezeichnet wurde. Das

1177 1178

Zur Unterscheidung oben sub. § 6 II. 1. Dazu oben sub. § 4 I.; zur deduktiven Umdeutung der Prinzipientheorie unten

§ 10. 1179

Vgl. Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 27. Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 27 – „Wer Eingriffe aufgrund unsicherer Prämissen zuläßt, wenn diese Prämissen nur vertretbar oder plausibel oder, was noch weniger ist, nicht evident falsch sind, muß die Möglichkeit nicht feststellbarer Grundrechtsverletzungen in Kauf nehmen.“ 1181 Zum Zusammenhang zwischen „Handlung“ und „Entscheidung“ bereits oben sub. § 6 I. 1182 Alexy, a. a. O., S. 27 – „[Dies hätte] die Konsequenz, daß der Gesetzgeber nur noch aufgrund mit Sicherheit wahrer Prämissen in Grundrechte eingreifen darf. Es ist leicht zu sehen, daß eine solche Lösung nicht in Frage kommt.“ 1183 Alexy, a. a. O., S. 28 – „Deshalb fordern das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip als formelle Prinzipien einen empirischen Erkenntnisspielraum.“; vgl. diese Unterscheidung zuvor schon bei Raz, The Yale Law Journal Vol. 81, S. 823 (846 f.) – „principles of discretion“; kritisch dagegen Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 225, der die (formelle) Konstruktion auf „den assoziationsträchtigen demokratisch-legitimatorischen Nimbus und Mehrwert der Volksvertretung“ reduziert sieht. 1180

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bedeutet: Falls das Modell eine objektive Erklärung des Effekts nichtquantifizierter Gefährlichkeit liefern könnte, wäre das Alleinstellungstheorem widerlegt. Alexys Abwägungskonzept auf der Grundlage seiner „formellen“ Prinzipien wird aus ganz unterschiedlichen Gründen angegriffen.1184 Uns interessiert an dieser Stelle jedoch ausschließlich ein spezieller Einwand, der aus der deduktiven Theorie der Rechtsgüterrelationen abgeleitet werden kann. Innerhalb des Theorierahmens der induktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen konnte dieser Einwand bislang noch nicht formuliert werden, weil der Induktivismus nichtquantifizierte Gefährdungen1185 nicht als eigenständige Zurechnungsmodalität erkennt. Jede potentielle „Abwägungsregel“ als objektives Erklärungsschema für normative Vorsorgestrukturen stellt sicher, daß Entscheidungen auf der Grundlage nichtquantifizierter Rechtsgütergefährdungen1186 „verhältnismäßig“ erfolgen. Eine mögliche Darstellung der „Abwägungsregel“ wäre also die folgende: Abwägungsregel1187 „Nichtquantifiziert gefährliche Sachverhalte sollen möglichst vermieden werden,1188 sofern diese Vermeidung nicht andere Rechtsgüter unverhältnismäßig beeinträchtigt.“

Die so formulierte „Abwägungsregel“ scheint auf den ersten Blick angemessen und transparent zu sein. Außerdem scheint sie nichtquantifiziert gefährdete Rechtsgüter auch konsequenter schützen zu können, als der hier formulierte Vorschlag des atypischen Erlaubnissatzes.1189 Beide Vermutungen sind zwar plausibel, aber unzutreffend, denn auch für die Abwägungsoption kann allgemein gezeigt werden, daß alle „Abwägungsregeln“ zu methodologischen Widersprüchen führen müssen. Die nachfolgende Überlegung erklärt, weshalb die normativen Einzelaussagen der genannten „Abwägungsregel“ nicht befolgt werden können, weshalb also für keine nichtquantifiziert gefährliche Sachverhaltskon1184 Vorgetragen wird im Kern, daß die Kollision zwischen formellen und materiellen Prinzipien methodisch nicht aufzuarbeiten sei (sog. Inkommensurabilität), daß die Beeinträchtigung von Rechtsgütern nicht nur prinzipiell sondern strikt verboten sei, sowie daß Rechtserkenntnis- und Rechtsschöpfung gleichgestellt würden, dazu vor allem Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 206 ff.; ferner Hain, Grundsätze, S. 135 ff.; diese Bedenken ließen sich zwar evtl. ausräumen, aber im Konzept der deduktiven Dogmatik der Risikoentscheidungen kommt es auf diese Frage nicht entscheidend an. 1185 D. h. die Zurechnung des Fehlens einer Prognose; dazu oben sub. § 8 II. 2. 1186 Vgl. Alexy, a. a. O., S. 27 – „empirische Ungewißheit“. 1187 Siehe die allgemeine Abwägungsregel („epistemische Abwägungsregel“) bei Alexy, a. a. O., S. 27 – „Je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto größer muß die Gewißheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein.“ 1188 Vgl. die Verbotsoption: Nichtquantifiziert gefährliche Sachverhalte sind verboten. Dazu oben sub. § 9 III. 2. a). 1189 Zum atypischen Erlaubnissatz siehe oben sub. § 3 III. 1.

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

stellation normative Entscheidungen objektiv anhand von „Abwägungsregeln“ rekonstruiert werden können. Um dabei einen unfruchtbaren Streit um Worte zu vermeiden, muß vorab darauf hingewiesen werden, daß hier als Abwägung nicht jede irgendwie erzielte Ergebnisfindung (Heuristik) bezeichnet wird, sondern nur das objektive – also um Nachprüfbarkeit bemühte – Verfahren der Prinzipienkollision. Abwägungsfähigkeit setzt die Kollision von mindestens zwei unterschiedlichen Prinzipien (Abwägungspositionen) voraus. Die beiden kollidierenden Prinzipien sind dann die einzigen1190 „Argumente“ im Rahmen der Entscheidung und abhängig davon, welchem Argument das größere Gewicht zufällt, kann das Ergebnis der Abwägung erklärt werden.1191 Wie jede Verwendung von Abwägungsregeln impliziert also auch die oben formulierte hypothetische Abwägungsregel für nichtquantifizierte Gefährdungen zwei Prinzipien: Das erste Prinzip gebietet eine möglichst weitgehende Vermeidung nichtquantifiziert gefährlicher Sachverhaltskonstellationen und ein damit kollidierendes zweites Prinzip gebietet die möglichst weitgehende Vermeidung von Beeinträchtigungen sonstiger Interessen. Das kollidierende zweite Prinzip ist mit anderen Worten so zu verstehen, daß möglichst die nichtquantifiziert gefährlichen Sachverhalte realisiert werden sollen, um zu verhindern, daß sonstige Rechtsgüter beeinträchtigt werden.1192 Zur allgemeinverbindlichen Rekonstruktion von Prinzipienkollisionen (also für objektive Entscheidungen) stehen zwei theoretische Möglichkeiten zur Verfügung:1193 Entweder müssen absolute Präferenzrelationen gefunden oder es müssen bedingte Präferenzrelationen formuliert werden, die der jeweiligen Rechtsgüterrelation allgemein zuzuordnen sind.1194 Jede absolute Präferenzrelation impliziert eine allgemeine Regel, die einem der beteiligten Prinzipien unter allen Umständen Vorrang einräumt gegenüber den kollidierenden anderen Prinzipien. Für alle möglichen Sachverhaltskonstellationen gilt dann allgemein, daß entweder die Rechtsfolge des einen Prinzips oder die des anderen Prinzips „absolut“ angeordnet ist. Nichtquantifiziert gefährliche Sachverhalte wären auf der Grundlage absoluter Präferenzrelationen entweder immer verboten oder umgekehrt immer geboten, jedenfalls entfielen damit Abwägungen, was der obenge-

1190 Selbstverständlich beinhalten die meisten Abwägungen in der Praxis mehr als zwei Argumente (Prinzipien), darauf kommt es indes für den modellhaften Gedankengang nicht an. 1191 Ausführlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78 ff. (84). 1192 Vgl. Alexy, VVDStRL 61, S. 7, 28, der sich allgemein auf das Gegensatzpaar zwischen formellen und materiellen Prinzipien stützt. 1193 Von denen die eine (absolute) als Spezialfall der anderen (relative) gedeutet werden kann. 1194 Dazu oben sub. § 1 II.

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

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nannten Abwägungsregel widerspricht. Jede „tatsächlich abwägende“ Anwendung der Abwägungsregel schließt folglich absolute Präferenzrelation aus. Allerdings kann auch keine bedingte Präferenzrelation angenommen werden, denn bedingte Präferenzrelationen erfordern die Benennbarkeit derjenigen besonderen Bedingungen, die zur vorrangigen Anordnung der Rechtsfolge des einen oder des anderen Prinzips führen.1195 Es muß also stets ausgedrückt werden können, welche tatsächlichen Eigenschaften einer nichtquantifiziert gefährlichen Sachverhaltskonstellation ausschlaggebend dafür sind, einem der beiden kollidierenden Prinzipien bedingten Vorrang einzuräumen. Nun kommen zwar als Bedingungen zur Festlegung von Präferenzrelationen alle besonderen Eigenschaften der konkreten Sachverhaltskonstellation in bezug auf beide Prinzipien in Betracht.1196 Das einzige Charakteristikum der nichtquantifizierten Gefährlichkeit ist jedoch das Fehlen zurechnungsrelevanter Prognosen, die einen spezifischen Schädigungszusammenhang zwischen dem konkreten Sachverhalt und seiner zukünftigen rechtsgüterschädigenden Wirkung beschreiben.1197 Daraus folgt, daß alle nichtquantifiziert gefährlichen Sachverhalte in Hinblick auf das durch sie gefährdete Rechtsgut eine einzige – immer gleiche (!) – Eigenschaft aufweisen, nämlich das Fehlen zurechnungsrelevanter Prognosen.1198 Eine bedingte Präferenzrelation als allgemeines Kollisionsgesetz für die beiden gegenläufigen Prinzipien kann daher ausschließlich auf die spezifischen Bedingungen abstellen, die ihrerseits Beeinträchtigungen des anderen Rechtsguts erklären. Hinsichtlich des nichtquantifiziert gefährdeten Rechtsguts sind alle denkbaren Präferenzrelationen demgegenüber identisch. Alle theoretisch möglichen bedingten Präferenzrelationen sagen daher nur aus, ab welchem Grad der Beeinträchtigung des anderen Rechtsguts die nichtquantifiziert gefährliche Handlung geboten ist. Das entspricht einer allgemeinen Regel als Verbot bestimmter Entscheidungen, nicht aber der geforderten Abwägungsregel. Damit ergibt sich die theoretische Unvereinbarkeit des Tatbestands der nichtquantifizierten Gefährlichkeit mit „Abwägungsregeln“ der genannten Art. Das Ergebnis der beiden Überlegungen zu Verbots- und Abwägungsoptionen besteht also darin, daß atypische Erlaubnissätze als Erklärungsschema normativer Vorsorgestrukturen nicht Folge von „Kompromißlösungen“ sind, die zukünftig „rechtspolitisch überwunden“ oder im Hinblick auf Rechtsgüterschutz „verbessert“ werden könnten.1199 Atypische Erlaubnissätze sind vielmehr die ein1195

Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79 ff. (83). Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 82 f. 1197 Dazu oben sub. § 8 II. 2.; im Ansatz ebenso Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 96 f. – „[D]er Grundsatz der Verhältnismäßigkeit [. . .] verliert für sein wesentliches Merkmal der Erforderlichkeit einen festen Bezugspunkt.“ 1198 Dazu oben sub. § 9 I. 2. 1199 Dazu oben sub. § 9 I. 2. a). 1196

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

zige theoretische Möglichkeit, normative Vorsorgestrukturen für nichtquantifiziert gefährliche Sachverhaltskonstellationen zu rekonstruieren.1200 Ganz unabhängig von diesem methodologischen Ausschluß der Verbots- und der Abwägungsoption folgt eine andere Erklärung der allgemeinen Struktur atypischer Erlaubnissätze auch aus der Theorie der Rechtsgüterrelationen. Diese theoretische Rekonstruktion der atypischen Erlaubnissätze erklärt zugleich systematisch, in Verbindung mit welchen empirischen Sachverhaltskonstellationen die Vorsorgestrukturen normativer Ordnungen praktisch zuerst in Erscheinung treten. b) Ableitung aus der Theorie der Rechtsgüterrelationen Die Struktur atypischer Erlaubnissätze wird dazu ihrerseits erklärt als Kombination zwei spezieller Konsequenzen des methodologischen Desiderats der Widerspruchsfreiheit von Interpretationen1201 normativer Ordnungen in Verbindung mit Tarskis „convention T“:1202 Für die anerkannten Einzelaussagen einer bestimmten normativen Ordnung gilt danach wahrheitsgemäß immer, daß sie darstellende Aussagen über dieselbe Rechtsordnung machen. Infolgedessen kann ein erstes Konsistenzprinzip in folgendem Sinn formuliert werden: Konsistenzprinzip I „Alle normativen Einzelaussagen stellen dieselbe normative Ordnung dar.“

Dieses objektive Konsistenzprinzip erklärt die alte subjektivistische Idee der „Rechtssicherheit“, die so verstanden werden kann, daß „aus Sicht der Regelungsadressaten“ alle „Normbefehle“ sowohl möglichst „verständlich“ sein sollen als auch „angewendet“ werden müssen (die Idee der „Rechtssicherheit“ ist subjektivistisch, weil die Verständlichkeit normativer Einzelaussagen keine Eigenschaft der Aussagen, sondern eine Eigenschaft des jeweiligen Interpreten ist). Ein zweites Konsistenzprinzip, das mit dem ersten nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen ist, ergibt sich aus der Erklärung normativer Einzelaussagen als Entscheidungen zwischen Sachverhaltsalternativen,1203 um genauer zu sein: aus der Erklärung normativer Einzelaussagen als Entscheidungen gegen zukünftige Rechtsgüterschädigungen. Danach sind alle normativen Einzelaussagen erklärbar als Entscheidungen gegen zukünftige Rechtsgüterschädigungen. Wenn man diesen Zusammenhang teleologisch ausdrücken will, „bezwecken“ normative Ordnungen also den Schutz ihrer (jeweils eigenen) Rechtsgüter.1204 1200 Um genauer zu sein: Bessere Erklärungsmodelle können (wie immer) nicht ausgeschlossen werden, aber im komparativen Theorievergleich mit Verbots- und Abwägungskonzeptionen sind atypische Erlaubnissätze vorzugswürdig. 1201 Dazu oben sub. § 6 II. 3. 1202 Vgl. oben sub. § 6 II. 5. (semantischer Wahrheitsbegriff). 1203 Dazu oben sub. § 6 I. 1204 Vgl. hierzu Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, S. 24 f.

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

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Eine mögliche Formulierung dieses Prinzips ist das folgende Konsistenzprinzip II: Konsistenzprinzip II „Alle normativen Einzelaussagen derselben Rechtsordnung bezwecken den Schutz derselben Rechtsgüter.“

Eine Folge des zweiten Konsistenzprinzips liegt darin, daß für alle vermuteten normativen Einzelaussagen (also Interpretationen „im engeren Sinne“)1205 erklärbar sein muß, daß sie die – ebenfalls vermuteten – Rechtsgüter der jeweiligen normativen Ordnung nicht schädigen. Mit anderen Worten können vermutete normative Einzelaussagen, die erklärt werden als Entscheidungen gegen zukünftige Rechtsgüterbeeinträchtigungen, nicht solche Rechtsfolgen anordnen, die für dieselben Rechtsgüter „ungerechtfertigte“1206 Beeinträchtigungen bedeuten.1207 Auch das so formulierte Konsistenzprinzip II (Nichtschädigung existierender Rechtsgüter) hängt eng zusammen mit dem methodologischen Desiderat, daß widersprüchliche Normbefehle zu vermeiden sind.1208 Objektive Interpretationen „im weiteren Sinne“1209 können deshalb nicht gleichzeitig Rechtsgüter benennen und die Existenz von normativen Entscheidungen behaupten, deren Befolgung die Schädigung dieser Rechtsgüter bedeutet.1210 Kurz: Das Prinzip der Nichtschädigung existierender Rechtsgüter (Konsistenzprinzip II) kann abgeleitet werden aus dem Konzept des Rechtsguts selbst.1211 Die theoretische Problematik scheinbarer Unvereinbarkeiten zwischen den beiden genannten Konsistenzprinzipien hängt zusammen mit der Wissenschaftsakzessorietät normativer Ordnungen, genauer: mit Veränderungen im naturwissenschaftlichen Hintergrundwissen. Sie beschränkt sich in der Praxis auf seltene Randfälle. Im unproblematischen Normalfall schädigen anerkannte normative Einzelaussagen die Rechtsgüter ihrer normativen Ordnung nicht, sondern erfüllen ordnende Funktionen und sichern die Ordnung.1212 Das Konsistenzprinzip I (subjektivistisch: das Prinzip der „Rechtssicherheit“) wird somit schon deswegen fast immer leicht sichtbar realisiert, weil es in allen 1205

Zu diesem Zusammenhang unten sub. § 10 II. (Regeln und Regelkonflikte). Siehe zu Rechtsgüterrelationen als Rechtfertigungsstrukturen oben sub. § 4 IV. 1207 Dazu unten sub. § 4 IV. 1208 Dazu oben sub. § 6 II. 3. 1209 Zur Unterscheidung zwischen Interpretationen im „engeren“ und „weiteren“ Sinne oben sub. § 6 II. 5. 1210 Dazu ausführlicher unten sub. § 10 I. 1211 Ausführlicher zum Konzept des Rechtsguts unten sub. § 10 I. Hier ist die einzige Voraussetzung, daß ein Rechtsgut als normativ geschütztes Interesse interpretiert wird. Wenn Rechtsordnungen so zu interpretieren sind, daß „A ist ein Rechtsgut“ gilt, verstößt die Regel „Die Handlung B ist geboten“ gegen das Prinzip der Nichtschädigung, sofern B schädigende oder zerstörende Wirkung auf A hat. 1212 Hierzu Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, S. 24 f. 1206

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

in diesem Sinne unproblematischen Sachverhaltskonstellationen (Entscheidungen gegen quantifiziert und nichtquantifiziert gefährliche Sachverhalte) nicht mit dem Prinzip der Nichtschädigung (Konsistenzprinzip II) kollidiert. Wenn umgekehrt klar absehbar ist, daß normative Einzelaussagen ohne erkennbare Erklärung in Einzelfällen zu schwerwiegenden Schädigungen wichtiger Rechtsgüter ihrer Rechtsordnung führen (Entscheidungen zugunsten quantifiziert gefährlicher Sachverhalte), sind entweder die Erklärungen der normativen Einzelaussagen (Interpretationen im weiteren Sinne) falsch oder die vermuteten Rechtsgüter sind unrichtig benannt worden. Die scheinbare Kollision der beiden Konsistenzprinzipien untereinander kann in diesem Fall zurückgeführt werden auf die Fehlerhaftigkeit der Interpretation, aber nicht auf Widersprüche zwischen den beiden Konsistenzprinzipien.1213 Die zur Erklärung der allgemeinen Struktur atypischer Erlaubnissätze eigentlich interessanten Sachverhaltskonstellationen betreffen nicht diese beiden klaren Fallgestaltungen (Entscheidungen für Ungefährlichkeit oder – scheinbar – für quantifiziert gefährliche Konsequenzen), sondern nichtquantifiziert gefährliche Sachverhalte. Problematisch sind diejenigen normativen Einzelaussagen, die sich zwar gegen bestimmte quantifizierte Gefährdungen, damit aber gleichzeitig zugunsten nichtquantifiziert gefährlicher Sachverhalte entscheiden. Kurz: Das Eingehen nichtquantifizierter Gefahren wird gerechtfertigt mit der Vermeidung quantifizierter Gefahren. Sofern diese Rechtfertigungsstrukturen nur, untechnisch gesprochen: „relativ geringwertige“1214 Rechtsgüter in seltenen Ausnahmefällen nichtquantifiziert gefährden, sind Vorsorgestrukturen nicht vorhanden; genauer: Kein atypischer Erlaubnissatz erlaubt die Vermeidung dieser nichtquantifiziert gefährlichen Sachverhalte. Das Fehlen atypischer Erlaubnissätze kann dabei als komparative Güterrelation (normative Entscheidung) wie folgt rekonstruiert werden: Die regelmäßige Vermeidung der quantifiziert gefährlichen Alternative hat Vorrang vor der Vermeidung des nichtquantifiziert gefährlichen Sachverhalts. Oder „naiv utilitaristisch“ vereinfacht:

1213 Moderne Rechtsordnungen sehen üblicherweise keine normativen Einzelaussagen mit schwersten Schädigungsfolgen vor. Entweder werden die dafür in Frage kommenden Normen im kontinuierlichen demokratischen Rechtsanpassungsprozeß korrigiert, oder das Problem wird – falls solchermaßen schädigende Konsequenzen ausnahmsweise regelmäßig auftreten können – ausdrücklich, gewissermaßen als Fall des „unzumutbaren Normbefehls“, im „klaren Wortlaut“ der jeweiligen Rechtsordnung berücksichtigt. Als seltene Beispiele dafür können etwa § 35 Satz 1 StGB: „Wer [. . .] eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich [. . .] abzuwenden, handelt ohne Schuld.“ oder auch Art. 51 Satz 1 UN-Charta: „Diese Charta beeinträchtigt [. . .] keineswegs das naturgegebene Recht zur [. . .] Selbstverteidigung [. . .].“ angesehen werden. 1214 Zum sog. „Wert“ von Rechtsgütern unten sub. § 9 IV. 2. und § 10 IV.

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

317

Die Nachteiligkeit der „Regelabweichung“ ist trotz nichtquantifiziert gefährlicher „Nebenfolgen“ größer als die Nachteiligkeit der „strikten Regelbefolgung“.

Diese komparative Bewertung der Rechtsgüterrelation durch eine normative Ordnung ist dann anders, wenn, wiederum untechnisch gesprochen „besonders hochrangige“1215 Rechtsgüter nichtquantifiziert gefährdet werden.1216 Denn sofern hochrangige Rechtsgüter nichtquantifiziert gefährdet werden, sind normative Vorsorgestrukturen vorhanden. Unter dieser Voraussetzung erlauben atypische Erlaubnissätze die Verhinderung dieser nichtquantifiziert gefährlichen Sachverhalte. Diese komparative Betrachtung kann auch umgekehrt analysiert werden: Daß atypische Erlaubnissätze in Konstellationen nichtquantifizierter Gefährdungen anwendbar sind, erklärt, daß die nichtquantifiziert gefährdeten Rechtsgüter – untechnisch1217 – „besonders hochrangig“ sind. Oder wiederum „naiv utilitaristisch“ vereinfacht: Die Nachteiligkeit der „Regelabweichung“ ist wegen der nichtquantifiziert gefährlichen „Nebenfolgen“ kleiner als die Nachteiligkeit der „strikten Regelbefolgung“.

Diese objektive Rekonstruktion der atypischen Erlaubnissätze kann interessanterweise gleichzeitig verstanden werden als nachprüfbare Parallelerklärung einer bekannten subjektivistischen Problemperspektive, also der Perspektive des „Regelungsadressaten“ beziehungsweise „Rechtsanwenders“: Subjektivistisch wird problematisiert, ob die „Steuerungskraft normativer Ordnungen“ überspannt werden kann, indem von „Normunterworfenen“ verlangt wird, ihre „eigenen Existenzvoraussetzungen“ zu riskieren, um „schädliche Regeln“ von „nachrangiger Bedeutung“ zu befolgen. Vom Standpunkt der wahrheitsnächsten Interpretation einer Rechtsordnung aus – also „ohne Rechtsanwender“ interpretiert1218 – kann die Frage formuliert werden, ob normative Einzelaussagen im Einzelfall so erklärt werden müssen, daß sie sich für die nichtquantifizierte Gefährdung von (untechnisch) „besonders hochrangigen“1219 Gütern der jeweiligen Rechtsordnung entscheiden, um gleichzeitig geringerwertige Schäden von anderen Rechtsgütern abzuwenden.1220

1215

Dazu oben Fn. 1214. Moderne – angewandte – normative Ordnungen sehen etwa „menschliches Leben“, „Gesundheit“ oder die „globalen Existenzgrundlagen für das Überleben der Menschheit“ als überragend wichtig an; siehe zur Frage, unter welchen Bedingungen und inwiefern die genannten Rechtsgüter „überragend wichtig“ sind, unten sub. § 10. 1217 Dazu oben Fn. 1214. 1218 Vgl. zur „Interpretation ohne Interpreten“ oben sub. § 1 I. 1219 Zum sog. Wert von Rechtsgütern ausführlich unten sub. § 9 IV. 2. und § 10 IV. 1220 Zu den Fragen, welches die Rechtsgüter einer Rechtsordnung sind und welche Wertigkeit diesen Werten durch die Rechtsordnung zugemessen wird, siehe unten sub. § 10 I., III., IV., VI. und VII. 1216

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Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Eine Voraussetzung dafür, daß normative Vorsorgestrukturen in Form atypischer Erlaubnissätze nachgewiesen werden können, sind also nichtquantifizierte Gefährdungen hochrangiger Rechtsgüter durch prima facie Entscheidungen (Prinzipien) der normativen Ordnung. Obgleich diese Gefährdungen aufgrund der prima facie-Entscheidungen „lediglich“1221 nichtquantifiziert sind, wird in diesen Fällen dennoch das prima facie-Gebot durch atypische Erlaubnissätze suspendiert. Das heißt, die prima facie-Entscheidung der normativen Ordnung zugunsten der nichtquantifizierten Gefährdung gilt dann nicht. Der nichtquantifiziert gefährliche Sachverhalt darf also verhindert werden (atypischer Erlaubnissatz). Vor dem Hintergrund dieser Erklärung der allgemeinen Struktur atypischer Erlaubnissätze sind die ausdrücklich positivierten, tatsächlichen Regelungszusammenhänge aller bisherigen Implementierungen „des Vorsorgeprinzips“ verständlich. Die normativen Einzelaussagen beziehen sich ausnahmslos auf die hochrangigen („elementaren“) Rechtsgüter „Leben“1222, „Gesundheit“1223 sowie die „Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit“1224. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Diese theoretische Rekonstruktion positivrechtlich nachweisbarer atypischer Erlaubnissätze sind natürlich keine „induktiven Begründungen“ für „natürliche Rechtsgüter“. Die einheitliche Erklärbarkeit ist vielmehr erst das Ergebnis eines hohen Grades an tatsächlicher Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen normativen Ordnungen im Hinblick auf bestimmte Rechtsgüter. Dieses Phänomen wird manchmal als sogenannter „minimal content of law“1225 bezeichnet. Es entsteht dadurch, daß praktisch relevante Rechtsordnungen Gemeinsamkeiten aufweisen in Hinblick auf diejenigen Rechtsgüter, die ihrerseits das Überleben ihrer Adressaten gewährleisten.1226 Diese Rechtsgüter sind ihrer-

1221

Zum Bewertungs-Paradoxon unten sub. § 9 III. 3. a). Vgl. das Biosicherheitsprotokoll. 1223 Überall. 1224 Prinzip 15 der Rio-Deklaration. 1225 Das Problem – der sog. „Minimal Content of Natural Law“ (dazu Hart, Concept of Law, S. 189) – ist Hintergrund des zentralen Disputs zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtspositionen. Der Streit kann auf die Frage konzentriert werden, ob „Recht“ jeden möglichen Inhalt haben kann, oder ob notwendige „moralische“ Inhalte eines jeden Rechtssystems existieren. Die bekannte Tatsache, daß viele Rechtssysteme inhaltliche Gemeinsamkeiten aufweisen, vermag diese These nur auf den ersten Blick zu stützen. Eine treffende Erklärung interpretiert demgegenüber das „Überleben“ als üblichen Zweck einer Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. 1226 Man kann das Überleben auffassen als Bedingung eines jeden anderen Zieles, das Regelungsadressaten üblicherweise verfolgen. Der „Minimal Content of Natural Law“ beruht demnach auf einer Diskussion von Rechtssystemen als Systemen des Zusammenlebens, das Überleben des Menschen wird in einer solchen Diskussionen als Sinnbedingung vorausgesetzt. In diesem Kontext charakterisiert namentlich Hart Rechtsordnungen treffend als „social arrangements for continued existence, not for a suicide club“ (Concept of Law, S. 192). 1222

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

319

seits – vermittels des Konsistenzprinzips II1227 – unvereinbar mit der gleichzeitigen Anerkennung bestimmter schädigender normativer Einzelaussagen. 3. Systematik Zur weiteren theoretischen Vertiefung der normativen Vorsorgestrukturen muß auf zwei Teilaspekte ihrer Binnensystematik – also auf das Verhältnis zwischen Optimierungsgebot und atypischem Erlaubnissatz – näher eingegangen werden. Nach dem bisher Gesagten betreffen Optimierungsgebote ausschließlich quantifiziert gefährliche Sachverhalte und atypische Erlaubnissätze finden demgegenüber nur Anwendung auf nichtquantifiziert gefährliche Konstellationen. Die beiden Theorieelemente normativer Vorsorgestrukturen zeichnen sich also tatbestandlich durch strikte Exklusivität aus (den beiden unterschiedlichen Gefahrmodalitäten entsprechend).1228 Zu behandeln ist in diesem Zusammenhang vor allem die Frage nach der Theorie zutreffender „Gewichtungen von Rechtsgütern“ innerhalb der beiden unterschiedlichen Theorieelemente (Optimierungsgebot und atypischer Erlaubnissatz) sowie darüber hinaus das Problem möglicher „Rationalitätsstandards“ zur Berücksichtigung von Vorsorgestrukturen innerhalb normativer Ordnungen. a) Relative Rechtsgütergewichtung Bislang haben wir schon an verschiedenen Stellen – ausdrücklich untechnisch – von „wichtigen“ und „unwichtigen“, sowie von „hochrangigen“ und „unbedeutenden“ oder auf ähnliche Weise „gewichteten“ Rechtsgütern gesprochen. Nun kann zwar zweifellos jede beliebige Rechtsgüterrelation, die zugunsten eines Rechtsguts und damit zugleich gegen ein anderes Rechtsgut entscheidet, analytisch trivial damit „erklärt“ werden, daß eines der beiden Rechtsgüter „höherrangig“ ist als das andere. Es ist aber alles andere als selbstverständlich, daß eine zutreffende Erkenntnis über die wirklichen „Gewichtungen“ der Rechtsgüter einer normativen Ordnung jederzeit möglich sein soll, daß überhaupt die „Gewichtungen“ der Rechtsgüter einer Güterrelation erkennbar sind, bevor bekannt ist, wie die konkrete Rechtsgüterrelation innerhalb der jeweiligen normativen Ordnung konkret entschieden wird. Die Frage nach der „Gewichtung“ eines Rechtsguts innerhalb einer Güterrelation (etwa innerhalb normativer Vorsorgestrukturen) berührt zwei völlig unterschiedliche Aspekte, die deutlich voneinander getrennt werden müssen. Einerseits ist damit die grundsätzliche Möglichkeit einer Erkenntnis über „Gewichtungen“ von Rechtsgütern in normativen Ordnungen angesprochen. Diese 1227 1228

Dazu oben sub. § 9 III. 2. a). Zu allem oben sub. § 8 II. 3. a).

320

Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Frage, die systematisch der allgemeinen Rechtsepistemologie zuzuordnen ist, soll hier aus verschiedenen Gründen zunächst noch ein weiteres Mal zurückgestellt werden.1229 Von diesem allgemeinen Erkenntnisproblem strikt zu unterscheiden und im folgenden vorrangig zu behandeln ist die Frage, wie das relative „Gewichtsverhältnis“ eines bestimmten Rechtsguts innerhalb der beiden Theorieelemente normativer Vorsorgestrukturen (Optimierungsgebot und atypischer Erlaubnissatz) ausgestaltet ist. Unser Problem hängt also mit der Frage zusammen, welcher „Wert“ normativ der Vermeidung einer nichtquantifizierten Gefährdung eines Rechtsguts zugemessen wird, relativ zum normativen „Wert“ der Vermeidung einer quantifizierten Gefährdung desselben Rechtsguts. Von der Möglichkeit einer Antwort auf diese Frage hängt unter anderem das genaue Ausmaß der Rechtfertigungslast bei Eingehung sowie bei Vermeidung nichtquantifizierter Gefährdungen ab.1230 Ein Verständnis der relativen „Gewichtung“ zwischen quantifizierter und nichtquantifizierter Gefährdung eines Rechtsguts ist damit von entscheidender Bedeutung für die Theorie der Rechtsgüterrelationen. Der Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen ist, daß die normative Negativbewertung nichtquantifizierter Gefährdungen eines Rechtsguts nicht „stärker“ ausfallen kann als die Negativbewertung des „sicheren“ Verlusts (also der quantifizierten Gefährdung) desselben Rechtsguts. Die „Gewichtungen“ nichtquantifizierter Gefährdungen werden also immer als akzessorische Negativbewertungen erklärt.1231 Die Vermeidung nichtquantifizierter Gefährdungen eines Rechtsguts kann vor dem Hintergrund einer normativen Ordnung daher nicht für „wertvoller“ erklärt werden als das Rechtsgut selbst, denn ungünstigstenfalls droht bei nichtquantifizierten Gefährdungen eben ein Verlust des Rechtsguts.1232 Mit Kenntnis über diese triviale Obergrenze komparativer Bewertungen zwischen quantifizierten und nichtquantifizierten Gefährdungen eines Rechtsguts ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, ob die Vermeidung nichtquantifizierter Gefährdungen allgemein als „genauso wertvoll“ erklärt werden kann wie das Rechtsgut. Statt dessen könnte die objektive Ungewißheit der nichtquantifizierten Gefährdung als solche Einfluß haben auf die komparative Bewertung. Kurz: Quantifizierte Gefährdungen könnten „schwerwiegender“ sein als nichtquantifizierte Gefährdungen. 1229

Darauf wird unten sub. § 10 IV. zurückzukommen sein. Dazu oben sub. § 4 IV. (Rechtfertigungsstrukturen). 1231 Die nichtquantifizierte Gefährdung besteht darin, daß rational ein Nichtbestehen der Gefahr nicht ausgeschlossen werden kann. 1232 Sehr deutlich Kant, Die Metaphysik der Sitten (Erstes Blatt), S. 42 f. – „[D]ie Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist [. . .], kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß ist [. . .], nicht überwiegen.“ 1230

§ 9 Theorieverallgemeinerungen

321

Diese einfache Fragestellung wirft ein interessantes Beurteilungs-Paradoxon auf zwischen dem normativen „Wert“ der Vermeidung einer nichtquantifizierten Gefährdung eines Rechtsguts und dem normativen „Wert“ desselben Rechtsguts, sofern dieses quantifiziert gefährdet wird. Das Bewertungs-Paradoxon ergibt sich daraus, daß beide intuitiv naheliegenden allgemeinen Lösungsvarianten bei genauerer Betrachtung leicht widerlegt werden können. Die erste Lösungsvariante zum komparativen Verhältnis zwischen quantifizierter und nichtquantifizierter Gefährdung eines Rechtsguts kann wie folgt formuliert werden: Variante 1. Es kann allgemein angenommen werden, daß die Vermeidung einer nichtquantifizierten Gefährdung normativ genauso „wertvoll“ ist wie das Rechtsgut selbst.

Eine Falsifizierung dieser Annahme ergibt sich jedoch sogleich aus folgender Überlegung. Wäre „Variante 1“ allgemein zutreffend, wären normative Ordnungen indifferent hinsichtlich der Frage, ob die Vermeidung einer nichtquantifizierten Gefährdung eines Rechtsguts mit dem Rechtsgut selbst erkauft werden darf. Entscheidungen gegen die nichtquantifizierte Gefährdung und für die quantifizierte Gefährdung desselben Rechtsguts wären also mit jeder normativen Ordnung vereinbar. Eine objektiv sichere Preisgabe eines Rechtsguts wäre damit erlaubt, um eine objektive Ungewißheitslage für dasselbe Rechtsgut zu beenden.1233 Weil diese Konsequenz von „Variante 1“ falsch ist, kann die Hypothese der „Gleichwertigkeit“ auf diese Weise widerlegt werden (modus tollens der Falsifikation).1234 Die zweite Interpretationsvariante für das allgemeine Verhältnis zwischen quantifizierter und nichtquantifizierter Gefährlichkeit kann so gefaßt werden: Variante 2. Es kann allgemein angenommen werden, daß die Vermeidung einer nichtquantifizierten Gefährdung [NQ] normativ weniger „wertvoll“ ist als das Rechtsgut [R] selbst.

Zur Falsifizierung dieser Annahme können wir folgenden indirekten Beweis verwenden: Wenn die Annahme in „Variante 2“ richtig ist, kann ein Unterschied [U ] in der „Wertigkeit“ von NQ und R festgestellt werden, für den gilt, daß …1†

U > 0:

1233 Beispiel: Im Wanderer-Dilemma (oben sub. § 8 II. 2.) wäre eine Wahl zwischen „Entscheidung an der unbekannten Weggabelung“ (Ungewißheit des Verdurstens) und „Verweigerung des Weitergehens an der unbekannten Weggabelung“ (Gewißheit des Verdurstens) indifferent. 1234 Dazu oben sub. § 8 IV. 1.

322

Kap. II: Theorie der Rechtsgüterrelationen

Mit anderen Worten ist also die Ungünstigkeit1235 einer Opferung von R größer als die Ungünstigkeit der Nichtvermeidung der nichtquantifizierten Gefährlichkeit NQ, oder noch anders: Entscheidungen zwischen einer Opferung von R und der Nichtvermeidung der nichtquantifizierten Gefährlichkeit NQ fallen immer zugunsten der Nichtvermeidung der nichtquantifizierten Gefährlichkeit NQ aus. Infolgedessen gilt, daß …2†

NQ ‡ U  R:

Nach dem allgemeinen Kalkül der Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt weiter für alle nichtquantifiziert gefährlichen Sachverhaltskonstellationen, daß NQ den Schaden R herbeiführt mit einer Wahrscheinlichkeit p zwischen 0 und 1. Daß über p nicht mehr bekannt ist als …3†

0  p  1;

folgt aus der Prämisse der Zurechnung des Fehlens einer Prognose. Denn sofern irgendeine Verengung des Wahrscheinlichkeitskorridors vorgenommen werden soll, bedarf es einer Prognose.1236 Daraus ergibt sich, daß der zukünftig eintretende Schaden aus der Realisierung nichtquantifizierter Gefahren dem Wert des Rechtsguts multipliziert mit der unbekannten („nichtquantifizierten“) Eintrittswahrscheinlichkeit p entspricht, also: …4†

NQ ˆ p  R:

Über das in (4) verwendete p ist nicht mehr bekannt als (3). Weiter ergibt sich sogleich1237 unter Verwendung von (2) und (4), daß …5†

…p  R† ‡ U  R:

Durch einfache Äquivalenzumformung folgt1238 aus (5), daß …6†

p

R

U : R

Der interessante Aspekt an (6) ist, daß sich aus dieser Relation in Verbindung mit (1) die zu weitreichende Konsequenz 1235 Das Kriterium der Günstigkeit bzw. der Ungünstigkeit wird ausschließlich normativ bestimmt aus der Perspektive der jeweiligen Rechtsordnung. 1236 Dazu im einzelnen oben sub. § 8 II. 3. b). 1237 Bei einer Substitution von NQ. 1238 Es gilt immer R > 0, denn sonst wäre R kein Rechtsgut.

§ 9 Theorieverallgemeinerungen …7†

323

p