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German Pages 518 [512] Year 2015
Tim B. Müller | Adam Tooze (Hg.)
Normalität und Fragilität Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg
Hamburger Edition
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-651-4 E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2015 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-294-3 Umschlaggestaltung: ilfried andras Satz aus der Stem el aramond on Dörlemann Satz, Lemförde
Inhalt
Inhalt Tim B. Müller | Adam Tooze Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg
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I Konstellationen, Kontinuitäten und Konvergenzen Adam Tooze Ein globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen Hedwig Richter Die Konvergenz der Wahltechniken und die Konstruktion des modernen Wählers in Europa und Nordamerika 70 Benjamin Schröder Wer ist Freund, wer Feind? Parteien und Wähler in politischer Unsicherheit Laura Beers Frauen für Demokratie Möglichkeiten und Grenzen des zivilgesellschaftlichen Engagements
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Andrea Rehling Demokratie und Korporatismus – eine Beziehungsgeschichte 133 Philipp Müller Neuer Kapitalismus und parlamentarische Demokratie Wirtschaftliche Interessenvertreter in Deutschland und Frankreich 154
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Inhalt
Moritz Föllmer Führung und Demokratie in Europa
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II Nationale Kontexte, Konflikte und Kontingenzen Helen McCarthy Das »Making« und »Re-Making« der demokratischen Kultur in Großbritannien 201 Ben Jackson Keynes, Keynesianismus und die Debatte um Gleichheit 218 Jessica Wardhaugh Demokratische Experimente in der politischen Kultur Frankreichs 239 Tim B. Müller Demokratie, Kultur und Wirtschaft in der deutschen Republik 259 Philipp Nielsen Verantwortung und Kompromiss Die Deutschnationalen auf der Suche nach einer konservativen Demokratie
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Stefanie Middendorf Finanzpolitische Fundamente der Demokratie? Haushaltsordnung, Ministerialbürokratie und Staatsdenken in der Weimarer Republik 315 Urban Lundberg »Volksheim« oder »Mitbürgerheim«? Per Albin Hansson und die schwedische Demokratie
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Inhalt
Jeppe Nevers Demokratiekonzepte in Dänemark nach dem Ersten Weltkrieg 379 Johanna Rainio-Niemi Die finnische Demokratie in der Zwischenkriegszeit
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Elisabeth Dieterman Demokratische Perspektiven in den Niederlanden der 1930er Jahre 421 Andrea Orzoff Das Personal und das Vokabular der Demokratie Die Erste Tschechoslowakische Republik 436 Till Kössler Demokratie und Gesellschaft in Spanien Populäre Vorstellungen der Zweiten Republik 1931–1936 463 Jason Scott Smith Der New Deal als demokratisches Projekt Die Weltwirtschaftskrise und die Vereinigten Staaten
Zu den Autorinnen und Autoren Zu den Herausgebern
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Einleitung
Tim B. Müller | Adam Tooze
Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg
Gibt es eine Geburtsstunde der modernen Demokratie? Die jüngste Forschung bietet Grund, zur Untersuchung dieser Frage in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere auf die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zu blicken. Das ist auch der Ansatz, den dieser Band vorschlägt und verfolgt. Sein Thema ist das making of democracy im Ersten Weltkrieg und vor allem nach 1918. Er begreift die Demokratie dieser Zeit konsequent als etwas im Entstehen Begriffenes. Eine solche Lesart folgt aus einer vergleichenden, nationale Grenzen überschreitenden Betrachtungsweise. Aber damit wird die Vorgeschichte nicht ausgeblendet. Bereits im späten 19. Jahrhundert baute sich eine globale Demokratisierungswelle auf und machte sich ein weltweites Demokratisierungsverlangen bemerkbar. Erweiterungen des Wahlrechts waren an der Tagesordnung, doch das allgemeine Wahlrecht lag für die meisten Gesellschaften noch fern. Diese ungleichen, aber gleichzeitigen Entwicklungen sind als »Demokratisierungsepisoden« bezeichnet worden. Die Demokratie wurde zur globalen Erwartung.1 Das gilt auch für traditionell als demokratisch geltende Gesellschaften, die jedoch erst in dieser Epoche entscheidende Demokratisierungsschübe erlebten.2
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Daniel Ziblatt, »How did Europe Democratize?«, in: World Politics 58 (2006), Heft 2, S. 311–338, hier: S. 314. Vgl. den Beitrag von Adam Tooze in diesem Band. Für Frankreich etwa hat die jüngere Forschung eine Demokratieakzeptanz unter urbanen Eliten erst für das späte 19. Jahrhundert und eine Durchset-
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In dieser Perspektive summierte sich im Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach die Vielzahl der Demokratisierungsimpulse, teils unabhängig vom Krieg und teils bedingt oder beschleunigt durch den Krieg, zu einem qualitativen, fundamentalen Wandel. Die Demokratiegeschichte ist eine Geschichte multipler Temporalitäten. Sie ist ohne Vorläufer und Vorbilder, ohne Traditionen, in die sich die Handelnden nach dem Ersten Weltkrieg einschrieben und auf die sie sich zur Legitimationsstiftung beriefen, nicht denkbar. Aber sie ist auch nicht begreifbar, ohne die Neuartigkeit der Globalität, Gleichzeitigkeit und Geschwindigkeitssteigerung zu registrieren, die mit dem Beginn des massendemokratischen Zeitalters einherging, und die zuvor ungekannten Herausforderungen zu berücksichtigen, denen sich all diese neuen Demokratien gegenübersahen und für die sie angemessene Umgangsweisen entwickeln mussten. Die Grundregeln des Politischen änderten sich schlagartig. Neue Unsicherheiten und neue Möglichkeiten strukturierten den politischen Handlungshorizont. Diese Lesart beruht auch auf theoretischen Einsichten. Ein so vielfältiges und vielschichtiges gesellschaftliches Gefüge wie Demokratie lässt sich nicht auf den Punkt bringen; dieses Gewebe aus Vorstellungen und Handlungen, Institutionen und Ideen, Gewohnheiten und Affekten beschreibt eine politisch-kulturelle Entwicklung und keine definitive, historisch stillgestellte Verfassungsordnung. Das Prozesshafte der Demokratie fasst der französische Denker und Historiker der Demokratie, Pierre Rosanvallon, in das mittlerweile vielzitierte Aperçu, wonach es einer Geschichte der Demokratie »nicht allein darum geht, dass die Demokratie eine Geschichte hat. Es gilt, den radikaleren Gedan-
zung demokratischer Formen der Politik erst durch die Massenmobilisierungen der 1930er Jahre herausgearbeitet; vgl. Philip Nord, The Republican Moment. Struggles for Democracy in Nineteenth-Century France, Cambridge, Mass. 1995; ders., France’s New Deal. From the Thirties to the Postwar Era, Princeton 2010; Jessica Wardhaugh, In Pursuit of the People. Political Culture in France, 1934–39, Basingstoke 2009; sowie den Beitrag von Jessica Wardhaugh in diesem Band; zu Großbritannien vgl. den Beitrag von Helen McCarthy, zu den Vereinigten Staaten die Beiträge von Hedwig Richter und Jason Scott Smith in diesem Band.
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Einleitung
ken in Betracht zu ziehen, dass die Demokratie eine Geschichte ist.«3 Rosanvallon gehört zu den Stichwort- und Impulsgebern neuer Geschichten der Demokratie, denen nationale Pädagogik, das Verteilen von Zensuren und die normative Überhöhung einer selbst nicht historisierten Gegenwart widerstrebt, ohne dass sie den Zusammenhang ignorieren, der diese Geschichte, die sich selbst Demokratie nennt, in all ihrer Widersprüchlichkeit verbindet. Die Grundlagen für ein solches Vorgehen wurden schon vor Jahren gelegt.4 Es gab seitdem bedeutende und verdienstvolle Unternehmungen, die internationale Forschung über die Demokratie seit 1900 oder in der Zwischenkriegszeit ins Gespräch zu bringen, wobei es zumeist jedoch beim Festhalten am Definitorischen blieb, wenn auch die der gegenseitigen Übersetzbarkeit zwischen den Disziplinen dienenden Definitionen immer offener wurden.5 Bis in maßgebliche historische Darstellungen hinein überwiegt dabei nach wie vor eine pessimistische Perspektive, die eher die extremen Krisen, die Schwäche oder den Untergang der Demokratie erklären als ihre Chancen ausloten oder Erwartungshorizonte erkunden will. Ambivalenzen – etwa die Spannungen zwischen individuellen Rechten und kollektiven Ligaturen, der Ruf nach Führung und Stärkung der Exekutive oder die in Demokratien ubiquitäre Parlamentarismus-
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Pierre Rosanvallon, »Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des Politischen. Antrittsvorlesung am Collège de France, Donnerstag, den 28. März 2002«, in: Mittelweg 36 20 (2011), H. 6, S. 43–66, hier: S. 49. Vgl. auch ders., Democracy Past and Future, hrsg. von Sam Moyn, New York 2006; ders., Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Hamburg 2010; ders., Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013. Vgl. etwa Christian Meier u. a., »Art. Demokratie«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 821–899; Wolfgang Mager, »Art. Republik«, in: Ebenda, Bd. 5, S. 549–651. Vgl. etwa Dirk Berg-Schlosser/Jeremy Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy in Europe 1919–39. Comparative Analyses, London 2002; ders./ Jeremy Mitchell (Hg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39. Systematic Case Studies, London 2000; Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; ders. (Hg.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008.
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und Parteienkritik – treten dabei kaum als konstitutive, »normale«, unvermeidliche, weiterhin theoretisch und praktisch herausfordernde Merkmale von Demokratien auf, sondern häufig als destruktive Vorboten des Zerfalls.6 Einen anderen Weg weisen Interventionen und Untersuchungen, die sich vom Versuch der historischen Fixierung lösen und mit einem nominalistischen Zugriff experimentieren, der jedoch kein antiquarischer Nominalismus ist. Diese Debattenrekonstruktionen setzen bei den Vorstellungen und Erwartungen, Selbst- und Situationswahrnehmungen der Zeitgenossen an, sie analysieren Ereignisse und Entwicklungen in ihren individuellen Kontexten, sie sind kontingenzsensibel. Zugleich leugnen diese Ansätze nicht das Kontinuitätsproblem, das sich auch im Hinblick auf die vielen zu rekonstruierenden Demokratie-Geschichten stellt: Die Handelnden schrieben sich selbst in eine kontinuierliche Geschichte der Demokratie ein, die auch als Akteursvorstellung nur in Überschreitung lokaler Kontexte und unter Zuhilfenahme strukturanalytischer 6
Vgl. neben der im letzten Jahrzehnt wohl einflussreichsten Deutung von Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000, etwa Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982; Jan-Otmar Hesse, »Wirtschaftspolitische Bewältigungsstrategien nach der Krise. Deutschland und die USA in den 1930er Jahren«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010), S. 315–329; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 997–2014; Gunther Mai, Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001; Paul Nolte, »Jenseits des Westens? Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der Demokratie«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 275–301; Richard Overy, The Morbid Age. Britain between the Wars, London 2009; Werner Plumpe, Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2011, S. 71–91; Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2001; Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, Frankfurt am Main 2008; Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945, München 2008; Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007; sowie etliche der Beiträge in: Berg-Schlosser/Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy; dies. (Hg.), Conditions of Democracy; Gusy (Hg.), Demokratisches Denken; ders. (Hg.), Demokratie in der Krise.
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Einleitung
Vorgehensweisen zu erschließen ist. Zuletzt verschließen sich diese Forschungen und Überlegungen nicht der theoretischen Herausforderung, die sich aus dieser Historisierung von Kulturen und Konzeptionen der Demokratie ergibt: Sie zwingt uns, die Fragen nach der Fragilität und Stabilität, nach den Integrationsmöglichkeiten und Ausgrenzungstechniken, nach den Erschöpfungszuständen und der Kreativität, nach den Potenzialen – den eröffneten wie den unausgeschöpften – und Grenzen der Demokratie neu zu stellen. Demokratie lässt sich auf diesem historischen Fundament nur als fragile und fluide politische Ordnung denken, in der keine unüberwindlichen Hürden den Optimismus vom Zusammenbruch, das Selbstverständlichwerden von der Befeindung der Demokratie trennen.7 Aber man muss beides erkennen und erforschen – die optimistische Erwartung und die zerstörerische Mischung aus Ressentiments und Resignation, die enthusiastische Kreativität und die gewaltsame Gegenbewegung bis hin zur Auflösung, die Schattenseiten und die strahlende Hoffnung, die nicht nur eine Nation, sondern viele Gesellschaften beinahe gleichzeitig nach dem Ersten Weltkrieg erfasste. Um das zu leisten, wird kein Weg vorbeiführen an einer erneuten Rekonstruktion zeitgenössischer Perspektiven und Handlungszusammenhänge, die davon Abstand nimmt, Gewissheiten zu wiederholen, die schon zu lange feststehen, ohne im7
Vgl. etwa Joris Gijsenbergh u.a. (Hg.), Creative Crises of Democracy, Brüssel 2012; Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005; ders. (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur Politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933, München 2007; Jussi Kurunmäki/Johan Strang (Hg.), Rhetorics of Nordic Democracy, Helsinki 2010; Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000; Anthony McElligott (Hg.), Weimar Germany, Oxford 2011; Helen McCarthy, »Whose Democracy? Histories of British Political Culture between the Wars«, in: The Historical Journal 55 (2012), S. 221–238; Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2012; Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013; Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; Adam Tooze, The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, London 2014.
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mer wieder auf ihre sachliche und theoretische Plausibilität überprüft worden zu sein – ein in der Wissenschaft üblicher, von immer neuen Erkenntnissen und Erfahrungen geleiteter Revisionsprozess. Eine solche Rekonstruktion muss das Gedachte und Geschehene vom Anfang erschließen und nicht vom Ende zurückblicken; es ist eine der Aufgaben der Geschichtswissenschaft, die Geschichte »dem Schein des Soges von Notwendigkeit der Strukturen und Prozesse« zu entziehen, »an individuelle Entscheidungen, an kontingente Ereignisse, an Alternativen und Optionen« zu erinnern, »die Offenheit aller Situationen im Bewusstsein zu halten«, oder wie es eine Neuformulierung dieses historistischen Grundsatzes ausdrückt: »Wer nur nach der Vorgeschichte der Probleme […] der zeitlich je unterschiedlichen Gegenwarten fragt, folgt einer verborgenen Teleologie und blendet jene Entwicklungen aus, die abgebrochen wurden, die scheiterten oder im Sande verliefen.«8 Das gilt nicht nur für den deutschen Fall. Die amerikanische, die britische, die französische oder die schwedische Geschichte der »Zwischenkriegszeit« sind nicht weniger explizit oder implizit teleologischen Interpretationen unterzogen worden, in denen die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg als langfristig irrelevantes Intermezzo der Katastrophen oder als Durchgangsstation einer bruchlosen Demokratiegeschichte erscheinen.9 Erkenntnistheoretisch ist es eine konstante Herausforderung für die Geschichtswissenschaft, aus dem Späteren nicht auf das Frühere zu schließen, nicht in die Falle der »embryogenetischen Obsession« zu tappen, einen dem jeweiligen 8
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Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1998, S. 418; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 16. Gegen solche nach wie vor prominenten Deutungsmuster argumentieren etwa die Beiträge von Helen McCarthy, Jessica Wardhaugh oder Urban Lundberg in diesem Band; vgl. auch, auf unterschiedlichen Ebenen, Steve Fraser/Gary Castle (Hg.), The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930–1980, Princeton 1989; Ira Katznelson, Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013; Nord, Republican Moment; ders., France’s New Deal; Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge 2001. – Wenn in diesem Band das Wort Zwischenkriegszeit verwendet wird, handelt es sich um eine Epochenbezeichnung ohne die deterministischen Konnotationen, die in manchen Redeweisen von der »Zwischenkriegszeit« aufscheinen.
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Einleitung
individuellen Zusammenhang angemessenen Umgang mit den Problemen von Kontinuität und Konsistenz zu finden, der bei den Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen der Zeitgenossen ansetzt.10 An dieser Stelle setzt der vorliegende Band ein, der auf eine Tagung im Hamburger Institut für Sozialforschung im November 2013 zurückgeht. Die Absicht war, Demokratien und Demokratie nicht als etwas Fixiertes zu untersuchen, sondern »Geschichte in the making zu erfassen, während sie ihr volles Potenzial aufweist«, bevor es sich in eine bestimmte Richtung entfaltet. Diese Geschichte der Demokratie ist ebenso sehr von Fragilität wie von Kreativität, von Instabilität wie von Stabilität gekennzeichnet.11 Was das Vorgehen betrifft, könnte man die meisten der versammelten Texte als Beiträge zu einer kulturgeschichtlich informierten Geschichte politischer Begriffe, Praktiken und Vorstellungen charakterisieren, die auch die Konstitution der Ökonomie in den Mittelpunkt der historischen Auseinandersetzungen um die Demokratie rückt. Inspiriert wurden die Autorinnen und Autoren von unterschiedlichen methodischen und theoretischen Ansätzen, wie der Begriffsgeschichte, der intellectual history der Cambridge School, Pierre Rosanvallon und seiner von François Furet, Claude Lefort und Cornelius Castoriadis ausgehenden philosophischen 10
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Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 2002, S. 33. Einige wenige von zahlreichen klassischen Orten dieser Reflexion sind etwa Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 158–207; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, S. 27–77, 246–264, 298–316; ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, S. 86–98; Siegfried Kracauer, History. The Last Things Before The Last, New York 1969; Dominick LaCapra, Representing the Holocaust. History, Theory, Trauma, Ithaca 1994, S. 1–41, 205–223; Thomas Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1990, S. 225–248; sowie etliche der Grundlagentexte in: Fritz Stern/Jürgen Osterhammel (Hg.), Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis in die Gegenwart, München 2001. Rosanvallon, Democracy Past and Future, S. 66; vgl. Gijsenbergh u.a. (Hg.), Creative Crises; Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt 1987; zur »Möglichkeitsstruktur« der Geschichte Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 165f., 205f.
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Geschichte des Politischen, diversen Historiografien der political economy, Michael Foucault und der Geschichte der Gouvernementalität, von den Erkenntnissen des linguistic turn und den Einsichten eines reflektierten und selbstkritischen Historismus und der politischen Kulturgeschichte, wofür Thomas Nipperdey, Wolfgang Hardtwig oder auch Thomas Mergel stehen.12 Einige dieser Einflüsse werden deutlich werden, andere sind eher von der Darstellung absorbiert; doch worauf es allen ankommt, ist, dass das historische Material auf neue Weise befragt und neue Interpretationen zur Diskussion gestellt werden. Das hoffen die Beteiligten, vornehmlich jüngere Historikerinnen und Historiker aus mehreren Ländern, Experten für ihre Geschichten der Demokratie, mit diesem Band erreicht zu haben. Wenn Vorstellungen dabei im Mittelpunkt stehen, lässt sich diese Art der Annäherung an ein unlösbares Problem nicht als »bloße« Ideengeschichte abtun. Nicht nur die Einwände gegen die erkenntnistheoretische Naivität einer Geschichte der harten »Fakten«, die gerade auf ökonomischem Gebiet – wo Philip Mirowski zufolge »physics envy« zur Abkopplung von einer der Mechanik und Modellierung widerstrebenden Geschichte führte13 – so gern 12
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In einer solchen politischen Kulturgeschichte geht es Wolfgang Hardtwig, Politische Kultur der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 2011, S. 205, zufolge um die »Verknüpfung historisierter anthropologischer Fundamentalkategorien mit den Institutionen, Praktiken und Deutungen von Politik […]. Ein solcher integrierender Ansatz lässt sich konzeptionalisieren, indem man etwa nach der Erfahrung, Deutung und symbolischen Vergegenwärtigung von Raum, Zeit, Körper, Emotion, Wissen, Arbeit, Kommunikation und schließlich der politischen, sozialen, religiösen und intellektuellen Orientierungen im engeren Sinne fragt.« Vgl. auch Thomas Mergel, »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–600; Thomas Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976; Referenzpunkte der politischen Kulturgeschichte mit ihrer Aufmerksamkeit für die semantische und symbolische Konstitution und Eigendynamik des Politischen sowie ihrer Zurückweisung ökonomischer oder sozialer Reduktionen bleiben die Arbeiten und Interventionen von François Furet, 1789 – Jenseits des Mythos, Hamburg 1989; ders./Mona Ozouf (Hg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, 2 Bde., Frankfurt am Main 1996. Philip Mirowski, More Heat than Light. Economics as Social Physics, Physics as Nature’s Economics, Cambridge 1991, S. 354.
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Einleitung
und so unermüdlich gegen die Zumutungen des uneindeutigen Politischen ins Feld geführt werden, wiegen zu schwer. Handeln und Vorstellungen sind für die versammelten Beiträge nicht voneinander zu trennen. Es geht ihnen um eine »Gesellschaftsgeschichte handlungssteuernder Ideen«, um Vorstellungen und Ordnungskonzepte, »die im sozialen und politischen Geschehen formende Wirkung entfalten«, um Modi der Realitätskonstruktion und der Realitätserschließung zugleich, um »all jene ›aktiven‹ Vorstellungen […], die das Handeln leiten, das Feld des Möglichen durch das des Denkbaren begrenzen und den Rahmen für Kontroversen und Konflikte abstecken.«14 Demokratie ist dabei kein Ordnungskonzept wie jedes andere, weder für die historisch Handelnden noch für die diese Geschichte erforschenden Historiker. In der bereits erwähnten Literatur und an vielen anderen Stellen lässt sich nachvollziehen, wie die Demokratie im Revolutionszeitalter um 1800 zum universalen Erwartungsbegriff wurde, zur politischen Zukunftsverheißung. Sie war nicht länger ein Stadium im ewigen Verfassungskreislauf und verlor, den Schrecknissen der terreur zum Trotz, den Beiklang der Pöbelherrschaft. Sie wurde neu gedacht, als auf Dauer errichtete oder zu errichtende repräsentative Verfassungsordnung der Bürger. Schon in diesen Jahrzehnten konnte Demokratie vereinzelt bereits mehr bedeuten, das Ziel einer neuen Gesellschaftsform bezeichnen. Doch behielt der Begriff der Demokratie eine oppositionelle Bedeutung in den politischen Auseinandersetzungen bei. Die hier versammelten Beiträge zeigen im Einklang mit der neueren Forschung, dass die Demokratie erst in den Jahren um oder nach dem Ersten Weltkrieg die entscheidende Schwelle überschritt, nicht länger als Ausdruck von Protest- oder Reformverlangen galt und viel mehr bezeichnete als eine mit Hoffnung oder Furcht erwartete Verfassungsordnung: eine alle Lebensbereiche erfassende Regierungsund Lebensform, die den neuen politischen Horizont bildete und deren Ablösung zunehmend undenkbar wurde, die zentrale Kategorie des Politischen. 14
Anselm Doering-Manteuffel, »Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 321–348, hier: S. 324; Rosanvallon, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 56.
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Die Beiträge machen ein doppeltes Spannungsverhältnis sichtbar: zwischen der beträchtlichen normativen Konstanz dessen, was Demokratie seit mehr als zwei Jahrhunderten in den Augen ihrer Erbauer und Verfechter sein soll,15 und der empirisch variablen »Verwirklichung der Demokratie«16 einerseits; andererseits zwischen den unterschiedlichen, miteinander wetteifernden, konvergierenden und antagonistischen Sprachen, Begriffen und Vorstellungen, Praktiken, Kulturen und Affektlagen der Demokratie in ihren spezifischen Kontexten und Konstellationen. Die Analyse muss darum ständig einen heuristischen Idealtypus, der als Ausgangspunkt unvermeidlich zu konstruieren ist, durch die Rekonstruktion der vielen konkreten Verwendungen des Begriffs, der Funktionen und Realisierungen der Sache in individuellen Kontexten korrigieren. Das leisten die nachfolgenden Beiträge auf ihre jeweils eigene Weise, wenn sie unterschiedliche Zugänge wählen. In einer Geschichte der Demokratie, wie sie dieser Band vorschlägt, verfügt keine Seite in den historischen Konflikten um die Demokratie a priori über die Definitionshoheit, doch können sich Konvergenzen und Koalitionen einstellen, die in einer historischen Konstellation die Bedeutung von Demokratie stabilisieren. Genau das scheint – bei aller Widersprüchlichkeit der Debatten, was diesen Prozess umso erstaunlicher macht – in den Jahren nach 1918 geschehen zu sein. Aber Demokratie blieb eine zukunftsoffene Kollektivhandlung, gerichtet auf Ermöglichungen und Erweiterungen von Freiheit, zugleich durchzogen von Widersprüchen und Pathologien, von Entgleisungen der Mehrheit und der Unterdrückung von Minderheiten. Auch die Demokratie hat »dunkle Seiten«, die zwar mitunter verzerrt und vergrößert dargestellt werden, sich aber nur mit großem argumentativen Aufwand als unwesentlich abtun lassen.17 15
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Sowohl den von den Handelnden als konstant aufgefassten normativen Kern als auch die vielfältige und widersprüchliche historische Praxis der Demokratie verbindet die Darstellung von Rosanvallon, Gesellschaft. Otto Kirchheimer, »Weimar – und was dann? Analyse einer Verfassung [1930]«, in: ders., Politik und Verfassung, Frankfurt am Main 1964, S. 9–56, hier: S. 15. Vgl. etwa Mazower, Kontinent; Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007; John Keane,
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Einleitung
Die Entstehung der Demokratie als Wert an sich, die Akzeptanz dieser Demokratie, die Vielfalt ihrer Ausdrucksformen im politischen und im Alltagsleben, die Ausbildung eines allgemeinen demokratischen Erwartungshorizonts sind die Kernfragen, denen sich dieser Band widmet und denen sich hoffentlich noch viele weitere Forschungen stellen werden – denn wie die Demokratie selbstverständlich wurde und es auch in existenziellen Krisen blieb, während sie sich weiter wandelte und den Herausforderungen anpasste, darüber wissen wir viel zu wenig. Wenn die Demokratie nach 1918 das Feld wurde, auf dem um das Ganze gestritten wurde, und wenn die Erforschung dieser Geschichte in ihren zeitgenössischen Handlungsrahmen und Erwartungshorizonten darum nahelegt, »dem Verlauf der Experimente und Annäherungen, der Konflikte und Kontroversen zu folgen, mittels deren das Gemeinwesen eine legitime Form anzunehmen versuchte«,18 dann stellt diese methodische Entscheidung eine normative und theoretische Zumutung dar. Normativ, weil sich diese Geschichte weder von ihrer Erforschung noch von ihrer fortgesetzten Entwicklung trennen lässt, solange wir in demokratischen Gesellschaften und Gemeinwesen leben. Auch der Versuch der Historisierung und Entnormativierung entkommt diesem Problem nicht, wie etwa das Werk Rosanvallons deutlich macht, in dem sich Historisierung, Theoriearbeit und Initiativen zur Aktualisierung einer unabgeschlossenen Geschichte verbinden. Theoretisch, weil sich in den Vorstellungen von Demokratie – unter den Zeitgenossen nach 1918, aber auch in vielen Redeweisen der Gegenwart – ein umfassendes, beinahe totales Verständnis des Politischen artikuliert. Politik mag, je nach Lesart und theoretischer Festlegung, durch selbstreferenzielle Bezüge, durch Kommunikation, Habitualisierungen und Routinisierungen des Handelns konstituiert und perpetuiert werden können – Demokratie nicht. Demokratie erhebt – oder wenigstens erhob sie über lange Phasen ihrer Geschichte hinweg – nicht nur einen normativen Anspruch, sie will oder wollte auch der Kern des Sozialen sein. Insofern ist Demokratie auch eine Zumu-
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Violence and Democracy, Cambridge 2004; ders., The Life and Death of Democracy, London 2009. Rosanvallon, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 49f.
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tung für viele Vertreter anderer Sozialwissenschaften. Die systemtheoretische Soziologie kennt das Politische nur als Teilsystem der Gesellschaft, ein Zentrum existiert nicht, autonome Handlungsfelder regulieren sich selbst. Geschichte taucht dabei in Gestalt von sehr allgemeinen, oft problematischen und überholten Annahmen über die Entwicklung der Moderne auf.19 Die Politikwissenschaft hat sich in vielen Fällen für eine historisch eher desinteressierte, kontextunabhängige Klassifizierung von Demokratiemerkmalen entschieden.20 Beide Ansätze könnten einer Geschichte der Demokratie wie der skizzierten nicht fremder sein. Aber vielleicht ließen sich dennoch interdisziplinäre Gesprächsangebote unterbreiten, wenn es der Geschichtswissenschaft gelingt, durch historische Annäherungen zu einer schärferen empirischen Erfassung und theoretischen Bestimmung von Demokratie beizutragen und so ihre Sache stärker zu machen. Handelt es sich bei dieser Geschichte, deren Protagonisten doch schon im 19. Jahrhundert mit einem universalen Erwartungsbegriff den Anspruch erhoben, für die ganze Welt zu sprechen, um eine rein europäische oder westliche Geschichte? Auch wenn der Begriff der »westlichen Demokratie(n)« im Ersten Weltkrieg erfunden wurde21 – Träume von einer weltweiten Ausbreitung der Demokratie sind nichts Neues. Um nur ein literarisches Beispiel von 1851
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Vgl. nur eines der prominentesten, für eine mittlerweile gewaltige systemtheoretische Literatur stehenden Beispiele: Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981; Helmut Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion, Frankfurt am Main 2014; vgl. jedoch zur Vielfalt der soziologischen Theoriebildung über die Moderne Hans Joas/Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Berlin 2011; Wolfgang Knöbl, Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit, Weilerswist 2001. Vgl. etwa Dirk Berg-Schlosser (Hg.), Democratization. The State of the Art, Opladen 2007; Svend-Erik Skaaning/Jørgen Møller, Democracy and Democratization in Comparative Perspective. Conceptions, Conjunctures, Causes, and Consequences, London 2013. Für Geschichtswissenschaft wie Soziologie weiterführend ist Francis Fukuyama, The Origins of Political Order. From Prehuman Times to the French Revolution, London 2011; ders., Political Order and Political Decay. From the Industrial Revolution to the Globalisation of Democracy, London 2014. Vgl. Llanque, Demokratisches Denken.
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Einleitung
zu zitieren: »[…] und wenn es der Raum erlaubte, ließe sich klar und deutlich zeigen, wie diese Walfänger schließlich und endlich den Anstoß zur Befreiung Perus, Chiles und Boliviens vom Joche des Alten Spaniens und zur Errichtung der ewigen Demokratie in diesen Breiten gaben.«22 Seit den demokratischen Revolutionen im späten 18. und im 19. Jahrhundert tauchten diese Vorstellungen immer wieder auf. In den Jahren seit dem Ersten Weltkrieg verstärkten sie sich, eine weltweite Demokratisierung rückte in den Erwartungshorizont der Zeit. Auch in Russland, Indien, China oder Japan wurde um Demokratie, um das Wahlrecht und die Gewaltenteilung öffentlich gestritten; die größten Wahlen, die die Welt bisher gesehen hatte, wurden organisiert, Hunderte Millionen von Menschen wählten zum ersten Mal in ihrem Leben. Es gab keinen Teil der Welt, der nicht von dieser Erwartung erfasst wurde.23 Aber die Jahre nach 1918 erinnern zugleich daran, dass Wahlen und einigermaßen friedliche Regierungswechsel in den Augen der Zeitgenossen nicht das einzige Kriterium für die Entstehung, das Selbstverständnis und den Fortbestand von Demokratien waren. Die Globalität der Erwartung bedeutete nicht die Gleichzeitigkeit der Entwicklung. Auch in Europa wurde die Demokratie nicht überall zur Normalität. Das trifft nicht nur im Hinblick auf die politischen Ereignisse und Institutionen zu. Ungeachtet der wechselseitigen Verflochtenheit und Beobachtung war etwa in Osteuropa die Wahrnehmung, in Demokratien zu leben, oder die Thematisierung der Demokratie in den politischen Debatten als selbstverständliche Regierungs- und Lebensform sehr viel weniger ausgeprägt als in den Teilen des Kontinents, mit denen sich die Beiträge dieses Bandes befassen.24 In der Gegenwart sind ähnliche Erfahrungen gemacht worden. Die jüngste Welle globaler Demokratisierung ebbte schnell wieder ab. Der Sturz oder Austausch von Machthabern und die Durchfüh22 23 24
Herman Melville, Moby Dick oder Der Wal. Deutsch von Matthias Jendis, München 2001, S. 193. Vgl. den Beitrag von Adam Tooze in diesem Band, sowie Tooze, Deluge, S. 68–107, 173–198, 321–332, 374–393. Vgl. etwa Balázs Trencsényi, The Politics of »National Character«. A Study in Interwar East European Thought, London 2012; ders. u.a. (Hg.), Negotiating Modernity. History of Modern Political Thought in East Central Europe, 2 Bde., Oxford 2015–2016 (im Druck).
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rung einigermaßen freier und gleicher Wahlen führen nicht zwangsläufig zum Selbstverständlichwerden der Demokratie. Auch diese Einsicht tauchte in den Diskussionen nach 1918 auf, in denen die Vorstellungen von Demokratie umfassend waren und weit über politische Institutionen hinausgingen. Nach dem Ersten Weltkrieg vertraten minimalistische, allein den Wahlakt oder die Artikulation des Volkswillens in den Mittelpunkt stellende Kriterien von Demokratie eher die Anhänger plebiszitärer, parademokratischer Diktaturvorstellungen.25 Rekonstruktionen vergangener Debatten schützen vor einer Verengung und Ausdünnung von Demokratiekonzepten, sie können Handlungshorizonte öffnen und zur Selbstreflexion anhalten, das Fragilitäts- wie das Kreativitätsbewusstsein schärfen. Demokratie, im Gegensatz zu den Theorien der Demokratie, lässt sich nicht historisch fixieren. Dafür könnte man auf Nietzsches berühmten Satz aus der »Genealogie der Moral« über die Unmöglichkeit, Begriffe wie Demokratie zu definieren, verweisen. Mit Jacques Derrida, der die normativen Zumutungen der Demokratie anders als Nietzsche annahm, lässt sich die Demokratie als ein unendlicher Prozess der Demokratisierung vorstellen, als eine »democratie à venir« – zugleich als ein permanentes Versprechen, eine unabschließbare politische Kritik im Hier und Jetzt und als eine regulative Idee im Hinblick auf die Zukunft.26 Die historische Perspektive muss allerdings auch in Betracht ziehen, dass die größten Augenblicke der Demokratie, der Verwirklichung ihrer Versprechen, bereits hinter uns liegen könnten. In den Diskussionen, die zu diesem Band führten, haben sich sieben Grundverständigungen über die Geschichte der Demokratie nach 1918 eingestellt, die sich in unterschiedlichem Maße in den einzelnen Beiträgen widerspiegeln. Dabei handelt es sich um heuristische und interpretative Vorschläge, um materialerschließende Thesen und Deutungsangebote, nicht um den Versuch, eine neue Orthodoxie zu etablieren. 25 26
Vgl. etwa Paul Nolte, Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 258–264. Vgl. Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt am Main 2003, besonders S. 48–66, 111–134.
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Einleitung
1. Die Zeit seit Beginn des Ersten Weltkriegs kann als konstitutive Phase der modernen Demokratie aufgefasst werden – wobei die Wellenbewegungen und Episoden der Demokratisierung seit dem späten 19. Jahrhundert und auch die multiple Temporalität der Demokratie, ihr permanentes Einschreiben in oder Umschreiben von demokratischen Traditionen, als Fundamente dieser Dynamik zu berücksichtigen sind. Die Demokratie befand sich im Prozess der Entstehung. Dieser Band stellt sich linearen nationalen Kontinuitätsdeutungen entgegen und nimmt stattdessen das internationale demokratische Projekt und die Erwartungen der 1920er und 1930er Jahre ernst. Kontexte sind dabei für die Erklärung relevanter als Kontinuitäten. Wenn auch demokratische Traditionen in unterschiedlichem Maße die Entwicklung beeinflussten, wenn auch einige Demokratien in diesen Jahren einen stabileren Zustand erreichten als andere, handelte es sich dennoch überall zugleich um einen Neuanfang, um einen Augenblick, wenn nicht eine Epoche der radikalen Diskontinuität. 2. Zur Korrektur vorherrschender Deutungsmuster wird eine verhalten optimistische Lesart vorgeschlagen. Schlagwörter wie »dunkler Kontinent«, »Zeitalter der Extreme« und »Katastrophenzeitalter«, »Nachkriegs-Gewaltgesellschaften« verdecken den demokratischen Prozess, den dieser Band als das zentrale politische Ereignis dieser Epoche in den Blick nimmt. Darum wird auch nicht wie in so vielen Deutungen unproblematisch vom Scheitern von Demokratien oder gar der Demokratie gesprochen, sondern vielmehr die Frage aufgeworfen: Wie funktionierte die Demokratie? Wie stellte man sie sich vor, welche Experimente lagen im Möglichkeitshorizont der Zeitgenossen? Wie konnte sich die Demokratie unter schwierigen Umständen herausbilden und in immer neuen Krisen bestehen? Was überhaupt kann Scheitern oder Erfolg in diesen historischen Kontexten heißen? Individuellem Handeln und Kontingenz wird besondere Aufmerksamkeit zugewandt, die Offenheit jeder Krise, die durch sie gebotenen Chancen der kreativen Erneuerung oder Konsolidierung, die Vielfalt und Uneindeutigkeit der möglichen Ergebnisse werden betont. 3. Ein weiteres Spannungsverhältnis der Zeit war das zwischen dem exzessiven Nationalismus einerseits, der durch die Entstehung der modernen Demokratie mit ihrer auf Massenöffentlichkeit und
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Massenkommunikation basierenden Politik noch gesteigert werden konnte, und andererseits den nicht weniger entschlossenen Anstrengungen, nationale Grenzen und Machtpolitik zu überwinden und auf staatliche Souveränität in Teilen zu verzichten, wofür – als sichtbare Zeichen neben vielen anderen – Völkerbund, Washingtoner Flottenabkommen und Locarno standen. Hier ließe sich viel mehr sagen, als es diesem Band möglich ist, in dem etwa die Versuche der supranationalen ökonomischen und finanziellen Integration und militärischen Abrüstung oder die kooperationsbefördernde erste globale amerikanische Hegemonie nur in wenigen Beiträgen angesprochen werden. Deutlich wird jedoch, dass es sich um miteinander verflochtene, »transnationale« Geschichten der Demokratie handelt. 4. Die Lern- und Gewöhnungsprozesse, die Praktiken und das Projekt der Demokratie wurden von den Zeitgenossen als ein langwieriges, komplexes, mehrdimensionales Unternehmen verstanden. Der Übergang zur Volkssouveränität war gerade in den Monarchien mit parlamentarischer Tradition fließender und unvollständiger als in alten und neuen Republiken; das Wahlrecht, dessen Universalität zur Norm geworden war, wurde in der Praxis schrittweise zur gleichen und freien Wahl für Bürgerinnen und Bürger ausgeweitet; Parlament und Regierung waren die politischen Kerninstitutionen, zugleich sollten ergänzende korporative Vertretungen die Konsensbildung erleichtern; der demokratischen Kultur und Bildung wurden große Aufmerksamkeit geschenkt; die Demokratie führte auch zur Reform der Wirtschaftsordnung, zu einem demokratischen Kapitalismus; Pluralismus und Gemeinschaft, individuelle Bürgerrechte und gesellschaftliche Integration gehörten gleichermaßen zu den handlungsleitenden Vorstellungen der Demokratie; Staatsbau, Verwaltung, gutes oder verantwortungsvolles Regieren waren Teil des demokratischen Projekts; partizipationsermöglichende Sozialpolitik und ein auf individuelle Rechte gegründeter Wohlfahrtsstaat rückten ins Zentrum der demokratischen Debatten; transnationale Institutionen und gesellschaftliche Akteure spielten eine große Rolle in der Ausbuchstabierung der demokratischen Erwartungen. Selbst wenn von »westlicher Demokratie« zunehmend die Rede war, handelte es sich noch nicht um das im Kalten Krieg definierte Standardmodell der westlichen Demokratie.
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Einleitung
Der Demokratiebegriff und die Bandbreite demokratischer Praktiken waren weit umfassender und Gegenstand demokratischer Auseinandersetzungen. 5. Die globale Vision der Demokratie, die in der politischen Rhetorik und in den internationalen Vertragswerken der Zeit verbreitet wurde, war dennoch keine völlig universale Vorstellung. Sie wies eine deutlich erkennbare temporale und geografische Hierarchie auf. In einem Kern von Nationen, einem europäisch-atlantisch-pazifischen Demokratiebogen, wurden die demokratischen Visionen in der Gegenwart verwirklicht. Die angrenzenden peripheren Nationen konnten danach streben, mittelfristig zu solchen Demokratien zu werden. Die kolonialen Untertanen und Nationen, in denen ein Kampf für die Selbstregierung geführt wurde, erhielten vage Verheißungen einer fernen demokratischen Zukunft; doch ließ sich die demokratische Dynamik nicht auf Dauer durch solche hierarchischen Verfügungen stillstellen. 6. Ein aus heutiger Sicht schwieriges, aber in den Debatten seit dem Ersten Weltkrieg zentrales Problem war das Verhältnis von politischer Führung zur Demokratie. Wie die Beiträge in Übereinstimmung mit anderen Erzeugnissen der neueren Forschung zeigen, kann die Erwartung politischer Führung, das Nutzen von Notstandsinstrumenten oder charismatisches politisches Handeln nicht als mit der Demokratie unvereinbar und auch nicht grundsätzlich als eine Schwächung von Demokratien betrachtet werden. Zwischen äußerlich scheinbar ähnlichen Führungsfiguren und politischen Methoden können sich enorme Abgründe auftun, wenn die Handlungskontexte berücksichtigt, die begleitenden Debatten rekonstruiert sowie die Folgen für den Zusammenhalt und die Erhaltung demokratischer Gesellschaften erwogen werden. Thesen wie die von der »entfernten Verwandtschaft« und allzu verengte »republikanische« Lesarten demokratischer Politik werden als für die historische Arbeit unbrauchbar verworfen. 7. Im Laufe der Diskussionen um diesen Band drängte sich das Interpretament einer zweiten Welle derselben Demokratisierungsbewegung auf, die im und nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte: Die Krise von 1929/31 und der politische Umgang mit dieser Krise sorgte demnach entweder für eine Vertiefung, Verfestigung und Ausweitung des demokratischen Projekts oder für dessen fun-
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damentale Erschütterung. Zwischen der Krisenreaktion und den demokratischen Vorstellungen der Jahre 1918 bestand demnach eine unmittelbare Kontinuität; die Demokratien, die »durchhielten«, knüpften an ihr eigenes Programm an, sie setzten den nach dem Krieg eingeschlagenen Weg fort, sie handelten im Rahmen des bereits konstituierten demokratischen Erwartungshorizonts. Ihre Politik in den 1930er Jahren lediglich als reaktiv im Hinblick auf die neue totalitäre Herausforderung zu deuten, würde diesen zeitgenössischen Handlungs- und Erwartungshorizont verkennen und den historischen Akteuren die Würde des eigenständigen, selbstbestimmten Handelns nehmen. Natürlich wurden die neuen Gegner und Todfeinde beobachtet; natürlich wuchs ein erhöhtes Gefährdungsbewusstsein. Aber von den Vereinigten Staaten bis nach Schweden ist offenkundig, dass die Demokratien und Demokraten selbst in der Existenzkrise nicht nur ihre Fragilität reflektierten, sondern aus ihrer Selbstreflexion auch die Überzeugung bezogen, dass sie als Regierungs- und vor allem als Lebensform überlegen waren und überleben würden. Der demokratische Handlungshorizont und nicht ein ökonomischer Imperativ trieb die politischen und gesellschaftlichen Reformen der 1930er Jahre an. Im ersten Teil werden Themen erörtert, die die nationalen Demokratiegeschichten überschreiten, vor allem Kontinuitäten und Konvergenzen, die in der demokratischen Konstellation im und nach dem Ersten Weltkrieg auf ökonomischem Gebiet sowie in Bezug auf politische Institutionen und Wahlverfahren sichtbar wurden. Auch die transnationalen Ausgangsbedingungen der Geschichte der Demokratie in der Zwischenkriegszeit werden beleuchtet. Adam Tooze beschreibt die weltweite, aber uneinheitliche Demokratisierungswelle des ausgehenden 19. Jahrhunderts und untersucht die Dynamisierung der Demokratiegeschichte seit 1914. Der Erste Weltkrieg erscheint als Schlüsselphase für die Ausbildung von Konzepten und Praktiken der modernen Demokratie, als globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen. Der Zusammenhang von Massenmobilisierung und Demokratie, die Bedeutung der demokratischen Revolution in Russland für die Entstehung der Vorstellung einer »westlichen Demokratie« und die Macht der Demokratie, mitten im Krieg den Krieg selbst infrage zu stellen, werden disku-
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Einleitung
tiert. Die Offenheit und Intensität der Debatten um die Demokratie werden dabei deutlich. Am Ende steht die Möglichkeit im Raum, dass wir – die modernen Gesellschaften – vielleicht nie demokratischer waren als im und nach dem Ersten Weltkrieg. Die Vorgeschichte der Demokratisierung mit der Geschichte der Demokratie nach 1918 verbindet ebenfalls der Beitrag von Hedwig Richter. Die Massendemokratie, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Norm und Praxis wurde, kam nicht aus dem Nichts. Wählen musste geübt, Wahlverfahren mussten entwickelt werden. Ohne die Schaffung des modernen Wählers, der bereits um 1900 Gestalt annahm, hätte die moderne Massendemokratie in den 1920er und 1930er Jahren ihre Arbeit nicht aufnehmen können. Neben der transnationalen Synchronität dieser Entwicklung arbeitet die Autorin auch die transatlantische Konvergenz der Wahlverfahren und der Demokratieakzeptanz unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg heraus. Die Grundlegung des modernen Wählens als des konstitutiven Akts der politischen Willensbekundung der Massendemokratien nach 1918 fand unter wechselseitiger Beobachtung statt; »Modernität« lässt sich in dieser verflochtenen Geschichte nicht auf der anderen Seite des Kanals oder des Atlantiks verorten. Auf der Grundlage dieser Kontinuität konnte die Diskontinuität der Massendemokratie einsetzen; alt und neu waren miteinander verschränkt. Wie Demokratien nach 1918 funktionierten, arbeiten exemplarisch die beiden folgenden Beiträge in vergleichender oder transnationaler Perspektive heraus. Benjamin Schröder stellt die neue Ungewissheit in den Mittelpunkt, mit der politische Parteien und Politiker durch die Ankunft der Massendemokratie im Zeitalter vor der Meinungsumfrage konfrontiert waren, und weist darauf hin, dass in Großbritannien diesem Problem mit geschickteren, lagerübergreifende Kooperation erleichternden Methoden begegnet werden konnte, auch weil Wahlkämpfe professionalisiert wurden. Laura Beers untersucht die Handlungsmöglichkeiten eines transnationalen Netzwerks von Demokratieunterstützerinnen in den von nationalstaatlicher Politik bestimmten Krisen der 1930er Jahre. Sie skizziert ein neues Forschungsfeld und betont, dass den zivilgesellschaftlichen Akteurinnen, die sie erforscht, nicht die demokratische Initiative abgesprochen werden darf. Ihr Antifaschismus war nicht moskauhörig, selbst wenn situativ bedingte Koalitionen mit dem als
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kleineres Übel betrachteten Kommunismus gegen den Nationalsozialismus eingegangen wurden. Im Mittelpunkt ihres Engagements stand der zukunftsweisende Einsatz für eine demokratische Weltpolitik und für Bürger- und Menschenrechte. Daran schließen sich Untersuchungen zu grundlegenden Fragen der ökonomischen Organisation an, die den engen Bezug von Demokratie- und Kapitalismuskonzepten in jener Zeit herausarbeiten. Andrea Rehling zeigt im Gegensatz zur konventionellen zeithistorischen Interpretation, dass korporative Institutionen und Erwartungen nicht grundsätzlich mit der Demokratie im Konflikt stehen, sondern auch ein Ausdruck demokratischer Repräsentation sein können; auch hier ist die präzise Rekonstruktion der Kontexte nach 1918 unabdingbar. Philipp Müller verfolgt diese Spur in den Forderungen nach einer deutsch-französischen ökonomischen Kooperation, die von wirtschaftlichen Interessenvertretern beider Länder erhoben wurden. Einig war man sich in der Notwendigkeit einer Reform des Kapitalismus, und Kritik an den parlamentarischen Verfahren bedeutete nicht immer Ablehnung der Demokratie. Mit einer zentralen, transnational diskutierten Frage der zeitgenössischen politischen Vorstellungswelt setzt sich schließlich Moritz Föllmer auseinander. Er untersucht die Debatten um demokratische Führung in der Zwischenkriegszeit, vor allem in den Krisen der 1930er Jahre, und stellt die oft flexiblen und kreativen Führungspraktiken von krisengeschüttelten Demokratien heraus. Sein Beitrag ist von fundamentaler Bedeutung für die Debatten um das Spannungsverhältnis von politischer Führung und Demokratie. Im zweiten Teil des Bandes stehen ausgewählte nationale Kontexte im Vordergrund. Dabei wird die Absicht verfolgt, dass eine parallele Lektüre dieser Beiträge die internationalen Intertextualitäten der Demokratiegeschichte sichtbar macht und sich so deutliche Vergleichsperspektiven ergeben. Einer fundierten Diskussion nationaler Fälle, die einem gemeinsamen Fragenkatalog folgt, wie er in dieser Einleitung und besonders in den voranstehend ausgeführten sieben Thesen entworfen wurde, geben die Autorinnen und Autoren des Bandes den Vorrang vor einer Behandlung transnationaler Motive, die nicht selten die konventionellen Deutungen nationaler Historiografien in ihrer Zusammenschau übernehmen muss. Stattdessen setzen die Beiträge auf Neuinterpretationen nationaler Fälle,
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Einleitung
die auf eigenen Forschungen basieren, aber durch das gemeinsame Gespräch informiert und somit transnational sensibilisiert sind. Die Hoffnung aller Beiträger zu diesem Band ist es, dass auf diese Art und Weise die internationalen Resonanzen und Interferenzen der Demokratiegeschichte nicht überhört werden, obwohl nationale Demokratiegeschichten der privilegierte Gegenstand von Untersuchung und Diskussion sind. Die Geschichte der Demokratie interessiert uns, nicht die nationalen Geschichten als solche, aber die Geschichte der Demokratie fand vor allem – aber, wie der erste Teil dieses Bandes deutlich macht, nicht allein – in nationalen Geschichten statt. Bei allen Überlagerungen und Synchronisierungen von demokratischen Vorstellungen und Erwartungen fallen dabei Dissonanzen ins Gewicht, die transnationalen Kontexte schalten die nationalen Kontexte nicht aus, Unterschiede der Entwicklung und Kontingenzen treten hervor. Leider konnten nicht alle relevanten Fälle berücksichtigt und nicht für alle Fachleute gewonnen werden, trotz intensiver Suche; es gibt in vieler Hinsicht Grenzen dessen, was ein solcher Band leisten kann. Auch wenn unser Maßstab war, nach Gesellschaften Ausschau zu halten, in denen die Demokratie in den zeitgenössischen Selbstverständigungen zur fragilen Normalität geworden war, bleiben zahlreiche Länder unberücksichtigt, die in der vergleichenden Forschung Beachtung finden müssten, in Europa, angefangen mit Belgien, Norwegen, Österreich und der Schweiz, ebenso wie in anderen Teilen der Welt, wo Kanada, Australien oder Neuseeland herausragen, aber auch Japan und andere Nationen interessante Fälle darstellen. In diesem zweiten Teil, der sich nationalen Kontexten und Kontingenzen widmet, setzt Helen McCarthy ihre bahnbrechenden Überlegungen zur britischen Demokratie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg fort, die sie als ein Zeitalter des making und re-making einer vielfältigen demokratischen Kultur darstellt. Politische Führung und Alltagshandeln der Bürger, Wahlrecht und wohlfahrtsstaatliche Initiativen waren Teil dieser demokratischen Kulturpflege. Ben Jackson erweitert diese Lesart der britischen Demokratie um den Hinweis auf die Debatten um Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, die die britischen Liberalen und die Linke dominierten und zu einer beide politische Strömungen verbindenden sozialen Vorstellung der Demokratie führten. Jessica Wardhaugh
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nimmt die Ausbildung einer neuen demokratischen Kultur und die politischen Experimente in Frankreich in den 1930er Jahren in den Blick und unterstreicht dabei die Krisenhaftigkeit und Instabilität der französischen Demokratie; Narrativen der demokratischen Kontinuität entzieht sie den Boden, die Demokratisierung der Politik fand im Zuge von Kämpfen um die massenpartizipatorische Ordnung in der Krise statt. Tim B. Müller plädiert dafür, die Weimarer Republik als Demokratie in ihrem zeitgenössischen Kontext zu untersuchen und weniger in nationale Kontinuitäten zu stellen, und verweist auf die Anstrengungen um eine demokratische Kultur und auf die demokratische Reflexion, die in der Wirtschaftspolitik zum Ausdruck kam. Die Demokratie wurde den Deutschen selbstverständlich, eine Ablösung der Demokratie zunehmend undenkbar. Philipp Nielsen stellt die Frage nach der Akzeptanz der deutschen Demokratie im rechten Lager und arbeitet heraus, dass die Parteiführung der Deutschnationalen in Anerkennung der als unabänderlich aufgefassten Demokratisierung bis in die späten 1920er Jahre nicht nur zu einem immer konstruktiveren politischen Verhalten bereit war, sondern auch an einem konservativen Demokratieverständnis arbeitete und über sekundäre Begriffe und Affekte wie Verantwortungsgefühl die Akzeptanz der Demokratie stärken wollte. Stefanie Middendorf zeigt, wie sich im Rahmen des Staatsbegriffs der deutschen Finanzbürokratie auch Loyalität zur Demokratie ausbilden konnte, wie dann in der Krise seit 1930 demokratische Impulse jedoch in den Hintergrund traten und nur noch der Staat an sich gerettet werden sollte sowie die Skepsis gegenüber Parlament und Parteien zunahm. Urban Lundberg gibt den Diskussionen um das schwedische Volksheim eine neue Grundlage. Das Volksheim war ein Mitbürgerheim, das von selbstbestimmten Bürgern im gemeinsamen Gespräch errichtet und erweitert wurde. Ihre antidemokratischen Affekte würden sie durch die Einübung von Selbstbeherrschung und demokratischer Kultur in Schach halten. Lundbergs genaue Rekonstruktion dieser Vorstellungen, die bislang noch nicht geleistet wurde, kann belegen, dass der schwedische Ministerpräsident Per Albin Hansson damit keine kollektivistische Vision, sondern eine Bürgergemeinschaft der individuellen Rechte, eine demokratische Lebensform zur handlungsleitenden Idee machte. Jeppe Nevers
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Einleitung
führt die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der dänischen Demokratiebegriffe in den 1920er und 1930er Jahren vor Augen und stellt dar, wie Demokratie umfassendere Bedeutungen annahm, den politischen Horizont bis hin zur extremen Rechten konstituierte und schließlich zum eigenständigen Wert wurde, der bei den Sozialdemokraten den Sozialismus ersetzte: In der Demokratie der Gegenwart trafen sich demnach die liberale Demokratie der Vergangenheit und die soziale Demokratie der Zukunft. Johanna Rainio-Niemi stellt den finnischen Fall vor, die instabilste der nordischen und zugleich die stabilste der neuen, aus dem Zerfall von Imperien hervorgegangenen Demokratien. Für die vergleichende Diskussion ist von besonderer Relevanz, dass sie das entschlossene, vor Notstandsmaßnahmen und Grundrechtseinschränkungen nicht zurückschreckende Agieren des Staatspräsidenten als Schlüsselfaktor in der Abwehr von Demokratiezerstörung und antidemokratischen Putschversuchen beschreibt. Elisabeth Dieterman kann zeigen, dass in den Niederlanden ein demokratischer Erwartungshorizont relativ spät Einzug hielt und der autoritär auftretende Premierminister Hendrik Colijn lange Zeit die Hoffnungen auf politische Führung erfüllte, dass aber gerade in der ökonomischen Krise mit einem von Sozialdemokraten und Katholiken unterstützen Reformprogramm im Namen der nationalen Einheit ein umfassender Demokratiebegriff, die Verteidigung der parlamentarischen Demokratie und ein neuer demokratischer Optimismus die Debatten zu bestimmen begannen. Andrea Orzoff stellt in ähnlicher Weise dar, dass die Jahre nach 1918, mit ihrer extremen Personalisierung der Demokratie, ihren widersprüchlichen Demokratiebegriffen und ihren autoritären Zügen, zur dauerhaften Grundlegung einer demokratischen Kultur und eines demokratischen Erwartungshorizonts in der Tschechoslowakischen Republik führten. Till Kössler beschreibt die Schwierigkeiten, die extreme Polarisierung in der Geschichschreibung der spanischen Demokratie zu überwinden, und eröffnet anhand der illustrierten Presse Einblicke in die Formierung einer pluralistischen Gesellschaft, in das moderne Alltagsleben und in die wachsende Akzeptanz der Demokratie sowohl der radikalen Republikaner als auch der katholischen Antidemokraten in den frühen 1930er Jahren. Lange haben Antagonismen, die erst im keinesfalls unvermeidlichen Bürgerkrieg entstanden, die historio-
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grafische Deutung der Demokratie zuvor überlagert. Jason Scott Smith schließlich skizziert die Transformation der Vereinigten Staaten durch den »New Deal«. Weder aktivistische Wirtschaftspolitik noch die Übernahme autoritärer Handlungsmuster charakterisierten den Kern von Roosevelts Politik. Ihm ging es in doppelter Hinsicht um die Demokratie – um den Ausbau Amerikas zur modernen, wohlfahrtsstaatlichen, stabilen Demokratie und zugleich um die Etablierung einer dauerhaften Hegemonie seiner Demokratischen Partei in dieser amerikanischen Demokratie. Aus beiden Gründen fand mitten in der ökonomischen Krise, die die Nation an den Rand des Zusammenbruchs führte, der Umbau der Vereinigten Staaten zum demokratischen Wohlfahrtsstaat statt. Nicht ökonomische Effizienz, sondern politische Effektivität war das Ziel dieser Demokratieneugründung auf amerikanischem Boden. Dieser Band will eine Diskussion eröffnen. Die Geschichte der Demokratie ist ein viel zu faszinierendes Forschungsfeld, um von anderen historischen Perspektiven marginalisiert zu werden. Wenn wir über das Politische in den 1920er und 1930er Jahren reden, sollten wir nicht nur Wirtschaftskrisen und politische Gewalt, »social engineering« und sozialen Radikalismus, Massenkultur und künstlerische Avantgarde im Sinn haben, sondern vor allem das, was das Neue und Charakteristische und Dynamische des Zeitalters war – die Demokratie, die in diesen Jahren zur europäisch-atlantischen Norm und internationalen Verheißung wurde. Die Plötzlichkeit, mit der die Demokratie zur Normalität wurde, kommt in den Quellen deutlich zur Sprache. In seinem epochalen Werk »Modern Democracies« merkte der britische Rechtsgelehrte und Politiker James Bryce 1921 an: »A no less significant change has been the universal acceptance of democracy as the normal and natural form of government. Seventy years ago, as those who are now old can remember, the approaching rise of the masses to power was regarded by the educated classes of Europe as a menace to order and prosperity. Then the word Democracy awakened dislike or fear. Now it is a word of praise. Popular power is welcomed, extolled, worshipped. The few whom it repels or alarms rarely avow their sentiments. Men have almost ceased to study its phenomena because these now seem to have become part of the established order of things. The old
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question, – What is the best form of government? is almost obsolete because the centre of interest has been shifting. It is not the nature of democracy, nor even the variety of the shapes it wears, that are to-day in debate, but rather the purposes to which it may be turned, the social and economic changes it may be used to effect.« Die britische Monarchie und die amerikanische Republik nahm Bryce von diesem Umbruch der politischen Maßstäbe nicht aus. Zugleich zeigte sich bei ihm ein Bewusstsein der Fragilität dieses neuen, selbstverständlich gewordenen demokratischen Standards: »yet its universal acceptance is not a tribute to the smoothness of its working«. Denn ökonomische Effizienz gehörte nicht zu den demokratischen Versprechen.27 Die Geschichte der Demokratie ist jedoch, weil wir in Demokratien leben und den normativen Zumutungen dieser Geschichte nicht entkommen, in besonderem Maße anfällig für nationale Legendenbildungen und erbauliche Erzählungen einerseits, Fundamentalkritik und Denunziationen andererseits. Diesen Gefahren hofft dieser Band durch seinen konsequent historisierenden Zugriff und sein transnationales Bewusstsein zu entgehen. Aber es gibt auch ein aktuelles Interesse an diesem Forschungsgegenstand. Wenn heute die Fragilität der Demokratie wieder in den politischen Horizont rückt, einer der bekanntesten Demokratiehistoriker davon spricht, dass »die europäische Demokratie in gefährliche Zeiten eintritt«28 und selbst nüchterne Beobachter die britische und die amerikanische Demokratie, die beide so lange als so alt und vorbildlich galten, in seit Jahrzehnten ungekannten Verfassungs- und Systemkrisen sehen – gerade dann ist der Blick zurück erforderlich in die Epoche, die vor 100 Jahren begann, in die Epoche, in der die Demokratie zur Normalität wurde, aber diese Normalität nicht ohne innere und äußere Fragilität zu denken war. Die Herausgeber danken Myriam Gröpl und Tobias Schottdorf für ihre vielfältige Hilfe und Birgit Otte für die exzellente und engagierte Betreuung dieses Bandes.
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James Bryce, Modern Democracies, Bd. 1, New York 1921, S. 3f. Mark Mazower, »From dawn to dusk – European Democracy Enters Dangerous Times«, Financial Times vom 31. 1. 2015.
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I Konstellationen, Kontinuitäten und Konvergenzen
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Ein globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen
Adam Tooze
Ein globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen
Der Begriff Demokratie war in der englischen Sprache am Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht darauf beschränkt, eine feststehende Verfassungsordnung zu bezeichnen. Demokratie konnte sich auch auf Volksbewegungen oder Teile des Meinungsspektrums beziehen.1 Im Wortschatz eines Reformers wie David Lloyd George, dem britischen Premierminister von 1916 bis 1922, stand »Demokratie« für die Anhänger des radikalen Liberalismus und der Labour Party. Diese begriffsgeschichtliche Auffälligkeit lässt sich in zweierlei Hinsicht deuten. Zum einen erinnert sie daran, dass die Demokratie im frühen 20. Jahrhundert längst noch nicht zur Realität geworden war, in Großbritannien so wenig wie andernorts. Wenn Historiker den Fortschritt in Richtung »westliche Demokratie« infrage stellen und erklären, dass diese in ihrer voll ausgebildeten Form erst nach 1945 in Erscheinung trat, dann können sie auf die Beschränkungen des Wahlrechts vor dem Ersten Weltkrieg hinweisen. Vor 1918 durften weniger als 60 Prozent der britischen Männer wählen.2 Aber man kann diese Tatsache auch in einem anderen Licht betrachten. Dass eine demokratische Verfassung kein Garant für die politische Energie von Demokratien ist, haben das
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Vgl. Andrew Chadwick, Augmenting Democracy. Political Movements and Constitutional Reform during the Rise of Labour. 1900–1924, Aldershot 1999. Henry Colin Gray Matthews/Robert I. McKibbin/John A. Kay, »The Franchise Factor in the Rise of the Labour Party«, in: English Historical Review 91 (1976), H. 361, S. 723–752.
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20. und das 21. Jahrhundert im Übermaß demonstriert. Wenn im Zentrum der Demokratie die pluralistische politische Auseinandersetzung engagierter Bürger steht, ist die Wahlrechtsstatistik ein unzureichender Maßstab der Demokratisierung. Liberal-demokratische Selbstzufriedenheit kann wie eine antipolitische Maschine funktionieren. Im Gegensatz dazu haftete dem Begriff Demokratie 1914 noch die Schärfe des Oppositionellen an. Demokratie war keine etablierte Sache; Demokratie war der Schlachtruf derjenigen auf der ganzen Welt, die diese Demokratie schaffen wollten. Dieser Beitrag fragt nach dem Zusammenhang zwischen dieser politischen Dynamik und dem Großen Krieg, der im August 1914 ausbrach.
Vor dem Krieg: Die erste Welle der Demokratisierung Im frühen 20. Jahrhundert war die Demokratisierung eine umkämpfte Entwicklung, es lassen sich Tendenzen sowohl der Intensivierung als auch der Auflösung beobachten. Feminismus und Sozialismus waren gewaltige Kräfte, die nach Erweiterung und Intensivierung verlangten. Geoff Eley hat diese Energien in seiner Geschichte der Demokratie in Europa aus der Perspektive der Linken festgehalten.3 Die exemplarische »Lib-Lab«-Allianz wurde in Großbritannien geformt, wo von 1905 bis 1918 die konvergenten Kräfte des radikalen Liberalismus, der Sozialreformer, der organisierten Arbeiterbewegung, des irischen Nationalismus und der Frauenwahlrechtsbewegung die Verfassung umgestalteten. Aber es ist wichtig, den Blick nicht zu verengen und die Demokratisierung nicht ausschließlich mit der Linken zu identifizieren. Auf allen Seiten gab es dafür Triebkräfte. Und es gab keine lineare Verbindung zwischen den Errungenschaften »progressiver« Verfassungsreform und den Zielen linker Politik. Die populistische Welle in den Vereinigten Staaten mit ihrer Galionsfigur William Jennings Bryan, die von der Depression von 1893 ausgelöst wurde und das politische Establishment erschütterte, wurde auch von einer starken frem-
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Geoff Eley, Forging Democracy. The History of the Left in Europe. 1850–2000, Oxford 2002.
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Ein globaler Krieg unter demokratischen Bedingungen
denfeindlichen Strömung getragen.4 Christliche Demokraten und Wohlfahrtsaktivisten aus allen Lagern hatten ihren Anteil daran, dass der Druck, die Massen politisch zu integrieren, immer mehr zunahm. Die konservative Hoffnung, durch die Stimmen der Frauen würde sich der Radikalismus der männlichen Arbeiter neutralisieren lassen, trug zur Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts bei. Frauen erhielten selbst in einst katholisch-konservativen Ländern wie Österreich (1918), Polen (1918) und Irland (1928) unmittelbar nach dem Krieg das Wahlrecht. 1919 widerrief sogar Papst Benedikt XV. die Ablehnung des Frauenwahlrechts durch den Vatikan und setzte sich nun für das Wahlrecht für katholische Frauen ein. Konservative waren es auch, die nach dem Ersten Weltkrieg in Belgien (1919, allerdings nur auf kommunaler Ebene), Kanada (1919) und den Niederlanden (1919) für die Ausweitung des Wahlrechts auf Frauen sorgten. Zu den lautstärksten und gegenüber dem traditionellen System aufsässigsten politischen Akteuren im frühen 20. Jahrhundert gehörten in vielen Ländern Nationalisten, die sich auf eine Massenbasis stützten. Auch wenn sie sich gegen die Linken richteten und autoritär waren, trugen Bewegungen wie die Alldeutschen zur Mobilisierung der Gesellschaft, zur Dynamisierung der Politik und zur Anfechtung von Autorität bei.5 Ähnlich wie im deutschen Kaiserreich war das in Japan der Fall, wo der Vertrag von Portsmouth die Erwartungen nicht erfüllte und einen zuvor nicht gekannten nationalistischen Protest gegen den »Ausverkauf« des Landes durch die Eliten auslöste. Die Ausschreitungen im Hibiya-Park im September 1905 waren der Anfang einer langen Phase von Volksunruhen und Protesten. Diese gipfelten 1918 in den Reisunruhen, die die Regierung der Kriegsjahre zu Fall brachten. Zum ersten Mal kam eine Regierung an die Macht, an deren Spitze kein Adliger stand.6
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Joseph Gerteis/Alyssa Goolsby, »Nationalism in America. The Case of the Populist«, in: Theory and Society 34 (2005), H. 2, S. 197–225. Geoff Eley, »Reshaping the Right: Radical Nationalism and the German Navy League, 1898–1908«, in: The Historical Journal 21 (1978), H. 2, S. 327–354. Andrew Gordon, »The Crowd and Politics in Imperial Japan. Tokyo 1905–1918«, in: Past & Present 121 (1988), S. 141–170.
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Die komplexen Ambivalenzen der demokratischen Energie im anglo-amerikanischen Raum bringt eindrucksvoll die Arbeit von Marilyn Lake und Henry Reynolds über die »Global Colour Line« zum Ausdruck.7 Sie zeigen, welche starken Demokratiebegriffe in den Vereinigten Staaten und im Britischen Empire im Umlauf waren, aber auch, wie diese beschränkt waren durch ihre nachdrückliche Verbundenheit mit rassistischer Ausgrenzung und mit weithin geteilten Vorstellungen von »Whiteness«. In diesem Kontext wurde das Frauenwahlrecht in Neuseeland 1893 und in Australien 1901 eingeführt. Diese Ambivalenzen prägten auch die »neue Freiheit«, die Woodrow Wilsons progressive Regierung von 1913 an proklamierte. Obwohl die politischen Konstellationen in jedem Fall unterschiedlich und komplex waren, ist es bemerkenswert, in welchem Ausmaß sich in den Jahrzehnten bis 1914 buchstäblich die ganze Welt verändert hatte. In der Tat schien der demokratische Wandel so unausweichlich zu sein, dass man – in Anspielung auf das Konzept einer »condition of globality« (Michael Geyer/Charles Bright) – von einer »democratic condition«, von demokratischen Bedingungen sprechen könnte.8 Oder wie die militante Frauenrechtlerin Millicent Fawcett auf einer erfolgreich verlaufenen Kundgebung von Unterstützern des Frauenwahlrechts und der Labour Party im Frühjahr 1917 erklärte: Das Ergebnis der britischen Wahlrechtsreform »war eine Illustration der nicht endenden Energie und Vitalität der Frauenwahlrechtsbewegung«. Die Diskussion über die Ausweitung des Wahlrechts »wurde von einem Gegner des Frauenwahlrechts eröffnet, sie fand unter dem Vorsitz eines Gegners des Frauenwahlrechts statt, und anfangs nahmen zu 50 Prozent Gegner des Frauenwahlrechts daran teil; obwohl das Gebräu ziemlich nach Gegnerschaft zum Frauenwahlrechts aussah, kam am Ende, als der Zapfhahn geöffnet wurde, das Frauenwahlrecht heraus.«9 Die Me7
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Marilyn Lake/Henry Reynolds, Drawing the Global Colour Line. White Men’s Countries and the International Challenge of Racial Equality, Cambridge 2008. Michael Geyer/Charles Bright, »World History in a Global Age«, in: The American Historical Review 100 (1995), H. 4, S. 1034–1060. Sandra Stanley Holton, Feminism and Democracy. Women’s Suffrage and Reform Politics in Britain 1900–1918, Cambridge 1986, S. 149.
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thoden und Zutaten variierten, aber die Ergebnisse glichen sich immer mehr an. In Belgien steigerte 1893 ein an Voraussetzungen gebundenes Wahlrecht für Männer, das mit einer Welle von Massenstreiks durchgesetzt wurde, die Zahl der Wähler um das Zehnfache.10 Nach vier Jahren erbitterter Parlamentsdebatte in den Niederlanden führte eine konservative Regierung 1896 ein erheblich erweitertes Wahlrecht für Männer ein.11 Frauen und Männer erhielten 1907 für das in seinen Rechten sehr eingeschränkte finnische Parlament und 1913 in Norwegen gleichzeitig das Wahlrecht. Zwar gab es in Schweden erst seit 1918 ein allgemeines Wahlrecht, und der König erkannte erst in den 1920er Jahren das parlamentarische Prinzip an, aber bereits 1907/09 war es zu einer demokratischen Wahlrechtsreform gekommen, die im Zweikammersystem allerdings wenig Wirkung zeitigte. Geheime und völlig demokratische Wahlen wurden auf lokaler Ebene in Dänemark 1901 bzw. 1908 eingeführt.12 Bismarck war einer der ersten Konservativen, der das allgemeine Männerwahlrecht als Waffe gegen den Liberalismus einsetzen wollte. Doch mit dem Machtzuwachs des politischen Katholizismus und der Sozialdemokratie im Kaiserreich erwies sich dieser Plan als Eigentor. Um die Jahrhundertwende hing die konservative Prägung der deutschen Regierung vor allem von den Wahlrechtseinschränkungen in den meisten Teilstaaten des Reichs ab. Aber auch hier war der unablässige Druck in Richtung Wandel spürbar. Wahlrechtsreformen fanden zwischen 1904 und 1906 in Baden,
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Vgl. Maurice Vauthier, »The Revision of the Belgian Constitution in 1893«, in: Political Science Quarterly 9 (1894), H. 4, S. 704–729. Vgl. Jan Verhoef, »The Rise of National Political Parties in the Netherlands 1888–1913«, in: International Journal of Politics 4 (1974), H. 1/2, S. 207–221; für die weitere Entwicklung zur Demokratie vgl. den Beitrag von Elisabeth Dieterman in diesem Band. Vgl. Adam Przeworski, »Conquered or Granted? A History of Suffrage Extensions«, in: British Journal of Political Science 39 (2009), H. 2, S. 291–321. Zu Dänemark vgl. den Beitrag von Jeppe Nevers in diesem Band; zu Finnland den Beitrag von Johanna Rainio-Niemi; zu Schweden den Beitrag von Urban Lundberg; sowie Francis Sejersted, The Age of Social Democracy. Norway and Sweden in the Twentieth Century, Princeton 2011.
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Württemberg und Bayern statt. Sachsen schwankte zwischen größeren und kleineren Erweiterungen des Wahlrechts hin und her, was 1910 riesige Wahlrechtsdemonstrationen auslöste.13 In diesem Jahr kam es auch zu großen Demonstrationen in Preußen, die eine Reform des berüchtigten Dreiklassenwahlrechts forderten. Zwischen 1896 und 1907 wurden die österreichische Verfassung demokratisiert, das Zensuswahlrecht mit seiner Abstimmung nach Wählerklassen abgeschafft und das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt. Ambivalenter ging die Demokratisierung in Ungarn vonstatten, wo zwischen 1906 und 1908 dafür gesorgt wurde, dass den Stimmen der ungarischsprachigen Bevölkerung ein größeres Gewicht zufiel.14 In Bosnien-Herzegowina, das noch nicht lange Teil des Habsburgerreichs war, wurden 1910 Landtagswahlen abgehalten. In Italien hatten politische Reformer schon lange die Frage diskutiert, ob man das allgemeine Wahlrecht entweder auf einen Schlag durch die Ausweitung des Wahlrechts oder langsam, im Zuge eines Reformprozesses und von Massenbildung einführen sollte. Am 18. März 1911 erklärte der liberale Ministerpräsident Giovanni Giolitti seine überraschende Kehrtwende vor dem Parlament: »Heute glaube ich, dass die Erweiterung des Wahlrechts nicht länger vertagt werden kann. Zwanzig Jahre nach der letzten Wahlrechtsreform hat eine große Revolution in Italien stattgefunden, die großen Fortschritt bei der wirtschaftlichen Lage, dem Bildungsstand und den moralische Bedingungen des Volks bewirkt hat. […] Ich finde nicht, dass eine Prüfung, wie geschickt ein Mann die 24 Buchstaben des Alphabets gebraucht, darüber entscheiden sollte, ob er die großen Fragen beurteilen kann, die das Volk betreffen.« Vom konservativen Oppositionsführer Sidney Sonnino hatte er keinen ernsthaften Widerstand zu erwarten. Sonnino erklärte sich 13
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James Retallack, »›What Is to Be Done?‹ The Red Specter, Franchise Questions, and the Crisis of Conservative Hegemony in Saxony. 1896–1909«, in: Central European History 23 (1990), H. 4, S. 271–312; vgl. Margaret Lavinia Anderson, Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton 2000. William Francis Dodd, »Constitutional Developments in Foreign Countries During 1908 and 1909«, in: The American Political Science Review 4 (1910), H. 3, S. 325–349.
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selbst, unter Verweis auf Bismarck, zum Befürworter des allgemeinen Wahlrechts. »Nur auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts kann die Regierung die Stärke gewinnen, das Allgemeininteresse zu vertreten und zu schützen, das ständig bedroht wird durch die partikularen Interessen von Einzelnen, von Regionen, von kleinen und egoistischen Gruppen.« Sonnino wäre sogar bereit gewesen, das Frauenwahlrecht zu unterstützen. Der Abgeordnete und Soziologe Gaetano Mosca befand sich in der Minderheit mit seiner elitären Position, Millionen von ungebildeten Wählern als ungeeignet abzulehnen.15 Das Argument der Demokraten zielte in die umgekehrte Richtung: Mobilisierung und Inklusion würden das Bildungsniveau der Bevölkerung insgesamt anheben. In Bulgarien forderten neue sozialistische und agrarische Parteien seit 1900 die Herrschaft der Eliten heraus und erreichten von 1908 an 20 bis 30 Prozent bei Wahlen.16 Auch die rumänischen Eliten standen unter Druck, die Basis für ihr politisches System zu erweitern. 1914, nach dem zweiten Balkankrieg, entwarf die liberale Regierung von Ion Br˘atianu eine Verfassung, die das allgemeine Männerwahlrecht vorsah und nach dem Weltkrieg zur Grundlage einer umfassenden Wahlrechtsausweitung wurde. Die griechische Elitenpolitik wurde 1909 durch den Aufstand von Goudi erschüttert, was der liberalen Reformbewegung von Eleftherios Venizelos den Weg bereitete und zu einer neuen Verfassung führte.17 Nicht jede dieser Entwicklungen führte zu einem dramatischen Wandel des Wahlrechts. In vielen Fällen waren die Ergebnisse weit von dem entfernt, was sich die Zeitgenossen unter einer Demokratie vorstellten, und die Demokratie bildete auch nicht überall gleichermaßen den politischen Erwartungshorizont. Aber wir können diese Ereignisse als »Episoden der Demokratisierung« auf-
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Zit. nach Valentino Larcinese, Enfranchisement and Representation. Italy 1909–1913, http://politics.as.nyu.edu/docs/IO/19600/enfranchisement_nyu. pdf [4. 5. 2015], S. 8–10. Richard J. Crampton, A Short History of Modern Bulgaria, Cambridge 1987. Mark Mazower, »The Messiah and the Bourgeoisie. Venizelos and Politics in Greece. 1909–1912«, in: The Historical Journal 35 (1992), H. 4, S. 885–904.
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fassen, um den hilfreichen Begriff von Daniel Ziblatt aufzugreifen.18 Diese »Episoden« waren nicht auf Europa oder den nordatlantischen und südpazifischen Raum beschränkt. In Uruguay entstand in der Phase zwischen der Wahl von José Batlle y Ordónez ˇ zum Präsidenten 1906 und den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung 1916 ein modernes Gemeinwesen, das die angespannte Pattsituation in der Auseinandersetzung zwischen der städtischen Arbeiterklasse von Montevideo und den Großgrundbesitzern beendete. Nicht nur ein liberales Wahlrecht, sondern auch umfangreiche Wohlfahrtsvorkehrungen wurden eingeführt. In Kolumbien betrieb die hegemoniale konservative Partei 1910 eine Wahlreform, die es der oppositionellen liberalen Partei erstmals ermöglichte, im Parlament vertreten zu sein.19 Der Nachweis der Lese- und Schreibfähigkeit als Voraussetzung für das Wahlrecht wurde in Costa Rica 1912 abgeschafft. In diesem Jahr entschloss sich auch die konservative Elite Argentiniens, des reichsten Landes in Lateinamerika, die anarchistische Minderheit durch die Einführung einer umfassenden Wahlrechtsreform auszuspielen. Jedoch bereitete das allgemeine Männerwahlrecht den Machtwechsel von den Konservativen zur Radikalen Partei (UCR) von Hipólito Yrigoyen 1916 vor.20 Aber die Ausweitung der politischen Mitwirkung im frühen 20. Jahrhundert war nicht allein das Ergebnis weitsichtiger Zugeständnisse von Eliten. General Porfirio Díaz, langjähriger Diktator von Mexiko, meinte den »Geist des Zeitalters« zu spüren, als er einem amerikanischen Journalisten gegenüber erklärte, dass sein Land reif sei für die Demokratie, und die heiß umkämpften Wahlen von 1910 ankündigte. Er hatte nicht mit den Kräften gerechnet, die er entfesselte. Sein Versuch, das Wahlergebnis zu fäl-
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Daniel Ziblatt, »How did Europe Democratize?«, in: World Politics 58 (2006), H. 2, S. 311–338. Eduardo Posada-Carbó, »Limits of Power. Elections Under the Conservative Hegemony in Colombia. 1886–1930«, in: The Hispanic American Historical Review 77 (1997), H. 2, S. 245–279. James W. McGuire, »Political Parties and Democracy in Argentina«, in: Scott Mainwaring/Timothy Cully (Hg.), Building Democratic Institutions. Party Systems in Latin America, Stanford 1995, S. 200–247, hier: S. 206.
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schen, löste eine gewaltsame Abfolge von Revolution und Bürgerkrieg aus.21 Aus Sicht der Zeitgenossen war die mexikanische Revolution von 1911 kein Einzelfall.22 Sie war bereits die sechste in einer Serie von Verfassungsrevolutionen, die 1905 in Russland begonnen hatte, sich in Iran (1906/1909), dem Osmanischen Reich (1908) und Portugal (1910) fortsetzte und ihren Höhepunkt 1912 in China mit dem Sturz der Qing-Dynastie und den Wahlen zur ersten chinesischen Nationalversammlung im Winter 1912/13 erreichte. Diese ersten nationalen Wahlen in China verliefen ziemlich ungeordnet, aber sie waren die bis heute freiesten Wahlen der chinesischen Geschichte und ein eindrucksvoller Ausdruck der Demokratie. 25 Prozent der Männer durften wählen, was eine Zahl von etwa 40 Millionen Wählern bedeutete. Die Wahlbeteiligung lag zwischen 60 und 75 Prozent, und trotz erheblicher Korruption trug die nationalistische Kuomintang einen eindeutigen Wahlsieg davon.23 Chinas republikanisches Experiment war ein gewaltiger Schock für Ostasien. Seit 1869 hatte die Meiji-Restauration in Japan in Europa und Amerika als Symbol für politische Reformen außerhalb der westlichen Welt gegolten. Aber die japanische Verfassung von 1889 war ein überaus konservatives Dokument, das sich an das preußische Modell und an das Vorbild des britischen Oberhauses anlehnte, und war innerhalb Japans nicht unumstritten. Sie war angesichts der liberalen Mobilisierung, die sich in den 1880er Jahren in der »Bewegung für Freiheit und Bürgerrechte« gesammelt hatte, ein enttäuschendes Ergebnis.24 Von 1900 an erweiterten aufeinanderfolgende Wellen der Wahlrechtsreform die Wählerschaft von 450000 auf über eine Million (1902) und schließlich mehr als 1,5 Millionen (1908). Das allgemeine Männerwahlrecht wurde 1925 eingeführt. 21 22 23 24
Vgl. Eugene Maur Braderman, »Mexico’s Political Evolution«, in: World Affairs 103 (1940), H. 4, S. 240–245. Charles Kurzman, Democracy Denied 1905–1915. Intellectuals and the Fate of Democracy, Cambridge/Mass. 2008. Mary Clabaugh Wright, China in Revolution. The First Phase. 1900–1913, New Haven 1968, S. 209–218. Jackson H. Bailey, »Prince Saionji and the Popular Rights Movement«, in: The Journal of Asian Studies 21 (1961), H. 1, S. 49–63.
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Die Forderung nach dem Wahlrecht machte auch an den Grenzen des Britischen Empire nicht halt. Der Präsident des Indischen Nationalkongresses, Dadabhai Naoroji, merkte 1906 an: »Sicherlich« seien die Inder als britische Untertanen »viel stärker zur Selbstregierung berechtigt« und zu »einem konstitutionellen Repräsentativsystem als die Bauern in Russland.«25 In Worten, die wie eine Vorwegnahme von Giolittis Argumenten fünf Jahre später in Italien klingen, erklärte Naoroji: »Es ist unnütz, mir zu sagen, wir müssten warten, bis das ganze Volk reif dafür ist. Das britische Volk musste nicht so lange auf sein Parlament warten. […] Wir werden niemals bereit sein, bis wir die Aufgabe und die Verantwortung wirklich übernehmen. Während China im Osten und Persien im Westen Asiens erwachen und Russland um die Befreiung ringt […], können da die freien Bürger des Britisch-Indischen Empire weiterhin der Despotie unterworfen bleiben […], die mit britischen Instinkten und Prinzipien, mit der britischen Zivilisation unvereinbar sind?«26 Naoroji konnte eine Antwort auf seine Frage erwarten, denn 1905 hatten die Liberalen die Regierungsgeschäfte in London übernommen. Von 1892 bis 1895 saß Naoroji für die Liberal Party im Parlament, sein Wahlkreis war Finsbury im Norden Londons. In Reaktion auf den immer mächtiger werdenden indischen Nationalismus veranlasste der für Indien zuständige Minister John Morley, ein Veteran des von Premierminister Gladstone geführten Kampfes für »Home Rule« in Irland, nicht nur die Unterdrückung von Widerspruch in Bengalen, sondern auch eine Reihe politischer Reformen, die zum Morley-Minto-Rätesystem von 1909 führten. Zum ersten Mal erhielten indische Eliten eine aktive, aber begrenzte Teilhabe sowohl an der Zentralregierung als auch an den Provinzregierungen. Blaise Diagne war 1914 der erste Afrikaner, der für die senegalesische Hauptstadt Dakar in die französische Nationalversammlung gewählt wurde. In Französisch und Wolof verbreitete Diagnes Wahlkampfkampagne die zentrale Botschaft des Zeitalters: »Bis heute haben die Weißen und die Métis um Sitze in der Nationalver25 26
Zitiert in: Kurzman, Democracy Denied, S. 4. Dadabhai Naoroji, The Late Dr. Dadabhai Naoroji on Swaraj. Presidential Address at the Calcutta Congress 1906, Bombay 1917.
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sammlung gekämpft. Heute gebe ich euch einen schwarzen Mann, einer wie du und ich!«27 Diagnes Sieg bereitete den Boden für die beinahe vollständige Übernahme von Wahlämtern im kolonialen Senegal durch afrikanische Kandidaten. Rassenstreit stand auch in Südafrika im Vordergrund, wo ein leicht entflammbares Gemisch aus untereinander rivalisierenden weißen Siedlergemeinschaften, einer rasant wachsenden asiatischen Minderheit sowie mobilen und miteinander im Konflikt liegenden afrikanischen Bevölkerungsgruppen lebte. Als fünf Jahre nach dem Burenkrieg 1907 Transvaal und der Oranje-Freistaat das Recht auf Selbstregierung erhielten, wurde allen weißen Männern, aber keinem einzigen Farbigen das Wahlrecht verliehen. Mit dem Gesetz über die Südafrikanische Union von 1909 wurde der Status quo zwischen den Burenrepubliken und den zwei britischen Kolonien – Kapprovinz und Natal – gesichert. In der Kapprovinz wurde das Wahlrecht von schwarzen und farbigen Eliten garantiert.28 Aus heutiger Sicht sieht das wie ein Minimalkompromiss aus, um die Demokratisierung aufzuhalten. Aber als der Kompromiss von 1909 vereinbart wurde, »glaubten viele Menschen in der Kapprovinz, dass auch die nördlichen Provinzen im Laufe der Zeit die liberalere Haltung des Kaps übernehmen würden«, wie ein Beobachter rückblickend in den 1950er Jahren erklärte. Erst die Unabhängigkeit Südafrikas von Großbritannien in den 1930er Jahren öffnete die Tür zum rassistischen Rollback.29 Als das 20. Jahrhundert begann, gab es keinen Teil der Welt, der nicht von dem erfasst wurde, was Samuel Huntington später die »lange« erste Welle der Demokratisierung nannte.30
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G. Wesley Johnson, »The Ascendancy of Blaise Diagne and the Beginning of African Politics in Senegal«, in: Africa. Journal of the International African Institute 36 (1966), H. 3, S. 235–253. Joan Rydon, »The Constitutional Crisis in South Africa«, in: The Australian Quarterly 28 (1956), H. 1, S. 38–47. A. Peter Walshe, »The Origins of African Political Consciousness in South Africa«, in: The Journal of Modern African Studies 7 (1969), H. 4, S. 583–610. Samuel P. Huntington, »How Countries Democratize«, in: Political Science Quarterly 106 (1991/1992), H. 4, S. 579–616.
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Demokratiewelle und politische Kultur So kritikwürdig die Quantifizierungsversuche der Politikwissenschaften auch sein mögen, sie haben ihren Nutzen darin, einen Sinn für Größenordnungen zu vermitteln. Jeder umfassende Überblick über den konstitutionellen Wandel seit dem späten 19. Jahrhundert deutet auf einen allgemeinen Trend der Wahlrechtsausweitung hin. Diesen Datensätzen zufolge kam es zu einer linearen Zunahme von Demokratien zwischen 1850 und 1914.31 Dabei handelte es sich nicht um rein formale Entwicklungen. Zwar variierte das Ausmaß der Regierungsübernahme von radikalen oder progressiven Kräften erheblich. Die sozialistische Bewegung war bekanntlich gespalten zwischen Reformisten und Radikalen, die jede Regierungsverantwortung ablehnten.32 Aber die Belege deuten darauf hin, dass der Demokratisierungsdruck – ob direkt, durch Einfluss auf die Regierung, oder indirekt, als latente Bedrohung – zum Anstieg der öffentlichen Ausgaben für Wohlfahrt und Bildung seit dem späten 19. Jahrhundert führten. Daron Acemoglu und James Robinson wagen sogar die Hypothese, dass der Wendepunkt der Kuznets-Kurve, also die abnehmende Ungleichheit auf höheren Einkommensniveaus, die sich im 19. und 20. Jahrhundert beobachten lässt, weitgehend auf die Politik der Demokratisierung und der Wohlfahrtsstaatlichkeit zurückzuführen ist.33 Die Vorstellung einer »Welle« der Demokratisierung entspringt allerdings nicht nur der wissenschaftlichen Retrospektive. Die Demokratisierung war eine Bewegung, die sich ihrer selbst, ihrer 31
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Vgl. die Tabellen bei Toke S. Aidt/Jayasri Dutta/Elena Loukoianova, »Democracy Comes to Europe. Franchise Extension and Fiscal Outcomes 1830–1938«, in: European Economic Review 50 (2006), H. 2, S. 249–283, etwa auf S. 254. Das gleiche Bild entsteht aus zusammenfassenden Kompositindizes, etwa dem auf der Grundlage der als Standard benutzten Polity-Datenbank; vgl. Renske Doorenspleet, »Reassessing the Three Waves of Democratization«, in: World Politics 52 (2000), H. 3, S. 384–406. Gary Marks/Heather A. D. Mbaye/Hyung Min Kim, »Radicalism or Reformism? Socialist Parties Before World War I«, in: American Sociological Review 74 (2009), H. 4, S. 615–635. Daron Acemoglu/James A. Robinson, »Why Did the West Extend the Franchise? Democracy, Inequality, and Growth in Historical Perspective«, in: The Quarterly Journal of Economics 115 (2009), H. 4, S. 1167–1199.
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eigenen Geschichte bewusst war. Ein intensives Bewusstsein der eigenen Unvermeidlichkeit drückte 1902 eine prodemokratische Zeitschrift in Russland so aus: »Freie Formen für das politische Leben sind so wenig national wie das Alphabet oder die Druckerpresse, die Dampfmaschine oder die Elektrizität. Sie sind einfach Kennzeichen einer höheren Kultur.« Eine demokratische Kultur musste entwickelt werden, »wenn das öffentliche Leben so kompliziert geworden ist, dass es nicht mehr in einen primitiveren politischen Rahmen passt. Wenn eine solche Zeit gekommen ist, wenn eine neue Ära der Geschichte an die Tür klopft, dann ist es sinnlos, ihr Einschränkungen und Verzögerungen in den Weg zu legen. Sie kommt ohnehin.«34 Eine so monolithische und funktionale Vorstellung von der Notwendigkeit der Demokratie könnte zwar die Sache der Demokratie gestärkt haben, aber im Rückblick ist etwas anderes auffällig an dieser Welle der Demokratisierung: der Facettenreichtum und die Vielfalt sehr unterschiedlicher, aber miteinander verknüpfter Elemente der politischen Kultur, die alle die Demokratisierung beförderten. In der Politik des frühen 20. Jahrhunderts verband sich die rhetorische Tradition, die in Schulen und an Universitäten in der ganzen westlichen Welt anhand eines Kanons von lateinischen und griechischen Exempla vermittelt wurde,35 mit Traditionen der parlamentarischen Praxis, die auf das 18. Jahrhundert zurückgingen; hinzu kam das Vorbild, das Männer wie Lincoln, Cavour, Gladstone und Bismarck für heroische politische Führung in der Moderne lieferten.36 Eine neue Generation politischer Führer wie Lloyd George beherrschte die neuartige Maschinerie der Massenmedien, die ihren Äußerungen eine zuvor ungekannte Reichweite verschafften.37 Eine weitere Energiequelle und zugleich Bedrohung war die vitale revolutionäre Tradition, in der so unterschiedliche 34 35
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Zitiert in: Kurzman, Democracy Denied, S. 34. Georges Clemenceau, Demosthenes, London 1926; vgl. Lehrbücher wie Robert I. Fulton/Thomas Clarkson Trueblood, British and American Eloquence, Boston 1912. Vgl. D. A. Hamer, »Gladstone. The Making of a Political Myth«, in: Victorian Studies 22 (1978), H. 1, S. 29–50. J. M. McEwen, »Northcliffe and Lloyd George at War. 1914–1918«, in: The Historical Journal 24 (1981), H. 3, S. 651–672.
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Persönlichkeiten wie Georges Clemenceau oder Rosa Luxemburg standen, aber auch soziale Bewegungen wie die Frauenwahlrechtsbewegung oder der Nationalismus in vielen seiner Spielarten, ob die irische oder die polnische, die aufständische oder die antikoloniale. Gleichzeitig stützte sich das politische Leben neben der institutionellen Sphäre des Parlaments auf die wuchernden Netzwerke der Massenorganisationen von Parteien und der Zivilgesellschaft, etwa der Gewerkschaftsbewegung, der Frauenbewegung und des katholischen Populismus. So eingespielt und konsolidiert die demokratischen Institutionen heute sind – die politische Kultur des frühen 21. Jahrhunderts mutet wie ein blasser, schmuckloser, bürokratisierter und kommerzialisierter Schatten jenes vielfältigen und lebenssprühenden demokratischen Ökosystems am Anfang des 20. Jahrhunderts an, das nicht nur viel reichhaltiger, sondern auch viel weniger auf den Westen zentriert war als später. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schienen die geografische Ausrichtung der Demokratie und das politische Bewegungszentrum noch völlig offen zu sein. Einem selbstbewussten Zeitgenossen wie Sun Yat-sen zufolge beherrschten drei Prinzipien den Verlauf der Geschichte der hundert Jahre zuvor, die vom »natürlichen und unvermeidlichen […] Fortschreiten der Zivilisation« gekennzeichnet waren: Nationalismus, Demokratie und der »Lebensunterhalt des Volkes«, womit er die »soziale Frage« meinte. Der Westen hatte mit den Revolutionen die Führung in den ersten beiden Bereichen übernommen, aber das dritte Problem blieb ungelöst. China konnte nicht einfach in die Fußstapfen westlicher Staaten treten, denn dieser »Pfad führte ins Nirgendwo, wie sie bewiesen haben«. Stattdessen musste die republikanische Revolution in China die soziale Frage in Angriff nehmen, bevor sie sich so schädlich auswirken würde wie im Westen. »Dann«, so stellte Sun es sich vor, könnte China »zurückblicken und sehen, dass Europa und Amerika unserem Beispiel folgen«.38
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Sun Yat-Sen, Leitartikel für die erste Ausgabe von Min Pa vom. 26. 11. 1905, in: ders., Prescriptions for Saving China. Selected Writings of Sun Yat-Sen, hrsg. von Julie Lee Wei/Ramon Hawley Myers/Donald G. Gillin, Stanford 1994, S. 40.
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Der Erste Weltkrieg und die Demokratie Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Wirkung der Erste Weltkrieg auf diese so breite und facettenreiche demokratische Welle ausübte, die vor dem Krieg eingesetzt hatte. Kurz gesagt: Der Krieg versetzte dieses politische System nicht nur in Schockstarre und Traumatisierung, sondern er dynamisierte es auch und führte ihm Energien zu. Aber wenn man von »Ursache« und »Wirkung« spricht, geht das am eigentlichen Zusammenhang von Demokratisierung und Krieg vorbei. »Wirkung« klingt allzu sehr danach, als ob der Krieg der Demokratisierung wie eine von außen einwirkende Kraft zugestoßen wäre. Aber in Wirklichkeit kann die Entscheidung zum Krieg nicht von der Berechnung getrennt werden, auf diese Weise die politische Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen – was für das Kabinett des russischen Zaren ebenso gilt wie für die liberale Regierung in London. Ehe wir also von der Wirkung des Krieges sprechen, sollten wir unseren Blick darauf richten, wie die Demokratisierung in die Konfliktursachen eingewoben war. Eine klassische linke Deutung erklärt den Krieg mit dem verzweifelten Versuch reaktionärer Eliten, die Demokratisierung aufzuhalten oder abzubrechen.39 Im Gegensatz dazu versteht die konservative Sichtweise den Krieg nicht aus antidemokratischen Taktiken, sondern als unheilvolle Folge der gewaltsamen Leidenschaften des populären Nationalismus, die der Liberalismus in Bewegung gesetzt hatte. Eine liberale Perspektive verbindet beide Positionen und deutet den Kriegsausbruch in Europa 1914 unter Verweis auf eine Hierarchie der politischen Entwicklung.40 Demnach wurde der Krieg ausgelöst durch die Abwehrreaktionen der rückständigsten Regime in Europa, die keine andere Wahl zu haben glaubten, als einen Krieg zu führen, wenn sie im 20. Jahrhundert
Vgl. Arno J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft. 1848–1914, München 1984. 40 Adam Tooze, »Capitalist Peace or Capitalist War. The July Crisis Revisited«, in: Alexander Anievas (Hg.), Cataclysm 1914. The First World War and the Making of Modern World Politics, Leiden 2015, Historical Materialism Book Series, Bd. 89, S. 66–95. 39
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länger überleben wollten. Aber was die Gewalt auf dem Balkan ursprünglich entfesselte, war nicht nur Konservatismus, sondern es waren die Geburtsschmerzen einer uneinheitlichen Modernisierung. Christopher Clarks »Schlafwandler«, die die serbische und russische Verantwortung hervorheben, bieten eine eindrucksvolle Neuformulierung dieser Deutung.41 Systematisch unterfüttert wird dieses Argument durch die Forschungen von Edward Mansfield und Jack Snyder, die bei Staaten, die sich im Demokratisierungsprozess befinden, eine Tendenz erkennen, aggressiver aufzutreten.42 Der Zusammenhang von Demokratisierung und Kriegsausbruch wird dadurch noch komplexer, weil es sich hierbei nicht nur um konkurrierende geschichtswissenschaftliche Deutungen handelt, sondern auch um Erklärungsmuster, die in der Epoche selbst unter den Zeitgenossen wirksam waren. Für den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg war es in der Julikrise von entscheidender Bedeutung, dass Russland zuerst seine Truppen mobilisierte. Das hatte in doppelter Hinsicht mit den »demokratischen Bedingungen« des Zeitalters zu tun. Zum einen war Bethmann Hollweg darauf angewiesen, die Zustimmung der Sozialdemokraten, der größten Fraktion im Reichstag, zum Krieg zu sichern. Zum anderen nutzte er dafür die politischen Entwicklungsvorstellungen der SPD, die einen Verteidigungskrieg gegen Russland, das ihr als rückständig und autokratisch galt, mit ihrem marxistischen Geschichtsbegriff nicht nur vereinbaren, sondern sogar begründen konnte. Auf die Frage des Reeders Albert Ballin: »Exzellenz, warum haben Sie denn eine so enorme Eile, Russland den Krieg zu erklären?«, antwortete Bethmann Hollweg: »Sonst kriege ich die Sozialdemokraten nicht mit.«43 Im weiteren Verlauf des Krieges wurde die Verflechtung zwischen den Narrativen von Demokratisierung, Selbstregierung, Befreiung und Kriegführung immer enger, vor allem auf der Seite der
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Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2014. Edward D. Mansfield/Jack Snyder, »Democratization and the Danger of War«, in: International Security 20 (1995), H. 1, S. 5–38. Bernhard von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 3: Weltkrieg und Zusammenbruch, Berlin 1931, S. 167f.
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Entente und ihrer amerikanischen Partner. Der Begriff der »westlichen liberalen Demokratie«, der im 20. Jahrhundert eine solche Macht entfalten sollte, indem er einen normativen Kurs für die »richtige« politische Entwicklung festsetzte, war ein Produkt des Krieges. In der Hitze des globalen Gefechts wurden unvereinbare und widersprüchliche Ideen von Republikanismus, Liberalismus, Demokratie, Konstitutionalismus und Rechtsstaatlichkeit sowie die Begriffe der »Selbstregierung« und des »responsible government« (oder der parlamentarischen Regierung) zu einem Ensemble verschmolzen, das im 19. Jahrhundert undenkbar gewesen wäre.44 Eine Allianz von Staaten, die von Rumänien, Italien und Japan über Großbritannien und Frankreich bis zu Amerika und anderen Bundesgenossen reichte, wurde im Namen einer gemeinsamen Sache gegen das deutsche Kaiserreich und die zerfallenden Imperien der Habsburger und Osmanen aufgestellt. Diese unwahrscheinliche, zufällige Gegenüberstellung, die der Krieg geschaffen hatte, wurde später durch die Kategorien und Vorstellungen der Soziologie und Politikwissenschaften in den Status der Wirklichkeit erhoben und zum normativen Modell der politischen Moderne erklärt. Fassungslosigkeit angesichts dieser plötzlichen Polarisierung ist etwa in Max Webers »Politik als Beruf« zu spüren. Weber beschrieb darin wenig schmeichelhaft und detailreich, wie die demokratischen Systeme Großbritanniens und Amerikas eigentlich entstanden waren, und erinnerte seine Leser an die empirischen Fakten und historischen Gründe, die dazu geführt hatten, dass vor dem Krieg Parteigremien, »Caucus« und politische Maschinen mit großer Skepsis betrachtet worden waren. Das deutsche Kaiserreich nahm die ihm zugedachte Rolle der rückständigen reaktionären Autokratie nicht widerstandslos hin. Der letztendliche Ausgang eines Krieges, in dem eine Koalition von selbsterklärten Demokratien bankrotte und unpopuläre Autokraten besiegte, war erst die
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Vgl. Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die Deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. Carl Schmitt verdiente sich seinen Lebensunterhalt damit, dieses seltsame Gemisch auseinanderzunehmen; vgl. etwa Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1923.
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Folge eines Wirbelwinds von Politik, Diplomatie und Kampfgeschehen 1917/18.45 Der Kaiser war kaum ein geborener Anhänger demokratischer Parolen, aber er wollte die Massen im Nahen Osten zum islamischen Dschihad gegen das Britische Empire aufstacheln. 1916 schufen die Mittelmächte einen polnischen Staat mit begrenzter Selbstverwaltung. In seiner Osterbotschaft 1917 stellten Wilhelm II. und seine Regierung demokratische Reformen und die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen in Aussicht. Dabei handelte es sich nicht nur um Rhetorik. Im Sommer 1917 stürzte die Reichstagsmehrheit Bethmann Hollweg. Nach dem kurzen und desaströsen Experiment mit Georg Michaelis wurde Deutschland seit Herbst 1917 mit Georg von Hertling von einem Kanzler regiert, der ausdrücklich ernannt worden war, um das Vertrauen des Reichstags zu gewinnen. Und als der Frieden von Brest-Litowsk verhandelt wurde, forderte die Reichstagsmehrheit deutlich vernehmbar eine Politik der Selbstbestimmung und Autonomie für die baltischen Staaten und die Ukraine. Das Scheitern des Versuchs, einen legitimen »liberalen« Frieden in Brest-Litowsk zu schließen, erwies sich nicht als Triumph für die konservativen Fraktionen und die Militärführung in Deutschland. Das Ergebnis waren: ein Frieden ohne Legitimität, der Zerfall der kaiserlichen Regierung, der beschämende Rücktritt von Außenminister Richard von Kühlmann und die Überzeugung der Reichstagsmehrheit, dass Friedensverhandlungen nicht mehr den bisherigen Machthabern überlassen werden konnten. Nicht ohne Grund erklärte der Kaiser im März 1918, dass in der letzten deutschen Offensive »der Sieg der Monarchie über die Demokratie« auf dem Spiel stand.46 Er hatte nicht unrecht: Als die deutschen Truppen im Sommer 1918 zurückgeschlagen wurden, hatte sich die Geschichte ein für allemal gegen die Monarchie gewandt. In Deutschland führte die drohende militärische Niederlage zur vollständigen ParlamenVgl. Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015. 46 Walter Görlitz (Hg.), Regierte der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander von Müller 1914–1918, Göttingen 1959, S. 366. 45
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tarisierung im Oktober 1918. Die Reichstagsmehrheit übernahm allerdings nicht die Macht, weil sie kapitulieren wollte, sondern weil sie überzeugt war, dass nur ein demokratisches Deutschland einen gerechten Frieden aushandeln – oder im schlimmsten Fall den Krieg fortführen – könnte.47 Der Verlauf der Waffenstillstandsverhandlungen mit Wilson überzeugte sie davon, dass sie dem Stigma entgangen war, das dem Kaiser und seinem Regime angeheftet worden war. Es war für die deutschen Abgeordneten ein heftiger Schock, als im Mai 1919 deutlich wurde, dass der Versailler Vertrag das im Krieg geformte Narrativ der alleinigen Verantwortung Deutschlands für den Krieg erneut bekräftigte.
Mobilisierung und Demokratisierung Selbst wenn wir versuchen, die Sprache von Kausalität und Wirkung zu vermeiden, die Wechselwirkungen nach außen verlagert, ist es dennoch offenkundig, dass in einer Welt, die Debatten über die Bedingungen und Formen ihrer eigenen Demokratisierung führte, die Erfahrung der gewaltigen Mobilisierung für den Ersten Weltkrieg dramatische Effekte hatte. Die nationalistische Stimmung in der Arbeiterklasse 1914 enttäuschte zwar die radikalen internationalen Sozialisten, die eine weltweite Revolution erwartet und angekündigt hatten. Aber auf nationaler Ebene hatte die Mobilisierung unaufhaltsame demokratisierende Auswirkungen. Der Krieg konnte als Massenkrieg nicht ohne die Masse der Arbeiterklasse geführt werden. Hindenburg und Ludendorff konnten das Hilfsdienstgesetz 1916 nur mit Zugeständnissen an die Gewerkschaften durchsetzen.48 Nach der Katastrophe in der Schlacht von Karfreit im Oktober 1917 unternahm die italienische Regierung erhebliche Anstrengungen, um den Kriegseinsatz auf eine breitere soziale
Michael Geyer, »Insurrectionary Warfare. The German Debate about a ›Levée en Masse‹ in October 1918«, in: Journal of Modern History 73 (2001), S. 459–527. 48 Vgl. Gunther Mai, Arbeiterschaft in Deutschland, 1914–1918. Studien zu Arbeitskampf und Arbeitsmarkt im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1985. 47
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Grundlage zu stellen.49 Der Krieg, erklärte die Regierung Orlando, »wird für den Soldaten, den Bauern, den Arbeiter, den Angestellten geführt. Er wird für alle geführt, die leiden und in Nöten sind, auf dem Land und in den Städten, in Italien und außerhalb Italiens. Dieser Krieg ist für das Proletariat: Dies ist der Krieg der Arbeiter.«50 Das Auseinanderfallen der Union sacrée in Frankreich 1917 oder der Austritt der Labour Party aus der britischen Koalitionsregierung scheinen in eine andere Richtung zu deuten. Aber in beiden Fällen versprach sich die Linke davon politische Vorteile, und die Initiative ging von den Sozialisten aus. Und während Lloyd George oder Clemenceau nun ihre sozialistischen Gegner attackierten, richteten sich ihre Appelle weiterhin an die gesamte Bevölkerung.51 Jede Strategie, die die demokratischen Bedingungen nicht berücksichtigte, war zum Scheitern verurteilt. Das Auftreten der Deutschen Vaterlandspartei 1917 war eine Demonstration der Stärke des Radikalnationalismus. Aber zugleich war es eine Enttäuschung, weil sichtbar wurde, dass diese Mobilisierung nur rechtsgerichtete bürgerliche Kreise umfasste.52 Die Arbeiterklasse wurde dadurch nicht erreicht. Erst nach dem Schock, den die Niederlage und die Etablierung einer demokratischen Republik unter sozialistischer Führung bei ihr auslösten, unternahm die deutsche Rechte eine populistische Modernisierung. Die NSDAP war das typische Produkt dieses Wandlungsprozesses. Die Partei war antisozialistisch, antiliberal und antiparlamentarisch. Trotz alledem war sie durch und durch massenpartizipatorisch und parademokratisch. Die reaktionären Mitglieder im Herrenhaus des Preußischen Landtags hielten am Widerstand gegen das allgemeine Wahlrecht fest. Aber das geschah gegen die ausdrückliche Aufforderung ihres Monarchen, die Reformen zu unterstützen. In Österreich eröffnete der neue Kaiser wieder das Parlament in Wien. In Großbritannien Daniela Rossini, Woodrow Wilson and the American Myth in Italy, Cambridge, Mass. 2008. 50 Charles L. Bertrand, »War and Subversion in Italy. 1917–1918«, in: Historical Reflections/Réflexions Historiques 3 (1976), H. 2, S. 105–122, hier: S. 120. 51 David Robin Watson, Clemenceau. A Political Biography, London 1974, S. 275–292. 52 Vgl. Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreichs, Düsseldorf 1996. 49
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brachten konservative Peers im Oberhaus den Entwurf für ein »Trench Voting Bill«, ein Schützengrabenwahlgesetz, ein, und es waren auch die Konservativen, die erfolglos versuchten, im Zuge des Reform Act von 1918 ein Verhältniswahlrecht einzuführen.53 Der Grund dafür war ihre Annahme, dass sie unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts im Westminster-System von der neuen Massenwählerschaft weggefegt würden. Wie groß der Unterschied zu den Auseinandersetzungen um den Reform Act von 1867 war, stellte der herausragende Verfassungsrechtler Lord Bryce im September 1917 gegenüber seinem Kollegen Albert Venn Dicey fest: Damals hatten beide Seiten in der Debatte vorausgesetzt, dass »Eignung« für das Wahlrecht »nachgewiesen werden musste«. Sprach man hingegen jetzt »mit einem sentimentalen Befürworter des Frauenwahlrechts, kann er keinen Sinn darin erkennen, zu überprüfen, ob die große Masse der Frauen überhaupt an Politik interessiert ist oder sich damit beschäftigt. Es reicht ihm aus, dass sie Menschen sind. Und als solche haben sie ein Recht zu wählen.«54 Die Zeitungen folgten dieser Stimmung, Lord Northcliffe ging mit seinem Presseimperium voran. Ab 1917 wurde in der Times der Widerstand gegen das allgemeine Wahlrecht als spalterisch und damit als unpatriotisch dargestellt. Aber der Krieg intensivierte nicht nur die Forderung nach Demokratisierung in den beteiligten Staaten, sondern weitete diese auch auf andere Regionen aus. Wenn Frankreich, Großbritannien und die USA die deutsche Autokratie verurteilten, konnten sie in ihren eigenen Herrschaftsbereichen nicht mehr so einfach zu Mitteln der Repression greifen. Zur gleichen Zeit, zu der die größte Wahlrechtserweiterung der britischen Geschichte durchgeführt wurde, begann die Regierungskoalition unter Lloyd George damit, der Legitimität imperialer Herrschaft eine neue Grundlage zu verschaffen. In Irland war die britische Regierung gezwungen – ungeachtet der offenen militärischen Herausforderung durch Sinn Féin in Dublin 1916 –, das alte Versprechen der »Home Rule« wahrzumachen. Der Augenblick der Entscheidung kam bezeichnenderweise im Frühjahr 1918, als die Lage an der Westfront eine neue 53 54
Martin Pugh, Electoral Reform in War and Peace 1906–1918, London 1978. Ebenda, S. 136.
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Welle von Einberufungen erforderlich machte. Die Labour Party erklärte der Koalitionsregierung, dass eine erweiterte Wehrpflicht nicht über die Arbeiterklasse in den britischen Städten verhängt werden konnte, ohne die Wehrpflicht auch auf Irland auszudehnen. Die Demokratie verlangte Gleichheit aller Teile des Vereinigten Königreichs auch im Kriegseinsatz. Aber man konnte die Wehrpflicht nicht in Irland einführen, ohne endlich Schritte in Richtung »Home Rule« zu unternehmen, selbst gegen Widerstand aus Ulster.55 Auch in Indien musste Großbritannien im August 1917 die Herrschaft des Empire durch das Versprechen eines allmählichen Übergangs zur Selbstregierung auf neue Weise rechtfertigen.56 Die Einführung der Wehrpflicht wurde in Australien Gegenstand einer Volksabstimmung und zweimal von den Wählern abgelehnt.57 Die Versprechungen, die der britische liberale Imperialismus abgegeben hatte, machten London in besonderem Maße für die Macht dieser Logik anfällig. Der Druck wurde noch durch die strategische Logik verstärkt, dass Großbritannien seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten pflegen musste. Sobald Amerika in den Krieg eingetreten war, machte das Weiße Haus seine Erwartung klar, dass in Irland etwas getan würde. Bevor im Frühjahr 1918 die entscheidenden Schritte in Richtung Wehrpflicht und »Home Rule« eingeleitet wurden, versicherte sich die britische Regierung der Unterstützung durch den amerikanischen Präsidenten. Aber auch wenn der Druck besonders in London zu spüren war, die gleiche Logik wirkte sich auch auf die anderen Ententemächte aus. Im Verlauf des Krieges gelang es Blaise Diagne, für die Einwohner der vier Gemeinden im kolonialen Senegal die französischen Bürgerrechte zu erhalten und auch das Recht, in der regulären französischen Armee und nicht mehr in der Kolonialarmee zu dienen. Als 1918 eine weitere Runde von Rekrutierungen in Senegal vorgenomStephen Hartley, The Irish Question as a Problem in British Foreign Policy. 1914–1918, Basingstoke 1987, S. 175. 56 Richard Danzig, »The Announcement of August 20th, 1917«, in: The Journal of Asian Studies 28 (1968), H. 1, S. 19–37; Robin J. Moore, »Curzon and Indian Reform«, in: Modern Asian Studies 27 (1993), H. 4, S. 719–740. 57 Robin Archer, »Stopping War and Stopping Conscription. Australian Labour’s Response to World War I in Comparative Perspective«, in: Labour History (2014), H. 106, S. 43–67. 55
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men wurde, ernannte Clemenceau Diagne zum Generalgouverneur und Kabinettsmitglied. Zusammen mit einer Gruppe von afrikanischen Offizieren gelang es ihm, weitere 60000 Mann für den Kriegseinsatz in Frankreich anzuwerben.58
Russland 1917 und die Demokratie Im »Streit der Fakultäten« erklärte Immanuel Kant 1798, die Begeisterung für die Französische Revolution auf der ganzen Welt sei ein Vorbote der Möglichkeit des Fortschritts. Über die globale Reaktion auf den Sturz der Autokratie des russischen Zaren im Frühjahr 1917 hätte etwas Ähnliches gesagt werden können. Vor dem Krieg befand sich das zaristische Russland nach allgemeinem Verständnis am untersten Ende der politischen Entwicklungsskala. Die brutale Niederwerfung der Revolution von 1905 und die Wellen von Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung im Westen des russischen Reichs galten in der internationalen Meinung als Kennzeichen der Rückständigkeit Russlands. Die Begeisterung über das Ende der Zarenherrschaft hatte mit dem Versprechen zu tun, Demokratie und Freiheit für das am wenigsten freie Volk Europas einzuführen. Die Schockwellen, die von diesem Ereignis ausgingen, lassen deutlich erkennen, welche zentrale Bedeutung die Frage der Demokratie im Kriegsverlauf bis 1917 angenommen hatte. Die Geschwindigkeit, mit der der Zusammenbruch der Zarenherrschaft dem Argument eines Verteidigungskrieges der Mittelmächte den Boden entzog, ist bemerkenswert. Österreich hoffte verzweifelt auf einen Frieden. Innerhalb weniger Wochen nach der Februarrevolution spaltete sich die SPD, so wie es schon lange erwartet worden war, in eine Mehrheits- und eine Antikriegspartei. Bethmann Hollweg überzeugte den widerwilligen Kaiser davon, eine grundsätzliche Reform des Wahlrechts in Preußen zu versprechen. Die Heere der Mittelmächte stellten ihre Offensiven ein. Die Deutschen suchten nicht mehr die Entscheidungsschlacht, sondern 58
Myron J. Eichenberg, »Paying the Blood Tax. Military Conscription in French West Africa. 1914–1929«, in: Canadian Journal of African Studies/ Revue Canadienne des Études Africaines 9 (1975), H. 2, S. 171–192.
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hofften auf Friedensverhandlungen. Mit deutscher Hilfe kehrte Lenin nach Russland zurück, um die neuen demokratischen Freiheiten, die sich seit der Revolution boten, für seine Zwecke zu nutzen. Nicht nur die Deutschen setzten darauf, aus dem Regimewechsel in Russland einen Vorteil zu ziehen. Für alle, die aus dem Kampf der Entente einen Krieg für die Demokratie machen wollten, war die russische Februarrevolution ein Geschenk des Himmels. Robert Lansing, der amerikanische Außenminister, erklärte seinen Kabinettskollegen: »Die Revolution in Russland […] hat das Hindernis dafür beseitigt, den Krieg in Europa als Krieg zwischen Demokratie und Absolutismus zu begreifen.«59 Auch Präsident Wilson begrüßte in seiner Kriegserklärung die »wunderbaren und ermutigenden Dinge, die in den letzten Wochen in Russland geschehen sind«. Die Autokratie des Zaren wurde »abgeschüttelt und das große und großherzige russische Volk in seiner ganzen einfältigen Majestät und Macht wurde den Kräften hinzugefügt, die für die Freiheit auf der Welt kämpfen«.60 Clemenceau reagierte geradezu ekstatisch auf die Gleichzeitigkeit der amerikanischen Kriegserklärung und des Zarensturzes: »Das höchste Interesse der allgemeinen Ideen, mit denen Präsident Wilson das Handeln seines Landes rechtfertigte«, was sich auf die Kriegserklärung bezog, »besteht darin, dass die Russische Revolution und die Amerikanische Revolution sich gegenseitig auf wundersame Weise ergänzen und so ein für alle Mal deutlich machen, was in diesem Konflikt moralisch auf dem Spiel steht. Alle großen demokratischen Völker […] nehmen künftig den Platz in der Schlacht ein, der für sie vorherbestimmt war. Ihr Einsatz dient dem Triumph nicht eines allein, sondern aller.«61 Aber für die Mächte der Entente brachte der Sturz des Zaren nicht nur strategische Vorteile mit sich. Es stellten sich auch Fragen nach ihrer eigenen Legitimität. Wie nach der Russischen Revolution von 1905 wurde in Indien diese Frage erneut aufgeworfen. Wenn die russische Autokratie überwunden worden war, wie viel länger konnte die »autokratische« Herrschaft der Briten über Indien noch Papers of Woodrow Wilson, Bd. 41, S. 440; FRUS Lansing Papers Bd. I, S. 626–628, 636. 60 Wilsons Kriegserklärung vom 2. April 1917, zit. nach Tooze, Sintflut, s. 92f. 61 Zit. nach Michel Winock, Clemenceau, Paris 2007, S. 418f. 59
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aufrechterhalten werden? Am 22. Mai 1917 erklärte der für Indien zuständige Minister, der liberale Konservative Austen Chamberlain, im Kabinett: »Dass wir ständig dieses Lied singen, dass wir für Freiheit und Gerechtigkeit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker kämpfen; für die Revolution in Russland und wie sie in diesem Land und andernorts aufgenommen wurde; […] all das hat die Forderung nach Reformen verstärkt und gärende Ideen hervorgebracht.« Verlangt wurde nun eine eindeutige Erklärung der Absicht Großbritanniens, Indien langfristig die Selbstregierung zuzugestehen. Wer dieser Forderung nicht nachkam, riskierte, dass »die moderaten Elemente – soweit es sie gibt – ins Lager der Extremisten« getrieben würden.62 Angesichts der unleugbaren Welle der Begeisterung, auf die das russische Experiment mit der Demokratie Anfang 1917 stieß, ist es umso unbegreiflicher, dass es im historischen Rückblick für unbedeutend erklärt werden konnte. Überschattet vom Putsch der Bolschewiki, der es zerstörte, gibt es kaum ein Regime, das eine so große historische Herabsetzung erfahren hat wie die »provisorische Regierung«, die darum kämpfte, das demokratische Versprechen der Revolution in Russland in die Wirklichkeit umzusetzen. Wie oft muss die »provisorische Regierung« dafür herhalten, wenn die Unentschlossenheit der Demokratie oder die Schwäche von Liberalen im Gegensatz zu ihren hartgesottenen Feinden auf der Rechten oder Linken angeprangert wird. Aber die provisorische Regierung sah sich nicht nur gewaltigen Widrigkeiten und zu allem entschlossenen Gegenspielern gegenüber. Es gelangen ihr auch enorme Fortschritte in der Demokratisierung. Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung im November 1917 waren ein erstaunlicher Beweis dafür, dass es möglich war, Wahlen auf der ganzen Welt abzuhalten. Diese Wahlen waren die größten, die es je gegeben hatte, die Zahl der Wähler überstieg selbst die bei den chinesischen Wahlen 1912/13. In Russland waren anders als in China alle Frauen und alle Männer wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung war hoch, und der Wahlvorgang wurde im Allgemeinen als »frei und fair« betrachtet. Die Ergebnisse folgten einer klaren demokratischen Logik, die Mehrheit der Stimmen ging auf dem Land an die agrarischen So62
Algernon Rumbold, Watershed in India. 1914–1922, London 1979, S. 71f.
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zialrevolutionäre, in den Städten an die Bolschewiki und die Menschewiki.63 Die größte Herausforderung war jedoch der Frieden. Die Kriegsziele des Zaren waren zwar diskreditiert. Aber die demokratischen Revolutionäre Russlands lehnten es als Demokraten ab, die Möglichkeit von Verhandlungen über einen Separatfrieden mit dem reaktionären Deutschland in Betracht zu ziehen. Das erschien ihnen erniedrigend und verräterisch. Die Vorstellung einer demokratischen Hierarchie führte zur Fortdauer des Krieges. Die provisorische Regierung wollte Friedensverhandlungen nur gemeinsam mit ihren Bundesgenossen in der Entente aufnehmen. Doch deren Regierungen lehnten Verhandlungen ab. Damit waren die Erfolgsaussichten zerstört, die die russische Demokratie 1917 vielleicht gehabt hatte. Während die russische »provisorische Regierung« einerseits unter Berufung auf die Brüderlichkeit des europäischen Sozialismus informelle diplomatische Kanäle zu öffnen versuchte, sammelte sie ihre Kräfte für eine demokratische militärische Offensive. Sie beschwor bewusst das Bild des revolutionären Krieges herauf, das sie aus der Mythologie der Französischen Revolution übernommen hatte, der Levée en masse von 1792. Die demokratischen Revolutionäre waren es, die im Frühjahr 1917 politische Kommissare in der russischen Armee einführten, um der Sommeroffensive mehr Durchschlagskraft zu verleihen. Das militärische Scheitern dieser Offensive zerstörte die Legitimität der »provisorischen Regierung«. Im Herbst 1917 wurde sie von der Partei in Russland gestürzt, die dazu bereit war, sofort einen Separatfrieden abzuschließen. Das war ein niederschmetternder Rückschlag für die Kriegführung der Entente. Aber der Kriegseinsatz für die Demokratie wurde damit in den Augen der Zeitgenossen nicht infrage gestellt. Die Verhandlungen von Brest-Litowsk machten die Verbindung zwischen den Mittelmächten und der Autokratie nur noch sichtbarer. Der Deutsche Reichstag mit seiner Vision eines gerechten Friedens im Osten, der auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruhte, wurde übertönt vom Säbelrasseln von Bolschewiki, deutschen Militaristen und alliierter Propaganda. Lenin glaubte zwar, sein kommunistisches Re63
Oliver H. Radkey, Russia Goes to the Polls. The Election to the All-Russian Constituent Assembly 1917, Ithaca 1989.
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gime hätte zur Intervention der Entente in Russland geführt, aber er lag eindeutig falsch. Was eine Intervention in Russland selbst für Woodrow Wilson im Sommer 1918 immer unvermeidlicher erscheinen ließ, waren Hinweise, dass das kommunistische Regime immer mehr in eine Abhängigkeit vom deutschen Kaiserreich geriet. Skeptikern, die daran zweifelten, dass durch einen Angriff auf Russland irgendein Vorteil errungen werden könnte, entgegnete Lloyd George ungehalten: »Ich bin Interventionist«, denn »sosehr ich Demokrat bin, sosehr will ich den Krieg gewinnen«. Das »Letzte«, wofür er stehen würde, wäre »die Unterstützung irgendeines repressiven Regimes« in Russland, »in welcher Verkleidung auch immer«.64 Nur ein demokratisches Russland könne wirklich einen Puffer gegen die deutsche Bedrohung bieten. Die politische Beschaffenheit Russlands würde über die Nachkriegsordnung entscheiden. »Wenn bei Kriegsende Russland nicht eine liberale, progressive und demokratische Linie eingeschlagen hat«, würde weder der »Weltfrieden« noch »der Frieden und die Sicherheit der indischen Grenze« gesichert werden können.65 Die Intervention in Russland wurde 1919 zur Cause célèbre der europäischen Linken. Aber damit ging keine besondere Sympathie für Lenins Regime einher. Die Folgen der bolschewistischen Machtergreifung und des Putschs gegen die Konstituierende Versammlung im Januar 1918 waren für die große Mehrheit der europäischen Sozialisten völlig klar. Sie wollten Frieden, Demokratisierung und sozialen Wandel, aber sie hatten wenig oder gar kein Verständnis für die Methoden, die in Russland zur Anwendung kamen. Die Umgestaltung Karl Kautskys vom Papst der marxistischen Orthodoxie in der Vorkriegszeit zum scharfen Kritiker des Terrors der Bolschewiki und zum Verteidiger der parlamentarischen Demokratie ist ein Symbol dieser veränderten Sichtweise.66 Linksintellektuelle des 21. Jahrhunderts wie Slavoj Zˇizek ˇ liegen nicht falsch, wenn sie in diesem historischen Augenblick 1917/18 den Wendepunkt erkenRichard H. Ullman, Anglo-Soviet Relations 1917–1921, Bd. 1: Intervention and the War, Princeton 1961, S. 222. 65 Ebenda, S. 305. 66 Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution, Berlin 1919. 64
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nen, an dem das konformistische Denken eines demokratischen Mainstreams einsetzte.67 Was ihren Zorn erregt, ist die sich selbst in die Bedeutungslosigkeit treibende Logik von reformistischen Politikern der Arbeiterbewegung wie John McGurk, 1918/19 der Vorsitzende der Labour Party. Seinen Parteigenossen erklärte er 1919, vor welcher Entscheidung sie standen: »Entweder stehen wir zur Verfassung, oder wir stehen nicht zur Verfassung. Wenn wir zur Verfassung stehen, wenn wir an die Wirksamkeit der Waffen der Politik glauben (und das tun wir doch, warum haben wir sonst eine Labour Party?), dann ist es unklug und undemokratisch, uns umzudrehen und Streikaktionen zu fordern, wenn wir an den Wahlurnen keine Mehrheit errungen haben.«68 Für McGurk war das Bekenntnis zur parlamentarischen Methode keine Ergänzung außerparlamentarischer Aktionen, sondern beides schloss sich gegenseitig aus. Im Gegensatz zu dieser Linken, die sich selbst entwaffnete, formulierten Trotzki und Lenin eine absolut radikale Kritik der Normen der parlamentarischen Demokratie, wie Zˇizek ˇ richtig beobachtet. Die große Frage für die demokratische Linke war von diesem Augenblick an, ob diese Alternative wirklich unausweichlich war: Lenins erbarmungslose Verachtung für alle Formen der parlamentarischen Politik oder die kompromisslose Akzeptanz der parlamentarischen Spielregeln durch die Labour Party, wie einseitig auch immer diese ausgelegt wurden. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts, zumindest bis in die 1990er Jahre, zeichneten sich radikale Demokraten, ob Sozialdemokraten oder Bürgerrechtsaktivisten, dadurch aus, dass sie diese falsche Alternative zurückwiesen.
Demokratie im Krieg und gegen den Krieg Wenn es eines abschließendes Zeugnisses für die Macht des Demokratisierungsprozesses in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedürfte, dann wäre es, dass dieser nicht nur dazu in der Lage war, im Leon Trotsky, Terrorism and Communism. A Reply to Karl Kautsky (1920), hrsg. und kommentiert von Slavoj Zˇizek, ˇ London 2007. 68 Zit. nach Ralph Miliband, Parliamentary Socialism. A Study in the Politics of Labour, London 1975, S. 69. 67
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Zuge der Massenmobilisierung für den Krieg geradezu zwangsläufig den Wandel von Verfassungsordnungen herbeizuführen, sondern sogar dazu, den Sinn des Großen Krieges selbst in Frage zu stellen. Der Krieg spitzte die demokratische Frage zu – auch auf der Seite der Sieger, wie bereits zu sehen war. Aber zugleich wagten demokratische Stimmen die Frage zu stellen, ob der Krieg überhaupt fortgeführt werden sollte, und das selbst im Angesicht riesiger Verluste und des gewaltigen Drucks, der damit auf den kriegführenden Mächten lastete, den Krieg zu einem siegreichen Ende zu führen. Wenn demokratische Politik die Fähigkeit besaß, in der Situation des totalen Krieges von 1914 bis 1918 die Frage nach dem Frieden aufzuwerfen, wie schreiben wir diesen demokratischen Augenblick in die Narrative der Demokratisierung ein? Die konventionellen Erzählungen, wie sie etwa die quantitative Demokratieforschung vertritt, wonach die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nur das Vorspiel zu einer viel größeren Demokratisierung war, zu der es in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kam, werden dadurch infrage gestellt. Was das Wahlrecht betrifft, die Inklusion von Frauen, Bürgerrechte für Minderheiten und die postkoloniale Freiheit, ist ein Narrativ der fortschreitenden Demokratisierung sicher unentbehrlich. Aber es ist alles andere als eindeutig, dass dieselbe Fortschrittsgeschichte im Hinblick auf die Substanz der demokratischen Auseinandersetzung gilt. Wenn wir danach fragen, worum sich die Demokratie überhaupt dreht, ist die Erzählung einer Aufwärtsbewegung zu immer größerer Demokratie viel weniger plausibel. Die Zementierung des Wahlrechts in Verfassungen kann maschinenartig voranschreiten; die Breite und Tiefe des Felds des Politischen in der Demokratie schwankt, sie nimmt zu und wieder ab, sie folgt kaum einer linearen Entwicklung oder einem Fortschrittsprinzip. Um diesen Punkt stärker und verständlicher zu machen, kann man sich einen Gegensatz in Erinnerung rufen, der uns näher steht als der Erste Weltkrieg und in den westlichen Demokratien noch erinnert wird, nämlich der Gegensatz zwischen der politischen Debatte um den Vietnamkrieg in den 1960er und frühen 1970er Jahren und der um den Irakkrieg von 2003. Zwar war die Mobilisierung gegen den Irakkrieg im Februar 2003 gewaltig – das »Guiness-Buch der Rekorde« führt die Demonstrationen vom 15. Februar als die
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größten in der Weltgeschichte auf. Aber den Medien und den politischen Apparaten in den Vereinigten Staaten und anderen kriegführenden Nationen, besonders in Großbritannien, gelang es, den Krieg stromlinienförmig zu präsentieren und einen erstaunlichen Konsens über den Krieg herzustellen. Angesichts der Unrechtmäßigkeit des Krieges, der der Inbegriff eines »war of choice« war, eines Krieges, für den man sich entschieden hatte, war es verwunderlich, dass der demokratischen Öffentlichkeit jede echte politische Entscheidungsmöglichkeit fehlte. Der Vietnamkrieg dagegen wurde nicht nur von der Antikriegsbewegung abgelehnt. Diese Antikriegsbewegung, die selbst ein dramatischer Ausdruck demokratischen Handelns war, schloss sich mit anderen gesellschaftlichen Bewegungen jener Zeit zusammen, einschließlich des Feminismus und der Bürgerrechtsbewegung. Sie trieben eine weitreichende Transformation eines erheblichen Teils der amerikanischen politischen Kultur voran. Amerikanischen Konservativen, den militärischen Eliten oder dem Sicherheitsestablishment war das ein Dorn im Auge. Sie setzten ihre eigene gegenkulturelle Mobilisierung in Gang und lernten ihre Lektion. Ihre Kontrolle über die Medien war bereits im ersten Irakkrieg 1991 auf geradezu spektakuläre Weise viel effektiver als im Vietnamkrieg. Widerspruch wurde unter dem Mantel der patriotischen Solidarität mit den Soldaten erstickt, was in erstaunlich umfassendem Ausmaß gelang. Eine ähnliche Verengung der demokratischen Auseinandersetzung lässt sich auf vielen entscheidenden Gebieten beobachten, besonders in der fundamentalen Frage der Wirtschaftspolitik – und das nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in weiten Teilen der westlichen Welt. Nicht umsonst reagierte Angela Merkel, eine der führenden Repräsentantinnen der demokratischen Politik des frühen 21. Jahrhunderts, auf die Krise der Eurozone, indem sie diese zu einem Augenblick der »Alternativlosigkeit« erklärte.69 Vergleicht man die Politik im Ersten Weltkrieg mit der Politik im Zweiten Weltkrieg und dann im Kalten Krieg, zeigen sich solche Schwankungen in der Bandbreite der demokratischen Auseinan69
Robin Alexander, Merkel ruft wieder die Alternativlosigkeit aus, Die Welt vom 19. 5. 2010, http://www.welt.de/politik/deutschland/article7703633/ Merkel-ruft-wieder-die-Alternativlosigkeit-aus.html [4. 5. 2015].
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dersetzung auch. Anders als der Erste Weltkrieg wurde der Zweite Weltkrieg bis zum absoluten Ende geführt. Spielraum für Verhandlungen gab es kaum oder keinen, weder im Inneren noch mit dem Gegner. Der Zweite Weltkrieg ging mehr oder minder unmittelbar in den Kalten Krieg über, in eine Jahrzehnte andauernde Pattsituation mit verhärteten Frontlinien. Die gewaltigen politisch-militärisch-industriellen Maschinen, deren Ziel es im Zweiten Weltkrieg war, einander zu vernichten, waren auf der Grundlage von Erfahrungen mit Massenmobilisierungen, die man im Ersten Weltkrieg und danach gemacht hatte, aufgebaut worden.70 Die Regime in Italien und der Sowjetunion gingen unmittelbar aus der Politik der Kriegszeit hervor. Für sie war wie für die Nazis das Verhältnis von Krieg, Mobilisierung und Demokratie das entscheidende Problem: Wie ließ sich eine umfassende und von allgemeiner Zustimmung getragene Mobilisierung herbeiführen, ohne dass damit demokratische Offenheit und die Frage von Revolution und Frieden einhergingen? Aber nicht nur die totalitären Diktaturen standen vor diesem Problem, sondern auch die westlichen Alliierten. Angesichts der auf Vernichtung und Völkermord zielenden Natur ihres Feindes, gegen den auch eine erbitterte Propagandaschlacht geführt wurde, wundert es nicht, dass auch die ideologischen Kampflinien viel schärfer gezogen wurden als im Ersten Weltkrieg. Für politischen Widerspruch, für abweichende Meinungen gab es im Zweiten Weltkrieg weniger Raum als in jedem Krieg zuvor. Im Ersten Weltkrieg stellte der politische Pazifismus noch eine ernsthafte Herausforderung für die Regierungen in Großbritannien und Amerika dar, im Zweiten Weltkrieg war er nahezu inexistent. Die politischen Debatten in den Demokratien waren noch in den späten 1930er Jahren von Offenheit und einer Vielfalt von Alternativen gekennzeichnet, auch in Fragen der Wirtschaftsordnung oder von Krieg und Frieden. Und der New Deal hatte Augenblicke radikaler demokratischer Politik geschaffen. Im Zweiten Weltkrieg war die Arbeiterbewegung wirkungsvoller in die Mobilisierung eingebunden als im Ersten Weltkrieg, und sie beteiligte sich bereitwilliger an den Institutionen des korporatistischen Ausgleichs. Das Management der 70
Vgl. MacGregor Knox, Common Destiny. Dictatorship, Foreign Policy, and War in Fascist Italy and Nazi Germany, Cambridge 2009.
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Heimatfront war ungleich effektiver, von der Bürokratie der Rationierung bis zur Mikroökonomie der Inflationsbekämpfung. Gleichzeitig sorgte das Bündnis mit der Sowjetunion dafür, dass die linke Flanke vor jeder möglichen Opposition geschützt war.71 Was im Zweiten Weltkrieg das Resultat einer einzigartigen historischen Konstellation war, wurde dann im Kalten Krieg als Politik der »Alternativlosigkeit« fortgeführt. Dieser Unterschied zeigt sich auch in den Erinnerungen an den Ersten und an den Zweiten Weltkrieg. Das Bild des Zweiten Weltkrieges als des »guten Krieges« ist einer der wenigen Monolithe, die das 20. Jahrhundert einigermaßen unbeschädigt überlebt haben. Für die westlichen Siegermächte war und bleibt es ein Krieg für die Demokratie, der von gewaltiger Zustimmung in der Bevölkerung getragen wurde. Auch für die Sowjets war es ein heroischer Einsatz des Volkes, der »Große Vaterländische Krieg«, und dieser Einsatz wurde ebenso von den späteren Gegnern im Kalten Krieg bewundert. Und selbst wenn im besiegten Deutschland mehr oder weniger heimlich von den »guten Seiten« der Hitlerdiktatur die Rede war, erinnerte man sich vor allem an deren einheitsstiftende, solidarische Aspekte. Dieses Erbe prägte die Sozialstruktur und die politische Kultur der demokratischen Bundesrepublik. Im Gegensatz dazu bleibt der Erste Weltkrieg auch nach hundert Jahren ein umstrittenes Thema. Seine Legitimität steht zur Debatte, in jeder erdenklichen Hinsicht. Auch wenn man sie für erledigt erklärt, lässt sich die Frage nach der Kriegsschuld oder der Verantwortung für den Krieg nicht zum Verschwinden bringen. Wörter wie »Verdun«, »Somme« oder »Passchendaele« können immer noch pazifistische Reflexe auslösen. Die Formel »Lions led by donkeys« steht in Großbritannien immer noch für Klassenspaltung und die Inkompetenz der Upperclass. »Versailles« vervollständigt den Katalog der Katastrophen. Die Versuchung ist groß, all das in ein Entwicklungsschema zu pressen, wonach der Krieg und seine
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Vgl. Keith Middlemas, Politics in Industrial Society. The Experience of the British System Since 1911, London 1979; James T. Sparrow, Warfare State. World War II Americans and the Age of Big Government, Oxford 2011. Nur in den Kolonien wurde diese lückenlose Mobilisierung ernsthaft infrage gestellt, vor allem durch die »Quit India«-Bewegung.
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Folgen symptomatisch für den langwierigen und schmerzhaften Untergang einer »alten Welt« waren. Indem aus Sarajevo, Verdun und Versailles Lehren gezogen wurden, indem man es im und nach dem Zweiten Weltkrieg besser machte, schritten »wir« in eine schönere und bessere Zukunft voran. In mancher Hinsicht, etwa in Bezug auf den demokratischen Wohlfahrtsstaat, ist das offenkundig der Fall. Aber war das ein Fortschritt hin zu mehr Demokratie? Vielleicht ist das Gegenteil der Fall. Ist es gerade seine Unentschiedenheit, seine umstrittene Natur, die den Ersten Weltkrieg anders als den Zweiten zum herausragenden Beispiel eines Krieges macht, der unter demokratischen Bedingungen ausgetragen wurde? Aus dem Englischen von Tim B. Müller
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Hedwig Richter
Hedwig Richter
Die Konvergenz der Wahltechniken und die Konstruktion des modernen Wählers in Europa und Nordamerika
Am 27. Februar 1910 versammelten sich 8000 Menschen im Berliner Zirkus Busch, einem pompösen Rundbau im eklektizistischen Stil der 1890er Jahre, um gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht zu protestieren; das Wahlrecht mit seiner Ungleichheit, seiner Indirektheit und Nicht-Geheimhaltung wirkte wie ein Relikt des vergangenen Jahrhunderts und schien im Widerspruch zu den modernen Zeiten zu stehen. »Vertreter von Kunst und Wissenschaft, Handel, Industrie und Gewerbe« hatten die Menschen zu der Kundgebung aufgerufen.1 Als die Versammlung endete, vereinten sich die herausströmenden Massen mit den Tausenden von Wartenden vor dem Gebäude, die keinen Platz gefunden hatten, und marschierten zum Berliner Schloss. Dort stießen die Protestler Hochrufe auf das Reichstagswahlrecht aus und Buhrufe gegen das preußische Wahlrecht.2 Denn während in Preußen das Dreiklassenwahlrecht von 1849 galt, herrschte auf Reichsebene seit 1871 ein fortschrittliches allgemeines und gleiches Männerwahlrecht. Bereits 1909 hatten die »berufenen Vertretern deutscher Geistesbildung und deutschen Wirtschaftslebens«, unter ihnen Max Weber, Gerhart Hauptmann, Lovis Corinth, Georg Simmel und Friedrich 1 2
»Für die preußische Wahlrechtsreform«, editorischer Bericht, in: Max Weber Gesamtausgabe, Tübingen 1998, Abt. 1, Schriften und Reden, Bd. 8, S. 455. »Die Wahlrechtskundgebung im Zirkus Busch«, Berliner Tageblatt vom 29. 2. 1910.
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Meinecke, einen Aufruf gegen das preußische Wahlrecht unterschrieben, in dem sie die preußische Regierung mahnten, endlich »die Bahn des politischen Fortschritts« zu betreten; ein »Volk von 60 Millionen, das in Handel und Industrie, in Gewerbe und Technik, in Wissenschaft und Kunst rastlos der Vollkommenheit zustrebt«, dürfe sich nicht aufgrund des Wahlrechts von einer »kleinen Oberschicht« beherrschen lassen.3 Eliten und breite Schichten der Bevölkerung waren sich einig im Kampf für Wahlrechtsreformen. Die Sozialdemokraten führten ebenfalls in diesen Jahren Protestaktionen gegen das Dreiklassenwahlrecht durch.4 Selbst die Konservativen zeigten sich bereit, das Wahlrecht zu reformieren, und Kaiser Wilhelm II. hatte 1908 in seiner Thronrede Änderungen angemahnt.5 Die Reformbestrebungen an der Wende zum 20. Jahrhundert waren typisch für die Länder Europas und Nordamerikas. Dabei hatte sich die Praxis der Massenwahlen vielfach schon Jahrzehnte vorher durchgesetzt: In den USA fanden seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zwar keine allgemeinen, aber doch weitgehend gleiche Wahlen für weiße Männer statt; in den süddeutschen Staaten gab es seit der ersten Jahrhunderthälfte ein weit gefasstes Männerwahlrecht; in Preußen wurde 1849 das allgemeine, jedoch ungleiche Dreiklassenwahlrecht installiert; England verdoppelte mit dem zweiten Reform Act 1867 die Zahl der Wahlberechtigten von einer Million Männer auf zwei Millionen; das Deutsche Reich ging 1871 noch einen Schritt weiter und führte das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht ein (eines der modernsten Wahlregularien der Zeit). In vielen Fällen wurde das Wahlrecht von oben installiert, und häufig stieß es auf heftige Widerstände, aber auch auf schieres 3 4 5
»Für die preußische Wahlrechtsreform«, editorischer Bericht, S. 455f. (hier auch der Abdruck des Aufrufs). Sozialdemokratische Wahlrechtsdemonstrationen, 1910–1912, Polizeipräsidium Berlin, A Pr.Br.Rep.030, Nr. 15995, LAB (Landesarchiv Berlin). Wie sich die Reformvorschläge gegenseitig blockierten, alle Seiten auf Maximalforderungen bestanden und es so bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu keiner Änderung des Wahlrechts kam, hat Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen: 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994, detailliert erklärt.
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Desinteresse. Um 1900 aber galt das Massenwahlrecht allgemein als akzeptiert. Die Mehrheit der Bevölkerung fasste es als unveräußerliches Recht auf, und Eliten, wie die Männer im Zirkus Busch, sorgten mit Reformbemühungen für seine Absicherung oder – wie es in den USA hieß – für die »purity of the ballot«. Ein entscheidender Aspekt demokratischer Praxis – so meine These – hatte also um die Jahrhundertwende breite Akzeptanz in den unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung gefunden: die Herstellung von Legitimation über Massenpartizipation. Diese These ist im Hinblick auf die Zwischenkriegszeit deswegen interessant, weil sie die Behauptung relativiert, Demokratie sei in manchen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg quasi aus dem Nichts entsprungen – woraus häufig ihr geradezu zwangsläufiges Scheitern gefolgert wird. Ich möchte meine These anhand von Eliten in New York City und Berlin untersuchen. Eliten zählten zum Großteil noch bis in die 1880er Jahre zu den entschiedenen Gegnern eines Massenwahlrechts. Daher ist es besonders aussagekräftig, dass sie um 1900 Massenpartizipation zur eigenen Sache machten und diese mit umtriebigen Reformbemühungen schützten oder sich doch zumindest bemüßigt fühlten, als ihre Befürworter anzutreten. Wenn sich die Akzeptanz anhand von Reformdiskursen sowohl in der US-amerikanischen Metropole als auch in der deutschen Hauptstadt Berlin zeigt, ist das ein Hinweis auf die breite Akzeptanz von Wahlen – egal, ob in der amerikanischen Republik oder in der deutschen konstitutionellen Monarchie. Der internationale Vergleich ist wichtig, um die Fallen des Exzeptionalismus für die USA und des Sonderwegs für die deutsche Geschichte zu vermeiden. Die gebildeten Gruppierungen, die sich mit den Details von Massenwahlen auseinandersetzten, sind bisher kaum untersucht worden. Über ihre Reformprogramme, ihre Netzwerke und internationalen Mitstreiter liegen so gut wie keine Studien vor. Dabei verraten diese Männer und Frauen viel über das Verständnis von Demokratie und Partizipation vor dem Ersten Weltkrieg.6 Dieser Forschungsmangel liegt womöglich auch daran, dass die Praxis von 6
Zu den Ausnahmen gehört Herbert Bass, »The Politics of Ballot Reform in New York State 1888–90«, in: New York History 42 (1961), H. 3, S. 253–272.
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Wahlen wenig Aufmerksamkeit gefunden hat.7 Hingegen gibt es eine reichhaltige Forschung über das Progressive Movement, zu dem die amerikanischen Reformer gerechnet werden können.8 Diese Bewegung war zweifellos extrem heterogen und von vielfältigen Motiven angetrieben.9 Doch stimme ich jenen Historikern zu, die eine gemeinsame Haltung identifizieren können: die optimistische Überzeugung, dass die Gesellschaft mit den anstehenden gewaltigen Probleme umgehen müsse und eine Lösung finden werde.10 Dabei hofften die Progressives, wie Shelton Stromquist erklärt, »das Volk« neu zu erfinden.11 Das ganze Konzept speiste sich aus dem Glauben an die grundsätzliche Möglichkeit, die Welt zu verbessern. Eine gute Erziehung konnte den richtigen Bürger hervorbringen.
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Zum aktuellen Forschungsstand siehe Claudia Gatzka u.a. (Hg.), Wahlen in der transatlantischen Moderne, Leipzig 2013. Eine Übersicht über den aktuellen Forschungsstand findet sich in Tracy L. Steffes, School, Society, and State. A New Education to Govern Modern America 1890–1940, Chicago 2012; über New York City siehe John Louis Recchiuti, Civic Engagement. Social Science and Progressive-Era Reform in New York City, Philadelphia 2007. Catherine Cocks/Peter C. Holloran/Alan Lessoff, »Introduction«, in: diess. (Hg.), Dictionary of the Progressive Era, S. xxvii-l, hier: xxxi; Steven L. Piott, Daily Life in the Progressive Era, Santa Barbara 2011, S. 133. Walter Nugent, Progressivism. A Very Short Introduction, Oxford 2010, S. 1; James J. Connolly, The Triumph of Ethnic Progressivism. Urban Political Culture in Boston, 1900–1925, Cambridge, MA 1998, S. 8–14 and 77f.; Jon Woronoff, »Editor’s Foreword«, in: Cocks/Holloran/Lessoff (Hg.), Dictionary, S. vii; siehe auch die Definitionen von Michael McGerr, A Fierce Discontent. The Rise and Fall of the Progressive Movement in America, 1870–1920, New York 2003, S. xiv-xvi; Robert Harrison, Congress, Progressive Reform, and the New American State, Cambridge 2004, S. 3–6; Connolly, Triumph, S. 11f. Shelton Stromquist, Reinventing »The People«. The Progressive Movement, the Class Problem, and the Origins of Modern Liberalism, University of Illinois 2006, S. viii.
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Wahlreformer in New York City Wie im Deutschen Reich machten sich auch in den USA viele Bürger Gedanken über die Wahlpraxis. Der New Yorker Jurist Albert S. Bard beispielsweise beschäftigte sich intensiv mit dem Problem des Stimmzettels: Welche Größe sollte er haben, welche Wahloptionen bieten, wie genau sollte er angekreuzt werden? Der Jurist sprach sich entschieden gegen die Möglichkeit aus, auf Stimmzetteln einfach eine Partei ankreuzen zu können; stattdessen sollte der Wähler einzelnen Kandidaten seine Stimme geben müssen.12 Wähler sollten wohlüberlegt und verantwortungsvoll handeln, im Wissen um die Stärken und Schwächen der Kandidaten. Dieser Anspruch aber bedeutete harte Arbeit für einen Reformer wie Bard: Er musste ein Wahlprozedere austüfteln, das den Wähler gewissermaßen zur Reife und Autonomie zwang – zu einem sachlichen, nüchternen Urteil. Bard wusste genau, wie eine republikanische Wählerschaft aussehen sollte: voller gleicher, ernsthafter, gebildeter Bürger, die sich ihres Wahlrechts als würdig erwiesen und ihre Entscheidungen rational trafen – eine Welt der ehrlichen und effizienten Männlichkeit.13 Bard war ein typischer Vertreter New Yorker Eliten um 1900. Die wohlhabenden und gebildeten Reformer können dem Progressive Movement zugerechnet werden. Berühmte Millionäre wie John Jacob Astor, J. P. Morgan oder Cornelius Vanderbilt gehörten ebenso wie Theodore Roosevelt zu ihnen, aber auch einfachere Menschen aus mittleren Schichten.14 Sie alle standen nach ihrer Selbstbeschreibung für demokratische Grundsätze, und keiner hätte offen die Richtigkeit des Universal Suffrage, des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, angezweifelt. Noch einige Jahrzehnte zuvor hatten sich weite Teile des New Yorker Bürgertum für dessen Abschaffung eingesetzt.15 Nach dem Bürgerkrieg war die amerika12 13
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Albert S. Bard Papers, 1896–1959 NYPL (New York Public Library). Vgl. die spannende Beschreibung dieser Welt in Lionel E. Fredman, »Seth Low. Theorist of Municipal Reform«, in: Journal of American Studies 6 (1972), S. 19–39. Recchiuti, Civic Engagement, S. 99f. Sven Beckert, »Democracy and its Discontents. Contesting Suffrage Rights in Gilded Age New York«, in: Past and Present 2 (2002), S. 114–155; David
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nische Gesellschaft von Klassenkämpfen erschüttert gewesen; Industrialisierung, wachsende Ungleichheit und immer mehr Einwanderer hatten eine unterprivilegierte Arbeiterklasse entstehen lassen; viele Angehörige der Mittelschichten plädierten dafür, diese Menschen von der politischen Partizipation auszuschließen.16 In New York waren Wahlen oft aus dem Ruder gelaufen und teilweise von gewalttätigen Auseinandersetzungen begleitet gewesen, sodass Bundestruppen in die Stadt geschickt wurden, um die Wahlen zu überwachen.17 1870 hatte die New York World ihren Lesern empfohlen, bewaffnet zur Urne zu gehen. Viele Angehörige der städtischen Eliten hatten die Ursache dieser Probleme im allgemeinen und gleichen Wahlrecht gesehen.18 Doch um 1900 war die Akzeptanz von »Demokratie«, allgemeinem und gleichem Wahlrecht und Massenpartizipation zu einer Art Konsens geworden. Trotz anhaltender gewaltiger wirtschaftlicher Probleme und sozialer Spannungen und fortwährender hoher Einwanderungszahlen in den 1890er Jahren forderten Männer und Frauen um das Progressive Movement mit Nachdruck politische Partizipation und angemessene Reformen und betonten dabei ausdrücklich ihre fundamental demokratischen Motive.19
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Quigley, Second Founding. New York City, Reconstruction, and the making of American Democracy, New York 2004, S. 32; »›The Protection of the Ballot in National Elections‹. Proceedings of the American Association of Social Scientists«, in: Journal of Social Science (1869), S. 108; Michael E. McGerr, The Decline of Popular Politics. The American North, 1865–1928, Oxford/ New York 1986, S. 393. Vgl. Alexander Winchell, »The Experiment of Universal Suffrage«, in: The North American Review 136 (1883), H. 315, S. 119–134; Alexander Keyssar, »voting«, in: Princeton Encyclopedia of American Political History, hrsg. von Michael Kazin u.a., Princeton 2009, S. 854–863, hier: S. 856. Vgl. David Quigley, »Acts of Enforcement. The New York City Election of 1870«, in: New York History 83 (2002), H. 3, S. 271–292. Zit. nach Brief US Marshal’s Office, Southern District of NY, an Hon A. T. Ackerman, 10. 10. 1870, RG 60, Entry A1 9: Letters Received, 1809–70, Cont. 121, Folder: Southern District of NY (US Marshal) 22. 9. 1869–26. 11. 1870, NARA ; und weitere Briefe in der Box. Richard L. McCormick, »Public Life in Industrial America 1877–1917«, in: Eric Foner (Hg.), The New American History. Revised and Expanded Edition, Philadelphia 1997, S. 107–132, hier. S. 109.
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Albert S. Bard war Mitglied in vielen der unzähligen Reformvereine, die sich um die demokratischen Praktiken in der Gesellschaft kümmerten und wie Pilze aus dem Boden schossen: Besonders prominent waren die Citizens Union oder der City Reform Club. In der Electoral Laws Improvement Association, der Bard als Präsident vorsaß, arbeitete er zusammen mit William Mills Ivins, einem renommierten Reformer und republikanischen Politiker.20 Gemeinsam mit Seth Low, der sowohl als Präsident der Columbia University als auch als reformerischer Bürgermeister New Yorks bekannt wurde, gehörte Bard zur Association to Prevent Corrupt Practices at Election.21 Bard partizipierte an vielen weiteren Gruppierungen in New York, die sich speziell für die Verbesserung der Wahltechniken einsetzte wie beispielsweise dem Corrupt Practices Committee, der Municipal Voters’ League und der Honest Ballot Association.22 Viele der Reformer waren ausgewiesene Rechtsexperten, oft hatten sie an einer der Eliteuniversitäten der USA studiert.23 Die Wahlreformer hegten die Überzeugung, dass Wähler gebildet sein und zumindest Lesen und Schreiben können sollten – ein Gedanke, der die Geschichte des allgemeinen Wahlrechts von Anfang an begleitete. Doch viele Wähler hatten keine Schulbildung. Einwanderer waren besonders häufig Analphabeten. Aufgrund ihrer Armut und ihrer Ignoranz gegenüber republikanischen Institutionen, so das Argument der Reformer, seien sie außerdem besonders anfällig für Korruption. Tatsächlich waren die Immigranten in New York City eine Herausforderung für die Stadt. Um die Jahr-
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Bard Papers, 1896–1959, Box 18, Folder 8: Elections 1906–1939, NYPL; Ivins war der Autor des vielbeachteten Buchs Machine Politics and Money in Elections in New York City, New York City 1887. Bard Papers, 1896–1959, Box 18, Folder 8: Elections 1906–1939, NYPL. Bard Papers, 1896–1959, Unterlagen in Boxes 18, 62–64 und 69. Vgl. William Mills Ivins, On the Electoral System of the State of New York. A paper presented at the twenty-ninth annual meeting of the New York State Bar Association, New York 1906, »The Worthless Ballot Law«, The New York Times vom 29. 5. 1908; Clinton Rogers Woodruff, »Election Methods and Reforms in Philadelphia«, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 27 (1901), S. 181–204; Joseph P. Harris, Registration of Voters in the United States, Washington 1929.
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hundertwende waren von den 3,4 Millionen Einwohnern 2,66 Millionen Einwanderer oder deren Kinder.24 Die Skepsis gegenüber bildungsfernen Schichten muss im breiteren Kontext der Reformbewegung gesehen werden, denn die Reformer fühlten sich vielfach ganz umfassend für ihre Gesellschaft zuständig – alles sollte geordnet, gesichert, gesäubert und professionalisiert werden. Albert S. Bard wurde beispielsweise für seinen Einsatz bekannt, historische Baudenkmäler in New York zu schützen, die kurz vor dem Verfall und Abriss standen. Aber Reformer sorgten sich auch um die wachsenden Müllberge, die hygienischen Zustände, die Armut unter Migranten, die allgemeine Kriminalität, Spielsucht und Alkohol. Und so wie die Müllabfuhr geordnet werden musste, so sollten auch die Wahlen durch eine professionelle Verwaltung organisiert und von Korruption gesäubert werden. Wahlen sollten nicht mehr in verräucherten Spelunken und verdreckten Geschäften stattfinden, wie es zuvor der Fall war. Rund 90 Prozent der Wahllokale in New Yorker Immigrantenvierteln befanden sich in Kneipen.25 Die Reformer forderten, dass Wahlen in öffentlichen Gebäuden stattfinden sollten, dass nicht Kerzen, sondern elektrische Glühbirnen das Prozedere beleuchteten. Im Sinne dieser »purification of the ballot« bildete die Reformbewegung auch eine starke Lobby für die Einführung von Wahlmaschinen, da Maschinen wesentlich besser als Menschen Informationen empfangen und fehlerfrei den Wählerwillen auszählen konnten.26 Angesichts der Intention der Reformer sowohl Analphabeten als auch die ärmeren Schichten von der Wahl auszuschließen, stellt sich frei24
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Zit. nach Recchiuti, Civic Engagement; vgl. auch Lionel E. Fredman, The Australian Ballot: The Story of an American Reform, East Lansing 1968, S. 99. Resolution for New Election, 24. 9. 1827, NYC Common Council, Elections 1827, Box 109, Folder 2064, NYCMA (NYC Municipal Archives); Bensel 2004: American Ballot Box, 9. Vgl. etwa Voorhis, Board of Elections, an McClellan, 20. 10. 1904, McClellan, George B. Administration, Box 27, Folder 28, Board of Elections 1904, NYCMA und weitere Unterlagen; »Political Leaders Seek no Reforms«, The New York Times vom 2. 6. 1915; »Wallstein Praises Board of Elections«, The New York Times vom 5. 6. 1915; vgl. auch Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010, S. 33f., 62.
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lich die Frage, inwiefern die Motive der Progressives als demokratisch bezeichnet werden können. In diesem Kontext muss auch die Frage aufgeworfen werden, in welchem Ausmaß tatsächlich Wahlfälschungen stattfanden oder ob sie eher ein Konstrukt der Reformer gewesen waren. Zwar erklären Howard W. Allen and Kay Warren Allen etwa, »the charges seemed but part of a political campaign of elite groups to regain or retain control of city politics«.27 Doch nicht nur Zeitgenossen aus der Mittel- und Oberschicht sind ganz selbstverständlich von Bestechungen und Betrügereien bei den Wahlen ausgegangen, sondern auch die unteren Schichten. Im Ausland galten amerikanische Wahlen geradezu als Inbegriff der Korruption. Als die Alliierten 1917 die Demokratisierung als Kriegsziel ausmachten, erklärte der preußische Historiker Hans Delbrück pikiert: »Dass wir uns unter dem zwar oft strengen, aber korrekten und parlamentarisch wohlkontrollierten Beamten-Regiment freier fühlen als unter einem korrupten Demagogen-Regiment, versteht der Amerikaner nicht.«28 Wenn man allerdings davon ausgehen muss, dass es Bestechung, Korruption und gefälschte Wahlen in einem bemerkenswerten Ausmaß gab, ist es unumgänglich, die Reformbemühungen und das reformerische Bekenntnis zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht ernst zu nehmen.29 27
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Howard W. Allen/Kay W. Allen, »Vote Fraud and Data Validity«, in: Jerome M. Clubb u.a. (Hg.), Analysing Electoral History. A Guide to the Study of American Voting Behavior, Beverly Hills, Ca. 1981, S. 171; vgl. auch Frances Fox Piven u.a., Keeping Down the Black Vote. Race and the Demobilization of American Voters, New York 2009; Ronald Hayduk, Gatekeepers to the franchise. Shaping Election Administration in New York. DeKalb 2005. Hans Delbrück, »Monarchie und Parlamentarismus im Kriege«, Preußische Jahrbücher, 25. 3. 1916; ganz ähnlich auch Ferdinand Tönnies, siehe Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 119, 121. Vgl. den Überblick über die Diskussion in Mark L. Kornbluh, Why America Stopped Voting. The Decline of Participatory Democracy and the Emergence of Modern American Politics, New York 2000, S. 2f.; Peter H. Argersinger, »New Perspectives on Election Fraud in the Gilded Age«, in: Political Science Quarterly 100 (1985/1986), H. 4, S. 669–687; Warren Sloat, A Battle for the Soul of New York. Tammany Hall, Police Corruption, Vice, and Reverend Charles Parkhurst’s Crusade against Them 1892–1895, New York 2002. Vgl. beispielsweise Henry P. Johnston, »New York after the Revolu-
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Wenn wir einen genauen Blick auf die Korrespondenzen und Unterlagen der Reformer werfen – interne Dokumente, die nicht für die Kommunikation nach außen gedacht waren –, wird die demokratische Grundhaltung der Reformer deutlich, den »Willen der Bürger« zu schützen.30 Diese Motivation zeigt sich beispielsweise in dem skrupulösen Bemühen, die richtige Markierung auf dem Stimmzettel zu finden oder in dem Einsatz für Vorwahlen und direkte Wahlverfahren.31 Als typisches Beispiel sei hier auf die Broschüre »Judge Lambert’s Rulings on the Marking of Ballots« verwiesen, die sich in großer Ernsthaftigkeit mit der Form des Kreuzes auf dem Stimmzettel auseinandersetzte. In der Einleitung zu dieser reformerischen Publikation erklärte John G. Saxe II, ein Mitglied des New Yorker Senats: »Both Judge Giegerich and Judge Lambert agreed that there must be a cross. Two lines which do not cross (Fig. 1) or a check mark (Fig. 2) are not ›cross X marks‹. But the lines need not be ›straight‹ (Fig. 3)«:
Ernsthafte Erwägungen über Details der Wahlpraxis, »Judge Lambert’s Rulings on the Marking of Ballots« (ca. 1905) 32
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tion 1783–1789«, in: Magazine of American History 29 (1893), H. 4, S. 310f.; Speech of Hon. Jonathan Bourne, Jr., Popular v. Delegated Government, 1. 5. 1910, in: Bard Papers, 1896–1959, Box 69, Folder 15, NYPL; Flugblatt »To the Senate and Assembly of the State of New York«, etwa 1908, Illustration of Principle, Bard Papers, Box 64, Folder 2, NYPL. Broschüre »To the Senate and Assembly of the State of New York«, ca. 1908, Illustration of Principle, Papers, Box 64, Folder 2, NYPL. Als Beispiel von zahlreichen Unterlagen seien hier nur genannt Robert A. Van Wyck, Administration, Box 7, Folder 72, Board of Election 1901, NYCMA ; Pamphlet: »The Short Ballot in the State of New York«, März 1914, The New York Short Ballot Organization, 381 Fourth Avenue, New York City, NYHS (New York Historical Society); Werbeanzeige »To all Citizens Interested in an Honest Count«, The New York Times vom 2. 11. 1905. Judge Lambert’s Rulings on the Marking of Ballots (ca. 1905), 3, Bard Papers, Box 73, NYPL.
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Alle diese Überlegungen dienten einem klaren Ziel: Der Wille der Bürger sollte deutlich identifiziert werden. Und dieser Wählerwille sollte vor allem die Stimme der Vernunft ausdrücken – eine Stimme, die unabhängig von kollektiven Einflüssen wie Parteien oder korrupten Organisationen sein sollte. Nur so sei der wahre Volkswille zu ermitteln. Wahlaufseher und Wahlhelfer sollten zur Korruptionsbekämpfung – wie die Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen überhaupt – eine professionelle Ausbildung erhalten und Examina absolvieren, die allgemeinen Standards entsprachen.33 Die Einführung von Wahlkabinen, Wahlurnen und genormten Stimmzetteln in vielen Einzelstaaten diente der Geheimhaltung und damit ebenfalls der Verhinderung von Wahlfälschungen. Auf der Reformagenda stand auch die Verbesserung der Wählerregistratur, um diejenigen, die nicht wahlberechtigt waren, von der Urne fernzuhalten und die in Amerika besonders häufig praktizierte mehrfache Stimmabgabe einer einzelnen (bestochenen) Person zu verhindern. Die Reformer schrieben ganze Bücher über die Bedeutung einer ordentlichen Registratur und bemühten wissenschaftliche Diskurse, um ihr Anliegen zu unterstreichen.34 Ganz offensichtlich war die Antwort der Eliten auf die Zunahme der Immigration, auf steigende soziale Ungleichheit, auf Korruption und »machine politics« nicht, den Volkswillen (»will of the people«) abzustreiten. Vielmehr zeigen ihre komplizierten und geradezu ermüdenden Bemühungen um Details der Wahlpraxis ihren Willen, das allgemeine und gleiche Wahlrecht zu schützen und auch zu begrenzen, bis jeder reif genug für das Wahlrecht war.
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John P. Mitchel, Administration, Box 25, Folder 264, Board of Election 1915, NYCMA ; Honest Ballot Assn., Ballot Reform, 1899–1912, Box 62, Folder 3, Bard Papers, NYPL. John I. Davenport, The Election and Naturalization Fraud in New York City 1860–1870. Second Edition, New York 1894; Richard Henry Dana, The Australian Ballot System of Massachusetts. Some Fallacious Objections Answered, New York 1911; Joseph P. Harris, Registration of Voters in the United States, Washington 1929; vgl. Hedwig Richter, »Disziplinierung und Nationsbildung durch politische Wahlen. Preußen und USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg«, in: Comparativ 1 (2013), S. 28–31.
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Reformer, die sich mit Wahltechniken beschäftigten, gab es nicht nur in New York. Sie fanden sich auch in anderen Städten und Bundesstaaten und bildeten ein nationales Netzwerk.35 Einig waren sich die Reformer aus dem Norden und aus dem Süden in dem Bemühen, Analphabeten und damit indirekt die ärmeren Schichten auszuschließen. Das Engagement der Südstaatler war dabei freilich weniger gegen Immigranten, sondern gegen afroamerikanische Bürger gerichtet.36 Die Reformer in den Nordstaaten leisten sich demgegenüber den »luxury of silence about race«, wie McGerr es ausdrückt.37 Sie kümmerten sich vielmehr um den korrekten Ablauf der Wahlen: 1916 waren die Tage gezählt, in denen Saloons als Wahllokale dienten und die Stimmabgabe durch eine wilde Mischung aus Alkohol und Chaos, gestohlenen oder im Vorfeld gefüllten Wahlurnen geprägt war. Wahlen in New York City fanden nun ausschließlich in öffentlichen Gebäuden, in Gerichten, Rathäusern und Schulen statt. In den 1920er Jahren führte New York (wie andere Städte und Bundesstaaten) den Alphabetisierungstest ein, der prüfte, ob ein Wähler lesen und schreiben konnte.38
Techniken modernen Wählens in Berlin Die sozialen Reformer waren international stark vernetzt.39 Die aufkeimenden Sozialwissenschaften, die den Reformbemühungen eine gewisse wissenschaftliche Fundierung boten, waren ein Export aus Europa.40 Die Citizens’ Union erklärte 1901, sie sei »inspired by National Civic Federation records 1894–1949, Public Library, Box 368, Folder 2 + Box 158, NYPL. 36 Walter Nugent erklärt: »The majority of the Americans in the early twentieth century, Progressives included, did not believe in racial equality«, Nugent, Progressivism, S. 5. 37 McGerr, Fierce Discontent, S. 192. 38 Bard Papers, 1896–1959, Box 67, Folder 15, NYPL. 39 Daniel T. Rodgers, Atlantiküberquerungen: die Politik der Sozialreform, 1870–1945, Stuttgart 2010; Anja Schüler, Frauenbewegung und soziale Reform. Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889–1933, Stuttgart 2004. 40 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 59. 35
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the example which Paris, London, Berlin, Glasgow, Birmingham and other cities had set of enlightened and progressive city government«.41 Auch Wahlreformen gehörten zu den großen Themen dieser in vielen Ländern aufkeimenden Reformbewegung.42 Italien verankerte 1895 das geheime Stimmrecht, Dänemark, wo bisher noch mit Handzeichen abgestimmt wurde, im Jahr 1901, Österreich 1907 und Frankreich 1913; das Deutsche Reich führte 1903 die Wahlkabine und den Umschlag für den Stimmzettel ein, um die vorgeschriebene Geheimhaltung besser garantieren zu können; Kanada zentralisierte und erweiterte 1898 das föderale Wahlrecht.43 Dabei verdeutlichen auch hier die Reformbemühungen und Reformen, wie stark das Interesse daran war, den rationalen Wählerwillen greifbar zu machen – und welche Rolle dabei die Wahlpraktiken spielten. In Dänemark beispielsweise kümmerte man sich ebenso wie im Deutschen Reich um das Arrangement des Mobiliars im Wahllokal und darum, welchen Weg der Wähler um die Möbel zurücklegen sollte, damit sein Stimmzettel von niemandem eingesehen und manipuliert werden konnte. In Berlin, einer Stadt mit 1,9 Millionen Einwohnern, waren Zeitungen und politische Diskussionen nach jeder Wahl erfüllt von diesen Themen.44 Die eingangs beschriebene Versammlung im Zirkus Busch 1910 war nur eine von vielen Aktionen zum Schutz des Wählerwillens. Über Jahre setzten sich Intellektuelle, Künstler, Publizisten und Wissenschaftler für Wahlrechtsreformen ein und erklärten Massenwahlen zum Kennzeichen von
Campaign Book of the Citizens’ Union. The City for the People!, New York, Oktober 1901; vgl. auch Woodrow Wilson: »The Study of Administration«, in: Political Science Quarterly II (1887), H. 2, S. 197–222. 42 Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014, S. 40. 43 Jörg Fisch, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914, Stuttgart 2002, S. 280. 44 Unterlagen in A Pr.Br.Rep.030, Nr. 14098, 1881–1884, Nr. 15995 u. Nr. 14305, 1910–1911, Polizeipräsidium Berlin, LAB; Briefe mit Vorschlägen für Wahlreformen und Regierungsunterlagen in I. HA, Rep. 90 A Staatsministerium, Nr. 190, Bd. 2, GStA PK (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz); Akten in R 101, Nr. 3342, BArch; Debatten in diesen Jahren im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus. 41
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»Geheime Abstimmung«. Optimales Arrangement des Wahlaktes zur Ermittlung des Wählerwillens in Dänemark (1901) 45
»Kulturnationen« und »zivilisierten Staaten«.46 Der Historiker Otto Hintze beispielsweise konstatierte 1914 einen allgemeinen Prozess der Demokratisierung im öffentlichen Leben aller »KulTegning af valgsted til det forste hemmelige valg, 1901, Danish State Archives; für Hinweise und Informationen danke ich Jeppe Nevers und Anders Dalsager, beide University of Southern Denmark. 46 R. Siegfried, Schriftsteller, an Reichsamt des Inneren, Königsberg, 29. 9. 1899, R 1501, Nr. 114470, GStA PK; Diskussionen Sten. Ber. pr. Abgeordnetenhaus, 5. 12. 1883, 191ff., I. HA Rep. 169 C 80, 2, Vol. 3, GStA PK; Unterlagen in I. HA Rep. 169 C 80, Nr. 2e, GStA PK; Sten. Ber. pr. Abgeordnetenhaus, 5. 12. 1917, 6606. 45
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turstaaten«.47 Max Weber, Ferdinand Tönnies oder Friedrich Meinecke zeigten immer wieder ihr Engagement für demokratische Verfahren und drängten auf Wahlreformen in Preußen.48 Die Reformer waren in Deutschland besonders stark national vernetzt und korrespondierten in deutschlandweiten Zeitungen und wissenschaftlichen Zeitschriften. Neben dem Parlament spielte zudem die Verwaltung eine wesentliche Rolle im Reformprozess. Während in New York die Bürokratie als Teil des Problems und als reformbedürftig angesehen wurde, kamen zahlreiche Anregungen für Reformen der Wahltechnik in Preußen und dem Deutschen Reich aus dem hocheffizienten Verwaltungsapparat selbst.49 Sogar konservative Politiker in Preußen sprachen sich kaum noch gegen Massenwahlen aus. Ganz im Gegenteil. Konservative wehrten sich immer wieder entrüstet gegen den (zumeist taktisch) vorgebrachten Vorwurf von Liberalen und Linken, sie planten eine Abschaffung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auf Reichsebene.50 1892 erläuterte das renommierte katholische Staatslexikon, Otto Hintze, »Das Verfassungsleben der heutigen Kulturstaaten« (1914), in: ders., Gesammelte Abhandlungen zur Allgemeinen Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970, S. 390–423, hier: S. 400. 48 Hugo Preuß, »›Stadt und Staat‹, Vortrag in der Gehe-Stiftung« (1909), in: ders., Staat, Recht und Freiheit, aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, Tübingen 1926, S. 73–102; Sten. Ber. pr. Abgeordnetenhaus, 5. 12. 1917; Ferdinand Tönnies, »Preußische Reformen«, in: März 4 (1910), S. 391–394; Max Weber, »Wahlrecht und Demokratie in Deutschland« (1917), in: Max Weber Gesamtausgabe, Tübingen 1984, Abt. 1, Schriften und Reden, Bd. 15, S. 347–396; Bund deutscher Gelehrter und Künstler (Hg.), Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge von Friedrich Meinecke, Adolf von Harnack, Max Sering, Otto Hintze und Ernst Troeltsch, Gotha 1917; Otto Hintze, »Die Demokratisierung der preußischen Verfassung«, Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung, 5. 5. 1917, S. 452–459; vgl. Llanque, Demokratisches Denken, S. 119. 49 Zusammenstellung der Wünsche der Wahlvorsteher und andere Dokumente, in: Magistrat zu Berlin, 1848–1919, A Rep. 001–03, Nr. 56, LAB; Unterlagen in A Rep. 001–03, Nr. 51, 1880–1901. 50 Kühne, Dreiklassenwahlrecht; Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und Politische Kultur im Kaiserreich, Stuttgart 2009, S. 494, 506; vgl. Dokumente in BArch R 8034II, Nr. 5851; Flugblatt, 8. 8. 1910, A Rep. 044–03, Nr. 439, Bl. 3, LAB und weitere Dokumente in dieser Akte; vgl. zur Zivilgesellschaft im Deutschen Reich auch Frank Bösch, »Grenzen des ›Obrigkeitsstaates‹. Medien, Politik und Skandale im Kaiser47
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die meisten zivilisierten Staaten hätten demokratische Ideale akzeptiert, insbesondere die Idee eines gleichen Wahlrechts.51 Und der ultrakonservative Minister Robert Viktor von Puttkamer erklärte im preußischen Parlament, ein »Kulturstaat« sollte das Wahlrecht so weit wie möglich ausdehnen.52 Für viele Deutsche war das allgemeine Wahlrecht eine Sache der Ehre und des Stolzes: »Wir glauben nicht, dass es je zuvor auf Erden etwas gegeben hat, was mit den in allen civilisirten Ländern existierenden Wahlapparaten auch nur von ferne verglichen werden könnte«, schrieb 1897 die Weser Zeitung, »weder an Umfang und Massenhaftigkeit, noch an Raffinement und technischer Vollendung«.53 Wie Margaret Anderson überzeugend nachgewiesen hat, war die deutsche Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg in demokratische Praktiken eingeübt – und stolz darauf.54 In den letzten Reichstagswahlen 1912 lag die Wahlbeteiligung bei 85 Prozent. »Dass man dann in Preußen nicht allein zurückbleiben kann, erscheint angesichts der unleugbaren Demokratisierung der allgemeinen Anschauungen gewiss, mag ein so wünschenswertes Ereignis auch auf sich warten lassen«, erklärte 1897 die einflussreiche Frankfurter Zeitung.55 Gewiss gab es konservative Intellektuelle, die das Massenwahlrecht ablehnten. In Sachsen führte die Regierung 1897 ein Klassenwahlrecht nach preußischem Muster ein; doch der Reformgeist war stärker, und die Regelung musste 1909 wieder abgeschafft werden. Max Weber empörte sich 1904 über das »Modegeschwätz« gegen die parlamentarischen Grundsätze – doch diese Empörung eines anerkannten Wissenschaftlers und die Zurückweisung antidemokratischer Diskurse als Modeerscheinung zeigen deutlich, wie fest verankert demokratische Grundsätze tat-
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reich«, in: Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, hrsg. von Sven Oliver Müller/Cornelius Torp, Göttingen 2009, S. 136–153. »Demokratie«, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 1892, S. 122, 127. Von Puttkamer, Sten. Ber. pr. Abgeordnetenhaus, 5. 12. 1883, S. 191ff., I. HA Rep. 169 C 80, 2, Vol. 3, S. 195, I. HA Rep. 169 C 80, 2, Bd. 3, GStA PK. »Bremen, 17. Oktober«, Weser Zeitung vom 17. 10. 1897. Anderson, Lehrjahre. Frankfurter Zeitung vom 13. 11. 1897.
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sächlich waren.56 Die Gegner fochten Rückzugsgefechte. So ärgerten sich die konservativen Hamburger Nachrichten nach einer Diskussion im Reichstag: »Die Sitzung gestaltete sich zu einer einmütigen Huldigung des einzigen allmächtigen und unfehlbaren Souveräns, den es heute in Deutschland gibt, des Reichstagswahlrechts.«57 Ganz Deutschland war erfüllt von Reformbestrebungen. Alle nahmen daran teil, auch die Konservativen. Sie warfen den Sozialdemokraten vor, in Berlin und anderen Städten die Wähler mit »Wahlterror« einzuschüchtern und alle, die nicht für sie wählten, mit Boykott ihres Geschäfts oder mit ihrer Diskriminierung im Betrieb zu bestrafen.58 Von allen Seiten kam nun die Forderung, mit geheimen Wahlen den echten Wählerwillen zu schützen.59 Daher wurde die große Wahlrechtsreform im Deutschen Reich von 1903, die die Geheimhaltung garantieren sollte, sowohl von Liberalen und Sozialisten als auch von Sozialreformern und der Verwaltung vorangetrieben. Intensiv diskutierten sie die Vereinheitlichung des Wahlprozederes und der Wahlkabinen.60 Im Reichstag in Berlin berieten die Abgeordneten technische Probleme, etwa wie man auch auf dem Land Wahlkabinen installieren konnte.61 Geheimhaltung entsprach der Vorstellung von einem rationalen Wähler, der ohne Einfluss von außen seinen Willen kundtat. Ohne echte Geheimhal»Die »Bedrohung« der Reichsverfassung« (1904), in: Max Weber Gesamtausgabe, Tübingen 1998, Abt. 1, Schriften und Reden, Bd. 8, S. 79. 57 Hamburger Nachrichten vom 22. 2. 1910, R 8032II/5852, BA rch. 58 Vgl. etwa »Zeitungsbericht«, 16. 12. 1903, und weitere Berichte der Amtsvorsteher in A Rep. 048–04–03, Nr. 11, Amtsverwaltung Weißensee, Generalia, 1887–1914, Bl. 85, LAB. 59 Vgl. den Überblick in Bundesrat, Drucksache Nr. 14, Session 1903, Berlin, 21. 1. 03, vom Stellvertreter des Reichskanzlers Graf von Posadowsky, I. HA Rep. 151, HB, 543, GStA PK; Dokumente in R 43, Nr. 1788, BArch; vgl. auch Zeitungsausschnitte über Wahlreformen in R 8034II, Nr. 5075 + 5076 + 5078 et passim; Unterlagen in A Pr.Br.Rep.030, Nr. 15547, Bd. 1, 1884, Polizeipräsidium Berlin, LAB. 60 Vgl. etwa »Vom Reichstagswahlrecht«, Der Tag vom 11. 8. 1903; »Wahlurnen und Wahlbezirke«, Königsberger Zeitung vom 21. 12. 1912; »Die Wahlurnen«, Vossische Zeitung vom 3. 4. 1913; »Eine Reichstagsvorlage über Wahlurnen«, Berliner Tageblatt vom 25. 3. 1913; »Reichswahlurnen«, Kreuzzeitung vom 3. 4. 1913; »Die Reichswahlurne«, Freisinnige Zeitung vom 4. 4. 1913. 61 Protokolle der Reichstagssitzung, 29. 1. 1896, S. 602. 56
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Der Schutz des rationalen Wählerwillens durch die richtige Wahlpraxis. Wahlen im Deutschen Reich, Informationsbroschüre (ca. 1912)62
tung, so die Reformer in den verschiedenen Ländern, seien Massenwahlen zwangsläufig eine korrupte Angelegenheit. Wahlpraktiken in den USA und Deutschland glichen sich immer mehr an. Für das Ideal des autonomen, nüchtern kalkulierenden, rational denkenden Bürgers waren eine ordentliche Registratur, 62
XVI. HA , Rep. 30, Nr. 596, ca. 1912, GStA PK.
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Wahlkabine, Wahlurnen und genormte Stimmzettel zentrale Elemente. Das Berliner Tageblatt schrieb, dass die neuen Gesetze über Wahlkabinen und Umschläge für die Stimmzettel den Sinn für Autonomie im Wähler weckten.63 Konservative Politiker interpretierten die Verbesserung der Geheimhaltung als ein Mittel, um die politische Verantwortlichkeit der Wähler zu verbessern.64 Moderne Wahlen in einem »zivilisierten« Land mussten bestimmten technischen Standards gerecht werden. Und angesichts der politischen Blockade bei der Reform des Dreiklassenwahlrechts begannen sich hier nach und nach neben dem oder auch gegen das Gesetz moderne Wahltechniken durchzusetzen: So ermöglichte eine Wahlregulierung die individuelle Stimmabgabe während des gesamten Wahltages und verzichtete auf den Zwang, die Abstimmung in einer Wahlversammlung durchzuführen. Gerade in Berlin bevorzugte die Stadtverwaltung diese Form der Stimmabgabe, nicht zuletzt weil sie wesentlich weniger Zeit erforderte. Diese individuellere Abstimmungstechnik war zudem anonymer als die Abstimmung in der Wahlversammlung.65 Wie in New York City verweisen auch in Berlin und Deutschland die Wahlreformen auf die Akzeptanz eines Massenwahlrechts. Eliten hatten sich nicht nur mit einem allgemeinen Wahlrecht abgefunden, sondern sie machten es auch zu ihrer eigenen Sache.
Zusammenfassung und Ausblick Die verschiedenen Wahlreformen, die sich mit den Details der Wahltechnik beschäftigten, geben einen Einblick in das damalige Verständnis von Partizipation. Standardisierte Techniken für die Stimmabgabe müssen als Teil der »universalization of Eurocentric practices and values« (Arif Dirlik) gesehen werden.66 Das standar»Sicherung des Wahlgeheimnisses«, Berliner Tageblatt vom 22. 1. 1903. Malkewitz, Protokolle Sten. Ber. pr. Abgeordnetenhaus, 12. 2. 1910, S. 1577. »Wahlen in Berlin«, Freisinnige Zeitung, 17. 3. 1913, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3248, 307, GStA PK. 66 Arif Dirlik, »Is there History after the Eurocentrism? Globalization, Postcolonialism, and the Disavowal of History«, in: Cultural Critique 42 (1999), S. 1–34, hier: S. 18; vgl. auch Malcolm Crook/Tom Crook, »Reforming Vo63 64 65
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disierte Wahlprozedere konstruierte den modernen Bürger: frei von sozialen, religiösen, traditionalen und anderen kollektiven Einflüssen – ein autonomes, rationales, verantwortungsbewusstes und selbstermächtigtes Individuum.67 Die »ultima ratio des Stimmzettels«, schrieb Max Weber 1917, sei das wichtigste »Merkmal des modernen Parlaments«, damit »erst entsteht die moderne rationale Form der staatlichen Willensbildung«.68 Die Bemühungen, den »Volkswillen« durch die Einführung von allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen zu ermitteln, und die Anstrengungen, die Wahltechniken diesen Erfordernissen anzupassen, zeigt eine demokratische Grundhaltung der Reformer. Ich widerspreche in diesem Punkt Sven Beckert, der meint, in dieser Zeit eine tiefe Enttäuschung über die Demokratie ausmachen zu können.69 Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren Demokratie und Massenpartizipation weithin akzeptiert. Warum aber akzeptierten die Reformer die Änderungen und die Ausdehnung des Wahlrechts? Hier kann keine umfassende Antwort gegeben werden, aber es lassen sich doch einige Hinweise finden. Gewiss ist die Tatsache wichtig, dass die Bürger aufgrund der Industrialisierung reicher und selbstbewusster geworden waren; der wachsende Wohlstand hatte einen enormen Bildungsanstieg ebenso ermöglicht wie eine immer breitere Presselandschaft und ein Bürgertum, das Geld und Zeit hatte, diese Zeitungen zu lesen und sich politisch auszutauschen. Keine Regierung konnte in einer Massengesellschaft die vielen gebildeten und selbstbewussten Bürger ignorieren. Doch es kam ein Weiteres hinzu: Internationale Diskurse von »Zivilität« entwickelten eine bemerkenswerte Eigendyting Practices in a Global Age. The Making and Remaking of the Modern Secret Ballot in Britain, France and the United States, c. 1600-c. 1950«, in: Past & Present 212 (2011), S. 199–237. 67 Thomas Mergel, »Die Wahlkabine«, in: Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von Alexa Geisthövel/Habbo Knoch, Frankfurt am Main/New York, 2005, S. 335–344; Romain Bertrand/JeanLouis Briquet/Peter Pels, »Introduction: Towards a Historical Ethnography of Voting«, in: The Hidden History, hrsg. von dens., Bloomington 2006, S. 1–15. 68 Max Weber, »Wahlrecht und Demokratie in Deutschland«, S. 368. 69 Beckert, Democracy and its Discontents, S. 155.
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namik. Eliten, deren Nationen zur »zivilisierten Welt« gehören und auf der Höhe der Zeit sein wollten, mussten diese Diskurse bedienen. In seinem Essay »Contesting Democracy« zeichnet Jan-Werner Müller das Bild einer Zeit der Vernunft und der Sicherheit. Er zitiert Stefan Zweig, der über die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg schrieb: »Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft.«70 Die Vereinigten Staaten erlebten nach dem Bürgerkrieg ebenso wie Europa nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 eine lange Friedenszeit. Für die Bürger gehörten Frieden, Wohlstand, Zivilisation, Gleichheit und Partizipation zusammen. Faire Wahltechniken waren für sie ein Teil dieser modernen Welt, die dem Wert des individuellen Willens gerecht wurde – ein Teil dessen, was Norbert Elias »den Prozess der Zivilisation« nannte.71
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Jan-Werner Müller, Contesting Democracy. Political Ideas in TwentiethCentury Europe, New Haven 2011, S. 9f.; ganz ähnlich Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Basel 1939.
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Wer ist Freund, wer Feind? Parteien und Wähler in politischer Unsicherheit
Im März 1923 unterbreitete ein britischer Wahlkampforganisator der konservativen Partei seinen Kollegen einen recht ungewöhnlichen Vorschlag: In den letzten 20 Jahren habe er beobachtet, dass die Kinder auf den Straßen, die traditionell »ihre« Kandidaten unterstützten, indem sie deren Farben trugen und Lieder für sie sangen, stets auf der Gewinnerseite waren. Ihn interessiere nun, ob die aktiven Parteimitglieder anderswo ähnliche Erfahrungen gemacht hätten. Wenn ja, sei es doch einen Versuch wert, diese Kinder und ihre Begeisterung zu nutzen und sie für eine unterstützende Show zu rekrutieren, die die Kandidaten dann zum Sieg tragen würde.1 Im Rückblick mag dieser Vorschlag seltsam anmuten. Auch die Zeitgenossen schienen nicht sehr angetan, denn es erfolgte weder eine Diskussion darüber noch irgendeine Art von Umsetzung. Doch es gibt gute Gründe, diesen Gedanken vor einem anderen Hintergrund ernst zu nehmen: Es war nur eine von zahlreichen Beobachtungen und Anregungen zu einem grundlegenden Problem, mit dem sich Politiker und aktive Parteimitglieder nach dem Ersten Weltkrieg konfrontiert sahen. Nach der Erweiterung des Wahlrechts zur Massendemokratie war der politische Prozess viel schwerer steuerbar als vor 1914. Wie sollte eine möglichst effiziente Wahlkampfstrategie für Wahlkreise von völlig neuer Größe aussehen? Wie konnte man die neuen Wähler, darunter viele Frauen und junge Männer, die zum ersten Mal zur Urne schritten, am besten errei1
Thirty-Three Division [Pseudonym], »Some Thoughts on Electioneering«, in: Conservative Agents’ Journal, März 1923, S. 58–60.
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chen? Wie würde sich das Machtgefüge unter diesen neuen Bedingungen verschieben? Solche Fragen stellten sich mit dem Einzug der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern Europas. Sie haben deshalb (explizit oder implizit) auch einen Großteil der historiografischen Arbeiten über diese Epoche beeinflusst. Um beim Beispiel Großbritannien zu bleiben: In detaillierten Studien zeigen David Jarvis und Laura Beers, wie die Wahlagitatoren von Labour und Konservativen ihre Wahrnehmung der neuen Massenwählerschaft justierten und ihre Kommunikationsstrategien auf einfachere und visuell ansprechendere Botschaften umstellten. Denn nach 1918, so Jon Lawrence, ging es im Wahlkampf vor allem darum, die Stimmen der »schweigenden Mehrheit« für sich zu gewinnen.2 Man musste auf die Veränderungen der politischen Landschaft in den 1920er und 1930er Jahren reagieren, durch die der politische Prozess nicht mehr so vorhersehbar war wie zuvor. Laura Beers hat sich unlängst ebenfalls mit diesem Problem befasst und das politische Wettverhalten der Briten in den Zwischenkriegsjahren untersucht: Die meisten, die Wetten auf den Wahlausgang abschlossen, trafen weit daneben. Wichtiger noch ist, dass die Strategen in den Parteizentralen es als immer schwieriger empfanden, Voraussagen über den Wahlausgang zu treffen. Infolgedessen wuchs die Unsicherheit über die politische Orientierung der Wähler in der Zwischenkriegszeit.3 In diesem Beitrag soll das Thema breiter angegangen werden, nicht nur mit Blick auf Großbritannien. Man könnte von der prinzipiellen Unsicherheit demokratischer Politik oder, in soziologi-
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Jon Lawrence, Electing our Masters. The Hustings in British Politics from Hogarth to Blair, New York 2009, Kap. 4; David Jarvis, »The Shaping of Conservative Electoral Hegemony, 1918–39«, in: Jon Lawrence/Miles Taylor (Hg.), Party, State and Society. Electoral Behaviour in Britain since 1820, Aldershot 1997, S. 131–152; Laura Beers, Your Britain. Media and the Making of the Labour Party, Cambridge, Mass. 2010. Laura Beers, »Punting on the Thames. Electoral Betting in Interwar Britain«, in: Journal of Contemporary History 45 (2010) H. 2, S. 282–314; dies., »Polling Public Opinion Before Opinion Polling. The Conservative Party and Electoral Prediction Between the Wars«, in: Tom Crook/Glen O’Hara (Hg.), Statistics and the Public Sphere. Numbers and the People in Modern Britain, c.1800–2000, New York 2011, S. 244–263.
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scher Terminologie, von ihrer Kontingenz sprechen. Demokratische Wahlen als Mittel, auf friedlichem Weg einen Systemwechsel herbeizuführen, sind zwangsläufig eine Unterbrechung des »normalen« politischen Geschehens. Ein Wahlvorgang, der kompetitiv und fair sein soll, muss auch ergebnisoffen und unparteiisch sein, und deshalb wird die Frage nach den Machtverhältnissen für eine bestimmte Zeit ausgesetzt: Erst wenn alle Stimmen ausgezählt sind, kann das »normale« politische Geschäft weitergehen. Dieser Beitrag behandelt vor allem das Ausmaß der Ungewissheit in solchen Situationen. Im Gegensatz zu Beers, Jarvis und anderen geht es hier weniger um die Frage, wie die politischen Strategen auf die Ausdehnung des Wahlrechts reagierten und ihre politischen Botschaften entsprechend formulierten, sondern allgemeiner darum, was sie überhaupt über den »unbekannten« Wähler in Erfahrung bringen konnten. Bei dieser Untersuchung tritt der Charakter der Zwischenkriegsdemokratie als eine Zeit von besonderer politischer Unsicherheit klar zutage. Diese Fragen werfen ein Licht auf den Rahmen des damaligen Politikverständnisses. Auf welche Weise sich die Wahlkämpfer Wissen über das Elektorat verschafften, hing unmittelbar mit ihren Vorstellungen von Politikgestaltung zusammen. Deshalb stehen hier die »Regierungsfähigkeit« der Zwischenkriegsdemokratie und das Verständnis von Demokratie als historisches Phänomen, d.h. wie sie an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten erlebt und praktiziert wurde, im Fokus.4 Neben Großbritannien sollen auch die Erfahrungen in Deutschland beleuchtet werden, und der Anspruch geht noch über diese beiden Einzelfälle hinaus. Die hier angestellten Beobachtungen waren sicher auch für den politischen Prozess in anderen Ländern relevant, weshalb der Beitrag als ein weiter gefasster Kommentar zur Demokratie in Europa dienen könnte. Deshalb sollen diese spezifischen Fälle zumindest ansatzweise kontextualisiert und mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Ländern aufgezeigt werden, die allerdings eher vorläufigen Charakter haben. 4
Siehe hierzu: Tom Buchanan/Martin Conway (Hg.), Sonderausgabe »Democracy in Twentieth-Century Europe«, in: European History Quarterly 32 (2002) H. 1.
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Wachsende Unsicherheit Um die Unbestimmtheit der Zwischenkriegspolitik zu erfassen, muss man zunächst einen Schritt zurücktreten und die Entwicklung des Wahlprozesses im Laufe des 19. Jahrhunderts betrachten. Hier setzt das bekannte Narrativ der »Demokratisierung« der politischen Systeme in den verschiedenen Ländern Europas jener Epoche ein, das wegen seiner normativen und teleologischen Implikationen von Kritik nicht verschont blieb.5 Aus einer möglicherweise etwas weniger umstrittenen Perspektive lässt sich diese Zeit auch als eine Epoche beschreiben, in der die Kontrolle über den politischen Prozess verloren ging. Ein Blick zurück auf die Frühmoderne ist insofern lohnend, als diese (mit einer gewissen Abstraktion) einen idealtypischen Kontrast darstellt, der den beschriebenen Wandel schärfer konturiert. Seinerzeit waren Wahlen in der Regel weder gleich noch geheim, sie erstreckten sich über einen längeren Zeitraum, und nur eine sehr begrenzte Gruppe von Menschen durfte überhaupt zur Urne schreiten. In der Regel wurden sie als öffentliche Demonstration von Konsens inszeniert, die auf die Vermeidung von Konflikten abstellten. Sie folgten elaborierten Ritualen, mit denen sichergestellt wurde, dass in jeder Phase des Prozesses Klarheit darüber bestand, was als Nächstes geschehen und wie das Endergebnis aussehen würde. Wahlen waren damals also keineswegs die ergebnisoffenen Prozesse der Entscheidungsfindung, als die man sie heute kennt.6 All das änderte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. In Großbritannien konnte sich eine sehr augenfällige Reminiszenz an den Wahlakt der frühen Neuzeit besonders lange halten: Dort waren die Parlamentswahlen bis 1914 über zwei und mehr Wochen verteilt. So vergingen im Januar 1910 insgesamt 16 Tage zwischen der Wahl des ersten und des letzten Ab-
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James Vernon, Politics and the People. A Study in English Political Culture, c. 1815–1867, Cambridge 1993. Siehe z.B. Rudolf Schlögl/Patrick Oelze (Hg.), Urban Elections and Decision-making in Early Modern Europe, 1500–1800, Newcastle upon Tyne 2009; Christoph Dartmann u.a. (Hg.), Technik und Symbolik vormoderner Wahlverfahren, München 2010.
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geordneten (mit Ausnahme der Mandate in den Universitätswahlkreisen, wo sich der Wahlakt noch länger hinzog). Da in manchen Wahlkreisen auf die bereits vorliegenden Zwischenergebnisse von anderswo reagiert werden konnte, war der Wahlvorgang nach wie vor ein langwieriger Prozess, bei dem sich viele Einzelentscheidungen Schritt für Schritt aufaddierten, und nicht ein einmaliger, ergebnisoffener Akt, der das Land quasi auf einen Schlag von einer Position in eine andere beförderte. Erst mit den Reformen von 1918 wurde dem ein Ende gesetzt und ein einziger Tag für die Wahlen im ganzen Land festgelegt. Die Universitätswahlkreise bildeten weiterhin eine Ausnahme, hatten aber nur geringen Einfluss auf das Gesamtergebnis, das nun erst nach Schließung des letzten Wahllokals ermittelt wurde. In dieser Hinsicht erschienen die Wahlgesetze in anderen Ländern schon viel früher wesentlich »moderner«: Ein einziger Wahltag war im Europa des 19. Jahrhunderts der Standard. Dennoch waren die Briten nicht die einzige Ausnahme, auch in Schweden wurde noch Ende der 1920er Jahre an verschiedenen Tagen gewählt und ausgezählt.7 Doch es gab wichtigere Entwicklungen, besonders in den lokalen Handlungsräumen, die bis weit ins 20. Jahrhundert den zentralen Rahmen für Wahlen bildeten. Hier gestaltete sich die Steuerung zunehmend schwieriger, sobald die abgegebenen Stimmen (in etwa) gleich gewichtet wurden und sich der Kreis der Wahlberechtigten erheblich ausdehnte. Auch das erfolgte in Großbritannien, wo die Vergrößerung des Elektorats in Etappen vonstattenging, relativ spät. Die einzelnen Schritte dieses Prozesses sind bekannt: 1832, 1868 und 1884 wurden die Besitzqualifikationen, an die das Wahlrecht traditionell gekoppelt war, sukzessive herabgesenkt. Wahlen waren schon zu einer Zeit im politischen Leben verankert, als noch eine Handvoll Organisatoren ausreichte, die die wenigen potenziellen Urnengänger persönlich kannten und ansprechen konnten (an
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Genauere Daten finden sich in: F. W. S Craig, British Electoral Facts 1832–1987, Aldershot 1989, S. 151–152; Dieter Nohlen/Philip Stöver (Hg.), Elections in Europe. A Data Handbook, Baden-Baden 2010. Zu Schweden siehe: Sveriges officiella statistik. Almänna val. Riksdagsmannavalen åren 1925–1928, Stockholm 1929, S. 37–38.
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den meisten Orten war dies noch 1868 so8), und das Problem des Umgangs mit einer Masse von Wählern stellte sich den Politikern erst nach und nach. Ähnlich war die Situation zum Beispiel in Norwegen und den Niederlanden, wo der Kreis der Wahlberechtigten gleichfalls Schritt für Schritt erweitert wurde. Ganz anders und sehr abrupt verlief die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts hingegen in Frankreich (1848) und Deutschland (1871). In Deutschland fiel dieser Schritt mit der Einführung regelmäßiger Wahlen auf nationaler Ebene zusammen, sodass die Wahlkampforganisatoren, allesamt Neulinge im politischen Spiel, möglicherweise gar nicht erst auf den Gedanken kamen, sich mit jedem einzelnen Wähler zu befassen. Bei allen Unterschieden ist jedoch festzuhalten, dass gegen Ende des Ersten Weltkriegs fast in ganz Europa die Wählerbasis massiv ausgeweitet wurde. Die Verankerung des allgemeinen Wahlrechts, die Einführung des Wahlrechts für Frauen und die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters führten (in unterschiedlichen Kombinationen) fast überall zu ähnlichen quantitativen Sprüngen – mit nur wenigen Ausnahmen: In Portugal und der Schweiz z.B. war die Wählerschaft erst in den 1970er Jahren vergleichbar groß.9 Die Veränderungen von 1918 hatten somit in Großbritannien und Deutschland relativ vergleichbare Auswirkungen, nämlich eine Erweiterung der Wählerbasis um 255 bzw. 278 Prozent.10 Doch in Großbritannien wurde diese Entwicklung ungleich stärker wahrgenommen als in Deutschland. Während die Reform des britischen Wahlgesetzes von 1918 vom Grundsatz der Koppelung des Wahlrechts an Eigentum abrückte, war das allgemeine Wahlrecht in Deutschland prinzipiell nichts Neues, es wurde lediglich auf Frauen und junge Menschen ab dem Alter von 21 Jahren ausgedehnt. Außerdem hatte Deutschland mit anderen, drängenderen Problemen zu kämpfen. Die Wahlreform wurde von den Nachwehen des Ersten Weltkriegs, den Wirren der Revolution und der Konterrevo-
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Jeremy C. Mitchell, The Organization of Opinion. Open Voting in England 1832–68, Basingstoke u.a. 2008. Nohlen/ Stöver, Elections, S. 69–124, S. 79–80. Berechnungen nach: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 250, Nr. 2; Bd. 291, Nr. 1; Craig, British Electoral Facts, ohne Universitätssitze und Nordirland.
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lution, dem Sturz der Monarchie und der Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems überlagert. Großbritannien blieben solche tektonischen Verschiebungen im politischen System erspart, und so mochte die Erweiterung des Wahlrechts den Strategen hier eher als ein systematisches Problem erster Ordnung erscheinen. Die Herausforderung einer unbekannten Massenwählerschaft mit all ihren Unwägbarkeiten wurde hier als ein grundlegenderer Bruch wahrgenommen als in Deutschland und löste wohl auch intensivere Überlegungen zu den Folgen aus. Ähnliches gilt für den letzten hier zu beleuchtenden Faktor, der zu Unwägbarkeiten im Wahlprozess beitrug, nämlich das Wahlgeheimnis. In Großbritannien wurden 1872 geheime Wahlen auf nationaler und lokaler Ebene eingeführt, was die Möglichkeiten der »Einflussnahme« auf die Wähler erheblich begrenzte. Nicht, dass Korruption und Einschüchterung, probate Instrumente einer solchen Einflussnahme, nun schlagartig aufgehört hätten – sie sind auch noch weit nach Einführung der Antikorruptionsgesetze in den 1880er Jahren historisch belegt.11 Solche Praktiken waren mitnichten eine britische Spezialität; in der einen oder anderen Form gab es Wählerbeeinflussung in ganz Europa. Vielleicht lässt sich die zähe Langlebigkeit dieses Phänomens als Versuch interpretieren, den Wahlvorgang auch unter zunehmend schwierigen Bedingungen unter Kontrolle zu halten.12 In Großbritannien war der Ballot Act von 1872 jedenfalls in mindestens einer Hinsicht durchaus wirksam: Er garantierte das Wahlgeheimnis, und zwar unverzüglich – nicht nur für den Einzelnen, sondern für ganze Gemeinden. Da die Stimmzettel aus verschiedenen Wahllokalen an einem zentralen Ort vermischt und ausgezählt wurden, war nicht einmal mehr nachzuvoll11
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Kathryn Rix, »The Elimination of Corrupt Practices in British Elections? Reassessing the Impact of the 1883 Corrupt Practices Act«, in: The English Historical Review 123 (2008) H. 500, S. 65–97. Dieses Argument verdanke ich Thomas Mergel; siehe hierzu auch: »Die Wahlkabine«, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 335–344. Ein vergleichender Überblick über Verstöße gegen das Wahlrecht im 19. Jahrhundert findet sich in Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und Politische Kultur im Kaiserreich, Stuttgart 2009, Kap. 2.
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ziehen, wie einzelne Dörfer oder Stadtviertel in einem Wahlkreis abgestimmt hatten.13 Wie wichtig solche technischen Details sind, wird am Vergleich mit den – ungleich komplizierteren – Bestimmungen und Praktiken in Deutschland deutlich. Juristisch gesehen waren Wahlen im Kaiserreich von etwa derselben Zeit an geheim wie in Großbritannien. Das war in der Verfassung von 1871 verankert, galt allerdings nur für die Reichstagswahlen. Auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene war die Variationsbreite hingegen erheblich, und vielerorts wurde noch die offene Stimmabgabe praktiziert. Leider ist die Informationslage auf diesen unteren Ebenen eher defizitär, aber einige Sachverhalte können als sicher angenommen werden. Bezeichnenderweise wurde dem Gedanken der fortschreitenden Demokratisierung in den kommunalen und nationalen Wahlen wenig Vorschub geleistet: Mancherorts wurde um 1900 das Wahlrecht nicht erweitert, sondern eher eingeschränkt. Typischerweise wurden die Wähler nach ihrem Steueraufkommen in »Klassen« eingeteilt, und vielerorts gaben nicht alle gleichzeitig ihre Stimme ab, sodass die Mitglieder der höheren Schichten bereits sehen konnten, wie die Armen vor ihnen gewählt hatten. Nominell wurde zwar nach und nach in vielen deutschen Staaten die geheime Wahl eingeführt, doch selbst auf dem Papier gab es gewichtige Ausnahmen. So hielt das Königreich Preußen mit seinem Dreiklassenwahlrecht bis zum Ersten Weltkrieg sowohl bei Landtags- als auch bei Kommunalwahlen an der öffentlichen Stimmabgabe fest.14 Und schließlich ist die geltende Rechtslage nicht immer identisch mit der gesellschaftlichen Realität, wie die Literatur zu Parla-
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Benjamin Schröder, »Stately Ceremony and Carnival. Voting and Social Pressure in Germany and Britain between the World Wars«, in: Claudia Gatzka u.a. (Hg.), Wahlen in der transatlantischen Moderne, Leipzig 2013, S. 41–63, hier S. 56–57. Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994; Hubertus Buchstein, Öffentliche und geheime Stimmabgabe. Eine wahlrechtshistorische und ideengeschichtliche Studie, Baden-Baden 2000, S. 358; zu den Verfahren bei Kommunalwahlen siehe den Überblick in Franz Xaver Pfeiffer, Das kommunale Wahlrecht in den deutschen Bundesstaaten, Berlin 1918.
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mentswahlen belegt.15 In Deutschland gab es keine genormten Stimmzettel, sondern die Parteien druckten ihre eigenen Papiere und teilten sie an ihre Anhänger aus. Somit war am Stimmzettel erkennbar, wer wie wählte. Jedermann konnte die Vorgänge im Wahllokal verfolgen, und Interessierte taten dies systematisch. Damit war Versuchen, durch Einschüchterung der Wähler für die »richtigen« Stimmen zu sorgen, Tür und Tor geöffnet. 1903 wurden erstmals Briefumschläge verwendet, um den Stimmzettel vor fremden Blicken zu schützen, und 1913 wurde die Größe der Wahlurnen normiert, damit man die Wahlzettel nicht mehr bestimmten Wählern zuordnen konnte, aber erst ab 1924 gab es amtliche, gedruckte Stimmzettel mit einer Liste aller Kandidaten, wie sie in Großbritannien schon seit 1872 verwendet wurden. In kleinen Gemeinden war das Wahlgeheimnis noch immer nicht sichergestellt, denn für die Abstimmungsbezirke gab es keine Mindestgröße, und anders als in Großbritannien wurden die Stimmen nicht auf der nächsthöheren Ebene aggregiert und vor dem Auszählen durchgemischt. In kleinen Dörfern wusste man also recht genau, wer wie gewählt hatte.16 Weitere internationale Vergleiche sind schwierig anzustellen. Wie die Beispiele Großbritannien und Deutschland zeigen, ergaben die konkreten Wahlmodalitäten auf verschiedenen Ebenen ein sehr komplexes Bild, und schon minimale Unterschiede konnten die Wahrung des Wahlgeheimnisses erheblich beeinträchtigen. Auch würde ein vergleichender Blick allein auf die gesetzlichen Bestimmungen zu kurz greifen, denn die grundlegenden Aspekte des Wahlvorgangs lassen sich damit nicht wirklich erfassen, sie werden erst bei einer gründlichen Analyse der konkreten Wahlpraxis deutlich.17 Da dies den Rahmen des Beitrags sprengen würde, müssen hier einige wenige Anmerkungen genügen. Die Situation in 15
16 17
Siehe insbesondere Anderson, Lehrjahre der Demokratie, und Robert Arsenschek, Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich. Zur parlamentarischen Wahlprüfung und politischen Realität der Reichstagswahlen 1871–1914, Düsseldorf 2003. Zu einer ausführlicheren Darstellung siehe Schröder, Stately Ceremony, S. 58–62. Nohlen/Stöver, Elections, zeigt, dass systematisch-vergleichende Ansätze in der Politikwissenschaft die hier seit den 1970er Jahren erreichten Fortschritte leider kaum zur Kenntnis nehmen.
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Deutschland war gewiss nicht einzigartig. In Frankreich verlief die Entwicklung sehr ähnlich: Auch hier waren die praktischen Wahlmodalitäten bis zum Ersten Weltkrieg keineswegs dazu geeignet, das gesetzlich verankerte Wahlgeheimnis zu gewährleisten, und der Weg zu dessen Schutz war hier gleichfalls lang und holprig. Zumindest was diese Länder und auch die Vereinigten Staaten angeht, haben Malcolm und Tom Crook sicherlich recht mit ihrer These, ein durchgreifender Wandel von einem vollständig offenen hin zu einem geheimen Wahlvorgang sei nur in Großbritannien erfolgt, und dort auch besonders früh – andere Nationen gingen diesen Weg später, in einigen Fällen sogar sehr viel später: Dänemark behielt die Praxis der offenen, mündlichen Abstimmung, die eng an die britische Tradition vor 1872 angelehnt war, noch bis zum Jahr 1901 bei.18 Der Grundsatz der geheimen Wahl und die massive Erweiterung der Wählerschaft in den 1920er Jahren waren ein Sprung ins Ungewisse. Unsicherheit war zwar kein ganz neues Phänomen im politischen Prozess, doch zu Beginn der Zwischenkriegszeit hatte sie ungeahnte Ausmaße angenommen. Den Ersten Weltkrieg hier als gemeinsame Wasserscheide zu betrachten, mag etwas vereinfacht sein, denn dann müsste diese Entwicklung ja für alle Länder gleichermaßen gelten. Vielleicht könnte man aber für die meisten Wähler in Europa von einem terminus post quem im Hinblick auf den Schutz des Wahlgeheimnisses sprechen, und auch das Ausmaß, in dem das Wahlrecht um den Krieg herum und in seiner Folge erweitert wurde, ist auffällig. Darüber hinaus zeigen die wenigen vergleichenden Blicke vor allem, dass es keine Matrix zu geben scheint, in die sich die Entwicklungen in Europa über den nationalen Kontext hinaus einordnen ließen – was kaum überrascht, denn die Wahlmodalitäten werden im nationalen Kontext festgelegt. Was
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Malcolm Crook/Tom Crook, »Reforming Voting Practices in a Global Age. The Making and Remaking of the Modern Secret Ballot in Britain, France and the United States, c.1600–c.1950«, in: Past & Present 212 (2011) H. 1, S. 199–237; Jørgen Elklit, »Mobilization and Partisan Division. Open Voting in Fredericia, Denmark«, in: Social Science History 7 (1983) H. 3, S. 235–266; Alain Garrigou, Histoire sociale du suffrage universel en France 1848–2000, Paris 2002, S. 193–217, 323–324.
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sich hingegen zeigen lässt, ist der erhebliche Einfluss der nationalen Traditionen auf den Umgang mit der Ungewissheit in den Zwischenkriegsjahren.
Klassifizierung der Zwischenkriegswählerschaft Es gab mehrere Gründe, warum die lokalen Parteiorganisationen Informationen über das Elektorat benötigten; sie hingen alle mit ihrer Kerntätigkeit zusammen, nämlich die Stimmen der Wähler zu erobern. Zunächst einmal mussten die Parteien ihre Anhänger ermitteln können – nicht nur, um sie dauerhaft als Mitglieder oder vorübergehende Helfer für den Wahlkampf zu rekrutieren, sondern vor allem, um sie am Wahltag selbst zu mobilisieren, damit sie zur Urne gingen. Deshalb war es wichtig zu wissen, wer an seine Pflicht erinnert oder wer gar zum Wahllokal gebracht werden musste, weil er körperlich alleine nicht dazu in der Lage war. Das war in Deutschland wie in Großbritannien gängige Praxis. Aktive Parteimitglieder kontrollierten die Wahllokale, damit säumige Anhänger noch zur Urne »geschleppt« werden konnten.19 Dazu mussten die Parteien die eigene Gefolgschaft in Listen erfassen, was mit unterschiedlichen Methoden erfolgte. In Großbritannien bediente man sich dazu der Technik des canvassing, bei dem man von Haus zu Haus ging. Diese Praktik stammte noch aus der Zeit vor den Wahlreformen, als die Wählerschaft so klein war, dass die Kandidaten mit jedem Wähler persönlichen Kontakt aufnehmen konnten. Das konnte nach 1918 natürlich niemand mehr schaffen – bis auf einen: Als der Liberale Frank Gray zu Beginn der 1920er Jahre den Parlamentssitz für Oxford errang, erklärte er, er habe an 12000 Türen geklopft und mit praktisch jedem der 25000 Wahlberechtigten persönlich gesprochen.20 Doch das war eine un19
20
Eine Beschreibung solcher Systeme findet sich in Lung-Chi Lo, The Conduct of Parliamentary Elections in England. PhD Diss. Columbia University, New York 1928, S. 121–124. Der umfassendste Leitfaden für Deutschland wurde vor dem Krieg erstellt, stimmt jedoch weitgehend mit späteren Handbüchern überein: Fritz Becker, Wie richten wir die Wahlagitation vor und an den Wahltagen ein? Herne 1913. Frank Gray, The Confessions of a Candidate, London 1925, S. 37–41.
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gewöhnliche Ausnahme. Die Regel war eher, dass Freiwillige loszogen, bewaffnet mit eigens erstellten Karten, auf denen sie festhielten, welcher Wahlberechtigte erklärte, »für« den Kandidaten zu sein, wer »gegen« ihn und wer noch »unentschieden« war. Dabei wurde gewissenhaft darauf geachtet, dass die Freiwilligen, auch wenn sie die Wähler persönlich kannten (häufig waren es Nachbarn oder gar Freunde), nicht die eigenen Vermutungen aufschrieben, sondern wirklich jeden Einzelnen fragten, wen er zu wählen gedachte. Anhand detaillierter Vorgaben wurden die Wahlkreise in kleinere Einheiten untergliedert, die die hierarchisch organisierten Freiwilligen-Teams bewältigen konnten. Aus den einzelnen Karten wurde dann in der Parteizentrale eine Kartei erstellt, auf die man zur Ermittlung der Anhängerschaft und zur Planung weiterer Wahlkampfmaßnahmen zurückgreifen konnte.21 In Deutschland, wo die Professionalisierung des Wahlkampfmanagements nicht so weit gediehen war, stützte man sich weniger auf formalisierte Umfragen. Hier war die Generierung von Wissen über die Wählerschaft in die informellen sozialen Kontakte innerhalb der politischen Parteien und ihre Beziehungen zu den Anhängern eingebettet. So enthielt ein Leitfaden zur Erstellung von Unterstützerlisten explizit den Vorschlag, dass alle Parteimitglieder jeweils zehn bis zwanzig Adressen mit Namen von Verwandten, Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen aufschreiben sollten, von denen sie annahmen, dass diese die politischen Ziele der Partei unterstützten. Ein systematischerer Ansatz bestand in der Nutzung anderer Informationsquellen über Wählergruppen, denen man eine Nähe zur eigenen Partei unterstellen konnte. Die Vorstellungen vom potenziellen Wählerkreis wurden also mit sozialen Kriterien verknüpft, was sich anhand der Empfehlungen für Wahlkämpfe belegen lässt. Die Wahlwerber vor Ort sollten auf Abonnentenlisten wohlgesonnener Zeitungen zurückgreifen, auf Mitgliederlisten von Interessengruppen, wie Grundbesitzer- oder Unternehmerverbänden, Veteranen- und Arbeitervereinen und anderen Organisationen, 21
W. J. Joel, »Preparations for the Election«, in: Conservative Agents’ Journal, Dez. 1928, S. 365–368; Fred Bottomley, »Canvassers’ School of Instruction«, ebenda, Juni 1928, S. 165–168; »Don’t Argue«, in: Labour Organiser, Aug.– Sept. 1921, S. 13–14; Lo, Conduct, S. 70–71.
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von denen man sich Interesse an der eigenen Partei erwartete, »je nach Parteikonstellation« vor Ort, wie es in einem Handbuch hieß. Wo die Loyalitäten entlang der katholisch-protestantischen Demarkationslinie verliefen, hieß es weiter, sei die Erfassung der Konfession hilfreich, was wohl bedeuten sollte, dass man sich die Mühe sparen könne, jenseits der eigenen Gefilde nach Anhängern zu suchen.22 Die deutschen Wahlwerber stützten sich also weitaus stärker auf Vorannahmen über das Elektorat und seine soziale Zusammensetzung als ihre britischen Pendants. Die gewonnenen Erkenntnisse darüber, wer von den aktiven Parteimitgliedern als Unterstützer eingeschätzt wurde, und die Klassifizierung der Gesellschaft in feste Segmente, denen bestimmte Parteien als »natürliche« Interessenvertreter zuzuordnen waren, hatte großen Einfluss darauf, welche Gruppen angesprochen wurden und wie das geschah. Hier lässt sich vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Ungewissheit der Faden der nationalen Traditionen wieder aufnehmen. Die britischen Wahlwerber sprachen weiterhin jeden einzelnen Wähler als potenziellen Unterstützer an, unabhängig von seinem sozialen Hintergrund. Das wurde mit der Erweiterung des Wahlrechts zwar immer mühsamer, doch da diese schrittweise erfolgt war, galt diese Methode der Informationsgewinnung nie als völlig undurchführbar und wurde bis weit in die 1930er Jahre praktiziert. Auch die lange Tradition geheimer Wahlen, die den Charakter des Wahlakts als private freie Entscheidung unterstreicht, trug dazu bei, die Wählerschaft vor allem als Masse von Individuen zu betrachten. Im Gegensatz dazu erscheint es durchaus plausibel, dass die Deutschen, deren Politisierung im Kontext eines Massenwahlrechts erfolgt war, im Elektorat nicht so sehr das Individuum sahen, sondern es eher in größere Gruppen einteilten. Auch lastete hier der hohe gesellschaftliche Gruppendruck schwer auf den Wählern, denn der Wahlakt 22
Becker, Wahlagitation, S. 7–10; Anton Erkelenz, Leitfaden für Wahlorganisatoren und Wahlwerber, [Berlin] [1924], S. 6–9, 18–19, 26–27; ders., Wie retten wir die deutsche Republik? Wie gewinnen wir die Reichstagswahlen?, o. O. [1927]; siehe auch die Beschreibung von Stadtvierteln, in denen jeder die politische Meinung des anderen zu kennen glaubt, in: Andrew Stuart Bergerson, Ordinary Germans in Extraordinary Times. The Nazi Revolution in Hildesheim, Bloomington 2004, S. 105–108.
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wurde in einer halböffentlichen Atmosphäre vollzogen, und das individuelle Wahlverhalten war bis zum Ersten Weltkrieg kaum als geheim zu bezeichnen. Dies leistete dem Phänomen Vorschub, das Stanley Suval als »affirmatives Wahlverhalten« im wilhelminischen Zeitalter bezeichnet hat: Die Wähler nutzten ihre Stimme hauptsächlich dazu, ihre Loyalität zu einer sozialen Gruppierung und der entsprechenden Partei zum Ausdruck zu bringen23 – ein Brauch, der auch nach 1918 nicht so schnell aussterben sollte. Bei der Gewinnung von Informationen über die Wählerschaft in den Zwischenkriegsjahren spielte also »implizites Wissen« (Michael Polanyi) über die zentralen Merkmale der politischen Gesellschaft eine große Rolle. In Großbritannien scheint die ergebnisoffene Einteilung des Elektorats nicht nur in Anhänger und Gegner, sondern insbesondere auch in die Gruppe der Unentschlossenen bereits vorweggenommen zu haben, dass sich eine »schweigende Mehrheit« und eine Bürgerschaft herausbildete, die politisch durchaus engagiert war, aber nicht immer mit der etablierten Parteipolitik konform ging.24 Demgegenüber gehörte in Deutschland die feste Bindung der verschiedenen »sozialmoralischen Milieus« an bestimmte Parteien (so die berühmte soziologische Erklärung für das Wahlverhalten und die Parteienstruktur während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik25) von vornherein zu den Grundannahmen, die die Wahlkampfstrategen und Parteiaktivisten über das Wahlvolk anstellten. Dabei ist wichtig hervorzuheben, dass das durch die Erstellung von Listen und Karteien gewonnene Wissen seinerseits Auswirkungen auf die weitergehenden Vorstellungen vom Elektorat und nicht zuletzt auch auf die Wählerschaft selbst hatte. Diese Konzepte bildeten ganz offensichtlich die Grundlage für die Wahlpropaganda, doch es genügt, sich nur die Interaktion an 23 24 25
Stanley Suval, Electoral Politics in Wilhelmine Germany, Chapel Hill 1985. Helen McCarthy, »Whose Democracy? Histories of British Political Culture between the Wars«, in: Historical Journal 55 (2012) H. 1, S. 221–238. M. Rainer Lepsius, »Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft (1966), in: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 25–50; Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992.
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der Haustür vorzustellen: hier ein Wähler, der gebeten wird, sich einer der drei politischen Kategorien der Anhänger, Gegner oder der Unentschlossenen zuzuordnen, und dort jemand, der sich der Zentrumspartei nur deshalb anschließen soll, weil er Katholik ist. Die Methode, mit der die Parteien Wissen über ihre Wähler gewannen, trug also ganz erheblich zur Bildung solcher Kategorien und Zuordnungen nach Parteienzugehörigkeit bei. In vielerlei Hinsicht erscheinen die Bemühungen der Deutschen, die öffentliche Meinung auszuloten, als Teil einer sich selbst tragenden Logik, die jedenfalls nicht zur Überwindung der vor 1914 entstandenen politischen Gräben beitrug. Der Vergleich mit Großbritannien macht deutlich, wie leicht eine Änderung der Vorgehensweise zu anderen Ergebnissen und zu einer Umorientierung der Wahlpolitik auf der Grundlage anderer Vorstellungen von der Wählerbasis hätte führen können. Denn es gab durchaus Veränderungen in Deutschland, auch wenn sie im Nachhinein wesentlich klarer erscheinen als zur Zeit des Geschehens. So wurde zum Beispiel das Band zwischen dem Katholizismus und der Zentrumspartei argen Belastungen ausgesetzt, als Statistiker Ende der 1920er Jahre nachwiesen, dass der Rückhalt unter den Gläubigen in den letzten Jahren stark zurückgegangen war und sich kein nachvollziehbares Muster erkennen ließ, wem die Abtrünnigen ihre Stimme gegeben hatten. Doch nur wenige bemerkten solche Ungereimtheiten, und noch weniger verlangten nach Änderungen.26 Die meisten Politstrategen operierten weiter mit dem, was sie bereits wussten oder zu wissen glaubten. So drängt sich zwangsläufig der Eindruck einer zunehmenden Entfremdung der Politiker von der Öffentlichkeit während der Weimarer Jahre auf.27 Erst nach den erschreckenden Wahlerfolgen der Nationalsozialisten Anfang der 1930er Jahre wurde offensichtlich, dass die klassischen sozialen Milieus in Auf26
27
Die bekannteste dieser Analysen stammt von Johannes Schauff, Das Wahlverhalten der deutschen Katholiken im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Untersuchungen aus dem Jahre 1928, hrsg. von Rudolf Morsey, Mainz 1975. Zur Reaktion der Führungsspitze siehe Benjamin Ziemann, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975, Göttingen 2007, S. 65. Siehe auch Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2012, Teil IV.
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lösung begriffen waren und große Teile der Wählerschaft dem Versprechen einer egalitären Volksgemeinschaft Glauben schenkten, welche die festverankerten Konfliktlinien von Religion und Klasse zu überwinden versprach. In der klassischen Literatur zur Weimarer Republik wird Kanzler Heinrich Brüning und anderen häufig vorgeworfen, diese Entwicklung nicht vorausgesehen zu haben. Leichtsinnig, so die Kritiker, hätten sie die Republik 1930 durch Neuwahlen in Gefahr gebracht, denn alle Zeichen hätten auf einen erdrutschartigen Sieg der NSDAP gestanden.28 Doch vielleicht sollte man zugestehen, dass sie es wirklich nicht kommen sahen, weil sie es, nach den seinerzeit anzulegenden Maßstäben, kaum vorhersehen konnten. Die britischen Politikgestalter hatten es da wesentlich besser: Ihre Methode der formalen und systematischen Vorwahlbefragung ohne allzu viele Grundannahmen war geeigneter, Veränderungen im Selbstverständnis der Wähler zu erfassen. Nicht nur wurde registriert, dass sich immer mehr Wähler der Kategorie »unentschlossen« zuordneten, einige Wahlwerber dokumentierten auch, dass viele sich überhaupt weigerten, ihre politischen Ansichten offenzulegen. Im Übrigen konnte man die Ergebnisse der Vorwahlbefragung mit dem tatsächlichen Wahlresultat abgleichen. Häufig erwiesen sie sich als zuverlässige Richtschnur, doch selbst wenn das nicht zutraf, waren sie hilfreich: Zumindest zeigten sie, dass das Wahlvolk »weniger verlässlich denn je« geworden war, wie Austen Chamberlain anmerkte, als seine eigenen Erwartungen bei der Wahl 1931 noch übertroffen wurden.29 Für die deutschen Kollegen gab es nur wenige Hinweise, die so klar waren. Generell zeichnete sich jedoch in den 1930er Jahren ab, dass das Problem der Unwägbarkeit, mit der Chamberlain und andere kon28
29
Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 2005, S. 382; Eberhard Kolb/Dirk Schumann, Die Weimarer Republik, München 2013, S. 126–127; Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar. 1918–1933, Berlin 2009, S. 381–382. Brief vom 1. November 1931, Robert C. Self (Hg.), The Austen Chamberlain Diary Letters. The Correspondence of Sir Austen Chamberlain with his Sisters Hilda and Ida, 1916–1937, Cambridge/New York 1995, S. 391–392, siehe auch S. 259; vgl. auch Beers, »Polling Public Opinion«.
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frontiert waren, wieder an Gewicht verlieren würde. Die Politik der in den 1920er Jahren entstandenen Demokratien hatte in vieler Hinsicht einen weitaus offeneren und gleichzeitig auch provisorischeren Charakter als zuvor und auch als später. Dies mag offensichtlich erscheinen, und in zahlreichen Darstellungen der Zwischenkriegsjahre wurde deshalb auch von einem Laboratorium der Moderne gesprochen: So gab es kaum je ein breiteres Spektrum an Vorstellungen von der politischen Ordnung (von kommunistischen bis zu faschistischen Utopien) als in dieser Periode – auch weil sich später einige davon in der Praxis als mangelhaft erwiesen.30 Dies gilt aber auch für die weitere Entwicklung der Demokratie selbst.
Schließung der Lücke Mit dem Aufkommen der Demoskopie wurde der politische Prozess von den 1930er Jahren an wieder vorhersagbarer. Jetzt betrat auch eine neue Kaste von Politexperten die Bühne: Der Politstratege, dessen Einschätzungen auf den unmittelbaren Erfahrungen im Wahlkampf basierten, sollte bald durch den sozialwissenschaftlich geschulten Analysten ersetzt werden, der das politische Geschehen aus der Distanz beobachtete. Der Ursprung dieser neuen Methode lag in den Vereinigten Staaten, wo das Konzept der Meinungsforschung nicht von ungefähr als »Instrument der Demokratie« vermarktet wurde. Mit ihren wissenschaftlichen Methoden, die gemeinhin mit Objektivität assoziiert werden, versprachen die Demoskopen, die Erforschung der öffentlichen Meinung auf eine solidere Basis zu stellen. Ob die Demoskopie tatsächlich zur »Demokratisierung« der Politik beigetragen hat, indem sie, wie die Meinungsforscher gern behaupteten, »dem Volk« eine Stimme gab, ist eine normative Frage, der hier nicht nachgegangen werden soll. Sicher ist jedenfalls, dass die Einbeziehung dieser Technik in den po-
30
Martin Conway, »The Rise and Fall of Western Europe’s Democratic Age, 1945–1973«, in: Contemporary European History 13 (2004) H. 1, S. 67–88; zum Laboratorium siehe die wegweisende Arbeit von Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987.
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litischen Prozess erhebliche Auswirkungen auf die Vorstellungen von Öffentlichkeit und auf die demokratische Politikgestaltung hatte.31 Dass sich in verschiedenen Ländern die Methoden zur »Messung« von Meinung und Parteianhängerschaft zunehmend auf das statistische Konstrukt der Zufallsstichprobe konzentrierten, mag zudem dazu beigetragen haben, dass sich die demokratischen Systeme in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einander annäherten. In Deutschland konnte diese Entwicklung aus naheliegenden Gründen erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzen. Hitler hatte wenig Interesse an Wahlprognosen, und das NS-Regime stützte sich bei der Bewertung der Unterstützung in der Öffentlichkeit auf die klassische Methode der Lektüre von Geheimdienstberichten. Doch die zeitliche Entwicklung war der in Großbritannien oder Frankreich nicht unähnlich, denn auch dort wurden Meinungsumfragen erst in den späten 1950er bzw. 1960er Jahren zum festen Bestandteil des politischen Lebens. In Großbritannien gab die Labour Party erstmals 1938 eine Erhebung in Auftrag (bei einer Nachwahl in Fulham West), aber dies blieb in den Zwischenkriegsjahren ein isoliertes Experiment. Während des Zweiten Weltkriegs fanden keine Wahlen statt, und auch danach hatten die britischen (und französischen) Politiker noch Vorbehalte gegen Meinungsumfragen. Der Anspruch der Demoskopie, die öffentliche Meinung präzise wiederzugeben, wurde ebenso bestritten wie der auf einen festen Platz im Wahlgeschehen und bei der Politikgestaltung.32 Den Kritikern war wohl bewusst, dass Meinungsumfragen mehr bewirkten als ihre Befürworter vorgaben: Sie spiegelten nicht nur die »öffentliche Meinung« wider, sondern gestalteten diese selbst mit, etwa durch Themensetzung und Schaffung von Kategorien, mit denen sich die Wähler identifizieren konnten. Wie Anja Kruke und Benjamin Ziemann in ihrer Studie zur westdeutschen Demokratie 31 32
Siehe hierzu Sarah E. Igo, The Averaged American. Surveys, Citizens, and the Making of a Mass Public, Cambridge 2007, S. 118. Laura Beers, »Whose Opinion? Changing Attitudes Towards Opinion Polling in British Politics, 1937–64«, in: Twentieth Century British History 17 (2006) H. 2, S. 177–205; Jon Cowans, »Fear and Loathing in Paris. The Reception of Opinion Polling in France, 1938–1977«, in: Social Science History 26 (2002) H. 1, S. 71–104.
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nach 1945 zeigen, trug das Aufkommen von Meinungsumfragen seit Mitte der 1950er Jahre maßgeblich dazu bei, die Wählerschaft nicht mehr in feste Kategorien einzuteilen und (wie anderswo auch) die Existenz des »Wechselwählers«, um die jede Partei werben konnte, stärker in den Fokus zu rücken. Die Entdeckung des Wählers als Individuum, dessen Abstimmverhalten nicht durch den sozialen Status vorherbestimmt war, führte nun auch in Deutschland zu einem pragmatischeren Vorgehen der Parteien und insgesamt zu einer größeren Volatilität der Parteibindung und damit auch zur Entschärfung der radikalen Gegensätze, die die politische Kultur der wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik geprägt hatten.33 Meinungsumfragen entwickelten sich zu einem nicht mehr wegzudenkenden Gestaltungsinstrument der Beziehungen zwischen den politischen Akteuren und den Wählern. Auch die Stimmen derer, die Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen der Demoskopen äußerten, wurden leiser. Das durch Meinungsumfragen gewonnene Wissen ist zu einem so selbstverständlichen Element der heutigen Demokratie geworden, dass bisweilen gar von einem »Demokratiedefizit« gesprochen wird, wenn keine Nachwahlbefragung stattfindet; heute scheint man zu meinen, die Frage nach dem Warum der Wahlentscheidung lasse sich nur durch Umfragen zuverlässig beantworten.34 Dennoch werden die Umfrageergebnisse immer wieder angezweifelt, und die Prognosen sind nicht immer zutreffend. Gleichwohl haben sie sehr dazu beigetragen, dass die Wahlen wieder vorhersagbarer wurden. Die Meinungserhebungen liefern einen Mechanismus, mit dem sich während der gesamten Wahlperiode der jeweils »aktuelle Stand« ermitteln lässt, weil sie kontinuierlich Wissen über die »Öffentlichkeit« und die Wählerschaft generieren, das Politiker und andere Akteure als gemeinsame Grundlage für ihr 33
34
Anja Kruke/Benjamin Ziemann, »Observing the Sovereign. Opinion Polls and the Restructuring of the Body Politic in West Germany, 1945–1990«, in: Kerstin Brückweh u.a. (Hg.), Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980, Basingstoke 2012, S. 234–251. James Ball, »Scotland Independence Referendum: With No Exit Poll Isn’t There a Democratic Deficit?«, The Guardian vom 18. 9. 2014, http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/sep/18/scottish-voteno-exit-poll-democratic-deficit [10. 10. 2014].
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Handeln nutzen können – und dies auch tun. Unabhängig davon, wie viel Wahrheitsgehalt diesem Wissen als Abbild der öffentlichen Meinung beigemessen wird, hat es allein durch seine Funktion im politischen Prozess den heutigen Demokratien zu wesentlich mehr Erwartungssicherheit verholfen, als es im Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen der Fall war. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
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Frauen für Demokratie Möglichkeiten und Grenzen des zivilgesellschaftlichen Engagements
In der Mitte der 1930er Jahre veranstaltete das »Weltkomitee der Frauen gegen Krieg und Faschismus« mehrere Konferenzen in Paris, um die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft auf die Entwicklungen in Italien und Deutschland und später auch in Spanien zu lenken. Die Frauen wollten, dass sich die demokratischen Regierungen für den Schutz der Bürgerrechte in diesen Ländern einsetzten, dass sie Flüchtlinge aus Deutschland aufnahmen, die republikanische Regierung in Spanien mit Waffen unterstützten und sie diplomatisch anerkannten und dass sie bei den faschistischen Regimes mit diplomatischen Mitteln auf die Wahrung der grundlegenden bürgerlichen und politischen Rechte drängten. Sie wollten als Teil einer transnationalen Bewegung in den Ländern, die noch den Anspruch erheben konnten, dass ihre Regierungen den demokratischen Willen des Volkes repräsentierten, die Kräfte der öffentlichen Meinung für einen Wandel in der Innenpolitik bündeln. Eine Analyse der Zusammensetzung dieser Organisation und ihrer Motivation lässt Rückschlüsse auf das Ausmaß und die Grenzen der zivilbürgerlichen Aktivitäten im Kampf gegen die faschistische Bedrohung zu. Die treibende Kraft hinter dieser Bewegung war eine Handvoll kosmopolitisch denkender Frauen aus ganz Europa, angeführt von Gabrielle Duchêne, der Vorsitzenden der französischen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (Women’s International League for Peace and Freedom – WILPF). Der im Januar 1934 veröffentlichte Gründungsappell »Pour la défense des
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femmes contre le fascisme« hatte elf Unterzeichnerinnen: Lilla Fenner Brockway (Großbritannien); Charlotte Despard (Irland); Rosa Dimitrova (Bulgarien); Gabrielle Duchêne (Frankreich); Anna Lindhagen (Schweden); Karen Michaëlis (Dänemark); Marguerite de Saint-Prix (Frankreich); Elena Stassova (UdSSR); Mme Sun Yat Sen (China); Ellen Wilkinson (Großbritannien); Dr. Gertrud Woker (Schweiz). Drei von ihnen waren Mitglieder der Komintern: Jelena Stassova (Vorsitzende des sowjetischen Zentralkomitees der Internationalen Roten Hilfe), Rosa Dimitrova (Ehefrau des bulgarischen KPFunktionärs, der von den Nationalsozialisten im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand verhaftet worden war) und Madame Sun Yat Sen, die damals im Exil in Moskau lebte.1 Die anderen acht waren in ihren Heimatländern in politisch progressiven Kreisen aktiv, wo sie sich hauptsächlich mit internationalen Angelegenheiten befassten. Viele der Frauen waren an der Durchführung von internationalen Kongressen und an den im Anschluss gegründeten Organisationen beteiligt, die von Historikern häufig unter dem Begriff »Amsterdam-Pleyel«-Bewegung subsumiert werden, sowie am ebenfalls international ausgerichteten Welthilfskomitee für die Opfer des deutschen Faschismus (Relief Committee for the Victims of German Fascism, CRVGF). Sowohl die Pleyel-Kongresse als auch das Welthilfskomitee wurden maßgeblich von Willi Münzenberg, dem Impresario der westlichen Sektionen der Komintern unterstützt.2 Alle setzten sich für die 1932 von Münzenberg mit Unterstützung Moskaus ins Leben gerufene Liga gegen Krieg und Faschismus (später: Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus) ein, die ihre Tätigkeit unter Führung seines Gesinnungsgenossen Henri
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Emmanuelle Carle, Gabrielle Duchêne et la recherche d’une autre route. Entre le pacifisme féministe et l’antifascisme, Dissertation, McGill Universität, Montreal 2005, S. 265. Einen guten Überblick zu den Ursprüngen der Amsterdam-Pleyel-Bewegung bietet James David Fisher, Romain Rolland and the Politics of Intellectual Engagement, Berkeley 1998, Kap. 7. Zu CRVGF siehe Sean McMeekin, The Red Millionaire. A Political Biography of Willi Munzenberg, Yale 2003, S. 262ff.
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Barbusse und finanziert durch Gold aus Moskau fortsetzte.3 Als die Frauen feststellen mussten, dass ihr Appell in den internationalen feministisch-pazifistischen Kreisen keine Resonanz fand, suchten sie bei dem von der Komintern unterstützten antifaschistischen Netzwerk finanzielle und logistische Unterstützung.4 Sowohl das Weltkomitee der Frauen gegen Krieg und Faschismus als auch die größere Gruppe von Männern und Frauen, die sich in der Zwischenkriegszeit in von der Komintern beeinflussten antifaschistischen Organisationen engagierten, führen in der historischen Forschung ein Schattendasein und werden zumeist als Gesinnungsgenossen oder Erfüllungsgehilfen Moskaus oder aber als historische Anomalie abgetan. Dies wird weder ihrer Intelligenz noch ihrer Wirkung gerecht, denn hier bleibt außer Acht, dass nicht kommunistische Radikale durchaus mit der Komintern zusammenarbeiten konnten, ohne die Zielsetzungen der UdSSR zu unterstützen. Zahlreiche antifaschistische Aktivistinnen und Aktivisten sahen im kommunistischen Russland nicht den Feind der Demokratie, sondern einen wichtigen Partner im Kampf der Demokratie gegen den Faschismus. Dies galt ganz besonders für die Führung und die breite Mehrheit der WILPF, deren Mitglieder auch eine zentrale Rolle im Weltkomitee der Frauen gegen Krieg und Faschismus einnahmen.
Der demokratische Humanismus der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit Unter den Frauenorganisationen der Zwischenkriegszeit nahm die WILPF insofern eine Sonderstellung ein, als sie sich dem Gedanken der Förderung von Frieden und Selbstbestimmung auf transnationaler Ebene verpflichtet fühlte. Der Glaube an universelle humanis-
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David Caute, The Fellow-Travellers. Intellectual Friends of Communism, New Haven 1988, S. 140ff.; McMeekin, Millionaire, S. 276f. Carle, Gabrielle Duchêne, S. 265f.: »La résistance rencontrée dans les milieux féministes l’amènent à se tourner vers les groupements antifascistes, contrôlés par les communistes, pour s’engager plus activement dans la lutte contre le fascisme.«
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tische Werte, die nicht vor Landesgrenzen haltmachen, führte einige ihrer Mitglieder in Zirkel, die nach einer in der Rückschau abenteuerlich anmutenden »Weltregierung« strebten; andere wiederum, darunter die Aktivistinnen im Komitee gegen Krieg und Faschismus, engagierten sich für ein gemeinsames grenzüberschreitendes Vorgehen gegen die Diktatoren, die die Menschenrechte bedrohten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten sich diese Ideale einen Weg in das allgemeine Gedankengut bahnen, nicht zuletzt durch die Gründung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), die mit der Hoffnung verbunden waren, die Menschheit zu einer Art von Weltbürgertum erziehen zu können. Nicht von ungefähr hatte Ellen Wilkinson, Veteranin der WILPF und zahlreicher anderer transnationaler antifaschistischer Komitees, bei der UNESCO-Gründungskonferenz in London im November 1945 den Vorsitz inne. Eine angemessene Einordnung des demokratischen Internationalismus in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg wäre unvollständig, wenn man den Blick nicht auch auf die vorangegangene Entwicklung dieses kosmopolitischen Gedankens in der Gruppe von Frauen und Männern lenkte, die der Ausbreitung des Faschismus auf dem europäischen Kontinent aktiv entgegentreten wollten. Die antifaschistischen Aktivitäten der Internationalen Frauenliga lassen die intellektuellen und ideologischen Einflüsse erkennen, die in den 1930er Jahren Männer und Frauen aus Europa und der ganzen Welt zum antifaschistischen Engagement bewegten. Dabei rückt ein eher vernachlässigter Zweig der neueren Forschung zur Geschichte der Menschenrechte in den Vordergrund. Die Historiker sind sich uneins, ob die moderne Menschenrechtsbewegung als Folge des Zweiten Weltkriegs entstand oder ob der mit der Gründung der Vereinten Nationen einhergehende Diskurs über die Menschenrechte nicht erst in den 1970er Jahren wirklich mit Inhalt gefüllt wurde.5 Das Beispiel der Internationalen Frauenliga zeigt, 5
Den erstgenannten Standpunkt vertritt Elizabeth Borgardt: A New Deal for the World. America’s Vision for Human Rights, Cambridge, Mass. 2005. Zur zweiten Position siehe Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, New York 2007.
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dass sich durchaus schon vor dem Zweiten Weltkrieg Menschen zum Schutz und zur praktischen Durchsetzung der universellen Rechte bekannten, wenn auch in geringerer Zahl.6 Zahlreiche WILPF -Mitglieder engagierten sich nach 1945 bei den Vereinten Nationen und in anderen Nichtregierungsorganisationen für die Menschenrechte. Zu ihnen gesellten sich viele Kolleginnen und Kollegen, die in den 1930er Jahren an der antifaschistischen Front gekämpft hatten. Die Analyse der Verbindungen zwischen den liberalen und antifaschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit und den Bestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg, dem transnationalen Humanismus ein politisches Antlitz zu verleihen, zeigt, wie sich der Gedanke der Menschenrechte im frühen zwanzigsten Jahrhundert entfaltete, und setzt zudem ein Fragezeichen hinter die Einordnung des liberalen Antifaschismus als beiläufige Randerscheinung der Zwischenkriegsepoche. Nicht zuletzt verdeutlichen die antifaschistischen Aktivitäten der Internationalen Frauenliga auch die komplexe Überschneidung von Feminismus und Humanismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts.7 Die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit WILPF wurde 1919 in Zürich als Folgeorganisation des Internationalen Frauenkomitees für dauerhaften Frieden gegründet, das sich im April 1915 in Den Haag konstituiert hatte. Dort waren über 1000 Delegierte von ca. 150 Frauenorganisationen aus den USA und elf europäischen Ländern zusammengekommen, darunter drei der Unterzeichnerinnen des offenen Briefes gegen Krieg und Faschismus: Charlotte Despard, Anna Lindhagen und Dr. Gertrud Woker. Die Teilnehmerinnen der Konferenz wählten die amerikanische Sozialarbeiterin Jane Addams zur Präsidentin und formulierten Resolutionen zu einer Reihe von Themen – Frauen und Krieg, Maßnahmen für den Frieden, Grundlagen für einen dauerhaften Frieden, Internationale Zusammenarbeit, Kindererziehung und Handlungs-
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Ingrid Sharp, »Feminist Peace Activism 1915 and 2010. Are We Nearly There Yet?«, in: Peace & Change 38, (April 2013) Nr. 2, S. 155–180, hier: S. 168ff. Karen Offen, »Women’s Rights or Human Rights? International Feminism between the Wars«, in Patricia Grimshaw u.a. (Hg.), Women’s Rights and Human Rights. International Historical Perspectives, Basingstoke 2001, S. 243ff.
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empfehlungen. Sie kehrten mit dem Auftrag in ihre Heimatländer zurück, dort Tochterorganisationen zu gründen und ihre Tätigkeit mit der internationalen Führung des Komitees abzustimmen. Die französischen Feministinnen hatten keine Delegation nach Den Haag entsandt, doch eine kleine Gruppe engagierter Frauen, darunter Gabrielle Duchêne und Marguerite de Saint-Prix (Tochter des ehemaligen Staatspräsidenten Emile Loubet), bildeten rasch eine französische Sektion, die nach der Adresse ihres regelmäßigen Treffpunkts benannt wurde – Comité des femmes de la rue Fondary. Ellen Wilkinson, die jüngste der Unterzeichnerinnen des offenen Briefs, engagierte sich während des Krieges in der britischen Sektion und nahm 1919 an dem Kongress in Zürich teil, in der die Internationale Frauenliga formal aus der Taufe gehoben wurde. Jane Addams organisierte zusammen mit der niederländischen Ärztin Aletta Jacobs und der schottischen Juristin Chrystal Macmillan den Züricher Kongress, an dem 152 Frauen aus 15 Ländern teilnahmen, darunter Lola Maverick Lloyd, Rosika Schwimmer, Charlotte Despard, Gabrielle Duchêne und Ellen Wilkinson. Nach Ansicht der feministischen Historikerin Jo Vellacott betrachteten die WILPF-Mitglieder die Rolle der Frauen insgesamt als »nicht identisch mit der der Männer. Die Frauen hätten ihrer Meinung nach in allen aktuellen internationalen Fragen einen wichtigen Beitrag zu leisten. […] Sie könnten vor allem zwei Dinge einbringen: erstens eine weibliche, ausgleichende Sichtweise und zweitens eine wahrhaft internationale oder transnationale Perspektive, den Standpunkt einer im Krieg entstandenen Organisation, der Frauen aus kriegführenden und aus neutralen Ländern angehörten.«8 Die Frauenliga gab sich ein Statut, das den nationalen Sektionen ein großes Maß an Autonomie zugestand, doch »im Politischen waren sie an die Entscheidungen des Internationalen Kongresses gebunden. […] Somit war die WILPF von Anfang an nicht nur ein Zusammenschluss nationaler Sektionen, sondern ein internationales Gremium.«9
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Jo Vellacott, »A Place for Pacifism and Transnationalism in Feminist Theory. The Early Work of the Women’s International League for Peace and Freedom«, in: Women’s History Review 2 (1993), S. 23–56, hier: S. 32. Gertrude Bussey/Margaret Tims, Pioneers for Peace. Women’s International League for Peace and Freedom 1915–1965, London 1965, S. 32.
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Die neu entstandene Organisation diskutierte eine Reihe von Vorschlägen für die Verhandlungen in Versailles. Dabei ging es nicht nur um die Einrichtung eines internationalen Gremiums, das internationale Konflikte auf demokratische Weise beilegen und die Ausdehnung der politischen Rechte auf alle Bürgerinnen und Bürger befördern sollte, sondern auch um Pläne zur weltweiten Umsetzung der grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Rechte – ein ehrgeiziges Programm, das weit über das hinausging, was dann in Versailles tatsächlich verhandelt wurde. Jane Addams, Charlotte Despard, Gabrielle Duchêne, Chrystal Macmillan sowie Rosa Genoni aus Italien und Clara Ragaz aus der Schweiz sollten als Delegierte die Vorschläge in Versailles unterbreiten.10 Dass ihre Ratschläge von den vier Siegermächten nicht befolgt wurden, hielt sie nicht davon ab, ihre nationalen und internationalen Aktivitäten während der gesamten Zwischenkriegszeit fortzusetzen. Die WILPF richtete in Genf eine Zentrale mit einem kleinen Stamm fester Mitarbeiterinnen ein. Die einzelnen nationalen Sektionen waren wiederum in regionale Gruppen untergliedert. Doch anders als bei einer föderalen Struktur reservierte das internationale Leitungsgremium nicht einfach eine bestimmte Anzahl von Plätzen für Vertreterinnen der nationalen Sektionen, sondern es wurde bei den alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Kongressen direkt von den Delegierten gewählt.11 Der potenzielle Widerspruch zwischen einer nationalen Struktur und dem kosmopolitischen Bewusstsein, das die Frauenliga fördern wollte, war ihren führenden Vertreterinnen wohl bewusst. Rosika Schwimmer war nicht die Einzige, die in der Zwischenkriegszeit auf einen internationalen Fokus drängte, doch ging sie mit ihrer Erklärung, kein Nationalgefühl zu haben, sondern nur ein »kosmisches Bewusstsein, der Familie der Menschen anzugehören«, wohl weiter als manche ihrer Kolleginnen. Ganz in diesem Sinne war auch der auf dem Kongress 1924 gefasste Beschluss, eine World Section zu gründen, der Frauen bei-
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Ebenda S. 33. Leila Rupp, Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1997, S. 166. Rupp zeigt den Gegensatz zum International Council of Women auf, dessen Exekutivorgan sich aus den Leiterinnen der nationalen Organisationen zusammensetzte.
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treten konnten, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht im Besitz einer Staatsbürgerschaft waren oder sein wollten. Eine solche Weltsektion wurde zwar nie realisiert, doch zeigt sich hier, wie Leila Rupp es formuliert, die »organisatorische Verkörperung des Engagements zur Überwindung nationaler Denkmuster«.12 Diese Aspirantinnen auf eine Weltbürgerschaft machten es sich zur Aufgabe, aktiv gegen nationale und internationale Gewalt, gegen koloniale Unterdrückung, soziale Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Not weltweit vorzugehen. Dabei engagierte sich die WILPF jedoch nicht als Wohlfahrts- oder humanitäre Hilfsorganisation, sondern konzentrierte sich auf die Zusammenstellung von Informationen und auf politische Lobbyarbeit.13 Die Methode, »sich vor Ort selbst umzuschauen«, so Vellacott, wurde zu einem wichtigen Instrument der WILPF, und in den Sitzungen der britischen Sektion traten häufig Rednerinnen auf, die von Missionen, die die Organisation finanzierte, oder von anderen Auslandsreisen zurückgekehrt waren. Ellen Wilkinson hatte als junge Frau an einer solchen Mission nach Irland teilgenommen, um Informationen über mutmaßliche Gräueltaten der britischen paramilitärischen »Black and Tans« zu sammeln. Später begab sie sich mit Annot Robinson für die britische Sektion der Frauenliga nach Washington und berichtete der US-amerikanischen Kommission über die Lage in Irland.14 Diese WILPF-Sondierungsreisen bezeichnete der Schweizer Historiker Stefan Dyroff kürzlich als Vorgänger der Menschenrechtsmissionen.15
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Ebenda S. 118, 120. Mona Siegel, »Western Feminism and Antiimperialism. The Women’s International League for Peace and Freedom’s Anti-Opium Campaign«, in: Peace & Change 36 (2011), S. 34–61. Albert Coyle, Evidence on Conditions in Ireland. Comprising the Complete Testimony, Affidavits and Exhibits Presented before the American Commission on Conditions in Ireland, Washington, D. C. 1921, S. 531ff. Stefan Dyroff, The Early History of Human Rights Missions of INGO’s. Fact-Finding and Bridge-Building Journeys of the WILPF in the Inter-War Period. Vortrag anlässlich des Workshops »NGOs in World Politics. New Directions for Research« an der City University, London, 17. und 18. Oktober 2013.
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Die Mitglieder der WILPF, so Vellacott, stellten ihre transnationalen Bestrebungen weitaus stärker in den Vordergrund als die anderen Frauenorganisationen. Während der Internationale Frauenrat (International Council of Women) im Wesentlichen ein Zusammenschluss war, der »die Tätigkeit zahlreicher Frauenorganisationen auf der ganzen Welt unterstützte und durch eine Politik der Vermeidung kontroverser internationaler und nationaler Themen in problematischen Fragen seine Einheit wahrte«, arbeitete die WILPF eher themenorientiert.16 So wurden auf dem Kongress von 1929 insgesamt 19 Kommissionen eingerichtet, die sich mit den verschiedensten Fragen, wie Antisemitismus oder Erziehung zum Militarismus bis hin zur Nationalität verheirateter Frauen, befassten.17 In ihrer vergleichenden Analyse von WILPF, Internationalem Frauenrat und Internationalem Frauenbund (International Alliance of Women) kommt Leila Rupp zu dem Schluss, dass WILPF »die radikalste dieser drei Organisationen war und ihre Wurzeln aus der Kriegszeit nicht verleugnete«. In den 1930er Jahren »bekämpfte die Liga den Faschismus mit allen Mitteln und ging sogar Bündnisse mit kommunistisch dominierten Organisationen ein, womit sie dem Vorwurf des Extremismus weiter Vorschub leistete«.18 Mit dem Schritt vom Pazifismus zum Antifaschismus rückte die Frauenliga von ihrem Gründungsanspruch ab, mit dem sie ihre moralische Autorität auf den Status als feministische Organisation und auf die inhärente Verbindung zwischen Frauen und Frieden zurückführte. Mochten Aktivistinnen wie Ellen Wilkinson auch vor den Gefahren warnen, die Hitlers Diktatur gerade für die Rechte der Frauen mit sich brachte, so war doch der Kampf gegen den Faschismus unbestreitbar kein vorrangig feministisches, sondern dem Wesen nach ein humanistisches Anliegen. Mit Blick auf Frankreich stellt Françoise Blum fest, dass in den 1930er Jahren »die WILPF das anfängliche Band zwischen Feminismus und Pa-
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Vellacott, »Pacifism and Transnationalism«, S. 32, 40. Report of the Sixth Conference of the WILPF, Prag, 24.–25. August 1929 (englische Ausgabe), S. 177. Rupp, Worlds of Women, S. 33.
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zifismus auflöst […]. Madeleine Vernet, die bekannte Vertreterin eines essentialistischen und biologistischen Feminismus, bewegt sich von nun an in der Welt des universellen Neutrums.«19 Nach Hitlers Überfall auf die Tschechoslowakei 1938 sieht Karen Offen auch beim Internationalen Frauenbund eine »klare Verschiebung« des Sprachduktus »vom Feminismus hin zum Humanismus«. Sie zitiert die Vorsitzende Margery Corbett Ashby: »Gleicher Status und gleicher Einfluss für Frauen sind heute notwendiger denn je, doch können und dürfen wir uns nicht darauf beschränken, nur Feministinnen zu sein, wir müssen gleichzeitig auch Humanistinnen sein, um der Gesellschaft die Rechte zu bewahren, an denen wir unseren Anteil fordern.«20 Zu diesem Schluss waren die WILPFMitglieder schon zehn Jahre früher gekommen. Ellen Wilkinson, die als Suffragette an vorderster Front für das Frauenwahlrecht gekämpft hatte, zeichnete 1937 in einer Rezension von Hilary Newitts »Women Must Choose« für das Labour-Parteiblatt Daily Herald den Weg vom Feminismus zum Antifaschismus – und im Übrigen auch zum Antistalinismus – noch einmal nach. Newitt kritisierte in ihrer Beschreibung der Situation der Frauen in Italien, Deutschland, der Sowjetunion und den demokratischen Ländern zwar das faschistische Patriarchat, erklärte gleichzeitig aber, im Stalinismus hätten sich Frauen gut entwickeln können. Für Wilkinson mag der Stalinismus das kleinere Übel gegenüber dem Faschismus gewesen sein – und sie war bereit, den Kommunisten im antifaschistischen Kampf die Hand zu reichen –, doch letztlich betrachtete sie beide Regimes als Varianten ein und derselben »Politik der großen Männer«, die demokratische Frauen verabscheuen müssten: »Die Frauen, die sich das Wahlrecht erstritten hatten, dachten, sie hätten endlich einmal etwas Gutes vollbracht. […] Ich will die Frauen um mich scharen und genauso erbittert für die demokratischen Rechte streiten, die wir zu verlieren drohen. Sie sind Sklavin-
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Françoise Blum, »D’une guerre à l’autre. Itineraries d’intellectuelles pacifists«, in: Nicole Racine/Michel Trebitsch (Hg.), Intellectuelles. Du genre en histoire des intellectuels, Paris 2004, S. 239–240. Offen, Women’s Rights or Human Rights, S. 248.
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nen, die es nicht wagen, ihre Stimme für die Gefallenen und die Schwachen zu erheben.«21 Wilkinsons Absage an den Stalinismus bedeutete auch die persönliche Distanzierung von der Sowjetunion, die für sie und viele andere WILPF-Mitglieder anfangs ein Vorbild im Kampf für soziale Gerechtigkeit gewesen war. Auch wenn keine der prominenten wilpf-Vertreterinnen Mitglied der kommunistischen Partei ihres Heimatlandes war, zeigten viele von ihnen während der Zwischenkriegszeit in unterschiedlichem Maß Interesse am sowjetischen »Experiment«. Catherine Foster, ehemalige Leiterin der Abteilung für Rechtsfragen, brachte die Geschichte der Organisation zu Papier und erklärte: »Jane Addams war fest davon überzeugt, dass es ohne soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit keinen Frieden geben konnte, und die Aufnahme dieses Aspekts in das allgemeine Programm der WILPF ist ihr und anderen Streiterinnen für umfassende soziale Reformen unter den Gründungsmitgliedern der Frauenliga zu verdanken.«22 Durch ihr Eintreten für soziale, wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit mutmaßlichen und tatsächlichen Kommunisten zur Verfolgung dieses Ziels geriet Jane Addams ins Visier der politischen Rechten, die in jeglicher Aktivität mit klassenkämpferischem Gestus eine subversive Gefahr sah. Die amerikanischen Konservativen brandmarkten die Internationale Frauenliga in den 1920er Jahren als »Yellow-Pacificist-Internationalist-Pro-German Organization« und stellten die Verbindungen der beiden Leiterinnen der US-amerikanischen Sektion, Jane Adams und Emily Greene Balch, zu »radikal-kommunistisch-subversiven« Gruppen wie der American Civil Liberties Union, dem National Council for the Prevention of War und auch dem (als »US-sowjetisch« titulierten und seit 1919 eingestellten) People’s Council of America heraus.23
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Ellen Wilkinson, Besprechung von »Women Must Choose« von Hilary Newitt, The Daily Herald vom 20. 6. 1937. Catherine Foster, Women for All Seasons. The Story of the Women’s International League for Peace and Freedom, Athens 1989, S. 14. Allen F. Davis, American Heroine. The Life and Legend of Jane Addams, Oxford 1973, S. 263–264.
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Nicht nur der rechte Flügel der US-Konservativen hegte antikommunistische Ängste vor mutmaßlichen Verbindungen zwischen pazifistischen und antifaschistischen Organisationen und der Komintern. Auch in Großbritannien war die Arbeiterbewegung zu Beginn der 1930er Jahre zusehends besorgt, dass demokratische Organisationen unter sowjetischen Einfluss gerieten. 1933 veröffentlichte die Labour Party gemeinsam mit dem Dachgewerkschaftsverband eine Broschüre mit dem Titel »The Communist Solar System«. Das Titelblatt zeigt eine »kommunistische« Sonne, um die mehrere (zumeist internationale) Organisationen kreisen. Die Broschüre enthält Kurzdarstellungen von 13 »verdächtigen« Organisationen.24 Die meisten davon waren mit dem Ziel gegründet worden, eine demokratische Opposition gegen den Faschismus aufzubauen, etwa das Relief Committee for the Victims of German Fascism, das British Anti-War Movement und das Anti Fascist Movement.25 Britische WILPF-Aktivistinnen, insbesondere Ellen Wilkinson, Gründungsmitglied des Women’s Committee against War and Fascism, engagierten sich in allen genannten Organisationen. In Frankreich verstrickte sich indes Gabrielle Duchêne immer tiefer in ihr eigenes Netz aus kommunistisch angehauchten Organisationen. Die gesamte Dokumentation zu ihrem Wirken, die sich in der Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine in Paris befindet, enthält (neben einer Fülle von Unterlagen aus den langen Jahren, in denen sie an der Spitze der französischen Sektion der Internationalen Frauenliga stand) unter anderem Material zu ihren Verbindungen mit dem Comité international d’aide aux victimes de fascisme hitlérien, dem Comité mondial contre la guerre et le fascisme und den assoziierten Frauenverbänden sowie zur Internationalen Konferenz für Demokratie, Frieden und Menschenwürde, auf der eine militärische Allianz zwischen Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion befürwortet wurde. In all diesen Komitees, Konferenzen und Organisationen arbeiteten Kommunisten mit überzeugten Demokraten zusammen, darunter auch mit den 24 25
Siehe http://www.abelard.org/socialism/communist_solar_system.php [6. 5. 2015]. LP /ID /CI/8/43. Labour Party Archives, People’s History Museum, Manchester, UK.
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oben angeführten Delegierten der Internationalen Frauenliga. Françoise Blum, die an der Archivierung des Materials zu Gabrielle Duchêne mitgearbeitet hat, stellt fest, dass Duchêne im Lauf der 1930er Jahre zunehmend zu einer Sympathisantin der Partie communiste français (PCF) geworden war. Emmanuelle Carle hingegen postuliert eine ungleich komplexere Beziehung zwischen Duchênes feministischen und antifaschistischen Positionen und ihrer positiven Haltung gegenüber der Sowjetunion, misst der feministischen Weltsicht größeres Gewicht bei und schreibt Duchêne auch einen höheren Eigenanteil an der Formulierung ihres antifaschistischen Programms zu.26 Die meisten der antifaschistischen Organisationen (in denen viele WILPF-Frauen aktiv waren) stellten in ihren Flugblättern, Broschüren und Berichten auf das Bekenntnis zu einem universalistischen Ideal der Menschenrechte ab. So etwa beginnt ein Appell des Relief Committee for the Victims of German Fascism, Sektion Manchester, mit der folgenden Einleitung: »Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit Hitler in Deutschland sein Terror-Regime errichtet hat. Deutsche im In- und Ausland erleiden Not und Elend in einem Ausmaß, das in der Geschichte der Menschheit kaum seinesgleichen kennt. […] Die Konzentrationslager und Gefängnisse sind voll. […] Die einzige Anklage, die man gegen die meisten der Insassen vorbringt, ist, dass sie eine andere Meinung haben als die repressive faschistische Führungsspitze. Betroffen sind Liberale und Sozialisten, Pazifisten und Kommunisten, Juden und Nichtjuden gleichermaßen. Wir können vor der herzergreifenden Notlage dieser Unglücklichen und ihrer Angehörigen nicht die Augen verschließen. Es ist zweifellos die Pflicht aller rechtschaffenen Männer und Frauen, eines jeden mit menschlicher Regung, hier Hilfe zu leisten.«27 Das Bekenntnis zur Verteidigung der individuellen Freiheiten mag viele Mitglieder der Frauenliga dazu bewegt haben, sich weg vom »integralen«, absoluten Pazifismus hin zu einem eher »realisti26
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Blum, »D’une guerre à l’autre«, S. 240. Emmanuelle Carle, »Women, AntiFascism and Peace in Interwar France. Gabrielle Duchêne’s Itinerary« in: French History 18 (2004) 3, S. 291–314. LP /ID /CI /29/7i.
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schen« Pazifismus zu bewegen, der zur Verteidigung der Demokratie gegen den Faschismus auch den Einsatz von Gewalt akzeptierte.28 Wenn Pazifismus nicht als unerlässliche Voraussetzung für die Verhinderung eines Krieges definiert werde, sondern als Notwendigkeit, das Individuum vor Gewalt zu schützen, dann, so die gedankliche Konstruktion, sei ein Krieg zum Schutz der Menschen vor staatlich geförderter Gewalt nicht nur zu rechtfertigen, sondern geradezu ein moralischer Imperativ. Mit umständlichen Worten beschreibt der britische Historiker Martin Ceadel diesen Standpunkt als »pazifizistisch« im Gegensatz zu einer nur »technisch pazifistischen« Haltung.29 In Großbritannien sprach sich Ellen Wilkinson für eine Zusammenarbeit mit den von Kommunisten angeführten Massenbewegungen aus, die sich seit 1933 gegen den Faschismus einsetzten. Unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs wandte sie sich 1936 von ihrem langjährigen Bekenntnis zum absoluten Pazifismus ab.30 Zur US-Bürgerin Emily Balch wird auf der offiziellen Internetseite zum Friedensnobelpreis vermerkt, dass »die Exzesse des Nationalsozialismus [sie] dazu bewogen, ihr entschiedenes Eintreten für den Pazifismus aufzugeben und im Zweiten Weltkrieg die ›grundlegenden Menschenrechte mit dem Schwert in der Hand zu verteidigen‹«.31 Das Verständnis dieser Denkweise, die der Mehrheit der WILPF-Mitglieder zu eigen war und die Organisation dazu bewog, in der gesamten Zwischenkriegszeit weiter den ursprünglichen supranationalen Weg zu beschreiten und als einheitliches Organ gegen den Faschismus zu kämpfen, liefert wertvolle Antworten auf die Frage, warum so viele WILPF-Mitglieder sich
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Die Unterscheidung zwischen »integralem« und »realistischem« Pazifismus ist gängig in der Literatur über den französischen Pazifismus. Sie wurde erstmals von Gabrielle Duchêne in einem Vortrag formuliert, den sie 1936 über die »beiden Arten des Pazifismus« hielt. Sian Reynolds, France between the Wars. Gender and Politics, New York 1996, S. 197–198. Martin Ceadal, Pacifism in Britain 1914–1945. The Defining of a Faith, Oxford 1980. Richard Overy, The Morbid Age. Britain and the Crisis of Civilization, 1919–1939, London 2009, S. 332. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1946/balchbio.html [18. 4. 2015].
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in jener Epoche den Massenbewegungen gegen den Faschismus anschlossen. Dabei tritt auch die längere Geschichte des westlichen demokratischen Humanismus in der Zwischenkriegszeit zutage, und es lassen sich Verbindungen zwischen den Entwicklungen jener Epoche und der Begeisterung für das Thema der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg herstellen. Emily Greene Balch wurde 1946 mit dem Friedensnobelpreis geehrt und sprach in ihrer Dankesrede von ihrem lebenslangen Einsatz für die universellen Grundsätze der Menschenrechte, vom Weg zur Überwindung des Nationalismus und zu einer einigen Menschheit. Zwar war die bei Kriegsende 78-Jährige nicht aktiv an der Bildung der Vereinten Nationen beteiligt, doch setzte sie sich bis zu ihrem Lebensende für die internationale Kontrolle der Luftstreitkräfte und einen internationalen Status der Polargebiete ein. In einer neueren Studie zu ihrem Wirken heißt es: »Sie wünschte sich stärkere Vereinte Nationen und mehr internationale Gremien. Der Weg zum Frieden verlief für sie über das Bekenntnis zu einer globalen Staatsbürgerschaft.«32
Die Rekonzeptualisierung des demokratischen Internationalismus in der Zwischenkriegszeit Eine Untersuchung der nicht kommunistischen Frauen (und Männer), die sich in den 1930er Jahren im Kampf gegen den Faschismus engagierten, liefert ein schärfer konturiertes Bild des Internationalismus in der Zwischenkriegszeit, als es die gegenwärtige historiografische Fokussierung auf den Völkerbund vermag, und verdeutlicht den Zusammenhang zwischen den damaligen Aktivitäten und den nach dem Zweiten Weltkrieg erhobenen Forderungen nach einer Veränderung der internationalen Mechanismen. Die meisten in diesem Zusammenhang relevanten Studien konzentrieren sich auf den Völkerbund und die zahlreichen Institutionen, die im Zeitraum 1920 bis1930 zumeist auf nationaler Ebene gegründet wurden, um 32
Kristen Gwinn, »Peace is too Small a Word. The Life and Ideas of Emily Greene Balch«, Dissertation, George Washington University, Washington D. C. 2008, S. 335.
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dessen Ziele zu unterstützen oder ihn zur Verstärkung seiner Aktivitäten zu bewegen.33 Die Frauen und Männer, die sich hier engagierten, waren in der Regel aufrichtige Pazifisten, denen die aufkeimende faschistische Kriegslüsternheit in Deutschland und Italien zuwider war. Doch allzu oft blockierten sie sich auch selbst mit ihrem Beharren auf diplomatischen Kanälen und ihrer Achtung der nationalen Souveränität (ganz zu schweigen von ihren Ängsten vor einer Zusammenarbeit mit Sowjetrussland). Die nationalen und internationalen Volksfront-Bewegungen, deren Anhänger in ihrem Widerstand gegen den Faschismus die politischen Gräben zwischen Demokraten und Kommunisten in ihrem Heimatland zu überbrücken suchten, sind seit den 1980er Jahren kein sehr beliebter Forschungsgegenstand mehr.34 Zwei Biografien neueren Datums zu Komintern-Akteuren haben dem Eindruck Vorschub geleistet, alle Komintern-Aktivitäten seien von Moskau gesteuert worden. Sean McMeekin zitiert in seiner Münzenberg-Biografie dessen Aussage, viele seiner »Frontgruppen« seien »Klubs der Unschuldigen«, lauter naive Intellektuelle, denen nicht klar sei, dass sie Befehlsempfänger der Komintern waren. Er zitiert Münzenberg, der 1927 mit Blick auf die Konferenzteilnehmer der neugegründeten Liga gegen den Imperialismus zu einem Kollegen sagte: »Diese Leute glauben, sie würden das tatsächlich selbst tun. Dieser Glaube muss um jeden Preis bewahrt werden.«35 Nicht nur Münzenberg verachtete die Nichtkommunisten, mit denen er zusammenarbeitete, sondern auch seine »rechte Hand« Otto Katz.36 Doch die Komintern unterschätzte die Menschen, die sie als Werkzeug zu nutzen gedachte. Wie McMeekin belegt, waren die Männer und Frauen, die sich gegen Imperialismus und Faschismus engagierten, durchaus zur Beteiligung an moskaugesteuerten Akti33
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Daniel Gorman, The Emergence of International Society in the 1920s, Cambridge 2012; Helen McCarthy, The British People and the League of Nations. Democracy, Citizenship and Internationalism, c.1918–45, Manchester 2011. Die wegweisende Studie zu dieser Gruppe bleibt nach wie vor: David Caute, The Fellow-Travellers, Erstveröffentlichung 1977. McMeekin, Millionaire, S. 197. Jonathan Miles, The Dangerous Otto Katz. The Many Lives of a Soviet Spy, New York 2010.
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vitäten bereit, solange die lenkende Hand der Komintern nicht zum eisernen Griff wurde und man sich mit den Kommunisten im Widerstand gegen die imperialistischen und faschistischen Kräfte einig war. Der Führer der Independent Labour Party Fenner Brockway, dessen Frau zu den Erstunterzeichnerinnen des eingangs erwähnten Appells der Frauen gegen den Faschismus gehörte, übersandte den Leitern der Sozialistischen Arbeiterinternationale (in deren Exekutivausschuss er tätig war) nach der Brüsseler Gründungskonferenz der Liga gegen den Imperialismus im Jahr 1927 ein Schreiben, in dem er ihnen versicherte, seine Partei sei sich des Anteils der Kommunisten an der Gründung der Liga durchaus bewusst: »Sie haben finanzielle Ressourcen, die uns nicht zur Verfügung stehen.« Dennoch sei der Verlauf der Konferenz »keineswegs in kommunistischer Manier« erfolgt und das Anliegen habe die volle Unterstützung seiner Partei. Die in der Konferenz vertretenen Organisationen, darunter auch der Indian National Congress, gehörten »zu den wichtigsten Faktoren für die zukünftige Entwicklung der Welt, und wir sollten sie in ihrem Kampf gegen den Imperialismus nicht allein lassen«.37 Ähnlich äußerte sich auch Ellen Wilkinson auf einer Veranstaltung zur Unterstützung des Hilfskomitees für die Opfer des deutschen Faschismus. Sie sei »selbst zwar keine Kommunistin, sehe aber keinen Grund, warum Kommunisten sich nicht beteiligen sollten. Wenn ein Mann hier seine Mitarbeit anbiete, werde sie ihn nicht nach seiner politischen Auffassung fragen.«38 Die Studien zu einzelnen Männern und Frauen, die sich in der Zwischenkriegszeit an internationalen antifaschistischen Aktivitäten beteiligten, beleuchten am besten, wie diese den Kampf zur Verteidigung der Menschenrechte in dieser Epoche verstanden. Emmanuelle Carles hat sich intensiv mit Gabrielle Duchênes Bemühungen befasst, eine Brücke zwischen dem liberalen Feminismus und dem Antifaschismus zu schlagen, und Matt Perry untersuchte Ellen Wilkinsons Bestreben, die sozialistische und kommunistische »Arbei-
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Fenner Brockway an Friedrich Adler, 8. April 1927 und 30. August 1927, Labour Party Archives LP/ID/CI/36/5iv-5v. Letztlich gab Brockway seine Führungsposition in der neugegründeten Liga auf, um seine Beziehungen zur Sozialistischen Arbeiterinternationale nicht zu gefährden. The Manchester Guardian vom 31. 7. 1933, S. 11.
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terbewegung und die Frauenbewegung in transnationale Netzwerke einzubinden«.39 Ein Beispiel dafür ist ihre Rede zur Unterstützung des Hilfskomitees für die Opfer des deutschen Faschismus im Mai 1933, in der sie den Standpunkt zurückwies, der nationalsozialistische Terror sei allein ein deutsches Problem: »Man hört hier, selbst von den Führern der eigenen Arbeiterbewegung, dass solche Dinge, wie sie sie sich Deutschland zutragen, in England niemals geschehen könnten, denn ›Engländer tun so etwas nicht‹«. Sie selbst habe 1921 die Gräueltaten der paramilitärischen »Black and Tans« in Irland erlebt und im letzten Sommer in Indien gesehen, was in der Grenzregion North Western Frontier vor sich gehe. Sie sei ganz und gar nicht sicher, dass die Engländer »so etwas nicht tun«.40 Die Verknüpfung der Zustände in Deutschland mit dem Geschehen in Irland und Indien ermöglichte es Wilkinson, einen Bogen vom antikolonialistischen zum antifaschistischen Engagement zu schlagen. Diesen klaren Blick auf rassistisch motiviertes Unrecht teilten viele der Menschen, die Susan Pennybacker in ihrer Studie »From Scottsboro to Munich« porträtiert. Sie konzentriert sich auf die Lebensgeschichten und die einander überlappenden Netzwerke einer Gruppe von Menschen, die sich in den 1930er Jahren gegen Rassendiskriminierung einsetzten. Das Bekenntnis zu universaler Toleranz gegenüber anderen ethnischen Gruppen ermöglichte es ihnen, einen Zusammenhang zwischen den Todesurteilen gegen schwarze Jugendliche wegen angeblicher Vergewaltigung in Scottsboro (Alabama), der Verfolgung von indischen Gewerkschaftern durch die britischen Kolonialherren und der Judenverfolgung in Hitlerdeutschland zu erkennen.41 In einem pessimistischen Ausblick beklagt Pennybacker, dass in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg weder dem europäischen Kolonialismus noch der Rassendiskriminierung ein Ende gesetzt worden sei. Doch sie hätte ihren Blick ebenso gut auf die zwar unvollständigen, aber Matt Perry, »In Search of ›Red Ellen‹ Wilkinson Beyond Frontiers and Beyond the Nation State«, in: International Review of Social History, DOI: http://dx.doi.org/10.1017/S0020859013000151, S. 9–10. [18. 4. 2015]. 40 Bericht der Konferenz des Komitees zur Unterstützung der Opfer des deutschen Faschismus, LP/ID/CI/26/6iii-6iv. 41 Susan Pennybacker, From Scottsboro to Munich. Race and Political Culture in 1930s Britain, Princeton 2009. 39
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doch sehr bedeutenden Fortschritte richten können, die mit der Gründung von UNO und UNESCO, der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Einrichtung einer UNO -Menschenrechtskommission erzielt wurden. Diesen optimistischeren Blickwinkel greift Glenda Sluga in ihrer Untersuchung der Geschichte des Internationalismus auf und stellt fest, dass in den 1940er Jahren die »utopischen Gebote« eines Weltbürgertums des 19. Jahrhunderts »plötzlich für einen kurzen Moment« wieder auf die politische Agenda gerückt seien.42 Sie sieht in der Begeisterung für den Universalismus nach dem Zweiten Weltkrieg einen klaren Bruch mit der Zwischenkriegsepoche, in der sich eine neue liberale, auf dem Nationalstaat basierende Theorie des Internationalismus herausgebildet hatte. Der kosmopolitische »Antinationalismus« hingegen war ihrer Ansicht nach vornehmlich im »Kommunismus und Anarchismus« beheimatet sowie bei Menschen, die auf der Suche nach Arbeit regelmäßig Grenzen überquerten.43 Zwar habe der kosmopolitische beziehungsweise universalistische Internationalismus weiterhin bestehen können, doch sei er deutlich anderer Natur gewesen als der »Mainstream-Internationalismus«, den sich die Aktivisten und Politiker in liberalen Demokratien auf die Fahnen schrieben. Daniel Gorman wiederum sieht in seiner Studie »The Emergence of International Society in the 1920s« keinen so trennscharfen Unterschied zwischen dem liberalem Internationalismus und dem kommunistischen Kosmopolitismus, wobei er durchaus postuliert, dass der Sieg der alliierten Mächte 1919 zwar zur »Intensivierung eines transatlantisch zentrierten Internationalismus« geführt habe, wie er sich im Völkerbund und anderen internationalen Organisationen manifestierte, doch andererseits habe die russische Revolution 1917 eine andere, westliche Form des Internationalismus aus der Taufe gehoben. Gleichwohl stellt er fest, dass die Anhänger des Internationalismus in der Zwischenkriegsepoche, ob Sozialisten oder Liberale, ganz unterschiedlich ausgerichtet gewesen seien: »Einige von ihnen strebten nach einer Verbesserung der zwischen42 43
Glenda Sluga, Internationalism in the Age of Nationalism, Philadelphia 2013, S. 44, 80–81. Ebenda S. 18.
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staatlichen Beziehungen. Diese reformorientierten Internationalisten wollten ein umfassendes friedfertiges internationales System aufbauen. Andere hatten idealistischere Zielsetzungen und suchten über das internationale System hinaus nach kosmopolitischen Formen des menschlichen Zusammenlebens. Beide Spielarten des Internationalismus waren in den 1920er Jahren verbreitet.«44 Gormans Studie konzentriert sich vor allem auf die erstgenannte Gruppe, doch er wirft auch einen Blick auf die in den Zwischenkriegszeiten aktive »radikale Minderheit« derjenigen Internationalisten, die supranationale Lösungsansätze für weltumfassende Probleme favorisierten. Am Beispiel der Vereinigten Staaten kommt er hier auf zwei WILPF-Gründungsmitglieder zu sprechen, nämlich Lola Maverick Lloyd und Rosika Schwimmer. Der Werdegang der Mitglieder der Internationalen Frauenliga in der Zwischenkriegszeit und nach 1945 macht einige der Verbindungen zwischen dem liberalen Antifaschismus und der Menschenrechtsagenda deutlich, der sich unmittelbar nach dem Weltkrieg immer mehr Politiker und Aktivisten verschrieben. Etliche WILPFMitglieder engagierten sich in der Nachkriegszeit stark für die Menschenrechte, darunter auch Frauen aus den Entwicklungsländern. (Die Organisation war zwar von westlichen Frauen dominiert, fand wegen ihrer vergleichsweise radikalen Standpunkte und des Bekenntnisses zum Antikolonialismus aber auch großen Zuspruch unter Feministinnen aus anderen Regionen der Welt.45) Die schwedische Feministin Alva Myrdal leitete 1949 für ein Jahr den Sozialausschuss der UN-Menschenrechtskommission. Sie arbeitete mit der indischen Delegierten Hansa Mehta zusammen, die 1945 zur Präsidentin der All India Women’s Conference gewählt wurde und auch Mitglied der indischen WILPF-Sektion war. Hansa Mehta spielte eine zentrale Rolle bei der Ausformulierung der 1948 verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie kämpfte 44 45
Gorman, Emergence, S. 6–7. Marie Sandell, »A Real Meeting of the Women of the East and West. Women and Internationalism in the Interwar Period«, in: Daniel Laqua (Hg.), Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements Between the World Wars, London 2011, S. 187–208; auf S. 175 wird auf die Sonderstellung der WILPF unter den Frauenorganisationen im Hinblick auf die Kolonialismuskritik hingewiesen.
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beharrlich, letztlich aber vergeblich für die Stärkung der Menschenrechtskommission, wollte erreichen, dass nicht nur Staaten, sondern auch Einzelpersonen vor diesem Gremium Beschwerden erheben konnten und dass die Menschenrechtskommission aktiv auf solche Beschwerden reagieren konnte; darüber hinaus forderte sie die Ergänzung der UN-Charta um eine Menschenrechts-Charta.46 Ellen Wilkinson spielte als erste Erziehungsministerin in der Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle beim Aufbau der UNESCO; sie war Vorsitzende der UNESCOGründungskonferenz in London im November 1945 und wirkte bis zu ihrem Lebensende aktiv in der Organisation mit. Samuel Moyn hat eine heftige Kontroverse mit seiner These ausgelöst, die 1948 proklamierte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und das in der Nachkriegszeit häufig geäußerte rhetorische Bekenntnis der Vereinten Nationen zu einer Grundrechtsagenda seien keineswegs als entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der Menschenrechte zu verstehen: »Wichtig ist, was die Menschenrechte seinerzeit nicht waren. Sie waren keine Reaktion auf den Holocaust und zielten auch nicht darauf ab, fürchterliche Kriegsgräuel zu verhindern. Nur selten wurde auf ihrer Grundlage die staatliche Souveränität grundsätzlich infrage gestellt. Und vor allem wurde den Menschenrechten damals auch noch nicht so viel Bedeutung beigemessen.«47 Moyn hat insoweit recht, als sich auf der institutionellen Ebene der Vereinten Nationen keine die Staatssouveränität überwindende Menschenrechtsagenda herausgebildet hat, weder nach 1945 noch heute. Und wenn der Prüfstein für ein Ideal in der Anzahl der Menschen besteht, die sich ihm verschreiben, ist festzustellen, dass Organisationen wie Amnesty International oder Helsinki Watch seit Ende der 1970er Jahre erheblich mehr Unterstützung aus der Bevölkerung erhalten haben als die antifaschistischen Bewegungen in den 1930er Jahren. Aber dass es den Antifaschisten nicht gelang, Édouard Daladier, Neville Chamberlain oder
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Glenda Sluga, »›Spectacular Feminism‹. The International History of Women, World Citizenship and Human Rights«, in: Francisca de Haan u.a. (Hg.), Women’s Activism: Global Perspectives from the 1890s to the Present, Abingdon 2013, S. 44–58, hier: S. 49ff. Moyn, The Last Utopia, S. 47.
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die Völker, die diese vertraten, davon zu überzeugen, dass die in einer Demokratie lebenden Menschen dazu verpflichtet sind, die Rechte anderer Menschen »in einem weit entfernten Land […], von dem man nichts weiß« zu verteidigen, sollte die Aufrichtigkeit ihrer Intentionen nicht infrage stellen. Das Engagement, mit dem sich antifaschistische Männer und Frauen wie die WILPF-Mitglieder nach dem Zweiten Weltkrieg daran machten, durch die Gründung von Organisationen wie der UNESCO ein Bewusstsein für die Menschenrechte und für ein Weltbürgertum zu verankern, war die Fortsetzung ihres Strebens nach Wahrung und Verstärkung der demokratischen Rechte im Angesicht der faschistischen Bedrohung. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
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Demokratie und Korporatismus
Andrea Rehling
Demokratie und Korporatismus – eine Beziehungsgeschichte
Spätestens seit der Französischen Revolution von 1789 stand die Frage, wie »das Volk« am Regieren zu beteiligen sei, in Europa und den USA auf der politischen Agenda. Die Demokratie war eine Antwort auf diese Frage, die konstitutionelle Monarchie eine andere. Unterhalb der Ebene der Staatsform stellte sich das Problem, ob »das Volk« an der politischen Entscheidungsfindung direkt oder indirekt mitwirken sollte. Und wenn indirekt, wie sollte der Repräsentationsmodus ausgestaltet sein: auf der Grundlage von Partei-, Gruppen- oder Berufszugehörigkeit? Sollten auch Repräsentantinnen zugelassen werden? Und wodurch sollte der Repräsentant oder die Repräsentantin legitimiert sein: durch Wahl, Ernennung oder Kooptation? Damit eng verknüpft war schon früh die Frage, wie die Qualifikation für das Amt des Repräsentanten sein sollte. Auf keine dieser Fragen gab es nur eine Antwort. Sie wurden in verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten und in verschiedenen Konstellationen unterschiedlich beantwortet. Der Korporatismus oder Tripartismus, die Beteiligung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Formulierung von Politik, war eine Variante. Sie sollte die »Produktivkräfte der Gesellschaft« privilegiert in den politischen Prozess einbinden. Der Repräsentationsmodus basierte in der Regel auf der Berufszugehörigkeit oder einer allgemeineren Klassenzuordnung. Grundsätzlich ging es darum, soziale Konflikte durch Partizipationsangebote zu reduzieren und die Integration der Gesellschaft zu erhöhen. So sollte die »Soziale Frage«, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur alle industrialisierten
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Gesellschaften beschäftigte, beantwortet werden.1 Gleichzeitig sollte der Spezialisierungsgrad, den das Regieren in einer funktional differenzierten Gesellschaft zu erfordern schien, durch die Einbindung der von der Gesetzgebung betroffenen Experten optimiert werden. Diese Hochschätzung des praktischen Erfahrungswissens in teilweise expliziter Abgrenzung vom theoretisch-intellektuellen Wissen war von einer Einstellung geprägt, die Gerald D. Feldman als »Fachleuteideologie«2 umschrieben hat, der durch einen allgemeinen, sehr verbreiteten Antiintellektualismus Vorschub geleistet wurde.3 Durch die Einbindung der Praktiker sollte außerdem die Zufriedenheit mit politischen Entscheidungen verbessert und dadurch die Integration der Gesellschaft, die zwischenzeitlich zu einem Kernbereich politischen Handelns aufgestiegen war, erhöht werden. Der Korporatismus sollte also abstrakt gesprochen zivilgesellschaftliche Akteure in den Prozess der politischen Entscheidungsfindung einbinden. Seine Funktionszuschreibung beinhaltete sowohl eine Bottom-up- als auch eine Top-down-Perspektive auf Regieren und Integration. Die Gewichtung beider Aspekte entschied bei der Institutionalisierung korporativer Gremien über das Verhältnis des Korporatismus zur Demokratie und war bestimmend für seine Beziehung zum Parlament und zur Regierung. Es ist deshalb sinnlos, Korporatismus als demokratisch oder undemokratisch zu klassifizieren. Sein Verhältnis zur Demokratie ist komplexer: Beider Geschichten sind als Versuche, die Partizipation des Volkes an Politik und am Regieren zu erhöhen, eng mit-
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Zu den Schwierigkeiten der Kolonien und »rückständigen« Staaten vgl. u.a. Madeleine Herren, »Global Corporatism after the First World War – the Indian Case«, in: Sandrine Kott/Joëlle Droux (Hg.), Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and Beyond, New York 2013, S. 137–152. Gerald D. Feldman, »Die Freien Gewerkschaften und die Zentralarbeitsgemeinschaft: 1918–1924«, in: Heinz Oskar Vetter (Hg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung, Köln 1975, S. 241. Ulrich Prehn, »Deutungseliten – Wissenseliten. Zur historischen Analyse intellektueller Prozesse«, in: Karl Christian Führer/Karen Hagemann/Birthe Kundrus (Hg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 42–69.
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Demokratie und Korporatismus
einander verwoben, sie folgen zeitweise verschlungenen Pfaden, die sich aber auch voneinander trennen und abbrechen konnten, abhängig von der jeweiligen, konkreten historischen Konstellation. Eine Feststellung, die für Historikerinnen und Historiker fast schon eine Plattitüde ist, wäre es mit Blick auf eine historische Einordnung der Demokratie und des Korporatismus nicht dringend angezeigt, auf die Offenheit und Vielschichtigkeit jeder historischen Situation noch einmal ausdrücklich hinzuweisen: Jede genealogische Zwangsläufigkeit ist einmal mehr entschieden zurückzuweisen. Außerdem ist es erforderlich, sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, dass die Beurteilung eines historischen Ereignisses oder einer historischen Konstellation im Lichte eines Ursprungs oder eines Endes, welche die grundsätzliche Offenheit der historischen Situation überstrahlen, ebenso tunlichst vermieden werden sollte, wie der implizite Vergleich mit einem internalisierten, gegenwärtigen Modell von Demokratie. Selten ist der Hinweis auf diese Selbstverständlichkeit so dringend erforderlich wie beim Blick auf die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Schon die Namensgebung des Zeitabschnitts deutet an, dass er in der Regel als strukturelles, ideelles oder zeitliches Scharnier zwischen den beiden Weltkriegen und dadurch aus der Perspektive des Davor und Danach interpretiert wird. Die Wucht der Vor- und Nachgeschichte birgt die Gefahr, alle Ereignisse in eine Flucht zu bringen und den analytischen Blick für die Offenheit der historischen Situation zu trüben. Das ist verständlich, hat aber insbesondere bei der Erforschung des Korporatismus aus der jeweiligen Blickrichtung Probleme und Widersprüchlichkeiten erzeugt, die im Folgenden aufzulösen sind. Mir erscheint es vor diesem Hintergrund äußerst reizvoll, die Ausgestaltung politischer Institutionen und Systeme in der Zeit zwischen den Weltkriegen analytisch etwas stärker aus dem Davor und Danach zu lösen, um ihnen zu mehr eigenem Recht zu verhelfen. Ich werde sie im Folgenden als Laboratorium für Institutionalisierungen in einer industrialisierten Massengesellschaft betrachten, um den experimentellen Charakter, die Ambivalenz von Vorstrukturiertheit und grundsätzlicher Offenheit jeder historischen Situation sowie ihrer Ergebnisse zu beto-
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nen.4 Aus dieser Perspektive werde ich das Verhältnis von Korporatismus und Demokratie als democracy in the making analysieren.5 Meine Überlegungen habe ich vor allem am deutschen Korporatismus entwickelt.6 Im Folgenden werde ich diese aber in einen allgemeineren, inter- und transnationalen Kontext stellen, um grundsätzliche Aussagen zum Verhältnis von Demokratie und Korporatismus in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu treffen. Zunächst gehe ich deshalb auf die Ambivalenzen und Probleme der Forschung zum Korporatismus ein, um dann auszuloten, wie die Gewichtung von Korporatismus als Antwort auf die »Soziale Frage« und als Komplexitätsbewältigung in einer »funktional differenzierten Gesellschaft« das Verhältnis von Korporatismus und Demokratie jeweils beeinflusst haben. Ich werde zeigen, dass korporative Gremien demokratisierend wirken konnten, indem sie die zivilgesellschaftlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten erweiterten. Sie konnten aber auch genutzt werden, um die Kontrolle auf die Gesellschaft zu erhöhen und Partizipation einzuschränken. Sie waren geeignet die Demokratie zu stabilisieren, konnten aber auch zu einem konkurrierenden Gegenentwurf aufund ausgebaut werden. Welche Richtung die jeweilige Entwicklung nahm, hing nicht so sehr mit dem Aufbau oder der Struktur des Korporatismus zusammen. Auch Traditionen oder Wertorientierungen waren zweitrangig. Entscheidend für das Verhältnis von Demokratie und Korporatismus war, wie die Verfahren zur Ent4
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Für meinen Institutionenbegriff vgl. Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf, »Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus«, in: dies. (Hg.), Gesellschaftliche Selbstregulierung und politische Steuerung, Frankfurt am Main/ New York 1995, S. 39–72; zu den verschiedenen Aspekten des Laboratoriums vgl. Dirk van Laak, »Kolonien als ›Laboratorien der Moderne‹«, in: Sebastian Conrad/ Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational: Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 257–279; Bruno Latour, The Pasteurization of France, Cambridge 1988. Zur Zwischenkriegszeit als demokratischem Experimentierfeld vgl. Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 17–67. Andrea Rehling, Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion, Baden-Baden 2011.
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Demokratie und Korporatismus
scheidungsfindung ausgestaltet wurden und wie hoch in der jeweiligen historischen Situation die Zustimmung zu diesen Verfahren und ihren Ergebnissen war.
Demokratie und Korporatismus in der Forschung Eine breitere Forschungsdiskussion über Korporatismus und Tripartismus setzte in den 1970er Jahren ein und ging von den Sozialwissenschaften aus. Die Politikwissenschaftler Philippe C. Schmitter, Gerhard Lehmbruch und Jack Winkler wiesen fast gleichzeitig darauf hin, dass es neben dem Pluralismus auch in demokratischen, liberalen Gesellschaften korporative Gremien gebe, die sie als »gesellschaftlichen« oder »liberalen« Korporatismus von faschistischen oder diktatorischen Varianten, welche sie als »staatlichen« oder »autoritären« Korporatismus klassifizierten, abgrenzten, um den Begriff so für die Analyse »moderner«, demokratischer Gesellschaften nutzbar zu machen.7 Dementsprechend konzentrierten sich die Analysen der Sozialwissenschaften auf die zeitgenössischen Varianten, die sie als Stabilisierungsstrategie sozialdemokratischer Regierungen in ökonomisch schwierigen Zeiten diskutierten. Sie loteten ihr Verhältnis zum Pluralismus aus, hinterfragten die Repräsentationsstandards und apostrophierten sie als Möglichkeit, Regieren durch die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure demokratischer und effizienter zu gestalten.8 Das Narrativ einer Erfolgsgeschichte der korporativen Gremien der 1970er Jahre wurde so etabliert. Die Analyse der korporativen Gremien vor 1945 übernahm die Geschichtswissenschaft. Sie analysierte den Korporatismus mehrheitlich als Teil des »Organisierten Kapitalismus« und klassifizier7
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Philippe C. Schmitter/Gerhard Lehmbruch (Hg.), Trends Towards Corporatist Intermediation, London 1979; Jack T. Winkler, »Corporatism«, in: Archives Européennes de Sociologie XVII (1976), S. 100–136. Ulrich von Alemann (Hg.), Verbände und Staat. Vom Pluralismus zum Korporatismus. Analysen, Positionen, Dokumente. Opladen 1979; ders. (Hg.), Neokorporatismus, Frankfurt am Main 1981; Rolf G. Heinze, Verbändepolitik und »Neokorporatismus«. Zur politischen Soziologie organisierter Interessen, Opladen 1981.
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ten ihn vor diesem Hintergrund als grundsätzlich undemokratisch.9 Selbst da, wo nicht so kategorisch geurteilt wurde, galt der Korporatismus mit wenigen Ausnahmen vor 1945 als antisozialistisches Stabilisierungsinstrument mit tendenziell antiparlamentarischer oder antidemokratischer Stoßrichtung.10 Gemeinsam war dem sozial- und dem geschichtswissenschaftlichen Forschungsstrang, nationale Traditionen und Pfade in ihrer Analyse stark zu machen und sie als determiniert durch eine nationale politische Kultur zu betrachten.11 Das wissenschaftliche Bild vom Korporatismus wurde dadurch insofern widersprüchlich, als einerseits Traditionslinien betont und andererseits 1945 zu einer Wasserscheide zwischen demokratischem und undemokratischem Korporatismus gemacht wurde. Dadurch stand eine Erfolgsgeschichte der Institution und ihrer Strukturen nach 1945 gleichberechtigt, aber unverbunden neben einer Erzählung ihres Scheiterns zugunsten der parlamentarischen Demokratie. Dieser Widerspruch konnte auch durch Neologismen wie »Neokorporatismus« oder 9
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Kenneth D. Barkin, »Organized Capitalism«, in: The Journal of Modern History 17 (1975), H. 1, S. 125–129; Ralph H. Bowen, German Theories of the Corporative State with Special Reference to the Period 1870–1919, New York/London 1947; Heinrich August Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974. Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975; HansJürgen Puhle (Hg.), »Kapitalismus, Korporatismus, Keynesianismus«, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), H. 2; anders Ulrich Nocken, Interindustrial Conflicts and Alliances in the Weimar Republic. Experiments in Societal Corporatism, Berkeley/Ann Abor 1979; Werner Abelshauser, »Freiheitlicher Korporatismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik«, in: ders. (Hg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987, S. 147–170; ders., »The First Post-Liberal Nation. Stages in the Development of Modern Corporatism in Germany«, in: European History Quarterly 14 (1984), H. 3, S. 285–318. Dirk Berg-Schlosser, Politische Kultur. Eine neue Dimension politikwissenschaftlicher Analyse, München 1972; Andrew Cox/Noel O’Sullivan (Hg.), The Corporate State. Corporatism and the State Tradition in Western Europe, Cambridge 1988; Peter Gerlich/Edgar Grande/Wolfgang C. Müller (Hg.), Sozialpartnerschaft in der Krise. Leistungen und Grenzen des Neokorporatismus in Österreich, Wien/Köln/Graz 1985; Peter J. Katzenstein, Corporatism and Change. Austria, Switzerland and the Politics of Industry, London 1984.
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»Korporativismus«, mit denen man versuchte, sie als genealogische Entwicklungsstadien voneinander abzugrenzen, nicht aufgelöst werden. Das änderte sich in den 1990er Jahren nur unwesentlich, als die korporativen Gremien europaweit als Stabilisierungsstrategie in ökonomischen Krisen wiederentdeckt wurden. Zwar wurde die Genealogie in den korporativen Modellen schwächer und der Schwerpunkt verschob sich vom antisozialistisch-bourgeoisen Zugeständnis zur Verhinderung einer vollständigen sozialistischen Revolution nun endgültig zur stabilisierend wirkenden Governance-Institution, mit positiven Effekten auf die Implementation politischer Entscheidungen.12 Die Varianten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden aber weiter nur selten systematisch zu denen nach 1945 in Beziehung gesetzt, obwohl kulturelle Traditionen und Pfadabhängigkeiten im Rahmen der ökonomischen Performanzforschung auf der einen und der Aufwertung der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite seit 2000 noch an Bedeutung gewannen.13 Diese Sichtweise blendet die internationalistische Tradition des Korporatismus fast vollständig aus, die in den letzten Jahren wieder
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Gerhard Lehmbruch, »Der Beitrag der Korporatismusforschung zur Entwicklung der Steuerungstheorie«, in: Politische Vierteljahresschrift 37 (1996), H. 4, S. 735–751. M. Donald Hancock, West Germany. The Politics of Democratic Corporatism, Chatham 1989; Andrew Shonfield, In Defence of Mixed Economy, Oxford/New York 1984; Wolfgang Streeck, Industrial Relations in West Germany. A Case study of the Car Industry, London 1984; ders., Social Institutions and Economic Performance, London 1992; Jukka Pekkarinen/ Matti Pohjola/Bob Rowthorn (Hg.), Social Corporatism: A Superior Economic System?, Oxford 1992; Stefan Berger/Hugh Compston (Hg.), Policy Concertation and Social Partnership in Western Europe. Lessons for the 21st Century, New York/Oxford 2002; Volker R. Berghahn/Sigurt Vitols (Hg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt am Main/New York 2006; Giuseppe Fajertag/Philippe Pochet (Hg.), Social Pacts in Europe – New Dynamics, Brüssel 2000; Jelle Visser/Anton Hemerijck, »A Dutch Miracle«. Job Growth, Welfare Reform and Corporatism in the Netherlands, Amsterdam 1997; Steven L. Kaplan/Philippe Minard (Hg.), La France, malade du corporatisme? XVIIIe-XXe siècles, Paris 2004.
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stärker in den Blick genommen wird.14 Außerdem verdeckt sie den Variantenreichtum korporativer Arrangements gerade im Verhältnis zur Demokratie vor 1945. Mit einer genealogischen Erfolgsgeschichte wird man diesen Facetten ebenso wenig gerecht wie mit einer episodischen Geschichte permanenten Scheiterns oder der Klassifikation einer Struktur als per se demokratisch oder undemokratisch. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden dem Korporatismus zwei Funktionen zugeschrieben, die in unterschiedlichen Situationen spezifisch zueinander in Beziehung gesetzt und jeweils unterschiedlich gewichtet wurden: eine stabilisierende und integrierende Wirkung auf die Probleme, welche die Soziale Frage verursachte, sowie eine Verbesserung der Qualität des Regierens in einer funktional differenzierten Gesellschaft durch die Hebung des Informationsniveaus und die optimierte Implementation politischer Entscheidungen. Das Verhältnis zur Demokratie wurde dadurch immer auch mitbestimmt.
Partizipation im korporativen Gremium als Antwort auf die Soziale Frage In gewisser Hinsicht ist der Korporatismus ein etwas vernachlässigter kleiner Bruder des Parlamentarismus. Bereits Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom Stein stellte in seinem »Politischen Testament« Überlegungen an, ob eine Repräsentation der Staatsbürger auf der Grundlage ihres Berufes nicht sinnvoll sei.15 In der politischen Romantik Europas wurde der Korporatismus dann als Alternative zum als defizitär empfundenen Parlamentarismus diskutiert. Das als Nation gedachte Volk sollte am politischen Prozess partizipieren können. Diese Forderung war spätestens nach der Fran14
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Madeleine Herren, Internationale Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Die Anfänge europäischer Kooperation aus der Sicht Frankreichs, Berlin 1993; Daniel Maul, Menschenrechte, Entwicklung und Dekolonisation – Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) 1940–1970, Essen 2007; Sandrine Kott/Joëlle Droux (Hg.), Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and Beyond, New York 2013. Franz Josef Dotzenrath, Wirtschaftsräte und die Versuche ihrer Verwirklichung in Preußen-Deutschland, Düsseldorf 1933, S. 3.
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zösischen Revolution in den europäischen Gesellschaften auf die politische Agenda gerückt. Gleichzeitig hatten die revolutionären Entwicklungen eine gewisse Massenskepsis entstehen lassen, die nur eine repräsentative Beteiligung denkbar werden ließ. Um diese zu verwirklichen, musste ein geeigneter Repräsentationsmodus gefunden werden. Im Fall des Parlamentarismus sollte dieser Modus auf demokratischen Wahlen der Staatsbürger basieren,16 während korporatistische Konzepte die Repräsentation auf Grundlage des Berufs, also der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Funktion, für sachlicher und vernünftiger hielten. Den Vertretern der politischen Romantik erschienen die Mehrheiten des Parlamentarismus als zufällig und für Verführungen anfällig. Der Korporatismus sollte dazu einen Gegenentwurf liefern, um in der antidemokratischen Variante das Parlament zu ersetzen oder in der demokratischen Varianten als dessen Ergänzung seine Defizite zu kompensieren und politische Entscheidungen sachlicher zu machen.17 Wie bereits erwähnt, wurden korporatistische Konzepte auch international diskutiert. Nach 1918 entwickelten sie sich zwischenzeitlich sogar zu einem regelrechten internationalen Standard.18 Insgesamt ging es darum, in der Wirtschaft einen Ersatz für die Ständeordnung zu schaffen, die als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und Ordnungsprinzip zunehmend von der Klassengesellschaft abgelöst wurde. Letztere schien als Gemeinwesen wegen des in der Zukunft zu erwartenden Klassenkampfes permanent durch Desintegration in ihrer Existenz bedroht zu sein.19 Um eine solche Ent-
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Heiko Bollmeyer, »Repräsentative Partizipation? Parlamentskonzeptionen in den Verfassungsberatungen von Weimar 1919«, in: Christoph Gusy/ Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im historischen Wandel, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 113–133. Tetsushi Harada, Politische Ökonomie des Idealismus und der Romantik. Korporatismus von Fichte, Müller und Hegel, Berlin 1988. Herren, Sozialpolitik; Kott/Droux (Hg.), Globalizing Social Rights. Gunter Gebhard/Tino Heim, »Die ›Realität‹ der Klassengesellschaft. Eine Einleitung«, in: Gunter Gebhard/Tino Heim/Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), »Realität« der Klassengesellschaft – »Klassengesellschaft« als Realität?, Münster 2007, S. 7–26; Lucian Hölscher, »Wie begrenzt ist die Sozialgeschichte? Diskutiert am Beispiel des Industrialisierungsdiskurses«, in: Man-
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wicklung zu verhindern, sollten die Berufsstände bzw. Klassen – beide Begriffe wurden oft synonym verwendet, auch weil Klasse als Repräsentationskriterium viel zu allgemein war20 – im Rahmen eines korporativen Gremiums in die politische Ordnung eingebunden werden. So sollte durch Partizipation die Zustimmung zum politischen System sowie seinen Entscheidungen erhöht und die Integration der Gesellschaft gewährleistet werden. Die Einbindung der Massen in eine Ordnung sowie ihre Beteiligung an der Formulierung von Politik schien die Antwort auf die zunehmend als Problem wahrgenommene Soziale Frage zu liefern.21 Der Korporatismus wurde im 19. Jahrhundert bereits debattiert, und erste korporative Gremien wurden in Europa schon vor dem Ersten Weltkrieg installiert, der Grad der Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Gremien und ihre Entscheidungsbefugnisse blieben aber höchst umstritten. Auf breiter Front setzte sich die korporative Einbindung der gesellschaftlichen Produktivkräfte in politische Entscheidungsprozesse erst in der Kriegswirtschaft durch, als sich die Regierungen Funktionsübernahmen durch die Verbände bei der Steuerung der Wirtschaft durch die Zusage oder das Versprechen von Partizipationsmöglichkeiten erkauften, wobei die Entscheidungsbefugnis bei den Regierungen blieb – unabhängig von deren Legitimation oder dem jeweiligen Staatssystem.22 Nach Kriegsende ließen sich die Zugeständnisse und Versprechungen nicht einfach zurücknehmen. Eine selbstbewusste, in Gewerkschaften organisierte Arbeitnehmerschaft, die sich selbst als Bevölkerungsmehrheit rezipierte, pochte zugleich angespornt und abgeschreckt durch die Revolution in Russland auf ihre Partizipation in einer demokratischen bzw. zu demokratisierenden Wirtschaft. Die
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fred Hettling u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 312–322. Vgl. Werner Conze/Gerhard Oexle/Gerrit Walther, »Stand, Klasse«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 155–284. Gerhard A. Ritter, Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998. Vgl. u.a. die verschiedenen historischen Beispiele Österreich, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Spanien und Schweden, in: Berger/Compston (Hg.), Policy Concertation.
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tripartistische Kooperation von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sollte die Gefahr des Klassenkampfes in einem Bürgerkrieg, dessen destruktive Dynamik in Russland beobachtbar schien, abwenden. Sie wurde deshalb sogar zum Teil der Friedensverhandlungen in Versailles und mündete in die Gründung einer quasi tripartistischen – die Entscheidungsmehrheit blieb auch hier bei den Regierungsvertretern – Internationalen Arbeitsorganisation im Rahmen des Völkerbundes.23 Hatte bei der Schaffung der ersten korporativen Gremien noch eine auf den Nutzen beratender Partizipation ausgerichtete Topdown-Sicht dominiert, etablierte sich jetzt parallel zum Bedeutungsgewinn der Demokratien die Bottom-up-Perspektive des Mitbestimmungsanspruchs. In einem föderalen Repräsentativsystem sollten Arbeitnehmer und Arbeitgeber Delegierte nominieren, um auf den verschiedenen politischen Ebenen, beginnend in der Kommune und endend auf der internationalen Bühne, mitbestimmen zu können. Dabei ist Mitbestimmung nicht mit Entscheidung zu verwechseln. Die Entscheidungsgewalt wurde in der Regel bei einer durch allgemeines Wahlrecht demokratisch legitimierten Regierung verortet. Die korporativen Gremien sollten bzw. mussten in der Regel vor allem beratend gehört werden. Das hing einerseits damit zusammen, dass auch den Zeitgenossen durchaus klar war, dass korporative Gremien nicht das ganze Volk repräsentierten, sondern die produktiven Kräfte privilegierten. Letzteres hielt man für vertretbar, weil einerseits der Arbeit als Beitrag zur Gesellschaft ein hoher Stellenwert beigemessen wurde und weil andererseits der spezifische Sachverstand in sozialen und ökonomischen Fragen unverzichtbar erschien. Die Partizipation der wichtigsten sozialen Gruppen sollte ebenso wie die demokratische Einbindung des Volkes durch Wahlen die Zustimmung zu politischen Entscheidungen verbessern und so möglichst ohne Zwang die Integration der Gesellschaften erhöhen. Eine Einbindung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in eine Staatsordnung konnte allerdings auch aus einer Top-down-Perspek23
Maul, Menschenrechte, S. 14–25; Olga Hidalgo-Weber, »Social and Political Networks and the Creation of the ILO. The Role of British Actors«, in: Kott/Droux (Hg.), Globalizing Social Rights, S. 17–31.
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tive und insbesondere für nicht demokratische Herrscher attraktiv sein. Denn ein föderaler Aufbau ließ sich auch in eine hierarchische Ordnung umkehren, die zusätzliche Kontrollmöglichkeiten über die aus damaliger Sicht wichtigsten zivilgesellschaftlichen Akteure versprach. Sie konnte dazu benutzt werden, gezielt Zwang auszuüben und die Gesellschaft von oben zu integrieren. Darauf griffen demokratische Staaten in Krisensituationen,24 etwa nach der Weltwirtschaftskrise 1929/31, zurück, um die Kontrolle über das Verhalten der Verbände zu erhöhen und die Implementation politischer Entscheidungen zu verbessern. Mitbestimmung wurde in solchen Situationen, die aufgrund ihres Krisencharakters zum Ausnahmezustand deklariert wurden, mit dem Verweis auf Sachzwänge und die Notwendigkeit, schnell entscheidungs- und handlungsfähig sein zu müssen, häufig eingeschränkt. Insofern ist die Ausrufung einer Krise, die nie ohne den Verweis auf hohe Dringlichkeit auskommt und die Tendenz aufweist, Handlungsoptionen als alternativlos darzustellen und so unangreifbar zu machen, immer eine Gefahr für demokratische Verfahren, die Zeit für Aushandlung und Meinungsaustausch sowie Abstimmungen benötigen. Diktaturen konnten diese Konstellationen immer wieder für sich nutzbar machen, um der eigenen Herrschaft Legitimation zu verleihen. Als Herrschaftsinstrument griffen sie dabei auch gern auf korporative Gremien zurück, deren Verfahren in der Regel so modifiziert wurden, dass Partizipation im Sinne von Mitbestimmung quasi unmöglich war und die gesellschaftlichen Akteure weitgehend auf eine beschränkte Beratungstätigkeit festgelegt wurden, welche es der Regierung ermöglichte, einseitig Informationen abzuschöpfen. Gleichzeitig wurden die Arbeitnehmer und Arbeitgeber staatlicher Kontrolle unterstellt, für deren Durchsetzung die Verbände teilweise durchaus wieder nutzbar gemacht wurden, wie beispielsweise im nationalsozialistischen Deutschland beim »organischen Aufbau der Wirtschaft«: Nachdem die Gewerkschaften ausgeschaltet und mit der Deutschen Arbeitsfront quasi eine staat24
Krise begreife ich im Folgenden als wirklichkeitsstrukturierendes und -schaffendes Wahrnehmungsphänomen; vgl. zum Krisenbegriff zuletzt u.a. Thomas Mergel, Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt am Main 2012.
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lich kontrollierte Ersatzorganisation für Arbeitnehmer ins Leben gerufen worden war, band man diese neue Organisation und die Arbeitgeberverbände über ein System von Wirtschafts- und Arbeitskammern in den nationalsozialistischen Staatsaufbau mit »Führerprinzip« ein.25 Der Grund für diese Art der Beteiligung der Verbände lag zum einen darin, sie zu nutzen, um die gesellschaftliche Kontrolle effektiver zu gestalten. Zum anderen darin, dass auch Diktaturen meinten, in der funktional differenzierten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts auf die Expertise der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in wirtschaftlichen und sozialen Fragen nicht verzichten zu können.
Partizipation im korporativen Gremium als Antwort auf die funktional differenzierte Gesellschaft In Gesellschaften, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend als arbeitsteilig organisiert und industrialisiert beschrieben, schien es zweifelhaft, dass die Kompetenzen der Politiker im Parlament ausreichten, um auf allen Gebieten sachgerechte und sachverständige Entscheidungen zu fällen bzw. entsprechende Gesetze zu erlassen.26 Schon in der Paulskirche war deshalb neben dem politischen Parlament eine Allgemeine deutsche Gewerbekammer im Gespräch gewesen, die wirtschaftspolitische Gesetze begutachten
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Rüdiger Hachtmann, »Die Deutsche Arbeitsfront im Zweiten Weltkrieg«, in: Dietrich Eichholtz (Hg.), Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte 1939–1945, Berlin 1999, S. 69–107; Eberhard Heuel, Der umworbene Stand. Die ideologische Integration der Arbeiter im Nationalsozialismus 1933–1935, Frankfurt am Main 1989, S. 358–575; Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen »Ordnung der Arbeit«, Opladen 1989, S. 63–124; Wolfgang Spohn, Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft. Die rechtliche und institutionelle Regelung der Arbeitsbeziehungen im NS-Staat, Berlin 1987. Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit (1883), Frankfurt am Main 1977; Albert Eberhard/Friedrich Schäffle, Bau und Leben des Socialen Körpers, 2 Bde., Tübingen 1896; Georg Simmel, Über sociale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen, Leipzig 1890.
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sollte.27 Insofern ist es wenig überraschend, dass die Herausbildung des modernen Korporatismus eng verknüpft ist mit einer zunehmenden Spezialisierung in der Verwaltung28 und der Entstehung sich zentralisierender, funktional differenzierter Interessenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Einbindung in und Partizipation an politischen Entscheidungen mit wachsender Vehemenz einforderten.29 Die ersten Versuche, Interessenverbände in die Formulierung von Politik und Ausarbeitung von Gesetzen einzubinden, waren auf diese Wahrnehmung erhöhter Komplexität zurückzuführen. Ein ausreichender Informationsbestand galt gemeinhin als Voraussetzung für eine erfolgreiche und fortschrittliche Politik. Die Beschaffung von Informationen war die Motivation, Experten des jeweiligen Politikfeldes beratend einzubeziehen, aber auch dafür, sich an entsprechenden internationalen Organisationen zu beteiligen.30 Letztere entwickelten sich in vielen Bereichen seit den 1880er Jahren zu Informationsbrokern und Standardisierungsagenturen. Sie sammelten statistisches Material, initiierten Informationsaustausch, verglichen Gesetze und gaben Empfehlungen. Sie 27
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»Anhang 2«, in: Ulrich Achille, Möglichkeiten und Grenzen sozialpolitischen Handelns in der Frankfurter Nationalversammlung. Die soziale Frage in den Verfassungsverhandlungen und Gesetzentwürfen der Paulskirche, Dissertation, Universität Heidelberg 1987; vgl. auch Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, Frankfurt am Main 1985, S. 245–246; Hans Jürgen Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Ursprung und Entwicklung ihrer Vorläufer im Denken und in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1961, S. 59–114. Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000. Hier der Centralverband der Deutschen, der sich für die Einrichtung eines Volkswirtschaftlichen Senats einsetzte, stellvertretend für andere Vorstöße, vgl. Henry Axel Bueck, Der Centralverband Deutscher Industrieller 1876–1901, Bd. 1, Berlin 1902, S. 180. Lutz Raphael, »Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918–1945)«, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 327–346; Lutz Raphael, »Experten im Sozialstaat«, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 231–258; Herren, Sozialpolitik.
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sahen ihre Aufgabe vor allem in der Beobachtung des Fortschrittsprozesses und den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung. Außerdem wollten sie Wissensaustausch und Wissenstransfer initiieren. Ende des 19. Jahrhunderts waren in diesen Fachorganisationen vor allem Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler sowie Fachbeamte vertreten, aber auch Arbeitgeber und wenige Arbeitnehmer. Die Teilnahme der Staatsvertreter war dadurch motiviert, dass sie die eigene Politik durch mehr Informationen und Erfahrungsaustausch optimieren wollten. Die nationalen Institutionen sollten so nach einer Anpassung an den jeweiligen »Nationalcharakter« auf den neuesten, allgemeinen Wissensstand gebracht werden. Gleichzeitig wollten sie durch eine internationale Abstimmung einer fortschrittlichen Sozialpolitik verhindern, dass sich Zugeständnisse in diesem Bereich, die aufgrund der erstarkenden Arbeiterbewegung unumgänglich schienen, zu einem »Standortnachteil« entwickelten.31 Die Einbindung der Verbände wurde in diesen Organisationen, die durchaus auch eine antisozialistische und antirevolutionäre Stoßrichtung hatten, grundsätzlich angestrebt. Die Beteiligung der organisierten Arbeiterschaft, die von den meisten Regierungen als Integrationsrisiko wahrgenommen wurde, konnte sich vor dem Ersten Weltkrieg aber nur in Ausnahmen durchsetzen. Das änderte sich erst durch die Erfahrungen in der Kriegswirtschaft, als die Staaten – Demokratien ebenso wie Monarchien – das Integrationspotenzial reformorientierter, nicht revolutionärer Gewerkschaften erkannten. Bei der Mobilisierung der Gesellschaften für den Krieg erwies sich, dass die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände durch ihre Sachkenntnis die Qualität der Entscheidungen in den Verwaltungen verbessern konnten, die sich in dieser Zeit oft erst endgültig in die wirtschaftlichen und sozialen Fachverwaltungen aufgliederten. Außerdem entlasteten sie die Verwaltung, indem sie sich an der Implementation von Entscheidungen und Gesetzen beteiligten. Sie kommunizierten neue Gesetze an ihre Mitglieder und überwachten ihre Umsetzung. Sie schienen die Gesellschaften zu durchdringen und gleichzeitig hierarchisch zu ordnen, sodass die Integration der Verbände – als Repräsentanten der Klassen als dem eigentlichen Kern industrialisierter Gesellschaften – das Regie31
Herren, Sozialpolitik.
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ren effektiver und effizienter zu machen versprach.32 Das war insbesondere dann von Interesse, wenn Staaten sich in einer Krisensituation sahen oder ein erhöhtes Kontrollbedürfnis hatten. Die Tatsache, dass sich korporative Arrangements in der Kriegswirtschaft bewährt zu haben schienen, machte sie insbesondere in der sogenannten Zwischenkriegszeit populär.33 Nach 1918 zunächst vor allem auf Mitbestimmung ausgerichtet, lockerten viele Staaten die im Krieg über die Verbände ausgeübte Kontrolle. Tripartismus galt nun als internationaler Standard in einer Demokratie, sodass die korporativen Gremien häufig als zweite, beratende Kammer neben dem Parlament in den Staatsaufbau eingegliedert wurden. Man versprach sich von der Einbindung der Betroffenen und der Sachverständigen für Wirtschaft- und Sozialpolitik eine Versachlichung der politischen Diskussion in der Demokratie.34 Diese Erwartung konnten korporative Gremien nur selten erfüllen, sie überlastete sie regelmäßig und konnte demokratiegefährdend werden. Denn die Erwartung an die Gremien war nicht nur die des Informationsaustauschs. Vielmehr wurde ein Abstimmungsprozess zwischen den Verbändevertretern – in manchen Fällen auch mit Wissenschaftlern als zusätzlicher Sachverständigengruppe – erwartet, an deren Ende eine eindeutige Empfehlung für die nach wissenschaftlichem und sachlichem Kenntnisstand richtige Entscheidung stehen sollte.35
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Charles S. Maier, »Between Taylorism and Technocracy«, in: Journal of Contemporary History 5 (1970), H. 2, S. 27–61; ders., »The Factory as Society. Ideologies of Industrial Management in the Twentieth Century«, in: J. Bullen/H. Pogge von Strandmann/A. B. Polonsky (Hg.), Ideas into Politics. Aspects of European History 1880–1950, Totowa 1984, S. 147–163; John Ronald Shearer, »Talking about Efficiency. Politics and the Industrial Rationalization Movement in the Weimar Republic«, in: Central European History (CEH) 28 (1995), H. 4, S. 483–506. James C. Scott, Seeing Like A State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven/London 1998, S. 100–102; Berger/Compston (Hg.): Policy Concertation. Herren, Sozialpolitik; Kott/Droux (Hg.), Globalizing Social Rights. Margit Szöllösi-Janze, »Politisierung der Wissenschaften – Verwissenschaftlichung der Politik. Wissenschaftliche Politikberatung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus«, in: Stefan Fisch/Winfried Rudloff (Hg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 79–100.
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Ein solcher Konsens ließ sich in der Realität aber nur in Ausnahmen finden, was wiederum als interessengeleiteter, unvernünftiger Egoismus interpretiert und als Desintegration durch Klassenkampfdenken aufgefasst wurde. Diese Diagnose wurde dazu genutzt, stärkere staatliche Kontrollen über die Verbände zu legitimieren und Mitbestimmungsrechte zu reduzieren. Diese Tendenz nahm in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu und setzte sich in der Weltwirtschaftskrise von 1929/1931 endgültig durch. Eine ähnliche Tendenz lässt sich auch für den Parlamentarismus verzeichnen. Das konnte für die Demokratie ein Problem werden, musste es aber nicht. Die entscheidende Frage an dieser Stelle war nicht so sehr eine der politischen Kultur bzw. demokratischer oder undemokratischer Traditionen und Werte. Es ging vielmehr in der konkreten entscheidungsoffenen Situation darum, wie viel Problemlösungskompetenz den demokratischen Verfahren zugetraut wurde, und damit eng verbunden, wie viel Toleranz für eine von der eigenen Position abweichende Situationsanalyse und Politik vorhanden war. Dabei spielten auch Gefühlslagen wie Ängste, Unsicherheit, Resignation, Verzweiflung, Wut, aber auch Vertrauen eine gravierende Rolle.36 Sie waren eng verknüpft mit den Erfahrungen, welche die Zeitgenossen mit den demokratischen Verfahren gemacht zu haben meinten, und mit ihren davon geprägten Vorstellungen vom Verhältnis ihres jeweiligen »Volkscharakters« zur Demokratie. Für die Frage, ob die Demokratie die Krise überstand oder nicht, spielte es eine entscheidende Rolle, wie dramatisch die Krise von den Zeitgenossen erlebt wurde: als Krise der Wirtschaft oder als Krise des Gesamtsystems. Letztere Diagnose stellte dann oft auch die Legitimation des demokratischen Staates und die Legitimität seiner Entscheidungen infrage. Sie reduzierte die Geduld gegenüber der Wirksamkeit getroffener Maßnahmen und erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass nach anderen, vermeintlich effektiveren Problemlösern gesucht wurde.37 Ein Resultat da-
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Ute Frevert, »Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?«, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–208. Dies. (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003. In Deutschland war das die Suche nach einem »Entscheider« von Konfliktsituationen, eine Rolle, die Adolf Hitler nach seiner Einsetzung als Reichs-
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von war die Zunahme von diktatorischen Regimen in Europa nach 1930.38 Die Frage nach der Effektivität demokratischer Entscheidungen entwickelte sich dabei zu einem Dauerbrenner der Kritik an demokratischer Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert insbesondere in Krisen. Die nur schwer messbare Effektivität wurde dabei meistens mit Effizienz verwechselt, wenn den demokratischen Entscheidungen vorgeworfen wurde, es fehle ihnen die Flexibilität, spontan auf Veränderungen reagieren zu können, sie bräuchten für die schnelllebige Wirtschaft zu viel Zeit und erzeugten durch diese Verzögerung grundsätzlich sachlich falsche oder verspätete Maßnahmen. Ganz abgesehen von der Frage, ob der Markt tatsächlich eine Ausnahme ist, die eine schnellere Entscheidung grundsätzlich zu einer besseren Entscheidung macht, bleibt es eine unbestreitbare historische Tatsache, dass demokratische Prozesse Zeit brauchen und zu einem gewissen Grad »unwirtschaftlich« sind. Sie lassen sich beschleunigen, werden aber per definitionem niemals so effizient sein können wie die Entscheidung eines Diktators. Insofern ist Effizienz ein fragwürdiges Kriterium, um die Qualität politischer Entscheidungsfindung zu beurteilen. Antiparlamentarischen Befürwortern des Korporatismus lieferte die Kritik an der Effizienz von Wahlen, Debatten und Abstimmungsprozessen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit die Legitimation für ihre Forderung, die Repräsentation »des Volkes« im politischen Prozess auf korporative Gremien zu beschränken.39
38 39
kanzler 1933 in der Konstruktion des Führerprinzips für sich in Anspruch nahm: Klaus Schreiner, »Politischer Messianismus, Führergedanke und Führererwartung in der Weimarer Republik«, in: Hettling u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte?, S. 237–247. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 144–145. Exemplarisch: Thomas Meyer, Stand und Klasse. Kontinuitätsgeschichte korporativer Staatskonzeptionen im deutschen Konservativismus, Berlin 1996; George L. Mosse, The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich, London 1964; Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley 1961, S. 229–231, 258; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1968, S. 199–201; Dennis Sweeney, Work,
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Ihnen schwebte ein hierarchischer Aufbau des Staates ohne Parlament vor, der Informationen für eine autoritäre Regierung besser nutzbar machen und ihre Entscheidungen schneller implementieren helfen sollte. Als Regierung konnte die Monarchie gewünscht sein, aber auch eine Diktatur, die per Akklamation als quasi demokratisches Verfahren im Amt zu bestätigen sein sollte. Debatten wurden von diesen Stimmen als Zeitverschwendung, ineffizient und als Gefährdung der gesellschaftlichen Integration erlebt, schien ihnen doch klar, dass es nur einen richtigen Weg geben könne, den es nur möglichst schnell zu finden gelte. In diesen Konstellationen wurde der Korporatismus zu einer explizit undemokratischen Institution, aus der dem Parlament insbesondere in Krisenzeiten eine gefährliche legitimatorische Konkurrenz als Volksvertretung erwachsen konnte. Es zeigt sich also einmal mehr, dass der Korporatismus nicht per se demokratisch oder undemokratisch war, sondern seine vermeintlich stabilisierende Wirkung grundsätzlich von verschiedenen Staatsformen in Dienst genommen werden konnte, auch wenn er durch seinen impliziten Partizipationsanspruch auch ex negativo auf die Demokratie und den Parlamentarismus bezogen blieb.
Fazit: Das Verfahren der Entscheidungsfindung als Gretchenfrage im Verhältnis von Demokratie und Korporatismus Was aber sagt uns diese Feststellung über die Beziehungsgeschichte von Demokratie und Korporatismus? Zunächst lässt sich festhalten, dass das Vorhandensein korporativer Gremien im institutionellen Gefüge eines Staates ebenso wenig über dessen demokratische Verfasstheit aussagt wie die Tatsache, dass es ein Parlament gibt. Ausschlaggebend für die demokratische Qualität beider InstitutioRace, and the Emergence of Radical Right Corporatism in Imperial Germany, Ann Arbor 2009; Christian F. Trippe, Konservative Verfassungspolitik 1918–1923. Die DNVP als Opposition in Reich und Ländern, Düsseldorf 1995, S. 135–149; Hartmut Wasser, Parlamentarismuskritik vom Kaiserreich zur Bundesrepublik. Analyse und Dokumentation, Stuttgart 1974, S. 75–76.
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nen ist nicht so sehr ihre Struktur oder ihr Aufbau, sondern sind vor allem die Verfahren zur Entscheidungsfindung, in die sie als Institutionen der Partizipation und Repräsentation von Volksvertretern eingebunden sein können oder nicht. Da es sich bei der Demokratie um eine Staatsform handelt, die idealerweise den Willen der Mehrheit abbildet, ist in diesem Kontext mehr Beteiligung tendenziell mit mehr Demokratie gleichzusetzen und eine Bottom-up-Struktur tendenziell als demokratischer zu bewerten. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass eine Top-down-Struktur, in welcher der Staat bzw. die Regierung die Entscheidungen im korporativen Gremium dominiert, zwangsläufig undemokratisch ist. Einer parlamentarischen Regierung die Letztentscheidungsbefugnis zuzugestehen kann gerade Ausweis demokratischer Orientierung sein. Insofern ist das Verhältnis des Korporatismus zur Demokratie komplex und vielschichtig. Seine Beurteilung bedarf in jedem einzelnen Fall einer genauen Betrachtung der Verfahren und der Beziehungen des korporativen Gremiums zur Regierung und zum Parlament. Dabei erweist sich einmal mehr, dass der Reiz der Staatsform Demokratie darin liegt, dass sie im Grunde genommen wertblind ist. Sie benötigt für ihr Funktionieren keinen Wertkonsens, sondern »nur« die Anerkennung der Verfahren, die einen Mehrheitsentscheid herbeiführen und umsetzen. Was sich zunächst niedrigschwellig und verwaltungstechnisch anhört, ist voraussetzungsvoll und emotionsbeladen. Denn im Grunde geht es darum zuzustimmen, sich an der Durchsetzung einer Entscheidung zu beteiligen, die der eigenen Auffassung zuwiderläuft, und zwar unabhängig davon, ob die demokratische Entscheidung richtig ist. Denn der Anspruch an die Demokratie kann nicht sein, richtige Entscheidungen zu erzeugen. Sie kann immer nur zu Entscheidungen führen, die von der Mehrheit für richtig gehalten werden. Das macht sie immer und grundsätzlich angreifbar. Sie braucht deshalb nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Zustimmung zu ihren Verfahren der Mehrheitsentscheidungsfindung. Die konkrete Ausgestaltung von Partizipation ist vor diesem Hintergrund fast sekundär, auch wenn ihre Gestaltung in einer Form, die den Zeitgenossen als gerecht und repräsentativ erscheint, die Zustimmung zu den durch die Institutionen getroffenen oder
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beratenen Entscheidungen erhöht. An dieser Stelle kann, wie die historische Skizze zeigt, ein korporatives Gremium der Demokratie nützen oder schaden, abhängig davon, wie sein Verhältnis zum Parlament und zur Regierung ausgestaltet wird. Für seine Beziehung zur Demokratie ist dabei ausschlaggebend, ob es genutzt wird, um Partizipationsmöglichkeiten und Meinungsvielfalt zu erhöhen oder auszuschalten. Beides ist strukturell möglich und mit Blick auf die Verfahren in gradueller Abstufung von Fall zu Fall kritisch zu gewichten. Denn spätestens an dieser Stelle kommen auch Wertorientierungen und damit die Frage, was jeweils für gerecht und repräsentativ gehalten wurde, ins Spiel. Aber während die Zustimmung zum demokratischen Verfahren eine conditio sine qua non für das Überleben von Demokratien ist, können Gerechtigkeits- und Repräsentationsstandards ohne Gefahr für die Demokratie ausgehandelt werden, solange klar ist, dass am Ende ein Kompromiss bzw. eine Mehrheitsentscheidung steht. Das zeigt der Blick auf die Erfahrungen mit der Demokratie zwischen den beiden Weltkriegen. Denn erst die Suche nach dem »einen richtigen Weg« für demokratische politische Entscheidungen und die Forderung nach einer vom »ganzen Volk« geteilten Wertorientierung sind für sie zu einer wirklichen Gefahr geworden.
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Neuer Kapitalismus und parlamentarische Demokratie Wirtschaftliche Interessenvertreter in Deutschland und Frankreich
Mit einem Schreiben vom 28. Februar 1929 an den Präsidenten Paul Löbe legte Clemens Lammers – Fraktionsmitglied des Zentrums und Vorsitzender des Enquête-Ausschusses im Reichstag1 – sein Reichstagsmandat öffentlich nieder. Lammers war in den politischen und wirtschaftlichen Kreisen der Weimarer Republik alles andere als unbekannt, sodass er damit rechnen konnte, dass sein Rücktritt einiges Aufsehen erregen würde.2 In einem Brief an den geschäftsführenden Vorstand der Zentrumspartei erklärte Lammers seinen Schritt damit, dass die Art, in der seit geraumer Zeit Parlamentspolitik betrieben werde, nicht mehr mit einer realitätsnahen Behandlung von Sachfragen zu vereinbaren sei. Nicht nur würden wirtschaftliche Probleme zu häufig allein nach politischen Gesichtspunkten beurteilt, auch müsse der einzelne Abgeordnete seine 1 2
Reichstagsausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft. So vertrat Lammers Deutschland auf der Weltwirtschaftskonferenz von 1927, war Mitglied des in Wirtschafts- und Finanzfragen beratenden Komitees des Völkerbundes in Genf, Mitglied der deutschen Delegation der Internationalen Handelskammer und Mitglied des Präsidiums des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (u.a.). Vgl. den Eintrag zu Lammers in: Deutsche Wirtschaftsführer. Lebensgänge deutscher Wirtschaftspersönlichkeiten, bearbeitet von Georg Wenzel, Hamburg/Berlin/Leipzig 1929, Sp. 1295.
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Überzeugungen der Parteidisziplin opfern. Unter diesen Bedingungen beeinträchtige die politische Tätigkeit seine außerparlamentarische Arbeit – durch einen Rücktritt von seinem Mandat erhoffe er sich die hierzu notwendige Unabhängigkeit zurückzuerlangen.3 Die Skepsis gegenüber parlamentarischer Demokratie war Ende der 1920er Jahre nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich in weiten Kreisen der Gesellschaft bekanntlich Konsens. Auch hinter Lammers’ Frustration über die Demokratie seiner Zeit und die damit verbundene politische Haltung ist dabei auf den ersten Blick jene Favorisierung autoritärer Politik zu vermuten, die in der Forschung vielfach für den Untergang der Republik verantwortlich gemacht worden ist.4 So publizierte Lammers im Mai 1933 eine Sammlung von Artikeln, die er seit 1919 an verschiedenen Stellen veröffentlicht hatte, und bekundete im Vorwort seine Freude über die »geistige Gemeinschaft«, in der seine Ansichten und das neue Regime stünden.5 Ich will im Folgenden diese und verwandte Formen der Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie in Deutschland und Frankreich in den 1920er und frühen 1930er Jahren an einer Gruppe von Akteuren untersuchen, die die demokratische Ordnung vor dem Hintergrund der Veränderungen des Kapitalismus ihrer Zeit 3
4
5
Vgl. den Artikel der Deutschen Führerbriefe vom März 1929, wiedergegeben in: Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstands der Deutschen Zentrumspartei 1926–1933, bearbeitet von Rudolf Morsey, Mainz 1969, S. 277–279. Vgl. Heinrich August Winkler, »Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 17 (1969), S. 341–371; Bernd Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Wuppertal 1978. Vgl. dagegen: Werner Plumpe, Der Reichsverband der Deutschen Industrie und die Krise der Weimarer Wirtschaft, in: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007, S. 128–157. Für Frankreich vgl. Annie Lacroix-Riz, Le choix de la défaite. Les élites françaises dans les années 1930, Paris 2006; Klaus Peter Sick, »Vom Opportunisme zum Libéralisme autoritaire. Die Krise des französischen Liberalismus im demokratischen Parlamentarismus 1885–1940«, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 66–104; Clemens Lammers, Mit altem Wollen in die neue Zeit. Unternehmertum und Arbeiterschaft, Berlin 1933, S. 4.
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betrachteten. Insbesondere handelt es sich um wirtschaftliche Interessenvertreter, die in nationalen Verbänden und internationalen Organisationen wirtschaftliche und politische Fragen diskutierten. Ich konzentriere mich dabei auf Mitglieder des 1926 von dem luxemburgischen Industriellen Emil Mayrisch angeregten Deutsch-Französischen Studienkomitees. Auf den abwechselnd in Frankreich und in Deutschland stattfindenden Treffen des Komitees hielten u.a. der damalige Vorsitzende des französischen Unternehmerverbandes Confédération générale de la production française RenéPaul Duchemin, der Präsident des französischen Zentralverbandes für Kohlebergbau Henri de Peyerimhoff, das Präsidiumsmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Hermann Bücher und Clemens Lammers Vorträge zu wirtschaftspolitischen Fragen.6 Anhand der von ihnen entwickelten Vorstellungen will ich zeigen, dass die Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie mit dem Bemühen um Reformen verbunden war, die Fragen der wirtschaftlichen und politischen Ordnung in neuer Form aufeinander bezogen. Die Reformvorschläge resultierten aus der Überzeugung, dass sowohl der überkommene Kapitalismus als auch die parlamentarische Demokratie an neue Bedingungen angepasst werden müssten und dabei insbesondere gesellschaftliche Verbände für eine stabile politische und wirtschaftliche Grundlage der modernen Gesellschaft eine zentrale Rolle spielten. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion ist die Skepsis an der parlamentarischen Demokratie von Akteuren wie Clemens Lammers neu zu bewerten. Dabei gehe ich mit Pierre Rosanvallon davon aus, dass es keine ideale, feste Formation von Demokratie gibt, sondern nur die historische Entwicklung unterschiedlicher demokratischer Konstellationen. Eine politische Gesellschaft ist demnach nie nach einer festen demokratischen Norm strukturiert, sondern weist vielmehr eine Mischung von Elementen verschiedener politischer Formen auf.7 6
7
Vgl. besonders Guido Müller, Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005; Gaby Sonnabend, Pierre Viénot (1897–1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005, S. 109–204. Vgl. Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe, Hamburg 2010; ders., La contre-démocratie. La politique à l’âge de la défiance, Paris 2006.
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Im Einklang mit dieser Beobachtung steht die durch Arbeiten von Philippe Schmitter angeregte Diskussion, ob liberale demokratische Regime im Westeuropa der Nachkriegszeit stärkere Übereinstimmungen mit autoritären Regierungsformen aufgewiesen haben, als in der Regel öffentlich wahrgenommen wurde. Insbesondere, so Schmitters These, beruhten westliche Demokratien in Europa auf korporativen Strukturen, in denen private Interessenorganisationen öffentliche Aufgaben wahrnahmen.8 Aus klassischer verfassungsrechtlicher Sicht gilt das Abgeben von öffentlichen Kompetenzen an Korporationen und intermediäre Körperschaften, wie Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, als nicht mit demokratischen Prinzipien vereinbar: Die Verhandlungen und Abmachungen zwischen privaten Interessenvertretern können sich einer öffentlichen Kontrolle leicht entziehen. Zudem wird die Ungleichheit gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht nach demokratischem Postulat politisch neutralisiert, sondern als ein zentrales Element von Politik akzeptiert. Indem gesellschaftliche Verbände zwischen den Staat und das bürgerliche Individuum treten, scheint mithin ein Grundprinzip von Demokratie außer Kraft gesetzt, demzufolge aus der politischen Gleichheit aller Bürger ein allgemeiner öffentlicher Wille entsteht, der das Handeln des Staates legitimiert.9 In den 1920er Jahren schien die Existenz eines allgemeinen Willens als Grundlage politischer Legitimität vielen jedoch nicht mehr als ein Wunschbild zu sein. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts und der Entstehung moderner politischer Parteien brachten nationale Abstimmungen nicht das Bild eines einheitlichen Volkswillens, sondern vielmehr die Heterogenität der Industriegesellschaft zum Vorschein. In dem Maße, in dem der Vorstellung widersprochen wurde, dass die Repräsentation des gesellschaftlichen Allgemeinen durch parlamentarische Wahlen sicherzustellen war, wuchs das Bedürfnis nach alternativen Formen der Interessenvertretung und neuen Wegen der Regelung gesellschaftlicher Kon-
8 9
Vgl. Philippe Schmitter, »Still the Century of Corporatism?«, in: The Review of Politics (1974), S. 85–131. Vgl. die Kritik von Claus Offe, »Korporatismus als System nichtstaatlicher Makrosteuerung? Notizen über seine Voraussetzungen und demokratischen Gehalte«, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 234–256.
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flikte.10 Der Anspruch wirtschaftlicher Verbände auf Repräsentation des Allgemeinwohls war Teil dieser Entwicklung, ist dabei jedoch zunächst nur als Reaktion auf die Erfahrung mit der zeitgenössischen parlamentarischen Demokratie zu verstehen.11 Hintergrund der Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie war die Überzeugung, dass der Kapitalismus sich infolge des Ersten Weltkrieges in wichtiger Hinsicht verändert hatte.
Die Rolle von Interessenvertretern in Wirtschaft und Politik Die von den wirtschaftlichen Interessenvertretern des DeutschFranzösischen Studienkomitees wie Clemens Lammers entwickelten Reformideen rekurrierten auf eine Vorstellung des Allgemeinen, die sie nicht nur gegen die parlamentarische Demokratie ins Feld führten, sondern auch gegen eine kapitalistische Wirtschaftsform, die in ihren Augen mit dem Ersten Weltkrieg ihre Gültigkeit verloren hatte. Diese doppelte Stoßrichtung war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie in der Mehrheit selbst nicht der Unternehmerwelt entstammten, sondern eine auf den Staatsdienst orientierte Ausbildung durchlaufen hatten. Clemens Lammers hatte in Berlin Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft studiert, war seit 1917 Leiter des Kriegsausschusses der Papiermacher und gelangte nach dem Krieg durch juristische Beratertätigkeit in seine Funktionen als Verbandsvertreter. Hermann Bücher hatte ein Studium der Botanik absolviert und war bis 1921 im Kolonialdienst sowie im Wirtschaftsreferat des Auswärtigen Amtes tätig, bevor ihn der Reichsverband der Deutschen Industrie in seine Geschäftsführung berief. Auch Henri de Peyerimhoff begann seine Karriere nach 10
11
Vgl. Rosanvallon, Demokratische Legitimität, S. 44ff.; Charles Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975. Vgl. allgemein zu dieser Überlegung Wolfgang Streeck/Lane Kenworthy, »Theories and Practices of Neocorporatism«, in: The Handbook of Political Sociology. States, Civil Society, and Globalization, Cambridge 2005, S. 441–460; Colin Crouch, Industrial Relations and European State Traditions, Oxford/New York 1993, S. 65ff.
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einem Rechts- und Philosophiestudium im Conseil d’Etat und im französischen Kolonialdienst in Algerien, bevor er 1907 als Geschäftsführer in das Comité central des Houillères übertrat. Nur René Paul Duchemin stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar, denn er studierte zwar an der École des Sciences in Rouen, einer der französischen Grandes Ecoles, die Ingenieure für den Staatsdienst ausbildete, ging dann jedoch in ein privates Chemieunternehmen. Von hier aus übernahm er einen Posten im Verwaltungsrat des französischen Verbandes der Chemieindustrie und wurde 1926 Vorsitzender der Confédération générale de la production française.12 Die Durchlässigkeit zwischen staatlichen Posten und Stellen in der privaten Wirtschaftsadministration war in dieser Zeit dem Umstand geschuldet, dass Karrieren in der öffentlichen Verwaltung ihre frühere Berechenbarkeit und Sicherheit verloren. Zugleich waren die in dieser Zeit zahlreich aufkommenden Wirtschaftsverbände auf qualifiziertes Personal angewiesen, das in der Lage war, Statistiken zu lesen, Jahresberichte und Zeitschriftenartikel zu verfassen und Verhandlungen mit anderen Verbänden und Regierungsstellen zu führen.13 Nicht zuletzt mit Unterstützung staatlicher Stellen hatten nun die Gründungen nationaler Wirtschaftsverbände in Deutschland und Frankreich Erfolg. 1919 wurden sowohl der Reichsverband der Deutschen Industrie als auch die Confédération générale de la production française zu festen Institutionen des Verbandslebens. Zudem entstanden der Reichswirtschaftsrat und der Conseil national économique, die der Wirtschaftspolitik der deutschen bzw. französischen Regierung beratend zur Seite stehen sollten. Daneben 12
13
Eintrag zu Clemens Lammers, in: Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, Bd. 2, hrsg. vom deutschen Wirtschaftsverlag, Berlin 1931, S. 1059–1060; Eintrag zu Hermann Bücher, in: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 1, Paderborn u.a. 2000, S. 320–321; Notice sur les titres de Henri de Peyerimhoff, Paris 1951; André Lamande, »M. Duchemin. Président de la Confédération générale de la Production française«, L’Européen vom 6. 5. 1929. Vgl. Christian Topalov, »Patronages«, in: ders. (Hg.): Laboratoires du nouveau siècle. La nébuleuse réformatrice et ses réseaux en France 1880–1914, Paris 1999, S. 357–396; Danièle Fraboulet, Quand les patrons s’organisent. Stratégies et pratiques de l’Union des industries métallurgiques et minières 1901–1950, Paris 2007, S. 39ff.
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wurden die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), das den Völkerbund in Wirtschaftsfragen beratende Comité consultatif sowie die Internationale Handelskammer mit Sitz in Paris ins Leben gerufen. All diese Organisationen mussten mit Vertretern der Arbeitgeber besetzt werden. Das mit dieser Gründungswelle einhergehende Stellenreservoir bot Interessenten aus dem Staatsdienst dabei neben einem guten Gehalt Aufstiegschancen, die im Fall von Hermann Bücher vom Geschäftsvorsitz eines Verbandes bis zum Chefposten der AEG führen konnten. Der öffentliche Führungsanspruch von Wirtschaftsvertretern in Deutschland und Frankreich entstand somit in einem gesellschaftlichen Umfeld, das überkommene Strategien entwertete, neue Karrierewege öffnete und von einem Wechsel der Legitimation sozialer Autorität begleitet wurde. Im Zuge dieser Veränderung übertrugen wirtschaftliche Interessenvertreter zuvor auf den Staat bezogene Ideen des Allgemeinwohls auf die Wirtschaft. Entscheidender Ausgangspunkt der in dieser Konstellation entworfenen Vorstellungen von der Rolle von Interessenvertretern in Wirtschaft und Politik war die Überzeugung, dass die Grundlage moderner Gesellschaften durch die ökonomischen Verhältnisse bestimmt wurde. Die Formel Walther Rathenaus »Die Wirtschaft ist unser Schicksal« galt in dieser Perspektive als unumstößliche Basis zur Beurteilung der Gegenwart.14 Durch die ökonomischen Folgen des Ersten Weltkriegs und die demokratischen Regime ihrer Zeit erschien diese Grundlage allerdings in der Auffassung von Verbandsvertretern in ihrer überkommenen Form in mehrfacher Hinsicht erschüttert und deshalb reformbedürftig. Der Krieg hatte aus dieser Sicht zu einer starken Beschleunigung der technischen Entwicklung beigetragen und damit den Trend zu Produktionstechnologien verstärkt, die von einzelnen Unternehmern nicht mehr finanziert werden konnten. Statt individueller Vermögen machten wirtschaftliche Interessenvertreter eine neue Dominanz aktienfinanzierter Wirtschaftsunternehmen aus, in denen die Entscheidungsmacht des Einzelnen stark eingeschränkt wurde. Der Wandel der Herstellungstechnologien wurde aus dieser Sicht nach dem Krieg durch die Umstellung auf Massenproduktion 14
Vgl. Uwe Greve (Hg.), Walther Rathenau. Wirtschaft ist Schicksal, Husum 1990, S. 7.
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unterstützt, die zu niedrigeren Kosten führen sollte und auf die Eroberung neuer Absatzmärkte abzielte. Der Versailler Vertrag hatte jedoch eine Vielzahl neuer Staaten entstehen lassen, die sich den Aufbau einer eigenen nationalen Industrie erhofften und aus diesem Grund Absatzbestrebungen fremder Großunternehmen mit Schutzzöllen begegneten. Auch in dieser Hinsicht wurden unternehmerische Entscheidungen mithin in ihrer Freiheit eingeschränkt und von kollektiven Akteuren abhängig, die sich ihrem Einfluss entzogen. Dies galt nicht zuletzt auch hinsichtlich der Bedeutung staatlicher Wirtschaftspolitik in Deutschland und Frankreich selbst. Denn u.a. aufgrund der Reparationszahlungen, ihrer Organisation und Verteilung war man auf staatliche Wirtschaftspolitik angewiesen, deren Richtlinien von Politikern beschlossen wurden, die von politischen Mehrheitsmeinungen abhängig und damit außerhalb der Reichweite unternehmerischer Entscheidungen waren.15 Der zeitgenössische Kapitalismus war somit nicht allein durch die technologischen, finanztechnischen und protektionistischen Tendenzen der Zeit bedingt, sondern vielmehr darüber hinaus durch seine Verbindung zur (Wieder)Einführung der Demokratie. Einerseits machten die neuen Produktionsformen das Agieren in größeren Wirtschaftsräumen erforderlich, andererseits waren diese Räume durch die Zoll- und Reparationspolitik von Demokratien bestimmt, gegen die der einzelne Wirtschaftsakteur wenig ausrichten konnte. Die Nachkriegssituation hatte in den Augen von Wirtschaftsvertretern somit dazu geführt, dass die Grundsätze des alten Kapitalismus ihre Gültigkeit verloren hatten und ein neuer Kapitalismus entstanden war, in dem das wirtschaftliche Individuum an Wirkungsmacht verloren hatte. Henri de Peyerimhoff brachte eine allgemeine Überzeugung zum Ausdruck, indem er erklärte: »Angesichts der Aufgabenfülle der modernen Wirtschaft stellt sich der In15
Vgl. unterschiedliche Varianten dieser Erklärung von Clemens Lammers, »Industrie«, in: Staatslexikon. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft hrsg. von Hermann Sacher, fünfte neubearbeitete Auflage, Bd. 2, Freiburg im Breisgau 1927, Sp. 1462–1472; René-Paul Duchemin, La crise actuelle, ses causes et ses conséquences du point de vue français, Neuilly 1932; Eduard Hamm, »Die Frage der Arbeitslosigkeit und der Preissenkung«, in: Verhandlungen des deutschen Industrie- und Handelstages 15 (1930), S. 81ff.; Louis Marlio, Le sort du capitalisme, Paris 1938, S. 73ff. sowie S. 106ff.
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dividualismus als machtlos heraus. […] Wir sind sicherlich noch in der ›kapitalistischen Wirtschaft‹. Aber es ist nicht mehr der individuelle Kapitalismus, es ist ein Kapitalismus der Gruppen.«16 Die Veränderungen des Kapitalismus machten es in den Augen von Wirtschaftsvertretern wie Henri de Peyerimhoff, Hermann Bücher, René Paul Duchemin und Clemens Lammers notwendig, sich den neuen Wirtschaftsstrukturen anzupassen. In dieser Hinsicht schienen ihnen insbesondere Organisationen der wirtschaftlichen Interessenvertretung dazu geeignet, neue Aufgaben zu übernehmen, die sowohl der gewachsenen allgemeinen Bedeutung der Wirtschaft für die Gesellschaft als auch den veränderten Bedingungen des Kapitalismus Rechnung trugen. In Teilen verwandte Vorschläge wurden zwar bereits vor 1914 diskutiert;17 die Bedingungen der Nachkriegszeit – in Gestalt der ökonomischen Auswirkungen des Krieges und der Auseinandersetzung mit der Demokratie – führten jedoch dazu, dass man wirtschaftlichen Interessenvertretungen eine neue Bedeutung zuschrieb. Wichtige Triebkraft war dabei nicht zuletzt die Einschätzung, dass die einzelnen europäischen Staaten der durch den Krieg entstandenen wirtschaftlichen Überlegenheit der USA allein wenig entgegenzusetzen hatten. Clemens Lammers und Henri de Peyerimhoff beklagten auf der Weltwirtschaftskonferenz von 1927 in Genf gemeinsam, dass die Amerikaner den ausgedehnten heimischen Markt durch hohe Zollmauern abschotteten, während die seit dem Friedensvertrag noch verstärkte staatliche Zersplitterung in Europa keinen Raum für eine übergreifende Marktentfaltung bot.18 Eine 16
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Henri de Peyerimhoff, Les formes modernes de l’organisation industrielle et leurs conséquences économiques et sociales, Vortrag auf der Sitzung des Deutsch-Französischen Studienkomitees am 15. Juni 1927, S. 3, Geheimes Staatsarchiv Berlin Dahlem, VI. HA, NL Schmidt-Ott, Nr. 249. Vgl. u.a. Hans Peter Ullmann, Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluß und Politik klein- und mittelbetrieblicher Industrieller im Deutschen Kaiserreich 1895–1914, Göttingen 1976; Hartmut Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft: Centralverband Deutscher Industrieller 1895–1914, Berlin 1967. Vgl. Verlauf und Ergebnis der Internationalen Wirtschaftskonferenz des Völkerbundes zu Genf (vom 4. bis 23. Mai 1927). Wiedergabe der Plenarund Kommissionssitzungen, zusammengestellt von Konsul Dr. E. Respondek, mit einem Vorwort von C. Lammers, Berlin 1927, S. 159ff. Im Deutsch-
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deutsch-französische Kooperation zielte damit nicht zuletzt auf die Gründung eines Wirtschaftsblocks, durch den sich ein durch den Krieg verarmtes Europa gegen die amerikanische Konkurrenz behaupten konnte. Diese Überlegungen standen Pate bei der Gründung des Deutsch-Französischen Studienkomitees, das im Zuge der deutschfranzösischen Verständigung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft von 1926 unter wohlwollender Anteilnahme des deutschen und französischen Außenministeriums entstand. Das Komitee, dem neben den genannten Wirtschaftsvertretern auch Hochschulprofessoren, ehemalige Politiker und Publizisten angehörten, setzte sich als private Vereinigung die Aufgabe, zur deutsch-französischen Verständigung beizutragen.19 Zum einen sollte dies durch regelmäßige Plenarsitzungen geschehen, auf denen Vorträge der Mitglieder gemeinsam diskutiert wurden; zum anderen förderten die engeren Kontakte der Wirtschaftsvertreter die Anbahnung ökonomischer Kooperationen innerhalb der verschiedenen Wirtschaftsbranchen. Dabei erstatteten die deutschen und französischen Sektionen des Komitees regelmäßig ihren Regierungen Bericht über ihre Treffen.20 Der relative Erfolg dieses Vorgehens zeigte sich in den umfassen-
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Französischen Studienkomitee führte Lammers aus: »Wir werden […] mit Amerika in scharfen Wirtschaftskampf kommen, nicht weil es aus einem willensmässigen Entschluss heraus Europa erobern will, sondern weil die notwendige Expansion des amerikanischen Wirtschaftsvolumens sich auf Europa erstrecken wird. Auch über dieses Problem müssen Frankreich und Deutschland als die zentralen Länder sich verständigen.« Protokoll der Jahrestagung des Deutsch-Französischen Studienkomitees in Paris vom 12.–14. Juni 1931. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes R 70540. Vgl. im Einzelnen den Tätigkeitsbericht und die Grundsätze des Komitees vom Januar 1928. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes R 61284, sowie Müller, Europäische Gesellschaftsbeziehungen, S. 149ff., und Sonnabend, Pierre Viénot, S. 135ff. So erzählt Peyerimhoff in seinen Memoiren: »Bei der Rückkehr [von den Sitzungen des Komitees] berichtete jeder Delegationschef seiner Regierung. Weil sein Gesundheitszustand Charles Laurent das Reisen beschwerlich machte, fiel diese Aufgabe häufig mir zu. Auf diese Weise […] hatte ich den aufeinander folgenden Präsidenten und Außenminister dieser Zeit einen Besuch abzustatten. Ich wurde immer höflich und – man täusche sich nicht – mit Interesse empfangen.« Henri de Peyerimhoff, Souvenirs. 1871–1953, S. 391–392. Bibliothèque de l’Institut de France N. S. 12523.
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den deutsch-französischen Kartellvereinbarungen, die im Winter 1931/32 auf staatliche Anregung hin von den betroffenen Unternehmen in Eigenregie geschlossen wurden. Das Deutsch-Französische Studienkomitee bereitete diese Verhandlungen vor und stellte zentrale Teilnehmer und Sachverständige der die Gespräche leitenden deutsch-französischen Wirtschaftskommission, darunter Lammers, Bücher, Duchemin und Peyerimhoff.21 Kooperationen dieser Art schienen Wirtschaftsvertretern wie René Paul Duchemin eine den wirtschaftlichen Veränderungen der Zeit entsprechende Organisationsform, da hier nicht mehr das individuelle Profitstreben des einzelnen Unternehmers, sondern die Vermittlung wirtschaftlicher Interessen von einem allgemeinen Standpunkt aus im Vordergrund stand. »Das, was besonders zur Etablierung dieser Geisteshaltung beigetragen hat, und was sie in Zukunft weiter antreiben wird, […] ist, dass die individuelle Freiheit im Manchester-Sinn verschwindet […] und dass viele Chefs der Industrie heute weniger durch den persönlichen Gewinn und stärker durch den Wunsch getrieben sind, ein allgemeines wirtschaftliches Ziel zu erreichen.«22 Wirtschaftliche Interessenvertreter wie die Mitglieder des Deutsch-Französischen Studienkomitees waren überzeugt, dass die neu entstandenen Wirtschaftsverbände auf nationaler und internationaler Ebene den Wandel hin zu einem »Kapitalismus der Gruppen« entscheidend beförderten, da sie in der Lage waren, die Einzelpositionen von Unternehmern zu organisieren und in einem kollektiven wirtschaftlichen Interesse zusammenzufassen. Angesichts der Veränderung der allgemeinen Wirtschafts-
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Der Generalsekretär der deutschen Sektion Max Clauss erklärte schon im Sommer 1931, dass hinsichtlich der Teilnehmer der deutsch-französischen Wirtschaftskommission der »Grundstock aus dem Mayrisch-Komitee« genommen werden sollte. Siehe Max Clauss an Hermann Bücher, 23. August 1931. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes. R 70576. Die Vorarbeit des Komitees für die deutsch-französischen Vereinbarungen von 1931/32 wird in der Forschung bislang nicht berücksichtigt. Sie bewertet das Studienkomitee vielmehr insgesamt als Misserfolg. Vgl. u.a. Sonnabend, Pierre Viénot, S. 204–205; Müller, Europäische Gesellschaftsbeziehungen, S. 265ff. René Paul Duchemin, La rationalisation sur le Plan International, S. 13. Vortrag auf der Tagung des Deutsch-Französischen Studienkomitees am 12. Dezember 1927. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes. R 70532.
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bedingungen durch den Krieg und die Demokratie hielten sie die Vermittlungstätigkeit von Verbänden für das richtige Mittel, um den alten in den neuen Kapitalismus zu überführen. Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hatte für sie auf der freien Konkurrenz von Marktteilnehmer beruht, sodass der Markt selbst als Repräsentation des Zusammenhangs individueller Handlungen gelten konnte. Im Gegensatz dazu machte der neue Kapitalismus eine Repräsentation der Wirtschaft nötig, die nicht durch eine »unsichtbare Hand« aus dem Zusammenspiel individueller Handlungen hervorging. Vielmehr bildeten Organisationen der Repräsentation jene Prinzipien aus, die einer von kollektiven Zielen gesteuerten Wirtschaftsgesellschaft zugrunde liegen sollten. Wirtschaftsverbände waren demnach nicht einfach Organe existierender Interessen ihrer Mitglieder, sondern Orte, an denen die Koordination des neuen Kapitalismus konstituiert und den übrigen Wirtschaftsakteuren vermittelt wurden. Erst die Interessenrepräsentation stellte damit sicher, dass der wirtschaftlichen Tätigkeit allgemeine Ziele zugrunde lagen.23 Aus diesem Grund hatten die Verbände für Hermann Bücher zugleich eine repräsentierende und leitende Funktion im Wirtschaftsprozess seiner Zeit. »Es ist erforderlich, daß eine generelle Tendenz [entsteht], die ich etwa so auffassen möchte, daß jeder von Jugend auf lernen muß, öffentliche Interesse [sic] über das private zu stellen. […] Und in diesem Sinne vollziehen auch die Verbände eine sehr starke, nach meinem Dafürhalten weit unterschätzte Funktion. […] Ich halte das Verbandswesen für die beste Schulung des Unternehmers zur Erkenntnis seiner Position im Rahmen der Gesamtheit.«24
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Vgl. für das Argument der Interessenformation durch Repräsentation Suzanne Berger, »Introduction«, in: dies. (Hg.), Organizing Interests in Western Europe. Pluralism, Corporatism, and the Transformation of Politics, Cambridge, Mass. 1981, S. 1–26. Hermann Bücher, »Betrachtungen über die neuen industriellen Organisationen der Wirtschaft«, in: Die Mitteldeutsche Industrie. Mitteilungsblatt des Verbandes Mitteldeutscher Industrieller vom 15. 4. 1927; vgl. ähnlich Henri de Peyerimhoff, Les formules modernes d’organisation économique et leurs connexions politiques et sociales, Conférence tenue dans la salle des Séances du Reichstag le 17 Décembre 1928, S. 12.
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In dem Maße, in dem wirtschaftliche Interessen durch Organisationen der Wirtschaftsrepräsentation vorgaben, allgemein zu werden, konnten sie zugleich einen in ihren Augen berechtigen Anspruch auf Mitwirkung an öffentlichen Dingen erheben. Die Mitglieder des Deutsch-Französischen Studienkomitees schrieben stellvertretend für viele Verbandsvertreter ihrer Zeit privaten Organisationen der Wirtschaftsrepräsentation neue Aufgaben für ein funktionierendes Staatsleben zu. »Was ist ein Berufsverband, wenn nicht eine Funktion des nationalen Lebens«, fragte Peyerimhoff und brachte damit einen zentralen Aspekt des sozialen und politischen Selbstverständnisses von wirtschaftlichen Interessenvertretern zum Ausdruck.25 Die ursprüngliche Ausbildung für den Staatsdienst verlieh der Idee der Bedeutung von Wirtschaftsorganisationen für das Gemeinwohl besondere Überzeugungskraft.
Die öffentliche Bedeutung wirtschaftlicher Interessenvertretung Die öffentliche Bedeutung wirtschaftlicher Interessenvertretung ergab sich in dieser Perspektive insbesondere aus zwei Komponenten der Transformation des Kapitalismus seit dem Ersten Weltkrieg. Sowohl die ökonomische als auch die politische Dimension der Entstehung neuer kapitalistischer Strukturen schien eine Unterstützung öffentlicher Belange durch private Organisationen wie der Deutsch-Französischen Studienkommission notwendig zu machen. Denn einerseits hielt man die technologische Umstellung auf Massenproduktion in Großbetrieben und die damit verbundene Suche nach größeren Absatzmärkten für unausweichlich, wenn die europäische Wirtschaft den Anschluss an den ökonomischen Fortschritt nicht verlieren und als unabhängiger Wirtschaftsraum neben den USA erhalten bleiben sollte. Andererseits drohten Rationalisierung und Unternehmenskonzentration zu Produktionsrückgang und Arbeitslosigkeit in europäischen Nachbarstaaten und damit zu politischen Spannungen zu führen. In dieser Lage, so argumentierte René Paul Duchemin, könnten Wirtschaftsverbände private Arran25
Peyerimhoff, Les formes modernes de l’organisation industrielle, S. 34.
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gements zwischen den betroffenen Unternehmen vermitteln, mit deren Hilfe die Produktionshöhe den nationalen und internationalen Bedürfnissen angepasst, sinnvolle Spezialisierungen der Herstellung vorgenommen und Märkte miteinander geteilt wurden. Indem die Wirtschaftsleistung als Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden wurde und die Kriegs- und Nachkriegszeit neue ökonomische Einflussmöglichkeiten und Abhängigkeitsverhältnisse unter den Staaten hervorgerufen hatte, wurde für ihn die private Organisation und Koordination von Wirtschaftsinteressen eine entscheidende Frage: »Hier kann und muss die Rolle der Industriellen der verschiedenen Nationen fundamental werden, indem sie das Risiko von Kriegen beseitigen und den Frieden sichern. Ihnen kommt es zu, die Ängste ihrer Konkurrenten zu beruhigen, das Errichten von unhaltbaren Zollschranken zu verhindern, allen wirtschaftsimperialistischen Geist auszumerzen und sich über die Grenzen hinweg die Hand zu reichen.«26 Der Übergang vom alten in den neuen Kapitalismus ließ Wirtschaftsfragen somit gleichermaßen kollektiv, volkswirtschaftlich und international werden und erforderte aus Sicht der Wirtschaftsvertreter die Integration privatwirtschaftlicher Verbände in die Administration öffentlicher Belange. In der infolge des Weltkrieges entstandenen Situation bedeutete dies nicht nur, nationale Wirtschaftsakteure von individuellen Interessen auf allgemeine Ziele hin zu orientieren, sondern auch verschiedene nationale Wirtschaftsinteressen zu vermitteln. Für Hermann Bücher hatten wirtschaftliche Interessenvertretungen deshalb in nationaler und internationaler Hinsicht eine gleichermaßen den Staat stützende Funktion: »Aus den in freier Erkenntnis der beteiligten Kreise entstandenen Selbstverwaltungskörpern der Wirtschaft […] können sich voraussetzende Glieder für einen neuen staatlichen Aufbau bilden. Unendlich groß ist die Pflicht der Verbände bei diesen künftigen Arbeiten, 26
Duchemin, La rationalisation sur le Plan International, S. 10; vgl. ähnlich Henri de Peyerimhoff, »La rationalisation des relations commerciales internationales«, in: Revue économique internationale (Janvier 1931) H. 1, S. 21–36. Vgl. zum Zusammenhang zwischen privatwirtschaftlicher Interessenvertretung und Außenpolitik für das Frankreich dieser Zeit Laurence Badel, Diplomatie et grands contrats. L’État français et les marchés extérieures au XXe siècle, Publications de la Sorbonne, Paris 2010, hier besonders S. 85ff.
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denn ihre aufbauende Tätigkeit nach innen, die sie in so verantwortlicher Weise in das Gefüge des Staates einstellt, verpflichtet sie, auch über die Grenzen des Vaterlandes hinaus zu blicken auf die Gestaltung der Wirtschaft draußen in der Welt. Sie können und werden auf vielen Gebieten die Grundlagen abgeben für überstaatliche Zusammenarbeit, auf die wir als typisches Industrieland unumgänglich angewiesen sind.«27 Neben der ökonomischen schien auch die politische Entwicklung die Integration privater Interessenvertretung in die öffentliche Gewalt notwendig zu machen. Aus dieser Sicht war die Übertragung öffentlicher Aufgaben auf private Wirtschaftsverbände nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die zeitgenössischen parlamentarischen Demokratien in Deutschland und Frankreich dabei versagten, eine den Bedingungen des neuen Kapitalismus entsprechende Wirtschaftspolitik zu betreiben.28 Die Mängel in der staatlichen Mobilisierung wirtschaftlicher Ressourcen während des Krieges waren in den Nachkriegsdemokratien demnach keineswegs beseitigt. Denn statt sich am gesellschaftlich-ökonomischen Allgemeinwohl zu orientieren, folgten in den Augen von Peyerimhoff, Bücher, Duchemin und Lammers zeitgenössische Politiker den Strategien ihrer Parteien im Wettstreit um Wähler. Damit schien nicht der Blick für wirtschaftliche Zusammenhänge und Notwendigkeiten ausschlaggebend für politische Entscheidungen, sondern das Umwerben nationaler Stimmungen. Diese Ausrichtung der parlamentarischen Politik führte in den Augen von Clemens Lammers aus strukturellen Gründen zu einem »Mißbrauch, den unser junger Parlamentarismus und unser Parteiwesen mit der Demokratie getrieben haben. […] Die Führer konnten sich nur behaupten, indem sie der Gunst der Massen schmeichelten und sich überboten in Versprechungen an die Masse und Forderungen für die Masse. Damit
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Hermann Bücher, »Wirtschaftsverbände und ihre Aufgabe im Staat«, in: ders., Finanz- und Wirtschaftsentwicklung Deutschlands in den Jahren 1921–1926, Berlin 1925, S. 189–190. Winkler, Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus, S. 345f.; Sick, Vom Opportunisme zum Libéralisme autoritaire, S. 73ff.
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wurden sie zu Sklaven der Zahl statt zu Fahnenträgern für geistige Bewegungen.«29 Die durch Wirtschaftsverbände vermittelte internationale Kooperation ermöglichte es aus Sicht von Lammers und den anderen Mitgliedern des Deutsch-Französischen Studienkomitees, auf die technologische Entwicklung der modernen Industrieproduktion, die Reparationsfragen und Probleme mit der amerikanischen Konkurrenz in der Nachkriegszeit zu reagieren. Dabei hing eine solche Kooperation jedoch davon ab, dass die Privilegierung nationaler Interessen durch die Politik die internationalen Abmachungen nicht wieder untergrub. Parlamentarische Demokratie und die Notwendigkeit zu wirtschaftlicher Verständigung schienen nur schwer miteinander vereinbar, wenn dies bedeutete, dass deutsch-französische Abmachungen der Verfügungsgewalt des demokratischen Staates in Deutschland und Frankreich unterworfen blieben.30 Das Abgeben von staatlichen Kompetenzen an private Wirtschaftsverbände sicherte demnach den Bereich der Wirtschaft vor dem Zugriff einer von schwankenden Wählermeinungen bestimmten Politik. Nur die Entmächtigung parlamentarischer Demokratie versprach eine erfolgreiche Anpassung an die Strukturen des neuen Kapitalismus. Die Krise der zeitgenössischen Demokratie hielt Peyerimhoff so für ein hoffnungsvolles Zeichen auf die Aussicht, dass Wirtschaftsverbände in Zukunft öffentliche Aufgaben übernahmen. »Die Dämmerstunde des Parlamentarismus, die eines der zentralen Phänomene der aktuellen politischen Geschichte zu sein scheint, könnte […] den verschiedenen organisierten Branchen der nationalen Arbeitswelt direkte Verantwortung übertragen. Wenn das öffentliche Interesse es verlangt […], muss der Berufsstand bereit sein, diese zu übernehmen. Er sollte diesbezüglich […] seine Männer bereit halten.«31 Die Übertragung von Kompetenzen an die wirtschaftliche Selbstverwaltung galt Interessenvertretern somit als ein Reform29 30
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Clemens Lammers, Autarkie, Planwirtschaft und berufsständischer Staat?, Berlin 1932, S. 42. Vgl. zu diesem Konflikt allgemein Wolfgang Streeck, »Einleitung. Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie?«, in: ders., Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie. Herausforderungen für die Demokratietheorie, Frankfurt am Main/New York 1998, S. 11–58. Peyerimhoff, Les formes modernes de l’organisation industrielle, S. 36.
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schritt, der sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Probleme in Europa lösen konnte. Anders als staatliche Bürokratien waren Wirtschaftsvertretungen nicht von demokratischen Wahlen abhängig und damit auch nicht der Schwierigkeit ausgesetzt, ihre Entscheidungen vor einem nationalen Parlament rechtfertigen und somit wirtschaftsfremden Beurteilungsmaßstäben aussetzen zu müssen. Gerade angesichts der ausgemachten Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich glaubte man die Regelung wirtschaftspolitischer Vereinbarungen dann bei privaten Verbänden besser aufgehoben, wenn diese ihre Mitglieder zur Orientierung am gesellschaftlichen Allgemeinen anleiteten. Zugleich konnte die damit verbundene disziplinierende Funktion des Verbandes aus staatlicher Sicht unmittelbar hilfreich erscheinen, denn sie sorgte dafür, dass die von Unternehmerseite an die Regierung gestellten Forderungen kanalisiert und von einer Stelle organisiert wurden, die aufgrund ihrer partiellen Integration in den öffentlichen Apparat bereit war, sich auf konsensorientierte Gespräche einzulassen. Darüber hinaus konnte diese Funktion dazu genutzt werden, vereinbarte wirtschaftspolitische Maßnahmen durchzusetzen, ohne unmittelbaren staatlichen Zwang auszuüben.32 Hermann Bücher war überzeugt, dass die »Unverantwortlichkeit der Parteien« eine Abkehr von klassischen demokratischen Formen notwendig machte und der Verband in der Lage war, eine allgemeine und damit adäquatere wirtschaftspolitische Perspektive zu entwickeln. »[D]er Staat […] [muß] seine Aufgaben so viel irgend möglich delegieren […] an Selbstbewirtschaftungskörper irgendwelcher Art. Wenn diese Bewirtschaftungskörper nun ihrerseits sich nicht als nackteste Interessenvertreter gebärden, sondern ihrerseits versuchen, den Ausgleich zu finden zwischen den Spezialinteressen und den Interessen der Gesamtheit, dann müßte naturgemäß, sinngemäß und von selbst aus diesen Vertretern ein Gremium erwachsen, das in der Lage ist, die Bedingungen und die Pflichten und Auswirkungen der wirtschaftlichen Betätigung in viel 32
Vgl. hierzu die am westdeutschen Fall entwickelten allgemeinen Überlegungen von Claus Offe, »The Attribution of Public Status to Interest Groups. Observations on the West German Case«, in: Berger (Hg.), Organizing Interests in Western Europe, S. 123–158.
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klarerer Weise zu übersehen […], als dieses bei einem systematisch geordneten Beamten-Apparat möglich ist.«33
Kapitalistische Wirtschaftspolitik im Rahmen demokratischer Verhältnisse Diese Vorstellungen richteten sich zwar gegen die zeitgenössischen Formen der parlamentarischen Demokratie in Deutschland und Frankreich, wurden im Selbstverständnis der Beteiligten jedoch nicht zwangsläufig als undemokratisch empfunden. Eine den Bedingungen des neuen Kapitalismus angepasste Wirtschaftspolitik schien unter Umständen durchaus im Rahmen demokratischer Verhältnisse möglich, wenn die wirtschaftspolitische Entscheidungsbefugnis von parlamentarischen Parteien auf gesellschaftliche Eliten verlagert wurde. Für wirtschaftliche Interessenvertreter schien eine Elite deshalb notwendig, weil sie nicht bestehenden Interessen Ausdruck verlieh, sondern vielmehr die Prinzipien repräsentierte, nach denen die wirtschaftliche Grundlage der modernen Gesellschaft organisiert werden sollte. In diesem Sinne wurde das Vertrauen in Führungshandeln nicht dadurch sichergestellt, dass die Repräsentanten den Repräsentierten in möglichst vielen Hinsichten ähnlich waren, sondern dadurch, dass sie jene besonderen Eigenschaften verkörperten, die sie zu Entscheidungen über das kollektive Schicksal befähigen sollten.34 Für Hermann Bücher war es so zentral, »eine Demokratie, die gleichbedeutend ist mit Aristokratie, zu schaffen, eine Demokratie, die den Besten an die Spitze stellt.«35
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Hermann Bücher, »Grundlagen der Wirtschafts- und Handelspolitik«, in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom 25. 5. 1925, H. 25, S. 22. Vgl. Olivia Leboyer, Elite et libéralisme, Paris 2012, S. 28ff.; Gerhard Göhler, »Politische Repräsentation in der Demokratie«, in: Thomas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hg.), Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn/Berlin 1992, S. 108–125. Bücher, Grundlagen der Wirtschafts- und Handelspolitik, S. 21.
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Die Frage nach der Stellung und der Funktion gesellschaftlicher Eliten stellte sich dabei sowohl hinsichtlich der politischen als auch der wirtschaftlichen Führung. Aufseiten der Politik bot das Konzept der Elite ein Mittel, um gegen das Prinzip allgemeiner und gleicher Wahlen die Herrschaft einer Gruppe zu sichern, der man zentrale Kompetenzen zur Sicherung des Gemeinwohls zusprach. Aufseiten der Wirtschaft wurde das Thema aufgrund der Notwendigkeit, im Verband zu agieren, und aufgrund der Entstehung von Unternehmenskonglomeraten akut, die Entscheidungsgewalt einzelner Leitungsfiguren zu minimieren und stattdessen einer Vielzahl von Managern und Aktionären zu übertragen.36 Sowohl die Veränderungen der politischen als auch der Unternehmerwelt ließen somit die Bedeutung der »Chefs« zum Thema werden und verhalfen dem Konzept der Elite unter Wirtschaftsvertretern zu besonderer Prominenz.37 In diesem Sinne erklärte Peyerimhoff: »Die Bildung von Eliten ist immer auf der Tagesordnung, aber noch nie so wichtig gewesen wie heute, wo […] die Politik der Qualität sich – und zwar in welchem Ausmaß! – gegenüber der Politik der Quantität durchsetzen muss.«38 Als Modell politisch-gesellschaftlicher Konfliktlösung ist die von Interessenvertretern der 1920er und frühen 1930er Jahre erhoffte Beteiligung von Wirtschaftsverbänden an politischen Entscheidungen kein Bekenntnis zur Demokratie, jedoch auch kein unmittelbarer Bestandteil einer autoritären Ideologie. Denn ihr Anspruch auf politische Mitgestaltung als nicht gewählte wirtschaftliche Elite widerspricht zwar dem Ideal, dass alle Bürger eines Staates die gleichen faktischen Möglichkeiten zur politischen Beteiligung haben sollen.
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Die Überschneidung beider Problemfelder machte das Mitglied des Studienkomitees Henri Chardon in seinem Vortrag zum Thema explizit. Vgl. Henri Chardon, La fonction des élites et l’organisation des cadres de la nation dans une Démocratie. Vortrag vor dem Deutsch-Französischen Studienkomitee am 14. Juni 1927, S. 7–8. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes R 70530. Vgl. zur Konjunktur der Vorstellung des Chefs in dieser Zeit allgemein Yves Cohen, Le siècle des chefs. Une histoire transnationale du commandement et de l’autorité 1890–1940, Paris 2013. Henri de Peyerimhoff, Rede vor dem Deutsch-Französischen Studienkomitee am 7. Februar 1927, S. 3. Geheimes Staatsarchiv, VI. HA, NL SchmidtOtt, Nr. 249.
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Angesichts der Heterogenität moderner Gesellschaften halten es Demokratietheoretiker wie Claude Lefort und Jacques Rancière jedoch für unfruchtbar, die gleiche Möglichkeit zur politischen Partizipation zum Maßstab für die Existenz demokratischer Verhältnisse zu erheben.39 Will man Demokratie angesichts eines praktisch noch nie eingelösten Gleichheitsversprechens nicht als Wunschbild abtun, wird statt der Gleichheit der Beteiligungsbedingungen die Aufgabenverteilung und die Form der politischen Auseinandersetzung zu einem Kriterium demokratischer Überzeugungen. Wichtig wird damit zum einen, ob Wirtschaftsvertreter bereit waren, für Politikbereiche jenseits wirtschaftlicher Zusammenhänge die Kompetenz von gewählten Parlamenten zu akzeptieren. Tatsächlich änderten deutsche wie französische Wirtschaftsvertreter ihre Ansichten und Präferenzen diesbezüglich im Laufe der politischen Entwicklungen der 1930er Jahre. Schien noch in den späten 1920er Jahren allein die Schwächung der Parlamente nötig, stand mit dem Beginn der Präsidialkabinette in Deutschland einerseits und der politischen Krise der Dritten Republik in Frankreich andererseits nicht die Existenz einer gewählten Volksvertretung, sondern die Stärkung der exekutiven Autorität im Vordergrund. Im Deutsch-Französischen Studienkomitee sahen Bücher und Lammers eine ohne Parlament regierende Reichsregierung auch als Abwehrmöglichkeit gegen nationalsozialistische Wirtschaftspläne, während man einen Erfolg der Nationalsozialisten von französischer Seite ironischerweise gerade deshalb erhoffte, weil dies eine Rückkehr zur Demokratie zu beinhalten schien.40 Mit der linksgerichteten Regierung Blum und den unter politischem Druck entstandenen Abkommen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern von Matignon 1936 nahm auch unter französischen VerbandsverVgl. Claude Lefort, L’invention démocratique. Les limites de la domination totalitaire, Paris 1994; Jacques Rancière, La mésentente. Politique et philosophie, Paris 1995. 40 »Im gegenwärtigen Falle erscheint der Mehrzahl der französischen Teilnehmer eine deutsche ›Diktatur‹ noch bedrohlicher als auch eine etwaige nationalsozialistische Regierung. […] [E]in »Régime hitlérien« [würde] immerhin demokratischen Grundsätzen entsprechen […].« Protokoll der Zusammenkunft deutscher und französischer Komiteemitglieder in Colpach am 22. und 23. Oktober 1932. Bundesarchiv (BArch) R 43/I/71. 39
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tretern das Misstrauen gegenüber parlamentarischen Parteien neue Formen an.41 Trotz einer brüchigen Akzeptanz von gewählten Parlamenten folgte für die Wirtschaftsrepräsentation daraus nicht, dass sie sich in Zusammenarbeit mit der Exekutive für die Inkarnation natürlicher Prinzipien eines modernen Kapitalismus hielten und aus diesem Grund die Repräsentation anderer Gruppierungen nicht als Bestandteil der Gesellschaft verstehen wollten. Dies beinhaltete insbesondere ihre Einstellung zur Rolle der Gewerkschaften im öffentlichen Raum. Eine klare kontinuierliche Haltung ist angesichts der zum Teil schweren Auseinandersetzungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern dieser Zeit zwar schwer auszumachen,42 es fällt jedoch auf, dass die hier behandelten Akteure insgesamt die Notwendigkeit einer Kooperation im neuen Kapitalismus auch hinsichtlich einer Verständigung von »Arbeit« und »Kapital« für unausweichlich erachteten. In mancherlei Hinsicht erschien ihnen dabei die gewerkschaftliche Organisation als vorbildlich für die Anpassung an die Bedingungen des neuen Kapitalismus. Clemens Lammers, der zu Beginn der Weimarer Republik Mitglied und vehementer Verfechter der Zentralarbeitsgemeinschaft gewesen war, erklärte Anfang der 1930er Jahre, ihn habe »das kollegiale Verhalten der Arbeiterschaft in vielen mir nahestehenden Betrieben […] mit höchster Achtung erfüllt […]. Würde der berufsständische Gedanke ohne Rücksicht auf seine praktischen Auswirkungen unser ganzes Wirtschaftsleben in ähnlichem Sinn inspirieren, dann würde er eine unweigerliche Großtat vollbracht haben.«43
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Vgl. Ingo Kolboom, Frankreichs Unternehmer in der Periode der Volksfront 1936–1937, Rheinfelden 1983, S. 187f. Petra Weber hat kürzlich noch einmal die Gegensätze zwischen beiden Seiten in Deutschland und Frankreich betont, ohne dabei ein besonderes Gewicht auf die Verbandsvertreter zu legen. Vgl. Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/1939), München 2010. Lammers, Autarkie, Planwirtschaft und berufsständischer Staat, S. 41; vergl. auch Andrea Rehling, Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von
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Neuer Kapitalismus und parlamentarische Demokratie
Die Wirtschaftsstrukturen des neuen Kapitalismus erforderten aus Sicht von Verbandsvertretern eine neue Rolle von Organisationen der wirtschaftlichen Repräsentation, die zum einen vom unternehmerischen Individualismus zu einer Wirtschaft kollektiver Verständigung der Marktteilnehmer führen sollte und die zum anderen Körpern der wirtschaftlichen Selbstverwaltung eine neue öffentliche Funktion zuschrieb. Diese Vorstellungen richteten sich gegen die parlamentarische Demokratie der Weimarer und der Dritten Republik und trugen damit sicherlich nicht zur politischen Stabilität in Deutschland und Frankreich bei.44 Dennoch ist deshalb nicht auf eine prinzipielle Demokratiefeindschaft wirtschaftlicher Interessensvertreter zu schließen. Vielmehr deuten nicht zuletzt ihre Tätigkeiten und Äußerungen nach dem Zweiten Weltkrieg darauf hin, dass die Kompatibilität von Demokratie und koordiniertem Kapitalismus in Westeuropa nach 1945 eine längere Vorgeschichte hat.45 So erklärte Henri de Peyerimhoff auf dem ersten Kongress der Internationalen Handelskammer von 1947 in Montreux gegen die Forderungen der amerikanischen Vertreter, dass das freie Unternehmen im Verband organisiert und diszipliniert werden müsse, um den Staat in bestimmten Fragen entlasten und damit den Fortschritt sichern zu können.46 Clemens Lammers, der 1946 Vorsitzender des Aufsichtsrats der Berliner Schering AG wurde, handelte hier mit dem Betriebsrat die Beteiligung von Vertretern der Arbeitnehmerschaft im Aufsichtsrat aus und versuchte, die bei Schering getroffene Regelung über den Alliierten Kontrollrat auf ganz Berlin
der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion, Baden-Baden 2011, S. 132ff. 44 Sheri Berman hat argumentiert, dass gerade die Aktivität einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen für den Fall der Weimarer Republik verantwortlich zu machen sei. Vgl. Sheri Berman, »Civil Society and the Collapse of the Weimar Republic«, in: World Politics 49 (1997), S. 401–429. 45 Vgl. hierzu den Hinweis bei Gerald Feldman, »German Interest Group Alliances in War and Inflation, 1914–1923«, in: Berger (Hg.), Organizing Interests in Western Europe, S. 162. 46 Henri de Peyerimhoff, »L’entreprise Privée et l’Etatisme dans la Production et le Commerce«, in: L’Economie internationale. Revue de la Chambre de Commerce Internationale XIII, August 1947, S. 26.
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auszudehnen.47 René-Paul Duchemin war aufgrund von Kollaborationsvorwürfen nach 1945 in der Fortsetzung seiner früheren Tätigkeit eingeschränkt, verteidigte aber dennoch öffentlich die Politik der wirtschaftlichen Absprachen der 1930er Jahre vehement gegen Vorwürfe, dabei habe man nicht im Sinne des öffentlichen Wohls, sondern des französischen Malthusianismus gehandelt.48 Hermann Bücher hatte aufgrund eines langwierigen Entnazifizierungsverfahrens Gelegenheit, die entstehende Parteienlandschaft der westlichen Besatzungszonen zu beobachten. Aus seinem Missfallen über die aus seiner Sicht parteipolitisch motivierten Auseinandersetzungen machte er keinen Hehl, hoffte jedoch, dass seine Ansichten in der Sozialdemokratie eine Stimme finden könnten, die aus seiner Sicht die politischen Verhältnisse in Deutschland in Zukunft bestimmen würde. »Politisch bin ich der Ansicht, dass die CDU eine Sammlung aller derer darstellt, die sich noch eines Besitzes erfreuen und deshalb nicht zahlen wollen. Gedanklich stehe ich deshalb der SPD näher, die ich überhaupt so wie die Verhältnisse sich entwickeln, für die zukünftige deutsche Volkspartei halte.«49 Wenn diskutiert wird, ob der gegenwärtig abnehmende Einfluss intermediärer wirtschaftlicher Organisationen mit einem die Demokratie auflösenden Kapitalismus einhergeht,50 kann auch die Frage nach einer demokratischen Dimension in der Kritik wirtschaftlicher Interessenvertreter am Parlamentarismus der 1920er und frühen 1930er Jahre neu gestellt werden. Die Geschichte der Demokratie wird dann weniger im Sinne einer Kette von Erfolgen und Rückschritten und vielmehr als eine Abfolge von Anpassungen an sich ständig wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse fassbar.
Siehe das Protokoll der Aufsichtsratssitzung vom 21. Februar 1947, Schering Archiv B0–373. 48 René P. Duchemin, »Les problèmes économiques actuels. Sur les conditions de la lutte de l’industrie française«, in: Cent cinquantième anniversaire de la société d’encouragement pour l’industrie nationale et problèmes actuels de l’economie française, Paris 1951, S. 149. 49 Hermann Bücher, An Hans von Raumer, 12. 3. 1947. Allgemeine Korrespondenz Hermann Bücher, Firmenarchiv AEG-Telefunken, 1.2060A 5099. 50 Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013. 47
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Der vorliegende Beitrag argumentiert gegen ein verbreitetes Bild vom Zusammenhang zwischen der Krise der Demokratie und dem Ruf nach Führung im Europa der Zwischenkriegszeit. Demzufolge setzten sich autoritäre, faschistische und kommunistische Diktatoren nicht bloß innenpolitisch durch, sondern genossen erhebliches Prestige auch über die Grenzen ihres jeweils eigenen Landes hinaus. Dass die Demokratie derartig unter Legitimationsdruck geriet, lag nicht zuletzt daran, dass die Zeitgenossen Erwartungen an ihre »Führer« richteten, die in pluralistischen Systemen letztlich unerfüllbar waren. Charismatische Persönlichkeiten, rasche und weitreichende Entscheidungen und ein rücksichtsloser Umgang mit Gegnern wurden nicht nur goutiert, sondern gehörten zum Anforderungsprofil für Politiker. Dem Leitbild des »Führertums« wohnte eine mythische Dimension inne, der kein von parlamentarischen Konstellationen abhängiger Regierungschef gerecht werden konnte und der allein der Modus der propagandistischen Selbstinszenierung entsprach. Wie es der Politologe Marco Tarchi formuliert hat: »The cult of the political leader was perhaps the most specific feature of fascist movements, and directly opposed to a democratic mentality.«2
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Für die kritische Lektüre des Textes danke ich Rüdiger Graf, für Ermunterung und nützliche Hinweise Tim B. Müller. Marco Tarchi, »The Role of Fascist Movements«, in: Dirk Berg-Schlosser/ Jeremy Mitchell (Hg.), Authoritarianism and Democracy in Europe, 1918–1939. Comparative Analyses, Basingstoke 2002, S. 101–128, hier: S. 120.
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Diese Sicht erscheint zwar auf den ersten Blick plausibel, ist jedoch zu einseitig, um der politischen Geschichte Europas in der Zwischenkriegszeit gerecht werden zu können. Deshalb wird hier die These vertreten, dass die zeitgenössische Erwartung personifizierter Führung mit der Demokratie nicht unvereinbar war. Eine solche partielle Revision ergibt sich aus einer Reihe neuerer Studien zu verschiedenen demokratischen Politikern, die diese zunehmend aus ihrem historischen Kontext heraus begreifen, statt sie durch die Brille ihrer zeitgenössischen Gegner zu sehen oder an wie auch immer gearteten heutigen Maßstäben zu messen. Sie wird ferner von einigen aktuellen Analysen von Führung als übergreifendem Phänomen nahegelegt. Yves Cohen, ursprünglich Unternehmenshistoriker, hat vor Kurzem die Suche nach dem »chef«, »vozdh«, »leader« oder »Führer« in Frankreich, Russland bzw. der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs untersucht. Seine so breite wie subtile, Wirtschaft und Politik, Diskurse wie Praktiken einschließende Studie geht von der Überlegung aus, dass man den historischen Blick nicht von vornherein auf den Personenkult um die bekannten Diktatoren beschränken solle. Vielmehr habe sich der Ruf nach Führung aus einer paneuropäischen-amerikanischen Problematisierung formaler Organisation gespeist, die die Frage nach der Zukunft des herausgehobenen Individuums in rationalisierten Unternehmen und großräumigen politischen Systemen aufgeworfen habe. Diktatorische Herrschaft sei nur eine der möglichen Konsequenzen gewesen, die sich daraus hätten ziehen lassen.3 Insofern stimmt Cohens Interpretation mit der Studie des Politikhistorikers Henk te Velde zu Führungsstilen und Images niederlän-
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Vgl auch Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 17–67, oder die vergleichenden Bemerkungen bei Thomas Mergel, »Dictatorship and Democracy, 1918–1939«, in: Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 423–452, hier: S. 436f. Als klassische Fallstudie Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung [1980], Stuttgart 2002. Yves Cohen, Le siècle des chefs. Une histoire transnationale du commandement et de l’autorité (1890–1940), Paris 2013; ausführlich dazu Moritz Föllmer, »Leadership in Modern Times. Reflections on Yves Cohen’s Le siècle des chefs«, in: History, Culture and Modernity 2 (2014), S. 65–81.
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discher Ministerpräsidenten vom liberalen 19. Jahrhundert bis zu den sozialdemokratisch geprägten Nachkriegsjahrzehnten überein.4 Ferner hat der stark historisch arbeitende Politologe Archie Brown eine umfassende Analyse des »myth of the strong leader« vorgelegt, dessen Auswirkungen er ebenso in demokratischen wie in revolutionären und diktatorischen Kontexten verfolgt.5 Seine Kritik an der Erwartung des »strong leadership« bezieht sich dabei besonders auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten – neben Frankreich diejenigen Demokratien, in denen dezisionistische Führungsideale nach wie vor verbreitet sind und sich durch die Logik medialer Aufmerksamkeit womöglich noch verstärkt haben. Es gibt gute Gründe, Browns Präferenz für kooperativere Entscheidungsprozesse zu teilen.6 Doch in unserem Zusammenhang kommt es weniger darauf an, ob man die Nachfrage nach Führung durch herausragende Individuen für sinnvoll oder für schädlich hält, sondern darauf, dass sie ein zentraler Aspekt unterschiedlich verfasster und geprägter Demokratien war und bis heute ist. Man kann sie folglich nur um den Preis analytischer Einbußen von vornherein als »undemokratisch« abtun, wie man überhaupt vorsichtig damit sein sollte, die Politik der Zwischenkriegszeit durch die Brille des eigenen Verständnisses von Demokratie zu bewerten.7 4 5 6
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Henk te Velde, Stijlen van leiderschap. Persoon en politiek van Thorbecke tot Den Uyl, Amsterdam 2002. Archie Brown, The Myth of the Strong Leader. Political Leadership in Modern Politics, New York 2014. Interessante publizistische Kritiken am dominanten Verständnis politischer Führung in den USA und Großbritannien sind etwa: Lexington, »Call him Queen Bee. The Myth of an Omnipotent Presidency Makes it Harder to Get a Competent One«, The Economist vom 5. 7. 2014; Nick Duffell, »Why Boarding Schools Produce Bad Leaders«, The Guardian vom 9. 6. 2014, sowie unter Verweis auf den deutschen Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft Jochen Hung, »Germany – Winning with no Leaders«, The Guardian vom 14. 7. 2014. Ein Beispiel hierfür ist Ira Katznelson, Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013, der die Kompromisse des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt mit rassistischen Südstaatendemokraten sowie die autoritären Züge des New Deal in das Zentrum seiner ausgezeichneten Darstellung rückt. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob man eine Politik, die so offenkundig den Präferenzen breiter Wählerschichten entsprach, mit dem
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Auf der Grundlage eines breiten und historisierenden Verständnisses von Demokratie wird im Folgenden die politische Landschaft Europas erst in den 1920er und dann in den 1930er Jahren vermessen und eine lose Typologie demokratischer Führung entwickelt. Im Mittelpunkt stehen zum einen die emphatische Personifizierung der Demokratie und zum anderen die Demonstration von Stärke und Entscheidungsfreudigkeit im demokratischen Rahmen; später kam noch ein konsensorientierter und gemäßigter Typ hinzu. Alle drei Typen von Führung sind als spezifische Antworten auf die Herausforderungen der Zwischenkriegszeit zu interpretieren und verweisen gleichzeitig bereits auf die westeuropäische Demokratiegeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg.
Typen demokratischer Führung in den 1920er Jahren Wie sich das Verhältnis von Führung und Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit darstellt, hängt entscheidend davon ab, welche historische und geografische Perspektive man einnimmt. Das Bild einer Unvereinbarkeit ergibt sich vor allem dort, wo die Erwartung persönlicher Entscheidungsstärke bereits vor 1918 enttäuscht wurde und dann mit sozialistischen Politikvorstellungen zusammenstieß. Das war besonders in Italien der Fall. Dort verkörperte zunächst Ministerpräsident Francesco Crispi das Leitbild der herausragenden Führerpersönlichkeit, das in der Zeit des Risorgimento aufgekommen war und sich dann aus zunehmender Parlamentarismuskritik speiste. Doch drängten sich nach Crispis Tod 1901 weder der politisch wenig initiative König Viktor Emmanuel III. noch der machttaktisch agierende Liberale Giovanni Giolitti für eine ähnliche Rolle auf. Der linke Radikalismus der Nachkriegsjahre stand der Idee charismatischer Führung von vornherein distanziert gegenüber und nutzte daher die durchaus bestehende persönliche Verehrung gegenüber einzelnen Protagonisten nicht. So entstand ein Vakuum, das es Benito Mussolini ermöglichte, sich zunächst im Rahmen der bestehenden institutionellen Ordnung Begriff »anti-democratic pathologies« (S. 485) charakterisieren sollte, statt von Ambivalenzen und Paradoxien der Demokratie zu sprechen.
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zum Premierminister ernennen zu lassen. In den folgenden Jahren trat er zunehmend als charismatischer Duce auf und baute seine Machtstellung zur persönlichen Diktatur aus.8 Ein ähnliches Bild ergibt sich auf den ersten Blick in Deutschland, wo Wilhelm II. von manchen Zeitgenossen anfänglich als Führungsfigur für eine demokratische Moderne gesehen wurde.9 Der Drang des Kaisers nach Einfluss und Popularität richtete sich jedoch gegen ihn selbst: Wilhelm II. verließ sich auf seine idiosynkratischen Vorstellungen und persönlichen Beziehungen, statt die Komplexität des preußischen und deutschen politischen Systems zu reflektieren. Der Preis dafür war, dass er bald persönlich mit fehlgeschlagenen Initiativen und Skandalen identifiziert wurde.10 Letztendlich konnte er die zeitgenössischen Führererwartungen ebensowenig erfüllen wie Viktor Emmanuel III., ohne dass seine Auswahl von Reichskanzlern andere Führungspersönlichkeiten hätte aufkommen lassen. Ferner waren die deutschen Sozialisten wie ihre italienischen Genossen nach Kriegsende zurückhaltend gegenüber der Idee persönlicher Machtausübung. Vielmehr verstanden sie Führung als kollektive Aufgabe. »Der Sozialdemokratie«, so formulierte Friedrich Ebert im Februar 1919, »ist durch den Ausfall der Wahlen die Mission zugefallen, zu führen, nicht zu herrschen.«11 Seine radikale Antipodin Rosa Luxemburg hielt die sozialistische für die erste Revolution, die nicht »durch eine kleine Minderheit des Volkes« geleitet werde, sondern »durch die große Mehrheit der Arbeitenden allein zum Siege gelangen kann«: »Die Proletariermas8
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Christopher Duggan, »Il culto dell’Uno dal Risorgimento al fascismo«, in: Passato e presente 83 (Mai–Juli 2011), S. 76–97; Carl Levy, »Errico Malatesta and Charismatic Leadership«, in: Jan Willem Stutje (Hg.), Charismatic Leadership and Social Movements. The Revolutionary Power of Ordinary Men and Women, New York 2012, S. 84–100; Donald Sassoon, Mussolini and the Rise of Fascism, London 2007. Klassisch: Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, Berlin-Schöneberg 1900. Christopher Clark, Kaiser Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, Berlin 2009; Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005. »Die Eröffnung der Nationalversammlung. Begrüßungsrede Eberts«, Vorwärts vom 6. 2. 1919.
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sen müssen lernen, aus toten Maschinen, die der Kapitalist an den Produktionsprozeß stellt, zu denkenden, freien, selbsttätigen Lenkern dieses Prozesses zu werden.«12 Die zwischen Ebert und Luxemburg stehenden Unabhängigen Sozialdemokraten identifizierten Führungspersönlichkeiten erst retrospektiv, wenn sie etwa den ermordeten Münchner Revolutionär Kurt Eisner als »Kraftquelle« bezeichneten, die die Massen mit »revolutionärem Geist« erfüllt hätte. Gleichzeitig setzten sie sich mit den Versäumnissen der »Revolutionsmänner« auseinander, die im entscheidenden Moment nicht entschlossen und effektiv vorgegangen wären.13 Lässt sich also sagen, dass im Deutschland der 1920er Jahre eine mythische Führersehnsucht aufkam, weil vorherige Erwartungen enttäuscht worden waren, insbesondere durch den am Ende ruhmlos in die Niederlande flüchtenden Kaiser? Konnte diese Führersehnsucht in ein Vakuum stoßen, weil die Linke auf eine Personalisierung von Politik verzichtete bzw. sie erst ex post befürwortete? Eine solche Sichtweise griffe insofern zu kurz, als sie die zeitgenössische Bedeutung gemäßigt-demokratischer Führungsvorstellungen übersähe. In der frühen Weimarer Republik besetzten auch und gerade die Linksliberalen den Volksgemeinschaftstopos. Sie verbanden dies mit dem Versprechen, dem Prinzip der Persönlichkeit unter neuen politischen Bedingungen Geltung zu verschaffen. Nur die Demokratie sei imstande, für eine sozial breite und verfahrensmäßig legitime Führerauslese zu sorgen – im Unterschied sowohl zur Privilegiengesellschaft des Kaiserreichs als auch zum Rechtradikalismus der Nachkriegszeit mit seinem Ruf nach dem »starken Mann«.14 Auch wenn die Suche nach Führertum in den folgenden
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Rosa Luxemburg, »Was will der Spartakusbund?« (14. 12. 1918), in: dies., Gesammelte Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1983, Bd. 4: August 1914 bis Januar 1919, S. 440–449, hier: S. 442f. »Ein Märtyrer der Revolution. Kurt Eisner geboren den 14. Mai 1867 ermordet den 21. Februar 1919«, Die Freiheit vom 22. 2. 1919; F.[elix] St.[össinger], »Aus der Werkstatt der deutschen Revolution«, Die freie Welt 36 (August 1920). Wolfgang Hardtwig, »Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat«, in: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich
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Jahren nicht unbedingt linksliberalen Vorstellungen folgte, war sie doch keineswegs prinzipiell demokratiefeindlich. Aus vielen Äußerungen spricht das Streben, Erkennbarkeit und Einfluss von Individuen auch unter den Bedingungen von moderner Großorganisation und republikanischer Verfasstheit zu bewahren. Solche Hoffnungen richteten sich ebenso auf Joseph Wirth vom katholischen Zentrum wie auf den Sozialdemokraten Carl Severing, die jedoch beide für die Zeitgenossen zu sehr Parteipolitiker blieben und entscheidende Taten vermissen ließen. Das unterschied sie sowohl vom konservativen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg als auch von Adolf Hitler, der am Ende von der breiten Nachfrage nach einem »Führer« profitierte.15 Demnach scheint das Problem der Weimarer Republik nicht in prinzipiell demokratiefeindlichen Führungserwartungen gelegen zu haben, sondern darin, dass es keine demokratischen Politiker gab, die diese Rolle wirklich annahmen – was angesichts knapper Mehrheitsverhältnisse zwischen Parteien, die in erster Linie sozialmoralische Milieus repräsentierten und einen hohen Organisationsgrad hatten, zugegebenermaßen schwierig gewesen wäre. Das war jedoch in Frankreich anders, wo Édouard Herriot in den 1920er Jahren für republikanische Überzeugungen und – als der unteren Mittelschicht entstammender Literaturprofessor und Bürgermeister von Lyon – Mobilitätschancen stand. Er einigte und revitalisierte die lose strukturierte linksrepublikanische Radikale Partei und führte erfolgreich Wahlkämpfe. 1924/25 setzte er sich als Ministerpräsident für internationale Kooperation ein, scheiterte aber
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1900–1938, Köln 2013, S. 227–253, hier: S. 246f. Vgl. demgegenüber die Einordnung der Führungsvorstellungen Max Webers in eine autoritäre Kontinuitätslinie bei Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 1974, S. 407–415. Thomas Mergel, »Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1936«, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91–128, hier: S. 105–122. Dagegen betont Klaus Schreiner, »Politischer Messianismus, Führergedanke und Führererwartung in der Weimarer Republik«, in: Manfred Hettling u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 237–247, den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Führererwartung und parlamentarischer Demokratie.
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an der fragilen parlamentarischen Position und wirtschaftspolitischen Inkohärenz des von ihm angeführten »Cartel des gauches«.16 Ein weiteres und spektakuläreres Beispiel liefert der tschechoslowakische Staatspräsident Tomáˇs Garrigue Masaryk. Masaryk hob seine bescheidene, mährisch-slowakische Herkunft hervor, seine Tapferkeit im Ersten Weltkrieg sowie seinen Patriotismus. Gleichzeitig trat er als Personifizierung von Freiheit, Gerechtigkeit und Kosmopolitismus auf. Mithilfe eines ausgedehnten politischen und publizistischen Netzwerks schuf er einen regelrechten Führerkult, der sowohl nationale Kontinuitäten als auch die Gemeinsamkeiten mit den westeuropäischen Verbündeten betonte. Sein Porträt hing in Regierungsgebäuden, Schulen und Gemischtwarenläden. Viele einfache Leute wandten sich mit ihren Anliegen persönlich an ihn. Um seine Popularität zu erhöhen, scheute Masaryk keine Mühen: Er ließ sich verschiedentlich filmen oder von Hagiographen verewigen und stand nicht weniger als 64 Malern Modell.17 Es gab also im Europa der 1920er Jahre durchaus Politiker, die in einem emphatischen Sinne als demokratische Führungspersönlichkeiten auftraten und damit keineswegs auf verlorenem Posten standen. Andere demonstrierten Stärke und Entscheidungsfreudigkeit und blieben dabei der Demokratie verbunden. In Frankreich und Großbritannien hatte der Erste Weltkrieg gezeigt, dass einzelne Persönlichkeiten die Komplexität mobilisierter Gesellschaften beherrschen, inneren Konsens herstellen und Entscheidungsfähigkeit beweisen konnten – ohne deshalb die bestehende Regierungsform zu beseitigen oder dem Einfluss hoher Militärs zu opfern. Der französische Präsident Raymond Poincaré und Georges Clemenceau, Ministerpräsident seit November 1917, strebten nach Erweiterung ihrer exekutiven Autorität und gingen hart gegen vermeintliche Defätisten vor, überschritten jedoch nie die vorgegebenen konstitutionellen Grenzen. Sie zeigten, dass die Dritte Republik allen Schwierigkeiten, Konflikten und Dekadenzbehauptungen zum Trotz am Ende siegreich sein konnte. Damit trugen sie maßgeblich zur Stabilität der par16 17
Serge Berstein, Édouard Herriot ou la République en personne, Paris 1985, S. 75–151. Andrea Orzoff, »The Husbandman. Tomáˇs Masaryk’s Leader Cult in Interwar Czechoslovakia«, in: Austrian History Yearbook 39 (2008), S. 121–137.
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lamentarischen Demokratie auch in den 1920er Jahren bei, nicht zuletzt durch Poincarés Ministerpräsidentenschaft im Zeichen der »Union Nationale« (1926–1928).18 Ähnliches lässt sich von David Lloyd George in Großbritannien sagen, der zunächst Munitionsund Kriegsminister, dann ab Dezember 1916 Premierminister war. In diesen Funktionen reorganisierte er institutionelle Kompetenzen und Entscheidungsprozesse, um die Ökonomie für den totalen Krieg zu mobilisieren. Ob diese Bemühungen wirklich so kohärent und erfolgreich waren, wie es Lloyd Georges zeitgenössisches Image und retrospektive Selbststilisierung nahelegen, ist hier zweitrangig. Wichtig sind sein quasipräsidentielles Auftreten, sein »talent for inspirational leadership« sowie die Tatsache, dass es einem liberalen Demokraten gelang, sich persönlich mit dem Sieg zu identifizieren und noch für vier weitere Jahre an der Macht zu bleiben.19 Demokratische Führungstätigkeit bestand nicht nur in konkreter Partei- und Regierungstätigkeit, sondern auch in Erinnerungsund Deutungspolitik. Reden und Memoiren verbanden die jeweilige Selbsterzählung mit dem Bild eines Weltkriegs, »der zum großen Teil ein Kampf zwischen Demokratie und Autokratie war«.20 Die siegreiche Kampfanstrengung erschien als der beste Beweis, dass demokratische Regime im Ernstfall zu nationaler Kohäsion und Dynamik fähig waren. Vom Kriegseintritt an habe es, so Lloyd George über Großbritannien, »nur ein Volk, eine Demokratie, eine Einigkeit gegeben«, ohne dass dies die Fähigkeit zur Selbstkorrektur behindert habe: »Das ist der Vorteil der Demokratie, wir sind uns gegenseitig unserer Fehler bewußt. Wo immer ein Fehler ge-
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John F. V. Keiger, »Poincaré, Clemenceau, and the Quest for Total Victory«, in: Roger Chickering/Stig Förster (Hg.), Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front 1914–1918, New York 2000, S. 247–263; ders., Raymond Poincaré, Cambridge 1997, S. 193–239, 319–339. Keith Grieves, »Lloyd George and the Management of the British War Economy«, in: Chickering/Förster, Great War, S. 369–387, hier: S. 385; Martin Pugh, Lloyd George, Harlow 1988, S. 81–157; Michael Graham Fry, And Fortune Fled. David Lloyd George, The First Democratic Statesman, 1916–1922, New York 2011. David Lloyd George, »Rede in Philadelphia«, 30. 10. 1923, abgedruckt in: ders., Gedanken eines Staatsmannes, hrsg. von Philip Guedalla, Berlin 1929, S. 226–229, hier: S. 226.
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macht wird, erheben sich Millionen Stimmen, um ihn aufzudecken, und wo ein Fehler gemacht wird, erheben sich, wie ich sagen darf, Millionen Hände, um ihn wieder gut zu machen.«21 Herriot rief die Franzosen zu einer großen Erneuerungsanstrengung auf, um angesichts der latenten deutschen Bedrohung die bevölkerungspolitischen, ökonomischen und technologischen Defizite des Landes zu korrigieren. Dies könne nur im Rahmen der Demokratie stattfinden. Denn diese allein erlaube die Verlängerung der »union nationale« in die Nachkriegszeit und die Mobilisierung individueller wie kollektiver Energien. Selbstbewusst verteidigte er den generalistischen Anspruch, sich zu allen relevanten Fragen äußern zu können: »Die Demokratie als optimistisches Regime beruht auf dem Postulat, dass der Gewählte ebenso universell ist wie der Wähler.«22 Diese kurze Zusammenschau hat zwei Typen politischer Führung herausgearbeitet: die emphatische Personifizierung demokratischer Leitbilder und die Demonstration von Entscheidungsstärke innerhalb eines demokratischen Rahmens. Zudem wurde gezeigt, wie sich die Selbststilisierung führender Politiker mit der öffentlichkeitswirksamen Deutung von Krieg und Wiederaufbau als demokratischen Projekten verband. Das heißt natürlich nicht, dass die Umsetzung unter den Bedingungen der parlamentarischen Systeme und Kulturen im Europa der 1920er Jahre unproblematisch gewesen wäre. Ein entscheidungsstarker Umgang mit kontingenten Situationen ließ sich leichter während des Ersten Weltkriegs beweisen als danach, wie etwa Lloyd George erfahren musste. Demokratische Leitbilder zu personifizieren, war in der Regierung schwieriger als in der Opposition, wie Herriots Beispiel zeigt – am einfachsten jedoch, wenn man wie Masaryk den Niederungen der alltäglichen Politik enthoben war oder sich zumindest so präsentieren konnte. Es konnte auch sein, dass wie in Italien keiner der beiden Typen zur Entfaltung kommen konnte, sodass reichlich Raum für den »Duce« Mussolini blieb, oder wie in der Weimarer Republik sich entsprechende Erwartungen an demokratische Repräsentanten richteten, 21
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Ebenda, S. 228. Vgl. ders., War Memoirs, 6 Bde., London 1933–1936; Raymond Poincaré, Au service de la France. Neuf années de souvenirs, 10 Bde., Paris 1926–1934. Edouard Herriot, Créer, Bd. 1, Paris 1919, S. 30, 35; Bd. 2, hier: S. 335.
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diese aber angesichts der bestehenden politischen Verhältnisse überforderten. Fest steht jedoch, dass sich die Nachfrage nach politischer Führung nicht notwendig gegen die Demokratie richtete oder antidemokratische Konsequenzen hatte. Doch inwieweit gilt dies auch für das Europa der 1930er Jahre, dessen Demokratien, soweit sie überhaupt noch bestanden, in anderem Ausmaß von ökonomischen und politischen Krisen geschüttelt und durch Diktaturen herausgefordert waren?
Demokratische Führung in den Krisen der 1930er Jahre An der Stärke und Ausstrahlungskraft diktatorischer Herrschaft im Europa der 1930er Jahre kann zunächst kein Zweifel bestehen. Autoritäre Regime vornehmlich hoher Militärs saßen, wie in Josef Pilsudskis Polen oder Miklós Horthys Ungarn, fest im Sattel, während andere neu entstanden, wie António de Oliveira Salazars »Estado Novo« oder die Regierung von Francisco Franco, die nach der Invasion aus Marokko 1936 rasch weite Teile Spaniens kontrollierte. Hatte Mussolinis faschistische Herrschaft bereits in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit Bewunderung hervorgerufen, kam nun Adolf Hitlers nationalsozialistische Diktatur hinzu, die von britischen Adligen, französischen Rechtsintellektuellen oder belgischen Kleinbürgern als Vorbild für die jeweils eigene Gesellschaft gesehen wurde. Der Spanische Bürgerkrieg eröffnete die Perspektive einer internationalen und sehr effektiven Kooperation zwischen autoritären und faschistischen Strömungen und Regimen, der die Demokratien Frankreich und Großbritannien keinen Widerstand entgegensetzen konnten und auch nicht wollten. Vor diesem Hintergrund sahen viele Linke in Stalins Sowjetunion ihren einzigen verlässlichen Verbündeten. Diese bekannten und richtigen Feststellungen sollten jedoch nicht dazu führen, die Vielfalt demokratischer Antworten auf die antidemokratische Herausforderung außer Acht zu lassen.23 Wie im Folgenden mit Blick auf politische 23
Insoweit einseitig ist etwa der Abriss der politischen Entwicklung bei Bernard Wasserstein, Barbarism and Civilization. A History of Europe in Our Time, Oxford 2007, S. 242–279.
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Führung argumentiert wird, lassen sich auch und gerade die europäischen 1930er Jahre als eine »creative crisis of democracy« verstehen, aus der neue Lösungsversuche resultierten.24 Zunächst einmal gab es ebenso wie im vorangegangenen Jahrzehnt Beispiele für eine überzeugungsstarke Personifizierung der Demokratie, nunmehr als Reaktion auf den von der radikalen Rechten ausgeübten Druck und im Zeichen der »Volksfront«.25 So versuchte Manuel Azaña als linksrepublikanischer Ministerpräsident Spaniens (1931–1933), den gesellschaftlichen Einfluss von Offizierskorps und katholischer Kirche zurückzudrängen. Als die Republik in den folgenden Jahren einen konservativen Kurs einschlug, arbeitete er erfolgreich auf eine Allianz mit dem gemäßigten Flügel der Sozialisten hin. Eher ein bürgerlicher Intellektueller als ein Volkstribun, gewann Azaña an persönlicher Popularität, als er wegen angeblicher Beteiligung an einem Aufstand für mehrere Monate inhaftiert wurde. Im Zeichen dieses neuen »azañismo« fanden seine Redeauftritte nunmehr im Freien statt und zogen bis zu einer halben Million zum Teil zahlender und weit gereister Zuhörer an. Damit trug er maßgeblich zum Wahlsieg der Volksfront im Februar 1936 bei und versuchte – schon bald unter den Extrembedingungen des Bürgerkriegs –, Kohäsion und Prestige der Republik als Präsident zu bewahren.26 Léon Blum, Präsident der Section Française de l’Internationale Ouvrière und wie Azaña ursprünglich ein bürgerlicher Intellektueller, veränderte seine Position im Zeichen der antifaschistischen Allianz: Er avancierte vom Bewahrer von Einheit und Doktrin der eigenen Partei zum weithin anerkannten (und angefeindeten) demokratischen Protagonisten. Diesen Status verdankte er nicht zuletzt den Blessuren, die ihm eine hasserfüllte Menschenmenge bei 24 25
26
Vgl den treffenden Titel von Joris Gijsenbergh u.a. (Hg.), Creative Crises of Democracy, Brüssel 2012. Die Kreativität des zeitgenössischen Antifaschismus betont auch Gerd-Rainer Horn, European Socialists Respond to Fascism. Ideology, Activism, and Contingency in the 1930s, New York 1996. Julián Casanova, The Spanish Republic and Civil War, Cambridge 2010, S. 37–42, 72, 76, 112ff., 123–128; Santos Juliá, Vida y tiempo de Manuel Azaña, Madrid 2008, S. 344–443. Zu Spanien vgl. den Beitrag von Till Kössler in diesem Band.
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Ausschreitungen auf dem Boulevard Saint-Germain zugefügt hatte. Er setzte ihn um in einen Wahlsieg im April 1936, eine klug abgesicherte Regierungsbildung und den Anspruch, von seinen Genossen nunmehr als »chef« anerkannt zu werden. Blum genoss eine so breite wie tiefe Popularität, die sich in zahlreichen Sympathiebekundungen besonders von Arbeitern äußerte und umgekehrt antisemitischen Hass mobilisierte. Zwar wurde seine Volksfrontregierung schon bald zwischen spontanen Streiks und bürgerlichen Ängsten, wirtschaftspolitischen Zwangslagen und außenpolitischen Spannungen zerrieben. Doch blieb seine Person mit einem ambitionierten Projekt der gesellschaftlichen und kulturellen Erneuerung verbunden.27 Ferner wurden auch in den 1930er Jahren Stärke und Entscheidungsfreudigkeit im demokratischen Rahmen demonstriert und personifiziert. Das lässt sich als problematischer Autoritarismus, aber durchaus auch als konstruktiver Umgang mit der Herausforderung durch ökonomische Depression und diktatorische Herrschaft interpretieren. So schuf sich Hendrik Colijn, konservativer Politiker und fünfmaliger Premierminister der Niederlande (1925/26, 1933–1939) ein Image von Vertrauenswürdigkeit, Realismus und administrativer Befähigung. Gleichzeitig betonte er seine ländliche Herkunft, seine militärische Vergangenheit in Niederländisch-Ostindien sowie seine vorpolitische Karriere als Direktor einer Ölfirma. Ein klassisches Bild des Staatsmannes als Schiffskapitän aktualisierend, präsentierte er sich als autonomer, sowohl männlich-dynamischer als auch beruhigend gelassener Führer, der in der Lage war, sein Land durch die schweren Stürme der Krise zu steuern. Getreu seinen wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen setzte er Budgetkürzungen durch und hielt hartnäckig am Goldstandard fest.28
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Julian Jackson, The Popular Front in France: Defending Democracy 1934–1938, Cambridge 1988, besonders S. 53–61, 149–154, 216ff.; Serge Berstein, Léon Blum, Paris 2006, S. 385–560. Te Velde, Stijlen van leiderschap, S. 107–152. Zum Hintergrund und mit dem interessanten, von Karl Loewenstein übernommenen Begriff der »disciplined democracy«: Joris Gijsenberg, »Crisis of Democracy or Creative Reform? Dutch Debates on the Repression of Parliamentary Representatives
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Ein weiteres einschlägiges Beispiel liefert Édouard Daladier, französischer Premierminister 1938/39, nachdem sich die Volksfrontregierung aufgelöst hatte. Daladier stilisierte sich erfolgreich zur volksnahen, überparteilichen und durchsetzungsstarken Führungsfigur. Dazu nutzte er Radio und Wochenschau ebenso wie das neugegründete Commissariat general à l’information und eine Vielzahl technokratischer Berater. Er provozierte und besiegte einen Generalstreik, näherte sich der Katholischen Kirche an und regierte in der Verteidigungs-, Wirtschafts- und Immigrationspolitik mit Notverordnungen. Außenpolitisch nahm er eine konsequentere Haltung gegenüber Deutschland und Italien ein. Damit entsprach Daladier als altgedientes Mitglied der Radikalen Partei – der wichtigsten Säule des politischen Systems und der politischen Kultur der Dritten Republik – der breiten Nachfrage nach einer dezisionistischeren Form der Demokratie in Zeiten der Krise.29 Das Beispiel Juan Negríns zeigt, dass auch Sozialisten in der Lage sein konnten, entscheidungsfreudig und sogar im Modus des Ausnahmezustands zu agieren. Der polyglotte Medizinprofessor und Vertreter des gemäßigten Parteiflügels wurde im Mai 1937 von Präsident Azaña zum Ministerpräsidenten des republikanischen Spaniens ernannt. In den folgenden zwei Jahren stand er vor der dramatisch schwierigen Aufgabe, die Kriegführung gegen die zunehmende Übermacht des franquistischen Lagers effizienter zu organisieren, einen inneren Konsens herzustellen und Unterstützung im Ausland zu gewinnen. Dazu versuchte er, eine Brücke zwischen liberalem Konstitutionalismus und Konzessionen an die Kommunisten zu schlagen. Negrín erschien allgemein als optimistischer und charakterstarker, in politischer, kulinarischer und (gerüchteweise) sexueller Hinsicht lebensfreudiger Führer. Seine Stärke lag weder in rhetorischen Hohenflügen noch in der Aktenbearbeitung, sondern im Treffen von Entscheidungen. Im Auftreten verbindlich,
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and Political Parties 1933–1940«, in: ders.u.a. (Hg.), Creative Crises of Democracy, S. 237–268. Olivier Dard, Les années trente. Le choix impossible, Paris 1999, S. 213–36; Gilles Le Béguec, »L’évolution de la politique gouvernementale et les problèmes institutionnels«, in: René Rémond/Janine Bourdin (Hg.), Édouard Daladier chef de gouvernement Avril 1938–Septembre 1939, Paris 1977, S. 55–74.
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war er durchaus imstande, seinen langjährigen Freund und Mitstreiter Indalecio Prieto als Minister zu entlassen und Kabinett wie Präsident zugunsten eines informellen Beraterkreises zu übergehen. Auch zentralisierte er Staatswesen und Kriegsökonomie gegen den Widerstand syndikalistischer Gewerkschaften und lokaler Autonomiebewegungen. Die militärische Niederlage konnte Negrín damit jedoch bloß aufschieben, letztendlich weil die erhoffte britische und französische Unterstützung ausblieb.30 Diese drei Vertreter des entscheidungsstarken Führungstypus sind häufig kritisiert worden, sei es für wirtschaftspolitische Orthodoxie (Colijn), eine bereits auf das Vichy-Regime verweisende Abwehrhaltung gegenüber Einwanderern (Daladier) oder eine autoritär-zentralistische Organisation des republikanischen Lagers auf Kosten der Selbstregierung von unten (Negrín). Es geht hier nicht darum, diese Vorwürfe durch eine positive Bewertung zu ersetzen. Aber man muss darauf hinweisen, dass Austeritätspolitik oder die Abwehr von Immigration historisch von breiten Wählerschichten in freien Wahlen unterstützt worden sind und noch heute unterstützt werden. Dass einem beides aus guten Gründen nicht behagen mag, rechtfertigt noch nicht, es aus dem Begriff der Demokratie herauszudefinieren. Mit ähnlicher Stoßrichtung hat der Politologe Giovanni Capoccia argumentiert, dass es für »successful democratic leadership« zwischen den Kriegen ausschlaggebend gewesen sei, ob die führenden Vertreter der politischen Mitte koordiniert und entschieden gegen die Feinde der Demokratie vorgingen oder nicht. Der belgische König Leopold III., der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneˇs und dessen anfänglich durchaus demokratieskeptischer finnischer Kollege Pehr Evind Svinhufvud hätten dieses Kriterium erfüllt. Sie hätten sich öffentlich wie hinter den Kulissen für die Bewahrung des bestehenden politischen Systems eingesetzt und damit den Einfluss rechtsextremer Kräfte zu-
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Casanova, Spanish Republic and Civil War, S. 263–274; Helen Graham, »War, Modernity and Reform. The Premiership of Juan Negrín 1937–1939«, in: Paul Preston/Ann L. Mackenzie (Hg.), The Republic Besieged. Civil War in Spain 1936–1939, Edinburgh 1996, S. 163–196; Gabriel Jackson, Juan Negrín. Médico, socialista y jefe del Gobierno de la IIe República Española, Barcelona 2008, S. 139–367.
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rückgedrängt oder zumindest begrenzt – im Unterschied zum aktiv auf ein Ende der Demokratie hinarbeitenden Reichspräsidenten Hindenburg.31 Neben der emphatischen Personifizierung der Demokratie und der Demonstration von Stärke und Entscheidungsfreudigkeit im demokratischen Rahmen lässt sich in den 1930er Jahren noch ein weiterer, eher konsensorientierter Führungstypus ausmachen. Darunter können vor allem die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson und – weniger markant – Johan Nygaardsvold gefasst werden. Hansson und Nygaardsvold gingen in Schweden bzw. Norwegen Tolerierungsvereinbarungen oder Koalitionen mit Bauernparteien ein. Damit beendenten sie nicht nur eine Phase der politischen Instabilität und Parlamentarismuskritik, sondern läuteten eine neue wohlfahrtsstaatliche Epoche ein.32 Aber auch Stanley Baldwin, einer der bedeutendsten konservativen Politiker seiner Zeit und dreimaliger Premierminister des Vereinigten Königreichs (1923/24, 1924–1929, 1935–1937), lässt sich als konsensorientierte Führungsfigur interpretieren. Er befasste sich zwar nur wenig mit Gesetzgebung und konkreter Politikgestaltung. Aber er war in der Lage, seine Kabinette zu koordinieren, anstehende Fragen im Gespräch zu klären und sich einen längerfristigen Blick zu bewahren. Dazu pflegte er persönliche Beziehungen zu den Parlamentariern, deren Stimmung er einzuschätzen und zuweilen zu beeinflussen vermochte. Die Wählerschaft erreichte Baldwin, indem er in Wochenschauen und Wahlkampffilmen auftauchte, sein Bild – mitsamt seiner Pfeife als Markenzeichen – durch Fotografien verbreiten ließ und sich in verständlicher und umgänglicher Form
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Giovanni Capoccia, Defending Democracy. Reactions to Extremism in Interwar Europe, Baltimore 2005, S. 179–220, hier: S. 214 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007. Eine robustere Verteidigung der Demokratie wurde bereits zeitgenössisch empfohlen von Karl Loewenstein, »Authority versus Democracy in Contemporary Europe«, in: American Political Science Review 29 (1935), S. 571–593 und S. 755–784, hier: S. 593. Francis Sejersted, The Age of Social Democracy. Norway and Sweden in the Twentieth Century, Princeton 2011, S. 73, 84–87, 159–166; Sheri Berman, The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century, New York 2006, S. 173ff.
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an die Hörer der BBC wandte. Zwar sah er die Welt seit Kriegsende als »strange and extraordinarily difficult« und die neuen Wahlberechtigten als »untrained and inexperienced«. Aber der Torypolitiker akzeptierte, dass die Demokratisierung unwiderruflich war und er sich an sie anpassen musste.33 Wie im vorangegangenen Abschnitt sind über die Wahlkampfund Regierungspraxis hinaus die inhaltlichen Positionen der genannten Politiker von Interesse. Das Spektrum reichte dabei von der emphatischen Identifikation mit Demokratie und Volksfront bis zur gemäßigt-konservativen Verteidigung einer durch Ordnungssinn und Verantwortungsgefühl kontrollierten Demokratie. All diese Positionen verbanden sich mit eingängigen nationalen Selbstbildern. An eine der Revolutionsperiode entstammende Vorstellung des freiheitsliebenden und unkorrumpierbaren peuple anknüpfend versprach Blum, dass sich mit der Volksfrontregierung eine »neue Zukunft für die französische Demokratie« eröffne. Diese Zukunft basiere auf dem »doppelten Vertrauen des Parlaments und des Landes« und verlange nun nach einer konzertierten Umsetzung der eingegangenen Wahlversprechen.34 Negrín leitete die Autorität der republikanischen Regierung aus ihrer Legitimation durch Wahlen sowie aus dem historischen Unabhängigkeitsstreben der Spanier angesichts feindlicher Eroberungsversuche ab. Dass diese Regierung »mit der Mitarbeit und dem Vertrauen des Volkes rechnen« könne, erlaube ihr im Unterschied zum FrancoLager mit seiner selektiven Außendarstellung eine offene »Haltung, welche einem demokratischen Regime Ansehen verleiht«.35 Für Baldwin war die Demokratie die organische Weiterentwicklung eines jahrhundertealten englischen Strebens nach freier Selbstregierung – im Unterschied zu denjenigen Ländern, in denen sie autoritär strukturierten Gesellschaften »aufgepropft« worden und folglich »in Chaos« ausgeartet sei: »Von den Gegnern der Demokratie
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Philip Williamson, Stanley Baldwin. Conservative Leadership and National Values, Cambridge 1999, besonders S. 61–87, Zitat: S. 144f. Léon Blum, »La présentation devant le parlement (5. 6. 1936)«, in: L’Oeuvre de Léon Blum 1934–1937, Paris 1964, S. 271–289, hier: S. 272, 274. Rede des spanischen Ministerpräsidenten Juan Negrín, gehalten in Barcelona am 26. Februar 1938, Paris ohne Datum, S. 3, 4.
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bei uns und besonders im Ausland wird heute oft gesagt, dass das parlamentarische System versagt habe. Aber was immer man sagen mag: England ist – im Verein mit den Ländern [des britischen Empire], aus denen unsere Kollegen gekommen sind – das einzige Land, in dem eine parlamentarische Regierung aus einem natürlichen Wachstum entstanden ist, in dem diese Regierungsform traditionell und vererbt ist, in dem sie Fleisch vom eigenen Fleisch und Bein vom eigenen Bein ist.«36 Die Positionen Blums, Negríns und Baldwins belegen einmal mehr die oft unterschätzte Innovationskraft demokratischer Politiker in den 1930er Jahren. Im vorangegangenen Jahrzehnt war die emphatische Personifizierung der Demokratie vorhanden, aber weniger existenziell gewesen als nun bei Azaña und Blum, die beide durch Angriffe auf ihre physische Integrität an Glaubwürdigkeit gewannen. Entscheidungsfreudigkeit war zuvor eher retrospektiv mit Blick auf den Ersten Weltkrieg beansprucht als aktuell bewiesen worden. Doch änderte sich dies unter den Bedingungen von ökonomischer Depression, rechtsextremer Herausforderung und Spanischem Bürgerkrieg. Colijn, Daladier und Negrín übernahmen dabei autoritäre Elemente und testeten die Grenzen des demokratisch Vertretbaren aus, überschritten sie jedoch nicht. Man könnte sogar argumentieren, dass sie damit gewollt oder ungewollt die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigten, wie es auch Giovanni Capoccias These des »successful democratic leadership« in Belgien, Finnland und der Tschechoslowakei nahelegt. Ferner verweisen die Beispiele von Hansson, Nygaardsvold und Baldwin auf einen neuen Trend zur konsensorientierten Führung im gemäßigt sozialdemokratischen oder konservativen Rahmen.37 Am Vorabend des 36
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Stanley Baldwin, »Die Freiheit ist unser Element (6. 3. 1934)«, in: ders., Freiheit und Friede, Luzern 1936, S. 19–27, hier: S. 25; ders., »Die Fackel der Freiheit (4. 7. 1935)«, in: ebenda, S. 7–10, hier: S. 9. Marginal war dieser Trend zur Annäherung an eine neue politische Mitte nicht, vgl. Josef Mooser, »Die ›Geistige Landesverteidigung‹ in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), S. 685–708; Bernard Rulof, »Selling Social Democracy in the Netherlands. Activism and its Sources of Inspiration during the 1930s«, in: Contemporary European History 18 (2009), S. 475–497.
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Zweiten Weltkriegs war die Demokratie unbestreitbar bedroht – aber das Spektrum an demokratischen Führungstypen hatte sich gerade dadurch erhalten und sogar erweitert.
Fazit Nach 1918 etablierte sich die Demokratie als wichtigste Form politischer Repräsentation in Europa. Gleichzeitig war sie enormen Herausforderungen ausgesetzt, die sich nach einer ruhigeren Phase in den 1930er Jahren wieder zuspitzen sollten. Vor diesem Hintergrund agierten ihre Repräsentanten – die nebenbei bemerkt den viel behandelten zeitgenössischen Jugendlichkeits- und Virilitätsidealen meist nicht entsprachen – flexibler und kreativer, als dies oft zugestanden wird. Demokratische Politiker kamen verbreiteten Erwartungen entgegen, formulierten ihre Vorstellungen in eingängiger Weise und entwickelten neue Wahlkampf- und Regierungsstile. Die gemischte Bilanz dieser Bestrebungen ist noch kein Grund, sie zu ignorieren oder in einer Erzählung des Scheiterns und Versagens verschwinden zu lassen. Sofern man überhaupt Erfolg zum historischen Bewertungsmaßstab erheben will, muss auch auf rechte Misserfolge hingewiesen werden: Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs waren rechtsextreme »Führer« wie Oswald Mosley, der Colonel de La Rocque, Anton Mussert oder Léon Degrelle im Wesentlichen gescheitert, während sich der frühere französische Ministerpräsident André Tardieu durch seine Wandlung vom liberalkonservativen Reformer zum rechten Systemgegner ins politische Abseits manövriert hatte.38 Als sich der deutsche Staatsrechtler Karl Loewenstein aus dem amerikanischen Exil 1938 optimistischer über die Perspektiven der Demokratie in Europa äußerte als drei Jahre zuvor, war er keineswegs naiv.39 Die Situation von 1940 sollte nicht unbesehen auf die 1930er Jahre zurückprojiziert werden – umso weniger, als sie erst durch den militärischen Sieg Nazideutschlands über Frankreich mit seinen kontingenten Ursachen und die ebenso38 39
François Monnet, Refaire la République. André Tardieu, une dérive réactionnaire (1876–1945), Paris 1993, S. 367–469. Zit. nach Gijsenbergh, Creative Crises, S. 239.
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wenig prädestinierte Selbstauflösung der Dritten Republik zustande kam.40 In erweiterter Perspektive lassen sich die hier herausgearbeiteten Typen demokratischer Führung als Reaktionen auf eine Periode verstehen, die gleichzeitig von Nationalisierung und von Individualisierung geprägt war.41 Vor diesem Hintergrund wurde von Politikern erwartet, einerseits persönlich erkennbar und wirksam zu sein und andererseits komplexe Gemeinwesen zu integrieren. Dieser Nachfrage kamen auch führende Demokraten entgegen, indem sie ihr Publikum durch große öffentliche Auftritte, regelmäßige Radioansprachen und massenhaft produzierte Bilder adressierten. Ferner stellten sie ideell und rhetorisch, durch markante Entscheidungen oder die Suche nach konsensfähigen Lösungen Bezüge zwischen der Demokratie und ihrer jeweiligen Nation her. Léon Blum, Stanley Baldwin oder Per Albin Hansson verstanden sich dezidiert als französische, britische bzw. schwedische Politiker – was auch erklären kann, warum sich die Kooperation zwischen europäischen Demokratien so schwierig gestaltete. Schließlich verweisen die drei Typen politischer Führung, sosehr sie in die Zwischenkriegszeit passen, in vieler Hinsicht auf die Jahrzehnte nach 1945. Das ist im Falle konsensorientierter und gemäßigter Führungspersönlichkeiten wie Baldwin oder Hansson offensichtlich, denen in den 1950er Jahren unter anderem die bewusst durchschnittlichen Ministerpräsidenten Willem Drees in den Niederlanden und Antoine Pinay in Frankreich folgten. Aber seit den späten 1960er Jahren kam erneut eine Nachfrage nach Politikern auf, die wie Willy Brandt, Joop den Uyl oder François Mitterrand eine demokratische Aufbruchsstimmung in der Nachfolge Blums oder Azañas personifizieren konnten. Daneben erlebte der Typus des entscheidungsfreudigen Krisenpolitikers, den in den 1960er 40
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Julian Jackson, The Fall of France. The Nazi Invasion of 1940, Oxford 2003, besonders S. 185–227; Ivan Ermakoff, »Strukturelle Zwänge und zufällige Geschehnisse. Die Selbstauflösung der französischen Republik in Vichy am 10. Juli 1940«, in: Manfred Hettling/Andreas Suter (Hg.), Struktur und Ereignis, Göttingen 2001, S. 224–256. Vgl. Moritz Föllmer, »Nationalismus, Konsum und politische Kultur im Europa der Zwischenkriegszeit«, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), S. 427–453.
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Jahren bloß noch der in der Ausnahmesituation des Algerienkriegs an die Macht zurückgekehrte Charles de Gaulle repräsentiert hatte, wenig später ein überraschendes Comeback, wenn man an Margaret Thatcher oder Helmut Schmidt angesichts der terroristischen Herausforderung im Herbst 1977 denkt. Alle drei Erwartungsprofile sind gegenwärtig präsent, werden medial verstärkt und überschneiden sich zum Teil, wenngleich wohl nur dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama übel genommen wird, nicht demokratische Lichtgestalt, Konsenshersteller und entscheidungsfreudiger Krisenpolitiker zugleich zu sein. Im Gegensatz dazu beruht der Erfolg anderer demokratischer Repräsentanten gerade darauf, für einen Führungstypus zu optieren und sich den anderen zu verweigern. Wie es die notorisch konsensorientierte Bundeskanzlerin Angela Merkel ausdrückt: »Wie oft habe ich gehört, wenn du jetzt nicht entscheidest[,] passiert etwas ganz Schlimmes. Ist aber nichts passiert.«42
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Zit. nach: »Jetzt gucken Sie entnervt, weil ich so viel sage«, Süddeutsche Zeitung vom 27. 8. 2014.
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II Nationale Kontexte, Konflikte und Kontingenzen
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Helen McCarthy
Das »Making« und »Re-Making« der demokratischen Kultur in Großbritannien
In den Zwischenkriegsjahren wurde die junge britische Massendemokratie auf Herz und Nieren geprüft. Die Zeitgenossen sahen Bedrohungen von vielen Seiten: die Verlockungen der extremistischen Ideologien von links und von rechts, die Unwissenheit und Gleichgültigkeit vieler Wähler aus der Arbeiterklasse, die Unberechenbarkeit des Wahlverhaltens der Frauen und seit Beginn der 1930er Jahre auch noch die politische Instabilität infolge einer Weltwirtschaftskrise, die Millionen in Arbeitslosigkeit und Armut stürzte. Mit zunehmendem Druck auf die Regierung hatte manch ein Beobachter Zweifel, ob die repräsentativen Institutionen Großbritanniens in ihrer bisherigen Form noch weiter bestehen konnten oder sollten. Der Sozialist Leonard Woolf sagte 1933 in einem Radiogespräch in der BBC: »Werfen Sie einen Blick in eine politische Wochen- oder Monatszeitschrift oder lesen Sie ein seriöses politisches Buch, und Sie werden sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Demokratie gescheitert ist oder kurz davor steht.«1 Rezepte für eine Radikalkur kamen von allen Seiten des politischen Spektrums; sie reichten von der proto-faschistischen Vorstellung eines korporatistischen Staates bis zur territorialen oder funktionalen Dezentrali-
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Leonard Woolf, »Can Democracy Survive?«, in: Mary Adams (Hg.), The Modern State, London 1933, S. 21.
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sierung mit einer erheblichen Beschneidung der Kompetenzen des Parlaments in Westminster.2 Vor dem Hintergrund des Aufstiegs totalitärer Regime in anderen großen europäischen Nationen stellten Historiker häufig die Frage, inwieweit diese politischen Entwicklungen auch einen Augenblick markieren, in dem die Zukunft der britischen Demokratie ebenfalls auf Messers Schneide stand. Der Versuch einer Erklärung, warum in Großbritannien kein Faschismus existierte, ist sicher eine wichtige Aufgabe der Geschichtsschreibung, über die auch schon eine umfangreiche Literatur vorliegt.3 Doch als Linse, durch die die Zwischenkriegsdemokratie betrachtet wird, ist dieses Vorgehen problematisch. Diese im Grunde kontrafaktische Analyse führt entweder zur Verstärkung des Narrativs von einer nationalen Ausnahmesituation, die in der Einmaligkeit der »friedfertigen« politischen Kultur Großbritanniens begründet ist, oder umgekehrt zur Verfestigung der Ansicht, die britische Demokratie sei genauso fragil wie die aller kontinentaleuropäischen Länder gewesen und habe nur dank besonders günstiger wirtschaftlicher Verhältnisse oder spezifischer politischer Umstände überleben können.4 Beide Interpretationsansätze, so die Argumentationslinie dieses Beitrags, lassen die umfassende Veränderung der politischen Kultur Großbritanniens zwischen den Kriegen und insbesondere die vielfältigen, komplexen Aktivitäten außer Acht, mit denen die britische Demokratie genau wie andere westliche Demokratien nach 1918 neu gestaltet wurde. Sie perpetuieren auch die Interpretation eines Zwi-
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Siehe z.B. Oswald Mosley, A National Policy. An Account of the Emergency Programme Advanced by Sir Oswald Mosley MP, London 1931; Herbert Samuel, »Defects and Reforms of Parliament«, in: Political Quarterly (1931), H. 2, S. 305–318; Beatrice Webb, »A Reform Bill for 1932«, in: Political Quarterly (1931), H. 2, S. 1–22. Siehe z.B. Andrew Thorpe (Hg.), The Failure of Political Extremism in Inter-War Britain, Exeter 1988; Nigel Copsey/Andrzej Olechnowicz (Hg.), Varieties of Anti-Fascism: Britain in the Inter-War Period, Basingstoke 2010; Mike Cronin (Hg.), The Failure of British Fascism. The Far Right and the Fight for Political Recognition, Basingstoke 1996. Ein Beispiel für die letztgenannte These findet sich in Martin Pugh, Hurrah for the Blackshirts! Fascists and Fascism in Britain Between the Wars, London 2005.
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schenkriegseuropa, die nach Robert Gerwarth diesen Zeitraum als »pathologisches Phänomen« oder als »Einbahnstraße in den Abgrund« begreift, der Großbritannien, je nach Sichtweise, entweder durch glückliche Fügung oder durch historische Vorbestimmung entkommen konnte.5 In diesem Beitrag soll der Charakter der britischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit anhand der Frage untersucht werden, wie die Menschen die Veränderungen nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts damals sahen und verstanden. Dabei wird die zentrale Bedeutung von Ideen wie der aktiven Bürgerschaft, politischen Bildung und des freiwilligen Engagements in den Debatten über die Stabilisierung der Massenpolitik im Nachgang des britischen Wahlrechtsgesetzes von 1918 deutlich, mit dem das allgemeine Wahlrecht für Männer und ein partielles für Frauen eingeführt wurde.6 Der Gedanke, dass die britische Erfahrung der Massendemokratie etwas Besonderes und den kontinentaleuropäischen Modellen überlegen sei, hatte große Bedeutung für die Legitimierung der bestehenden repräsentativen Institutionen und für ihr Überleben angesichts der extremistischen Bedrohungen insbesondere in den 1930er Jahren. Das sollte jedoch nicht den Blick auf die Berührungspunkte zwischen Großbritannien und den anderen neuen Demokratien im Europa der Zwischenkriegsjahre verstellen. Demokratisierung als übergreifender politischer, sozialer und kultureller Prozess war in diesem Zeitraum ein gemeinsames, schichten- und kulturübergreifendes Charakteristikum, auch wenn es sehr unterschiedlich wahrgenommen und mit vielen verschiedenen Bedeutungen belegt wurde.
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Robert Gerwarth, »Introduction«, in: ders. (Hg.), Twisted Paths. Europe 1914–1945, Oxford 2007, S. 5 und S. 3. Durch dieses Gesetz erhielten alle männlichen Haushaltsvorstände und alle mindestens 30-jährigen Frauen, die einem Haushalt vorstanden oder mit dem Haushaltsvorstand verheiratet waren, das Wahlrecht. Im Jahr 1928 wurde das Mindestwahlalter für beide Geschlechter auf 21 Jahre festgelegt.
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Aktive Staatsbürgerschaft In den Krisenjahren ab 1930 konzentrierten die Briten ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Überlebensfähigkeit ihres parlamentarischen Systems; doch schon seit der Einführung des (weitgehend) allgemeinen Wahlrechts im Jahr 1918 stand der Zustand der britischen Demokratie generell unter (sorgfältiger) kritischer Beobachtung. Heftige Diskussionen über die Vor- und Nachteile eines Massenelektorats gab es spätestens seit Ende der 1860er Jahre, als das Wahlrecht zunächst auf diejenigen Arbeiter ausgedehnt wurde, die die in der Wahlrechtsreform von 1867 festgelegten Anforderungen an Grundbesitz erfüllten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Vernunft und Lernfähigkeit der »Massen« vor allem für die Liberalen und Radikalen ein wichtiges Thema, denn sie waren unter dem Einfluss der neuen Disziplin der Sozialpsychologie alarmiert, wie leicht die Boulevardpresse die Bevölkerung zu fremdenfeindlicher Hysterie oder gedankenlosem Hurrapatriotismus aufstacheln konnte.7 Das Großbritannien der Zwischenkriegszeit war im Gegensatz zu vielen der nach dem Ende der Donaumonarchie und des Osmanischen Reichs entstandenen Staaten keine »neue« Demokratie. Dennoch fühlten sich viele Briten, als beträten sie eine unsichere Welt, in der die britische Nation gerade neu geschaffen wurde.8 Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, denn die neuen Bedeutungen, die dem politischen Staatsbürgertum zugeschrieben wurden, vermischten sich mit Ängsten, dass revolutionäre Ideen in der britischen Arbeiterklasse Unterstützung finden und der Siegeszug der Massenmedien und die Kommerzialisierung der Freizeit die traditionellen sozialen und kulturellen Hierarchien auflösen könnten. Manch einer mochte in dieser Entwicklung, die durch den sinnlosen Verlust von Menschenleben im Krieg verstärkt wurde, ein Zeichen für das unaus-
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Siehe z.B. Graham Wallas, Human Nature in Politics, London 1908. Siehe das Vorwort des Herausgebers in Laura Beers/Geraint Thomas (Hg.), Brave New World. Democratic and Imperial Nation-Building in Britain between the War, London 2012.
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weichliche Abgleiten des Westens in eine Epoche des zivilisatorischen Verfalls sehen.9 Diese Ambivalenz im Hinblick auf die Aussichten für demokratische Politik in einer Ära der kulturellen Moderne lässt sich in vielen Texten aus den 1920er Jahren feststellen. Die Reden des führenden Politikers der Konservativen Partei und dreimaligen Premierministers Stanley Baldwin belegen dies eindrücklich. Er warnte seine zahlreichen Zuhörer aus den unterschiedlichsten Kreisen immer wieder vor den Kräften, die die Demokratie bedrohten, von Kommunismus und Klassenkampf über die Sensationspresse bis hin zum rasanten Tempo des technischen Fortschritts. »Die Demokratie kann große Höhen erreichen«, sagte er 1924 in der Royal Albert Hall, »aber sie kann auch in große Tiefen abstürzen.«10 Um die Gefahr zu veranschaulichen, benutzte Baldwin oft das Bild von einem Schiffsruder, das – in den falschen Händen – die Menschheit vom Kurs abbringen könne, sei es in Richtung Einschränkung der Freiheit oder dorthin, wo »Freiheit zur Zügellosigkeit neigt«.11 Einerseits scheinen Baldwins Reden einen tiefsitzenden Pessimismus im Hinblick auf eine Wandlung Großbritanniens zur Massendemokratie nach dem Ersten Weltkrieg zu bestätigen. Doch auch eine andere Lesart ist möglich, nämlich ein verhaltener Optimismus, dass die Einführung des allgemeinen Wahlrechts die Möglichkeit eröffnen könnte, das politische Leben zu erneuern und die Demokratiefähigkeit des britischen Volkes zu verstärken.12 Baldwin sah die zentrale Aufgabe der demokratischen Führungsriege darin, den bisherigen und auch den neuen Wählern staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein zu vermitteln und sie ins politische Ge-
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John Carey, The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice Among the Literary Intelligentsia, 1880–1939, London 1992; Richard Overy, The Morbid Age. Britain between the Wars, London 2009. »Democracy and the Spirit of Service, Speech at the Albert Hall, 4th December 1924«, in: Stanley Baldwin, On England and Other Addresses, London 1926, S. 70–74. »›Rhetoric‹, speech made to the Cambridge Union, March 1924«, in: ebenda, S. 93–97. Philip Williamson, Stanley Baldwin. Conservative Leadership and National Values, Cambridge 1999; Roland Quinault, British Prime Ministers and Democracy. From Disraeli to Blair, London 2011, Kapitel 5.
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schehen einzubinden. Die große Aufgabe dieser Generation, sagte er 1923 zu seinen politischen Mitstreitern, sei es, die Demokratie zu retten, sie zu bewahren und ihr neue Impulse zu geben: »Das Ideal der Demokratie ist ein sehr löbliches, aber Ideale funktionieren nicht von selbst. Wenn die Demokratie bewahrt werden und die Früchte tragen soll, die alle, die an sie glauben, sich von ihr erhoffen, kann das nur geschehen, wenn wir uns ausreichend rüsten, um die Massen auf den rechten Weg zu bringen und die Ideale, die sie beflügeln, in ihrer Fülle und Klarheit zu bewahren.«13 Dieser Topos der demokratischen Staatsbürgerkunde wurde in vielen Aspekten der Zwischenkriegskultur deutlich. Neben den Reden von Parteiführern, Erzbischöfen und freikirchlichen Predigern trat er auch im Bildungsprogramm der BBC und in den Werken einer neuen Generation von progressiven Filmemachern, Verlegern und Künstlern zutage.14 Diese zivilgesellschaftlichen Intellektuellen, wenn man sie einmal so nennen darf, machten sich die neuen (insbesondere drahtlosen) Kommunikationstechniken zunutze, um das Massenelektorat zu informieren und zu bilden und staatsbürgerliches Engagement zu befördern. Die Stabilisierung der Demokratie bedurfte nicht nur einer Führungselite, sondern auch einer aktiven Zivilgesellschaft. Das war damals Gegenstand vieler Überlegungen zur Rolle des vielfältigen britischen Vereinswesens in der politischen Demokratie.15 Der von dem französischen Philosophen Alexis de Tocqueville bereits in den 1830er Jahren entwickelte Gedanke, dass ehrenamtliche Ver-
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»›Political Education‹, speech made at Philip Stott College, 27th September, 1923«, in: Baldwin, On England, S. 149. Williamson, Baldwin; John Kent, William Temple. Church, State and Society in Britain 1880–1950, Cambridge 1992; Abigail Beach, The Labour Party and the Idea of Citizenship, unveröffentlichte Dissertation 1996; Richard Weight/Abigail Beach, The Right to Belong. Citizenship and National Identity in Britain 1930–1960, London 1998. Siehe hierzu ausführlicher: Helen McCarthy, »Parties, Voluntary Societies and Democratic Politics in Interwar Britain«, in: Historical Journal (2007), H. 50, S. 891–912, und dies., »Associational Voluntarism in Interwar Britain«, in: Matthew Hilton/James McKay, (Hg.), The Ages of Voluntarism. How we Got to the Big Society, Oxford 2011, S. 47–68.
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eine als »Schule der Demokratie« funktionierten, spielte seit dieser Zeit in der Demokratietheorie eine Schlüsselrolle und war in den Zwischenkriegsjahren weit verbreitet. Für Ernest Barker etwa, der als Politikwissenschaftler an der Universität Cambridge lehrte, war die Sitte der Engländer, vieles in freiwilliger Zusammenarbeit selbst in die Hand zu nehmen, ein zentrales Element der historischen Entwicklung der Nation und ihres künftigen kulturellen Wohlergehens.16 Cecil Delisle Burns knüpfte 1934 im Rahmen seiner Gastprofessur an der Universität Glasgow an dieses Thema an und sann über die Schwierigkeiten der praktischen Demokratiegestaltung in einem modernen Staat nach. Dazu bedürfe es eines stärkeren »Gemeinschaftsgefühls«, also einer größeren Wertschätzung für die Bindungen, die Individuen und Gruppen zusammenhalten.17 Ehrenamtliche Vereine seien bestens dazu geeignet, denn hier fänden sich »die ›aktiven‹ Geister«, Männer und Frauen mit der Bereitschaft, am öffentlichen Geschehen mitzuwirken und den Staat zur Rechenschaft zu ziehen; diese Organisationen lieferten der Staatsmaschinerie »eine Explosivkraft wie das zerstäubte Benzin in einem Verbrennungsmotor oder, wie man in einer andere Ära zu sagen pflegte, wie der Dampf in der Lokomotive«.18 Zahlreiche Organisationen mischten sich voller Selbstbewusstsein in diesen Diskurs über die aktive Staatsbürgerschaft ein, einige davon direkt, wie etwa die Association for Education in Citizenship, die Women’s Citizens Association oder die Christian Conference on Politics, Economics and Citizenship (COPEC), andere eher indirekt durch umfangreiche Bildungsprogramme für die eigenen Mitglieder, für die übrige Bevölkerung oder für beide Zielgruppen. Ein Musterbeispiel für diesen Ansatz war die League of Nations Union (LNU), die die Idee einer internationalen Regierung in die Öffentlichkeit tragen wollte.19 Sie verteilte an Tausende von Ortsgruppen Unmengen von Informationsbroschüren und Flug16
17 18 19
Das Zitat stammt aus Barkers Autobiografie: Age and Youth, zit. nach Julia Stapleton, Englishness and the Study of Politics. The Social and Political Thought of Ernest Barker, Cambridge 1994, S. 153. C. Delisle Burns, The Challenge to Democracy, London 1934, S. 250. Ebenda, S. 257 und S. 258. Helen McCarthy, The British People and the League of Nations. Democracy, Citizenship and Internationalism, c. 1918–1945, Manchester 2011.
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blättern, damit sich, wie es in einem Handbuch hieß, jedes Mitglied »die Gewohnheit aneigne, selbst zu denken«.20 Darüber hinaus führte die LNU umfangreiche Aktivitäten in Schulen durch, weil sie Kenntnisse über den Völkerbund und internationale Entwicklungen für den modernen, demokratischen Staatsbürger als unabdingbar betrachtete. Dieser Ansatz wurde vor allem von den Frauenvereinen unterstützt. 1934 hatten mehr als 500 Frauenorganisationen die Materialien der LNU abonniert, und zahlreiche Ortsgruppen von Verbänden wie Women’s Cooperative Guild, National Council of Women, YWCA und Girl Guides arbeiteten auf lokaler Ebene mit ihr zusammen.21 Im Zentrum stand natürlich der Einsatz für die internationalistischen Ziele, doch die LNU und ihre Mitgliedsorganisationen nutzten den Wunsch der Frauen nach Informationen über die LNU stets auch dafür, sie über ihre neuerworbenen Rechten und Pflichten als Wählerinnen aufzuklären.22 Caitriona Beaumont hat unlängst herausgearbeitet, wie wichtig die Sprache des zivilgesellschaftlichen Engagements für die Frauenorganisationen in der Zwischenkriegszeit war und wie sie eingesetzt wurde, um dem Ruf der Frauen nach mehr Mitsprache im öffentlichen Leben Gehör zu verschaffen.23 In den 1930er Jahren wurde das lebhafte britische Vereinsleben oft den schwachen, politisch beeinflussten oder ganz und gar fehlenden voluntaristischen Traditionen in den totalitären Regimes gegenübergestellt. Nach Ansicht von Delisle Burns benötigten Demokratien und Diktaturen einen völlig unterschiedlichen Typus von Bürgern; für Demokratien war der »umgängliche« Typ ideal, also kontaktfreudige, gesellige Männer und Frauen, die gern in Ver-
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LNU, Hints for Study Circles, London, o. D., S. 4.
Siehe Home and County, January 1934, S. 44; McCarthy, The British People and the League of Nations, Kapitel 8. Helen McCarthy, »›Shut Against the Woman and Workman Alike‹. Democratising Foreign Policy between the Wars« in: Julie Gottlieb/Richard Toye (Hg.), The Aftermath of Suffrage. Women, Gender and Politics in Britain 1918–1945, Basingstoke 2013, S. 142–158. Caitriona Beaumont, Housewives and Citizens. Domesticity and the Women’s Movement in England 1928–1964, Manchester 2013.
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einen zusammenarbeiteten.24 Ähnliche Positionen wurden auch auf einer Konferenz zum Thema »The Challenge to Democracy« vertreten, die 1937 von der Association for Education in Citizenship (CAEC) veranstaltet wurde, einer Organisation, die sich für staatsbürgerlichen Unterricht in den Schulen einsetzte, um die Jugend gegen die Verlockungen totalitärer Ideologien zu immunisieren.25 Der Sozialwissenschaftler Alfred Zimmern unterstrich, wie wichtig es sei, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, was er plakativ als Aktivität beschrieb, bei der man »mit ernstem Gesicht um einen Tisch sitzen und Papiere durchlesen muss und wo alles von einem Schriftführer protokolliert wird, bis hinauf zu den beiden Kammern des Parlaments«. Weiter führte er aus, dass »die wirklich erfolgreichen Demokratien die Länder mit aktiven Kommunalverwaltungen [sind], mit Systemen, die den Bürgern die Freiheit geben, sich ungehindert zusammenzuschließen und gemeinsame Aktivitäten durchzuführen – Länder also, die einen sehr weiten Rahmen für bürgerlichen Gemeinsinn und freiwilligen Zusammenschluss bieten«.26 Auch der Ökonom Arthur Salter sprach von der »enormen Entwicklung des vielfältigen Vereinslebens« als einem »wichtigen Faktor für die britische Demokratie« und stellte es mit den Parlamenten auf kommunaler und nationaler Ebene auf eine Stufe.27 Diese tröstlichen und selbstgefälligen Überlegungen zur einzigartigen Stärke der demokratischen Tradition Großbritanniens bezogen sich nicht nur auf das Vereinsleben, sondern beinhalteten auch weiter gefasste Aspekte der politischen Kultur des Landes. Die Bemühungen von Politikern jeglicher Couleur, die aus der Vorkriegszeit bekannte undisziplinierte Art des Stimmenfangs während der 1920er Jahre zu zügeln, waren – so Jon Lawrence – in den weit verbreiteten Ängsten begründet, dass Großbritannien wie manche seiner Nachbarn auf dem Kontinent den Weg von Revolu24 25 26 27
C. Delisle Burns, Democracy. Its Defects and Advantage, London 1929, S. 201. Zur AEC siehe New Statesman and Nation vom 14. 7. 1934, H. 177, Sonderbeilage »Education and Citizenship«. Alfred Zimmern, »Learning and Leadership«, in: Constructive Democracy, hrsg. von der Association for Education in Citizenship, London 1938, S. 165. Sir Arthur Salter, »The Challenge to Democracy«, in: Constructive Democracy, S. 204.
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tion und gewalttätigen Ausschreitungen gehen werde. Mit dem Aufruf an die eigenen Mitglieder, vernünftige Forderungen für den »ruhigen, umsichtigen« Bürger zu stellen, versuchte insbesondere die Labour Party, sich vom revolutionären Chaos abzuheben, das in den Jahren 1917–1920 die Straßen und Plätze ganz Europas beherrschte, und der Öffentlichkeit ihr klares Bekenntnis zu verfassungsgemäßen parlamentarischen Verfahren zu vermitteln.28 In der turbulenten internationalen Politik der 1930er Jahre wurde die Tendenz, den britischen Exzeptionalismus hochzustilisieren, noch deutlicher. Die Befürworter des berühmten Peace Ballot,29 einer Umfrage, die die LNU in den Jahren 1934/35 durchführte, bedienten sich dieses Narrativs gegen ihre Kritiker, die es für wenig sinnvoll hielten, den gemeinen Mann auf der Straße nach seinen Ansichten zu Problemen der Außenpolitik zu befragen. Ein wohlwollender Leitartikel in der liberalen Zeitschrift Time and Tide beschrieb einen scharfen Kontrast zwischen der ruhigen und konstruktiven Art der Bürgerbefragung in Großbritannien, einer Nation, die »sich zugute hält, die demokratische Tradition begründet und erhalten zu haben«, und dem Einsatz des »Plebiszits« in der Türkei und im Saargebiet, »dessen Durchführung allzu oft mit unzulässigem Druck und einer explosiven separatistischen Stimmung in Zusammenhang gebracht wird«.30 Für LNU-Gründer Robert Cecil war die Volksbefragung ein Musterbeispiel für die überlegene Fähigkeit seiner Landsleute zur Selbstverwaltung. »Das britische Volk verdient für seine politische Klugheit die Anerkennung der ganzen Welt«, schrieb er im November 1934. »Die Briten besitzen
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Jon Lawrence, »The Transformation of British Public Politics after the First World War«, in: Past and Present (2006), H. 190, und ders., »Forging a Peaceable Kingdom. War, Violence, and Fear of Brutalisation in Post-First World War Britain«, in: Journal of Modern History (2003), H. 75, S. 557–589. Alle britischen Staatsbürger über 18 wurden gebeten, einen Fragenbogen über ihre Ansichten zur Mitgliedschaft Großbritanniens im Völkerbund, zu internationaler Rüstungskontrolle, zu den Mitteln der Luftkriegführung und zur Verhängung von wirtschaftlichen und militärischen Sanktionen gegen einen Aggressor auszufüllen. Siehe Martin Ceadel, »The First British Referendum. The Peace Ballot, 1934–1935«, in: English Historical Review XCV (1980), S. 810–839. »An Experiment in Democracy«, Time and Tide vom 10. 11. 1934, S. 1405.
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die Gabe, die Bedeutung eines Themas zu erkennen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und die richtige Entscheidung zu treffen.«31
Der Mythos der liberalen britischen Tradition Der Anspruch der Briten, immun gegen extremistische Strömungen zu sein, wie sie in Kontinentaleuropa herrschten, gründete auf einem traditionellen Verständnis vom eigenen Nationalcharakter und einem unverbrüchlichen Glauben an die Beständigkeit der repräsentativen Institutionen Großbritanniens – und er diente vielen politischen Zwecken.32 Historiker sollten allerdings darauf achten, diese idealisierte Vorstellung von den britischen liberalen Traditionen nicht in die eigenen Analysen zu übernehmen. Ein Blick auf die Geschichte kolonialer Gewalt im britischen Empire genügt, um diesen Mythos zu entlarven. Die Historikerin Priya Satia geht noch einen Schritt weiter und zeichnet nach, wie sich die Zwischenkriegsregierungen bewusst darum bemühten, eine offene Debatte über die Politik des Empire im Nahen Osten zu verhindern, und wie sie stattdessen alle Macht in den Händen einer kleinen Elite von »Experten« konzentrierten.33 Diese Tendenz der Entwicklung neuer Formen von Expertise, die Einfluss auf immer größere Politikbereiche beanspruchten, war nicht auf die Empire-Politik beschränkt; Demokratisierung und Bürokratisierung des Staates gingen Hand in Hand.34 Aber auch wenn der Mythos von Großbritannien als friedfertigem Königreich nur ein diskursives Konstrukt war, zeitigte er doch historische Folgen. Als ordnender Gedanke oder als ein Katechis31
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The Daily Herald vom 6. 11. 1934, S. 10. Siehe auch Helen McCarthy, »Democratizing Foreign Policy. Rethinking the Peace Ballot, 1934–1935«, in: Journal of British Studies (2010), H. 49, S. 358–387. Siehe Peter Mandler, The English National Character. The History of an Idea from Edmund Burke to Tony Blair, London 2006. Priya Satia, Spies in Arabia. The Great War and the Cultural Foundations of Britain’s Covert Empire in the Middle East, Oxford 2008. Harold Perkin, The Rise of Professional Society. England since 1880, London 1989.
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mus der britischen Demokratie wohnte ihm eine reale normative Kraft inne, und er wurde von Politikern, Intellektuellen und gesellschaftlichen Akteuren in Anspruch genommen, die demokratische Formen von Staatsbürgerschaft befördern wollten.35 Es ist erstaunlich, wie viele derer, die im Nachklang der Weltwirtschaftskrise eine radikale soziale und wirtschaftliche Umstrukturierung des Landes vorschlugen, sich ausdrücklich für die Wahrung der Freiheit des Einzelnen und der traditionellen British Liberties einsetzten. Als die Sozialistin Beatrice Webb von der Fabian Society 1932 ihre Vorstellungen zur Verlagerung mancher Aufgaben des Kabinetts und des Unterhauses auf eine neue Nationalversammlung darlegte, betonte sie vor allem, dass das Parlament seine Souveränität bewahren und »alle Regierungsfunktionen beibehalten wird wie bei den früheren Premierministern, von Pitt und Canning bis zu Peel und Palmerston und selbst noch bis zu Gladstone und Disraeli vor den 1870er Jahren«.36 Vier Jahre später taten die Gründer der parteiübergreifenden reformorientierten Next Five Years Group in der ersten Ausgabe ihrer Monatszeitschrift New Outlook ihre Überzeugung kund, dass »eine Gesellschaftsordnung, in der bestimmte Rechte und Freiheiten nicht garantiert werden, nicht hinnehmbar« sei.37 Ganz ähnlich stellte Harold Macmillan in seinem bekannten Werk »The Middle Way« von 1938 bereits im Untertitel (»Studie zum Problem des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts in einer freien und demokratischen Gesellschaft«) seine liberalen Grundvoraussetzungen klar.38 Daniel Ritschel legt in seiner wichtigen Studie »The Politics of Planning« dar, dass diese und andere Verfechter einer radikalen Wirtschaftspolitik aufgrund einer seit Langem bestehenden, dominierenden Identifizierung mit vorhandenen Interessen oder Gruppen von der Weiterentwicklung ihrer Ideen in eine autoritäre Richtung abgehalten worden seien. Diese »Zentristen« hätten das Heil 35
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Siehe hierzu ausführlicher: Helen McCarthy, »Leading from the Centre. The League of Nations Union, Foreign Policy and ›Political Agreement‹ in the 1930s’«, in: Contemporary British History (2009), H. 23, S. 527–542. Mrs Sidney Webb, »A Reform Bill for 1932«, in: Political Quarterly (1932), H. 3, S. 1–22. The New Outlook, Januar 1936, S. 1. Harold Macmillan, The Middle Way, London 1938.
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in der organisierten Arbeitnehmerschaft, in fortschrittlichen Industriellen oder aufgeklärten Technokraten gesehen und so einen Weg zu Reformen im bestehenden demokratischen System für möglich gehalten. Oswald Mosley hingegen habe wegen seiner relativen politischen Isolation und dem »Fehlen von ideologischen Assoziationen und aristokratischem Glanz« geglaubt, seine British Union of Fascists könne eine Massengefolgschaft entwickeln.39 Anders als die meisten Angehörigen der politischen Elite habe er sich nicht durch die demokratischen Werte eingeschränkt gefühlt, die seit 1918 den Status einer Mehrheitsmeinung, wenn nicht gar die kulturelle Vorherrschaft im Land erlangt hätten.
Das Narrativ der britischen sozialen Demokratie Man kann diese Argumentation noch fortsetzen und anführen, die britische liberale Demokratie habe ihr Überleben in den Jahren zwischen den Kriegen dadurch sichergestellt, dass sie sich an neue Bedürfnisse anpasste. Einige Historiker suchen die Wurzeln der von Clement Attlees Labour Party zwischen 1945 und 1941 begründeten sozialen Demokratie in den Vorkriegsjahren und verweisen dabei zum Beispiel auf die Ideen von John Maynard Keynes und anderen Vertretern einer zivilgesellschaftlichen middle opinion sowie auf die praktischen Experimente mancher Labour-Stadtregierungen.40 Schon 1979 erklärte Keith Middlemas, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände seien in den Jahrzehnten nach 1911 zu »Herrschaftsinstitutionen« geworden. Eingezwängt in institutionelle Strukturen, die einen kontinuierlichen Dialog und die Kompromissfindung beförderten, seien diese organisierten Interessen der Beweis einer neuen »korporatistischen Tendenz« in der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft und hätten den Grundstein
Daniel Ritschel, The Politics of Planning. The Debate on Economic Planning in Britain in the 1930s, Oxford 1997, S. 95. 40 Arthur Marwick, »Middle Opinion in the Thirties. Planning, Progress and Political ›Agreement‹«, in: English Historical Review LXXIX (1964), S. 285–298; Paul Addison, The Road to 1945. British Politics and the Second World War, London 1994, Kapitel 1. 39
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für den institutionalisierten Korporatismus der Nachkriegsjahrzehnte gelegt. Dies erkläre, warum Großbritannien zwischen 1925 und 1975 keine gravierende politische Krise habe durchleben müssen.41 In neueren historischen Arbeiten wird das Narrativ der britischen sozialen Demokratie in einer anderen Perspektive dargestellt. Den Ausführungen von Middlemas ließe sich die Zwischenkriegsdebatte über bezahlten Urlaub für Arbeiter hinzufügen, die zum »Holidays with Pay Act« von 1938 führte – einem Gesetz, das notabene von einer von den Konservativen dominierten Allparteienregierung eingebracht und verabschiedet wurde. Wie Sandra Dawson zeigt, lancierten die Befürworter eines gesetzlichen Anspruchs auf bezahlten Urlaub diese Forderung als »Symbol für eine politische und zugleich auch soziale Staatsbürgerschaft«.42 Der britische Arbeiter und seine Frau, die zu Hause jeden Tag ebenso hart arbeitete, hätten dasselbe Recht auf Freizeit wie die angestellten Kollegen, die in der Regel eine oder zwei Wochen bezahlten Urlaub pro Jahr erhielten. Die Beibehaltung dieser Ungleichbehandlung würde ein Zweiklassensystem verfestigen, in dem körperliche Arbeit weniger wert sei als Schreibtischarbeit. Auch wenn das Gesetz von 1938 nicht so weit ging, für alle Vollzeitarbeiter einen einklagbaren Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub von einer Woche vorzusehen, habe es doch einen Wandel in der Politik bewirkt, die sich nun aktiv um die »Demokratisierung der Freizeit« bemühte.43 Das Gesetz löste rege Aktivitäten aufseiten der Gemeindeverwaltungen, Gewerkschaften und Unternehmern aus, die für die Millionen von Arbeiterfamilien eine riesige Massenurlaubs-Industrie ins Leben riefen. Unabhängig von der ideologischen Couleur der Regierung, die das Gesetz 1938 einführte, wurde damit ein sozial-demokratisches 41 42 43
Keith Middlemas, Politics in Industrial Society. The Experience of the British System since 1911, London 1979. Sandra Dawson, »Working-Class Consumers and the Campaign for Holidays with Pay«, in: Twentieth Century British History (2007), H. 18, S. 282. Ebenda, S. 303. Siehe auch die Diskussion über das Engagement der Labour Party für die Einrichtung von Bade- und Sonnenbadeanstalten nach 1929, in: Ina Zweiniger-Bargielowska, Managing the Body. Beauty, Health and Fitness in Britain, 1880–1939, Oxford 2010, S. 294, 297f.
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Verständnis vom Recht des Einzelnen auf Freizeit in eine verbindliche Form gegossen. Aus diesem und anderen Fortschritten bei der Demokratisierung der Arbeit lässt sich der Schluss ziehen, dass in den Zwischenkriegsjahren ein Wandel der gesellschaftlichen Wertschätzung erfolgte, der sich jedoch erst nach 1945 voll entfaltete. Gewiss handelte es sich dabei nicht um »Sozialdemokratie« im klassischen Sinn, sondern vielmehr um eine Form von Demokratisierung, die weit über formale politische Staatsbürgerschaft hinausging. Dies verdeutlicht, dass die historische Forschung gut daran tut, die Analyse demokratischer Politik in einen umfassenderen konzeptionellen Rahmen zu stellen. Die Frage ist, wie weit der Rahmen gefasst werden sollte. Wer tiefer in der Sozial- und Kulturgeschichte der Epoche gräbt, stößt an allen Enden und Ecken auf einen Demokratisierungsimpuls: in Literatur44 und Musik45, in der Mode46 und der Ehe47, im eigenen Verhalten und im Gefühlsleben48. Wie genau diese Prozesse mit der Entwicklung der politischen Demokratie zusammenhingen, wird in diesen Studien nicht immer deutlich. Als auslösendes Element des Demokratisierungsprozesses gilt weniger die Verabschiedung des neuen Wahlrechts, sondern vielmehr der Konsumkapitalismus nach amerikanischem Vorbild in Kombination mit den neuen MassenChris Hilliard, To Exercise Our Talents. The Democratization of Writing in Britain, Cambridge, Mass. 2006. 45 James Nott, Music for the People. Popular Music and Dance in Interwar Britain, Oxford 2002. 46 George Orwell und J. B. Priestley dachten beide über die nivellierende Wirkung von billigen, in großen Mengen produzierten Kleidungsstücken vor allem für Frauen nach. Siehe George Orwell, »The Lion and the Unicorn«, in: ders., Essays, London 2000, S. 157f.; J. B. Priestley, English Journey, London 1934, S. 401. Siehe auch Sally Alexanders Abhandlung über die Bedeutung der Kleidung: »Becoming a Woman in London in the 1920s and ’30s«, in: dies., Becoming a Woman and other Essays in 19th and 20th Century Feminist History, London 1994, S. 203–224. 47 Marcus Collins, Modern Love. An Intimate History of Men and Women in Twentieth-Century Britain, London 2003; Jane Lewis, The End of Marriage? Individualism and Intimate Relations, Cheltenham 2001; Alison Light, Forever England. Femininity, Literature and Conservatism between the Wars, London 1991. 48 James Hinton, Nine Wartime Lives. Mass Observation and the Making of the Modern Self, Oxford 2010. 44
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kommunikationstechniken. Diese Erscheinungen waren indes auch in nicht demokratischen Gesellschaften wie z.B. im Deutschland der 1930er Jahre anzutreffen. In diesem Zusammenhang könnten Karl Mannheims Überlegungen zur »Demokratisierung der Kultur« von Interesse sein, die er 1933 verfasste. Er sah im Aufstieg der faschistischen Diktatoren die Bestätigung eines längerfristigen Trends »zu einer immer umfassenderen Entwicklung demokratischer Denk- und Verhaltensmuster«, denn der Faschismus war für ihn nichts als eine Reaktion auf die Probleme der Demokratie.49 Auch die Existenz ähnlicher Formen der Massenkultur in faschistischen Regimen, so Mannheim, seien eine Folge demokratischer Impulse, nur dass sie jetzt von der faschistischen Ideologie vereinnahmt und ihr untergeordnet worden seien. Diese These konkretisiert Victoria de Grazia in ihrer viel beachteten Abhandlung über das amerikanische »Marktimperium« im Zwischenkriegseuropa, in der sie den Aufstieg des Dritten Reichs zum Teil damit begründet, dass die Nationalsozialisten der amerikanischen Konsumentendemokratie eine plausible Alternative entgegenstellen konnten.50
Schlussbetrachtung Dies führt die Diskussion zurück zum Thema »britischer Exzeptionalismus oder regionale Konvergenz«. Ist die Geschichte der britischen Demokratie zwischen den Weltkriegen Teil einer gemeinsamen europäischen Geschichte? Oder ist sie, wenn man de Grazia folgt und den Rahmen weiter fasst, transatlantische Geschichte? Wenn wir uns von einem triumphalistischen Narrativ verabschieden, das im Überleben der britischen Demokratie in den 1930er Jahren kulminiert, welche Geschichte taucht dann an seiner Stelle auf? Es wäre, so steht zu vermuten, eine Geschichte, in der der dynamische, wechselhafte Charakter der politischen Kultur Großbritanniens zum Tragen kommt, ihre Anpassungsfähigkeit sowie das Karl Mannheim, Essays on the Sociology of Culture. Collected Works, Bd. 7, London 1997, S. 171. 50 Victoria de Grazia, Irresistible Empire. America’s Advance through 20thCentury Europe, Cambridge 2005. 49
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Handeln einzelner Menschen und Organisationen, die sich bemühten, die Demokratie stabil und am Leben zu erhalten – so wie es nach dem Ersten Weltkrieg auch in anderen Ländern viele taten. Dabei sollte man die Beteiligung der Zivilgesellschaft und die Rolle der demokratischen Führung nicht idealisieren oder überbewerten, sondern versuchen, die besondere historische Situation dieser und anderer Kräfte im Umfeld ihrer spezifischen nationalen Kultur zu erkennen und der Vielfalt Rechnung zu tragen, in der die demokratischen Vorstellungen ihren Ausdruck fanden. Hier ist besonders auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten gegenüber früheren Epochen zu achten. Im Fall Großbritannien übten viele Vorstellungen und Werte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts weiterhin Einfluss auf die demokratischen Praktiken aus; die Bedeutung der Situation vor Ort und die Lokalpolitik prägten noch weit nach 1918 das Gemeinschaftsgefühl, und noch ältere Kategorien wie »Charakter« und »Dienst« bestimmten den staatsbürgerlichen Duktus, wie es etwa in den eingangs erwähnten Reden Baldwins zum Ausdruck kommt.51 Die Modernität der britischen Zwischenkriegsdemokratie war also verblüffend, aber nicht allumfassend, und sie stand stets in einem kreativen Dialog mit der Vergangenheit. Nicht nur in dieser Hinsicht ging Großbritannien im Gleichschritt mit seinen europäischen und nordamerikanischen Nachbarn. Aus dem Englischen von Edih Nerke und Jürgen Bauer
51
Geraint Thomas, »Political Modernity and ›Government‹ in the Construction of Interwar Democracy«, in: Beers/Thomas (Hg.), Brave New World, S. 39–65; Peter Mandler/Susan Pedersen (Hg.), After the Victorians. Private Conscience and Public Duty in Modern Britain, London 1994.
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Keynes, Keynesianismus und die Debatte um Gleichheit 1
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Als der junge Ökonom Hugh Gaitskell 1933 eine Übersicht über die Ideologie der britischen Linken erstellte, wies er auf die entscheidende philosophische und strategische Spaltung zwischen zwei unterschiedlichen Typen des Sozialismus hin. Für Marxisten war »der Übergang zum Sozialismus […] nicht etwas, was man einfach durch den Appell an die Vernunft bewirken kann«, sondern es handelte sich dabei um ein »unvermeidliches Fortschreiten der geschichtlichen Entwicklung«. Im Gegensatz dazu gingen die »mildgesinnten evolutionären Idealisten« der »britischen Arbeiterbewegung« davon aus, »dass der Mensch ein rationales Wesen ist, der seine Zukunft frei wählen kann. Er muss zwischen diesem oder jenem Programm, zwischen dieser oder jener Entwicklungsrichtung wählen.«2 In diesem Beitrag geht es um die Argumente dieser »mildgesinnten evolutionären Idealisten« in Großbritannien, die sie in den 1930er Jahren einsetzten, um das Ziel einer stärker egalitär ausgerichteten Gesellschaft zu erreichen. Gaitskell bemerkte, dass diese 1
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Für eine frühere Fassung dieses Beitrags vgl. Ben Jackson, Equality and the British Left. A Study in Progressive Thought, Manchester 2007, S. 117–125. Verweise auf das Werk von John Maynard Keynes in den Anmerkungen beziehen sich auf die Ausgabe von Donald Moggridge/Elizabeth Johnson (Hg.), The Collected Writings of John Maynard Keynes, 30 Bde., London 1971–1989 (im Folgenden abgekürzt als JMK mit Angabe der Bandnummer). Hugh Gaitskell, »Socialism and Wage Policy«, Typoskript, o. D. [1933], Cole Papers, D1/55/3, 1–2, Nuffield College, Oxford. Zur Datierung vgl. Philip Williams, Hugh Gaitskell. A Political Biography, London 1979, S. 41.
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Keynes, Keynesianismus und die Debatte um Gleichheit
Sozialdemokraten einen voluntaristischen Rationalismus vertraten, der sie von den stärker deterministischen Marxisten unterschied, und dass das sozialdemokratische politische Denken der 1930er und 1940er Jahre dem älteren britischen Diskurs über die Gleichheit in dieser Hinsicht sehr ähnlich war. Der Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und die Vorschläge zur Gesellschaftsreform, die die »New Liberals« und die frühen Sozialisten seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hatten, waren weiterhin von zentraler Bedeutung für die Reformer der Zwischenkriegszeit. Ihre Argumente, die sich auf Chancengleichheit, auf Funktionen, Bedürfnisse und Anreize bezogen, blieben auch nach der Krise von 1931 wichtige ideologische Ressourcen.3 Aber es wird sich zeigen, dass ein wesentliches Thema nun größere Prominenz und eingehendere theoretische Durchdringung im theoretischen Denken der Linken erfuhr: der Anspruch, dass Gleichheit mit ökonomischer Effizienz versöhnt werden, ja diese sogar steigern könnte. Es wäre eine Übertreibung, zu behaupten, dass effizienzbetonte Argumente für die Gleichheit dem progressiven Denken zuvor unbekannt waren. Einige der früheren Gleichheitsdenker, allen voran J. A. Hobson, hatten argumentiert, dass Umverteilung das wirtschaftliche Wachstum oder die »nationale Effizienz« steigern würde. Hobsons Erörterungen fehlte jedoch die Unterstützung durch die Autorität der Wirtschaftswissenschaften. Die Progressiven selbst betrachteten Effizienzargumente als zweitrangig gegenüber der moralischen Attraktivität einer Gemeinschaft der Gleichen. Im Gegensatz dazu konnten sich die Sozialdemokraten der 1930er und 1940er Jahre leichter auf das intellektuelle Prestige der Wirtschaftswissenschaften berufen und das Argument vorbringen, dass sich eine auf Gleichheit geruhende Verteilung des Wohlstands sowohl vorteilhaft auf die Maximierung der wirtschaftlichen Leistung auswirken als auch zu einer effizienteren Ausnutzung der materiellen Ressourcen führen würde.
3
Siehe etwa die Bemerkungen, die sich auf Richard Tawneys »Equality« beziehen, von Hugh Dalton, Practical Socialism for Britain, London 1935, S. 319–321; Clement Richard Attlee, The Labour Party in Perspective, London 1937, S. 139–148.
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Dieser Wandel im sozialdemokratischen Denken resultierte aus zwei unterschiedlichen Entwicklungen. Zum einen ließen die politischen Umstände philosophische Debatten weniger bedeutsam für die Sozial- und Wirtschaftspolitik erscheinen als wissenschaftlich fundierte Entwürfe. Das desaströse Bild, das die Labour-Partei abgegeben hatte, als sie in den 1920er Jahren regierte, saß wie ein Stachel im Fleisch der Fürsprecher eines gradualistischen Weges zur Gleichheit. Aber sie zogen daraus eine andere Lehre als die marxistischen Propheten der Katastrophe, die das Versagen der Labour Party als den endgültigen Beweis für die Unmöglichkeit betrachteten, durch schrittweise Reformen den Kapitalisten irgendwelche nennenswerten Zugeständnisse abzuringen. Sozialdemokraten erkannten darin hingegen das Versagen der Linken, sich ernsthaft mit den komplexen Details und praktischen Erfordernissen auseinanderzusetzen, mit denen man es bei der Umsetzung normativer Ideale zu tun bekam.4 Der Untergang des Kapitalismus würde »nicht durch Fanatismus und pseudometaphysischen Jargon« herbeigeführt, erklärte der sozialistische Ökonom und spätere Politiker Douglas Jay, sondern am besten von Personen, »die ein klares, ausgeglichenes und rationales Verständnis der wirtschaftlichen Kräfte haben, denen sie sich gegenübersehen. Ansonsten wird die Ungerechtigkeit nur durch das Chaos ersetzt.«5 In diesem Sinne reagierte auch Evan Durbin auf Äußerungen marxistischer Theoretiker: »Intellektuelle Sozialisten würden der Sache, die sie angeblich lieben, aufrichtiger dienen, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auch den konkreten Details guten Regierens zuwenden würden, statt Extremismus und Gewalt zu befürworten.« Er fügte hinzu, dass demokratische Sozialisten »eine religiöse Bekehrung zum und eine wachsende Leidenschaft für das Detail« benötigten. Ein ermutigendes Signal, dass in den Reihen der britischen Labour Party eine solche Bekehrung stattfand, war für Durbin die »zunehmend komplexe
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Vgl. die Nüchternheit von George Douglas Howard Cole, »Labour’s Opportunity«, New Statesman vom 8. 4. 1933, S. 437f., mit dem apokalyptischen Ton von Harold Laski »Labour and the Constitution«, New Statesman vom 10. 9. 1932, S. 276–278. Douglas Jay, »The Economic Strength and Weakness of Marxism«, in: George Catlin (Hg.), New Trends in Socialism, London 1935, S. 122.
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Keynes, Keynesianismus und die Debatte um Gleichheit
und technische« Natur der Parteipublikationen – sie waren »aus diesem Grund zunehmend langweilig für ein allgemeines Publikum«.6 Dieser Perspektivwechsel war zum anderen noch durch einen zweiten Umstand bedingt: durch die wachsende Einsicht von Progressiven, dass rein moralische Argumente nicht ausreichten, um eine egalitäre Politik in den Augen der abweisenden bürokratischen und politischen Eliten zu legitimieren. Hatten die Marxisten auf dieses Problem reagiert, indem sie die Bedeutung von rationaler Diskussion überhaupt herunterspielten, erklärten Sozialdemokraten, dass es an der Zeit sei, ihren Gegnern eine der mächtigsten ideologischen Waffen – die Sprache der neoklassischen ökonomischen Theorie – zu entwenden und für egalitäre Ziel einzusetzen. In den 1930er Jahren erlebte die wirtschaftswissenschaftliche Theorie eine Transformation infolge einer Reihe theoretischer Innovationen, von denen viele unmittelbar politische Implikationen hatten. Dazu gehörten Keynes’ »General Theory«, die Neuformulierung der Grundlagen der Wohlfahrtsökonomie sowie die Debatten über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus.7 Insgesamt kennzeichnete die ökonomische Theorie in diesem Jahrzehnt eine so erstaunliche Fruchtbarkeit, dass vom »tiefreichendsten und vielfältigsten Wandel der elementaren Natur ökonomischen Denkens seit der Grenznutzenrevolution des 1870er Jahre«, die Rede ist.8 Diesen überraschenden Veränderungen in den Wirtschaftswissenschaften entsprach unter politischen und intellektuellen Eliten die um sich greifende Überzeugung, dass Ökonomen eine größere Rolle in der
6 7
8
Evan Durbin, The Politics of Democratic Socialism, London 1940, S. 318f. Vgl. Donald Winch, Economics and Policy. A Historical Study, London 1969; Peter Clarke, The Keynesian Revolution in the Making. 1924–1936, Oxford 1988; Don Lavoie, Rivalry and Central Planning. The Socialist Calculation Debate Reconsidered, Cambridge 1985; Daniel Ritschel, The Politics of Planning. The Debate on Economic Planning in Britain in the 1930s, Oxford 1997. Mark Blaug, »The Formalist Revolution or What Happened to Orthodox Economics after World War Two?«, in: Roger Backhouse/John Creedy (Hg.), From Classical Economics to the Theory of the Firm, Cheltenham 1999, S. 260; vgl. auch Roger Backhouse, A History of Modern Economic Analysis, New York 1985, S. 275f.
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Entwicklung der staatlichen Politik spielten sollten. Die Regierung selbst stellte während der 1940er Jahre erstmals auf systematischer Grundlage Ökonomen ein.9 Die Auswirkungen von Umverteilung auf das Wirtschaftswachstum wurden zunehmend von externen Expertengremien beurteilt, die als unabhängig von politischen Parteien galten und ökonomische Phänomene mithilfe ausgefeilter Techniken analysieren konnten, die für Nichtfachleute unverständlich blieben. Die Unterstützung durch Ökonomen und der besondere theoretische Diskurs, über den sie die Kontrolle ausübten, waren wichtig dafür, Vorbehalte gegenüber einer Politik der Umverteilung zu zerstreuen und die Plausibilität der sozialistischen Konzepte im Allgemeinen deutlich zu machen. Die Bedeutung der Wirtschaftswissenschaften für die politische Debatte verdeutlichen auch die intellektuellen Laufbahnen einer neuen Generation sozialdemokratischer Theoretiker und Politiker. In den 1930er Jahren trat nicht nur die erste Generation von Marxisten mit Universitätsausbildung hervor. Auch im Lager der Reformisten kam es zu einer ähnlich bemerkenswerten Veränderung. Die einflussreichsten jüngeren Vertreter des gradualistischen Sozialismus waren nicht mehr politische Theoretiker oder interdisziplinäre Chamäleons, die sich zwischen Philosophie, Ökonomie und Soziologie bewegten. Die neue Generation bestand vor allem aus professionellen Ökonomen, die an vielen Normen und Praktiken ihrer Disziplin festhielten. Diese linksgerichteten Ökonomen verfolgten das Ziel, die von ihnen vermisste wirtschaftswissenschaftliche Präzision in die bunte Mischung aus Reformplänen, heterodoxer Ökonomie und idealistischer Rhetorik einzuführen, die zuvor den ideologischen Treibstoff für die Linke geliefert hatte. Die berühmtesten und politisch einflussreichsten dieser Ökonomen waren die künftigen Labour-Politiker Evan Durbin, Hugh Gaitskell und Douglas Jay, aber auch andere, wie James Meade, Joan Robinson und Barbara Wootton, sind hervorzuheben. Der Einfluss der Ökonomen war in diesen Jahren so groß, dass selbst G. D. H. Cole unerwartet seine Neuerfindung als akademischer Ökonom erlebte. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Organisation und Entwick9
Vgl. Winch, Economics, S. 329f.; Susan Howson/Donald Winch, The Economic Advisory Council 1930–1939, Cambridge 1977, S. 5–29.
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lung des Programms des New Fabian Research Bureau (NFRB), in dem ein Großteil der Detailarbeit der Linken für die Wirtschaftspolitik vorangetrieben wurde.10 Im Wesentlichen versuchten die Sozialdemokraten jener Epoche, den traditionellen ethischen Idealismus von Autoren wie R. H. Tawney mit den wirtschaftswissenschaftlichen Theorien von Alfred Marshall und Keynes zu verbinden. Im Folgenden wird diese ideologische Hybridform in zwei Schritten untersucht. Es geht darum, welchen Einfluss Keynes auf das egalitäre Denken ausübte und auf welche Weise seine Theorien Anwendung finden konnten, um Umverteilung zu rechtfertigen und zu zeigen, dass eine solche Politik mit produktiver Effizienz vereinbar war.
War Keynes ein Denker der Gleichheit? Es wäre irreführend, die progressiven Ökonomen, die sich in jenen Jahren in die politische Debatte in Großbritannien einschalteten, ohne Weiteres als »Keynesianer« zu bezeichnen. Einige – etwa Durbin – standen Keynes’ Theorien sogar skeptisch gegenüber und betrachteten ihre eigenen wirtschaftspolitischen Rezepte als dezidiert sozialistisch.11 Dennoch kann man ohne Bedenken sagen, dass Keynes die Agenda der theoretischen Diskussion unter linken Ökonomen bestimmte, selbst wenn der eine oder andere letztlich mit Key10
11
Zu den linken Ökonomen der 1930er Jahre und ihrer Rolle bei der Ausgestaltung des politischen Programms der Labour Party vgl. Evan Durbin, New Jerusalem. The Labour Party and the Economics of Democratic Socialism, London 1985, S. 93–115, 79–81, 116–132; Stephen Brooke, Labour’s War, Oxford 1992, S. 231–268; Noel Thompson, Political Economy and the Labour Party. The Economics of Democratic Socialism. 1884–1995, London 1996, S. 87–133; Richard Toye, The Labour Party and the Planned Economy 1931–1951, Woodbridge 2003, S. 34–86. Zu Coles schwierigem Verhältnis zu den Wirtschaftswissenschaften vgl. Margaret Cole, The Life of G. D. H. Cole, London 1971, S. 206–209; Arthur Wright, G. D. H. Cole and Socialist Democracy, Oxford 1979, S. 176–207. Vgl. Durbin, New Jerusalem, S. 142–146, 152–159; Thompson, Political Economy, S. 93f., 111–114; Stephen Brooke, »Problems of ›Socialist Planning‹. Evan Durbin and the Labour Government of 1945«, Historical Journal 34 (1991), S. 694f., 699; Ritschel, The Politics of Planning, S. 5–7.
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nes’ Schlussfolgerungen nicht übereinstimmte. Darum lohnt es sich zu untersuchen, wie Keynes über soziale Gerechtigkeit dachte und in welchem Ausmaß die »keynesianische« Wirtschaftswissenschaft gerade im Kontrast zu traditionellen sozialistischen Analysen von Ökonomen wie Durbin neue Möglichkeiten eröffnete, eine egalitäre Politik zu verfolgen. Keynes’ politische Haltungen werden kontrovers diskutiert, und es gibt zwei miteinander konkurrierende Deutungen seiner Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Für die eine steht der prominente Keynes-Forscher Peter Clarke, der argumentiert, dass Keynes ein »New Liberal«, ein Vertreter des britischen sozialen Reformliberalismus gewesen sei, der sowohl den Laissez-faire-Kapitalismus als auch den Sozialismus ablehnte und stattdessen für begrenzte staatliche Interventionen eintrat, um soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz zu fördern. Clarke stellt Keynes als eindeutig links der Mitte dar, als Befürworter »eines experimentellen Vorgehens des Staates, um das Ziel sozialer Gerechtigkeit zu erreichen«, der davon überzeugt war, dass der Kapitalismus »ungerecht war«, selbst wenn er »gut funktionierte«.12 Im Gegensatz dazu erklären die nicht weniger bedeutenden Keynes-Deuter Robert Skidelsky und Michael Freeden, dass Keynes in die politische Mitte einzuordnen sei, weil er stärker als die »New Liberals«, die die gesamte Gesellschaft als Organismus im Blick hatten, individualistisch gedacht und kaum Interesse an einer Umverteilung des Wohlstands gezeigt habe. Dieser Sichtweise zufolge protestierte Keynes nicht (oder nicht heftig) gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung, also nicht dagegen, dass sie ungerecht war oder Lebenschancen ungerecht verteilte; in Sorge versetzte ihn nur, dass »Laissez-Faire die bestehenden ökonomischen und sozialen ›Normen‹ nicht schützte«.13 Dieses Urteil stimmt mit den Ansichten früherer 12
13
Clarke, The Keynesian Revolution, S. 79–83, Zitate S. 79, 80; vgl. auch Athol Fitzgibbons, Keynes’s Vision, Oxford 1988, S. 181–185; Roderick Macduff O’Donnell, Keynes. Philosophy, Economics and Politics, Basingstoke 1989, S. 316–321. Robert Skidelsky, Keynes, Oxford 1996, S. 43–48, Zitat S. 44; vgl. auch Robert Skidelsky, John Maynard Keynes. The Economist as Saviour 1920–1937, London 1994 [1992], S. 222–224; Michael Freeden, Liberalism Divided, Oxford 1986, S. 154–173; Winch, Economics, S. 339–350; Maurice Cranston,
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Deuter überein. Keynes’ Freund Kingsley Martin erklärte, Keynes hätte »die ganze Idee der Gleichheit nicht gemocht und kein ethisches Problem mit dem Kapitalismus gehabt«, und auch Anthony Crosland äußerte sich ähnlich: Keynes hätte »niemals wirklich an Gleichheit geglaubt«.14 Croslands Aussage scheint im Wesentlichen zuzutreffen, aber man muss zwei wichtige Einschränkungen machen: Erstens war Keynes’ Vorstellung von Ungleichheit nicht statisch. In späteren Arbeiten, besonders in der »General Theory«, ging er viel weniger nachsichtig mit ökonomischer Ungleichheit um als in seinen früheren Texten. Zweitens würde es zwar zu weit gehen, Keynes als ausdrücklichen Befürworter ökonomischer Gleichheit darzustellen, aber seine engsten Schüler setzten sich für Gleichheit ein, und das hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Lesart seines Denkens, die die weiteste Verbreitung in der politischen Kultur Großbritanniens fand. Das Hauptproblem von Clarkes Keynes-Deutung besteht darin, dass sie die Bedeutung des Schlüsselbegriffs »soziale Gerechtigkeit« nicht genauer untersucht, existieren doch erheblich voneinander abweichende Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Es sind nicht zuletzt die Differenzen darüber, was dieses Ideal bedeutet, die den Unterschied zwischen linken und zentristischen Liberalen markieren. Clarke geht wie selbstverständlich davon aus, dass jedes Eintreten für soziale Gerechtigkeit eine progressiv liberale oder sozialdemokratische Perspektive belegt.15 Doch einem extremen Meritokraten würde es nicht schwerfallen, große Ungleichheit argumentativ schlüssig mit einem Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit zu vereinbaren. Darum ist es notwendig, diese Frage genauer zu beleuchten und sich anzuschauen, wie Keynes den Begriff gebrauchte. Keynes spricht in seinen Schriften der 1920er und 1930er Jahre häufig von sozialer Gerechtigkeit als erwünschtem politischem Ziel, entzog sich aber einer präziseren Definition dieser Zielvorstel-
14 15
»Keynes. His Political Ideas and their Influence«, in: Anthony Thirlwall (Hg.), Keynes and Laissez-Faire, London 1978, S. 110–115; Elizabeth Johnson, »Keynes the Man. Scientist or Politician?«, in: dies./Harry Johnson, The Shadow of Keynes, Oxford 1978, S. 28f. Kingsley Martin, »J. M. Keynes«, New Statesman vom 3. 2. 1951, S. 133; Anthony Crosland, »The Greatness of Keynes«, Tribune vom 23. 2. 1951, S. 16. Clarke, The Keynesian Revolution, S. 79f.
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lung. In dieser Hinsicht verkörperte er die allgemeine Entwicklung jener Zeit, als detaillierte Diskussionen der politischen Philosophie eher in den Hintergrund rückten und sozialwissenschaftliche, technische Fragen an die Stelle von Debatten über normative Theorien zu treten begannen.16 Während jedoch ein normatives Bekenntnis zur Gleichheit in den Texten von Durbin und Jay ebenso zu erkennen blieb wie in den Arbeiten von Keynes-Schülern wie James Meade und Joan Robinson, stand Keynes selbst nicht für eine so feste Überzeugung. Zweifellos war er der Ansicht, dass Liberale wie er selbst »geneigt waren, in der Frage, was gerecht ist, mit den Positionen der Labour Party zu sympathisieren«, doch die politischen Schlussfolgerungen, die er daraus zog, deuten nicht auf leidenschaftliche Ablehnung einer mit ökonomischer Ungleichheit einhergehenden unerträglichen Ungerechtigkeit hin. Er war vielmehr besorgt, dass »das ignorante und blinde Streben« der Labour Party nach Gerechtigkeit das zerstören könnte, »was zumindest ebenso wichtig und eine notwendige Bedingung jedes sozialen Fortschritts ist – nämlich Effizienz«.17 Im Gegensatz zum immer stärkeren Drängen der Linken auf mehr soziale Gerechtigkeit, schien Keynes einer Vorstellung anzuhängen, die beinahe eine entstellte Version von Marx’ Kritik des Gothaer Programms darstellte: Verteilungsgerechtigkeit war eine Frage, der man sich erst in einem späteren Zeitalter zuwenden konnte, nachdem die Probleme der Produktion gelöst waren und genug Wohlstand angehäuft war, um diesen umverteilen zu können.18 Auch Keynes’ Hinweis auf das Ausmaß, in dem die Frage der Gerechtigkeit thematisiert werden sollte, zeigt die Distanz zwischen seiner Haltung und der des Linksliberalismus an. Das »politische Problem der Menschheit« bestand ihm zufolge darin, »ökonomische Effizienz, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit« zu verbinden. Aber Keynes argumentierte, dass in dieser Kombination die Herstellung sozialer 16
17 18
Vgl. Richard Tuck, »The Contribution of History«, in: Robert Goodin/ Philip Pettit (Hg.), A Companion to Contemporary Political Philosophy, Oxford 1993, S. 72f.; Jose Harris, »Political Thought and the State«, in: Simon Green/Richard Whiting (Hg.), The Boundaries of the State in Modern Britain, Cambridge 1996, S. 20–22. Keynes, »Liberalism and industry« [1927], in: JMK 19, S. 639. Vgl. O’Donnell, Keynes, S. 319f.; Skidelsky, Keynes. The Economist, S. 232.
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Gerechtigkeit nicht die Hauptaufgabe der Liberalen sei, da das Verfolgen dieses Ziels »das schönste Verdienst und Vorrecht der großen Partei des Proletariats« war, während Effizienz und Freiheit die zentralen Anliegen der Liberalen darstellten.19 Diese Bemerkungen legen nahe, dass Keynes zugestand, dass Gerechtigkeit Umverteilung erforderte, aber individuelle Freiheit und ökonomische Effizienz bedroht war, wenn dieses Ziel sofort verfolgt würde (und diesen Preis war er nicht bereit zu zahlen). Doch in Keynes’ Äußerungen zu diesem Thema ist noch ein zweites Leitmotiv zu entdecken. Wenn er sich auf das Prinzip der Gerechtigkeit berief, um politisches Handeln zu kritisieren oder zu empfehlen, galt seine Sorge vor allem der Verfahrensgerechtigkeit, insbesondere der Stillung legitimer Bedürfnisse, und nur in sekundärer Hinsicht grundsätzlich ökonomischer oder sozialer Ungleichheit.20 Keynes empörte sich vor allem über die Ungerechtigkeit von wirtschaftlichen Zufällen oder von politischen Maßnahmen, die eine willkürliche und unvorhersehbare Verteilung von Reichtum zur Folge hatten. Die einzige Erwähnung von Ungerechtigkeit in »Treatise on Money« bezog sich auf die ungerechte Einkommensverteilung infolge der Preisinflation bei Verbrauchsgütern; und seine Ablehnung des Haushalts- und Wirtschaftsgesetzes von 1931, das er einen Verstoß gegen die »soziale Gerechtigkeit« nannte, entzündete sich vor allem daran, dass ausschließlich die Lehrer und andere Beschäftigte im öffentlichen Sektor drastische Lohneinbußen erlitten, nur weil es für die Regierung einfacher war, diese Löhne zu senken als die anderer Berufszweige.21 Die Ungerechtigkeit eines Verfahrens, das aus willkürlichen Gründen eine Gruppe von Menschen anders behandelte als andere, war der Grund seiner Sorge, nicht das Ergebnis des Verteilungsprozesses als solches.
19 20 21
Keynes, »Liberalism and Labour« [1926], in: JMK 9, S. 311. Vgl. Skidelsky, Keynes. The Economist, S. 223. Keynes, »A Treatise on Money« [1930], in: JMK 5, S. 265; ders., »The Economy Bill« [1931], in: JMK 9, S. 146f.; Ders., »Notes for a Speech to Members of Parliament«, 6. 9. 1931, in: JMK 20, S. 608; Keynes to J. Ramsay MacDonald, 5. 8. 1931, in: JMK 20, S. 590f.; vgl. auch ders., »Am I a Liberal?« [1926], in: JMK 9, S. 306.
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Keynes’ oberste Priorität war die makroökonomische Stabilität. Darin lag für ihn die Möglichkeit, Erwartungen und Eigentumsrechte der Einzelnen vor ungerechten Eingriffen und Erschütterungen zu schützen. Erst an zweiter Stelle stand bei ihm der Einsatz für ein gewisses Maß materieller Umverteilung, die er in der Regel argumentativ als notwendiges Zugeständnis an die Arbeiterklasse oder als nützliches (aber nicht zwingend notwendiges) Instrument zur Förderung wirtschaftlicher Stabilität darstellte.22 Diese Zustimmung zur Umverteilung ging jedoch oft einher mit einer nachdrücklichen Verteidigung der Notwendigkeit, ein gewisses Maß an ökonomischer Ungleichheit als Anreiz und Anerkennung für größere Leistung und Risikobereitschaft aufrechtzuerhalten.23 Es gibt jedoch etliche Belege dafür, dass Keynes in seinem späteren Werk egalitären Positionen gegenüber aufgeschlossener wurde. Als er versuchte, die Arbeiterbewegung für seine Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Finanzierung des Zweiten Weltkrieges zu gewinnen,24 betonte er ausdrücklich die Notwendigkeit, ökonomische Ungleichheit zumindest zu verringern. »Die hervorstechendsten Fehler der wirtschaftlichen Ordnung, in der wir leben«, erklärte Keynes, »sind ihr Versagen, für Vollbeschäftigung zu sorgen, und ihre willkürliche und ungleiche Verteilung von Reichtum und Einkommen.«25 Er forderte nun »einen liberalen Sozialismus«, der »soziale und ökonomische Gerechtigkeit vorantreiben« und zugleich »den Einzelnen achten und schützen« würde.26 Im Schlusskapitel der »General Theory« diskutierte Keynes den Zusammenhang zwischen dem Kernargument seines Buches
22 23 24
25 26
Vgl. Keynes, »The Question of High Wages« [1930], in: JMK 20, S. 13; Skidelsky, Keynes. The Economist, S. 223. Vgl. etwa Keynes, »How to Pay for the War« [1940], in: JMK 9, S. 377. Zur Komplexität der Beziehung von Keynes und Labour Party vgl. Skidelsky, Keynes. The Economist, S. 232–234, 437f.; ders., John Maynard Keynes. Fighting for Britain 1937–1946, London 2000, S. 58–64; Toye, Labour Party, S. 91–113. Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money [1936], in: JMK 7, S. 372. Keynes, Interview mit Kingston Martin, »Democracy and Efficiency«, New Statesman vom 28. 1. 1939, S. 123.
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und den traditionellen Rechtfertigungen von Ungleichheit. Insbesondere argumentierte er, dass er die Behauptung widerlegt hätte, dass »Kapitalbildung von der Stärke des individuellen Willens zum Sparen abhängt« und folglich vom Sparwillen der Reichen. Im Gegensatz dazu hatte er gezeigt, dass ohne Vollbeschäftigung Kapitalbildung »keinesfalls vom Konsumverzicht abhängt, sondern im Gegenteil dadurch verhindert wird«. Maßnahmen der Umverteilung, die »wahrscheinlich die Konsumbereitschaft erhöhen«, würden sich in Wahrheit »positiv auf die Kapitalbildung auswirken«. Keynes zeigt sich darum überzeugt, »eine der zentralen gesellschaftlichen Rechtfertigungen großer Wohlstandsungleichheit« beseitigt zu haben.27 Provokativ erklärte er sogar, sich über die schrittweise »Euthanasie des ›Rentiers‹, des funktionslosen Investors« zu freuen.28 Dass er diese Argumente widerlegt hatte, hieß jedoch nicht, wie Keynes hervorhob, dass er damit alle Rechtfertigungen der Ungleichheit entkräftet hätte. Anreize für Risikobereitschaft zu setzen, war eine mögliche Begründung. Ihm zufolge gab es zulässige »soziale und psychologische Rechtfertigungen für erhebliche Einkommens- und Vermögensungleichheiten, aber nicht für so große Ungleichheiten, wie sie heute bestehen«. Diese Sicht führte zu Spekulationen über die Notwendigkeit des Geldverdienens als Sicherheitsventil für »gefährliche menschliche Triebe«, die sich ansonsten »in Form von Grausamkeit, rücksichtslosem Streben nach Macht und Autorität sowie anderen Arten der Selbstüberhöhung ausleben« würden: »Es ist besser, dass ein Mensch den Tyrannen über sein Bankkonto spielt als über seine Mitbürger.« Dennoch war es nicht notwendig, folgerte Keynes, dass »das Spiel mit so hohen Einsätzen wie derzeit gespielt wird«, denn »viel geringere Einsätze würden diesen Zweck genauso erfüllen«.29 Obwohl diese Überlegungen den sozialdemokratischen Argumenten für ökonomische Anreize sehr ähnlich waren, betrachtete die Linke diese Diagnose,
27 28
29
Keynes, General Theory, S. 372f. Keynes, General Theory, S. 374–377, Zitat S. 376; vgl. dazu Ross McKibbin, »Political Sociology in the Guise of Economics. J. M. Keynes and the Rentier«, in: English Historical Review 128 (2013), S. 78–106. Keynes, General Theory, S. 374.
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der zufolge auf Erwerb ausgerichtete Verhaltensmuster einen gesellschaftlichen Nutzen hatten, und besonders Keynes’ flapsigen Ton mit Argwohn. Durbin beklagte sich bei Keynes, dass diese Formulierung »die kleine Tyrannei in der Beziehung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber« ignorierte. Für Durbin unterstützte Keynes letzten Endes die Autokratie in den Arbeitsbeziehungen: »Wie Tawney sagte, scheint die Religion der Ungleichheit es möglich zu machen, dass selbst Menschen guten Willens vergessen, dass Arbeiter auch Menschen sind.«30 Allerdings war alles in allem für die Linke nicht so sehr Keynes’ distanzierter Umgang mit egalitären Idealen von Bedeutung als vielmehr, dass er bestätigte, dass Wirtschaftspolitik nicht zwischen Effizienz und Gleichheit wählen musste, schon gar nicht in einer ökonomischen Depression. Wenn man Keynes’ »General Theory« brachial für politische Zwecke zuspitzte, konnte man das Argument des Buches so auslegen, dass der Staat die Vermögen der Reichen in ökonomisch produktivere Bereiche umlenken musste, um eine wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen und insbesondere den Konsum der Arbeiterklasse anzukurbeln. In dieser Hinsicht konnte man Keynes’ Auffassung als Parallele zur Unterkonsumtionstheorie von Hobson verstehen.31 Erneut verhielt sich Keynes selbst jedoch ausweichend, was diese Ableitung aus seiner Theorie betraf. Keynes unterschied sich besonders in der Frage des Verhältnisses von Sparen und Investitionen ausdrücklich von Hobson, für den beides synonym war. Aus Hobsons Sicht war eine zu hohe Sparquote (und somit Überinvestitionen) die Hauptursache der Instabilität des Kapitalismus, und er argumentierte, dass eine Umverteilung von Kaufkraft zugunsten der Armen mit dem Ziel, den Konsum zu steigern, auch das Wirtschaftswachstum wieder ankurbeln würde. Im Gegensatz dazu vertrat Keynes ein komplexeres Verständnis davon, wie Ersparnisse zu Investitionen wurden, und dachte letztlich, dass der Auslöser für ökonomische Depressionen
30
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Evan Durbin an Keynes, 29. 4. 1936, in: JMK 29, S. 234; vgl. Evan Durbin, »Professor Durbin Quarrels with Professor Keynes«, in: Labour, April 1936, S. 188. Diesen Punkt brachte Keynes selbst vor: General Theory, S. 364–371; siehe auch den Briefwechsel Hobson-Keynes, in: JMK 19, S. 208–211.
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zu geringe Investitionen in einer von zu viel Sparen gekennzeichneten Wirtschaft waren. Daraus ergab sich eine wichtige Implikation für die Sozialpolitik. Keynes zufolge bestand die wirkungsvollste Strategie des Staates gegen die Depression darin, Ersparnisse in Investitionen umzuwandeln, Ersparnisse also produktiver Nutzung zuzuführen, indem man die Kreditschöpfung ausweitete und die Zinssätze reduzierte, und nicht in der von Hobson favorisierten materiellen Umverteilung.32
Von Keynes zum Keynesianismus Keynes lieferte also einige Hinweise darauf, dass seine politische Ökonomie Möglichkeiten der Umverteilung enthielt, auch wenn sein Hauptinteresse auf die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität gerichtet war und weniger darauf, einen Großangriff auf die ökonomische Ungleichheit einzuleiten. Sein Schüler Roy Harrod stellte fest, dass Keynes’ Werk die Aussicht eröffnete, »das bestehende System ohne drastische Umwälzungen aufrechtzuerhalten«, und damit der politischen Gemeinschaft eine »Atempause« verschaffte, in der sie über weitere gesellschaftliche Reformen nachdenken konnte. »Seine Vorschläge werden wohl kaum den fundamentalen Konflikt zwischen den Interessen der Reichen und der Armen lösen«, aber anders als die marxistische Analyse würden sie es immerhin ermöglichen, diesen Konflikt friedlich zu lösen.33 In der Tat bedeutete selbst die zentristische keynesianische Vision von stetigem ökonomischem Wachstum und Vollbeschäftigung eine erhebliche Verbesserung der Stellung der Arbeiterklasse, denn so würde auch
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Vgl. Peter Clarke, Liberals and Social Democrats, Cambridge 1978, S. 226–234; ders., »Hobson and Keynes as Economic Heretics«, in: Michael Freeden (Hg.), Reappraising J. A. Hobson, London 1990, S. 100–115; Freeden, Liberalism Divided, S. 168f. Das wurde auch schon von Zeitgenossen so gesehen, vgl. George Douglas Howard Cole, The Means to Full Employment, London 1943, S. 48–63; Keynes an G. D. H. Cole, 27. 6. 1940, Cole Papers, C/4/8/1. Roy Harrod, »Review of ›The General Theory of Employment, Interest and Money‹«, in: Political Quarterly 7 (1936), S. 297f.
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deren Macht in Lohnverhandlungen gestärkt und die wirtschaftliche Unsicherheit weitgehend vermindert.34 Dennoch bleiben auffällige Ambivalenzen in der Politik der »General Theory«, wie John Strachey herausstellte. Die Priorität legte Keynes auf die Organisation der Investitionstätigkeit, um alle Produktionsmöglichkeiten zu mobilisieren. Zugleich deutete er aber eine Kritik der Folgen der Verteilung im Kapitalismus überhaupt an, selbst wenn alle Produktionsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden und Vollbeschäftigung herrschte. Wie Strachey beobachtete, versuchten »die jüngeren Ökonomen, die zutiefst durch das Werk von Mr Keynes geprägt waren«, diese Ambivalenz aufzulösen, indem sie betonten, Umverteilung sei die zentrale politische Schlussfolgerung aus der »General Theory«.35 Strachey hatte dabei die Arbeiten von Roy Harrod,36 Douglas Jay, James Meade und Joan Robinson im Sinn, der ersten Generation der »Linkskeynesianer«, die die egalitären Implikationen von Keynes’ Theorie in Verbindung mit ihrem dezidierten moralischen Bekenntnis zu einer von größerer Gleichheit geprägten Gesellschaft explizit machten. Ihre Version von Keynes’ Reflationspolitik schloss Maßnahmen ein wie eine progressivere Besteuerung von Einkommen und Vermögen, höhere Sozialleistungen und eine Steigerung der staatlichen Investitionstätigkeit. Jay vertrat diese Position am direktesten, indem er ausdrücklich argumentierte, Keynes hätte »die Bedeutung von Investitionen im Vergleich zum Konsum überbewertet«, wenn doch die unmittelbare Stimulierung des Konsums »die logische Schlussfolgerung aus seinem Argument war«.37 Meade und Robin-
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Das ist ein Grund, warum Sozialisten die Sorge hatten, dass selbst ein zentristischer Keynesianismus in einer kapitalistischen Gesellschaft politisch nicht durchzuhalten war; vgl. Michal Kalecki, »Political Aspects of Full Employment«, in: Political Quarterly 14 (1943), S. 326–331. John Strachey, A Programme for Progress, London 1940, S. 311–313, 325. Zwar bewegte sich Harrod politisch später weiter nach rechts, aber in den 1930er Jahren galten seine Sympathien der Linken, und er beteiligte sich an der Arbeit des NFRB; vgl. Durbin, New Jerusalem, S. 98, 105f., 162f.; Clarke, The Keynesian Revolution, S. 286, 321 Fn. 26. Douglas Jay, »Mr Keynes on Money«, in: The Banker, April 1936, H. 14; Douglas Jay, The Socialist Case, London 1938, S. 192; D. E. H. Bryan, The Development of Revisionist Thought Among British Labour Intellectuals
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son waren vorsichtiger, aber ihre einflussreichen Lehrbuchfassungen der »General Theory« legten nahe, dass keynesianische Politik die Regulierung der Investitionen um materielle Umverteilung ergänzen sollte, und brachten sogar eine Neuauflage des Plans einer »sozialen Dividende« in Umlauf, den Dennis Milner in den 1920er Jahren vorgeschlagen hatte.38 Eine ähnliche Verbindung von politischen Strategien, die sowohl auf Umverteilung als auch auf Investitionssteuerung zielten, nahm später William Beveridge in seinem Bericht über Vollbeschäftigung von 1944 vor (vermutlich ein Ergebnis der Mitarbeit von keynesianischen Ökonomen wie Joan Robinson und Nicholas Kaldor an der Erstellung dieses Berichts).39 Weniger intellektuell differenzierte Autoren stellten Keynes’ Theorie als »vollständige Bestätigung« von traditionellen Umverteilungskonzepten der Arbeiterbewegung dar: Löhne durften in einer Depression nicht gekürzt werden, der Konsum der Arbeiterklasse war der Schlüssel zur wirtschaftlichen Erholung, und ökonomische Ungleichheit sollte allgemein reduziert werden.40 »Es ist schön zu erklären: ›Ich habe es euch doch gesagt‹«, bemerkte Wootton dazu.41 and Politicians. 1931–64, (DPhil thesis), Oxford 1984, S. 93. Cole trug einen ähnlichen Punkt vor, vgl. Ritschel, The Politics of Planning, S. 301. 38 James Meade, An Introduction to Economic Analysis and Policy, Oxford 1936, S. 12–60; Joan Robinson, Introduction to the Theory of Employment, London 1937, S. 91f., 123; Joan Robinson, »Planning Full Employment« [1943], in: dies., Collected Economic Papers, Bd. 1, Oxford 1951, S. 81–83; Walter van Trier, Everyone a King. An Investigation into the Meaning and Significance of the Debate on Basic Incomes with Special Reference to Three Episodes from the British Inter-War Experience, (Dissertation, Universität Leuven) 1995, S. 349–365, 383–387. Jay erinnerte sich später, dass sein »Socialist Case« Meades Buch »mehr verdankte als jedem anderen im Druck vorliegenden Werk«; Douglas Jay, Change and Fortune. A Political Record, London 1980, S. 63. 39 Vgl. William Beveridge, Full Employment in a Free Society, London 1944, S. 180–187; Jose Harris, William Beveridge, Oxford 1997, S. 434–443. 40 Alfred Leslie Rowse, Mr Keynes and the Labour Movement, London 1936, S. 13–15, 18–21, 41f., 45–54, Zitat S. 66; vgl. auch Toye, Labour Party, S. 93. 41 Barbara Wootton, »Review of Mr Keynes and the Labour Movement«, in: Economic Journal 47 (1937), S. 153. Einen instruktiven Kontrast zu dieser linkskeynesianischen Vision bietet die Kritik von John Hicks an Strachey, dass dieser die Ausdehnung der Kaufkraft überbetone. Hicks war der Auffassung, dass Strachey die Lektion des New Deal übersah, nämlich dass in
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Für diese linken Keynesianer bestand eine wichtige Lektion, die sie aus Keynes’ Denken zogen, darin, dass es nun möglich geworden war, mit all der formalen Strenge, über die die ökonomische Theorie gebot, die Vereinbarkeit von Gleichheit und produktiver Effizienz aufzuzeigen. Sie erklärten, dass Keynes »die orthodoxen Apologeten des kapitalistischen Systems ihrer wichtigsten Waffe beraubte«, und die »General Theory« »ausgezeichnetes Material« für »progressive Propaganda« zur Verfügung stellte.42 In dieser Perspektive war das entscheidende Verdienst von Keynes, die Annahme untergraben zu haben, die sowohl Anhänger des Laissezfaire als auch Marxisten und demokratische Sozialisten teilten: dass wirtschaftliche Umverteilung und Kapitalismus grundsätzlich unvereinbar waren. Selbst moderate Sozialisten wie Durbin glaubten, dass eine weitreichende Umverteilung nur die ökonomische Effizienz behindern würde, weil die größere Steuerlast für die Reichen die Sparquote und damit die Kapitalbildung reduzieren würde. Für Durbin bestand die Lösung letztlich in umfassenden Sozialisierungen und in wirtschaftlicher Planung.43 Die Bedeutung, die Keynes’
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den USA die Arbeitslosigkeit hoch blieb, weil Roosevelt allzu sehr auf die »direkte Aufrechterhaltung der Kaufkraft der Konsumenten« fixiert war und Investitionen vernachlässigte: John Hicks, »Communism with a difference«, The Manchester Guardian vom 2. 4. 1940, S. 3. Jay legte eine alternative Erklärung der Mängel des New Deal vor, als er erklärte, Roosevelts Fehler sei gewesen, den Konsum durch zwangsweise Anhebung der Löhne zu steigern (und damit das Verhältnis zwischen Gewinnen und Kosten zu verändern), statt andere Methoden wie Steuererleichterungen für Geringverdiener zu nutzen, vgl. Jay, Socialist Case, S. 219f. Joan Robinson, »Review of A Programme for Progress«, in: Political Quarterly 11 (1940), S. 282. Vgl. Evan Durbin, »The Importance of Planning«, in: Catlin (Hg.), New Trends, S. 151f.; ders., »Socialist Credit Policy«, in: New Fabian Research Series 1934, H. 15, S. 5; ders., Politics, S. 293f., 298–300; John Atkinson Hobson/Evan Durbin, »Under-Consumption. An Exposition and a Reply«, in: Economica 42 (1933), S. 402–427, besonders Durbin auf S. 424f.; Brooke, Problems of »Socialist Planning«, S. 46–50. Zu ähnlichen Überlegungen vgl. George Douglas Howard Cole, Principles of Economic Planning, London 1935, S. 403f. Cole äußerte sich bald darauf begeistert über Keynes’ »General Theory« (»Mr Keynes beats the band«, New Statesman, 15. 2. 1936, S. 220–222; Means, S. 48–63), obwohl er glaubte, dass die vollständige Heilung von der Ungleichheit der Klassen den Sozialismus erforderte: Wright,
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Bemerkungen in der »General Theory« hatten, wird in diesem Kontext schnell offenkundig, denn er erklärte, eine zentrale wirtschaftswissenschaftliche Prämisse widerlegt zu haben, die den Positionen sowohl der antiegalitären Rechten als auch der sozialistischen Linken zugrunde lag.44 Aus der Sicht von Linkskeynesianern wie Meade und Robinson beschränkte sich Keynes’ Leistung also nicht nur darauf, gezeigt zu haben, dass ein auf Privateigentum und Märkte gegründetes Wirtschaftssystem mit der Hilfe begrenzter staatlicher Interventionen Wohlstand sichern und individuelle Freiheit schützen konnte. In seiner Besprechung von Stracheys »The Nature of Capitalist Crisis« argumentierte Meade, dass »der Sozialist die marxistische Analyse verwerfen musste. Man kann den Kapitalismus sicher dazu bringen, dass er funktioniert, und dass er nicht funktioniert, hat nur mit mangelndem Verständnis zu tun.« Dennoch blieb damit ein entscheidendes Problem ungeklärt: »Kann auf diese Weise ein größeres Maß an Gleichheit erreicht werden, ohne die staatliche Planung oder die Verstaatlichung von Kapital weiter auszudehnen?«45 Keynes hatte den Weg dafür bereitet, dass diese Frage positiv beantwortet werden konnte. In neuer Begeisterung über die Implikationen von Keynes’ Werk, verwickelte Strachey Durbin in eine Debatte über diesen Punkt. Er schrieb ihm nach der Veröffentlichung von Durbins »Politics of Democratic Socialism«, um dessen Deutung zu widersprechen, dass Großbritannien vom Mangel an Ersparnissen ge-
Cole, S. 196; Thompson, Political Economy, S. 119–20. Zur Komplexität der britischen Planungsdebatte vgl. Ritschel, The Politics of Planning; zum semantisch vielfältigen Planungsbegriff in Deutschland siehe den Beitrag von Tim B. Müller in diesem Band. 44 Vgl. Jay, Socialist Case, S. 248–251; Strachey, Programme, S. 72–75; Joan Robinson, An Essay on Marxian Economics, London 1942, S. 76–80; Joan Robinson, »Some Reflections on Marxist Economics«, in: dies., Essays in the Theory of Employment, Oxford 1947, S. 187f.; Meades Rezension von Durbins »Problems of Economic Planning«, in: Economic Journal 60 (1950), S. 119f. 45 James Meade, »The Marxian Theory of Class«, in: University Forward 1 (1935), S. 25, Meade Papers, 18/2, British Library of Political and Economic Science, London; James Meade, »The State and Liberty«, The Spectator vom 11. 1. 1935, S. 55.
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prägt war.46 Strachey bot eine keynesianische Antwort an, als er fragte: »Wie kann die Höhe der Ersparnisse als unzureichend bezeichnet werden, wenn allgemeine Arbeitslosigkeit vorherrscht?« Arbeitslosigkeit war Strachey zufolge nichts anderes als das Vorhandensein einer Anzahl von produktiven Ressourcen, die nicht für den Konsum genutzt wurden. Aber dieses theoretische Problem hatte wichtige politische Folgen, denn »ist nicht das der Grund dafür, dass Sie sich so überaus ablehnend gegenüber weiteren Anhebungen der Sozialleistungen verhalten?«, fragte Strachey seinen sozialistischen Gesprächspartner. Er war »offen gesagt erschüttert« über Durbins Behauptung, dass eine Steigerung des Konsums die Ersparnisse und damit die Arbeitsproduktivität reduzieren würde. Das war »katastrophal irreführend für ein Land wie das unsrige, dessen wesentlicher Defekt zu geringe Beschäftigung ist und eine allgemeine Tendenz zur Stagnation«. Strachey schrieb an Durbin: »Wie Sie sehen können, hat mich in dieser Hinsicht Keynes’ Argument überzeugt.« Kurioserweise führte die Haltung des einstigen Marxisten Strachey »zu der Auffassung, dass es viel mehr Entwicklungsmöglichkeiten gab, als Ihre Sicht zulässt«.47 Die Gestalt, in der dieses Effizienzargument zugunsten der Umverteilung Eingang in den demokratischen politischen Diskurs fand, war wichtig. So erklärte etwa das Wahlprogramm der Labour Party 1945: »Überproduktion ist nicht die Ursache von Depression und Arbeitslosigkeit; Unterkonsumtion ist dafür verantwortlich.« Um diese Unterkonsumtion abzuwehren, sollte »eine hohe und konstante Kaufkraft« ermöglicht werden »durch gute Löhne, Sozialleistungen und Sozialversicherungen sowie eine Besteuerung, die die unteren Einkommensgruppen viel weniger trifft«.48 Vgl. Durbin, Politics, S. 102–106, 137f.; auch Durbin, »Professor Durbin Quarrels«, S. 188; Briefwechsel Keynes-Durbin, in: JMK 29, S. 231–235. 47 John Strachey an Evan Durbin, 23. 2. 1940, Durbin Papers, 7/6, British Library of Political and Economic Science, London. Siehe im Gegensatz dazu Stracheys frühere Kritik an Coles Unterkonsumtionsdeutung, wonach diese Form der staatlichen Intervention eine Vorstufe des Kapitalismus darstellte: John Strachey, The Nature of Capitalist Crisis, London 1935, S. 333–351. 48 Labour Party, Let us Face the Future [1945], H. 54; vgl. auch Labour Party, Let us Win Through Together [1950], H. 65; beide wieder abgedruckt in: Iain Dale (Hg.), Labour Party General Election Manifestos. 1900–1997, London 46
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Als Clement Attlee sich während der zweiten Lesung des National Insurance Act 1946 an das Unterhaus wandte, verteidigte er ausdrücklich die Sozialversicherung mit diesen Argumenten. Wenn man zuließ, dass Arbeitslosigkeit oder Krankheit den Konsum verringerten, hätte das »einen ökonomischen Verlust für das Land« zur Folge. Die Wohlfahrtspolitik von Labour würde »eine angemessene Verteilung der Kaufkraft unter den Massen« sicherstellen.49 Man kann der Schlussfolgerung kaum widerstehen, dass es Keynes war, der die Führung der Labour Party letztlich dazu brachte, Hobsons Theorie der Unterkonsumtion zu übernehmen. Damit soll nicht der wichtige Punkt heruntergespielt werden, dass ein Großteil der Labour-Führung in den 1930er und 1940er Jahren grundsätzlich davon überzeugt blieb, dass der endgültige Weg zur Gleichheit über die Sozialisierung der Wirtschaft und ökonomische Planung führte.50 Diese Grundannahme wurde erst in späteren Debatten über egalitäre Strategien einer genauen Überprüfung unterzogen. In der Epoche zuvor betrachtete selbst Gaitskell weiterhin Verstaatlichungen als die »einzig angemessene Methode«, um Ungleichheit zu reduzieren.51 Dennoch steht ohne Zweifel fest, dass die keynesianische Theorie den Boden für den weitreichenden Revisionismus der 1950er Jahre bereitete, weil sie zeigte, dass (zumindest auf kurze Dauer) die Verringerung von Ungleichheit als ein Mittel gebraucht werden konnte, mit dem sich die Effizienz einer im weiten Sinne kapitalistischen Ordnung erhöhen ließ. Obwohl Keynes kein allzu großes Interesse an Gleichheit
2000. Vgl. auch die von der Labour Party veröffentlichte Kampfschrift von Douglas Jay, The Nation’s Wealth at the Nation’s Service, London 1938, S. 2–5, 10f. 49 Clement Richard Attlee, Speech, House of Commons, 7. 2. 1946, in: ders., Purpose and Policy. Selected Speeches, London 1947, S. 94–96, Zitat S. 94. 50 Vgl. Brooke, Labour’s War, S. 251f., 268; Martin Francis, Ideas and Policies Under Labour 1945–1951, Manchester 1997, S. 65–99; Toye, Labour Party, S. 75–78, 236–239. 51 Vgl. Hugh Gaitskell, Money and Everyday Life, London 1939, S. 9; auch ders., »Economics«, in: Naomi Mitchison (Hg.), An Outline for Boys and Girls and Their Parents, London 1932, S. 670; Williams, Hugh Gaitskell, S. 65–69.
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an den Tag gelegt hatte, stand seine Theorie einer egalitären Interpretation offen. Keynes vertrat keinen Egalitarismus, aber der wichtige Punkt ist, dass es genau das war, was seine einflussreichsten Schüler taten. Aus dem Englischen von Tim B. Müller
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Demokratische Experimente in der politischen Kultur Frankreichs
Jessica Wardhaugh
Demokratische Experimente in der politischen Kultur Frankreichs
Die in Frankreich für 1940 angesetzten Wahlen wurden nie abgehalten. Hätten sie stattgefunden, wäre der Sieger vermutlich der Parti Social Français gewesen: Die im Juli 1936 gegründete rechtsextreme Organisation war bis zum Ende der 1930er Jahre zur größten Partei Frankreichs aufgestiegen. Zuversichtlich über die eigene Stärke und den wachsenden Einfluss plante die Parteiführung bereits landesweite Parteifeste und Massenaufmärsche, um den bevorstehenden Wahlsieg zu feiern. Zentrale Aspekte waren hier die Verehrung von Kriegstoten, des nationalen Parteiführers und einer utopischen Volksgemeinschaft. Dabei sollten Musik, Lichtinstallationen und Tanzveranstaltungen eine französische Antwort auf Leni Riefenstahls berüchtigten Film »Triumph des Willens« bieten.1 Angesichts der Tatsache, dass die Mitgliederzahlen des Parti Social Français die der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei zusammengenommen überstiegen, könnte die Anziehungskraft dieser Partei fundamentale Schwächen der französischen Demokratie zwischen den Weltkriegen aufzeigen. Einerseits scheint es vor diesem Hintergrund wenig verwunderlich, dass der Zusammenbruch der Dritten Französischen Republik 1940 nicht besonders bedauert und im Gegensatz dazu das autoritäre Vichy-Regime un-
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Detaillierte Pläne für die geplanten Parteiveranstaltungen sind in den privaten Aufzeichnungen des Parteivorsitzenden überliefert: AN 451 AP 187 (Archives Nationales, Paris, Archives Privés du Colonel de la Rocque).
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ter Marschall Pétain enthusiastisch begrüßt wurde. Andererseits entzieht sich der Parti Social Français schon immer einer eindeutigen Zuordnung. Als Vorbild war bewusst die Struktur der Sozialistischen Partei (Section Française de L’Internationale Ouvrière/ SFIO ) gewählt worden. Es sollte eine Parteibasis aus Mitgliedern der Arbeiterklasse gewonnen werden, und es wurden Programme für eine bessere Sozialfürsorge wurden entwickelt, darunter Ferienlager für benachteiligte Kinder.2 Die Massenversammlungen des Parti Social Français konkurrierten mit denen des antifaschistischen Front Populaire (Volksfront). Sie konnten Frauen und Jugendliche für ihre Politik begeistern und politisierten Kultur und Alltag. Obwohl die Partei in ihrer Rhetorik weiterhin radikal blieb, erzielte sie ihre größten Erfolge darin, innerhalb des Rahmens der parlamentarischen Demokratie Unterstützer zu gewinnen. Lässt der Erfolg einer solchen Partei auf das Versagen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit schließen, oder legt dieser eher einen dauerhaften Erfolg der Demokratie nahe? Ziel dieses Beitrags ist es, die Bedeutung von demokratischem Erfolg und Versagen im Frankreich der Zwischenkriegszeit anhand einer vergleichenden Analyse der Linken und der Rechten zu untersuchen. Während in der deutschen Geschichtswissenschaft eine tiefgehende Neubetrachtung der Demokratie in der Weimarer Republik stattfindet, bietet die französische Historiografie eher eine lineare Interpretation der Demokratiegeschichte während der Zwischenkriegsjahre. Dabei werden häufig Befürworter und Gegner der Demokratie dichotom mit dem linken und rechten politischen Lager gleichgesetzt. Im Folgenden wird analysiert, wie und aus welchen Gründen diese historiografischen Traditionen entstanden sind, um im Anschluss daran eine alternative Darstellung der Zwischenkriegszeit als eine entscheidende Phase für demokratische und antidemokratische Experimente im gesamten politischen Spektrum zu skizzieren. Als Fallbeispiel dient dann der Sommer des Jahres 1936: eine Konstellation, in der die linke Volksfront ihren Wahlsieg feierte und die extreme Rechte sich in Form neuer Parteien wieder etablierte. In diesem Fall eröffnet die vergleichende Analyse der
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Vgl. Berichte über die Aktivitäten des Lagers, ebenda, AN 451 AP 178–181.
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politischen Experimente ein Beispiel für Demokratie als Schauplatz sowohl der Konkurrenz als auch der Annäherung in politischen, sozialen und kulturellen Fragen.
Faschismus und Demokratie: Historische Hintergründe Die Deutung der französischen Zwischenkriegsdemokratie ist seit dem Zusammenbruch der Dritten Französischen Republik 1940 umstritten. Unmittelbar nach dem Ende der Republik war die Ansicht weit verbreitet, die demokratische Republik habe sich selbst zersetzt – und damit auch zur katastrophalen Niederlage durch das nationalsozialistische Deutschland im Mai und Juni 1940 beigetragen. Das Vichy-Regime (1940 bis 1944) teilte diese Ansicht und brachte das Führungspersonal der Volksfront 1942 in Riom vor Gericht. Dabei sollte ein kausaler Zusammenhang nachgewiesen werden zwischen der Politik der Volksfront, Sozialreformen den Vorrang vor der Steigerung der Industrieproduktion zu geben, und der militärischen Niederlage Frankreichs. Doch als nach der Befreiung von der deutschen Besatzung wiederum die Führer des Vichy-Regimes vor Gericht standen, wurden ganz andere Argumentationsgänge gewählt. Besonders deutlich wurde das im Prozess gegen Marschall Pétain: Die Anklage stellte die Dritte Französische Republik als Opfer rechter Intrigen dar und erklärte, Anhänger des extrem rechten politischen Lagers hätten einen Staatsstreich gegen die Demokratie geplant gehabt. Die tatsächliche Bereitschaft rechter Gruppen und Individuen, die Demokratie infrage zu stellen oder aktiv zu bekämpfen, wird seitdem kontrovers diskutiert. War Frankreich in der Zwischenkriegszeit also ein Leuchtturm der Demokratie im zunehmend autoritär regierten Europa? Belegt die Entwicklung eine langsam, aber stetig wachsende Zustimmung der französischen Bevölkerung zu republikanischen Idealen und Praktiken, wodurch selbst die Rechte für den Faschismus unempfänglich wurde? Oder war Frankreich nicht nur das Ursprungsland der faschistischen Ideologie, sondern ebenso anfällig für faschistische Ideale und Aktionen wie seine europäischen Nachbarn? Obwohl die historische Darstellung der linken und rechten politischen Lager mittlerweile sehr unterschiedliche Richtungen eingeschlagen
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hat, sind diese Fragen für die Analyse und Bewertung der Zwischenkriegsjahre von anhaltender Bedeutung.3 Für beide Debatten bleibt die Demokratie eine zentrale Kategorie, doch weil die politischen Lager weitgehend getrennt untersucht wurden, fehlt es bisher fast gänzlich an vergleichenden Betrachtungen demokratischer Ideen und demokratischer Praxis. In der Historiografie rechter Gruppierungen und Individuen bleibt die Frage nach demokratischen Entwicklungen und Experimenten von Debatten überlagert, ob und wie weit deren Ideen dem Faschismus zuzuordnen sind. Wurde die politische Rechte zunächst als kaum mehr als »bonapartistisch« eingeordnet, stehen mittlerweile ihre faschistischen Elemente im Vordergrund, wobei manche eine Einordnung jeglicher Art ablehnen. In den 1950er Jahren wurde die Bedeutung von rechten Gruppierungen, die durch die Nachkriegsprozesse zeitweilig zerschlagen waren, in historischen Untersuchungen heruntergespielt. In den einflussreichen Arbeiten des Politikwissenschaftlers und Mitglieds der Academie française René Rémond spielten sie als ernst zu nehmende Bedrohung für die Demokratie keine Rolle. In seinem Buch »La Droite en France« (1954),4 das 1982 unter dem Titel »Les Droites en France« neu erschien, ging Rémond von drei prägenden Strömungen der französischen Rechten aus: dem Legitimismus, dem Orleanismus und dem Bonapartismus. Der nationalspezifische Charakter dieser drei Bewegungen unterschied sie vom italienischen oder deutschen Faschismus – woraus Rémond schlussfolgerte, dass sowohl die neue Rechte des späten 19. Jahrhunderts als auch die rechten Bewegungen der Zwischenkriegszeit lediglich Spielarten des Bonapartismus gewesen seien. Nur sehr wenige könnten als faschistisch eingeordnet werden. Im Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit schien diese Analyse natürlich beruhigend.
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Diese Tendenz lässt sich auch in den neuesten Arbeiten wiederfinden; vgl. etwa Ludivine Broch/Alison Carroll, France in an Era of Global War. Occupation, Politics, Empire, and Entanglements, Basingstoke 2014. Jedes der drei Kapitel zur »Rekonfiguration der Linken und Rechten« legt hier jeweils den Fokus auf das eine oder das andere Lager. René Rémond, La Droite en France. De la première restauration à la Ve République, Paris 1954.
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Erst in den späten 1970er Jahren – als auch das Vichy-Regime, die französische Kollaboration und die Résistance kritischer betrachtet wurden – artikulierten sich grundlegende Zweifel an der vermeintlichen Immunität Frankreichs gegenüber dem Faschismus. Besonders durch die Arbeiten des israelischen Historikers Zeev Sternhell entwickelte sich die Ansicht, Frankreich habe vielmehr den Ursprung des Faschismus dargestellt. Sternhell verstand dabei Faschismus vor allem als eine Synthese von rechts und links, als eine Neufassung des Marxismus vor dem Hintergrund nationalistischer Kritik an der Demokratie, und weniger als extreme Form des Konservatismus. Entsprechend assoziierten Sternhell und andere – insbesondere Robert Soucy – Frankreich während der Zwischenkriegsjahre mit dem Faschismus.5 Soucy verfeinerte die Klassifikation des französischen Faschismus noch weiter, indem er zwei aufeinander folgende Phasen oder »Wellen« identifizierte: 1924–1933 und 1933–1939. Eine offene Frage ist jeoch, ob sich die analysierten Gruppen und Parteien selbst dieser Kategorie zugeordnet hätten. In den 1920er und 1930er Jahren brachten Gruppen wie der Parti Franciste oder der Faisceau, Frankreichs erste und vielleicht einzige faschistische »Partei«, ihre Bewunderung für den italienischen Faschismus deutlich zum Ausdruck. Relevanter für die wissenschaftliche Debatte sind allerdings die größeren Gruppierungen, die sich nicht offen zum Faschismus bekannten. Colonel de la Rocques Croix de Feu und der Parti Social Français, als die bedeutendsten rechten Verbände der Zwischenkriegszeit, sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.6 Sie werden einerseits als unwiderlegbarer Beweis für die Existenz eines französischen Faschis-
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Vgl. etwa Zeev Sternhell, La Droite révolutionnaire. Les origines françaises du fascisme, 1885–1914, Paris 1978; ders., Ni Droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France, Paris 1983; Robert Soucy, French Fascism. The Second Wave, 1933–39, New York/London 1995. Vgl. besonders Soucy, French Fascism; Jacques Nobécourt, Le Colonel de la Rocque, 1885–1946. Ou les pièges du nationalisme chrétien, Paris 1996; William Irvine, »Fascism in France and the Strange Case of the Croix de Feu«, in: Journal of Modern History 63 (1991), S. 271–295; Kevin Passmore, From Liberalism to Fascism. The Right in a French Province, Cambridge 1997; Sean Kennedy, Reconciling France against Democracy. The Croix de Feu and the Parti Social Français, 1927–1945, Montreal/London 2007.
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mus interpretiert,7 andererseits als Beleg für die These angeführt, die französische Rechte habe dann am meisten Einfluss gewinnen können, wenn sie nicht revolutionär, sondern konservativ und legalistisch war.8 Obwohl mögliche Charakterisierungen der französischen Rechten zwischen den Weltkriegen weiterhin im Mittelpunkt der Forschung stehen, setzt eine jüngere Historikergeneration angesichts der Unmöglichkeit, diese Fragen zu lösen, mittlerweile andere Schwerpunkte. Es überwiegen Untersuchungen der politischen Positionen und Praktiken, die weniger urteilen als rekonstruieren.9 Dennoch gibt die Überzeugungskraft des Arguments, dass Frankreich faschistisch gewesen sei, der neueren Forschung wichtige Impulse, was sich zum Beispiel in der Arbeit von Michel Dobry zeigt, der der »Immunitätsthese« den Boden entzogen hat,10 oder in Chris Millingtons Analyse der radikalen und antiparlamentarischen Rhetorik in rechten Veteranenbewegungen wie der Union Nationale des Combattants.11 Dieser einseitige Fokus auf die Verbindung der politischen Rechten mit dem Faschismus zwischen den Weltkriegen, die entweder abgestritten, vorrangig untersucht oder als unlösbares Problem umgangen wird, blendet allerdings wichtige Fragen nach dem Zusammenhang zwischen der Rechten und der Demokratie aus. Wird Demokratie ausschließlich als parlamentarisches Modell verstanden, gehörte sie sicher nicht zu den Zielen der extremeren rechten Gruppierungen der 1920er und 1930er Jahre: Gruppen wie die Jeunesses Patriotes, Faisceau, Francistes, Croix de Feu, Fédération Na7 8 9
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Vgl. Irvine, »Fascism in France«; Soucy, French Fascism. Vgl. Michel Winock, Nationalism, Anti-Semitism, and Fascism in France, Stanford 1998. Vgl. Laurent Kestel, »L’Engagement de Bertrand de Jouvenel au PPF, 1936–38. Intellectuel de parti et entrepreneur politique«, in: French Historical Studies 30 (2007), S. 105–125; Kennedy, Reconciling France against Democracy, S. 10. Michel Dobry, »February 1934 and the Discovery of French Society’s Allergy to the ›Fascist Revolution‹«, in: Brian Jenkins (Hg.), France in the Era of Fascism. Essays on the French Authoritarian Right, New York/Oxford 2005, S. 129–150. Chris Millington, From Victory to Vichy. Veterans in Interwar France, Manchester 2012, S. 11.
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tionale Catholique oder der Parti Populaire Français verlangten deutlich nach autoritärer Führung. Wird der Demokratiebegriff allerdings erweitert um Aspekte wie Wohlfahrt und Sozialpolitik, populäre Kultur oder eine höhere Beteiligung von Männern, Frauen und jungen Menschen an politischen Prozessen – wenn auch nicht unbedingt an Wahlen –, konnten die extrem rechten Gruppierungen sogar deutlich demokratischer erscheinen als ihre traditionalistischen Gegenspieler im parlamentarischen System (wie z.B. die Fédération Républicaine). Es lassen sich konkurrierende Vorstellungen von Demokratie in unterschiedlichen politischen Lagern ausmachen. Die Massenbewegungen der 1930er Jahre lassen ein Demokratieverständnis erkennen, das sich von dem der elitären Bewegungen der 1920er Jahre deutlich unterscheidet. Überlegungen dieser Art wurden bisher nicht nur durch die Fokussierung auf den Faschismus und die französische Rechte überlagert, sondern auch durch die durchgehend positive Darstellung der französischen Linken während der Zwischenkriegszeit. Dem Front Populaire beispielsweise wurde als politische Bewegung und als Regierung von 1934 bis 1938 sowohl in französischen als auch englischsprachigen Untersuchungen die »Verteidigung der Demokratie« zugeschrieben.12 Entsprechend werden in Forschungsbeiträgen, einer binären Logik folgend, linke oder rechte Bewegungen häufig als entweder die Demokratie verteidigend oder sie angreifend kategorisiert, anstatt zu analysieren, wie die Demokratie auf eine experimentelle Weise im politischen Spektrum immer wieder verändert und neu gedacht wurde. Mitunter wird die Linke der Zwischenkriegszeit beinahe nostalgisch in ihren Werten und Zielen als durchgehend demokratisch beschrieben,13 gekennzeichnet durch antifaschistisches Engagement mit Massenpartizipation, den Einsatz für Sozialpolitik und kreative Reformen, die
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Julian Jackons einflussreiches Werk greift nicht nur im Titel darauf zurück, sondern macht die Verteidigung der Demokratie durch linke Gruppierungen auch zur zentralen These. Ein Kapitel beschreibt kontrastierend »den Blick des rechten Lagers«: Julian Jackson, The Popular Front in France. Defending Democracy, 1934–1938, Cambridge 1988. So zum Beispiel bei Jean-Paul Rioux (Hg.), Le Front populaire, Paris 2006.
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kulturelle Güter und Stätten einer breiten Bevölkerung zugänglich machen sollten.14 Die Dritte Republik war das langlebigste Regime in Frankreich seit der Revolution von 1789. Ihr Erfolg wird häufig auf die umfassende Durchsetzung republikanischer und demokratischer Traditionen in einer französischen Bevölkerung zurückgeführt, die zuvor einen verwirrenden Wechsel von Republiken, Monarchien und Imperien erlebt hatte. Antoine Prost deutete daher die antifaschistische Reaktion auf die Ausschreitungen vom Februar 1934 als Ausdruck einer großen Unterstützung für die republikanischen Demokratie,15 was wiederum ein politisches Engagement breiterer Bevölkerungsgruppen nach sich zog, das sich als »entschlossen«, aber gleichzeitig auch als »friedliebend« charakterisieren ließe.16 Tatsächlich war die Linke der Zwischenkriegszeit sowohl in ihrer theoretischen Ausrichtung als auch in ihren Praktiken allerdings genau so wenig einheitlich wie ihre rechten Gegner. Inwieweit eine »nicht-konformistische« intellektuelle Linke weiterhin sowohl für autoritäre als auch für demokratische Strömungen offen war, ist nur einer von vielen nach wie vor umstrittenen Punkten.17 Selbst wenn die Regierungen des »Cartel des Gauches« zwischen 1924 und 1926 sowie der Volksfront in den Jahren 1936–1937 und 1938 durchaus als »Verteidiger der Demokratie« gesehen werden können, existierten zu jeder Zeit verschiedene kleinere und radikalere Gruppen. Während der 1930er Jahre gingen diese eine Zeitlang im Front Populaire auf, aber letztendlich strebten sie nach revolutionäreren 14
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Vgl. Danielle Tartakowsky, La Manifestation de Rue en France, 1918–1968, Paris 1997; Pascal Ory, La Belle Illusion. Culture et politique sous le signe du Front populaire, 1935–1938, Paris 1994; Dudley Andrew/Steven Ungar, Popular Front Paris and the Poetics of Culture, Cambridge, Mass./London 2005. Antoine Prost, »Les manifestations du 12 février 1934 en province«, in: Mouvement Social 54 (1966), S. 6–26. Antoine Prost, Autour du Front populaire. Aspects du mouvement social au XX e siècle, Paris 2006, S. 70. Vgl. etwa Olivier Dard, Le Rendez-vous manquée des relèves des années 30, Paris 2002; Jean-François Petit, »Emmanuel Mounier’s Personalism. ANonConformist Approach to the Renewal of French Political Life«, in: Jessica Wardhaugh (Hg.), Politics and the Individual in France, 1930–50, Oxford, erscheint 2015.
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und potenziell tyrannischen Veränderungen. Marceau Pivert, eine Führungsfigur der Sozialisten (SFIO) und unter anderem zuständig für die Kommunikationspolitik der Regierung, behielt eine sehr revolutionäre Vorstellung einer Neugestaltung der Politik bei und argumentierte 1936: »Im Krieg wie im Frieden kann EINZIG das Proletariat im blutigen Kampf gegen die Bourgeoisie ein progressives Resultat erzielen.«18 Darüber hinaus beteiligten sich Kommunisten, trotz ihrer engen Verbindungen zur Volksfront, gemeinsam mit Mitgliedern der extremen Rechten an den gewalttätigen antiparlamentarischen Demonstrationen am 6. Februar 1934 und verlangten anschließend nach einer proletarischen Diktatur.19 Das satirische Stück »L’Heure H«, 1936 im Théâtre de l’Humour in Montmartre aufgeführt, verdeutlichte diese Konstellation: Chauffeur und Sekretärin eines bourgeoisen Haushalts teilen die Ablehnung des Kapitalismus und der parlamentarischen Dekadenz und bestätigen sich gegenseitig in dem gemeinsamen Wunsch nach radikalen Umbrüchen durch Massenproteste – um dann festzustellen, dass einer von ihnen ein Kommunist ist und der andere ein Mitglied der rechten Croix de Feu.20
Frankreich zwischen den Kriegen: Krise und Chance Politische Antipathien waren im Frankreich der Zwischenkriegszeit besonders intensiv: Politische Gegner lieferten sich heftige Auseinandersetzungen, sowohl rhetorisch als auch physisch. Kommunisten und Mitglieder der Croix de Feu waren dabei am häufigsten in öffentliche Kämpfe verwickelt. Dennoch muss eine kritische 18
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Marceau Pivert, La Révolution avant la guerre, Paris 1936, S. 13. Auch in der regimekritischen linken Historiografie der Volksfront wird diese Perspektive durchaus verfolgt. So zum Beispiel bei Daniel Grason/René Mouriaux/Patrick Pochat (Hg.), Eclats du Front populaire, Paris 2006, besonders S. 11. In den Parlamentsdebatten des 15. Februar forderten kommunistische Abgeordnete ebenfalls eine proletarische Diktatur in Konkurrenz zu einem faschistischen Regime: Le Journal officiel, débats parlementaires vom 16. 2. 1934. Pierre Chaine, »L’Heure H«, La Petite Illustration vom 9. 5. 1936, S. 1–34, hier: S. 32.
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Analyse der Demokratie über die binäre Unterscheidung zwischen links und rechts hinausgehen – unabhängig davon, ob Demokratie nun als Regierung durch das Volk in Form von gewählten Vertretern oder als Versprechen von größerer Freiheit und Gleichheit durch den Zugang zu einem Sozialsystem oder kulturellen Ressourcen verstanden wird. Es war eine Zeit, in der sich die politischen Werte, Verhaltensmuster und Hoffnungen ständig wandelten, auch in Reaktion auf die europäische Krise, die sich immer weiter verschärfte; eine Zeit, in der politische Gegner für gemeinsame Anliegen kämpften, ganz gleich, ob diese ihren traditionellen Idealen entsprachen oder nicht.21 Während der 1920er Jahre war die französische Innenpolitik zutiefst geprägt von Besorgnis angesichts der Russischen Revolution und der neuartigen Modelle faschistischer Regime in Europa. Doch selbst die radikale Rechte richtete sich trotz ihrer Hetzrhetorik in der demokratischen Republik ein – solange diese unter dezidiert patriotischer Führung stand (insbesondere der von Raymond Poincaré im Jahr 1926). Nach dem Börsenkrach an der Wall Street wurde jedoch das Vertrauen aller politischen Lager in die Lösungskompetenz der liberalen parlamentarischen Demokratie des 19. Jahrhunderts nachhaltig erschüttert. Daraus resultierte in den 1930er Jahren ein sich permanent wandelndes Bemühen, die Demokratie neu zu denken, sowohl auf der Linken als auch der Rechten, während Anhänger der politischen Mitte, die am traditionellen parlamentarischen Modell festhielten, zunehmend in die Minderheit gerieten (was sich nicht zuletzt auch in den Wahlergebnissen niederschlug). Was die Demokratie als Regierung durch Volksvertreter betrifft, verschob sich der Fokus von der antiparlamentarischen Stimmung 1934 zu dem Versuch, ab 1936 stärker innerhalb des bestehenden politischen Systems zu agieren, um dann 1938 die Notwendigkeit einer autoritären Führung zu betonen (ab diesem Zeitpunkt regierte Premierminister Édouard Daladier durch Verordnungen und ohne Parlament). Ein solcher Wandel des Demokratieverständnisses war auf der Linken wie auf der Rechten zu beobachten, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. 21
Dieser Ansatz wird umfassender herausgearbeitet bei Jessica Wardhaugh, In Pursuit of the People. Political Culture in France, 1934–39, Basingstoke 2009.
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Gleichzeitig waren die politischen Gegner – besonders Anhänger der Extreme – auf der Suche nach politischen Aktionsformen, um dem Willen des Volkes Ausdruck zu verleihen, ohne wie bei Wahlen für eine bestimmte Periode gebunden zu sein. Dabei standen vor allem Demonstrationen im Mittelpunkt der Überlegungen. Gleichermaßen kennzeichneten die ausdrückliche Ablehnung kapitalistischer Eliten und der Versuch, die kulturelle Demokratisierung und Wohlfahrtsprogramme für die Arbeiterschaft voranzutreiben, die Rhetorik und die Politik beider Lager in dieser Zeit. Der Abgeordnete Jean Le Cour Grandmaison beschrieb diese Gemeinsamkeiten in einer Rede vor dem Abgeordnetenhaus der Nationalversammlung am 6. Juni 1936 sogar als »partielle Ideengemeinschaft«.22 Diese Formulierung bezog sich vor allem auf Entwicklungen und Anliegen der sozialen Demokratie, die traditionell mit der Volksfront verbunden wurden. Schließlich wurden unter der Regierung des Front Populaire Reformpläne wie kürzere Arbeitszeiten, bezahlter Urlaub, Tarifverträge und ein höherer Mindestlohn zum Gesetz gemacht, auch wenn die Abwertung des Franc und die Notwendigkeit von Produktionssteigerungen die Auswirkungen dieser Reformen in der Folgezeit minderten. Weniger Aufmerksamkeit findet allerdings, was Le Cour Grandmaison vor allem zu betonen versuchte: Diese Reformvorschläge wurden von Gruppen und Parteien eingebracht oder unterstützt, die sich über das gesamte politische Spektrum verteilten. Die Forderung nach bezahltem Urlaub war beispielsweise auch Bestandteil des Wahlprogramms der Croix de Feu, »Pour le Peuple, par le peuple«.23 Zur gleichen Zeit forderte das auch der extrem rechte Parti National Populaire unter der Führung von Pierre Taittinger. Darüber hinaus verlangte Taittinger eine unabhängige Organisation zur Regulierung der Beziehungen zwischen Arbeitern und Kapital, um so Reformen wie die Vierzigstundenwoche, Tarifverträge und generell eine gerechtere Verteilung der Gewinne voranzutreiben.24 Auch als
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Vgl. Le Journal official vom 7. 6. 1936. Colonel de la Rocque, Elections législatives de 1936. Manifeste Croix de Feu – Pour le Peuple, par le peuple, o.O. 1936. Le National vom 25. 4. 1936. Archives de la Préfecture de Police, Paris (im Folgenden: APP), Ba 1941.
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die Sozialgesetzgebung der Volksfront verabschiedet wurde, vermerkten Polizeibeamte in ihren Berichten (nicht ohne Verwunderung) enthusiastische Reaktionen politischer Akteure, die sich normalerweise erbittert bekämpften.25 Ungeachtet dessen verfolgten die politischen Gegner weiterhin sehr unterschiedliche Ziele, was die Regierungsform betraf. Dabei ist zu bedenken, dass die Zeitgenossen die Zwischenkriegszeit nicht unbedingt als direkten Kampf zwischen Faschismus und Demokratie wahrnahmen, obwohl dieser Gegensatz in der Rhetorik der Linken verbreitet war. Ähnlich wie auch Studien zur Weimarer Republik zeigen, wurde diese Zeit gleichzeitig als Krise und als Möglichkeit erfahren. Edward Ross Dickinson beschreibt diese Jahre als eine Zeit, in der »die Moderne von einem unverkennbaren Machbarkeitswahn gekennzeichnet war, dem Glauben an die Umsetzbarkeit von Zielen, daran dass alles machbar sei – oder sogar einem Allmachtswahn – der Illusion von Allmacht.«26 Während der turbulenten 1920er und 1930er Jahre war es keineswegs absehbar, dass die Dritte Republik noch bis 1940 bestehen würde.27 Was als Zerbröckeln alter Gewissheiten, als rapide Veränderung politischer Ansichten und Konstellationen wahrgenommen wurde, verunsicherte die französische Bevölkerung, die zugleich die neuen politischen Möglichkeiten mit einer Mischung aus Angst und Begeisterung aufnahm. Bewährte Kategorien wie Bourgeoisie, Kultur, Menschheit, Nation, Revolution, Krieg und selbst Klassenkampf schienen nicht länger auszureichen, um die neuartige Situation in den 1930er Jahren zu erfassen, betonte der linke Schriftsteller Jean-Richard Bloch 1931 in einem Interview. Er fuhr fort: »Unsere Verteidigungsmechanismen sind unwirksam geworden, die schlüssigsten intellektuellen Positionen des letzten Jahrhunderts sind
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»P. P. 8 juin 1936«, APP 1874. Edward Ross Dickinson, »Biopolitics, Fascism, Democracy. Some Reflections on our Discourse about ›Modernity‹«, in: Central European History 37 (2003), S. 1–48, hier: S. 2 (Hervorhebungen im Original) Vgl. dazu Peter Fritzsches Aussage, das Dritte Reich sei »not so much the verification of Weimar’s singular failure as the validation of its dangerous potential«. Peter Fritzsche, »Did Weimar Fail?«, in: Journal of Modern History 68 (1996), S. 629–656, hier: S. 656.
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nacheinander wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt.«28 Bloch, ein kämpferischer Vertreter linker Ansichten, thematisierte später, wie diese gemeinsame Generationserfahrung auch ihn zu einer »obskuren Verbrüderung, bedingt durch die Umstände«, mit denjenigen geführt hatte, die sich den rechtsextremen Ligen anschlossen.29 Obwohl dieses Bewusstsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einerseits Panik und das Gefühl der Orientierungslosigkeit hervorrief, gingen damit andererseits auch radikal neue Träume und Hoffnungen einher. Wie der rechte Theaterkritiker Gabriel Boissy 1936 in seinen Überlegungen zur Beziehung des französischen Volks zu seinen führenden Politikern bemerkte: »Mit etwas Fantasie und Willenskraft kann die ganze Welt neu gestaltet werden.«30
Sommer 1936: Die entscheidende Phase für Experimente Eine Neubetrachtung der 1930er Jahre, die eine vergleichende Perspektive verfolgt und ihren Blick besonders auf Konflikte, Konsens und Kontingenz richtet, kann neue Einsichten in die politischen Prozesse eröffnen, die bisher als Kampf zwischen Faschismus und Demokratie gedeutet wurden. In diesem Zusammenhang fordert die anschließende knappe Fallstudie über die Experimente in der Rhetorik, den Formen und den Praktiken des Politischen während des Sommers 1936 das konventionelle Verständnis der Demokratie in diesen entscheidenden Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg heraus. Sie soll einen Anstoß für ein differenzierteres Verständnis liefern. Auf den ersten Blick scheint die Zeitspanne direkt nach den Wahlen von 1936 ein uneingeschränkter Triumph für die demokratische Linke gewesen zu sein. Der Front Populaire hatte in den Wahlen im April und Mai 1936 eindeutige Erfolge erzielt und 380 der 612 Sitze im Abgeordnetenhaus gewonnen. Die Sozialistische
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Frédéric Lefèvre, »Une heure avec Jean-Richard Bloch«, Les Nouvelles littéraires vom 28. 3. 1931. Jean-Richard Bloch, Naissance d’une culture. Quatrièmes essais pour mieux comprendre mon temps, Paris 1936, S. 48. Comœdia vom 8. 3. 1936.
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und die Kommunistische Partei hatten ihre Wahlergebnisse auf Kosten des gemäßigten Parti Radical verbessert. Unter Léon Blum, Frankreichs erstem sozialistischen Premierminister, wurden während der ersten Wochen außergewöhnlich viele neue Gesetze verabschiedet – die meisten davon im Bereich sozialer Reformen. Darüber hinaus ergriff die neue Regierung weitere innovative Maßnahmen: Obwohl Frauen noch kein Wahlrecht hatten, wurden Ministerinnen in die Regierung aufgenommen, und die Popularisierung der Kultur wurde vorangetrieben, Mittel für Theater und Kinos, für kommunale Büchereien und Sportstätten wurden bereitgestellt. Der Erfolg der Volksfront wurde am 14. Juli mit spektakulären Festen und großer Begeisterung gefeiert, mit Massendemonstrationen und staatlichen Theateraufführungen. Die bahnbrechende Gesetzgebung der Regierung umfasste auch die Auflösung der rechten Ligen, darunter die Croix de Feu, die zuvor zu den gefährlichsten Konkurrenten des Front Populaire gehört hatten. Eine genauere und vergleichende Analyse der massenpartizipatorischen Politik offenbart allerdings anders gelagerte Machtverhältnisse zu diesem entscheidenden Zeitpunkt. Es wird auch deutlich, dass alle politischen Richtungen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Rahmens der parlamentarischen Demokratie die unterschiedlichsten politischen Experimente durchführten. Selbst während der Feiern zum Wahlsieg sammelten Polizeispitzel beispielsweise Informationen zur geplanten Umwandlung der örtlichen Volksfrontkomitees in Arbeiterräte, denen auch Landarbeiter, Mitglieder der Mittelschicht und eventuell auch Soldaten angehören sollten – ähnlich den Räten, die vor und während der Revolution 1917 in Russland gebildet worden waren.31 Für den Parti Communiste Français (PCF) spielten solche Komitees eine zentrale Rolle. Die Kommunistische Partei, die zwar nicht Teil der sozialistisch geführten Regierung war, sie aber unterstützte, plante die neue Regierung unter Druck zu setzen, wenn sie auf angebliche Forderungen aus dem Volk verweisen könnte: Die über die Räte vermittelten Stimmungen in der Bevölkerung sollten dann die gewünschten politischen Entscheidungen begründen. Obwohl diese Form einer direkteren (und, wie einige kommunistische Aktivisten ein31
»Au sujet des comités locaux du Front populaire, 14 mai 1936«, AN F7 13983.
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warfen, »illegalen«32) Demokratie nicht in die Tat umgesetzt wurde, unterminierten die Aktivitäten linker Parteianhänger die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie beinahe in gleichem Maße, wie sie sie unterstützen. Dabei ist besonders der Generalstreik von Mai bis Juni 1936 zu nennen, der das Land paralysierte und bis zum Mai 1968 der größte Streik in der französischen Geschichte war. Weder politische Parteien noch Gewerkschaften waren in der Lage, diesen Streik zu kontrollieren. Die Volksfrontregierung stellte ihn abmildernd als Ausdruck des übereifrigen Enthusiasmus der Arbeiterklasse dar.33 Tatsächlich aber zog Blum in diesem Kontext einen sofortigen Rücktritt als Reaktion in Betracht. Statt die Zustimmung der Arbeiterklasse für die neue Regierung zum Ausdruck zu bringen, wies dieser Streik allzu deutlich auf gefährliche Unterschiede zwischen den Wünschen des »Volkes« in seiner Rolle als Wählerschaft und in seiner anderen Rolle als Arbeiterschaft hin, während gleichzeitig das außenpolitische Ansehen der jungen Regierung beschädigt wurde, was zu Kapitalflucht und Vertrauensverlusten in der französischen Wirtschaft führte. Die Massenfeiern im Juni und Juli 1936 zeigen ähnliche Spannungen auf, die sich zwischen dem Bemühen der Regierung, eine breitere politische Beteiligung der Bevölkerung zu ermöglichen, einerseits und den Versuchen mancher politischer Gruppen, eine deutlich aggressivere Vorgehensweise auszuprobieren, andererseits entwickelten. In der Korrespondenz der Minister wird deutlich, wie wichtig der Regierung ein engerer und mit innovativen Mitteln betriebener Austausch mit dem Volk war: Die Anschaffung vieler Mikrofone und die Übertragung der Pariser Demonstrationen im nationalen Radiosender wurden vorgeschlagen sowie der Wunsch nach einer engen Zusammenarbeit mit dem Rassemblement Populaire (der Dachorganisation unterschiedlicher kultureller und politischer Organisationen, die die Volksfront unterstützten) geäußert.34 Während die SFIO-nahe Presse die Demonstrationen als deutliches
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Ebenda. Siehe etwa Le Populaire vom 6. 6. 1936; Le Peuple vom 12. 6. 1936. »Le Président du Conseil à MM. les Ministres de l’Intérieur, l’Education Nationale, des Postes, Télégraphes, Téléphones, de la Défense Nationale, le Sous Secrétaire d’Etat aux Loisirs, Paris, le 27 juin 1936«, AN F60 475.
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Zeichen gegen die faschistischen Massenaufmärsche feierte,35 brachten Broschüren des Rassemblement die Veranstaltungen mit dem kontinuierlichen Streben nach demokratischen Zielen in Verbindung. Benannt wurden als konkrete Ziele ein allgemeines Wahlrecht, Meinungs- und Gewissensfreiheit sowie die »Gerechtigkeit, die der Demokratie zugrunde liegt« (gleichzeitig verlangte der Rassemblement in seinen Publikationen den Ausschluss rechter Positionen von öffentlichen Medien sowie eine entschiedene Ablehnung katholischer Schulen).36 Ob die Massen die politische Entwicklung stärker in die eigene Hand nehmen sollten, darüber gingen die Meinungen innerhalb und außerhalb des Rassemblement stark auseinander. Separate Feiern kommunistischer Anhänger am 14. Juni schienen solche Tendenzen bereits anzukündigen. Auf diesen Veranstaltungen beschworen einige Redner die neue Parteilinie zum vereinten Handeln von Arbeitern und Mittelschicht, während andere die Bedeutung des Wahlsiegs der Volksfront für eine militante Politik der Arbeiterklasse betonten.37 Anders als erhofft schwächte die Auflösung der rechten Vereinigungen die Gegner des Front Populaire allerdings kaum. Im Gegenteil führte sie zu einem Wiederaufleben der Rechten innerhalb des parlamentarischen Systems – auch wenn offen ist, ob diese Neupositionierung mehr war als eine opportunistische Anpassung an die Umstände. Vor dem Hintergrund der Feiern zum 14. Juli entstanden daher auch neue Formen der rechten Massenmobilisierung: Der Parti Populaire Français (PPF) unter Jacques Doriot etablierte sich Ende Juni, und Colonel de la Rocques Parti Social Français (PSF) wurde auf einer Versammlung am 12. Juli gegründet. Besonders der PSF wies eine überraschend komplexe und ambivalente Haltung zur parlamentarischen Demokratie auf. Zwar charakterisiert Sean Kennedy die Partei in seiner neuesten Studie als »Frankreich gegen die Demokratie vereinigend«.38 Tatsächlich aber war der PSF – wie andere Parteien der extremen Rechten in Europa –
35 36 37 38
»La Grandiose Manifestation«, Le Populaire vom 15. 7. 1936. Revendications du Rassemblement populaire, APP Ba 1862. Vgl. L’Œuvre vom 15. 6. 1936, sowie »P. P. Manifestation populaire organisée par le Parti communiste au Vélodrome Buffalo, le 14 juin«, APP Ba 1862. Vgl. Kennedy, Reconciling France against Democracy.
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durchaus auf das bestehende System angewiesen, um seine Gründung und Entwicklung überhaupt zu ermöglichen. Einzelne Mitglieder der Croix de Feu hatten im Februar 1934 an antiparlamentarischen Ausschreitungen teilgenommen, doch die bedeutendste Zeitung der Bewegung, Le Flambeau, mahnte ihre Leser, dass eine fehlende Stimmabgabe in den Wahlen 1936 »dumm« und »feige« wäre.39 Auf lokalen Versammlungen in Paris reagierten die Mitglieder der Organisation gleichzeitig auf die kommunistischen Pläne, außerparlamentarische Räte einzurichten, mit der Ankündigung, solchen Zusammenschlüssen in den von ihnen dominierten Gebieten entschlossen entgegenzutreten – um so möglicherweise auch die parlamentarische Republik gegen eine kommunistische Revolution zu verteidigen.40 Es war allerdings niemals La Rocques Absicht gewesen, eine Partei rechter Parlamentarier zu gründen. Deutlich wurden seine Intentionen in der Gründungsrede, als er feststellte, dass seine Ambitionen, obwohl die Regierung eine neue Partei nach dem Modell der konservativen Fédération Républicaine unter Louis Marin genehmigt hätte, deutlich andere seien. Nicht »eine Partei von Konservativen und Gemäßigten, die sich nur über Reden den Kopf zerbrechen, aber Taten verweigern«,41 schwebte La Rocque vor, sondern eine nach dem Vorbild der Sozialistischen Partei aufgebaute neue Organisation. Dabei sollte seine neue Partei auf regionaler wie auf nationaler Ebene tief in den lokalen Gemeinden verankert sein und die Interessen von Arbeitern in Städten und auf dem Land verfolgen. Dennoch gehörte zu La Rocques Vision, seine Unterstützung im Parlament auszubauen; auch eine Zusammenarbeit mit seiner Partei wohlgesinnten Abgeordneten schloss er nicht aus, um vermeintliche Umsturzpläne Stalins gegen die Regierung Blum abzuwehren.42 39 40 41
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Le Flambeau vom 2. 5. 1936. »P. P. 15 mai 1936«, APP Ba 1902. »P. P. 12 juillet 1936: réunion du PSF«, APP Ba 1952. Samuel Kalman und Sean Kennedy bezeichnen die PSF als »eine ernsthafte Gefahr für etablierte konservative Parlamentarier«, siehe die Einleitung zu Samuel Kalman/Sean Kennedy (Hg.), The French Right between the Wars. Political and Intellectual Movements from Conservatism to Fascism, New York/Oxford 2014, S. 5. »P. P. 12 juillet 1936: réunion du PSF«, APP Ba 1952.
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Während die Volksfront also die Beteiligung der Bürger in Politik und Kultur zu erweitern versuchte und mit den Mitteln der Gesetzgebung gegen ihre »faschistischen« Gegner vorging, gaben diese Gegner ironischerweise ihrer eigenen Massenmobilisierung eine neue Form, häufig unter explizitem Rückgriff auf linke Vorbilder. In Fortsetzung der Massenmobilisierungen der Croix de Feu zwischen 1934 und 1936 führte der neue Parti Social Français Großveranstaltungen unter freiem Himmel durch, auf denen die Reden von La Rocque häufig von Lautsprechern übertragen wurden.43 Seine Partei ging auch visuell in die Offensive: Den Inszenierungen des 14. Juli durch die Volksfront setzte sie aufwendige Bilder ihrer eigenen konstituierenden Sitzung wenige Tage zuvor entgegen, auf denen die Massen diszipliniert, im Sitzen und hochaufmerksam den Reden ihres Führers zu folgen schienen.44 Auch der Parti Populaire Français unter der Führung von Jacques Doriot zeigte sich darum bemüht, sich der eigenen Popularität in der Bevölkerung zu rühmen (wozu wiederum Mitglieder des PCF abschätzig bemerkten, Arbeiter würden nie eine so »faschistische« Organisation unterstützen).45 In den ersten Wochen nach der Gründung des PPF veröffentlichte dessen Zeitung L’Emancipation nationale Abbildungen der eigenen Massenveranstaltungen, um mit den Bildern des Front Populaire in Konkurrenz zu treten. Eine dieser Kundgebungen in Marseille – eine Hochburg des PPF – wurde mit einer Fotocollage gefeiert; ein Bild darin zeigte Doriot mit erhobener Faust, seine Anhänger im Publikum ahmten seine Geste nach.46 Und so wie diese Parteien mit ihrer Mobilisierung der Massen mit dem Front Populaire konkurrierten, so strebten sie auch danach, das soziale und kulturelle Leben ihrer Anhänger zu vereinnahmen, um die für politische Bewegungen dieser Zeit so charakteristischen Gegengesellschaften zu bilden. Als Gegenstück zu den »Maisons de culture« des PCF bildete der PPF »Cercles populaires français«, in denen Intellektuelle
Vgl. Jessica Wardhaugh, »Salvation, Satire, and Solidarity. Right-wing Culture in Interwar France«, in: Kalman/Kennedy (Hg.), The French Right, S. 210–223. 44 Le Flambeau vom 18. 7. 1936. 45 Siehe etwa L’Humanité vom 30. 6. 1936. 46 L’Emancipation nationale vom 1. 8. 1936. 43
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und Arbeiter zu Gesprächsrunden über Filme, historische Fragestellungen oder aktuelle gesellschaftliche Themen zusammenkamen.47 Ähnlich organisierte der PSF neben Sport- und Ferienaktivitäten auch Film- und Theaterabende, und er plante landesweite Touren mit Massenspektakeln, um die täglich erscheinende Parteizeitung mit einem »Druckpressenballett« zu feiern. Es sollten auch dramatisch inszenierte Visionen der Transformation Frankreichs und der Franzosen dargestellt werden, die die Partei herbeiführen würde.48
Schlussbetrachtung Ob die Hoffnungen des PSF und des PPF letztendlich innerhalb oder doch außerhalb des bestehenden politischen Systems lagen, bleibt eine umstrittene Frage. Während der Slogan von La Rocques PSF »Travail, Famille, Patrie« (Arbeit, Familie, Vaterland) später durch das Vichy-Regime übernommen wurde, schwenkte der radikalere PPF, dem Vichy zu traditionalistisch war, auf einen Kurs der Kollaboration mit den Deutschen ein. »Die Vichy-Revolution könnte vielleicht das peruanische oder brasilianische Volk beeindrucken«, erklärte der PPF 1940. »Die Deutschen und die Italiener dagegen wissen, was eine echte nationale Volksrevolution ist.«49 Der Zusammenbruch der parlamentarischen Dritten Republik im Juli 1940 wurde kaum beklagt, selbst von überzeugten Anhängern der Zwischenkriegsdemokratie. Ein strittiger Punkt bleibt, inwieweit die demokratische Linke für die unparteiliche Verteidigung demokratischer Freiheitsrechte für die Linke und die Rechte gleichermaßen eintrat. Eine die Linke und die Rechte vergleichende Untersuchung der Zwischenkriegszeit zeigt deutlich, dass in Frankreich die Unterscheidung in Unterstützer und Gegner der Demokratie – besonders der parlamentarischen Demokratie – nicht einfach mit der Unterscheidung zwischen links und rechts gleichgesetzt werden kann. 47 48 49
Siehe etwa »P. P. 24 mars 1939«, APP Ba 1946. »Projet de Fête pour le P. J. (Petit Journal)«, 451 AP 187. Paul Jankowski, Communism and Collaboration. Simon Sabiani and Politics in Marseille, 1919–1944, New Haven/London 1989, S. 76.
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Der vergleichende Ansatz verdeutlicht im Gegenteil, wie lebendig die Demokratie und ihre Alternativen diskutiert, infrage gestellt und neu gedacht wurden – und zwar im gesamten politischen Spektrum und sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Politische Kräfte, die dem Ideal einer parlamentarischen Demokratie anhingen, vor allem die gemäßigten Parteien der Mitte, behielten eine elitäre Perspektive bei und blieben der politischen Partizipation der breiten Bevölkerung gegenüber skeptisch. Wer sich dagegen ausdrücklich für Massenmobilisierung, Sozialsystem und Demokratisierung der Kultur einsetzte, fühlte sich der politischen Ordnung in ihrer bestehenden Form weniger eng verbunden. Es ist also wenig ergiebig, entweder vom Erfolg der Demokratie zu sprechen, weil in Frankreich bis 1940 eine nominell demokratische Regierung bestand, oder vom Versagen der Demokratie, weil bis zum Ende der 1930er Jahre eine Machtverschiebung zugunsten der Rechten eingetreten war. Beide Deutungsmuster übersehen das Entscheidende dieser Epoche: die Bedeutung von Kontingenz und Experimenten in der Politik. Wie sich Einzelne und Organisationen in den sich ständig verändernden Situationen der europäischen Krise gegenüber demokratischen Regierungsformen und demokratischen Praktiken verhielten, war oft viel stärker eine Reaktion auf unmittelbar erfahrene Umstände als ein Ausdruck traditioneller Werte und Loyalitäten. In dieser Zeit kursierten ununterbrochen Gerüchte, und immer wieder wurden Notstandsmaßnahmen gegen imaginäre Revolutionen oder Staatsstreiche von rechts oder links ausgearbeitet – die Polizeiberichte dokumentieren diese Stimmung im Übermaß.50 Doch auch wenn es eine Zeit der Krise war, es war zugleich eine Zeit der Möglichkeiten, der fluiden Konstellationen, der Veränderungen, in der neue Verbindungen zwischen Parteien, Personen und politischer Macht nicht nur erdacht, sondern auch erkundet und gestaltet werden konnten. Aus dem Englischen von Myriam Groepl
50
»P. P. 4 décembre 1936«, APP Ba 1862.
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Demokratie, Kultur und Wirtschaft in der deutschen Republik
Tim B. Müller
Demokratie, Kultur und Wirtschaft in der deutschen Republik
Wie schreibt man eine Geschichte der Weimarer Republik, die den damals handelnden und lebenden Menschen nicht »die Fülle der möglichen Zukunft, die Ungewissheit, die Freiheit, die Endlichkeit, die Widersprüchlichkeit« nimmt?1 Die historische Demokratieforschung setzt beim Selbstverständnis der deutschen Republik von 1919 als Demokratie an.2 Doch die Demokratiegeschichte stand nicht im Mittelpunkt der klassischen Weimar-Forschung seit 1945.3 Waren es traditionell Fragen nach Kontinuitäten und Brüchen der deutschen Geschichte, die den Debatten zugrunde lagen, tritt mit dem jüngsten Interesse an der Demokratie ein transnationales, eu-
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3
Thomas Nipperdey, Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1990, S. 248. Vgl. Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, 3 Bde., Berlin 1963–1992; sowie Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; ders. (Hg.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008; Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich, München 2007. Auch nur die allerwichtigste Literatur anzuführen, würde jedes Maß sprengen; einen ausgezeichneten und aktuellen Überblick über die Forschung bietet Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2008; eine Analyse der Deutungs- und Erzählmuster in der Forschung Benjamin Ziemann, »Weimar was Weimar. Politics, Culture and the Emplotment of the German Republic«, in: German History 28 (2010), S. 542–571; die beste neue Synthese Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008.
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Tim B. Müller
ropäisches, globales Problem in den Vordergrund.4 Darin spiegelt sich ein mit dem historischen Erfahrungswandel verbundener Wechsel der methodischen Perspektive:5 Während jede nationalzentrierte Untersuchung der deutschen Demokratie zwangsläufig in eine Variation über das Thema deutscher Sonderentwicklungen mündet, ist die Frage nach der Stabilität und Instabilität von Demokratien heute keine deutsche Frage mehr. Der vergleichende Blick auf die Demokratiegeschichte, die Rekonstruktion ihrer transnationalen Zusammenhänge, ihrer Entstehungs- und Handlungskonstellationen, ihrer Eigendynamiken nach 1918 legt einer theoretisch reflektierten Geschichtswissenschaft nahe, die »Möglichkeitsstruktur« der Demokratiegeschichte zu erschließen,6 um deterministische Setzungen zu korrigieren, die nur aus einer exklusiv nationalen Perspektive plausibel erscheinen, ohne damit umgekehrt historisch Ungleiches und Unverbundenes über einen Kamm zu scheren. Den Schlüssel dazu bietet eine historische Rekonstruktion der zeitgenössischen Debatten und Selbstverständigungen, der Auseinandersetzungen um die deutsche Demokratie als etwas Neues und Unwiderrufliches, als etwas, was nicht selbstverständlich war und doch selbstverständlich werden sollte, was eine Tradition hatte und das zu errichten zugleich viele Gesellschaften erst im Begriff waren, etwas Fragiles, aber Widerstandsfähiges, noch zu Lernendes und bereits zu Bewahrendes. Zu rekonstruieren bleibt im Hinblick auf die Geschichte der deutschen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, »wie historische Akteure ihre Situationen verstanden und welchen Sinn sie ihnen zuschrieben, die Ähnlichkeiten und die Ge4
5 6
Vgl. etwa Paul Nolte, »Jenseits des Westens? Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der Demokratie«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S. 275–301, der allerdings die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit zur katastrophalen Durchgangsstation entwertet; als multinationalen Deutungsversuch Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014; zur transnationalen Orientierung der jüngsten Forschung Moritz Föllmer, »Nationalism, Consumption, and Political Culture in Interwar Europe«, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), S. 427–454. Vgl. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 27–77. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 165f., 205f.
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gensätze wiederzuentdecken, auf deren Grundlage sie ihre Handlungen planten, die Genealogien des Möglichen und des Unmöglichen zu skizzieren, die implizit ihren Horizont strukturierten«.7 Die Kategorien des Politischen, die Begriffe der Demokratie sind zu historisieren, als in ihre Kontexte eingebundene Sprechakte, als situativ intervenierende, auf Realitäten reagierende und Realitäten konstituierende Argumentationsmuster.8 Das versucht dieser Beitrag im Hinblick auf die Ausbildung eines demokratischen Erwartungshorizonts in der politischen Kultur und in der Wirtschaftspolitik der Weimarer Republik. Diese Lesart fußt auf einer großen Zahl neuerer Forschungen, deren unterschiedliche Deutungen sie zusammen- und konsequent weiterzuführen versucht. Am Anfang der historischen Revision des klassischen WeimarBildes stand 1987 Detlev Peukerts Interpretation der Weimarer Republik, die wie keine andere seither die Forschung inspirierte. Peukerts Deutung machte das Doppelgesicht von Fragilität und Kreativität deutlich, das diese Geschichte kennzeichnete.9 Einen nächsten großen Schritt bedeuteten die Arbeiten von Thomas Mergel, allen voran seine Studie über den Aufbau von Gesprächsgrundlagen und das Einüben von Konfliktaustragungsmodi im Reichstag. Demokratie wurde hier als nichtlinearer Lern- und Gewöhnungsprozess sichtbar.10 Ähnlich wegweisend waren die Forschungen von Benjamin Ziemann und anderen, die die lange vorherrschende Vorstellung von der Omnipräsenz der politischen Gewalt widerlegten
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Pierre Rosanvallon, Democracy Past and Future, hrsg. von Sam Moyn, New York 2006, S. 66. Vgl. auch Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, »Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479–508. Vgl. Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987. Vgl. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2012; ders., »Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918–1936«, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 91–128.
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und damit der Weimarer Demokratie neue Lebenschancen eröffneten.11 Von fundamentaler Bedeutung war auch die Neubewertung ihrer politisch-kulturellen Ausgangsbedingungen: Das Einüben der Demokratie im Kaiserreich durch Wahlen und auf anderen Gebieten wurde erforscht,12 die demokratischen Politiker vor dem Ersten Weltkrieg erfuhren eingehendere Aufmerksamkeit,13 die Forderung nach dem demokratischen »Volksstaat« in den Vorkriegs- und Kriegsjahren galt nicht mehr als marginal, und die Vielstimmigkeit der demokratischen Debatte im Krieg wurde wiederentdeckt,14 die Akzeptanz, ja das offensive Eintreten für demokratische Standards durch die seit 1917 selbstbewusst und regierungskritisch agierende Reichstagsmehrheit wurde herausgearbeitet.15 Die großen Debatten der frühen Republik wurden als Kontroversen um die Demokratie und um den Begriff des Volkes, als des Trägers der Demokratie, gedeutet. Damit traten zugleich die demokratischen Traditionen her11
12 13 14
15
Vgl. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997; ders., »Germany after the First World War – A Violent Society? Results and Implications of Recent Research on Weimar Germany«, in: Journal of Modern European History 1 (2003), S. 80–95; ders., Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2009; Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. Vgl. etwa Margaret Lavinia Anderson, Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton 2000. Vgl. etwa Detlef Lehnert (Hg.), Hugo Preuß 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen, Köln 2011. Vgl. etwa Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; ders., »Zur Identität von Volk und Staat. Die deutsche Verfassungsdiskussion 1915«, in: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich 1900–1938, Köln 2013, S. 205–226; Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. Vgl. etwa Wilhelm Ribhegge, Frieden für Europa. Die Politik der deutschen Reichstagsmehrheit 1917–18, Berlin 1988; Adam Tooze, The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, 1916–1931, London 2014, S. 108–123; sowie den Beitrag von Adam Tooze in diesem Band.
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vor, in die sich die neue Demokratie von 1918/19 in ihren Selbstverständigungen stellte.16 Auch der Begriff der Krise hat eine methodisch reflektierte Analyse als zeitgenössisches Argumentationsmuster erfahren. Die Vielzahl der zeitgenössischen Thematisierungen von Krisen zeigte weder die Angst vor dem Untergang der Demokratie an noch grundsätzlich die Ablehnung der modernen Welt. Der Krisenbegriff war semantisch schillernd und strategisch einsetzbar; er ging nicht mit einer ubiquitären Krisenwahrnehmung einher. Im Gegenteil konnten sich in ihm auch optimistische Hoffnungen artikulieren; Krise stand auch für die Öffnung von Gestaltungsmöglichkeiten, für Zukunftschancen und demokratische Kreativität. Krisenrhetorik stellte ein Element der Ordnungskonstitution dar, ihre Absicht bestand auch darin, den Entscheidungsdruck in politischen Fragen zu erhöhen.17 Die Vielfalt der politischen Kultur, die Offenheit der Begriffe, die Stärke des Pluralismus, die Wehrhaftigkeit der Weimarer Demokratie, die Stabilisierung der Zukunftserwartungen, die Gewöhnung an die Demokratie und die wachsende Akzeptanz gegenüber der, ja Zustimmung zur demokratischen Ordnung von Anfang an bis zu ihrer Zerstörung 1932/33 – als die offizielle Mitgliederzahl des demokratieloyalen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold die von Stahlhelm, SA und Rotfrontkämpferbund zusammengenommen noch um das Dreifache überstieg – sind in der Forschung wieder deutlich in Erscheinung getreten.18 16
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Vgl. etwa Heiko Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik, Frankfurt am Main 2007; Rainer Gruhlich, Geschichtspolitik im Zeichen des Zusammenbruchs. Die Deutsche Nationalversammlung 1919/20. Revolution – Reich – Nation, Düsseldorf 2012. Vgl. etwa Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur Politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933, München 2007; Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.), Die Krise der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main 2005; Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008. Vgl. etwa Michael Dreyer, »Weimar als ›wehrhafte Demokratie‹ – ein unterschätztes Vorbild«, in: Michael Schultheiß/Sebastian Lasch (Hg.), Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt 2009, S. 161–189; Richard J. Evans, »Coercion and Consent in Nazi Germany«, in:
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In vieler Hinsicht symptomatisch für den Umgang mit der neuen Demokratie, der zwischen Anerkennung ihrer Notwendigkeit und enthusiastischer Unterstützung oszillierte, zugleich – nicht nur aufgrund der tagesaktuellen Herausforderungen, sondern auch aufgrund theoretischer Einsichten – die Fragilität dieser Regierungs- und Lebensform thematisierte und darum das permanente Engagement für die Demokratie propagierte, war der prominente liberale Theologe, Intellektuelle und Politiker Ernst Troeltsch. In seinen öffentlichen Interventionen von 1918 bis zu seinem Tod 1923 vertrat er die Ansicht, »dass der Siegeszug der Demokratie unaufhaltsam sei, weil sie der modernen Gesellschaft entspreche«, und auf einem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) erklärte er: »Deutschland ist endgültig zur Demokratie geworden.« Troeltsch stand zugleich für die Auffassung, dass die Demokratie nicht notwendig revolutionär war oder in einer Tyrannei der Mehrheit enden musste. Die Demokratie konnte Troeltsch zufolge, wie in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten, »konservativ« sein, historisch evolutionär voranschreiten, mit Respekt für traditionelle Rollen und Gewohnheiten. Was sie jedoch in jeder Konstellation sein musste, weil es den Grundbedingungen moderner Gesellschaften entsprach, war eine »soziale Demokratie«, in der die »Wirtschaft im Interesse und im Dienste des Ganzen« stand. Die Demokratie war für Troeltsch die politische Form einer westlichdeutschen »Kultursynthese«, und es kam darauf an, dass sie sich eine breite gesellschaftliche Grundlage schuf.19
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Proceedings of the British Academy 151 (2006), S. 53–81; Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005; ders. (Hg.), Ordnungen in der Krise; Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010; Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich 1900–1938, Köln 2013; ders./Klaus Megerle (Hg.), Pluralismus als Verfassungs- und Gesellschaftsmodell. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1993; Ziemann, Veteranen der Republik. Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 15: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hrsg. von Gangolf Hübinger, Berlin 2002, S. 211, 218f., 221–224, 313, 358f., 495f., 508; die fragilitätsbewusste Seite tritt in den Vordergrund bei Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 14: Specta-
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Diese Stimme war eine unter vielen, die von einer Lebendigkeit der demokratischen Diskussion, einer wachsenden Zustimmung zur Demokratie und einer Vielschichtigkeit der Demokratievorstellungen nach dem Ersten Weltkrieg zeugen.20 Das traf auch auf die deutsche Regierung zu. Reichskanzler Gustav Bauer, der die Annahme des Versailler Vertrags verteidigte und die Verabschiedung sowohl der Verfassung als auch der großen Steuerreform verantwortete, bekannte sich in seiner Regierungserklärung am 23. Juli 1919 enthusiastisch zur Demokratie: »Wir nehmen diesen Ruf von jenseits der Grenzen auf, wir sind einig im Glauben an die Unbesiegbarkeit der Demokratie, die nicht nur die Gleichheit zwischen den Volksgenossen, sondern auch die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen den Völkern, den Völkerbund erschaffen muss.«21 Die europäische Intertextualität der neuen Realität der Demokratie klingt in diesen Worten ebenso an wie eine optimistische Erwartung für die Zukunft. Was die internationale Perspektive betraf, sprach Bauer vom Verzicht der Staaten »auf einen Teil ihrer Souveränität« als dem »höchste[n] Ziel« der Außenpolitik in einer künftig durch den Völkerbund vereinten Völkergemeinschaft. In seiner Rede fächerte Bauer den Demokratiebegriff in vier Dimensionen auf, was typisch für die Bandbreite des Demokratieverständnisses war: erstens Demokratie als Volkssouveränität und Selbstherrschaft der Bürger; zweitens Demokratie als Kultur, Sittlichkeit, Alltag und Lebensweise; drittens, Demokratie als Institutionenordnung und
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tor-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), hrsg. von Gangolf Hübinger und Nikolai Wehrs, Berlin 2015. Eine systematische Untersuchung der Demokratieakzeptanz, etwa auf der Grundlage einer umfassenden Analyse der auflagenstärksten Zeitungen, fehlt bis heute, stattdessen findet sich in vielen Gesamtdarstellungen und Überblickswerken immer noch ein Deutungsmuster, das eine Formulierung von Troeltsch, Schriften zur Politik, S. 273, aus dem Kontext reißt und ins Gegenteil verkehrt, zuletzt etwa bei Hendrik Thoß, Demokratie ohne Demokraten? Die Innenpolitik der Weimarer Republik, Berlin 2008. Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, Bd. 328, 64. Sitzung, 23. 7. 1919, Berlin 1920, S. 1852.
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Staatsverwaltung, als Gefüge des guten Regierens; und viertens die soziale, wirtschaftspolitisch aktive Demokratie.22 Wenn dabei die Begriffe der Gemeinschaft und des Allgemeininteresses im Namen der Demokratie mobilisiert wurden, handelte es sich weder um ein deutsches Sondervokabular noch um eine Infragestellung von pluralistischer Diskussion und Parlamentsdebatte,23 ebenso wenig wie umgekehrt die Feier des Individuums allein Demokratien vorbehalten war.24 Kontextsensible Rekonstruktionen eröffnen, dass diese Begriffe keine Schwäche der Demokratie anzeigten; sie wiesen auf die Notwendigkeit von politischen Grundverständigungen und von Grenzen sozialer Ungleichheit in der Demokratie hin.25 Zwar ist es verständlich, wenn retrospektiv in Gemeinschaftsbegriffen immer schon der antiliberale Wunsch nach ethnischer Homogenität und sozialer Exklusion erkannt wird;26 aber das wird der Vielfalt der politischen Debatte nicht gerecht. Gemeinschaftsbegriffe konnten und können liberal und pluralistisch sein27 – und sie waren ein unverzichtbares Element der Diskussionen über die Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. 22 23
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Verhandlungen, Bd. 328, S. 1843–1852, daraus auch alle nicht nachgewiesenen Zitate im Folgenden; vgl. dazu Müller, Weltkrieg, S. 74–113. Vgl. etwa Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978; ders., Liberal Languages. Ideological Imaginations and Twentieth Century Progressive Thought, Princeton 2005; Ben Jackson, Equality and the British Left. A Study in Progressive Political Thought, 1900–1964, Manchester 2007; James T. Kloppenberg, Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870–1920, Oxford 1988; Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge 1998; Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013, S. 21–91, 197–246. Vgl. Moritz Föllmer, Individuality and Modernity in Berlin. Self and Society from Weimar to the Wall, Cambridge 2013. Vgl. exemplarisch Hermann Heller, »Politische Demokratie und soziale Homogenität« [1928], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1992, S. 421–433, hier: S. 427f., 430f. Vgl. etwa Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 11–13, 26–68, besonders S. 53, Anm. 84. Vgl. etwa Freeden, Languages, S. 38–59; Klaus Lichtblau, »›Vergemeinschaftung‹ und ›Vergesellschaftung‹ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs«, in: Zeitschrift für Soziologie 29 (2000), S. 423–443.
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»Volksgemeinschaft« als sozialdemokratisches und bürgerlich-liberales Konzept stand für die Aussicht, alle Schichten und Gruppen in die neue Demokratie zu integrieren.28 Bislang nur in Ansätzen erforscht sind die von Bauer hervorgehobenen Bemühungen um eine demokratische Kultur, die bei Bildung und Erziehung ansetzten und in Schul- und Universitätsreform, Volkshochschulen, demokratischer Publizistik, öffentlichen Festen und Republikfeier zum Ausdruck kamen.29 Gewissermaßen in Umkehrung der berühmten These des Verfassungsrichters ErnstWolfgang Böckenförde, wonach der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann – aber nicht im Gegensatz zu Böckenfördes Ansichten, die die entscheidende Rolle der Erziehung für die Demokratie betonen30 –, herrschte unter führenden Protagonisten der Republik die Überzeugung vor, dass die Demokratie ihre eigenen Voraussetzungen schaffen musste und sich eine politische Kultur der Demokratie durch die Demokratie selbst kultivieren ließ. Wie sehr diese Anstrengungen aufgrund anachronistischer Demokratieverständnisse in der Forschung unterschätzt werden, zeigt etwa die Diskussion um die Deutsche Hochschule für Politik. Das Selbstverständnis von Beteiligten, dass diese ein »Ort der Erziehung zur politischen Verantwortung und Demokratie« gewesen sei, lässt sich nur durch Loslösung aus den historischen
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Vgl. Wolfgang Hardtwig, »Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat«, in: Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken, S. 227–253; Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat; Jeffrey Verhey, Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000. Vgl. etwa Manuela Achilles, »Reforming the Reich. Democratic Symbols and Rituals in the Weimar Republic«, in: Kathleen Canning/Kerstin Barndt/ Kristin McGuire (Hg.), Weimar Publics/Weimar Subjects. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s, Oxford 2010, S. 175–191; Jochen Hung/Godela Weiss-Sussex/Geoff Wilkes (Hg.), Beyond Glitter and Doom. The Contingency of the Weimar Republic, München 2012; Detlef Lehnert/ Klaus Megerle (Hg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990; Nadine Rossol, Performing the Nation in Interwar Germany. Sport, Spectacle and Political Symbolism, 1926–36, Basingstoke 2010. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Frankfurt am Main 2011, S. 432–434.
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Kontexten bezweifeln. Die Handelnden mögen gegenwärtigen Idealvorstellungen nicht immer entsprochen haben, aber an diesem Ort bewies die Demokratie eine Zeit lang ihre Integrationskraft: Über Parteigrenzen hinweg diskutieren hier politische und administrative Eliten über ihre Demokratie.31 Ein Symbol für die wachsende Akzeptanz der Demokratie waren, neben den Massenkundgebungen nach der Ermordung Walther Rathenaus, 1925 vielleicht auch die Trauerfeiern für Friedrich Ebert, die die ganze Nation erfassten. Bis ins deutschnationale Lager hinein wurde der erste Präsident der Republik gewürdigt.32 Sein gegen einen Kandidaten der Mitte nur knapp ins Amt gewählter Nachfolger Paul von Hindenburg bekannte sich demonstrativ zur demokratischen Verfassung. Er wurde zu diesem Zeitpunkt noch als »Verkörperung des nationalen Einheitswillens«, vielleicht sogar als Galionsfigur der Integration von bürgerlichen Rechtsparteien in die Republik betrachtet.33 Wenn Bauer vom demokratischen Staat sprach, setzte er eine demokratische Tradition fort. Bereits die Diskussionen während des Krieges hatten betont, dass der Weg zur Demokratie als Ordnung sowohl »der bürgerlichen Gleichberechtigung« als auch »der sozialen Gerechtigkeit« über die »demokratische Durchdringung des Staates« führte, über die Verbindung von »parlamentarischem
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Hannah Bethke, Das politische Denken Arnold Brechts. Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2013, S. 45; hier findet sich auf S. 37–45 die Fortführung einer älteren Kritik, die »Ambivalenzen« als Mängel beurteilt. Dabei wird Demokratie zu sehr mit Sozialdemokratie identifiziert und nicht berücksichtigt, dass auch kontroverse Diskussionen integrativ wirken können: Wenn sich auch Deutschnationale an der Hochschule einfanden, spricht das eher dafür; die Deutung blickt vom Ende zurück, Demokratie wird als etwas Fixiertes und nicht als Lernprozess gedacht. Zu wenig Beachtung erfährt, wie viele Lehrende 1933 ins Exil mussten oder dass die demokratische Geschichtswissenschaft dort ihre Heimat gefunden hatte. Vgl. dagegen Erich Nickel, Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, Berlin 2004. Vgl. Hans-Otto Meissner, Junge Jahre im Reichspräsidentenpalais. Erinnerungen an Ebert und Hindenburg 1919–1934, Esslingen 1988, S. 172–175; Friedrich Ebert und seine Zeit. Ein Gedenkwerk über den ersten Präsidenten der deutschen Republik, Charlottenburg o. J. [1927]. Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2009, S. 474.
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System« und »demokratisch-sozialistischem Verwaltungsstaat«.34 »Verantwortungsvolles« Regieren, worauf sich die Regierung Bauer verpflichtete, spiegelte sich in der Steuergesetzgebung wider. Eine angemessene fiskalische Handlungsgrundlage verschafften sich die modernen Staaten in den Jahrzehnten seit 1900 durch Einkommenssteuern, die nicht nur der Finanzierung öffentlicher Aufgaben, sondern auch der Bekämpfung der Armut dienten.35 In Deutschland sorgte erst die Demokratie für eine nationale Einkommenssteuer in nennenswertem Umfang. Bauer kündigte in seiner Regierungserklärung die Steuerreform an, die ab 1920 ausgeführt wurde und mit dem Namen des Finanzministers Matthias Erzberger verbunden ist. Neben der Haushaltsdeckung war Umverteilung ihr erklärtes Ziel: Das ganze System der Besteuerung sollte »bewusst und planvoll auf das Ziel eines Vermögensausgleichs« hinwirken. Es handelte sich um eine »neue, von sozialer Gerechtigkeit getragene Steuergesetzgebung«. Nicht nur in dieser Hinsicht zeigte sich die Demokratie als eine soziale Demokratie, die nach Sozialgesetzgebung und öffentlicher Versorgung, aber auch nach einem wirtschaftspolitisch aktiven Staat verlangte.
Demokratie und Wirtschaftspolitik Die deutsche Regierung teilte eine nach dem Ersten Weltkrieg verbreitete Vorstellung vom Primat der Wirtschaftspolitik.36 Ökonomische Produktivität wurde in der Massendemokratie als Voraussetzung politischer Legitimität betrachtet.37 Bauers Regierungser-
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Wolfgang Mager, Art. »Republik«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 2004, Bd. 5, S. 549–651, hier: S. 642f. Vgl. Rosanvallon, Gesellschaft, S. 198–203, 218–222. Zum Folgenden vgl. ausführlicher Tim B. Müller, »Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 569–601. Vgl. etwa Werner Abelshauser, »Freiheitlicher Korporatismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik«, in: ders. (Hg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987, S. 147–170; Gerald D. Feldman, The
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klärung machte eine untrennbare Verbindung von Demokratie und Wirtschaftspolitik deutlich: Mit der Hoheit über Verkehr, Energieversorgung und Steueraufkommen hatte sich der »demokratische Staat« seine wirtschaftliche Handlungsgrundlage geschaffen. »Form« und »Inhalt« des »deutschen Wirtschaftslebens« konnten jetzt der demokratischen Diskussion überlassen bleiben: »Nach den politischen werden wir auch die wirtschaftlichen Schicksalsbestimmungen in die Hand des Volkes selbst legen.« Bauer proklamierte als einen konstitutiven Akt der demokratischen Republik, auch das »Wirtschaftsleben« umzugestalten, »weil politische Freiheit und wirtschaftliche Unterdrückung nicht miteinander vereinbar sind, weil Gleichheit und Freiheit nicht länger Redensarten bleiben dürfen, und weil wir glauben, daß aus ihrer Verwirklichung schließlich das dritte erwachsen muß, was uns in dem latenten Bürgerkrieg unserer Tage am bittersten fehlt: die Brüderlichkeit«. In der Situation des Jahres 1919 hing die Verwirklichung der demokratischen Ideale Bauer zufolge vor allem von einem ab: »Dazu bedarf es eines Wirtschaftsprogramms, das nicht negativ in der Ablehnung der sogenannten ›Planwirtschaft‹ bestehen darf, sondern positiv zu planvoller, zielklarer Wirtschaftspolitik führen muß.«38 Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gilt in der Forschungsdiskussion als Geburtsstunde moderner Wirtschaftspolitik.39 Die Argumentationsgänge im deutschen Reichswirtschaftsministerium waren Teil dessen, was man früher die Geschichte der »keynesianischen Revolution« nannte, jedoch ein weit umfangreicherer und
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Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914–1924, Oxford 1997, S. 11; Charles S. Maier, In Search of Stability. Explorations in Historical Political Economy, Cambridge 1987, S. 153–184; Adam Tooze, Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001; Peter-Christian Witt, »Staatliche Wirtschaftspolitik in Deutschland 1918–1923. Entwicklung und Zerstörung einer modernen wirtschaftspolitischen Strategie«, in: Gerald D. Feldman u.a. (Hg.), Die deutsche Inflation. Eine Zwischenbilanz, Berlin 1982, S. 151–179. Verhandlungen, Bd. 328, S. 1847f. Vgl. Müller, Demokratie, S. 575–581.
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lange zuvor beginnender Denkprozess war.40 Die ökonomischen Experten des Statistischen Reichsamts und des Instituts für Konjunkturforschung in Berlin spielten eine bedeutende Rolle in der internationalen Theoriebildung.41 Schon vor der 1929/31 einsetzenden Weltwirtschaftskrise thematisierten Denker eines neuen Kapitalismus den Zusammenhang von Krisenanfälligkeit des Kapitalismus und Stabilität der Demokratie; John Maynard Keynes selbst trat zunächst stärker auf dem Feld der politischen Interventionen hervor als auf dem der ökonomischen Theorie.42 Zwar war die akademische Nationalökonomie in der Weimarer Republik von dieser Revolution des ökonomischen Denkens weitgehend abgeschnitten.43 Aber es waren nun die politiknahen Felder und die Massenmedien, die an Relevanz gewannen und die meisten der jungen Ökonomen anzogen – von der Wirtschaftspublizistik und den Informationsdiensten über die Gewerkschaften, Unternehmen und Interessenverbände bis zu den staatlichen Forschungszentren und Behörden.44 Das 1917 als Reichswirtschaftsamt gegründete Reichswirtschaftsministerium (so der Name seit 1919) verfügte über ein intellektuell und politisch ambitioniertes Personal mit dem Staatssekretär Julius Hirsch (1882–1961) im Mittelpunkt.45 Gerade gelegentliche Divergenzen lassen die immer stabilere Etablierung der politisch-
Vgl. etwa Roger E. Backhouse/Bradley W. Bateman, Capitalist Revolutionary. John Maynard Keynes, Cambridge 2011, S. 21–45; Peter Clarke, The Keynesian Revolution in the Making, 1924–1936, Oxford 1990. 41 Vgl. Tooze, Statistics, S. 15f., 103–148. Vgl. auch den Beitrag von Ben Jackson in diesem Band. 42 Vgl. etwa Backhouse/Bateman, Revolutionary, S. 47–75; Jackson, Equality, S. 120–123; Roman Köster, »Vor der Krise. Die Keynes-Rezeption in der Weimarer Republik«, in: Mittelweg 36 22 (2013), H. 3, S. 32–46. 43 Vgl. Roman Köster, Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011. 44 Vgl. Adam Tooze, »The Crisis of Gelehrtenpolitik and the Alienated Economic Mind. Economists and Politics in Interwar Germany«, in: Martin Daunton/Frank Trentmann (Hg.), Worlds of Political Economy. Knowledge and Power in the Nineteenth and Twentieth Centuries, New York 2004, S. 189–216. 45 Kriegswirtschaftsbedingt hatte das neue Ministerium 1918 etwa 1600 Mitarbeiter, in der mittleren Republik pendelte sich die Zahl bei etwa 200 ein. 40
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ökonomischen Denkmuster, für die Hirsch stand,46 deutlich erkennen. Gegensätze fielen immer weniger ins Gewicht angesichts des sich konstituierenden wirtschaftspolitischen Grundkonsenses, der lange über Hirschs Rücktritt als Staatssekretär 1923 hinaus Bestand hatte.47 Der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Robert Schmidt, der eine »nach Westen ausgerichtete Politik« vertrat und dieses Amt dreimal bekleidete (1919–1920, 1921–1922, 1929–1930), hatte zuvor gemeinsam mit Julius Hirsch das Reichsernährungsministerium geleitet.48 Neben Schmidt gehörte Eduard Hamm, der später im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sein Leben ließ, zu den überzeugten Demokraten in der Position des Wirtschaftsministers (1923–1925).49 Länger amtierte auch der Liberale Julius Curtius (1926–1929).50 Ein intellektuelles Führungstableau der aus unterschiedlichen Regionen und sozialen Milieus stammenden höheren Beamten müsste neben den Staatssekretären Hirsch und Ernst Trendelenburg (1882–1945), die von der Verabschiedung der Verfassung bis zum Sturz Brünings diese Stellung einnahmen und die Kontinuität der Wirtschaftspolitik über mehr als ein Dutzend Regierungswechsel hinweg sicherten, auch den Ministerialdirektor Hans Schäffer (1886–1967), den Ministerialrat Hans Staudinger (1889–1980) und ihre engsten Mitarbeiter aufweisen, etwa Cora Berliner (1890–1942), eine Schülerin Emil Lederers, Alexander Rüstow (1885–1963), der im Amt eine Wandlung vom Sozialisten zum Liberalen durchlief, seinen Bruder Hanns-Joachim Rüstow Vgl. dazu Feldman, Disorder, S. 259. Viele Dokumente belegen die Fortführung dieser Denkmuster. Personalabbau und Kriegsverluste dürften für die weniger dichte Quellenüberlieferung ab 1925 verantwortlich sein. Zur Kontinuität der Ansichten vgl. etwa Tooze, Statistics, S. 129–134, 142–145; Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (IfZArch), ED 93 (Hans Schäffer), Bd. 1, 21. 9. 1925, 8. 12. 1925, Bd. 3, 24. 3. 1927, Bd. 4, 24. 12. 1928. 48 Hans Staudinger, Wirtschaftspolitik im Weimarer Staat. Lebenserinnerungen eines politischen Beamten im Reich und in Preußen 1889 bis 1934, Bonn 1982, S. 30; vgl. Feldman, Disorder, S. 143–155. 49 Vgl. etwa Wolfgang Hardtwig, Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 313–355. 50 Vgl. Julius Curtius, Sechs Jahre Minister in der deutschen Republik, Heidelberg 1948. 46 47
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(1900–1994) oder Wilhelm Lautenbach (1891–1948). Gerhard Colm (1897–1968) war als Experte des Statistischen Reichsamts in die Diskussionen eingebunden. 1933 bedeutete einen tiefen Einschnitt für viele von ihnen. Die meisten emigrierten. Cora Berliner wurde 1942 deportiert und ermordet. Der Konsens über ökonomisches Wachstum – in den zeitgenössischen Begriffen »Wirtschaftlichkeit«, »Produktivität« und »Produktionssteigerungen« – zum Zwecke des gesellschaftlichen Wohlstands, der »Prosperität«, die sich in der »Konsumkraft« der Bevölkerung zeigte, bildete zusammen mit den politischen Orientierungspunkten »Gemeinwohl« und »gerechter Ausgleich« den Denkhorizont der wirtschaftspolitischen Strategen im Reichswirtschaftsministerium.51 Die Beamten dachten global, sie betrachteten die deutsche Wirtschaft in ihren internationalen Verflechtungen und begrüßten den »Wiederaufbau einer einheitlichen Weltwirtschaft«; die ökonomische Entwicklung anderer Länder, vor allem der Vereinigten Staaten, wurde aufmerksam beobachtet und auf Anregungen hin untersucht.52 Deutschland galt als Teil einer westlichen politisch-ökonomischen Entwicklung kapitalistischer De51 52
Bundesarchiv Berlin (BArch), R 3101/5840, fol. 120–135, 25. 7. 1919. »Wirtschaftspolitische Richtlinien des Reichswirtschaftsministers«, 19. 9. 1919, in: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Bauer, München 1980, Nr. 65, S. 260–268; BArch, R 3101/5851, fol. 29–32, 28. 10. 1920; R 3101/5837, fol. 107–108, 25. 2. 1921; R 3101/5932, fol. 6, 13. 7. 1920; R 3101/5932, fol. 72, 9. 8. 1921, mit Denkschrift, fol. 74–90; R 3101/5934, fol. 3–9, 30. 11. 1920; R 3101/21253, fol. 234–242, 29. 5. 1922; R 3101/7607, fol. 41–58, Mai [1924]; R 3101/7606, fol. 69–89, 14. 7. 1924. Vgl. die programmatischen Reden von Schmidt und Hirsch, in: Walther Hubatsch, Entstehung und Entwicklung des Reichswirtschaftsministeriums 1880–1933. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Reichsministerien. Darstellung und Dokumentation, Berlin 1978, S. 51–61; Hans Schäffer, »Neue Tendenzen in den wirtschaftlichen Organisationen der Gegenwart«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 48 (1920/21), S. 761–768. Die produktivistische Vision erreichte einen Höhepunkt bei Julius Hirsch, Das amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926, und blieb auch in der Krise erhalten; vgl. ders., Die Wirtschaftskrise, Berlin 1931; Hans Schäffer, »Die Problematik der kapitalistischen Gegenwart«, in: Bernhard Harms (Hg.), Kapital und Kapitalismus. Vorträge, gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Berlin 1931, Bd. 1, S. 38–52, besonders S. 38, 40, 51f.; zum Vorbild Amerika auch IfZArch, ED 93, Bd. 2, 24. 3. 1926, 18. 6. 1926, Bd. 3, 18. 9. 1927.
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mokratien. Aber Produktivitätskonsens bedeutete nicht notwendig Entpolitisierung.53 Die Wirtschaftspolitik, die sie konzipierten, verfolgte unabhängig von ihren technischen Maßnahmen eine dezidiert politische Strategie. Sie verstand sich als Ermöglichung der Demokratie. Die demokratische Ambition lässt sich bereits am Begriff der Wirtschaftspolitik selbst erkennen. In der Weimarer Republik wurde eine erweiterte Verwendung des Begriffs üblich, die Wirtschaftspolitik semantisch als ein Element des integrierten Politikfelds Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik behandelte. Wirtschaftspolitik war demnach zeitlich und sachlich der mit ihr verbundenen Sozial- und Finanzpolitik vorgelagert: Sozialpolitik war in Deutschland aus der Nationalökonomie hervorgegangen und ohne das Ökonomische nicht denkbar. Für Hirsch war Wirtschaftspolitik die Voraussetzung der Sozialpolitik und infolgedessen eine Voraussetzung der Demokratie. Das deuten auch die Kontexte des Begriffs und seiner Entsprechungen wie »Wirtschaftsgestaltung«, »Wirtschaftslenkung«, »Wirtschaftsleitung«, »Wirtschaftstechnik«, »Wirtschaftsbeeinflussung« oder »planmäßige Wirtschaft« an. Diese und ähnliche Begriffe standen immer im Zusammenhang mit dem republikanischen »Allgemeininteresse«. Zwar waren »Allgemeininteresse« und »Gemeinwohl« dabei zuerst auf Deutschland und seine ökonomische »Selbsterhaltung« bezogen, aber einen ökonomischen Nationalismus sucht man hier vergebens. Immer wieder wurde der Segen sowohl des freien Welthandels als auch der international erfolgreichen Sozialpolitik betont, die einen sozialen Kapitalismus ermöglichte. Der wirtschaftliche Liberalismus – der im Verständnis der Zeit eine soziale Dimension hatte – galt als größte »Freiheitsströmung der Menschheit«. Konstruktive ökonomische Konkurrenz sollte für immer den »Verzicht auf die Waffengewalt« festschreiben. Dem Nationalismus wurde selbst in der harmloseren Gestalt des »englischen wirtschaftlichen Anleihe-Nationalismus« eine Absage erteilt. Aus dieser internationalen Perspektive lobte Hirsch auch den Versailler Vertrag und die anderen Friedensschlüsse als Dokumente,
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So die Deutung bei Feldman, Disorder, S. 164–171, 175, 195f., 207, 252f.; Maier, Search, S. 121–184, besonders S. 178f.
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die »wohl zum erstenmal in der Weltgeschichte« den »internationalen Willen zur Sozialpolitik« widerspiegelten.54 Die »planmäßige Wirtschaft« war in der wirtschaftspolitischen Diskussion der Gegensatz zur Planwirtschaft nicht-liberaler Ökonomien und Ideologien. Der liberale Planungsbegriff stand in expliziter Opposition zu dem, was sich im Schrifttum der radikalen Linken und Rechten findet.55 »Planmäßige Wirtschaft« war ein anderes Wort für den neuen Kapitalismus und die den »Erfordernissen der neuesten Wirtschaftsentwicklung« angemessene Wirtschaftspolitik; sie war in den Augen ihrer Protagonisten kein deutsches Sonderphänomen, sondern kam »im Weltausmaß« zum Einsatz und nutzte »alle wirksamen Hilfs- und Heilmittel des freien ebenso wie des gebundenen Marktes«. In der Sprache der Beteiligten wurden die Sicherung der »Menschheitsbereicherung« und die »Steigerung des Massenkonsums« angestrebt. Langfristig ging es um die Milderung der Konjunkturzyklen, um »das Geheimnis ewiger Konjunktur« nach amerikanischem Vorbild, wo »eine Politik der Eindämmung der Konjunkturschwankungen« ihrer Ansicht nach mit einigem Erfolg betrieben wurde.56 Die Quellen lassen eine Kontinuität dieser wirtschaftspolitischen Zielrichtung einer geschickten »Beein-
Vgl. Julius Hirsch, »Deutsche Wirtschaftswissenschaft und -praxis im letzten Menschenalter«, in: Moritz Julius Bonn/Melchior Palyi (Hg.), Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege, Bd. 2, München 1925, S. 147–197, hier: S. 149–151, 153f., 160–164, 166f., 168, 186, 190f., 195; vgl. ders., Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftsdemokratie, Berlin 1925, S. 3, 5, 19, 21; ders., Neues Werden in der menschlichen Wirtschaft, Jena 1927; BArch, R 3101/5749, fol. 108–111, 30. 9. 1920; R 3101/5840, fol. 120–135, 25. 7. 1919; IfZArch, ED 93, Bd. 2, 17. 5. 1926, 16. 9. 1926; »Programm«, in: Hubatsch, Entstehung, S. 56f., 61. 55 »Programm«, in: Hubatsch, Entstehung, S. 56; vgl. dagegen etwa Dieter Gosewinkel, »Zwischen Diktatur und Demokratie. Wirtschaftliches Planungsdenken in Deutschland und Frankreich. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Mitte der 1970er Jahre«, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 327–359; treffend aber Werner Plumpe, »Rathenau als Planwirtschaftler«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 7 (2013), H. 1, S. 105–114. 56 »Programm«, in: Hubatsch, Entstehung, S. 56f., 59–61; Hirsch, Wirtschaftskrise, S. 10, 12f., 78f.; Schäffer, Problematik, S. 40, 52; BArch, R 3101/7607, fol. 69–77, 14. 7. 1924; fol. 213–284, 7. 3. 1925. 54
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flussung der Konjunktur« bis zum Ende der 1920er Jahre erkennen.57 Über diese Grundlagen und allgemeinen Perspektiven hinaus kamen demokratische Intentionen in drei Aspekten der Wirtschaftspolitik deutlich zum Ausdruck: Erstens vertrat das Reichswirtschaftsministerium in der Frage des Verbraucherschutzes einen Standpunkt, der für amerikanische Progressive, britische Liberale, französische Republikaner und deutsche Sozialdemokraten zentral war.58 Den organisierten Interessen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, auch des Mittelstands, gegenüber waren die Interessen der »letzten Verbraucher« zu wahren. Auch darum kam dem freien Welthandel eine so bedeutende Stellung in den Argumentationen zu. Verbraucherschutz und Kartellpolitik waren von einer Vision des »Massenkonsums« geleitet, die zur Genealogie der Konsumentendemokratie gehört. Der Massenkonsum war Anfang und Mitte der 1920er Jahre in den Bereich des Möglichen getreten, wenn auch noch nicht wie in Amerika zur Alltagspraxis geworden.59 Die Bedeutung des Verbraucherschutzes wurde zweitens noch gesteigert durch eine Grundhaltung, die sich im Begriff eines Volkskapitalismus verdichten lässt.60 Zur »Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Produktion« schien dem Staatssekretär »die gemeinschaftliche Kapitalbildung notwendig«. Darin erblickte er »einen
Vgl. etwa Fritz Blaich, Die Wirtschaftskrise 1925/26 und die Reichsregierung. Von der Erwerbslosenfürsorge zur Konjunkturpolitik, Kallmünz 1977, S. 152–174; Tooze, Statistics, S. 129–134, 142–145; Eckhard Wandel, Hans Schäffer. Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen 1886–1967, Stuttgart 1974, S. 94–97, 100; IfZArch, ED 93, Bd. 1, 21. 9. 1925, 8. 12. 1925, Bd. 2, 15. 6. 1926, Bd. 3, 24. 3. 1927, 18. 9. 1927 (Zitat), Bd. 4, 24. 12. 1928. 58 Vgl. etwa Rosanvallon, Gesellschaft, S. 159–165, 211–216. 59 BA rch, R 3101/5767, fol. 2–11, 17. 11. 1919; R 3101/5749, fol. 66f., 6. 5. 1920; R 3101/5860, fol. 361f., 6. 10. 1921; IfZArch, ED 93, Bd. 1, 14. 8. 1925, 21. 8. 1925, Bd. 2, 17. 5. 1926, 16. 9. 1926; vgl. »Programm«, in: Hubatsch, Entstehung, S. 56f.; Feldman, Disorder, S. 187; Hirsch, Wirtschaftswunder. Über Deutschland hinaus vgl. Rosanvallon, Gesellschaft, S. 159–165, 211–216; Nancy Cohen, A Consumers’ Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America, New York 2003; Kathleen G. Donohue, Freedom from Want. American Liberalism and the Idea of the Consumer, Baltimore 2003. 60 Für die Entwicklung in den USA vgl. Julia C. Ott, When Wall Street Met Main Street. The Quest for an Investors’ Democracy, Cambridge 2011. 57
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der zentralen Punkte« der Wirtschaftspolitik »überhaupt«. Im Hintergrund stand eine ökonomische Analyse, die die wiederkehrenden Krisen der deutschen Wirtschaft auf zwei nicht mehr durch konjunkturelle Selbstreinigung lösbare Grundprobleme zurückführte: den Zusammenbruch der Nachfrage und die nicht ausreichende Kapitalbildung, was zu fehlenden oder falschen Investitionen führte. Eine Wirtschaftsordnung, die auf diese Weise stabilisiert wurde, war ein demokratischer Kapitalismus; sie musste »wirtschaftlichen und sozialen Grundanschauungen« folgen, die den Menschen und seine Selbstbestimmung in den Mittelpunkt rückten: Wichtiger als die »Erhaltung des wirtschaftenden Betriebes« war »die des wirtschaftenden Menschen«. In der ökonomischen Vision Hirschs würde »der Mensch« der »Sieger« in diesem »Kampf« sein, der politisch gedacht war. Volkskapitalismus und wohlfahrtsstaatliche Demokratie standen dabei in engem Zusammenhang: »Die Demokratie ist kein Geschenk, sie ist ein Kampfboden, der sich langsam zugunsten des Arbeitnehmertums verschiebt.« Das Vorbild der ökonomischen Entwicklung, die aus den Deutschen ein Volk von Kleinkapitalisten machen würde, die sich mit ihrer Republik identifizierten, weil sie auch materiell einen Anteil an ihr hatten, war auch hier Amerika.61 Drittens ist den Quellen ein Verständnis von Demokratie zu entnehmen, das Öffentlichkeit, Transparenz, Kritik und Diskussion für die demokratische Willensbildung als wesentlich betrachtete und das parlamentarische Prinzip über alle organisierten gesellschaftlichen Interessen stellte.62 In diesem deliberativen Prozess kam dem Wirtschaftsministerium und den Ökonomen eine Funktion der Aufklärung zu: Die Fachleute durften sich nicht aus der politischen Diskussion zurückziehen, ihnen wurde, bis sich die Republik stabilisiert hatte, ein normatives Bekenntnis abverlangt. Ihr 61
62
BA rch, R 3101/5749, fol. 108–111, 30. 9. 1920; vgl. Hirsch, Wirtschaftsent-
wicklung, S. 21, 18f., 14–17; ders., Wirtschaftswissenschaft, S. 184; Wandel, Schäffer, S. 43; zur Krisenanalyse BArch, R 3101/21253, fol. 234–242, 29. 5. 1922; R 3101/7607, fol. 41–51, 59–62, Oktober 1923–März 1924, Anhänge; IfZArch, ED 93, Bd. 1, 22. 10. 1924. Vgl. »Programm«, in: Hubatsch, Entstehung, S. 61; BArch, R 3101/5851, fol. 38–42, 8. 9. 1921; R 3101/5840, fol. 192–212, 14. 10. 1919; R 3101/5860, fol. 361f., 6. 10. 1921.
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Engagement sollte in einer »Erziehungsaufgabe« bestehen, in der »Popularisierung« wirtschaftlichen Wissens – um den Regierenden und den Bürgern erkennen zu helfen, über welche Ressourcen sie verfügten und auf welchen Grundlagen sie Entscheidungen treffen konnten. Ökonomisches Wissen diente demnach der Ermöglichung von Freiheit und politischer Selbstbestimmung: »Es ist in der Demokratie immer falsch, sich auf irgend jemand zu verlassen. Es ist der Sinn der Demokratie, daß die öffentliche Kritik einsetzt, daß niemand an den Fragen, die sein Lebensschicksal bedeuten, vorübergehen darf, indem er etwa sagt, er verstehe nichts davon. Die anderen nämlich, glauben Sie mir, verstehen es auch nicht besser.« Wo der Ausbau der Demokratie stockte, geschah es »zum großen Teil infolge Nichtverstehens wirtschaftlicher Vorgänge«, weshalb Hirsch erklärte: »Wenn aber jemand denkt, er hätte seine Pflicht getan, wenn er gewählt hat, so ist das falsch.« Die Kultur der Demokratie zeigte sich auch in der geistigen Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen Grundlagen des Gemeinwesens. Es ging um mehr und um etwas anderes als betriebliche Mitbestimmung; darum zog Hirsch gegen die von Gewerkschaftsvertretern propagierte Version der »Wirtschaftsdemokratie« zu Felde: »Der Weg von der Sozialpolitik zur Wirtschaftspolitik, […] das ist der entscheidende Weg zur wirklichen Mitbestimmung.«63 Gerhard Colm, der im Exil zum Wirtschaftsberater des amerikanischen Präsidenten avancierte, brachte in den 1930er Jahren diese Idee einer Wirtschaftsdemokratie, die weniger mit betrieblicher Mitbestimmung als mit der Demokratie zu tun hatte, auf den Begriff des »liberal interventionism«: Staatseingriffe in die kapitalistische Wirtschaft verfolgten im Namen des »common interest« das Ziel, die Demokratie nicht nur formell, sondern auch substanziell zu bewahren. Das war für ihn Wirtschaftsdemokratie: Sicherung der Demokratie durch Wirtschaftspolitik.64
Hirsch, Wirtschaftsentwicklung, S. 17, 19, 20–23, Zitat S. 21; ders., Wirtschaftswissenschaft, S. 189f., 195–197; Schäffer, Problematik, S. 44–46. 64 Gerhard Colm, »Is Economic Planning Compatible with Democracy?«, in: Max Ascoli/Fritz Lehmann (Hg.), Political and Economic Democracy, New York 1937, S. 21–41, hier S. 23, 25f., 30, 33–41. 63
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Darin spiegelte sich der bereits von Hirsch bezeichnete Weg zur »wirklichen«, politischen Mitbestimmung durch Wirtschaftspolitik. Demokratische Wirtschaftspolitik diente in diesem Selbstverständnis dem Ziel, die Demokratie als Lebensform in einer Gesellschaft zu ermöglichen, in der soziale und ökonomische Ungleichheit eine Bedrohung der gleichberechtigten politischen Teilhabe darstellte. Dieses Denken brach weder mit Hirschs Abgang ab, noch konnte es durch den wirtschaftspolitischen Kurswechsel in der Großen Depression völlig erstickt werden: Es fand seine direkte Fortsetzung im Exil. Besonders die Vereinigten Staaten des New Deal zeigten sich an den emigrierten deutschen Wirtschaftspolitikern interessiert. Die Summe ihrer Erfahrungen zogen etliche von ihnen in der bald als Buch veröffentlichten Vortragsreihe »Political and Economic Democracy« 1935/36 in New York. Ihr theoretischer und zunehmend auch praktischer Beitrag zur Neugestaltung des amerikanischen Kapitalismus übertrug den sozialen Kapitalismusbegriff und die »planmäßige Wirtschaft« der Weimarer Republik auf die amerikanische Demokratie. In diesem transnationalen Kontext gab es keine Verständigungsschwierigkeiten. Diese Debatten wurden auch in Amerika in der Sprache der Demokratie geführt.65
Der »Kampfboden« der Demokratie und die Ökonomie Was sich von den untersuchten Vorhaben und Vorstellungen in die Praxis umsetzen ließ, ist eine andere Frage, die nichts damit zu tun hat, dass sich ein demokratischer Erwartungshorizont ausgebildet hatte. Zwar lässt sich ein Katalog von Maßnahmen aufstellen, die erdacht oder angestoßen wurden – Förderung von Rationalisierung, Modernisierung und Statistik,66 Ansätze der KonsumstimuVgl. Ascoli/Lehmann (Hg.), Democracy; Wolfram Hoppenstedt, Gerhard Colm. Leben und Werk (1897–1968), Stuttgart 1997, S. 119–153; Julius Hirsch, Price Control in the War Economy, New York 1943. 66 BA rch, R 3101/5934, fol. 3–9, 30. 11. 1920; fol. 10–16, 6. 12. 1920; vgl. Feldman, Disorder, S. 181; Tooze, Statistics, S. 76–102; Mary Nolan, Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, Oxford 1994; Volker Berghahn, American Big Business in Britain and Germany. A 65
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lierung und Konjunkturpolitik,67 die Einführung einer Exportversicherung,68 Kartellpolitik,69 Staatsbetriebe70 oder die »korporatistische« Selbstverwaltung der Wirtschaft bei Vorrang des Parlaments.71 Aber der Erfolg oder Misserfolg einzelner wirtschaftspolitischer Maßnahmen in komplexen globalen ökonomischen Zusammenhängen, in unübersichtlichen politischen Konstellationen und in dem für ein historisches Urteil sehr kurzen Zeitraum von wenigen Jahren lässt sich kaum messen.72 Was jedoch in den Quellen deutlich zu erkennen ist, sind die politischen Ordnungsvorstellungen, die Bezugnahmen auf die Demokratie als Fundament der Wirtschaftspolitik. Hirsch sprach von einem Kampf um politische DenkmusComparative History of Two »Special Relationships« in the 20th Century, Princeton 2014. 67 BA rch, R 3101/7607, fol. 41–51, Oktober 1923–März 1924, Anhang; vgl. Tooze, Statistics, S. 129–134, 142–145; Blaich, Wirtschaftskrise; Dieter Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung. Konjunkturpolitik 1925/26 und die Grundlagen der Krisenpolitik Brünings, Frankfurt am Main 1982; Hak-Ie Kim, Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik. Die konjunkturpolitische Diskussion in der Endphase der Weimarer Republik 1930–1932/33, Berlin 1997. 68 IfZA rch, ED 93, Bd. 1, 19. 12. 1925, Bd. 2, 10. 6. 1926. 69 BA rch, R 3101/5749, fol. 108–111, 30. 9. 1920; IfZArch, ED 93, Bd. 2, 24. 3. 1926, Bd. 3, 18. 9. 1927, Bd. 4, 24. 12. 1928; »Verordnung gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen vom 2. 11. 1923«, in: Reichsgesetzblatt 1923, S. 1067–1070, 1090; vgl. Wandel, Schäffer, S. 68–71. Einer der im Ministerium neben Schäffer und Paul Josten daran Beteiligten war Franz Böhm, der später auch die Kartellpolitik der Bundesrepublik prägte. Der Weimarer Versuch, eine Kartellpolitik zu entwickeln, war ein wichtiges Element in diesem wirtschaftspolitischen Lernprozess; vgl. Uwe Dathe, Franz Böhm – Ein Liberaler im Dritten Reich, in: Hans Maier (Hg.), Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und Soziale Marktwirtschaft, Paderborn 2014, S. 141–162. 70 Vgl. etwa Hans Staudinger, Der Staat als Unternehmer, Berlin o. J. [1932], S. 101–119; Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt am Main 1977, S. 580–583. 71 Vgl. dazu den Beitrag von Andrea Rehling in diesem Band. 72 Auch nach heutigen ökonomischen Kriterien lassen sich die positiven Effekte und die finanziellen Lasten wohlfahrtsstaatlicher Investitionen erst nach Jahrzehnten verlässlich ermitteln; vgl. etwa Isabela Mares, Macroeconomic Outcomes, in: Francis G. Castles u.a. (Hg.), The Oxford Handbook of the Welfare State, Oxford 2010, S. 539–551. Zur zeitgenössischen Erwartung vgl. unten, S. 291 (»eine Generation«).
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ter, um die »intellektuellen Machtverhältnisse«, der eine Demokratie auszeichnete.73 Wenn man einer Methode folgt, die die sprachliche Konstitution ihres Gegenstands reflektiert, politische Vorstellungen in den Mittelpunkt der Analyse stellt und davon ausgeht, dass Handlungsmöglichkeiten und politische Alternativen nicht als verdinglichte Optionen im Raum stehen oder essentialistisch als sachlich gebotene Zwangslagen sich von außen aufdrängen, sondern in der Sphäre der politischen Vorstellungen und in komplexen Interaktionen erst geschaffen werden,74 ist die bislang vernachlässigte Orientierung an der Demokratie nicht schmückendes Beiwerk, sondern das Zentrum dieser Politik, bei dem jede Interpretation ansetzen muss. Ökonomische Probleme wurden nicht nur als technische Fragen, sondern auch als Herausforderungen der Demokratie debattiert. Die Rekonstruktion dieses politischen Horizonts wirft auch ein neues Licht auf wissenschaftliche Deutungsmuster, die seit über 30 Jahren diskutiert werden und im Topos der »Überforderung« der Weimarer Demokratie zum Ausdruck kommen.75 Dabei stand 73 74
75
Hirsch, Wirtschaftsentwicklung, S. 22. Vgl. Rosanvallon, Democracy, S. 65f., 68, 72, 75; ders., »Für eine Begriffsund Problemgeschichte des Politischen. Antrittsvorlesung am Collège de France, Donnerstag, den 28. März 2002«, in: Mittelweg 36 20 (2011), H. 6, S. 43–66; Anselm Doering-Manteuffel, »Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts», in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 321–348. Vgl. Jürgen von Kruedener, »Die Überforderung der Weimarer Republik als Sozialstaat«, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 358–376; mit gegensätzlicher Verantwortungszuweisung, die die Chancen des politischen Handelns trotz Belastungen betont, im Untertitel auch Büttner, Weimar; wichtig dazu dies., »Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs. Ein Beitrag zur Diskussion über ›ökonomische Zwangslagen‹ in der Endphase von Weimar«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 209–252, wo auch die politischen, an der »Stagflation« der 1970er Jahre orientierten Motive von Knut Borchardts Revision herausgearbeitet werden; Borchardt als Akteur des Wechsels der bundesrepublikanischen Wirtschaftspolitik, weg vom Spätkeynesianismus und hin zu angebotstheoretischen Leitvorstellungen, zeigt auch sein Schüler Albrecht Ritschl, »Knut Borchardts Interpretation der Weimarer Wirtschaft. Zur Geschichte und Wirkung einer wirtschaftsgeschichtlichen Kontroverse«, in: Jürgen Elvert/Susanne Krauß (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stutt-
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die Weimarer Wirtschaft im Mittelpunkt. Bei den zuerst von Knut Borchardt stark gemachten Argumenten handelte es sich – neben dem Verweis auf die Bestimmungen des Young-Plans, auf die Lage an den internationalen Finanzmärkten und auf eine vage Inflationsangst – im Kern um zwei Punkte, die unmittelbar die Wirtschaftspolitik und in Erweiterung die Beurteilung der politischen Stabilität oder Instabilität der Weimarer Demokratie berühren: Demnach habe es sich um eine zutiefst strukturreformbedürftige, »unnormale, ja ›kranke‹ Wirtschaft« in Weimar gehandelt, die nicht erst durch die Weltwirtschaftskrise erschüttert wurde, was damit zusammenhing, dass die Sozialpolitik der Demokratie – die als »Subventions- und Umverteilungsstaat« charakterisiert wird, der »über seine wirtschaftlichen Verhältnisse« lebte – nicht finanzierbar war. Insbesondere die Löhne und Lohnnebenkosten wurden für Unternehmer zur untragbaren Belastung. Vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Misere geriet die Politik in »Zwangslagen«.76 In der späteren Diskussion struktureller Zwänge trat der Hinweis auf das internationale Finanzsystem in den Vordergrund, das durch Goldstandard und Reparationsordnung die Handlungsmöglichkeiten der deutschen Regierung in der Krise minimierte.77 Borchardt sprach mit Blick auf die Vorgeschichte der Krise in den 1920er Jahren von einem »auf Dauer nicht funktionsfähige[n] wirtschaft-
76
77
gart 2003, S. 234–244, hier S. 236f.; die eigene wirtschaftspolitische Optik (»Argentinien-Problem«), ebenda, S. 240f. Vgl. Knut Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982, besonders S. 165–182, Zitate S. 179f. – Von einem Inflationstrauma des Bürgertums sprechen Niall Ferguson, Paper and Iron. Hamburg Business and German Politics in the Era of Inflation, 1897–1927, Cambridge 1995, S. 419–433; Bernd Widdig, Culture and Inflation in Weimar Germany, Berkeley 2001; differenzierter über die Folgen der Inflation urteilen Gerald Feldman (Hg.), Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924–1933, München 1985; ders.u.a. (Hg.), Die deutsche Inflation; ders., Disorder; Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914–1924, Göttingen 1998. Vgl. etwa Barry Eichengreen, Golden Fetters. The Gold Standard and the Great Depression, 1919–1939, Oxford 1992; Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002.
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liche[n] System in einem schon kaum noch funktionsfähigen politischen System«.78 Obwohl diese Deutung damit explizit Konsequenzen für die politische Geschichte beanspruchte, erfolgte ihre Diskussion vor allem auf dem Terrain der Wirtschaftsgeschichte.79 Die Erörterung aus der Perspektive einer Geschichte der politischen Kultur und politischen Vorstellungen kann die legitimen Fragen stellen, welche semantischen Genealogien und welche rhetorischen Intentionen analytische Kategorien wie »krank« erkennen lassen oder – weil sie sich, anders als die Wirtschaftsgeschichte, nicht viel später definierte und weiterhin umstrittene Kriterien dafür zu eigen machen kann,80 ganz abgesehen von der für die Weimarer Verhältnisse viel schwieriger zu ermittelnden Datenlage81 – was eigentlich die Maßstäbe für eine »gesunde« Wirtschaft in den zeitgenössischen Konflikten und Kontroversen waren. Sie muss jedenfalls auf ihrer methodischen Grundlage die Ansicht zurückweisen, dass weniger zählte, was »auf der Perzeptionsebene oder im politischen Diskurs« Realitäten konstituierte, sondern vor allem die »echte ökonomische Randbedingung«.82 Politische Debattenrekonstruktionen erinnern an die Offenheit der Situation im Erwartungshorizont der Zeitgenossen. Borchardt wies treffend auf diese Offenheit, auf die politische Unübersichtlichkeit einer Lage hin, in der Borchardt, Wachstum, S. 182. Vgl. den maßgeblichen Sammelband: Jürgen von Kruedener (Hg.), Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republic 1924–1933, New York 1990; resümierend aus der Perspektive eines Beteiligten Ritschl, »Knut Borchardts Interpretation«; unter den Debattenbeiträgen etwa Theo Balderston, The Origins and Course of the German Economic Crisis. November 1923 to May 1932, Berlin 1993; Büttner, »Politische Alternativen«; CarlLudwig Holtfrerich, »Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise?«, in: Historische Zeitschrift 235 (1982), S. 605–631; ders., »Zur Debatte um die deutsche Wirtschaftspolitik von Weimar zu Hitler«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 119–132; Harold James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924–1936, Stuttgart 1988. 80 Zu den Kriterien vgl. Ritschl, »Knut Borchardts Interpretation«, S. 236. 81 Vgl. Tooze, Statistics; ders., »Trouble with Numbers. Statistics, Politics, and History in the Construction of Weimar’s Trade Balance, 1918–1924«, in: American Historical Review 113 (2008), S. 678–700. 82 Ritschl, »Knut Borchardts Interpretation«, S. 239; meine Hervorhebung; der mathematische Begriff der »Randbedingung« entspricht hier offenbar dem, was viele Historiker »Rahmenbedingung« nennen würden. 78 79
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es »keine wirklichen Lösungen« geben konnte. Doch die Weiterentwicklung seiner Argumente nahm eher das Bild der »wahrhaft schicksalhaften Verstrickungen« auf,83 was dazu führte, dass die Handlungsmacht der Politik immer weiter reduziert wurde.84 Fragen wie die der Lohnhöhe – völlig unabhängig von ihrer wirtschaftshistorischen Diskussion, in die sich die Geschichte der politischen Kultur überhaupt nicht einschaltet – waren vor allem Fragen einer komplexen Lebensrealität. Politische Vorstellungen, kulturelle Praktiken, gesellschaftliche Wahrnehmungen, ökonomische Ideale, argumentative Strategien, situative Polarisierungen prägten jede Äußerung auf diesem Gebiet. Solche Artikulationen hatten eine Funktion im politischen Konflikt. »Objektive« oder »echte« Kriterien kann es im Hinblick auf diese Gemengelage nur in einer retrospektiven, an Modellen und Normen orientierten Betrachtungsweise geben, und auch dann allein für den gewählten Ausschnitt. Eine quellenkritisch sensible politische Lesart der ökonomischen Auseinandersetzungen muss die agonalen Funktionen, den Kampf um die »intellektuellen Machtverhältnisse« in der Demokratie reflektieren. Für Julius Hirsch mit seinem ausgeprägten Sinn für eine demokratische Streitkultur war das als Debattenteilnehmer offenkundig. Bei den Stellungnahmen der Arbeitnehmerverbände handelte es sich in seinen Augen nicht um objektive Sachstandsmeldungen, sondern um polemische Vorstöße, die dem Positionsgewinn auf dem »Kampfboden« der Demokratie dienten.85 Wie sehr die Lohnfrage eine Wahrnehmungsfrage war, die von politischen Vorstellungen abhing, zeigt das Beispiel des marktliberalen Ökonomen Moritz Julius Bonn, der den wirtschaftspolitischen Sparkurs von Reichskanzler Heinrich Brüning unterstützte. Borchardt, Wachstum, S. 181f. Vgl. zum Topos der Alternativlosigkeit und der Verweigerung politischer Handlungsmacht bereits kritisch Peukert, Weimarer Republik, S. 14 mit Anm. 7; grundsätzlich auch Tooze, Deluge; ein auf das Ökonomische reduzierter Begriff des Politischen lässt die Alternativlosigkeit von Brünings Politik so eindeutig erscheinen wie bei Ritschl, »Knut Borchardts Interpretation«, S. 244: »Eine andere als die ab 1930 tatsächlich geübte Politik Brünings unter dem Notverordnungsregime braucht allerdings nicht ernsthaft in Betracht gezogen zu werden.« Vgl. auch ders., Deutschlands Krise. 85 Hirsch, Wirtschaftsentwicklung, S. 21f. 83 84
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Dennoch erklärte er 1926 und erneut 1930 in seiner einflussreichen Schrift »Das Schicksal des deutschen Kapitalismus«, dass die Löhne der Arbeiter in Deutschland zu niedrig waren. Der Bezugsrahmen seines Arguments war die Demokratie: »Die Politik ist demokratisch geworden. Und demokratisch wird sie bleiben, auch wenn vorübergehend irgendwo ein Diktator ersteht.« Diese politische Realität durfte von den Unternehmern nicht ignoriert werden: »Da es ein Zurück von der Demokratie nicht gibt, muß der Kapitalismus demokratisch werden.«86 Einen anderen Weg, um der Offenheit und Widersprüchlichkeit hinter den rhetorischen Interventionen auf die Spur zu kommen, beschreitet in ihrer monumentalen Studie über die Sozialpartnerschaft Petra Weber, die den Argumenten des Sachzwangs in der öffentlichen Debatte das tatsächliche Verhalten von Unternehmern gegenüberstellt. Sie zeigt, dass in der Praxis die Bereitschaft, höhere Löhne zu zahlen, viel größer war, als die Stellungnahmen in den politischen Auseinandersetzungen erkennen lassen. Ein von politischem Streit beherrschtes gesellschaftliches Feld wird dabei sichtbar, das sich nicht allein nach – divergierenden – ökonomischen Logiken ordnen lässt. Die demokratische Wirtschaftspolitik scheiterte demnach nicht an ihren Zwangslagen, sondern wurde durch die gezielte Zerstörung gesellschaftlicher Grundkompromisse, durch politisches Handeln am Ende der Republik beseitigt. Wenn man diese Entscheidungen personalisieren will, muss man den Namen Franz von Papens nennen.87 Wie auch immer jedoch die sich wandelnden wirtschaftsgeschichtlichen Urteile über wirtschaftspolitische Maßnahmen oder Handlungsmöglichkeiten in den internationalen Konstellationen der 1920er und 1930er Jahre ausfallen: Die Geschichte der Demokratie mit ihrer Offenheit und Eigendynamik kann nicht durch 86 Moritz Julius Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin 1926,
87
S. 28–38, 45, Zitat S. 31; ders., Das Schicksal des deutschen Kapitalismus. Neue erweiterte Ausgabe, Berlin 1930, S. 42–51, Zitat S. 45f. Vgl. Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/39), München 2010, S. 816–819, 915–925, 963–972; siehe auch die ähnlichen zeitgenössischen Einschätzungen Hans Schäffers, IfZArch, ED 93, Bd. 3, 26. 12. 1927.
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den Verweis auf Zwangslagen stillgestellt werden. Aus der Perspektive einer Geschichte der politischen Kultur war die Demokratie die grundlegende Realität, die entscheidende Rahmenbedingung des politischen Handelns im Kontext jener Zeit. Auch in der Wirtschaftspolitik hatte sich ein demokratischer Erwartungshorizont ausgebildet. Die Akzeptanz, die Praxis, die Kultur der Demokratie waren die Grundlage der wirtschaftspolitischen Strategiediskussion. Es ging dabei niemals nur um ökomische Fragen, sondern auch und vor allem um politische Vorstellungen. In dieser Hinsicht spielt es keine Rolle, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen nach welchen ökonomischen Kriterien als erfolgreich gelten können. Das ist für die hier vertretene Perspektive keine historische Frage. Ökonomische Kontroversen waren ein Element der politischen Debatten im offenen Prozess einer Demokratie in the making. Als sich die demokratischen Parteien hinter das stellten, was als »Brünings technokratischer Ansatz« oder als seine »unpolitische Politik« bezeichnet wurde,88 öffneten sie der extremen Rechten den Raum, demokratische Legitimität und zeitweilig selbst den Demokratiebegriff – die »wahre Demokratie« – für sich zu reklamieren.89 Die Offenheit des Politischen hätte sich etwa darin zeigen können, das dichotome Denken einer Alternative zwischen technokratischer Deflationspolitik und »Kapitulation vor dem außenwirtschaftlichen Programm der extremen Rechten«90 zurückzuweisen und die Kreativität der Demokratie zur Entfaltung zu bringen. Was wäre im Raum des Dazwischen möglich gewesen? Aus der Perspektive einer Geschichte der Demokratie, die zeitgenössische demokratische Erwartungen rekonstruiert, lässt sich antworten: ein anderer politischer Stil, eine demokratische Politik, die ihre eigenen Grundbedingungen – die in den politischen Debatten und Institutionen der Republik problematisierte Normalität und Fragilität der Demokratie – reflektiert und politisches Handeln als konstantes 88 Ritschl, »Knut Borchardts Interpretation«, S. 244; Karl Dietrich Bracher,
»Brünings unpolitische Politik und die Auflösung der Weimarer Republik«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S. 113–123. 89 Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, Bd. 444, 21. Sitzung, 9. 2. 1931, Berlin 1931, S. 781–872, Zitat S. 795; vgl. dazu den Beitrag von Stefanie Middendorf in diesem Band. 90 Ritschl, »Knut Borchardts Interpretation«, S. 244.
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Ringen um »Gestaltung und Erhaltung« der Demokratie betrachtet hätte.91 Der Bankier Siegmund Warburg forderte bereits Ende September 1930 »Richtung« und »Pathos«, Zukunft und Orientierung für die Massen durch einen politischen Plan der Regierung, dessen ökonomische Effizienz Warburg zufolge in dieser Situation völlig irrelevant gewesen wäre.92 Im Januar 1932 hielt der in der Weimarer Republik weithin verehrte, rezipierte und als Ratgeber gefragte, für die deutsche Debatte also relevante Keynes93 in Hamburg ein Plädoyer für ein radikales politisches Umdenken, für eine experimentelle, der Stabilisierung der Demokratie verpflichtete, zugleich auf der internationalen Bühne konziliant und kooperativ auftretende Politik. Der Politik fehlte »foresight and constructive imagination«. Der als captatio benevolentiae seinem Publikum gegenüber dienende Respekt, den Keynes der deutschen Regierung zollte, ließ seine Botschaft umso schärfer hervortreten: Es war ein Wunder, dass das ökonomische System immer noch existierte und man immer noch von einem »degree of normality« sprechen konnte. Der Zusammenbruch der »political and social organization« Deutschlands drohte infolge der ökomischen Katastrophe.94 In einem persönlichen Kommentar nach seiner Rückkehr aus Deutschland berichtete Keynes von seinen Eindrücken: »I have been to Germany at all the times of crisis since the War but never, I think, have I found them so extraordinarily depressed. […] everyone is reduced to a dead level of absence of pleasurable anticipation. […] no one sees any chance of an improvement, except as a result of drastic change.«95 Heller, »Politische Demokratie«, S. 424. Niall Ferguson, High Financier. The Lives and Time of Siegmund Warburg, London 2011, S. 68. 93 Vgl. etwa Feldman, Disorder, S. 309–316, 465, 476, 489f.; Ferguson, High Financier, S. 41f.; Köster, »Vor der Krise«; Meissner, Junge Jahre, S. 254–257; als Beispiel das Titelbild des Berliner Tageblatt vom 8. 7. 1926 (Wochen-Ausgabe), sowie »Keynes in der Berliner Universität«, Berliner Tageblatt vom 24. 6. 1926. 94 John Maynard Keynes, »The Economic Prospects 1932« [8. 1. 1932], in: ders., Collected Writings, Bd. 21, hrsg. von Donald Moggridge, London 1982, S. 39–48, hier: S. 40f. 95 Keynes, »The Position in Germany« [21. 1. 1932], in: Ebenda, S. 48–50, hier: S. 48. 91 92
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In der internationalen Presse richtete er einen Appell an die »statesmen of the world to handle the matters which they are supposed to understand, namely, to record in set terms the unreflecting but absolute decisions of the common mind«. Ökonomische Logiken mussten hinter dem Primat der Politik, dem Handeln unter Bedingungen der Massendemokratie, zurückgestellt werden, technokratische Lösungen hatten zu enden, um die Katastrophe aufzuhalten: »It is high time for the ›experts‹ to leave the room.« Die Folge der Expertenpolitik beschrieb er in drastischen Worten: »Germany today is in the grip of the most terrible deflation that any nation had experienced. A visitor to such a country is offered an extraordinary example of what the effects of such a policy can be, carried out à outrance. […] The result reaches, or goes beyond, the limit of what is endurable. […] Parents see no careers or opening for their offspring. The growing generation is without the normal incentives of bourgeois security and comfort. Too many people in Germany have nothing to look forward to – nothing except a ›change‹, something wholly vague and wholly undefined, but a change.« Gefragt waren in dieser extremen Lage politischer Sinn für »human feelings« und für »deep popular gusts of passion«, eine »imaginative apprehension« des Politischen: »Has not, then, the time come to invoke the power of simple ideas which all can understand?«96 Keynes’ Interventionen in unterschiedlichen Öffentlichkeiten beschrieben ein Verlangen nach demokratischer Kreativität, das nicht erst in der Krise auftrat. In seiner Rede in Berlin 1926 hatte er den Grundsatz vertreten, dass »letzten Endes« jede wirtschaftspolitische Maßnahme »der Souveränität der Demokratie, die sich im Parlament verkörpert, unterstehen« musste.97 Welche Räume eine solche Politik hätte öffnen, welche konkreten Optionen sie sich hätte schaffen können, bleibt eine für immer ungeklärte Frage. Aber dieser Denkhorizont zeigt, dass es nicht ausreicht, auf ökonomische Zwangslagen zu verweisen, wenn man 96 Keynes, »An End of Reparations« [16. 1. 1932], in: ders., Collected Writings, 97
Bd. 18, hrsg. von Elizabeth Johnson, London 1978, S. 366–369. John Maynard Keynes, Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft, München 1926, S. 32.
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die Chancen der Demokratie von Weimar in den politischen und ökonomischen Krisen seit 1929 zu ermitteln versucht. Für eine politische Betrachtung, die die Möglichkeiten und Maßstäbe der Handelnden in der Demokratie berücksichtigt, ist der Gedanke einer »Krise vor der Krise« irrelevant; Fragilität und Krisen lassen sich nicht durch die nachträgliche Kritik der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Republik aus der Demokratiegeschichte verbannen. Fragilität und Krisen waren konstitutive Elemente der transnationalen Geschichte entstehender, zur Normalität werdender Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg. Analytische Modelle, die die demokratischen Grundbedingungen nicht reflektieren, werden dieser Geschichte nicht gerecht. Konflikte nur als Verteilungskämpfe zu deuten, leuchtet einer Geschichte der politischen Vorstellungen nicht ein, unabhängig davon, welcher Provenienz ökonomische Determinismen entstammen. Solche Lesarten schreiben »den fatalistischen Marxismus« fort, den Moritz Julius Bonn bei Unternehmern genauso wie bei sozialistischen Arbeitern erkannte.98 Wenn jedoch die Demokratie den politischen Horizont bildete, drängt sich die komplexe Frage nach einer demokratischen Politik unter den Bedingungen der extremen Krisen am Anfang der 1930er Jahre auf. Ob man dabei individuelle Faktoren betrachtet oder strukturelle, stets war die Demokratie schon da, der sprichwörtliche elephant in the room, den keine Analyse ignorieren kann, die jene Zeit verstehen und nicht eigene Normen bestätigt sehen will. Darum geht es, wenn in diesem Beitrag das demokratische Selbstverständnis der Wirtschaftspolitik rekonstruiert und gezeigt wurde, dass wirtschaftspolitische Fragen in einer demokratischen Sprache verhandelt wurden. Weder seit dem Kaiserreich andauernde Kontinuitäten noch unpolitisches Expertenwissen bestimmten die handlungsleitenden Vorstellungen, sondern die Orientierung an der neuen Normalität der Demokratie mit ihren massenpartizipatorischen Spielregeln – einer Normalität, die im Zusammenhang mit ihrer Fragilität gedacht wurde, als »nichts Statisches, sondern ein täglich neu zu Gestaltendes«.99 Wirtschaftspolitik galt in diesem 98 Moritz Julius Bonn, »Geleitwort. Lujo Brentano als Wirtschaftspolitiker«,
in: ders./Palyi (Hg.), Wirtschaftswissenschaft, Bd. 1, S. 1–10, hier: S. 7. 99 Heller, »Politische Demokratie«, S. 425.
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Kontext als ein Instrument im Arsenal der Demokratie. Die demokratische Rahmung der wirtschaftspolitischen Diskussionen war symptomatisch für die Etablierung eines demokratischen Erwartungshorizonts.
Ende und Anfang Es wäre sowohl erkenntnisethisch als auch erkenntnistheoretisch problematisch,100 dieser Demokratie die »Fülle der möglichen Zukunft«101 zu rauben. Die Rekonstruktion der »Möglichkeitsstruktur«, der Erwartungshorizonte und Denkräume, der Debatten und Konfliktaustragungsmuster erinnert daran, dass die fragile Normalität der Demokratie das Wahrscheinliche war, während ihre Zerstörung unwahrscheinlich erschien. Aber das Ende der Demokratie war kein Unfall, sondern das Resultat von Handeln und Unterlassen, von Entscheidungen und Umständen. Ab dem Sommer 1932 beherrschte nicht nur ökonomische Not die Gesellschaft. Politischer Wille entfesselte einen Wirbel der Gewalt, leitete eine systematische Ausschaltung demokratischer Institutionen und Kräfte ein und führte einen Angriff gegen die durch Wirtschaftskrise und technokratisches Regieren geschwächte demokratische Kultur. Die neue Normalität, die das nationalsozialistische Regime dann seit Anfang 1933 durch Gewalt und Gewaltandrohung erzeugte, kann kaum etwas über den Zustand der Demokratie zuvor aussagen.102 Es lässt sich nicht als Naivität abtun, wenn noch Ende 1932 die wenigsten es ernstlich für möglich hielten, dass die Demokratie abge100 Vgl. zu diesem Zusammenhang Tim B. Müller, Arbeiter und Dichter. Über
professionelle, ästhetische und ethische Motive moderner Historiker, in: Martin Baumeister/Moritz Föllmer/Philipp Müller (Hg.), Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung, Göttingen 2009, S. 29–51. 101 Nipperdey, Nachdenken, S. 248. 102 Vgl. etwa Dreyer, »Weimar als ›wehrhafte Demokratie‹«; Evans, »Coercion and Consent«; Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930–1933, Göttingen 2006; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 259–301, 305–324; Gotthart Jasper, Die gescheiterte Zähmung. Wege zur Machtergreifung Hitlers 1930–1934, Frankfurt am Main 1986.
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schafft und schon gar nicht, dass eine nationalsozialistische Terrorherrschaft errichtet werden könnte. Diese Wahrnehmungen sind Teil der Ungewissheit, der sich eine Geschichte der Demokratie stellen muss, die das plötzliche Umschlagen von einer relativen Stabilität in die Instabilität, die konstitutive Fragilität einer Demokratie und ihre erhöhte Zerbrechlichkeit in existenziellen Krisen beobachtet. Den Perspektiven der Beteiligten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen ist nicht das unbedeutendste Motiv historischer Forschung. Julius Hirsch erwartete 1925, es würde »etwa eine Generation« dauern, bis das notwendige Maß ökonomischer Stabilität erreicht wäre.103 Sein einstiger Ministeriumskollege Alexander Rüstow, der zwischenzeitlich das politische Lager gewechselt hatte und die Interessen der Maschinenbauindustrie vertrat, zeigte sich 1929 davon überzeugt, dass die Demokratie den Deutschen selbstverständlich geworden war. Sie gehörten unwiderruflich zu den demokratischen Nationen, wenn er auch politische Reformen für notwendig hielt und den Reichskanzler nach dem Vorbild des britischen Premierministers zum demokratischen »Führer« machen wollte. Wird die demokratische Selbstkritik jener Jahre nicht allzu schnell als Kritik an der Demokratie missverstanden? Sie lässt sich auch als Zeichen ihrer fortschreitenden »Konsolidierung« lesen.104 Erst in der Krise erreichten antidemokratische Kräfte ihre großen Wahlerfolge, zuvor hatten sich demokratische Mehrheiten und Verfahrensregeln gefestigt. Selbst einstige Gegner hatten sich darauf eingelassen, weil die Demokratie ihren Erwartungshorizont zu bilden begann.105 Für viele Zeitgenossen stand die Lebensfähigkeit der deutschen Demokratie bis zum Schluss nicht infrage. Das galt offenbar selbst für die Kreise um Hindenburg, die die Republik zum autoritären Präsidialregime umbauen, die demokratische Wirtschafts- und Sozialpolitik beenden und sich als Massen-
103 Hirsch, »Wirtschaftswissenschaft«, S. 190. 104 Alexander Rüstow, »Diktatur innerhalb der Grenzen der Demokratie«, in:
Waldemar Besson, »Zur Frage der Staatsführung in der Weimarer Republik. Dokumentation«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 85–111, hier: S. 87f., 92, 94, 99–101. 105 Vgl. den Beitrag von Philipp Nielsen in diesem Band.
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basis auf die Nationalsozialisten stützen wollten. Ihre Perspektive lässt sich so beschreiben: »Da sich die Konjunkturlage seit Ende 1932 wieder zu verbessern schien, drohte das gesamte Projekt einer Demontage der parlamentarischen Demokratie zu scheitern.«106 Würde man nicht Erkenntnismöglichkeiten verspielen, wenn man den Demokraten, die sich für die Rettung der Republik einsetzen wollten und der Krise zum Trotz bis zum Ende an die Kraft der Demokratie glaubten, aus dem Wissen um den Ausgang dieser Krise Verblendung vorwürfe? Muss man nicht schärfer darüber nachdenken, warum noch Ende 1932, Anfang 1933 Siegmund Warburg sich vorstellen konnte, als demokratischer Wirtschaftsreformer in die Politik zu gehen?107 Für den später als Totalitarismustheoretiker und Lehrer der außenpolitischen Elite Amerikas prominenten Politikwissenschaftler Carl J. Friedrich stand zum gleichen Zeitpunkt fest, dass Deutschland eigene demokratische Traditionen ausgebildet hatte und es keinen politischen Horizont jenseits der Demokratie gab, auch wenn ungewiss war, wie die Demokratie aus der Krise hervorgehen würde: »[…] whether Germany will turn definitely toward the American system of a presidential republic, will muddle along with its present plan of parliamentarism in good times and presidential dictatorship in bad ones, or will cast its vote for a constitutional monarchy, as exists in the other Germanic nations of Europe: Holland, the Scandinavian kingdoms, and England.« Zuversichtlich erklärte er in seinem Aufsatz, der am Erscheinungstermin bereits von den Ereignissen gegenstandslos gemacht worden war: »Germany will remain a constitutional, democratic state with strong socializing tendencies whose backbone will continue to be its professional civil service.«108 Zu diesen Staatsdienern, zu den Ak-
106 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 297. 107 Vgl. Ferguson, High Financier, S. 66–70; Warburgs optimistische Erwartung
war bis zuletzt, dass am Ende der Krise eine reformierte Republik ähnlich der französischen oder amerikanischen stehen und die Nationalsozialisten nicht die Herrschaft übernehmen würden. 108 Carl J. Friedrich, »The Development of the Executive Power in Germany«, in: American Political Science Review 27 (1933), S. 185–203, hier: S. 203. Zu
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teuren einer Demokratie, die zur Normalität geworden war, hatten die Vertreter der demokratischen Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik gehört.
Friedrich vgl. Udi Greenberg, The Weimar Century. German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War, Princeton 2014.
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Verantwortung und Kompromiss Die Deutschnationalen auf der Suche nach einer konservativen Demokratie
Im Laufe der Weimarer Republik kooperierte die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), ein Sammelbecken von konservativen Strömungen, völkischen Ideologen und Pangermanisten, nicht nur verschiedentlich mit der Regierung, sondern trat ihr sogar mehrfach bei. Diesen Prozess der Annäherung an die Weimarer Demokratie beschrieb Thomas Mergel als »Tory-fizierung« der Partei.1 Nach der Wahl Alfred Hugenbergs zum Vorsitzenden im Oktober 1928 allerdings stand die DNVP der Weimarer Republik zunehmend feindselig gegenüber, und die »Tories« verließen die Partei. Im Lichte der letztlich antirepublikanischen Entwicklung der DNVP und ihrer Kooperation mit den Nationalsozialisten hat Mergels These, sie sei auf dem Weg gewesen, sich gegenüber der Republik loyal zu verhalten, Widerspruch ausgelöst.2 Dieser Beitrag will indes nicht der Frage nachgehen, ob die Deutschnationalen nun »Vernunftrepublikaner« à la Gustav Stresemanns Deutsche Volkspartei (DVP) hätten werden können oder nicht, sondern aufzeigen, welche generellen Rückschlüsse die innerparteilichen Debatten der 1
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Thomas Mergel, »Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928–1932« in: Historische Zeitschrift 276 (2003) H. 2, S. 323–368. Martin Kittel, »Steigbügelhalter Hitlers oder stille Republikaner? Die Deutschnationalen in neuer politikgeschichtlicher und kulturalistischer Perspektive«, in: Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege (Historische Zeitschrift Beiheft 44), München 2007, S. 201–235.
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Die Deutschnationalen und konservative Demokratie
Deutschnationalen über die Einstellung zur Republik auf die Weimarer Epoche als demokratisches Experiment zulassen. Wolfgang Hardtwig vertrat unlängst die These, der Begriff »Volksgemeinschaft« stamme aus der demokratischen Mitte. Er sei nicht einfach nur ein nationalistisches Konzept, sondern habe im republikanischen Gefühlshaushalt seine eigene Geschichte.3 Tatsächlich erklärte die DNVP in einer der hier analysierten Diskussionen, dass auch sie und nicht nur die republikfreundlichen Parteien Anspruch auf den Begriff der »Volksgemeinschaft« hätte.4 Die »Volksgemeinschaft« war nicht der einzige Begriff, den die Deutschnationalen in ihre politische Semantik einpflegen wollten. »Verantwortlichkeitsgefühl« war ein weiterer Terminus, den die Parteiführung besonders gern verwendete, wenn sie die Beteiligung an der Weimarer Politik mit konservativen Positionen in Einklang bringen wollte.5 Dies ist umso bemerkenswerter, als »Verantwortlichkeit« vor 1918 fast ausschließlich von den Sozialdemokraten im Zusammenhang mit ihrer Forderung nach der Parlamentarisierung der Regierung verwendet worden war. Dass diese Assoziation den Begriff für das rechte Lager nicht gänzlich unbrauchbar gemacht hatte, zeigt das Beispiel eines weiteren Politikers, der der Republik zunächst skeptisch gegenüberstand: Reichskanzler Gustav Stresemann verteidigte in seiner Regierungserklärung vom 6. Oktober 1923 die unpopuläre Aufgabe des passiven Widerstands im besetzten Ruhrgebiet und attestierte dem deutschen Volk, es fehle ihm an »Mut zur Verantwortlichkeit!«6 Stresemanns Entwicklung zum »Vernunftrepublikaner« bedarf hier keiner näheren Einführung. Doch das Konzept der Verantwor-
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Wolfgang Hardtwig, »Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat«, in: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich, 1900–1938, Köln 2013, S. 227–253. Bundesarchiv Lichterfelde (BArch) R 8005 (DNVP/Regierungsbildung (Akten Hergt), 1924)/10 – Regierungskrise und Reichstagsauflösung (August bis Oktober 1924). Vertraulich, 4, Bl. 2. »Verantwortungsgefühl« und »Verantwortungsbewusstsein« wurden synonym verwendet. Reichstagsprotokolle, 1. Wahlperiode, 385. Sitzung vom 6. Oktober 1923, Gustav Stresemann, S. 11937.
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tung erscheint ein vielversprechender Ansatz, um die vorübergehende Annäherung der Deutschnationalen an die Weimarer Republik nicht nur als pragmatische Politik zu verstehen, sondern als Versuch, eine konservative Semantik zu etablieren, die die eigenen Werte abbildete und gleichzeitig mit der demokratischen Verfassung in Einklang stand. Sie sollte Herz und Verstand ansprechen. Genau wie der Terminus »Volksgemeinschaft« wurde das »Verantwortlichkeitsgefühl« nicht nur von konservativen Politikern bemüht, sondern auch von Mitgliedern anderer Parteien – häufig mit dem Ziel, die Deutschnationalen ins republikanische Boot zu holen. Im Vorfeld der Abstimmung über den Dawes-Plan vom August 1924, der die Reparationszahlungen Deutschlands regeln und der deutschen Wirtschaft Zugang zu internationalen Krediten verschaffen sollte, appellierte Reichskanzler Wilhelm Marx wiederholt an das »Verantwortungsbewusstsein« der DNVP, um sich die Unterstützung ihrer Abgeordneten zu sichern. Bereits im Februar 1922 hatte Hans-Erdmann von Lindeiner(-Wildau) als Generalsekretär der DNVP das »Verantwortlichkeitsgefühl« seiner Parteigenossen beschworen, als es um eine mögliche Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen ging. Damals noch ohne Erfolg, stimmte 1924 beinahe die Hälfte der DNVP-Abgeordneten für die Annahme des Dawes-Plans.7 Das soll nicht heißen, dass sich die Deutschnationalen zu diesem oder einem anderen Zeitpunkt zu überzeugten Demokraten gewandelt hätten. Doch die Bemühungen der DNVP-Führung in den Jahren 1922–1924, einen Gefühlshorizont zu etablieren, der einem konservativen Republikaner gut anstand, werfen ein Licht auf die Weimarer Demokratie als unfertiges Konstrukt, das trotz aller Mängel so stabil erschien, dass die DNVP die aktive Eingliederung in dieses System für notwendig hielt. Was Oskar Hergt, DNVP-Vorsitzender von 1918 bis 1924, und von Lindeiner, Generalsekretär der Partei zwischen 1919 und 1928, in die Praxis umsetzen wollten (auch wenn sie es nicht als groß angelegtes Projekt deklarierten) und woran sie von ihren politischen 7
Bundesarchiv Lichterfelde (BArch) R 8005 (DNVP/Regierungsbildung (Akten Hergt), 1920–1924)/9 – von Lindeiner an von Bredow, 16. Februar 1922, Bl. 121.
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Gegnern gemessen wurden, war der Versuch, einen Wortschatz und einen Gefühlshorizont zum Topos der Demokratie zu entwickeln, der sich mit dem wilhelminischen Konzept der männlichen Ehre vertrug. Mit dem Verweis auf das Verantwortlichkeitsgefühl zielten sie auf die inhärente Logik des parlamentarischen Protokolls ab. Doch mehr noch, sie wollten dieses Protokoll mit den eigenen kulturellen Werten außerhalb der Mauern des Reichstags verbinden und so die Kluft zwischen Politikern und Wählern überbrücken. Es war der Versuch, eine eigene konservative Rhetorik für die Demokratie zu entwickeln, die zu konkretem Handeln führen sollte – für einen gewissen Zeitraum mit Erfolg. Dass dieser Versuch letztlich scheiterte, ändert nichts daran, dass er ein bedeutendes Experiment der demokratischen Kultur in der Zwischenkriegszeit darstellte. Einige wenige, aber entscheidende Jahre gelang es so, die Konservativen in die Republik einzubinden und wichtige Gesetze zu verabschieden – nicht zuletzt den Dawes-Plan, für den ein ausreichender Teil der DNVP-Delegierten gewonnen werden konnte, die sich der Verantwortung stellten und die Vereinbarung unterstützten, auch wenn dies zu einem Riss quer durch die Partei führen sollte.
Weimar, Demokratie und Gefühle Die Bedeutung von Gefühlen für die Politik im Allgemeinen und für die Demokratie im Besonderen ist in neuerer Zeit stärker ins Blickfeld der Historiker gerückt. Im Kontext der Weimarer Republik werden die Gefühle der Wähler (und in geringerem Umfang auch der Politiker) zumeist als ein Hin-und-her-Schwanken zwischen utopischen Hoffnungen und Frustration mit tiefer Beklemmung beschrieben. In dieser Lesart war Weimar überladen mit unerfüllbaren Erwartungen, die irgendwann in Ressentiment umschlugen. Die besessene Suche nach politischen Genies und Führungsgestalten und die von der Revolution freigesetzten Hoffnungen mussten der düsteren Realität des Nachkriegslebens in einem geschlagenen und verkleinerten Land standhalten. Auch die Demokraten konnten nichts anbieten, was eine gefühlsmäßige Bindung an die Republik versprochen hätte. Im besten Fall waren sie »Vernunftrepublikaner«. Erst in jüngster Zeit wurden die leidenschaftlichen
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Gefühle der Weimarer Demokraten und ihre gezielten Versuche, eine bürgernahe Symbolkultur für die Republik zu etablieren, eingehender untersucht.8 Arnd Bauerkämper postulierte vor Kurzem, der Schlüssel zum Verständnis des »verschlungenen Pfades [der Deutschen] zur Demokratie« liege in ihrem Streben nach Sicherheit, verbunden mit einer ausgeprägten Angst vor der Unwägbarkeit. So interessant und bedeutsam dieser Blick auf die gefühlsmäßige Seite der deutschen Politik ist, so deckt sich doch das Resümee für die Weimarer Republik exakt mit früheren Untersuchungen: Die Angst der Deutschen habe der Republik letztlich den Garaus gemacht und Hitler den Weg bereitet.9 Je nach Standpunkt war die politische Kultur von Weimar also entweder von Anbeginn an oder allerspätestens seit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise 1929 zum Scheitern verurteilt.10 Die Beschreibung der Deutschnationalen erfolgt im gleichen narrativen Rahmen. In der wohlwollendsten Lesart gab es damals Pragmatiker, die die Republik als temporäre Erscheinung hinnahmen, aber schließlich von den Mitgliedern und Wählern zu Fall gebracht wurden, die von ihrer Partei mehr erwarteten, als sich durch eine Regierungsbeteiligung zu kompromittieren. Mit diesem Problem sah sich nicht nur die DNVP konfrontiert, sondern alle politischen Akteure der Weimarer Politik: Die Grundsätze wurden hochgehalten und der Kompromiss verachtet. Die Wähler straften die Regierenden ab, und so verlor auch die DNVP in den Wahlen von 1928 an Stimmen, nachdem sie sich zweimal an einer Regierungskoalition beteiligt hatte. Als Reaktion und auf Druck der Par-
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Manuela Achilles, »With a Passion for Reason. Celebrating the Constitution in Weimar Germany« in: Central European History 43 (2010), S. 666–689. Arnd Bauerkämper, »The Twisted Road to Democracy as a Quest for Security. Germany in the Twentieth Century«, in: German History 32 (2014) H. 3, S. 431–455. Vgl. z.B. Mergel, »Das Scheitern«, S. 340; Wolfgang Pyta, »Demokratiekultur: Zur Kulturgeschichte demokratischer Institutionen«, in: Detlef Lehnert (Hg.), Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2011, S. 23–45; Carolin Dorothée Lange, »In diesem Sinne hat jede Zeit, hat jedes Volk die Führer, die sie verdienen – Zum Politik- und Politikerbild des republikanischen Bürgertums in der Weimarer Republik«, in: German Studies Review 36 (2013) H. 2, S. 237–257.
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teibasis setzte die DNVP dann den weitaus radikaleren und kompromisslosen Hugenberg an ihre Spitze.11 Was immer in der Weimarer Republik an Kompromissbereitschaft vorhanden gewesen sein mag, war spätestens im Winter 1929 aufgebraucht, als sich die Wirtschaftslage weiter verschärfte und die Große Koalition auseinanderbrach. Der Theologe Ernst Troeltsch schien recht zu behalten. In einer Reihe von Vorträgen, die er 1923 in London halten wollte, warnte er vor den Gefahren einer Entweder-oder-Haltung und vor der Abneigung gegen Kompromisse, die er im Nachkriegsdeutschland ausmachte.12 1929 kritisierte der Soziologe Alexander Rüstow die politische Klasse und ihre »Verantwortungsflucht«, die ein großes Problem für die Republik darstelle, da jeder bemüht sei, »die unvermeidlichen Kompromisse den Wählern gegenüber nicht vertreten zu müssen«.13 Diesem Verhalten hatte die Verfassung von Weimar Vorschub geleistet, denn ein Misstrauensvotum war nicht mit dem Zwang der Regierungsneubildung verbunden. Der antidemokratische Staatsrechtler Carl Schmitt hatte recht, wenn er 1928 und noch einmal 1932 erklärte, das Misstrauensvotum habe seine Bedeutung verloren, denn diejenigen, die ihr Misstrauen aussprachen, seien hernach nicht in der Lage gewesen, tatsächlich eine »verantwortungsbewusste Regierung« zu bilden.14 In dieser Gemengelage schien es wenig Raum für Konservative zu geben, die die neuen Normen nicht pragmatisch übernehmen wollten, sie aber auch nicht radikal infrage stellten, sondern versuchten, konservative Grundgefühle in einen demokratischen Kontext einzubinden. Genau das versuchten aber Hergt und von Lin-
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Mergel, »Das Scheitern«, S. 339–340. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Überwindung. Berlin 1924. Troeltsch starb, ehe er die Vorlesungen halten konnte. Sie wurden postum ins Englische übersetzt: Ernst Troeltsch, Christian Thought: Its History and Application, New York 1957, S. 177. Zit. nach Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014, S. 57. Carl Schmitt, Positionen und Begriffe. Im Kampf Weimar-Genf-Versailles, 1923–1939, Berlin 1994, S. 216; auch Ernst Fraenkel kritisierte die unverantwortliche Version des destruktiven Misstrauensvotums in der Weimarer Reichsverfassung.
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deiner in den Jahren zwischen 1922 und 1924, wenn man ihren Erklärungen gegenüber den Parteimitgliedern und der Öffentlichkeit Glauben schenken will. Angesichts der Tatsache, dass die Parteien nach der Weimarer Verfassung nicht nur nicht zu verantwortungsvollem Handeln verpflichtet waren, sondern dass sie damit gar ihre Wiederwahl riskierten, sind das Insistieren der DNVP auf der Verantwortung und ihre wiederholten Angebote zur Regierungsbeteiligung – im vollen Wissen um ihre minimalen Chancen, eine Verfassungsänderung durchzusetzen – umso bemerkenswerter. Tatsächlich akzeptierte von Lindeiner, wie aus dem bereits erwähnten Appell von 1922 hervorgeht, im Rahmen seines Konzepts des »Verantwortlichkeitsgefühls« die Logik eines konstruktiven Elements in einem Misstrauensvotum: »Eine Partei, die sich in schärfster Oppositionsstellung zur gegenwärtigen Regierung befindet und deren Rücktritt betreibt, kann sich im entscheidenden Momente nicht versagen, wenn die anderen Parteien ihr die Regierungsbildung zuschieben. Es würde das wie Feigheit aussehen und einen erheblichen Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl beweisen.«15 Kurt Sontheimer hat auf die Bedeutung von »Verantwortung« im konservativen Diskurs der Weimarer Republik verwiesen. Doch während er sich auf die antidemokratischen Assoziationen des Begriffs konzentrierte und diese persönliche Verpflichtung der Anonymität einer »Massendemokratie« gegenüberstellte, war es doch gerade die Beliebtheit dieses Begriffs, die ihn zu einer Brücke in Richtung demokratische Partizipation werden ließ.16 Verantwortung bot einen Schutzschild für die Kompromisse, zu denen eine Regierung gezwungen war und die doch sehr viel unattraktiver erschienen als »scharfe Opposition«. Wie gesehen, konnte so eine Lo-
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Bundesarchiv Lichterfelde (BArch) R 8005 (DNVP/Regierungsbildung (Akten Hergt), 1920–1924)/9 – von Lindeiner an von Bredow, 16. Februar 1922, Bl. 121. In den Briefen werden keine Vornamen genannt. Ein Abgleich mit dem Berliner Adressbuch und dem Gotha aus dem Jahr 1922 legt Felix Graf von Bredow als Adressaten nahe – rein theoretisch könnte der Brief auch an Anatol Graf von Bredow, einen ehemaligen Generalleutnant der kaiserlichen Armee, gerichtet sein. Kurt Sontheimer, »Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik« in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 5 (1957) H. 1, S. 42–62, hier S. 53f.
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gik entstehen, nach der auch »scharfe Opposition« zur Regierungsbeteiligung führte. Der Blick auf diese Versuche, konservative Gefühle in demokratische Neigungen umzumünzen, eröffnet eine andere Sichtweise auf die Einstellung der Konservativen zum Staat und auf ihr Verhalten in der Regierung. Er bietet gleichzeitig Raum zur Erforschung einer alternativen Begriffsgeschichte der Weimarer Demokratie. Wie bereits angeführt, mag der Begriff der Verantwortung auf den ersten Blick als konservatives Konzept erscheinen, ähnlich wie die Ehre, doch dem war nicht so. Vielmehr war »Verantwortlichkeitsgefühl« ein relativ neuer Terminus, der vor allem in der Politik Verwendung fand. Historisch wie inhaltlich war er durch und durch demokratisch besetzt. Vor 1918 wurde der Begriff, mit einigen enggefassten juristischen Ausnahmen, zumeist von den Sozialdemokraten verwendet, die die Bismarck’sche Reichsverfassung so abändern wollten, dass der Kanzler dem Reichstag verantwortlich wurde.17 So gesehen war »Verantwortlichkeit« fest in der Weimarer Verfassung verankert, denn sie galt jetzt auch für die einzelnen Minister. Doch diese Verantwortlichkeit, selbst die der Regierung, war nicht moralischer, sondern rein juristischer Natur (im Sinne der rechtlichen Zurechnungsfähigkeit). Mit dieser Bedeutung wurde Verantwortlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch erstmals in die deutschen Konversationslexika aufgenommen. Davor hatte sich weder zu »Verantwortung« noch zu »Verantwortlichkeit« ein Eintrag gefunden. In den Debatten der Deutschnationalen schwang bei »Verantwortlichkeit« jedoch stets eine moralische Konnotation mit (die der Große Herder erst im Jahr 1935 aufnahm, wo »Verantwortung« als moralische Pflicht zu handeln beschrieben wird). Im Übrigen sprach zum Beispiel von Lindeiner meist von »Verantwortlichkeitsgefühl« und »Verantwortlichkeitsbewusstsein« und hob damit den moralischen Aspekt eigens hervor. 17
Die Stichwortsuche nach »Verantwortung« und »Verantwortlichkeit« in den digitalisierten Plenardebatten des Reichstags ergibt 167 Treffer für den Zeitraum 1867–1918 und 43 für 1918–1933. Vor 1918 beziehen sich alle entweder auf SPD-Anträge zur Verfassungsänderung oder auf spezifische juristische Fragestellungen, etwa auf Haftungsfragen im Steuerrecht. Nach 1918 geht es zumeist um die Verantwortung der Regierung für umfassendere politische Angelegenheiten, wie etwa die Reparationsverhandlungen.
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Die Verwendung dieses Begriffs durch das konservative Lager ist also neu und aus zwei Gründen interessant. Wie bereits erwähnt, wurde er in der jüngeren deutschen Geschichte zunächst von der politischen Linken eingesetzt, und außerdem war er ursprünglich ein eher technischer Begriff. Als moralisches Pendant hätte sich wohl eher die »Pflicht« als angemessenes Konzept für den politischen Diskurs angeboten. Deren Verbindung zu Tugend und Moral hatte nicht zuletzt Immanuel Kant hervorgehoben. Aber Pflicht (ein doch sehr mit monarchistischen Konnotationen beladener Terminus) gegenüber einem republikanischen Staat mit einem Sozialdemokraten als Reichspräsidenten wäre den DNVP-Mitgliedern nur schwer zu vermitteln gewesen; »Verantwortung« für die Sicherung des Wohlergehens des Volkes bzw. des Staates erschien weniger problematisch. Außerdem eignete sich dieses Konzept besser für eine Demokratie. Selbst in ihrer juristischen Konnotation war Verantwortung stets an Freiheit geknüpft. »Pflicht« hingegen schloss die Möglichkeit, »eine Verantwortung zu tragen oder nicht zu tragen«, explizit aus.18 »Verantwortung« wiederum konnte, wenn man sie mit »Ehre« verknüpfte, durchaus einen konservativen Unterton annehmen. Gewiss findet sich der Rekurs auf ältere Konzepte wie das der Ehre in der Regel in Kontexten, die dem republikanischen diametral entgegengesetzt sind. Ute Frevert hat sich ausführlich mit der Langlebigkeit der Konzepte der männlichen Ehre und des Duells im Offizierskorps und in den studentischen Verbindungen befasst. Das Duellieren war eine explizite und bewusste Zurückweisung der Werte, die die Republik ihren Bürgern zu vermitteln suchte.19 Demgegenüber verweist, so Frevert, die zunehmende Verwendung des Begriffs »Vertrauen« auf einen emotionalen Zustand, der für demokratische Politik bestimmend ist.20 Und doch griff die DNVPSpitze Mitte der 1920er Jahre im Zusammenhang mit »Verantwortung« häufig auf erheblich ältere Begrifflichkeiten wie die Ehre und
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»Pflicht«, Der Große Herder, 4. Ausgabe, 1934, S. 625. Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991, S. 243f. Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013, S. 180–187.
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auch auf ihr Gegenteil, die Feigheit, zurück, um die eigenen Mitglieder zur Akzeptanz der Republik zu bewegen. Sicherlich haben pragmatische Erwägungen eine Rolle gespielt, doch war der emotionale Appell hier stärker als alle rationalen Erwägungen. Der Blick auf das Verantwortungsgefühl, auch über das konservative Lager hinaus, könnte erklären, warum zumindest in einem erheblichen Zeitraum der Weimarer Republik, nämlich von 1924 bis 1930 (und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch in den vier Jahren davor), Regierungen, bei denen es sich häufig um Minderheitsregierungen handelte, sehr unpopuläre Maßnahmen durchsetzen konnten. Letztlich konnten sie sich im Reichstag stets auf das »Verantwortungsbewusstsein« der Sozialdemokraten – und häufig auch auf das der Deutschnationalen – verlassen, um die erforderliche Stimmenmehrheit zu erreichen.21
Die DNVP und das »Verantwortlichkeitsgefühl« Als die sogenannte Weimarer Koalition, bestehend aus SPD, dem katholischen Zentrum und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), über die Reparationszahlungen und die Konsolidierung der Reichsfinanzen auf eine neue Krise zusteuerte, kam es zu Spekulationen über eine mögliche Regierungsbeteiligung der DNVP. In einem Brief an von Lindeiner warnte Felix Graf von Bredow, Jurist und ehemaliger Major der kaiserlichen Armee, dringend vor einem solchen Schritt. Er habe fatale Folgen nicht nur für die Partei, sondern für das gesamte konservative Lager. Mehr noch, das Resultat würde schlimmer sein als der Nachhall des Kapp-Putsches zwei Jahre zuvor, als das Militär revoltiert hatte, nach Berlin marschiert war und die Hauptstadt für kurze Zeit unter seine Kontrolle gebracht hatte. Doch der Staatsstreich war kläglich daran gescheitert, dass die Massen dem Aufruf der Regierung zum Generalstreik gefolgt waren. Diesmal, so von Bredow, würde die Linke den Konser21
Zu den Appellen verschiedener Minderheitsregierungen an das »Verantwortlichkeitsgefühl« vgl. Thomas Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre, München 2005, S. 172, 191.
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vativen völlig den Garaus machen. Er äußerte erhebliche Zweifel an der Popularität der Rechten, zeigte sich aber kompromisslos gegenüber der Politik und empfahl, die DNVP solle den totalen Zusammenbruch Deutschlands durch die Misswirtschaft der Linken abwarten. Erst wenn die Linke und die Republik hinreichend diskreditiert seien, werde die Stunde der Konservativen schlagen, das Schicksal Deutschlands in die Hand zu nehmen. Im Moment bleibe den Deutschnationalen nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen.22 Diese düstere Einschätzung der eigenen Position ist umso bemerkenswerter, als die beiden großen Parteien des rechten Spektrums, DNVP und DVP, bei den Reichstagswahlen 1920 durchaus beeindruckende Ergebnisse erzielt hatten. Zusammengenommen konnten sie ihren Stimmanteil auf fast 30 Prozent verdoppeln, und die DNVP stellte die zweitgrößte Fraktion im Parlament. Doch hatte das Scheitern des Kapp-Putsches, gerade weil es durch einen Generalstreik herbeigeführt worden war, deutlich gemacht, dass die politischen Visionen der national Gesinnten in der Bevölkerung nur auf wenig Zustimmung trafen. So sah es jedenfalls von Bredow.23 Interessant ist von Lindeiners Reaktion auf die republikanische Stärke vor allem, weil sie vor Walther Rathenaus Ermordung durch radikale Nationalisten im Juni desselben Jahres erfolgte. Der Schock, den dieser offene Angriff gegen die Regierung auslöste, stärkte die Entschlossenheit der Republik, gegen den Feind vorzugehen, und »dieser Feind steht rechts«, wie es Reichskanzler Joseph Wirth von der Zentrumspartei in seinem berühmten Ausspruch formulierte.24
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BA rch R 8005 (DNVP /Regierungsbildung (Akten Hergt), 1920–1924)/9 –
von Bredow an von Lindeiner, 14. Februar 1922, Bl. 122. Seine Aussage stützt die kürzlich von Adam Tooze aufgestellte These von der vermeintlichen Stärke der neuen Nachkriegsordnung, die dem antirepublikanischen Radikalismus Vorschub leistete, auch wenn er erheblich früher einsetzte als die Periode der Stabilisierung Ende der 1920er Jahre, der Tooze in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung beimisst. Siehe Adam J. Tooze, The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, 1916–1931, London 2014, S. 18, 487–488. Reichstagsprotokolle, 1. Wahlperiode, 236. Sitzung, 25. Juni 1922, S. 8058.
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Von Lindeiner schrieb, Abwarten sei keine Option.25 Die »schärfste Oppositionsstellung« gehe einher mit der Logik, ja der Last der Verantwortung. Wenn die von der DNVP so scharf angegriffene Regierung einmal gefallen sei, könnten die Deutschnationalen vor der Übernahme der Macht nicht zurückscheuen. Lindeiner verlieh seinem Argument eine besondere moralische Färbung, indem er nicht nur von »Verantwortung«, sondern von »Verantwortlichkeitsgefühl« sprach. Er legte noch nach und erklärte, von Bredows Empfehlung käme der »Feigheit« gleich. Damit zielte er auf den ehemaligen Offizier in von Bredow ab, in dessen Milieu Feigheit als Todsünde galt.26 Von Lindeiners Rekurs auf das Verantwortlichkeitsgefühl war jedoch keineswegs antirepublikanisch. Seine Aussage mochte keine lautstarke Begeisterung für die Republik ausdrücken, doch signalisierte sie Akzeptanz der Logik des Parlamentarismus und sogar die des Zusammenspiels von Regierung und Opposition. Damit stand sie im Einklang mit Hergts Rede über den »Ordnungsstaat« zwei Jahre zuvor, in der der DNVP-Vorsitzende konstruktive Beteiligung am Staat angeboten hatte, selbst wenn dieser als Republik konstituiert war.27 Die Art und Weise, in der von Lindeiner das Verantwortungsgefühl von Opposition und Regierung miteinander verband, zeugt von einem Gefühl, das in der Weimarer Verfassung nicht zum Ausdruck kam: der Idee eines konstruktiven Misstrauensvotums. Anders als bei den systemischen Argumenten, die später die Aufnahme einer solchen Bestimmung in das westdeutsche Grundgesetz begründeten, führte von Lindeiner hier die persönliche Ehre und die Staatsraison ins Feld. Wenn er wirklich ein Kind seiner Zeit war, dann in der Ablehnung von Parteiinteressen.28 Das Einzige, was kein Gewicht haben dürfe, seien parteitaktische Erwägungen: »Ob die Regierungsübernahme für sie Vorteile bringt oder
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26 27 28
Bundesarchiv Lichterfelde (BArch) R 8005 (DNVP/Regierungsbildung (Akten Hergt), 1920–1924)/9 – von Lindeiner an von Bredow, 16. Februar 1922, Bl. 121. Sontheimer, »Antidemokratisches Denken«, S. 53–54. Vgl. Christian F. Trippe, Konservative Verfassungspolitik, 1918–1923. Die DNVP als Opposition in Reich und Ländern, Düsseldorf 1995, S. 190. Raithel, Das schwierige Spiel, S. 92.
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nicht, ob sie es gern tut oder nicht, das alles kann jenem Gesichtspunkte gegenüber gar keine Rolle spielen.«29 Diese Aussage von Lindeiners wirft zumindest die Frage auf, ob sich die zeitweilige Annäherung der DNVP an die Weimarer Republik wirklich am besten mit pragmatischen Erwägungen erklären lässt.30 Aus Sicht der radikaleren Republikgegner innerhalb der DNVP war eine Kooperation mit der Regierung weder pragmatisch noch zielführend. Von Bredows Antwort an von Lindeiner ließ denn auch an Klarheit nichts zu wünschen übrig: »Für das Vaterland und die Partei dürfen persönliche Interessen nicht mitsprechen, in der Politik dürfen Begriffe wie Feigheit oder Verantwortungsgefühl keine ausschlaggebende Rolle spielen. Sie sind Imponderabilien, die eine Rolle spielen, aber keine ausschlaggebende.«31 Solcherlei persönliche Kategorien seien zugunsten des größeren Ganzen, zugunsten von Vaterland und Partei hintanzustellen. Von Bredow hatte klare Vorstellungen von politischem Handeln, und die hatten nichts mit persönlichen Gefühlen oder konservativen Idealen zu tun – leider auch nicht mit parlamentarischer Demokratie. Die Aufgabe der DNVP bestehe darin, das System zum Einsturz zu bringen. Das mochte dauern, aber der Tag der Abrechnung würde kommen, und bis dahin gebe es nichts anderes als »Opposition bis aufs Messer«.32 Die Schärfe dieser Oppositionshaltung wurde durch das Messer noch stärker hervorgehoben: kein Raum für Kompromisse, nur für Blutvergießen. Für von Bredow war die Weimarer Politik offenkundig so weit von konservativen Werten entfernt, dass Verantwortungsbewusstsein weder zu einer sinnvollen Kontinuität der politischen Kultur im Zweiten Reich beitragen noch die Verantwortung für Regierungshandeln beinhalten konnte.
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BA rch R 8005 (DNVP /Regierungsbildung)/9 – von Lindeiner an von Bre-
dow, 16. Februar 1922, Bl. 121. Mergel argumentiert sehr stringent im Sinne dieser Interpretation; vgl. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2005, S. 313–331. BA rch R 8005 (DNVP /Regierungsbildung)/9 – von Bredow an von Lindeiner, 27. Februar 1922, Bl. 120. Hervorhebungen im Original. Ebenda; vgl. auch Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 269.
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Auch wenn das Konzept der Verantwortung nicht alle Parteimitglieder überzeugte und die Weimarer Koalition unter Kanzler Wirth nicht zerbrach, stand die grundlegende Frage der Haltung der DNVP gegenüber der Republik und damit ihres Politikverständnisses weiter im Raum. Im Dezember 1923, kurz nach dem Rückzug der Sozialdemokraten aus der Regierung, sah alles danach aus, als könnte sich noch einmal die Möglichkeit einer »bürgerlichen« Regierung ergeben. Noch einmal mussten die Interessen der Partei und die Verantwortung gegenüber dem großen Ganzen (oder aber einer radikal anderen Zukunft) neu austariert werden. Die in diesem Zusammenhang geäußerten Einstellungen zu Kompromissen und zur demokratischen Regierungsform lassen Rückschlüsse auf die Entwicklung der politischen Kultur von Weimar zu. 1923 benötigten die DNVP-Anführer keinen von Bredow mehr, der sie an ihr Versprechen der »schärfsten Opposition« erinnern musste. Ihnen war sehr wohl bewusst, dass sie Gefangene ihrer eigenen Rhetorik geworden waren. Hans Schlange(-Schöningen), Vorsitzender des einflussreichen DNVP-Landesverbandes der Provinz Pommern und Mitglied des Preußischen Landtags, teilte von Lindeiner mit, die Partei habe sich mit ihrem Wahlspruch vom »grundsätzlichen Wandel« eine Regierungsbeteiligung unmöglich gemacht, zumal Gustav Stresemann mit Sicherheit das Amt des Reichsaußenministers behalten werde. Wie seien das Versprechen vom »grundsätzlichen Wandel« und der angekündigte »rücksichtslose Kampf« gegen Stresemann nun mit einer Regierungsbeteiligung vereinbar? Wenn er, Schlange, auf die Parteibasis höre, werde alles, was die Deutschnationalen in einer Regierung erreichen könnten, »im Volk aber nur für parlamentarische Finessen gehalten«. Die Mitschuld daran trügen die Lügen der »Feindespresse«, die die DNVP bei den Koalitionsverhandlungen als völlig prinzipienlos dargestellt habe.33
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BA rch R 8005 (DNVP /Regierungsbeteiligung)/9 – Schlange an Hergt, 3. De-
zember 1923, Bl. 85; auch Mergel verweist auf die Probleme, die die politischen Gegner mit ihren Anschuldigungen der Sprunghaftigkeit dem Parteiflügel bereiteten, der sich für eine Regierungsbeteiligung aussprach: Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 331.
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Doch von Lindeiner und Hergt ließen sich nicht beirren. Das Problem mit Stresemann war dadurch zu lösen, dass man ihn nicht offiziell bestätigte. Schließlich war die DNVP in dem Wissen in die Verhandlungen zur Regierungsbildung eingetreten, dass die anderen Parteien Stresemanns Kurs fortsetzen wollten. Diese stillschweigende Übereinkunft musste ausreichen, und den anderen Parteien schien es auch zu reichen.34 In der Außenpolitik war die DNVP »bis an die äußerste Grenze der Selbstverleugnung« gegangen und forderte nun im Gegenzug Einfluss in der Innenpolitik: Regierungsbeteiligung der DNVP und Ausschluss der Sozialdemokraten von der Macht in Preußen. Der größte Gliedstaat des Deutschen Reiches mit etwa zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung war politisch und symbolisch von großer Bedeutung. Die Stabilität der dortigen Regierung, die aus den Parteien der Weimarer Koalition bestand, war ein echtes Problem für die DNVP, und ihre Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung mag zum Teil der Hoffnung entsprungen sein, diese Demonstration des Verantwortungsbewusstseins als Druckmittel zu nutzen, um die preußische Regierung umzugestalten. Doch die DDP und große Teile des Zentrums wollten dieser Forderung nicht nachkommen.35 Die Regierungsverhandlungen von 1923 scheiterten, und die Sozialdemokraten unterstützten erneut eine bürgerliche Minderheitsregierung und stimmten dem Reichs-Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 zu, wonach die Reichsregierung bis Ende Februar 1924 ohne Zustimmung durch das Parlament alle für notwendig erachteten Maßnahmen per Verordnung in Kraft setzen konnte. Thomas Raithel hat auf die problematische Vorstellung vom Verhältnis zwischen Parlament und Regierung hingewiesen, die einen Großteil der Weimarer Zeit dominierte und den Einfluss des Reichstags unterminierte und delegitimierte. Er sieht im Ermächtigungsgesetz einen Vorboten dessen, was noch kommen sollte. Doch die Sozialdemokraten begründeten ihre Zustimmung zu dem Gesetz ebenfalls unter Rekurs auf die Verantwortung. Auch wenn die SPD mit ihrer Unterstützung einer Regierung, die den Acht34
BA rch R 8005 (DNVP /Regierungsbeteiligung)/9 – von Lindeiner, Bericht
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über die Regierungsverhandlungen, 1. Dezember 1923, 9, Bl. 72. Ebenda, S. 16, Bl. 79.
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stundentag wieder rückgängig machen wollte, viele aus den eigenen Reihen vor den Kopf stieß, fühlte sie sich verpflichtet, die Republik zu stützen.36 Die Rechnung dafür wurde ihr mit den Wahlen im Mai 1924 serviert. Die wiedervereinigte SPD sackte von 39,5 Prozent (gemeinsames Wahlergebnis von SPD und USPD im Juni 1920) auf 20,5 Prozent ab. Die DNVP, die einzige große Partei, die sich bislang an keiner Regierungskoalition beteiligt hatte, verbesserte sich von 15,1 Prozent auf 19,5 Prozent. Zusammen mit dem Landbund bildete sie nun die größte Fraktion im Reichstag und übernahm von der SPD die Präsidentschaft des Reichstags und den Vorsitz des wichtigen Haushaltsausschusses. Die Gewinne der Deutschnationalen und die Verluste der Sozialdemokraten rückten das Thema »Verantwortung« wieder in den Vordergrund. Unmittelbar nach den Wahlen begannen Gespräche über die Einbindung der DNVP in die Regierung, und deren Parteispitze war reichlich verärgert, als Reichspräsident Ebert nicht Oskar Hergt, immerhin den Vorsitzenden der größten Partei, mit der Regierungsbildung beauftragte, sondern erneut Wilhelm Marx von der Zentrumspartei.37 Diese hatte im Jahr zuvor ihre lautstarke Weigerung, den Kanzler zu stellen, damit begründet, dass man »schon wiederholt die Last der Verantwortung übernommen habe«.38 Dieses Widerstreben, die Regierungslast zu tragen, war nicht zuletzt in den Wahlniederlagen derjenigen Parteien begründet, die die »verantwortungsvollen« Entscheidungen im Jahr zuvor mitgetragen hatten, auch wenn die Zentrumspartei selbst noch relativ gut abgeschnitten hatte. Doch nicht nur die SPD, auch die anderen bürgerlichen Koalitionspartner DVP und DDP hatten herbe Stimmenverluste zu beklagen. Die Deutschnationalen hingegen akzeptierten nach ihrem Wahlergebnis die Logik der Übernahme von Verantwortung. Doch selbst mit ihrem beträchtlichen Stimmenzuwachs und einer echten Chance auf politische Einflussnahme musste die Parteiführung ihren Mitgliedern erst einmal den Gedanken nahe bringen, sich in die36 37 38
Raithel, Das schwierige Spiel, S. 291–295. Vgl. Lewis Hertzman, DNVP. Right-Wing Opposition in the Weimar Republic, 1918–1924, Lincoln 1963, S. 201–203. Zit. nach Raithel, Das schwierige Spiel, S. 310.
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ser Republik an einer Regierungskoalition zu beteiligen. Dies tat sie unter Rekurs auf das Konzept der »Verantwortung«. Im Juni 1924 schrieb Hergt einem Kritiker aus den eigenen Reihen, die Wahlerfolge hätten bei den anderen Parteien Erwartungen geweckt, die man nun erfüllen müsse. Stresemann hatte in der Tat die Hoffnung geäußert, dass sich die DNVP nach den Wahlen verantwortungsbewusster verhalten werde.39 Was nun die im Wahlkampf erhobene Forderung der DNVP nach einem »Kurs-Wechsel« angehe, so sei das so radikal nicht gemeint gewesen. Man verlange keine völlige Abkehr vom Kurs, sondern wolle nur seine Fortsetzung in der bisherigen Form nicht dulden. Die Partei möge die ihr nahestehende Presse entsprechend instruieren. Im Entwurf eines Memorandums fügte Hergt handschriftlich an: »Sinngemäß bedeutete das Wort ›Kursänderungen‹ eine Lösung auf der mittleren Ebene im Sinne eines beiderseitigen Kompromisses.«40 Doch die Kompromissbereitschaft hatte ihre Grenzen, und wieder einmal zeigte sich, wo die Macht im politischen System von Weimar lag: Die Forderung der DNVP nach Neuwahlen in Preußen brachte die Verhandlungen erneut zum Scheitern.41 In einer Reichstagssitzung im Vorfeld der Abstimmung über den Dawes-Plan sprach der DNVP-Abgeordnete Reinhold Quaatz wiederholt von »Erbitterung« darüber, dass »wir planmäßig und absichtlich von dem Maß der Verantwortung zurückgehalten werden, das wir auf uns nehmen wollen«.42 Der Dawes-Plan, gemeinhin als der entscheidende Moment der Krise für die DNVP betrachtet, bot dem verhandlungsbereiten Parteiflügel die Möglichkeit, Kompromiss- und Verantwortungsbereitschaft zu demonstrieren. Zwar sah der Plan eine Minderung der Reparationszahlungen vor, gleichzeitig musste aber auch ein weiterer tiefgehender Eingriff in die Souveränität Deutschlands akzepLarry E. Jones, »Stabilisierung von Rechts. Gustav Stresemann und das Streben nach politischer Stabilität, 1923–1929«, in: Karl Heinrich Pohl (Hg.), Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit, Göttingen 2002, S. 172. 40 BA rch R 8005 (DNVP /Regierungsbeteiligung)/9 – Hergt, 2. Juni 1924, Bl. 4. Hervorhebung im Original. 41 Ebenda. 42 Reichstagsprotokolle, 2. Wahlperiode, 26. Sitzung vom 28. August 1924, S. 1004. 39
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tiert werden, denn Banken und Schlüsselindustrien (insbesondere die Reichsbahn) sollten unter ausländische Aufsicht gestellt werden. Vor allem auf Drängen des Wirtschaftsflügels der Partei und des Reichsverbands der Deutschen Industrie, sie könnten »die Verantwortung für eine Ablehnung des Londoner Abkommens nicht übernehmen«43, stimmten schlussendlich 48 DNVP-Abgeordnete für den Plan (und 52 dagegen). Stresemanns Appelle an die Verantwortung und sein Versprechen (sowie das der Zentrumspartei), der DNVP den Eintritt in die Regierung zu ermöglichen, waren bei dieser Entscheidung ebenso wichtig.44 Ungeachtet der katastrophalen Folgen für den inneren Zusammenhalt der DNVP drängte Hergt seine Partei weiter, sich an der Regierung zu beteiligen. Unmittelbar nach der Abstimmung über den Dawes-Plan schrieb er Kuno Graf von Westarp, einem einflussreichen internen Kritiker der Bemühungen um Regierungsbeteiligung, nun sei es an der Zeit, sich als zuverlässiger politischer Partner zu bewähren.45 Vor der entscheidenden Reichstagssitzung hatte er Reichskanzler Marx vorsorglich wissen lassen, wenn die Fraktion nicht geschlossen für den Plan stimme, demonstriere das lediglich, wie verantwortungsbewusst sich die DNVP als Regierungspartner verhalten werde. Wenn die Abgeordneten in einer solchen Frage tatsächlich ihrem Gewissen folgten und dabei eine Mehrheit die schwierige Entscheidung unterstütze, zeige dies, dass die Deutschnationalen zuverlässige Koalitionspartner sein würden, »die politisch und verantwortungsvoll denken«.46 Dies hatten die DNVP-Abgeordneten bereits im Vorfeld der Abstimmung unter Beweis gestellt, als die Entwürfe den Haushaltsausschuss passieren mussten (dessen Vorsitzender, der Deutschna-
Ebenda S. 1005. Jones, »Stabilisierung von Rechts«, S. 175; BArch R 8005 (DNVP/Regierungsbildung)/10 – DVP-Reichstagsfraktion an DNVP, 28. August 1924, Bl. 115–116: ebenda – Zentrums-Reichstagsfraktion an DNVP, 29. August 1924, Bl. 114. 45 BA rch R 8005 (DNVP/Regierungsbildung)/10 – Hergt an von Westarp, 15. September 1924, Bl. 98–104. 46 BA rch R 8005 (DNVP /Regierungsbildung)/10 – Hergt an Marx, o. D., Bl. 124–126. 43 44
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tionale Ernst Oberfohren, wurde später zum erbitterten Kritiker aller Reparationsvereinbarungen). Anstatt den Vorsitz als rhetorische Bühne zu nutzen, wie es die Ausschussmitglieder der KPD oder Reinhold Wulle (vormals DNVP, nun Mitglied der Deutschvölkischen Freiheitspartei) taten, gaben die DNVP-Delegierten ihre grundsätzliche Ablehnung des Dawes-Plans zu Protokoll, stellten aber klar, dass dieser trotzdem angenommen werden müsse. Zur Privatisierung der Reichsbahn als Sicherheit für die Kredite, einem wichtigen Bestandteil des Plans, unterbreiteten sie konstruktive, wenn auch sehr kleinteilige Vorschläge. Und mit Blick in die Zukunft, also auf die Reparationszahlungen, die für die kommenden vier Jahre reduziert würden, nach 1928 aber umso kräftiger steigen sollten, betonte Hergt, verantwortungsbewusstes Handeln erfordere nunmehr den Aufbau hinreichender Reserven über die nächsten vier Jahre, und drängte die Regierung, dies in ihre Haushaltsplanung aufzunehmen.47 Von Westarp lehnte diesen Kurs und Hergts Argumentation ab: »Sich zu bewähren« sei noch kein hinreichender Grund für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen.48 Doch Hergt und von Lindeiner hielten ihre Zeit für gekommen. Im September schrieb von Lindeiner an Graf von Westarp, angesichts der wachsenden Zustimmung zur Republik im deutschen Volk müsse die DNVP nun an der Macht teilhaben, wenn sie noch irgendeinen Einfluss für das rechte Lager behalten wolle.49 Wenn man bedenkt, dass die republikfreundlichen Parteien kurz zuvor herbe Stimmenverluste hatten hinnehmen müssen, erscheint dieser Ausdruck der politischen Erwartung an und für sich sehr bemerkenswert. Der Wunsch der DNVP -Spitze, die Partei an die Republik zu gewöhnen, enthielt also aus von Lindeiners Blickwinkel durchaus ein beachtliches Maß an Pragmatismus. Doch gerade die innerparteilichen Auseinandersetzungen um das Thema Verantwortlichkeit, um seine Relevanz für
47
BA rch R 101 (Reichstag/Haushaltsausschuss)/1363 – 2. Wahlperiode, 8. Sit-
zung vom 24. Juli 1924, 9, Bl. 275. 48 BA rch R 8005 (DNVP /Regiergungsbildung)/10 – von Westarp an Hergt, 15. September 1924, Bl. 96. 49 BA rch R 8005 (DNVP /Regiergungsbildung)/10 – von Lindeiner an von Westarp, 22. September 1924, Bl. 90–1.
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die demokratische Politik und um seine Auswirkungen zeigen, dass dieser Terminus als Ausdruck eines echten politischen Gefühls durchaus ernst zu nehmen ist. Als aber Reichskanzler Marx den Begriff der »Volksgemeinschaft« bemühte, um auch die Sozialdemokraten in eine große Koalition zu holen, sträubte sich die DNVP und die Koalitionsverhandlungen scheiterten. Hergt musste zurücktreten. Dennoch beteiligten sich die Deutschnationalen in den folgenden Jahren zweimal an der Regierung, das zweite Mal sogar unter von Westarps Führung, und beide Male, ohne dass sie einen Regierungswechsel in Preußen herbeiführen konnten. Im Februar 1927, als die Koalitionspartner der neuen Reichsregierung ihre Erklärungen abgaben, räumte von Westarp für die DNVP ein: »Dass für die praktische Arbeit Kompromisse notwendig waren und weiter notwendig sein werden, ist klar«. Die DNVP sei willens, diese einzugehen, und zwar im »Bewusstsein der Verantwortung« für das Vaterland.50
Schlussfolgerung Alexander Rüstows harsches Wort aus dem Jahr 1929 von der »Verantwortungsflucht« mag durchaus zutreffend gewesen sein. Doch, wichtiger noch, es warf ein grelles Licht auf die Bedeutung dieses Konzepts für die Weimarer Politik. Die Republik konnte sich nicht auf eine solide Basis der Unterstützung ihrer Verfassung verlassen. Stolz auf sie war zwar durchaus vorhanden, aber er reichte nicht als Grundgefühl aus, um politische Gegner einander näher zu bringen. Hier konnten »Verantwortungsbewusstsein« und »Verantwortlichkeitsgefühl« als Konzepte dienen, selbst Skeptiker zu konstruktiver Beteiligung zu bewegen. Doch mehr als nur ein Synonym für pragmatisches Engagement, mehr noch als simple »Vernunft«, war der
50
Reichstagsprotokolle, 3. Wahlperiode, 262. Sitzung vom 3. Februar 1927, S. 8804–8805. Zur Beteiligung der DNVP an Regierungen und Koalitionen mit demokratischen Parteien auf kommunaler Ebene vgl. auch Maik Ohnezeit, Zwischen »schärfster Opposition« und dem »Willen zur Macht«. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) in der Weimarer Republik 1918–1928, Düsseldorf 2011.
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Appell an das Verantwortungsgefühl auch ein Appell an einen anderen, traditionelleren Gefühlshorizont, der Anklänge an Pflicht und Ehre in sich barg, und er überführte diesen Horizont in einen demokratischen Kontext. Das Beschwören dieses Konzepts ließe sich somit als Versuch zögerlicher Republikaner – in diesem Fall führender DNVP-Mitglieder – interpretieren, eine für sie annehmbare politische Ethik zu formulieren. Sie erkannten, dass Machtteilung und Kompromiss für eine demokratische, föderale Verfassung unabdingbar waren. Sie bemühten sich, ein »konservativ-republikanisches« Vokabular zu etablieren, das letztlich zwar nicht stark genug zur Rettung der Republik war, aber doch eine Zeitlang für ihre Stabilisierung sorgte. So trugen diese Politiker, ob gewollt oder ungewollt, zur Entwicklung eines Konzepts bei, das für eine demokratische Politik grundsätzlich von großer Bedeutung ist. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
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Haushaltsordnung und Staatsdenken in der Weimarer Republik
Stefanie Middendorf
Finanzpolitische Fundamente der Demokratie? Haushaltsordnung, Ministerialbürokratie und Staatsdenken in der Weimarer Republik
Als die Reichsregierung im Juli 1930 mit der ersten »Verordnung des Reichspräsidenten zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände« den Haushaltsplan unter Umgehung des Reichstages durchsetzen wollte, wandte sie sich für ein verfassungsrechtliches Gutachten an Carl Schmitt. Dieser hatte bereits in seinem 1927 erschienenen Text »Demokratie und Finanz« in dramatischen Formulierungen auf die Probleme des Parlamentarismus im Bereich der Staatsfinanzen hingewiesen. Im Gegensatz zum Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der dem parlamentarischen Budgetrecht zugrunde liege, versetze die pluralistische Demokratie nicht mehr allein diejenigen, die Steuern zahlten, in die Lage, die Staatsausgaben zu kontrollieren. Die Mehrheit entscheide auch dann über Ausgaben, wenn sie diese nicht aus der eigenen Tasche bezahle. Damit aber seien Finanzfragen »etwas der Demokratie Gefährliches«.1 Auch in anderen Zusammenhängen hatte Schmitt schon in den 1920er Jahren auf die Unfähigkeit des Weimarer Parlamentarismus hingewiesen, den »Volkswillen« und damit demokratische Homo-
1
Carl Schmitt, »Demokratie und Finanz« (1927), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar–Genf–Versailles, 1923–1929, Berlin 1988 [Orig. 1940], S. 85–87, hier: S. 86.
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Stefanie Middendorf
genität abzubilden.2 Entsprechend erklärte sein Gutachten von 1930 das Budgetrecht des Reichstages für ungeeignet, die wirtschaftliche Notlage der Republik zu bewältigen, und für historisch überholt.3 So weit, so wenig überraschend. Doch nicht nur der bekannte Parlamentarismuskritiker Schmitt, sondern auch einer seiner einflussreichen Gegenredner, der linksliberale Staatsrechtler Richard Thoma, legte den Reichsministerien ein Gutachten zu dieser Frage vor.4 Wie Schmitt betonte Thoma, dass die ökonomische Krise unbestreitbar sei, und er hob hervor, dass die Dualität von Präsident und Parlament in diesem Fall eine besondere Stärke der Weimarer Reichsverfassung darstelle. Er kam zu dem Schluss, dass die »gutgläubige Überzeugung« der Reichsregierung von der Notwendigkeit der Verordnung vertrauenswürdig sei und die Maßnahme legitimiere – womit er die in seinen staatstheoretischen Texten entwickelte Theorie der demokratischen Herrschaft als Verantwortung von Eliten pragmatisch umsetzte.5 Hinter der Notverordnungspolitik des Jahres 1930, die gemeinhin als »Einübung der Diktatur« unter Reichskanzler Heinrich Brüning interpretiert wird, standen insofern durchaus unterschiedliche Konzeptionen von demokratischer Entscheidungsfindung und Staatshandeln in der Krise. Als Formen des Krisenmanagements waren zudem Ermächtigungsgesetze und Notstandsmaßnahmen entwickelt worden, allerdings damals unter Beteiligung des Reichstages, bereits wäh2 3
4
5
Carl Schmitt, »Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie« (1926), in: ders., Positionen, S. 52–66. Vgl. Verfassungsrechtliches Gutachten von Prof. Dr. Carl Schmitt über die Frage, ob der Reichspräsident befugt ist, aufgrund des Art. 48 Abs. 2 RV finanzgesetz-vertretende Verordnungen zu erlassen, 28. 7. 1930, Bundesarchiv (BArch) R 43 I/1870, Bl. 220–310. Vgl. Oliver Lepsius, »Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik«, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 366–414, zu Thoma S. 397–398. Rechtsgutachten über die Verfassungsmäßigkeit der Verordnung des Reichspräsidenten zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände vom 26. Juli 1930, erstattet von Richard Thoma, 7. 10. 1930, BArch R 43 I/1870, Bl. 336–384, besonders Bl. 343. Vgl. Christoph Schönberger, »Elitenherrschaft für den sozialen Ausgleich. Richard Thomas ›realistische‹ Demokratietheorie im Kontext der Weimarer Diskussion«, in: Gusy, Denken, S. 156–190.
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Haushaltsordnung und Staatsdenken in der Weimarer Republik
rend der Präsidentschaft des Sozialdemokraten Friedrich Ebert.6 Ähnliches gilt für handlungsleitende Kategorien der Finanzpolitik, wie den »Haushaltsausgleich«, der als Ausweis geordneter Staatstätigkeit von unterschiedlichen Seiten aufgegriffen wurde und widersprüchliche Vorstellungen von Demokratie zum Ausdruck bringen konnte.7 Doch es sind vor allem Schmitts Zeitdiagnosen, die in ihrer Betonung der »Krise des Parlamentarismus« sowie der »Staatskrise« die Forschung zur Weimarer Finanzgeschichte geprägt haben. Insbesondere die seit 1930 betriebene Haushaltssanierung der Regierung Brüning rückte unter dieser Perspektive in den Fokus und wurde als wesentliches Element einer antiparlamentarisch motivierten »Selbstpreisgabe« der Weimarer Demokratie gedeutet.8 Die Borchardt-Kontroverse stellte dem in der wirtschaftlichen Krisenzeit der 1970er und 1980er Jahre die These gegenüber, dass ökonomische »Zwangslagen« den Rückgriff auf Strategien der Kreditschöpfung und damit eine Stabilisierung der Republik verhindert hätten. Die wirtschaftshistorische Betonung der Alternativlosigkeit überlagerte damit die Frage nach politischen Motiven.9 Jüngst ist 6
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Hierzu grundsätzlich Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies [1948], New Brunswick/London 2009; sowie Anna-Bettina Kaiser, »Die Verantwortung der Staatsrechtslehre in Krisenzeiten – Art. 48 WRV im Spiegel der Staatsrechtslehrertagung und des Deutschen Juristentages 1924«, in: Ulrich Jan Schröder/Antje von Ungern-Sternberg (Hg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, Tübingen 2011, S. 119–142; Sylvia Eilers, Ermächtigungsgesetz und militärischer Ausnahmezustand zur Zeit des ersten Kabinetts von Reichskanzler Wilhelm Marx 1923/1924, Köln 1988; Peter Blomeyer, Der Notstand in den letzten Jahren von Weimar, Berlin 1999, besonders S. 67–82. Dies dokumentiert Kurt Heinig, Das Budget, 3 Bde., Tübingen 1949/51. Hierzu insbesondere Karl-Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, Kölner Kolloquium der Fritz Thyssen Stiftung, Juni 1979, Düsseldorf 1980; Heinrich-August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930–1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992; Karl-Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1960. Als Überblick über die einschlägigen Beiträge der Kontroverse vgl. Albrecht Ritschl, »Knut Borchardts Interpretation der Weimarer Wirtschaft. Zur Geschichte und Wirkung einer wirtschaftsgeschichtlichen Kontroverse«, in:
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dagegen die Rolle Brünings als Spardiktator und damit als aktiver Totengräber der Demokratie noch einmal akzentuiert worden.10 Die in solchen Debatten verhandelte Kritik an den zeitgenössisch Verantwortlichen bildete jenseits des fachwissenschaftlichen Horizontes auch ein wesentliches Fundament der Gründungserzählung der Bonner Republik, die auf der Abgrenzung vom Weimarer Staat beruhte.11 Daraus bezog diese Forschungsdiskussion einen bedeutenden Teil ihrer Wirkmacht. In der unterdessen nicht mehr von Weimar her legitimierten, aber erneut von vergleichbaren ökonomischen Krisenerfahrungen gekennzeichneten bundesrepublikanischen Gegenwart, die stärker auf internationale Zusammenhänge blickt, entstehen neue Forschungsfragen. In diesem Zuge erfahren Aspekte historischer Kontingenz, Phänomene der Unbestimmtheit und der »Umgang mit Unsicherheit« in der Geschichte der ersten deutschen Demokratie Aufmerksamkeit. Zudem erscheinen nicht länger nur die Ursachen des Verfalls, sondern auch die möglichen konstruktiven Potenziale und »Lebensversuche« von Demokratien unter den schwierigen ökonomischen Verhältnissen der Zwischenkriegszeit beachtenswert – gerade auch dann, wenn sie nicht überall gleichermaßen erfolgreich waren.12 Nach der zwischenzeitlichen Infragestellung des
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Jürgen Elvert/Susanne Krauß (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen, 2001, Stuttgart 2003, S. 234–244; die Zwangslagen betonte auf der Basis umfangreicher Berechnungen zuletzt noch einmal Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002. Vgl. Paul Köppen, »›Aus der Krankheit konnten wir unsere Waffe machen‹. Heinrich Brünings Spardiktat und die Ablehnung der französischen Kreditangebote 1930/31«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62, (2014), H. 3, S. 349–375; sowie die kritische Replik von Knut Borchardt, »Die Alternative zu Brünings Sparkurs? Zu Paul Köppens Erfindung französischer Kreditangebote«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), H. 2, S. 229–239. Vgl. auch Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009. Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014. Speziell zur Geschichte der Weltwirtschaftskrise auch Werner Plumpe, »Die gegenwärtige Wirtschaftskrise in historischer
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keynesianischen Paradigmas interessiert der Zusammenhang von Finanzpolitik und Demokratie auch weniger als modellhaft zu beantwortende Grundsatzfrage denn als erfahrungsgeschichtlicher Prozess, der von pragmatischen Positionsverschiebungen und flexiblen Strategien geprägt war. Das »krisenhafte Experimentieren« mit politischen Handlungsoptionen und demokratischen Ansprüchen, das in der Weimarer Republik wie in anderen europäischen Ländern in der Zwischenkriegszeit zu beobachten war, gewinnt als Etappe einer längeren Problemgeschichte der Demokratie so an Bedeutung.13 Ökonomische Krisen bilden darin nicht länger nur Zeitpunkte politischen Versagens, sondern werden als komplexe Momente kurzfristigen Lernens und möglicher Kreativität interpretiert.14 So gab es auch in der Weimarer Finanzpolitik neben offen antidemokratischen Programmen Versuche, den demokratischen Staat zunächst als solchen krisenfähiger zu machen, das heißt seine spezifischen Strukturen nicht zu überwinden, sondern zu reformieren oder zu disziplinieren. Um diese nicht selten widersprüchlichen Versuche soll es im Folgenden gehen. Es wird dafür nicht nur die Haltung der Weimarer Spitzenpolitiker beleuchtet, welche die Engführung vieler Forschungen auf Reichskanzler Brüning (der sich in seinen Memoiren als strategisch agierende Führungspersönlichkeit inszenierte) mit sich bringt.15 Ebenso entscheidend er-
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Perspektive«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 5/6 (2010), S. 284–297; Werner Abelshauser, »Aus Wirtschaftskrisen lernen – aber wie? Krisenszenarien im Vergleich«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), H. 4, S. 467–483, hier: S. 467; Harold James, »Finance is History!«, in: European Review of History/Revue européenne d’histoire 19 (2012), H. 6, S. 1021–1026. Mit Bezug auf entsprechende Thesen Pierre Rosanvallons: Lutz Raphael, »Demokratiegeschichte als Problemgeschichte und Gegenwartsanalyse. Das Werk Pierre Rosanvallons«, in: Neue Politische Literatur (2013), H. 1, S. 7–20, hier: S. 12. Vgl. Joris Gijsenbergh u.a. (Hg.), Creative Crises of Democracy, Brüssel 2012; sowie Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Unregelmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen 1993. Vgl. Heinrich Brüning, Memoiren 1918–1934, Stuttgart 1970; Andreas Rödder, »Dichtung und Wahrheit. Der Quellenwert von Heinrich Brünings Memoiren und seine Kanzlerschaft«, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), H.1, S. 77–116.
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scheint die Rolle der Ministerialbürokratie, die die politischen Entscheidungsprogramme vorbereitete, Expertisen bereitstellte und in den Institutionen der parlamentarischen Demokratie mit verhandelte.16 Das Verhalten der höheren Beamtenschaft in der Weimarer Republik sowie im Übergang zur nationalsozialistischen Diktatur ist Gegenstand vielschichtiger Forschungsdebatten gewesen. Gerade für den Bereich der Finanzpolitik ist darin herausgearbeitet worden, wie fachpolitische Entscheidungen vonseiten der Ministerialen genutzt wurden, um Machtverschiebungen zugunsten der Exekutive, eine generelle »Bürokratisierung der Politik« und Vorstellungen eines »neuen Staates« durchzusetzen.17 Doch finden sich auch Interventionen der Ministerialbürokratie, die für die Konstituierung und Stabilisierung der Weimarer Demokratie bedeutsam waren, insbesondere im unmittelbaren Übergang von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft und in den ersten Jahren der Republik. In dieser Frühphase flossen finanzpolitische Überlegungen in Entwürfe für eine Modernisierung der staatlichen Wirtschafts-
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Für die Vorbereitung des Sparprogramms unter Brüning in den Ministerien vgl. beispielsweise Peter Hüttenberger, »Aufbau und Ressourcen der deutschen Staatsverwaltung 1930–1934«, in: Die Verwaltung und ihre Ressourcen. Untersuchungen zu ihrer Wechselwirkung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte, Hofgeismar 13. 3.–15. 3. 1989, Berlin 1991 (= Der Staat, Beiheft 9), S. 111–147, hier: besonders S. 123f. Für die Weimarer Zeit Hans Mommsen, »Staat und Bürokratie in der Ära Brüning«, in: Gotthard Jasper (Hg.), Tradition und Reform in der deutschen Politik. Gedenkschrift für Waldemar Besson, Frankfurt am Main 1976, S. 81–137; Rudolf Morsey, »Beamtenschaft und Verwaltung zwischen Republik und ›Neuem Staat‹«, in: Erdmann/Schulze (Hg.), Weimar, S. 151–168; in systemübergreifender Perspektive auch Jane Caplan, Government without Administration. State and Civil Service in Weimar and Nazi Germany, Oxford 1988; dies., »Profession as Vocation. The German Civil Service«, in: Geoffrey Cocks/Konrad Jarausch (Hg.), German Professions, 1800–1950, Oxford 1990, S. 163–182; Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996; Dieter Rebentisch, »Verfassungswandel und Verwaltungsstaat vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung«, in: Jürgen Heideking u.a. (Hg.), Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz, Berlin/New York 1989, S. 123–150.
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politik unter demokratischen Bedingungen ein.18 Auch in den nachfolgenden Jahren kamen aus der Ministerialbürokratie Vorschläge für eine Veränderung demokratischer Strukturen angesichts einer beständig schwierigen Wirtschaftslage. Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass es ein Projekt demokratischer Finanzpolitik bei den beteiligten Ministerialen im Finanzressort zu entdecken gäbe.19 Anhand der Haltung der Ministerialbürokratie in Finanzfragen wird aber die Relevanz der prozessualen und pragmatischen (weniger programmatischen oder konzeptionellen) Elemente demokratischen Handelns in der Krise erkennbar. Zugleich bieten sich hier Anknüpfungspunkte für eine Geschichte demokratisch organisierter Staatsfinanzen im 20. Jahrhundert, in der die Weimarer Zeit ein Erfahrungsreservoir für die spätere Politik darstellte. Im Fokus stehen soll im Folgenden das Agieren des Reichsfinanzministeriums im Bereich der Haushaltspolitik, der seit der Gründung der Weimarer Republik eine besondere gesellschafts- und verfassungspolitische Bedeutung zukam.20 Gefragt wird danach, wie die beteiligten Akteure zu ihrem Verständnis der historischen Situation kamen und wie dieses Verständnis ihr Handeln beeinflusste. Die Suche nach tragfähigen finanzpolitischen Fundamenten der Demokratie 18
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Hierzu Peter-Christian Witt, »Staatliche Wirtschaftspolitik in Deutschland 1918–1923. Entwicklung und Zerstörung einer modernen wirtschaftspolitischen Strategie«, in: Gerald D. Feldman u.a. (Hg.), Die deutsche Inflation. Eine Zwischenbilanz, Berlin/New York 1982, S. 151–179, besonders S. 161; ders., »Bemerkungen zur Wirtschaftspolitik in der ›Übergangswirtschaft‹ 1918/1919. Zur Entwicklung von Konjunkturbeobachtung und Konjunktursteuerung in Deutschland«, in: Dirk Stegmann/Bernd-Jürgen Wendt/ Peter-Christian Witt (Hg.), Industrielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte. Festschrift für Fritz Fischer zum siebzigsten Geburtstag, Bonn 1978, S. 79–96. Anders gestaltete sich dies im Reichswirtschaftsministerium, wo es eine profilierte Gruppe programmatischer Reformer gab, vgl. dazu den Beitrag von Tim B. Müller in diesem Band; sowie ders., »Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), H. 4, S. 569–601. Hierzu Peter-Christian Witt, »Finanzpolitik als Verfassungs- und Gesellschaftspolitik. Überlegungen zur Finanzpolitik des Deutschen Reiches in den Jahren 1930 bis 1932«, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), H. 3, S. 386–414.
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soll insofern als ein »Nacheinander von Gegenwarten« (Pierre Rosanvallon) verstanden werden und weniger als eine Vorgeschichte der Diktatur.21
Ministerialbeamte und der Pragmatismus der Staatsbejahung In den ersten Jahren der Weimarer Republik konzentrierte sich die Beamtenschaft des Reichsfinanzministeriums auf die administrative Ausgestaltung des zentralisierten Steuerstaates und verwaltungsreformerische Maßnahmen als Schritte zu einer umfassenden Reichsreform. Diese Unternehmungen – insbesondere die Steuerreformen unter Matthias Erzberger – waren für die Stabilisierung der Weimarer Demokratie wichtig, sie wurden von den Ministerialen aber zum Teil schon vor 1918 im Reichsschatzamt vorbereitet.22 Insgesamt waren das 1919 gegründete Ministerium und die ihm unterstellten Behörden bis in die Mitte der 1920er Jahre stark mit organisatorischer Selbstfindung befasst.23 Die Begründung einer reichsweiten 21
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Pierre Rosanvallon, »Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des Politischen. Antrittsvorlesung am Collège de France, 28. März 2002«, in: Mittelweg 36 12 (2011), H. 6, S. 43–66, hier: S. 49f. Hierzu etwa die Denkschriften von Johannes Popitz und Graf Siegfried von Roedern aus den Jahren 1917/18, vgl. Jürgen W. Hidien, Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland. Geschichtliche und staatsrechtliche Grundlagen, Baden-Baden 1999, S. 230–231. Zur Reformdebatte vgl. Peter Collin, »Staatsfinanzkrisen und Verwaltungsreformen. Das Beispiel der Weimarer Republik«, in: Christian Rühr (Hg.), Staatsfinanzen. Aktuelle und grundlegende Fragen in Rechts- und Verwaltungswissenschaft. Liber discipulorum Maximilan Wallerath, Baden-Baden 2007, S. 123–142. Zeitgenössisch Erwin Ritter, Von der öffentlichen Verwaltung. Gedanken zum Aufbau und Umbau, Berlin 1921, zur Finanzverwaltung S. 30–43; Kurt Ball, »Organisationsprobleme der Finanzverwaltung. Ein Beitrag zur Verwaltungslehre«, in: Vierteljahrsschrift für Steuer- und Finanzrecht 1 (1927), H. 3, S. 523–549; Rudolf Bergmann, Die Kosten der Reichsfinanzverwaltung, Jena 1933. Insgesamt auch Peter-Christian Witt, »Reichsfinanzminister und Reichsfinanzverwaltung. Zum Problem des Verhältnisses von politischer Führung und bürokratischer Herrschaft in den Anfangsjahren der Weimarer Republik (1918/19–1924)«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1975), H. 1, S. 1–61.
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Administration der Staatsfinanzen musste gegenüber den Ländern dabei durch Hervorhebung ihrer politischen Neutralität abgesichert werden. Insofern betonten die Beamten, dass ihre »Reichseigenheit« eine spezifische Beständigkeit bedeute, die »in langsamer und mühevoller Arbeit ungeachtet aller Voreingenommenheiten und Widerstände das Vertrauen der Bevölkerung« erringen könne.24 Diese Selbstbeschreibung war nicht als eine demokratische angelegt. Die Forschung hat daher dazu tendiert, die zugrunde liegende Haltung als Ausdruck einer politisch konservativen Position anzusehen, beruhend auf Belegen für die Kontinuität des entsprechenden Personals und seiner parteipolitischen Zugehörigkeiten seit dem Kaiserreich. Die Tatsache, dass eben diese Haltung nach 1930 die antiparlamentarische Regierung mittels Notverordnungen stützte, beförderte diese Lesart administrativer »Sachlichkeit« und »Überparteilichkeit«.25 Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, dass die Distanzierung von parteilichen Überzeugungen bei der Ministerialbürokratie bis 1930 die Bildung konstruktiver Mehrheiten zwischen konkurrierenden Parteien ermöglichen und insofern ein stabilisierendes Element innerhalb des fragilen und fragmentierten parlamentarischen Systems darstellen konnte.26 Gerade solche tak24
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Enno Becker, »Stellung und Aufgabe der akademisch gebildeten Finanzbeamten im Hinblick auf Rechtsschutz und Rechtsverwirklichung«, in: Vierteljahrsschrift für Steuer- und Finanzrecht 1 (1927), H. 1, S. 250–259, hier: S. 252, 255. Vgl. auch Franz Menges, Reichsreform und Finanzpolitik. Die Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit Bayerns aus finanzpolitischem Wege in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1971, besonders S. 137–141. Hierzu Peter-Christian Witt, »Konservatismus als ›Überparteilichkeit‹. Die Beamten der Reichskanzlei zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik 1900–1933«, in: Dirk Stegmann/Bernd-Jürgen Wendt/Peter-Christan Witt (Hg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer zum 75. Geburtstag und zum 50. Doktorjubiläum, Bonn 1983, S. 231–280; sowie Willibald Steinmetz, »Anbetung und Dämonisierung des ›Sachzwangs‹. Zur Archäologie einer deutschen Redefigur«, in: Michael Jeismann (Hg.), Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt am Main 1995, S. 293–333, zur (Finanz)Bürokratie besonders S. 301–306. Dies erläutert auch Witt, Konservatismus, S. 255; ders., »Kontinuität und Diskontinuität im politischen System der Weimarer Republik. Das Verhältnis von Regierung, Bürokratie und Reichstag«, in: Gerard A. Ritter (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848
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tischen Ad-hoc-Bündnisse konnten angesichts der häufig unklaren Mehrheitsverhältnisse in der Weimarer Zeit politikgestaltendes Potenzial entfalten.27 Zudem war der Glaube an die Effizienz einer »unparteiischen« Führung in Krisensituationen auch in demokratischen Kreisen verbreitet.28 Nicht nur von republikfeindlicher Seite wurde daher die in Art. 130 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung festgelegte Formulierung, der Beamte sei Diener der Gesamtheit und nicht einer Partei, aufgegriffen. Auch demokratische Stimmen forderten eine parteipolitische Zurückhaltung und »sachliche« Einstellung der Beamtenschaft. Doch verbanden sie diese Forderung nicht mit einer Absage an den Parlamentarismus und sahen in der Bürokratie auch nicht eine dem »Parteiwohl« prinzipiell übergeordnete Institution des »Staatswohls«.29 Auch hier konnte es aber zu Überschneidungen zwischen vermeintlich konträren Positionen kommen; denn »der Staat« blieb hier wie dort der zentrale Bezugspunkt für die Bestimmung der notwendigen Gesinnung der Beamtenschaft. Sowohl für konservative Verfechter der Staatsidee als »objektivem« Wesen als auch für demokratische Staatsrechtler, die eine Autonomie der »juristischen Staatsperson« vertraten, sollte der Beamte nicht dem Staat in seiner konkreten Erscheinungsform (und, so lässt sich hinzufügen, politischen Umstrittenheit) dienen, sondern einem »Staatswesen an sich«. In dieser Weise ist beispielsweise die Position Gerhard Anschütz’ zu verstehen, eines Befürworters der durch Parteien mediatisierten Volksherrschaft, der schon 1923 schrieb: »Staatsgewalt ist Volkswille« und damit den Staat in die Defini-
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bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 117–148, besonders S. 120–122, 137–139 und 142–143. Vgl. Michael Stürmer, »Koalitionen und Oppositionen. Bedingungen parlamentarischer Instabilität«, in: ders. (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/Taunus 1980, S. 237–253, hier: S. 244. Hierzu Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010, S. 393. Kathrin Groh, »›Von acht bis vier Uhr amtseifriger Republikaner‹ – Die Weimarer Staatsrechtslehre auf der Suche nach Sinn- und Handlungsorientierungen für die ›neutrale‹ Bürokratie«, in: Peter Collin/Klaus-Gert Lutterbeck (Hg.), Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.), Baden-Baden 2009, S. 197–214, hier: S. 198f. und 214.
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tion des demokratischen Prinzips aufnahm. Für Anschütz war die Staatsbejahung elementarer Bestandteil eines »Ethos der Demokratie«.30 Ähnliches galt für Thoma, der die parlamentarische Demokratie ebenfalls in den Dienst am Staat als solchen stellte und diesen Staat über seine »Leistungsfähigkeit« im Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Interessen legitimierte.31 Solche Positionen beeinflussten, wie eingangs gesehen, die Entscheidungsfindung innerhalb der Ministerialbürokratie. Generell war in der Weimarer Republik für die Beamtenschaft aber oft unklar, was systemkonform war.32 Der »Staat« konnte insofern eine Orientierung in unsicheren Handlungsbedingungen darstellen, in denen die Grenzen der Demokratie erst noch abzustecken waren. Dies wird exemplarisch an Arnold Brecht erkennbar, der seit 1927 im preußischen Staatsministerium für die Abstimmung der Haushaltspolitik zwischen Reich und Ländern zuständig war. Der Verwaltungs- und Verfassungsstaat stellte für den Demokraten Brecht die entscheidende Richtlinie bürokratischen Handelns dar.33 Die politischen Protagonisten dieser Zeit, so erklärte Brecht seine Position nach 1945, seien überzeugt gewesen, dass die vorhandenen parlamentarischen Verfahrensweisen sowie die Verfassungsbestim30 31
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Ebenda, S. 3, 68 und 205f.; Gerhard Anschütz, Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923, S. 30–32. Groh, Staatsrechtslehrer, S. 72; Richard Thoma, »Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der Gegenwart«, in: Melchior Palyi (Hg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. II, München/Leipzig 1923, S. 39–64. Vgl. Morsey, Beamtenschaft, S. 157. Zu Brecht vgl. Claus-Dieter Krohn/Corinna Unger (Hg.), Arnold Brecht 1884–1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006; Hannah Bethke, Das politische Denken Arnold Brechts. Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2013. Zu Brechts Rolle als Finanzexperte vgl. seinen Haushaltsbericht im Reichsrat, 16. April 1930, BArch R 2/21890; sowie Jürgen Kähler, »Das Brecht’sche Gesetz der Staatsausgaben«, in: Krohn/Unger, Arnold Brecht, S. 83–106, besonders S. 84. Kritischer mit Blick auf Brecht Michael Ruck, »Patriotischer Institutionalismus und bürokratische Modernisierung – Arnold Brecht als Verwaltungsreformer in der Weimarer Republik«, in: Eberhard Laux/Karl Teppe (Hg.), Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700, Stuttgart 1998, S. 177–202.
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mungen nicht ausreichten, um die antidemokratische Bevölkerungsmehrheit zu integrieren. Daher hätten sie auf »autoritäre« Strategien zurückgegriffen, die an die Stärke monarchischer Führung gemahnten, zugleich aber die demokratischen Regeln beachteten.34 Solche Formen der »disziplinierten Demokratie« aber wurden zeitgleich auch in anderen europäischen Gesellschaften diskutiert und dort durchaus als Versuche der Rettung – nicht der Infragestellung – demokratischer Strukturen in Krisenzeiten interpretiert.35 Ähnlich vielschichtige Befunde ergeben sich auch bei einem Blick auf Hans Schäffer, seit 1929 Staatssekretär im Reichsfinanzministerium und Vordenker der Brüning’schen Sparpolitik. Sich selbst bezeichnete Schäffer als »links über den Parteien stehend«.36 Haushaltssanierung verstand er als Vorbedingung demokratischer Stabilisierung durch internationale Kreditwürdigkeit und begründete sie auch aus der gescheiterten Steuersenkungs- und Anleihepolitik unter dem vorherigen sozialdemokratischen Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding. Diese hatte Ende 1929 zu einer Regierungskrise geführt und die Institutionen der Weimarer Demokratie durch ihre Abhängigkeit von der Reichsbank öffentlich beschädigt. An dieser Politik, die zur Wirtschaftsstabilisierung auch ein Haushaltsdefizit in Kauf genommen hätte, beteiligt gewesen war Schäffers Amtsvorgänger Johannes Popitz, der in der Folge – nach seinem Ausscheiden aus dem Ministerium – gemeinsam mit Carl Schmitt als Kritiker des parlamentarischen Systems in der Finanzpolitik agierte. Schäffers bekanntes Diktum »Kasse geht vor Haushalt, Haushalt geht vor Wirtschaft« von 1932 ist insofern zwar ein Beleg für den Primat der Haushaltssanierung unter Brüning, aber nicht für eine antipar-
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Arnold Brecht, »Democracy – Challenge to Theory«, in: Social Research 13 (1946), H. 2, S. 195–224, besonders S. 214–217; ders., »Gedanken über den Verlust einer prodemokratischen Mehrheit unter einer demokratischen Staatsverfassung«, in: Carsten Peter Claussen (Hg.), Neue Perspektiven aus Wirtschaft und Recht. Festschrift für Hans Schäffer zum 80. Geburtstag am 11. April 1966, Berlin 1966, S. 457–467. Vgl. Joris Gijsenbergh, »Crisis of Democracy or Creative Reform? Dutch Debates on the Repression of Parliamentary Representatives and Political Parties, 1933–1940«, in: ders., Creative Crises, S. 237–268, hier: besonders S. 265. Zit. nach Claussen (Hg.), Perspektiven, , S. 9.
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lamentarische oder antidemokratische Überzeugung Schäffers.37 Zudem zeigte sich Schäffer durchaus aufgeschlossen für finanzpolitische Neuerungen und Ideen einer aktiven Konjunkturpolitik, die unter jüngeren Ökonomen und Ministerialbeamten diskutiert wurden. Deren Aufnahme in die Regierungspolitik lehnte er im Herbst 1931 jedoch mit der Begründung ab, dass man die Ängste der Bevölkerung vor einer Inflation nicht schüren und damit weiteren Vertrauensverlust riskieren dürfe.38 Das per Notverordnung durchgesetzte Deckungsprogramm von 1930 stammte in einer ersten Version aus Schäffers Feder, es sah zunächst Erhöhungen der Einkommenssteuer und der Sozialabgaben vor, was den Forderungen der SPD entsprochen hätte. Dem Instrument der Notverordnungen stand Schäffer gleichwohl kritisch gegenüber und brach schließlich Anfang 1932 mit Brüning, als ihm dessen Politik zunehmend »taktisch« erschien und die verfassungsmäßige Ordnung auszuhebeln begann.39 Insofern waren aufseiten der Ministerialbürokratie keineswegs nur reaktionäre Staatsvorstellungen handlungsleitend. Sowohl in den anlagernden staatsrechtlichen Diskussionen als auch in den Selbstbeschreibungen der »Krisenmanager« fanden sich Ansatzpunkte für eine pragmatische, den Herausforderungen einer finanzpolitischen Fundierung der Demokratie gegenüber aufgeschlossene 37
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Hans Schäffer, »Ein Vademecum für Staatssekretäre und solche, die es werden wollen. Eindrücke und Erfahrungen, Mai 1932«, abgedruckt in: Eckhard Wandel, Hans Schäffer. Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen, 1886–1967, Stuttgart 1974, S. 298–307, hier: S. 302. Vgl. Knut Borchardt, Einleitung, in: ders./Hans Otto Schötz (Hg.), Wirtschaftspolitik in der Krise. Die (Geheim-)Konferenz der Friedrich-List-Gesellschaft im September 1931 über Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung, Baden-Baden 1991, S. 17–50, hier S. 49f. Für Schäffers Krisenmanagement auch seine »Gedanken zur Krisenbekämpfung, 2. Sept. 1931«, abgedruckt in: Wandel, Schäffer, S. 307–315; sowie Hans Staudinger, Wirtschaftspolitik im Weimarer Staat. Lebenserinnerungen eines politischen Beamten im Reich und in Preußen 1889–1934, Bonn 1982, besonders S. 88, 93f. Vgl. Wandel, Hans Schäffer, S. 181; sowie die Einschätzung von Andreas Wirsching, in: Andreas Rödder, »Reflexionen über das Ende der Weimarer Republik. Die Präsidialkabinette 1930–1932/33. Krisenmanagement oder Restaurationsstrategie?«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), H. 1, S. 87–102, hier: S. 92.
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Haltung – selbst, wenn diese Haltung kritisch gegenüber dem Parlamentarismus war. Prägend war dafür das zwiespältige Konzept der »Unparteilichkeit« der Beamtenschaft, das politische Bezüge verschleiern, aber als Form der Institutionalisierung von Unabhängigkeit in der Weimarer Krisengesellschaft auch legitimierend wirken konnte.40 Als Letztbegründung kreiste es um den »Staat an sich«, nicht um die Demokratie. Gleichwohl konnten vor diesem Hintergrund Lösungsansätze wie die strikte Haushaltssanierung oder die Stärkung der Exekutive, die in den letzten Jahren der Weimarer Republik zur Aushebelung des parlamentarischen Systems und zum Aufstieg der Diktatur beitrugen, unter Experten und Ministerialbeamten zunächst als Strategien einer systemimmanenten Reform demokratischer Staatsfinanzen verstanden werden.
Haushaltsordnung und die Reform des parlamentarischen Budgetrechts Die Konturen solcher staatsbejahenden Handlungsprogramme zeigen sich, wenn man die Vorschläge betrachtet, die von der Ministerialbeamtenschaft, parlamentarischen Eliten und der Wissenschaft im Bereich der Haushaltspolitik vorgelegt wurden. Exemplarisch dafür kann der Finanzwissenschaftler Fritz Neumark stehen, der nach seinem Wechsel vom Reichsfinanzministerium in eine akademische Karriere seit Anfang der 1920er Jahre grundlegende Studien zu Budgetrecht und Haushaltsplanung veröffentlichte. Neumark, der 1933 emigrieren musste, wurde damit zum Mitbegründer einer demokratischen Haushaltstheorie. Mit Blick auf den Bedeutungszuwachs der öffentlichen Haushaltsführung für die Wirtschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts betonte er später, die »moderne parlamentarische Demokratie« sei »vor eine schwere Aufgabe gestellt […], wenn sie versuchen will, auf der einen Seite die nötigen Voraussetzungen für eine wirksame und geschmeidige Wirtschaftsund Finanzpolitik zu schaffen, ohne auf der andern auf ihr Recht, die Exekutive einer strengen, laufenden Kontrolle zu unterstellen, 40
Hierzu differenziert Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe, Hamburg 2010, besonders S. 93–150.
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zu verzichten«.41 Damit umriss Neumark rückblickend ein Kernproblem der Weimarer Haushaltspolitik. Schon seit den frühen Tagen der Republik hatte es Bestrebungen gegeben, das legislative Entscheidungsverfahren ebenso wie die exekutive Praxis in der Haushaltspolitik präziser zu ordnen. Eines der bedeutsamsten Ergebnisse war die Reichshaushaltsordnung (RHO) von 1922, welche dem Finanzminister weitreichende Vetorechte verlieh. Während der Reichstagsdebatte über die RHO betonte der berichterstattende Abgeordnete, dass dieses Gesetzeswerk einen fünfzig Jahre währenden Konflikt beende und den »Volkswillen« zu einem sparsamen und wirtschaftlichen Staatswesen erfülle, also Ausdruck demokratischer Prinzipien sei.42 Die RHO wurde vom Parlament insgesamt begrüßt und die den Reichsfinanzminister betreffenden §§ 20 und 21 mit verfassungsändernder Mehrheit angenommen. Nur wenige Stimmen sahen darin einen Widerspruch zu »der Ratio und dem Ethos des parlamentarischen Systems« und eine Ausschaltung der »lebendigen Volkskräfte« der Demokratie.43 Dass diese gesetzgeberische Maßnahme allein aber nicht ausreichte, um eine rechtzeitige Verabschiedung des Reichshaushalts und eine geordnete Haushaltsführung sicherzustellen, wurde in den folgenden Jahren ersichtlich.44
Fritz Neumark, »Theorie und Praxis der Budgetgestaltung«, in: Wilhelm Gerloff/ders. (Hg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1: Wesen und Aufgabe der Finanzwissenschaft, ihre Stellung und Beziehungen zu anderen Wissenschaften, Geschichte der öffentlichen Finanzwirtschaft, Geschichte der Finanzwissenschaft, die öffentliche Haushaltswirtschaft, 2. völlig neubearb. Aufl., Tübingen 1952, S. 554–605, hier: S. 604f. 42 Bericht des Abgeordneten Dr. Schreiber (Zentrum), in: Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, 282. Sitzung, 14. 12. 1922, S. 9339. 43 Friedrich Glum, Die staatsrechtliche Stellung der Reichsregierung sowie des Reichskanzlers und des Reichsfinanzministers in der Reichsregierung, Berlin 1925, S. 52. 44 Hierzu die diversen Befunde zu Haushaltsplanung bei Claus-Dieter Krohn, Stabilisierung und ökonomische Interessen. Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1923–1927, Düsseldorf 1974; Ilse Maurer, Reichsfinanzen und Große Koalition. Zur Geschichte des Reichskabinetts Müller (1928–1930), Bern u.a. 1973; sowie Ursula Bachmann, Reichskasse und öffentlicher Kredit in der Weimarer Republik, 1924–1932, Frankfurt am Main 1996. 41
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In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden daher kleinere Reformen im Budgetmanagement unternommen, welche die Legitimität der Staatsfinanzen absichern sollten. Angesichts der im Inland wie im Ausland (insbesondere durch die Berichte des Reparationsagenten Parker Gilbert) anwachsenden Kritik an der Undurchsichtigkeit der Staatsausgaben publizierte die Regierung seit 1927 sogenannte »finanzielle Überblicke« über den Reichshaushalt, um eine Orientierung für die parlamentarische und allgemeine Öffentlichkeit zu ermöglichen.45 Seit 1928 wurden auf Drängen der Sozialdemokraten übertragbare Ausgabereste, Selbstbewirtschaftungsmittel sowie Abweichungen vom Bruttoprinzip durch Rückeinnahmen in den Haushaltsplänen dokumentiert, um die parlamentarische Kontrolle über diese in ihrem Umfang nicht unbeträchtliche »Verschiebemasse« der Exekutive im Reichshaushalt zu erleichtern. Weniger erfolgreich war man hingegen bei der Einschränkung von Sammelfonds und sonstigen Verfügungshaushalten.46 Diese wurden in ihrer Tendenz zur »Flucht aus dem Budget« erst nach dem Zweiten Weltkrieg von der Finanzwissenschaft als fiskalische Normalität moderner »pluralistischer« Gesellschaften anerkannt. In der Weimarer Zeit galten sie hingegen – etwa bei Fritz Karl Mann, Johannes Popitz oder Carl Schmitt – als gravierende, durch straffere Organisation zu überwindende Fehlfunktionen des parlamentarischen Staatswesens und als Ausdruck der inneren Schwäche des Weimarer Wirtschaftsstaates.47 Auch vonseiten wirtschaftlicher Interessengruppen verschärfte sich daher die Kritik am staatlichen Haushaltsgebaren und die Forderung nach schärferer Vgl. Reichsminister der Finanzen, Finanzieller Überblick über den Haushalt, Berlin 1929–1932; sowie Überblicke über den Entwurf der Reichshaushaltspläne für 1927 und 1928, RT-Drucksache Nr. 2892, III. Wahlperiode, 1924/27, 4. 1. 1927 sowie RT-Drucksache Nr. 361, IV. Wahlperiode 1928, 31. 8. 1928. 46 Vgl. Hugo Heimann, Der Reichshaushalt. Grundlagen, Inhalt und Bedeutung, Berlin [1928], S. 35. 47 Hierzu Christian Smekal, Die Flucht aus dem Budget, Wien 1977; Fritz Karl Mann, »Die intermediären Finanzgewalten und ihr Einfluss auf Deutschlands finanzielle Belastung«, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 129 (1928), S. 219–238; Lutz-Arwed Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt. Zur wirtschaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland, München 1972. 45
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Budgetkontrolle durch den Reichssparkommissar, Reichsrechnungshof oder einen mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Reichsfinanzminister.48 Dem hielt Neumark mit seiner 1929 publizierten haushaltstheoretischen Habilitationsschrift ein Plädoyer für »wahre Demokratie« im Finanzwesen entgegen.49 Prinzipien der Haushaltsplanung – etwa Budgetgleichgewicht, Vollständigkeit, Einheit, Klarheit, Vorherigkeit und Öffentlichkeit – wurden darin als grundlegende demokratische Erfordernisse beschrieben. Hierbei orientierte er sich an der republikanischen, verwaltungswissenschaftlich angelegten Budgettheorie in Frankreich mit ihrer starken Stellung des Finanzministers im Kabinett.50 Das Vetorecht des Finanzministers wie auch das Budgetrecht des Parlaments sah Neumark als »wirksamen Schutz« gegen »finanzpolitisch irrationale Willkürlichkeiten von Regierung und Verwaltung« und die Budgetdebatten als Mittel, um »die Übereinstimmung der Meinungen zwischen Regierung und Reichstag aufrechtzuerhalten«.51 Angesichts der erwähnten Schwierigkeiten der deutschen Volksvertretung, überhaupt stabile Regierungsmehrheiten zu bilden und rechtzeitig ein jährliches Reichsbudget zu verabschieden, war hier sicher ein gewisser »Überschwang« im Hinblick auf die Handlungsspielräume des parlamentarischen Systems in Deutschland erkennbar, wie er auch für die zeitgleich laufende staatsrechtliche Debatte konstatiert worden ist.52 Neumarks Vertrauen in die ordnende Kraft des parlamentarisch legitimierten Reichshaushalts kollidierte zudem nicht nur mit Vgl. Einsparungsvorschläge zum Reichshaushalt. Eine etatskritische Denkschrift. Im Auftrage des Hansa-Bundes für Gewerbe, Handel und Industrie ausgearbeitet von Ernst Mosich, 2 Bde., Berlin 1929; Reichsverband der Deutschen Industrie, Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929. Eine Denkschrift des Präsidiums des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Berlin 1929. 49 Fritz Neumark, Der Reichshaushaltsplan. Ein Beitrag zur Lehre vom öffentlichen Haushalt, Jena 1929, S. 353. 50 Vgl. Fritz Neumark, »Zur Fortbildung des Reichshaushaltsrechts«, in: Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht 3 (1929), H. 3, S. 417–442, besonders S. 419f.; sowie seine Übersetzung von Gaston Jèze, Allgemeine Theorie des Budgets, Tübingen 1927 [frz. Orig. Paris 1922]. 51 Neumark, Reichshaushaltsplan, S. 99. 52 Groh, Staatsrechtslehrer, S. 394. 48
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den zunehmend pessimistischen Einschätzungen in der öffentlichen Debatte, sondern auch mit den in der Wissenschaft lauter werdenden Rufen nach einer stärkeren »Dynamisierung« der Haushaltspolitik zugunsten sozialer oder ökonomischer Zielsetzungen des Staatswesens.53 Deutlich wurde an solchen Konfliktlagen, dass Haushaltspolitik in dieser Phase nicht länger nur Ausweis parlamentarischer Regierungsmacht war, sondern als komplexe Steuerungsstrategie an gesamtgesellschaftlicher Relevanz gewann. Der Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Colm wies nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges darauf hin, dass »wirksame Verfahren der Budgetvorbereitung, -gesetzgebung und -durchführung« die wichtigsten Mittel der modernen Demokratie seien, »um die Bedürfnisse der Nation und der Volkswirtschaft als Ganzes mit den Bedürfnissen der einzelnen Sektoren und Gruppen in Übereinstimmung zu bringen.« Denn seit dem Ende der Monarchie sei die ursprüngliche politische Funktion des Budgets, »nämlich die Kontrolle der Krone durch das Parlament«, ersetzt worden durch »die Kontrolle derjenigen, die zusätzliche Staatsleistungen fordern, durch die budgetäre Darlegung der Bedeutung dessen, was solche zusätzliche Leistungen für die Steuerzahler zur Folge haben werden.« Diese moderne Komponente des Budgetrechts habe aber, wie Colm konstatierte, eine gewisse »Verwirrung« in der finanzpolitischen Diskussion ausgelöst54 – was sich auch schon in der Weimarer Republik zeigte, als das SPD -Mitglied Colm für das Statistische Reichsamt sowie für das Kieler Institut für Weltwirtschaft tätig gewesen war. Die über verfassungsrechtliche Fragen hinausweisende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Dimension der Staatsfinanzierung wurde zwar – daran war Colm selbst mit seinen Arbeiten beteiligt55 – bereits in den 1920er Jahren als Problem erkannt, aber in der Haushaltspolitik selten in ihrer Komplexität aufgegriffen. Die enge Verknüpfung des
53 54 55
Vgl. exemplarisch Egbert Munzer, Dynamischer Staatshaushalt? Der Einfluss der Wirtschaftskonjunkturen auf den öffentlichen Haushalt, Jena 1931. Gerhard Colm, »Haushaltsplanung, Staatsbudget, Finanzplan und Nationalbudget«, in: Gerloff/Neumark, Handbuch, S. 519–536, hier: S. 523. Vgl. Gerhard Colm, Volkswirtschaftliche Theorie der Staatsausgaben. Ein Beitrag zur Finanztheorie, Tübingen 1927.
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Reichshaushalts als »Schicksalsbuch des deutschen Volkes«56 mit der Legitimität der Weimarer Demokratie erschwerte moderate Flexibilisierungen. Im Prinzip erkannten aber auch die Verteidiger des uneingeschränkten parlamentarischen Budgetrechts, dass »alle Vorschläge auf das ernsthafteste [zu] prüfen« seien, die zur Gesundung der Staatsfinanzwirtschaft notwendig und geeignet waren, »ohne Erschütterung der Stellung der Parlamente solche Ziele zu fördern«.57 Die daraus resultierenden Aushandlungsprozesse und das vernehmbare Nachdenken auch demokratischer Akteure über »funktionale Äquivalente zum Parlamentarismus«58 werden exemplarisch erkennbar an den Reformvorschlägen, die Ende der 1920er Jahre im Bereich der Haushaltspolitik vorgelegt wurden. In diesen Jahren, die gemeinhin als Stabilisierungsphase der Weimarer Republik gelten, zeigte sich in verschiedenen Kreisen ein differenziertes Krisenbewusstsein, das nicht nach Abschaffung der parlamentarischen Demokratie strebte, aber nach deren Einhegung.59 Was die Haushaltspolitik anging, so verfasste Herbert Dorn, Rechtsprofessor und Abteilungsleiter im Reichsfinanzministerium, für den Juristentag 1928 ein Gutachten, das eine Überarbeitung der haushaltsrechtlichen Grundsätze vorsah. »Parlamentarische Regierung«, so Dorn, sei nicht »Parlamentsregierung«, sondern »Regierung von Persönlichkeiten, die vom Vertrauen des Parlaments getragen, aber mit selbständiger Regierungsgewalt betraut sind«, denn das parlamentarische System basiere auf dem »Gedanken und Ziel der Führerauslese«. Darüber hinaus betonte er die unmittelbare Verantwortung der Regierung »gegenüber dem Gesamtvolke« für die ver-
Johannes Popitz, »Die Probleme der Finanzpolitik des Reiches«, in: Bernhard Harms (Hg.), Strukturwandlungen der Deutschen Volkswirtschaft. Vorlesungen gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Bd. 2, 2. vervollst. Aufl., Berlin 1929, S. 425–450, hier S. 438. Aus sozialdemokratischer Sicht darauf positiv Bezug nehmend Heimann, Reichshaushalt, S. 44. 57 Heimann, Reichshaushalt, S. 8. 58 Groh, Staatsrechtslehrer, S. 585. 59 Vgl. Hans Boldt, »Demokratie in krisengeschüttelter Zeit«, in: Gusy, Denken, S. 608–634, hier: S. 622f., der als Beispiele den Deutschen Soziologentag 1926, eine Vortragsreihe im Sommersemester 1927 an der Hochschule für Politik sowie die Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer 1926 anführt. 56
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fassungsmäßige Haushaltsführung des Staates. Er ging also von einem die Parlamentsherrschaft überwölbenden Konzept demokratischer Führung durch die Exekutive aus. Zudem verwies er darauf, dass unabhängig vom realen, d.h. in der Weimarer Zeit zumeist äußerst kritischen Zustand der Finanzwirtschaft generelle Grundsätze »sachgemäßer Staatsverwaltung« aufzustellen seien. Insofern wollte Dorn (hierin Neumark nicht unähnlich) gerade die ökonomische Krisenerfahrung dazu nutzen, allgemeingültige Prinzipien der Finanzpolitik in der parlamentarischen Demokratie zu etablieren.60 Dorn legte im Unterschied zu Neumark aber den Fokus auf die übergroße Ausgabenfreudigkeit nicht der Ressorts, sondern des Parlaments. Sein Gutachten umfasste eine ausführliche Beschäftigung mit dem Budgetrecht in den USA, England, Frankreich und Belgien und schloss sich der Variante einer Verantwortung der Regierung für das Budget nach englischem Vorbild an. Es waren also auch hier europäische Konzepte parlamentarischer Demokratie, die als Diskussionsgrundlagen herangezogen wurden. Entscheidend war dabei für Dorn, »daß es mit dem Wesen des parlamentarisch regierten Staats nicht unvereinbar ist, die Regierungsverantwortung zur Sicherung des Haushalts einzuschalten«. Im Kern stand die Forderung, dass jeder ausgabenerhöhende oder einnahmesenkende Antrag des Parlaments entweder von der Zustimmung der Regierung abhängig zu machen oder mit einem »Ausgleichsantrag« zu verbinden sei, der Vorschläge für die Deckung enthalte, die der Minister wiederum vor der Beschlussfassung beanstanden könne. Darüber hinaus wollte Dorn auch die inneren Prozesse der parlamentarischen Aushandlung reformieren; dazu gehörte insbesondere die Verpflichtung zur Beratung aller Anträge in den zuständigen Ausschüssen vor der Lesung im Parlament, von der ebenfalls nur mit Zustimmung des Finanzministers abgewichen werden sollte.61 Dies war zu diesem Zeitpunkt eine durchaus konsensfähige Lösungs-
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Gutachten des Herrn Ministerialdirektors Prof. Dr. Herbert Dorn, Berlin, in: Verhandlungen des fünfunddreißigsten Deutschen Juristentages (Salzburg), Bd. 1: Gutachten, 2. Lieferung, Berlin/Leipzig 1928, S. 489–564, hier: S. 493–496. Ebenda, S. 539 und 560–562.
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strategie, denn die parlamentarischen Fachgremien wirkten als Räume, in denen »Problemlösungen auf niedrigem Streitniveau« möglich waren. Diese Tonlage änderte sich erst mit der politischen Radikalisierung seit 1930.62 Dorns Optionen für eine Regulierung des parlamentarischen Budgetrechts wurden nicht in einem antidemokratischen Kontext formuliert. Auch ein Schüler des demokratischen Staatsrechtlers Hans Kelsen, der österreichische Staats- und Verwaltungswissenschaftler Adolf Merkl, plädierte beim Juristentag als Gutachter für eine Ausgleichsregelung. Im Unterschied zu Dorn bezog Merkl sich aber auf ein stärker prozessuales Demokratieverständnis, er betonte – ähnlich wie später Colm – die Bedeutung des Parlamentarismus nicht nur als Instrument sachgemäßen Regierens, sondern als Medium der gesellschaftlichen Integration »durch die parlamentarische Kritik«.63 Dennoch vertrat auch er die Auffassung, dass »dem Gleichgewichte der Staatausgaben und Staatseinnahmen von parlamentarischer Seite die größten Gefahren« drohten, da dort eine oppositionelle Minderheit in demagogischer Absicht Mehrausgaben durchsetzen könne. Hellsichtiger als Dorn warnte Merkl jedoch zugleich vor einem drohenden Übergewicht des Fiskalismus in der Diskussion um die Ordnung der Staatsfinanzen: Fiskalische Prinzipien könnten den »eigentlichen Zweck des Staates«, d.h. die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen des Staatswesens nicht ersetzen.64 Die unter der Ägide des preußischen Finanzministers Hermann Höpker-Aschoff (DDP) aus diesen beiden Gutachten entwickelten Leitsätze des Juristentages suchten einen Kompromiss, der sowohl eine Stärkung der Stellung des Finanzministers und die bessere Kontrolle außerplanmäßiger Ausgaben durch das Parlament Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Berlin 2012, S. 191–201. 63 Stellungnahme Adolf Merkls in der Debatte, in: Verhandlungen des fünfunddreißigsten Deutschen Juristentages (Salzburg), Bd. 2: Stenographischer Bericht, 1. Lieferung, Berlin/Leipzig 1928, S. 461. 64 Gutachten des Herrn Universitätsprofessors Dr. Adolf Merkl, Wien, in: Verhandlungen des Juristentages, Bd. 1, S. 335–359, hier: S. 346–347 und 352–353. 62
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als auch die Festschreibung der Ausgleichsregelung umfasste. Die Eigenverantwortlichkeit des Parlaments sollte geschärft werden, indem entweder die Zustimmung der Regierung zur Ausgabenerhöhung (wie beim englischen Vorbild) oder ein Deckungsvorschlag des Reichstages erforderlich war. Diese Variante wurde auch deshalb gewählt, weil die verfassungsmäßige Festschreibung der Zustimmung zu allen Mehrausgaben durch die Regierung zu diesem Zeitpunkt nicht mehrheitsfähig war.65 In der Folge beeinflussten solche Expertisen zunächst die Diskussionen um die Novelle der RHO, die im Frühjahr 1929 von der Regierung im Reichstag eingebracht wurde. Eine Regelung der umstrittenen Ausgleichsfrage wurde gleichwohl vermieden, was Neumark kritisch kommentierte.66 Diese Frage wurde erst Ende 1930 auf Bestreben Brünings erneut aufgebracht, der mit diesem Mittel im neugebildeten Reichstag »den Haushalt normalerweise im Plenum des Reichstages zur Erledigung zu bringen« versuchte.67 Auf diese Weise wollte er für die Verabschiedung des Haushaltsplans nicht – wie im Juli 1930 – noch einmal auf eine Notverordnung zurückgreifen, sondern die parlamentarische Verantwortung für den Reichshaushalt erzwingen. Nach Vorgesprächen mit Abgeordneten der SPD, des Zentrums, der DVP, BVP, der Landvolk-Partei und der Deutschen Staatspartei und basierend auf Ausarbeitungen des Finanz-, Justiz- und des Innenministeriums wurde schließlich ein von Dorn formulierter Vorschlag zur Änderung des § 48a der Geschäftsordnung des Reichstages eingebracht. Dieser verengte die 1928 diskutierte Regelung noch einmal, indem er die direkte Verweisung von Finanzvorlagen
Vgl. dazu die Bemerkungen von Dr. Höpker-Aschoff, in: Verhandlungen des Juristentages, Bd. 2, S. 434 und 437; sowie den Antrag der DNVP und DVP auf Änderung des Art. 85 WRV, RT-Drucksache Nr. 704, IV. Wahlperiode 1928, 14. 12. 1928; und dessen Diskussion im Reichstag, Verhandlungen des Reichstages, Stenographische Berichte, 54. Sitzung, 1. 3. 1929, S. 1359–1396. 66 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Reichshaushaltsordnung, RTDrucksache Nr. 851, IV. Wahlperiode 1928, 25. 2. 1929. Vgl. Neumark, Fortbildung, S. 441. 67 Reichskanzler an Staatssekretär Pünder, 27. 12. 1930, in: AdR, Weimarer Republik – Die Kabinette Brüning I/II, Bd. 1, Dok. Nr. 212, S. 767–768, http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919–1933/0000/bru/ bru1p/kap1_2/para2_212.html [13. 1. 2015]. 65
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an die Ausschüsse zwingend festschrieb und den Deckungsvorschlag grundsätzlich von der Anerkennung der Regierung abhängig machte.68 Im Reichstag führte dieser Antrag zu tumultuösen Auseinandersetzungen und dem demonstrativen Auszug der Abgeordneten von KPD, NSDAP und DNVP. Der Geschäftsordnungsantrag hatte zu diesem Zeitpunkt eine rigidere Stoßrichtung angenommen, weil er angesichts des Einflusses radikaler Kräfte im Parlament die prinzipielle Fähigkeit der Volksvertretung zur Selbstverantwortung nicht mehr voraussetzte – dies wurde auch in der Begründung des Antrags durch den Berichterstatter Dr. Bell (Zentrum) deutlich. Der Begriff der Demokratie wurde in der Debatte nun nur noch von radikaler Seite aufgegriffen: Während DNVP und NSDAP sich als Vertreter einer »wahren Demokratie« und der »Mehrheit des deutschen Volkes« gerierten, setzte die KPD die »Diktatur des Proletariats« an die Stelle der Demokratie. Die Parteien der Mitte hingegen umgingen den demokratischen Diskurs völlig und argumentierten ausschließlich mit der »unabweisbaren Staatsnotwendigkeit« und der »Funktionsfähigkeit des Staates« sowie mit ostentativer »Sachlichkeit«. Die Sozialdemokraten trugen den Antrag mit, ohne sich an der Debatte zu beteiligen.69 Die vom Ministerialbeamten Dorn 1928 entworfene Vorlage löste insofern im Parlament Anfang 1931 eine Eskalation der Staatskrise aus. Sie zielte nun de facto auf eine Sanierung der Reichsfinanzen nach den Bedingungen der Regierung, nicht des Parlaments, suchte die Entscheidung darüber aber ostentativ in der Volksvertretung.70 In den 1920er Jahren war diese Regelung als Teil einer breiteren Debatte zur Einhegung und nicht zur Überwindung der parlamentarischen Demokratie vorgeschlagen worden. In der Weltwirtschaftskrise wurde sie schließlich von einer demokratischen
68 Vgl. RT-Drucksache Nr. 698, V. Wahlperiode 1930, 4. 2. 1931. Zur Vorge-
schichte im Einzelnen siehe die Unterlagen in R 43 I/1011, Bl. 270–274 sowie 292–294. 69 Verhandlungen des Reichstages, Stenographische Berichte, 21. Sitzung, 9. 2. 1931, S. 790, 795, 802 und 819. 70 Vgl. Carl Bilfinger, »Die Geschäftsordnung des Reichstages und die Grenzen des parlamentarischen Systems«, in: Deutsche Juristen-Zeitung 36 (1931), S. 439–454.
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Mehrheit gegen antiparlamentarisch agierende Kräfte durchgesetzt. Damit setzte sie aber kein gelingendes Krisenmanagement mehr in Gang, sondern die Verlagerung gesellschaftlicher Konflikte auf die außerparlamentarische Ebene und schließlich die Entmachtung des Reichstages. Dennoch wurden nach 1945 solche Regulierungen der haushaltspolitischen Entscheidungsfindung im Parlament wieder aufgegriffen. Der § 96 der 1951 verabschiedeten Geschäftsordnung des ersten Deutschen Bundestages bezog sich auf die Formulierungen von 1931, schränkte aber den Einfluss der Regierung auf die Deckungsvorlage stärker ein. Im Parlamentarischen Rat war dies von sozialdemokratischen Vertretern zunächst als Form der »Selbsterziehung des Parlaments« begrüßt worden,71 doch nach der Konstituierung der konservativen Bundesregierung führte sie zu einer Verfassungsklage der SPD wegen Verstoßes gegen das Initiativrecht des Bundestages (Art. 76 Abs. 1 GG). Das Bundesverfassungsgericht hob diese Regelung im März 1952 auch tatsächlich auf.72 Parallel aber war in Art. 113 GG die Bindung aller ausgabeerhöhenden (seit 1969 auch der einnahmemindernden) Gesetze an eine Zustimmung durch die Regierung geregelt – womit man nun tatsächlich der in der Weimarer Zeit vielzitierten englischen Verfassungspraxis folgte und die Rolle der Exekutive für die Haushaltspolitik stärkte. Dies kam im Parlamentarischen Rat auf Vorschlag des unterdessen in der FDP angekommenen Höpker-Aschoff zustande. Dieser argumentierte mit Verweis auf die Weimarer Republik, dass eine verfassungsmäßige Regelung den Aktionsradius der auf die »breite Masse« zielenden Oppositionsparteien gegenüber der Regierung einschränken und einen Bewilligungswettlauf verhindern könne.73 Seither haben die Erfahrungen der Bonner und 71
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Vierzehnte Sitzung des Ausschusses für Finanzfragen, 7. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 12: Ausschuß für Finanzfragen, München 1999, S. 464. Hierzu Heinrich G. Ritzel/Helmut Koch (Hg.), Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, beschlossen am 6. Dezember 1951. Text und Kommentar, Frankfurt am Main 1952, S. 165–169 und S. 279; sowie Institut Finanzen und Steuern, Der Finanzminister, Bonn 1954 (= H. 32), S. 89–101. Vierzehnte Sitzung des Ausschusses für Finanzfragen, 7. 10. 1948, in: Der Parlamentarische Rat, Bd. 12, S. 465.
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Berliner Republiken eine gestärkte Rolle der parlamentarischen Gremien mit sich gebracht: In der gegenwärtigen Geschäftsordnung des Bundestages ist die Entscheidung über den Deckungsvorschlag ganz dem Haushaltsausschuss überlassen, der dafür die Stellungnahme der Regierung einzubeziehen hat.74
Fazit Die Debatte um die parlamentarische Legitimierung der Staatsfinanzen lässt sich nicht dogmatisch in demokratische und antidemokratische Haltungen einteilen. Unterschiedlich positionierte Akteure bezogen sich in den Weimarer Jahren auf eine vielschichtige Textur demokratischen Denkens, die Vorstellungen von »Volkswillen« oder »demokratischer Homogenität« ebenso aufgriff wie Konzepte einer demokratischen »Führerauslese« oder eines parlamentarisch gesicherten »Minderheitenschutzes«. Demokratie in der Finanzpolitik, das bedeutete für die Weimarer Republik vor allem eine neue Herausforderung durch die am Parlament ablesbaren »Unklarheiten und Spannungen« moderner Gesellschaften – sowohl im Hinblick auf das demokratische Subjekt als auch auf die angemessenen Formen der Machtausübung durch Repräsentativinstitutionen.75 In dieser Hinsicht ist die Weimarer Erfahrung exemplarisch für die Geschichte demokratischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert, die in fast keinem Fall unproblematische Erfolgsgeschichten waren. Umstrittener als heute war, wie sehr sich eine Demokratie auch mit dem Parlamentarismus identifizieren musste – und konsensfähiger das Denken in systemischen Alternativen, der Ruf nach Diktatur und Autorität angesichts eines noch fehlenden Vertrauens in demokratisches Krisenmanagement.76 Prägender war 74
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Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Fassung vom 2. 7. 1980 (BGBl. I, S. 1237), zuletzt geändert 23. 4. 2014 (BGBl. I, S. 534), http://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechtsgrundlagen/ go_btg/go08/245176 [23. 10. 2014]. Rosanvallon, Begriffs- und Problemgeschichte, S. 49. Hierzu Christoph Gusy, »Einleitung. Demokratisches Denken in der Weimarer Republik – Entstehungsbedingungen und Vorfragen«, in: ders., Denken, S. 11–36, hier: S. 12f.; David Runciman, The Confidence Trap. A
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damit aber auch die Überzeugung, dass entschlossenes Handeln Einzelner sowie einheitliche Konzepte staatlichen Handelns die Krise umfassend bewältigen könnten. Im Weimarer Fall wurden die entsprechenden Lösungen in engem Austausch von staatsrechtlicher Lehre und bürokratischem Pragmatismus entwickelt. In der Endphase formte sich daraus eine Perspektive, in der die Ordnung »des Staates« von der Staatsform der parlamentarischen Demokratie abgekoppelt wurde, obwohl der Staatsbegriff zuvor ein durchaus konsensstiftendes Prinzip des demokratischen Diskurses dargestellt hatte. Zu diesem Zeitpunkt fand sich der Begriff der »Demokratie« gerade bei jenen, die für sie Regierungsverantwortung trugen, immer seltener. Er wurde stattdessen als Kampfbegriff politisch radikalisiert – und mit ihm auch jene finanzpolitischen Programme von rechts wie von links, die Konjunkturpolitik statt Deflation und Arbeitsbeschaffung statt Arbeitslosigkeit forderten.77 Die offene Debatte um die Konturen der Demokratie kam damit an ein Ende. Als Fixpunkt des Staatswesens erschien der Ministerialbürokratie der »Haushaltsausgleich« – dessen Legitimation aber entfernte sich von den parlamentarisch-demokratischen Ordnungsprinzipien, die dafür in den frühen 1920er Jahren durch die junge Republik geschaffen worden waren und die bis heute wesentliche Orientierungspunkte in der modernen Haushaltspolitik darstellen. 1933 schließlich reagierte man im Reichsfinanzministerium, das seit 1932 dem ehemaligen Leiter der Haushaltsabteilung, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, unterstand, mit Erleichterung darauf, dass die parlamentarischen Hindernisse end-
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History of Democracy in Crisis from World War I to the Present, Princeton/ Oxford 2013, besonders S. 293–328, problematisiert in diesem Zusammenhang den Vertrauensvorschuss gegenwärtiger demokratischer Systeme. Vgl. Albrecht Ritschl, »Die NS-Wirtschaftsideologie – Modernisierungsprogramm oder revolutionäre Utopie?«, in: Rainer Zitelmann/Michael Prinz (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 48–70. Insgesamt auch Hak-Ie Kim, Industrie, Staat und Wirtschaftspolitik. Die konjunkturpolitische Diskussion in der Endphase der Weimarer Republik 1930–1932/33, Berlin 1997.
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gültig beseitigt waren. Insofern war hier der Weg in die Diktatur bereitet.78 Gerade für den Bereich der öffentlichen Finanzen ist aber hervorzuheben, dass sowohl die ökonomischen als auch die politischen Folgewirkungen des zeitgenössischen Krisenmanagements angesichts der internationalen Verflechtungen sowie der inneren Konflikte in vielem nicht plan- oder prognostizierbar waren, zumal unter dem konstant hohen Problemlösungsdruck dieser Jahre; manches, was als Bewältigungsversuch unter demokratischen Prämissen entstand, konnte in der Folge, unter sich permanent verändernden politischen Bedingungen, antidemokratische Wirkung entfalten. Ebenso konnten jene Strategien, die später als spezifisch für demokratische Lösungen in der Krise angesehen wurden, in damaligen Zusammenhängen als Formen der Destabilisierung demokratischer Ordnung angesehen werden. Damit werden die politischen Zielsetzungen der beteiligten Akteure weder irrelevant noch alternativlos, aber in ihrer vermeintlichen Stringenz hinterfragt. Die Annahme, dass die zeitgenössisch Beteiligten sich für »Organisation und Verfahren demokratischer Ordnungen« sowie für die »Schwierigkeit der institutionellen Verwirklichung demokratischer Herrschaftsorganisation« kaum interessiert hätten,79 lässt sich insgesamt nicht aufrechterhalten – zumindest nicht für jene Grenzgänger zwischen Theorie und Praxis, die wie Dorn, Brecht, Höpker-Aschoff, Colm und Neumark von unterschiedlichen Standpunkten aus die Optimierung von Entscheidungsprozessen im Rahmen der parlamentarischen Demokratie anstrebten. Ihnen gelangen dabei klarsichtige Problemdiagnosen und wirkmächtige Ordnungsentwürfe. Die Erkenntnis gegenwärtiger Finanztheorie, dass »im Allgemeinen keine Einstimmigkeit über Umverteilungsprojekte« des öffentlichen Haushalts zu erwarten ist und gerade
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Hierzu Stefanie Middendorf, »Staatsfinanzen und Regierungstaktiken. Das Reichsministerium der Finanzen (1919–1945) in der Geschichte von Staatlichkeit im 20. Jahrhundert«, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), H. 1, S. 140–168. So Christoph Schönberger, »Demokratisches Denken in der Weimarer Republik: Anfang und Abschied«, in: Gusy, Denken, S. 664–669, hier: S. 667.
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deswegen die parlamentarischen Entscheidungsprozesse im Budgetwesen eine unerlässliche integrative Funktion besitzen,80 fand sich auch damals schon – am Ende aber schlug sie sich in den Verfahrensweisen der Haushaltspolitik nicht mehr nieder. Diese Entwicklung lässt sich jedoch nicht allein aus antidemokratischen Motivlagen oder deflationspolitischer Engstirnigkeit des Reichskanzlers Brüning erklären. Vielmehr erscheint auch eine ganz andere Deutung bedenkenswert: So wies Kurt Heinig, sozialdemokratischer Abgeordneter und Mitglied des Haushaltausschusses bis 1933, rückblickend darauf hin, es sei »vor allem die junge, um ihr Leben ringende deutsche Demokratie [gewesen, S. M.], die hartnäckig am politischen Einjahresbudget und dessen staatlicher Verwaltungsgrundlage festhielt«, sowie »das Beamtentum, das, nicht nur aus Tradition, ebenso handelte«. Beide hätten darin »die letzte tragende Konstruktion des Staates« gesehen, jedoch übersehen, dass diese allenfalls »ein Baugerüst« geboten habe.81 Der Reichshaushaltsplan, den Brüning mit Unterstützung der Ministerialbürokratie 1930 gegen den Willen des Reichstages durchsetzte, bildete einen nur schwer modifizierbaren Kern des Selbstverständnisses der Weimar Republik. Konjunkturpolitische Ansätze hingegen hatten spätestens seit den entsprechenden Experimenten der 1920er Jahre den Anklang des Gescheiterten, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise dann den Ruch des Radikalen.82 Kreditschöpfung hätte insofern, wäre sie denn machbar gewesen, rückblickend vielleicht eine ökonomisch sinnvollere Lösung dargestellt, aber nicht zwangsläufig die Demokratie gerettet. Von brei-
80 Charles B. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, München 81 82
2003, S. 431–433 und S. 545. Heinig, Budget, Bd. II, S. 127. Zu diesen Diskussionen vgl. Fritz Blaich, Die Wirtschaftskrise 1925/26 und die Reichsregierung. Von der Erwerbslosenfürsorge zur Konjunkturpolitik, Kallmünz 1977, besonders S. 112–119; Dieter Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung. Konjunkturpolitik 1925/26 und die Grundlagen der Krisenpolitik Brünings, Frankfurt am Main 1982; C. Edmund Clingan, Finance from Kaiser to Führer. Budget Politics in Germany 1912–1934, Connecticut/London 2001, besonders S. 71–88. Den internationalen Kontext einer Ordnung der Austerität entwirft Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, besonders S. 607f.
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Haushaltsordnung und Staatsdenken in der Weimarer Republik
ten Gruppen der Gesellschaft ebenso wie von der Ministerialbürokratie wäre sie möglicherweise als Selbstaufgabe demokratischer Politik und als endgültiger Verfall staatlicher Ordnungsbemühungen wahrgenommen worden. Solche Annahmen lassen sich aber nicht allein durch weitere Motivforschung in den Köpfen »großer Männer« oder wirtschaftshistorische Modellrechnungen überprüfen. Sie benötigen einen genaueren Blick auf die widersprüchlichen Semantiken, die offenen Entscheidungssituationen und die sich rasch verändernden Resonanzräume des Regierungshandelns in der Weimarer Republik.
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Urban Lundberg
Urban Lundberg
»Volksheim« oder »Mitbürgerheim«? Per Albin Hansson und die schwedische Demokratie
Schweden gilt als ein Land, das sich durch politische Demokratie, soziale Wohlfahrt und wirtschaftliche Gleichheit auszeichnet. Die Ursprünge dieser internationalen Reputation reichen in die 1920er und 1930er Jahre zurück, in eine Zeit der politischen und ökonomischen Krisen, als progressive Intellektuelle aus Frankreich oder den Vereinigten Staaten ihren Blick auf Schweden richteten, um neue, schlagende Argumente für die politische Debatte in ihren eigenen Ländern zu finden. Seitdem verfestigte sich ein vertrautes Bild: Schweden hatte einen unabhängigen Weg in die Moderne eingeschlagen – das Ergebnis war ein pragmatisches Modell der Problemlösung in Gestalt einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, korporatistischer Übereinkünfte, allumfassender Sozialversicherungssysteme und eines steuerfinanzierten öffentlichen Sektors.1 Die Vorstellung eines eigenen schwedischen Wegs ist also keine ausschließlich schwedische Konstruktion, sondern steht in Verbindung mit einem international verbreiteten Genre der sozialwissenschaftlichen Forschung, das nationale Beispiele als Alterna-
1
Vgl. Kazimierz Musial, Roots of the Scandinavian Model. Images of Progress in the Era of Modernization, Baden-Baden 2002; Bo Stråth/Øystein Sørensen (Hg.), The Cultural Construction of Norden, Oslo 1997; Peter Stadius, »Happy Countries. Appraisals of Interwar Nordic Societies«, in: Jonas Harvard/Peter Stadius (Hg.), Communication the North. Media Structures and Images in the Making of the Nordic Region, Farnham 2013.
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Per Albin Hansson und die schwedische Demokratie
tiven gegen die Standarderklärungen der ökonomischen Theorie stellt.2 Aber es gibt noch eine andere, ebenfalls transnationale Version der schwedischen Geschichte. Demnach gibt es eine lange Tradition des Kollektivismus in Schweden, während die Interessen von Individuen und Minderheiten vernachlässigt wurden. Diese kritische Perspektive wurde in der Nachkriegszeit stärker, seit der Jahrtausendwende hat sie an Verbreitung zugenommen, was teilweise auf die Neubewertungen der europäischen Geschichte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zurückzuführen ist. In Schweden wurden die historischen Wurzeln der Sozialpolitik unter die Lupe genommen. Die Offenbarung, dass der Wohlfahrstaatsstaat auch »dunkle Seiten« hatte, fügte dem schwedischen Modell neue Aspekte hinzu: Streben nach Effizienz und Perfektion in Verbindung mit willkürlicher Machtausübung gegenüber den Bürgern. Die klassische Erfolgsgeschichte betonte, wie die parlamentarische Demokratie und die sozialdemokratische Sozialpolitik die Bürger aus der Armut befreiten; die Kritiker erklärten, dass genau dieser Prozess dazu geführt hatte, dass Grundrechte beiseitegeschoben wurden. Die großangelegten Wohlfahrtsprogramme hatten zwar unleugbar die soziale Lage verbessert, aber auf Kosten der Freiheit.3 Der historiografische Konflikt zwischen den Traditionalisten und den Kritikern zeigt sich besonders am Begriff des folkhemmet – des »Volksheims« –, der sich im Zuge einer Rede einbürgerte, die 2
3
Vgl. Pauli Kettunen, »The Transnational Constructions of National Challenges. The Ambiguous Nordic Model of Welfare and Competitiveness«, in: Pauli Kettunen/Klaus Petersen (Hg.), Beyond Welfare State Models. Transnational Historical Perspectives on Social Policy, Cheltenham 2011, S. 16–40; Urban Lundberg, »Das nordische Modell. Sozialdemokratisches Markenzeichen oder gemeinsames kulturelles Erbe?«, in: Der Bürger im Staat 64 (2014), S. 92–102. Vgl. Urban Lundberg/Mattias Tydén, »In Search of the Swedish Model. Contested Historiography«, in: Helena Mattsson/Sven-Olof Wallenstein (Hg.), Swedish Modernism. Architecture, Consumption and the Welfare State, London 2010, S. 36–49; Henrik Berggren/Lars Trägårdh, Är svensken människa? Gemenskap och oberoende i det moderna Sverige, Stockholm 2006; Martin Wiklund, I det modernas landskap. Historisk orientering och kritiska berättelser om det moderna Sverige mellan 1960 och 1990, Eslöv 2006.
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der Sozialdemokat Per Albin Hansson (Parteivorsitzender 1928– 1946, Ministerpräsident 1932–1946) 1928 vor der zweiten Kammer des Reichstags, des schwedischen Parlaments, hielt. Das »Volksheim« steht oft als kollektive Metapher für Schweden im 20. Jahrhundert.4 Die Formbarkeit dieses Begriffs scheint beinahe grenzenlos zu sein. Sowohl in der historischen Forschung als auch in der politisch-intellektuellen Debatte stand er bereits für alles Mögliche, von einem Ordnungsmodell über eine zukunftsweisende Metapher bis zu einem irreführenden Bühnenbild, vor dem sich die politische Entwicklung abspielte.5 Er vermittelt eine Vision – eine Gesellschaft, die dem Volk (folket) ein gutes Heim oder Zuhause (hem) ermöglicht –, aber verweist auch auf eine kalte Realität: Selbsttäuschung, staatliche Lügen, unterdrückte Wahrheiten und andere Formen moralischen Versagens, die unter der Oberfläche der Perfektion wucherten. Immer wieder ist die Kritik anzutreffen, dass der schwedische Wohlfahrtsstaat zur Zwangshomogenisierung griff. Das 1922 gegründete Staatliche Institut für Rassenbiologie (Statens institut för rasbiologi) gilt als Symbol für eine nationale Kultur, die auf der brutalen Trennung von »Wir« und »Sie« beruhte.6 In dieser Hinsicht merkwürdig ist die Tatsache, dass der Begriff folkhemmet nur von untergeordneter Bedeutung für die sozial-
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Vgl. Bo Stråth, Folkhemmet mot Europa, Stockholm 1993; Lars Trägårdh, The Concept of the People and the Construction of Popular Political Culture in Germany and Sweden, 1848–1933, Univ. Microfilms International, 1993, Ann Arbor, Mich. 1996; Sheri Berman, The Primacy of Politics. Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century, New York 2006. Vgl. Valeska Henze, Das schwedische Volksheim. Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells, Florenz 1999; Marie Cronqvist, Mannen i mitten. Ett spiondrama i svensk kallakrigskultur, Stockholm 2004; Kim Salomon, En femtiotalsberättelse. Populärkulturens kalla krig i folkhemssverige, Stockholm 2007. Vgl. Maija Runcis, Steriliseringar i folkhemmet, Stockholm 1998; Gunnar Broberg/Mattias Tydén, Oönskade i folkhemmet. Rashygien och sterilisering i Sverige, Stockholm 1991; Maja Hagerman, Det rena landet. Om konsten att uppfinna sina förfäder, Stockholm 2006; Maciej Zaremba, De rena och de andra. Om tvångssteriliseringar, rashygien och arvsynd, Stockholm 1999.
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Per Albin Hansson und die schwedische Demokratie
demokratische Rhetorik während der Ausdehnungsphase des schwedischen Wohlfahrtsstaates in den 1930er, 1940er und 1950er Jahren gewesen zu sein scheint. Er kommt hier und dort einmal vor. Hanssons Rede von 1928 diente gelegentlich als ideologischer Bezugspunkt. Aber es handelte sich nicht um einen Begriff, der die Debatten strukturierte, weder in Parteiprogrammen, noch in Wahlmanifesten, noch in den Protokollen von Ausschüssen und Parteitagen taucht er auf. In den alle zwei Jahre stattfindenden Wahlkämpfen in der Zeit, in der Schweden ein Zweikammerparlament hatte (1866–1971), gab der Begriff niemals Anlass für Kontroversen.7 Einflussreiche Sozialdemokraten wie Gustav Möller (Minister – zumeist Sozialminister – von 1924 bis 1926 und 1932 bis 1951) oder Ernst Wigforss (Finanzminister von 1932 bis 1949) nahmen nicht ein einziges Mal darauf Bezug.8 Im Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff in der Propaganda der Abwehrbereitschaft immer wieder einmal mit Schweden gleichgesetzt, aber selbst dann kam ihm nie die Bedeutung zu, die seinen heutigen Status als Mittelpunkt von erbitterten Debatten über die moralischen Fundamente der schwedischen Gesellschaft rechtfertigen würde.9 Für diese Dissonanz gibt es eine Reihe möglicher Erklärungen. In diesem Beitrag werde ich zeigen, dass die Verwendung von folkhemmet als analytische Kategorie zur Beschreibung der schwedischen Gesellschaft ein tiefer gehendes Verständnis der Demokratie in Schweden in der Zwischenkriegszeit verhinderte. Meine Methode ist einfach: Im Folgenden wird eine Relektüre von Hanssons Reden und Schriften der späten 1920er und frühen 1930er Jahre in ihrem historischen Kontext vorgenommen. Dieser Kontext war von den akuten Fragen der Krise und des Überlebens der Demokratie beherrscht – und weniger, wie es im Rückblick erscheint, von
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Vgl. Nils Edling, »The Primacy of Welfare Politics. Notes on the Language of the Swedish Social Democrats and their Adversaries in 1930s«, in: Heidi Haggrén u.a. (Hg.), Multi-layered Historicity of the Present. Approaches to Social Science History, Helsinki 2013, S. 125–150. Vgl. Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, BadenBaden 2001; Edling, »The Primacy of Welfare Politics«. Vgl. Edling, »The Primacy of Welfare Politics«.
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strategischen Überlegungen und ideologischen Zielen der Sozialdemokratie. Hanssons Texte waren nach außen an eine Welt gerichtet, in der die Demokratie zahlreiche Rückschläge hinnehmen musste, und nach innen an eine Gesellschaft, in der die Demokratie noch neu und nicht erprobt war. Die Demokratie hatte in Schweden einen sichtbar schlechten Start erwischt. Auf die Verfassungsreformen von 1921, die das allgemeine und gleiche Wahlrecht einschlossen, folgte eine Reihe schwacher Minderheitsregierungen. Kein Arbeitsmarkt in Europa war konfliktreicher. In den Gewerkschaften wuchs der kommunistische Einfluss. Auch Schweden entging den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise nicht, selbst wenn diese, infolge der Abwertung der Krone 1931 und einer expansiven Politik der Arbeitsbeschaffung durch kreditfinanzierte öffentliche Arbeiten, geringer waren als in vielen anderen Ländern.10 Hansson war kein Theoretiker. Seine Biografen stellen ihn in der Regel als listigen Taktiker dar, der die Sozialdemokratie von einer marxistischen Klassenpartei in eine nationale Volkspartei umformte.11 Seine Reden und Schriften waren dennoch von einem eigenständigen demokratischen Vokabular durchsetzt, das Freiheit, Gegenseitigkeit, Gemeinschaft, Zusammenarbeit, Selbstbeherrschung und Dialog betonte und das, ungeachtet seines volksnahen Auftretens, die Ambitionen Hanssons und seiner Partei weit über-
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Zur Einführung in die schwedische Geschichte des 20. Jahrhunderts vgl. Yvonne Hirdman/Jenny Björkman/Urban Lundberg, Sveriges historia. 1920–1965, Stockholm 2012; Francis Sejersted, The Age of Social Democracy. Norway and Sweden in the Twentieth Century, Princeton 2011; Lennart Schön, Sweden’s Road to Modernity. An Economic History, Stockholm 2010. Vgl. Anders Isaksson, Per Albin, Bd. 3: Partiledaren, Stockholm, 1996; Bengt Schullerqvist, Från kosackval till kohandel: SAP’s väg till makten (1928–33), Stockholm 1992; Timothy Tilton, The Political Theory of Swedish Social Democracy. Through the Welfare State to Socialism, Oxford 1990; Alf W. Johansson, Den nazistiska utmaningen. Aspekter på andra världskriget, Stockholm 1997, S. 148–160; Lars Trägårdh, »Crisis and the Politics of National Community. Germany and Sweden, 1933/1994«, in: ders./Nina Witoszek (Hg.), Culture and Crisis. The Case of Germany and Sweden, Oxford/New York 2002, S. 75–109; Sten O Karlsson, Det intelligenta samhället. En omtolkning av socialdmeokratins idéhistoria, Stockholm 2001; Berggren/Trägårdh, Är svensken människa?, S. 201.
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stieg.12 Es war alles andere als offensichtlich, dass »das Volk« (folket) ein Leitkonzept in Hanssons Rhetorik war. Mit seiner Anrufung des folkhemmet als Bezeichnung eines Wohlfahrtsstaats für das Volk verdeckte er in Wahrheit ein anderes Heim – medborgarhemmet, wörtlich ein »Heim für (Mit-)Bürger« –, das in eine ganz andere Richtung wies als die der durchgeplanten, rationalen und entmenschlichten sozialdemokratischen Utopie, die in den vergangenen Jahrzehnten von Historikern so unerbittlich zerlegt wurde. Der Begriff des »Mitbürgerheims« eröffnet ein anderes Verständnis der demokratischen Kultur jener Zeit.
Volksheim Was sagte Hansson über das »Volksheim« in seiner erster Rede vor der zweiten Kammer des schwedischen Reichstags 1928? Er beginnt wie folgt: »Bei feierlichen und manchmal selbst bei alltäglichen Gelegenheiten sprechen wir gerne von der Gesellschaft – dem Staat, der Gemeinde – als einem gemeinsamen Heim für uns alle: folkhemmet, medborgarhemmet. Nach den großen Verfassungsreformen der jüngsten Zeit ist dieses Bild vielleicht häufiger in Gebrauch als zuvor, aber selbst im Zeitalter der politischen Oligarchie griffen die Machthaber darauf zurück, besonders wenn sie den Massen ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Allgemeinwohl einschärfen mussten, die Pflicht, Lasten zu tragen und Opfer zu bringen.«13
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Dieses Feld ist bislang kaum erforscht; vgl. jedoch Petter Tistedt, Visioner om medborgerliga publiker. Medier och socialreformism på 1930-talet, Höör 2013. Mit dem Blick darauf, wie Debatten über verschiedene soziale Fragen in den Medien strukturiert wurden, um Partizipation und Beteiligung der Bürger zu fördern, bietet er eine neue Perspektive auf die demokratische Kultur in Schweden in der Zwischenkriegszeit. Vgl. auch die jüngste Studie zum Demokratiebegriff der schwedischen Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit, Anna Friberg, Demokrati bortom politiken. En begreppshistorisk analys av demokratibegreppet inom Sveriges socialdemokratiska arbetareparti 1919–1939, Stockholm 2013. Per Albin Hansson, Demokrati. Tal och uppsatser, Stockholm 1935, S. 19.
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Aber das ist alles, was er über folkhemmet zu sagen hat, und der heutige Leser sucht vergeblich nach weiteren Belegstellen für diesen mittlerweile abgenutzten Ausdruck. Aus diesem kurzen Zitat ist jedoch bereits zu ersehen, dass an Hanssons deutlicher Botschaft gerade bemerkenswert war, dass der Begriff folkhemmet für Schweden in der Zwischenkriegszeit nicht gerechtfertigt war. Auffälliger noch ist, dass seine Rede über folkhemmet andeutet, dass er es für eine schlecht gewählte Bezeichnung dessen hielt, was Schweden werden sollte. Stattdessen lässt er erkennen, dass folkhemmet eine strategische Randbemerkung, eine rhetorische Wendung war, deren sich die alten, vordemokratischen Obrigkeiten bedienten, wenn sie Ungleichheiten überdecken mussten oder junge Männer in den Krieg schickten.14 Wenn Hansson seinen Blick in die Zukunft richtete, bevorzugte er den Begriff medborgarhemmet, den er unmittelbar nach folkhemmet einführte und bei dem er für den Rest seiner Rede verweilte.15 Nur ein Komma trennt die beiden Wörter, und in der Sammlung von Hanssons Reden, die 1935 unter dem Titel »Demokrati« erschien, ist diese Rede unter der Überschrift »Folkhemmet, medborgarhemmet« veröffentlicht. Aber während das »Volksheim« nun ein ganzes Spektrum von Assoziationen auslöst und in Kontexten, die von Design und Inneneinrichtung bis zu populären Kriminalromanen mit internationaler Leserschaft reichen, spezifische Bedeutungen vermittelt, geriet der Begriff medborgarhemmet, Hanssons »Mitbürgerheim«, schnell in Vergessenheit.16 Die Wörter könnten als Synonyme erscheinen, was durch das angeführte Zitat scheinbar gestützt wird. Aber das wäre eine Fehllektüre. Für Hansson war folkhemmet vor allem ein Begriff, mit 14
15 16
Zum Stilmittel der Paradiastole oder rhetorischen Umschreibung vgl. etwa Quentin Skinner, Visions of Politics, Bd. 2: Renaissance Virtues, Cambridge 2002, S. 273f. Hansson, Demokrati, S. 19, 20, 22, 30. Beim Googeln von »folkhem« (Ende 2014) ergaben sich 129000 Treffer in 0,17 Sekunden, »medborgarhem« erhielt nur 442 Treffer in 0,10 Sekunden, wovon fast kein einziger auf die Reden von Per Albin Hansson Bezug nahm. Zum schwedischen Kriminalroman vgl. Kerstin Bergman, »Beyond Stieg Larsson. Contemporary Trends and Traditions in Swedish Crime Fiction«, in: Forum for World Literature Studies 4 (2012), S. 291–306.
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dem Unregelmäßigkeiten unter den Teppich gekehrt wurden, ein Begriff, der der alten »Gesellschaft des Privilegs«, wie er sie nannte, zur Legitimation gedient hatte.17 Medborgarhemmet erhielt eine andere Bedeutung. Das Wort stand für Möglichkeiten; statt ein Hindernis für Wandel zu sein, machte es die Realität verhandelbar. Hanssons Botschaft lautete, dass Demokraten sich genauso wenig auf die Vergangenheit verlassen konnten wie auf die Zukunft. Umstände, die einmal natürlich oder zumindest unabänderlich waren, Bestandteile in einer langfristigen historischen Entwicklung, wurden nun vorläufig oder instabil.18 Der Hauptteil von Hanssons berühmter (und heute als Folkhemstal bekannter) Rede ist der Beschreibung der alten Gesellschaft aus der Perspektive der Gegenwart gewidmet. Hanssons Urteil in diesen Passagen ist kompromisslos. »Die schwedische Gesellschaft«, erklärte er den Mitgliedern der zweiten Parlamentskammer, »ist immer noch nicht das gute medborgarhemmet geworden. Zugegebenermaßen gibt es eine formale Ähnlichkeit, eine Ähnlichkeit der politischen Rechte, aber sozial bleibt sie eine Klassengesellschaft und ökonomisch eine Diktatur der wenigen.« Er fuhr fort: »Die Unterschiede sind stellenweise empörend; während einige in Palästen leben, können viele sich glücklich schätzen, wenn sie im eisigen Winter in ihrer Schrebergartenhütte bleiben dürfen; während einige wenige in Luxus leben, gehen viele von Tür zu Tür auf der Suche nach einer Brotkruste, und die Armen leben in Schrecken vor dem nächsten Tag, an dem Krankheit, Arbeitslosigkeit und andere Übel sie erwarten.«19 Hansson bot keine fertige Lösung an und sagte nichts Konkretes darüber, wie es werden sollte, sondern nur, wie die Gesellschaft nicht sein sollte, also was an ihr unvereinbar war mit einer demokratischen Gemeinschaft. Das »Mitbürgerheim« war kein feststehendes Programm dafür, wie die Gesellschaft umgestaltet werden sollte, sondern eher eine Verneinung – die einfache Aussage, dass in einer Demokratie »das Alte nicht für immer sein kann«.20 17 18 19 20
Hansson, Demokrati, S. 31. Ebenda, S. 22, 29, 30, 31. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 31.
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Medborgarhemmet ist vielleicht am besten als ein Gespräch aufzufassen, das kontinuierlich immer neue Gesprächspartner einbezieht, die im Laufe der Zeit »ein politisch reifes Volk« bilden.21 Der Horizont wurde damit hinausgeschoben. Hansson bemerkte, dass immer mehr Menschen sich fragten, warum die wirtschaftliche Spaltung in so großem Ausmaß zum Nachteil der »hart Arbeitenden« war: »In unserer Zeit betrachten Menschen eine Gesellschaft von Armen und Reichen nicht länger als gottgegeben; sie folgen nicht länger den Predigten über die ›Zufriedenheit der Völker des Ostens‹, die die Propheten der Wohlgenährten halten.«22 Die große Aufgabe einer »anständigen politischen Demokratie« bestand darin, »die Gesellschaft zu einem wahren medborgarhemmet zu machen, das denen, die es aufbauen und in ihm leben, Lebenssicherheit gibt, und in dem jeder zusammenarbeitet für das Allgemeinwohl.«23 Das wurde niemals klarer als hier ausgedrückt. Wenn Schweden ein medborgarhemmet geworden war, darauf wollte Hansson hinaus, würde alles möglich sein. Er war überzeugt, dass es besser oder zumindest anders sein würde. Es gab keinen Grund anzunehmen, argumentierte er, dass »soziale Schranken und die ökonomische Oligarchie in einer politischen Demokratie bestehen bleiben könnten«.24 Die Forderung nach Gleichheit würde mit der Zeit nicht nachlassen, sondern von neuen Gemeinschaften gehört werden, denen zuvor niemand zuhören wollte. Neue Gruppen, die sich in untergeordnete oder benachteiligte Stellungen verwiesen sahen, würden diese Forderung aufnehmen und weitertragen. Es gab keinen natürlichen Endpunkt in diesem kontinuierlichen Prozess der Aufgliederung, in dem sich Menschen von immer neuen Positionen aus und in immer neuen Konstellationen begegneten. Die Demokratie ging ihre eigenen Wege. Ein Demokrat zu sein, hieß, Ungewissheit zu feiern und den Impuls zu zügeln, diese Ungewissheit zähmen zu wollen.
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Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 31.
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Das sozialdemokratische Nachkriegsvokabular Aber trifft all das zu? Wie erwähnt, diente das schwedische »Volksheim« lange Zeit als Name für ein durchdachtes ideologisches Projekt. So lange die sozialdemokratische Geschichtsschreibung vorherrschte, war diese Beschreibung vorteilhaft. Im Laufe der Zeit wurde die Wortwahl jedoch immer kritischer. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der allgemeinen kulturellen Debatte wurde Hanssons folkhemmet zunehmend als eine Gesellschaft dargestellt, die vorgab, etwas anderes zu sein, als sie wirklich war. Für diese Denkrichtung waren für das folkhemmet die Abwesenheit demokratischer Politik und ein Übermaß dehumanisierter Sozialwissenschaften charakteristisch. Es war ein Ort, an dem die traditionellen Grundsätze des Rechts abgeschafft wurden und, in der scharfen Formulierung des Juristen Rolf Nygren, »die Kunst des Sozialingenieurs bis zum Äußersten getrieben wurde«.25 Im Gegensatz dazu ist das »Volksheim« auch zum Gegenstand kollektiver Nostalgie geworden, ob in der politisch wirkungslosen Stimmungslage trauriger Resignation auf der Linken26 oder in Gestalt der aktivistischeren Melancholie der rechtsaußen stehenden Schwedendemokraten, deren Parteiprogramm von 2005 die »Wiederherstellung des folkhemmet« als umfassendes Ziel einschloss und die in jüngster Zeit zur drittstärksten Partei Schwedens aufstiegen, mit 13 Prozent der Wählerstimmen in den Wahlen 2014.27 25
26 27
Rolf Nygren, »Rättshistoria och samhällsförändring: Ett pedagogiskt perspektiv«, in: Rättshistoriska studier 22, Lund 2002, S. 76. Zu »social engineering« und »Volksheim« vgl. auch Yvonne Hirdman, Att lägga livet tillrätta. Studier i svensk folkhemspolitik, Stockholm 1989; Håkan Arvidsson/Lennart Berntson/Lars Dencik, Modernisering och välfärd. Om stat, individ och civilt samhälle i Sverige, Stockholm 1994; Göran B. Nilsson, »Den sociala ingenjörskonstens problematik. En orättfärdig dissektion av den unge Gunnar Myrdal«, in: Per Thullberg/Kjell Östberg (Hg.), Den svenska modellen, Lund 1994, S. 167. Vgl. Jenny Andersson, När framtiden redan hänt. Socialdemokratin och folkhemsnostalgin, Stockholm 2009. Sverigedemokraternas principprogram 2005, http://www.sdarkivet.se/files/ program/program_2005.pdf [2. 3. 2015]; zu den schwedischen Wahlergebnissen: http://www.val.se/val/val2014/slutresultat/R/rike/index.html [2. 3. 2015]
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Wie lässt sich all das in Einklang bringen? Folkhemmet existierte offenkundig immer nur als rhetorische Figur. Als Gustav Möller nach dem Zweiten Weltkrieg die Leistungen der Sozialdemokratie aufzählte, sprach er stattdessen von »Sozial-Schweden«, das er von der Vergangenheit zuvor absetzte.28 Wenige Jahre später prägte Tage Erlander, Parteiführer und Ministerpräsident von 1946 bis 1969, den Begriff der »starken Gesellschaft«, um zu lösen, was seine Gegner als einen sich verschärfenden Konflikt zwischen dem Individuum und der Öffentlichkeit in einer modernen Gesellschaft beschrieben.29 In den 1960er und 1970er Jahren nahm der Begriff des Wohlfahrtsstaats seine moderne und transnationale Bedeutung an.30 Das politische Vokabular der Nachkriegszeit unterschied sich von Hanssons medborgarhemmet, das vielleicht vor allem ein Versuch war auszudrücken, was es bedeutete, in einer Demokratie zu leben. Der geschichtliche Verlauf, den Begriffe wie »Sozial-Schweden« und Wohlfahrtsstaat andeuteten, führte nicht von der Gegenwart in die Zukunft, sondern von der Vergangenheit in die Gegenwart. Dabei ging die visionäre Kraft dieses Wortschatzes verloren. Die Botschaft lautete, dass die Zukunft gekommen war: Vielleicht würde das Haus nicht vollendet, aber es hatte bereits seine optimale Form gefunden; der Weg in die Zukunft war vorgezeichnet.31 Als der Begriff folkhemmet in den Debatten zu Anfang der 1980er Jahre wieder auftauchte, war die Wirtschaftskrise in vollem Gange. Das keynesianische Rezept für soziale Wohlfahrt, wirtschaftliche Prosperität und Vollbeschäftigung, das in der Nachkriegszeit so erfolgreich gewesen war, begann zu versagen. Die Arbeitslosigkeit stieg an, die Arbeitgeber kündigten das Modell der allgemeingültigen Tarifverträge auf. Ein internationalisiertes, neoliberales Paradigma bestimmte zunehmend die Debatten über die erwünschte Richtung 28 29 30
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Gustav Möller, »Från fattig-Sverige till social-Sverige«, in: Tiden, Stockholm 1948. Tage Erlander, »Valfrihetens samhälle«, in: Tiden, Stockholm 1962. Nils Edling/Jørn Henrik Petersen/Klaus Petersen, »Social Policy Language in Denmark and Sweden«, in: Daniel Béland/Klaus Petersen (Hg.), Analysing Social Policy Concepts and Language. Comparative and Transnational Perspectives, Bristol/Chicago 2014, S. 13–34. Vgl. Andersson, Socialdemokratin och folkhemsnostalgin.
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der Sozialpolitik.32 Wieder wurde die Hierarchie von Gegenwart, Geschichte und Zukunft ausgelöscht. Hatte Hansson die Zukunft gefeiert und Erlander die Gegenwart, rückte nun die Geschichte in den Mittelpunkt. Die Frage ist, worin in diesem Augenblick die Attraktivität eines Ausdrucks bestand, der schon als alt galt, als er zum ersten Mal in modernem Sinne verwendet wurde. Eine mögliche Antwort lautet, dass es ein Bedürfnis nach einem Wort mit höchster Konkretheit gab, einem Wort, das die Einsätze erhöhte und den Bürgern unzweideutig klarmachte, was auf dem Spiel stand: Schwedens »Volksheim«.33 In den 1980er Jahren wurden die Rollen vertauscht. Vergangen war die Abrechnung mit einer Oligarchie, die den verarmten und hungernden Massen »östliche Zufriedenheit« predigte. Stattdessen wurde folkhemmet in ein real existierendes Idyll umgewandelt, das jetzt in Gefahr war – eine Art Verdinglichungsprozess, wie Georg Lukács ihn definiert hatte.34 Sofort setzte auch die Kritik ein, allerdings nicht von Hanssons folkhemmet, das nie existiert hatte und das nur eine Möglichkeit der Machthaber war, mit der Verwundbarkeit der Menschen zu spielen. Die radikale Herausforderung, die die kritische Historiografie dem dumpfen Nationalismus, den gefühllosen Sozialingenieuren, den anonymen Sozialbauten und der verlogenen Neutralität entgegenhielt, versetzte vielmehr dem verdinglichten folkhemmet einen schweren Schlag, dem »Volksheim«, das heraufbeschworen worden war, um die Veränderungen in der Gesellschaft bildhafter beschreiben zu können. Der Beginn des großen Sterilisierungsskandals 1997 stellte in dieser Hinsicht einen Höhepunkt dar. Mit plakativen Schlagzeilen und einfachen journalistischen Tricks wurde das Bild des modernen Schweden ein für alle Mal verändert. Was zuvor ein Heiligtum der Demokratie und der Wohlfahrt war, wurde nun beinahe wie der Tatort eines Verbrechens abgeriegelt. 32
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Vgl. Bo Stråth, Mellan två fonder. LO och den svenska modellen, Stockholm 1998; Jenny Andersson, Between Growth and Security. Swedish Social Democracy from a strong Society to a Third Way, Manchester 2006. Vgl. Stråth, Mellan två fonder; Jan Larsson, Folkhemmet och det europeiska huset. Svensk välfärdsstat i omvandling, Stockholm 2008. Vgl. Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Neuwied/Berlin 1970.
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Versuche einer radikalen rhetorischen Neuformulierung der schwedischen Geschichte häuften sich auf den Kommentarseiten der Zeitungen. »Sterilisierungen gehörten zur Grundlage des folkhemmet in Schweden«, schrieb Maciej Zaremba, einer der bekanntesten schwedischen Journalisten, in Dagens Nyheter.35 In der gleichen Zeitung erklärte der Kolumnist Björn Linnell kalauernd, dass »eine wachsende Zahl von Rissen in der Wand deutlich machen, dass hinter dem Modell-Land [mönsterland] – dem Schweden, das zu Recht für seinen sozialen Fortschritt gepriesen wurde – ein Monster-Land [monsterland] liegt, in dem Zensur, Unterdrückung und Dunkelheit herrschen«.36 Der Historiker Peter Englund, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, behauptete, dass die Eugenik genau den Denkprozessen hinter der Sozialpolitik und der Sozialdemokratie entsprach: Die Sicht, dass Individuen gesellschaftliche Ressourcen waren, die »rational« ausgebeutet werden mussten, habe eugenische Sterilisierungen zum legitimen Instrument gemacht: »Die Katastrophe trat ein, als der Eifer der Reformer mit der entmenschlichten Perspektive der Wissenschaftler und dem arroganten Glauben der Ideologen, dass gesellschaftliche Güter automatisch Vorrang vor den Rechten des Individuums hatten, verschmolz.«37 Die internationale Presse stieß ins gleiche Horn. Die Washington Post berichtete über eine »vierzigjährige naziartige Kampagne der Zwangssterilisierung«, während die Nachrichtenagentur Reuters meldete, dass »die sozialdemokratische Regierung Schwedens 60000 Frauen sterilisierte, um die Gesellschaft von minderwertigen Rassentypen zu befreien und arische Züge zu fördern«.38 Die Politiksendung CBS 60 Minutes besuchte Schweden sogar. Die Sterilisierungsgeschichte bot die passende journalistische Perspektive.39
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Maciej Zaremba, Dagens Nyheter vom 20. 8. 1997. Björn Linnell, Dagens Nyheter vom 30. 8. 1997. Peter Englund, Expressen vom 25. 8. 1997. Washington Post vom 25. 8. 1997; Reuters vom 25. 8. 1997. Paul Gallagher, »The Man Who Told the Secret. It Took a Non-Swede to Get the Full Story of a Government Sterilization Program«, Columbia Journalism Review, Januar/Februar 1997.
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Aber an dieser Perspektive stimmte etwas nicht.40 Die Sterilisierungen hatten stattgefunden – eine tragische und historisch komplexe Realität, die an dieser Stelle nicht detailliert untersucht werden kann –, aber kaum als Teil des folkhemmet, das ja niemals in der Form existiert hatte, die ihm die moralisierenden Angriffe zur eigenen Legitimation gaben.41 Das eigentliche Verbrechen waren die Euphemismen und Entlastungsnarrative, weniger die Taten selbst. Sterilisierungen hatten in vielen Ländern stattgefunden, nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland. Die ersten Sterilisierungsgesetze der Welt, die härter waren als die in Schweden, wurden 1907 im US-Bundesstaat Indiana erlassen. In etlichen europäischen Ländern waren Sterilisierungen Teil der üblichen medizinischen Behandlungspraxis.42 Doch nur in Schweden waren diese in einem »Modell-Land […], das zu Recht für seinen sozialen Fortschritt gepriesen wurde«, durchgeführt worden.
Mitbürgerheim Was geschieht, wenn wir die Lektüre von der anderen Seite des Kommas aus beginnen, mit dem medborgarhemmet, über das Hansson vor allem sprach? Wie könnte dieser imaginäre Ort denen erschienen sein, die ihm im Weg standen? Den erwähnten »Propheten der Wohlgenährten« im Schweden der 1920er Jahre, die, wie Hansson behauptete, »östliche Zufriedenheit« predigten, als die Menschen bereits nicht mehr zuhörten; oder denen auf der Rech40
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Vgl. Åsa Kroon, Debattens dynamik. Hur budskap och betydelser förvandlas i mediedebatter, Linköping 2001; Ulf Zander, Fornstora dagar, moderna tider. Bruk av och debatter om svensk historia från sekelskifte till sekelskifte, Lund 2001; Urban Lundberg/Yvonne Hirdman, »Fakta fäller faktoiden om steriliseringarna«, in: Dagens forskning 2002, S. 13f. Einen ausgezeichneten Überblick über die Sterilisierungspolitik in Schweden bietet Mattias Tydén, »The Scandinavian States. Reformed Eugenics Applied«, in: Alison Bashford/Philippa Levine (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Eugenics, Oxford/New York 2010; ausführlicher: Mattias Tydén, Från politik till praktik. De svenska steriliseringslagarna 1935–1975, Stockholm 2002. Vgl. Paul Weindling, »International Eugenics. Swedish Sterilization in Context«, in: Scandinavian Journal of History 24 (1999), H. 2, S. 179–198.
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ten, die eine Gesellschaft der Privilegien unabänderlich als »natürliche Ordnung« ansahen?43 Grundsätzlich war das »Mitbürgerheim« ein inklusiver Ort: Alle waren willkommen. Gleichzeitig war es unvermeidlich, dass die Beziehungen zwischen den Menschen fundamental umgestaltet werden mussten. »Wenn wir leben wollen, müssen wir Versorgungseinrichtungen und Werte schaffen, und je mehr wir davon haben, desto reicher wird das Leben sein. Aber sie müssen für das Volk, nicht für einige wenige Privilegierte geschaffen werden.«44 Die bestehende Wirtschaftsordnung war nicht zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite änderte sich nichts für die armen Leute, wenn die Oligarchie einfach weggefegt würde. Ihre Vertreter hatten in der neuen Gesellschaft eine Funktion zu erfüllen. Während Arbeitgeber »auf das bedacht waren, was ihnen gehörte«, betrachteten Arbeiter »mit Argwohn eine neue Ordnung, die ihnen in manchen Fällen erhebliche Verantwortung auferlegte«.45 Beide Gruppen waren eingeschlossen und angesprochen, wenn Hansson die Ausweitung eines Sinns für Allgemeinwohl und öffentlichen Dienst verlangte; seine Überzeugung war, dass jeder, der das Problem sorgfältig durchdachte, zu dem Schluss käme, dass »der Bezug auf das Allgemeinwohl auf keine Weise den Interessen des Individuums zuwiderlief«. Auch im medborgarhemmet konnte jeder »ohne Schwierigkeit sowohl dem Allgemeinwohl als auch seinen eigenen Vorteil dienen«.46 Das »Mitbürgerheim« stellte eine historische Gelegenheit dar, die auf der Einsicht beruhte, dass die Geschichte, auch wenn sie oft die eine Person auf Kosten der anderen bevorzugt hatte, auch in der Lage war, ein gewisses Maß an Gerechtigkeit herzustellen. Hansson entkräftete die Ängste der alten herrschenden Elite, indem er sie an einen Ort einlud, an dem sie sich längst befunden hätte, »wenn es überall soziale Weisheit, einen echten Sinn für das Allgemeinwohl und guten Willen gegeben hätte«.47
43 44 45 46 47
Hansson, Demokrati, S. 31. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 31.
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Medborgarhemmet war leichter als der Kommunismus und schwerer als die »bürgerliche Demokratie« – Hanssons Begriff für die liberale Regierungsform, die politische Rechte einschloss.48 Es konnte nicht auf eins davon reduziert werden. Den Übergang zum Kommunismus konnte man in der Sowjetunion beobachten, wo die Bolschewiken »die Freiheit aller durch die Freiheit weniger, die anderen zu unterdrücken«, ersetzt hatten.49 Dort zeigte sich, dass Oligarchie keine symbolische Kategorie war, die sich in Luft auflöste, sobald »staatliche Behörden sich auf richtige Weise der Aufgabe annehmen, Not und Unsicherheit zu beheben«, sondern für eine besondere Art von Verbrechen stand, die bestimmten Einzelnen zuzuschreiben waren.50 Wie die Faschisten strebten die Bolschewiken »das Ziel einer Diktatur an, und beide stützten sich auf Gewalt, um dieses Ziel zu erreichen«.51 Über den Übergang zur Demokratie konnte man in literarischen Werken einiges lesen. In der »Politeia« beschreibt Platon diesen Übergang als eine Vorstufe der Tyrannei, er vergleicht ihn mit der Enthemmung eines Jugendlichen, »einem bei den notwendigen Begierden Auferzogenen«, der »zur Befreiung und Loslassung der nicht notwendigen übergeht«.52 Platons Bild wurde der politischen Theorie immer wieder eingepflanzt.53 Die schwedische intellektuelle Traditionen war hier keine Ausnahme. Rudolf Kjellén (1864–1922) zufolge, einem konservativen Professor der Politik, der begeistert auf jene Art und Weise von folkhemmet sprach, die Hansson in seiner Rede zurückwies, ging die Demokratie einher mit der Übertragung der Macht über die erhabensten Dinge im Leben an die »rohe unqualifizierte Mehrheit«.54
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Ebenda, S. 22, 30f. Ebenda, S. 108. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 108. Platon, Politeia (Der Staat), in: ders., Werke in acht Bänden, Bd. 4, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 2011, S. 693 [561a]. Vgl. John Dunn, Democracy. A History, New York 2005, S. 44f. Rudolf Kjellén, Der Staat als Lebensform, Leipzig 1917, S. 191. Zu Kjellén und der Genealogie des Begriffs »Volksheim« vgl. Henrik Björck, Folkhemsbyggare, Stockholm 2008; Fredrika Lagergren, På andra sidan välfärdsstaten. En studie i politiska idéers betydelse, Stockholm 1999.
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Auch Hansson konnten nicht die Risiken entgehen, die damit verbunden waren, das politische Fundament einer Gesellschaft zu erweitern. Medborgarhemmet brachte den Übergang von der Oligarchie zur Volksherrschaft mit sich: Wie wird die Demokratie geschaffen? Wie wird sie erhalten? Wie kann sie verteidigt werden? Wie lässt sich sicherstellen, dass sie nicht aufgelöst und zu einer weiteren Maske wird, hinter der sich Machtlosigkeit und Ungleichheit verbergen, oder völlig zu der Tyrannei entartet, die Platon vorausgesagt hatte? Hansson stellte sich niemals eine Politik ohne Menschen vor, er richtete seinen Blick niemals über den Horizont hinaus: »Wenn es uns möglich wird, in der Regierung eine Politik zu verfolgen, die den Menschen nützt, dann wird das unsere Leitlinie sein. Würde eine solche Möglichkeit wieder zunichtegemacht, würden unsere Anstrengungen weitergehen, mit den gleichen Gefühlen für das, was eine demokratische Ordnung erfordert.«55 Damit war eine Einladung verbunden. Jeder konnte Hanssons Ansicht zufolge gewinnen durch das »Niederreißen der Barrieren, die jetzt die Bürger in Privilegierte und Vernachlässigte trennten, in Herrschende und Abhängige, in Reiche und Arme, in Eigentümer und Mittellose, in Plünderer und Ausgeplünderte«. Jeder konnte gewinnen, wenn ein Raum für das Gespräch zwischen Menschen geschaffen wurde, die mehr an den anderen und weniger an sich selbst dachten.56 Ein Ausschluss aus diesem Gespräch war natürlich auch möglich. Hanssons Reden und Schriften kennen zahlreiche Charaktere, die nicht dazugehörten. Darunter fielen »Besitz anhäufende Herrscher, die die Armen ausplündern«, Kapitalisten, »die, um ihr Verlangen nach Profit zu befriedigen, die Interessen der Produktion und der Öffentlichkeit missachten«,57 »die Päpste in Moskau«, die forderten, dass man »gemäß Weisung denken sollte«,58 und die Faschisten, die zu den »gewalttätigsten Redeweisen« griffen, sie appel-
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Hansson, Demokrati, S. 8. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 52.
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lierten an die »niedrigen Instinkte, weckten die bösartigsten Emotionen, mobilisierten Misstrauen und Hass«.59 Doch die Tür war nicht völlig verschlossen. Es gab immer einen Weg zurück für diejenigen, die nach reiflicher Überlegung dem »sozialen Zusammenleben auf der Grundlage gleicher Rechte« den Vorzug gaben, die nicht nur auf »ihre eigenen Rechte und ihren eigenen Anteil« versessen waren.60 Auch das war eine Einladung zur Selbstverbesserung. In diesem Argumentationsgang beschwor Hansson eine Befreiung, die darin bestand, eine Gesellschaft, in der eine privilegierte Stellung durch Anrufung göttlichen Willens oder natürlicher Selektion legitimiert wurde, zugunsten einer Gesellschaft aufzugeben, deren Mitglieder Gelegenheit erhielten, eine privilegierte Stellung in einer Demokratie im Gespräch zu begründen, in der die Bürger einander mit Respekt und Rücksicht behandelten. Das »Mitbürgerheim«, erklärte Hansson, war nicht nur eine Frage der Gleichheit und der gerechten Verteilung, sondern auch der Abschaffung der Vorstellung, dass »Macht immer mit dem Drang zur Unterdrückung verbunden« sei. Das galt auch für die Mitglieder seiner eigenen Partei: »Es gibt keinen besseren Weg, als die Freiheit in unserer eigenen Bewegung zu schätzen und zu schützen, als uns vom selbstgefälligen Anspruch auf die Alleingültigkeit und absolute Überlegenheit unserer eigenen Meinungen zu befreien, als den anderen zuzuhören und ihre Meinungen zu respektieren und als den offenen und vertrauensvollen Austausch von Ideen, der immer am besten ist, zu suchen.«61 Das »Mitbürgerheim« wurde von seinen Gegnern als eine Institution dargestellt, »in der jeder die gleiche Uniform trägt, die gleichen Dinge tun, aus dem gleichen Trog essen, auf dem gleich geformten Kopfkissen schlafen, die gleichen Gedanken denken und die gleichen Meinungen haben muss – und wahrscheinlich am Ende wie eine Bohne in einer Bohnenhülse aussehen würde«.62 Dieses skurrile Bild würde – so Hansson – von denen verbreitet, die zu ihrem Vorteil die bürgerliche Gesellschaft bewahren wollten; der 59 60 61 62
Ebenda, S. 126. Ebenda, S. 128. Ebenda, S. 60f. Ebenda, S. 52.
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Mythos vom gemeinen Volk als tierischer Herde, die im Schatten kauerte und einen unersättlichen Appetit auf das Eigentum der anderen hatte. Hansson konnte diesen Anspruch auf Exklusivität bei denen, die sich an das Alte klammerten, ebenso wenig verstehen wie die »Anhänger der inneren und äußeren Uniformität« unter denen, die sich selbst als Vertreter des Neuen sahen. Es war eine Frage der Seele. Vielfalt sollte für jeden gelten, und das Leben wäre noch reicher, wenn sie nicht »nur einigen wenigen« zur Verfügung stünde. »Wenn die eine Person ein Fleischgericht und die andere eines aus Roter Beete kochen will; wenn einer einen wohlgedeckten Tisch liebt, während der andere sich vorzugsweise in Form von Pillen ernährt; wenn jemand seine Freizeit gern für eine Spritztour mit dem Wagen nutzt, ein anderer, um Rosen zu ziehen, ein dritter, um Briefmarken zu sammeln, ein vierter, um Musik zu machen, ein fünfter, um in der Welt der Bücher zu leben, ein sechster, um sich Pferderennen anzuschauen oder um Fußball zu spielen; dann geht uns das nichts an, so wenig wie die Frage, ob jemand eine Jacke und ein anderer einen Morgenmantel tragen will oder ob er ein englisches metallenes Bettgestell einem Bettsofa vorzieht.«63 Gleichheit und Demokratie »würden nicht zu Mittelmaß führen«.64 Darin lag Hanssons moralischer Anspruch und seine Hoffnung auf eine Zukunft, die aufgrund ihrer Vielfalt nicht auszumessen war. »Wenn uns jemand sagt, dass die Gesellschaft zu arm dafür ist«, betonte er, »werden wir antworten, dass sie reicher gemacht werden kann«.65 Formal betrachtet, war medborgarhemmet einfach: Gleichheit, Freiheit und die gleichen Rechte für alle. Der Rest »hängt von uns selbst ab, von denen unter uns, die sich heute in diesen Prozess einbringen«.66
63 64 65 66
Ebenda, S. 61. Ebenda, S. 62. Ebenda, S. 62, 29. Ebenda, S. 269f.
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Geist und Taten Hanssons Darstellung des medborgarhemmet ist beinahe unbeschwert von der vorherrschenden Vorstellung, dass die Gestaltungsmöglichkeiten, die Stabilität und das Überleben von Demokratien eine Frage der Beschaffenheit ihrer politischen Institutionen sind – die er »den äußeren Schmuck der Demokratie«67 nannte. »Die Gesetze der Demokratie«, bekräftigte er, »die nicht rein juristische Formulierungen sind, müssen in einem außergewöhnlichen Ausmaß auf allgemeinem Vertrauen beruhen.« Dieses Vertrauen setzte umgekehrt »eine Bereitschaft voraus, sein Bestes zu tun und den legitimen Ansprüchen zu genügen, die das Volk an seine Regierung gestellt hat«.68 Die Demokratie zur Formfrage zu erklären, würde sie oberflächlich, vorhersehbar und manipulierbar machen. Worauf es letztlich ankam, war die Qualität der Politik, nicht der Institutionen. Versagen in dieser Hinsicht – das heißt, wenn gewählte Volksvertreter nicht ihr Bestes täten, um den »legitimen Ansprüchen« des Volks zu genügen – würde es auf Dauer unmöglich machen, »die durch die Verfassung geregelte demokratische Ordnung zu sichern und zu festigen«.69 Welche Rückschläge auch eintraten, die Schuld daran konnte weder den »Machenschaften geschickter Agitatoren« noch den begrenzten Möglichkeiten und dem undeutlichen Rechtsverständnis der Massen zugeschrieben werden: »Jede Agitation, die Frucht trägt, hat eine Grundlage in der Wirklichkeit. Politische Agitation bezieht ihre Stärke aus einem Klima der politischen Ungerechtigkeit oder der Skepsis gegenüber der Fähigkeit einer Regierung, die Interessen der Nation und der Menschen zu vertreten. Soziale Agitation nährt sich von der Not der Menschen, von ihrer Armut und Unsicherheit, von ihrer Arbeitslosigkeit, von den Schwierigkeiten der Landarbeiter, durch ihre Arbeit das Lebensnotwendige für sich und ihre Familien zu erwirtschaften, von den Ängsten der Ange-
67 Ebenda, S. 31. 68 Ebenda, S. 110. 69 Ebenda, S. 111.
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stellten im Handel und in Büros, von der Angst des Kaufmanns und des Handwerkers vor Bankrott und Ruin.«70 Im Gegensatz dazu trat Hansson für Geist (anda) und Taten (gärningar) ein. Die Demokratie musste im Alltagsleben der Menschen einen Unterschied machen, aber sie musste ihnen auch helfen zu verstehen, was es bedeutete, dafür demokratische Strukturen zu nutzen. »Demokratische Herrschaft kann nicht wie eine Diktatur Befehle ausgeben, denen man blind zu folgen hat; sie kann nicht immer die Sache auf die Spitze treiben; sie muss versuchen, zwischen den Interessen zu vermitteln, die Dinge hervortreten zu lassen, die verbinden, ja, lasst es uns laut sagen, sie muss Kompromisse suchen.«71 Es war verlockender, »alles oder nichts« zu verlangen und »den Rückzug erst anzutreten, wenn man blutbefleckt war«. Das waren die Methoden der Diktatur, und darin lag wahrscheinlich ihre Attraktivität. »Aber die Demokratie verfolgt das Ziel, die Gesellschaft zu einem Ort der Sicherheit und der Freiheit für alle zu machen. Sie muss darum Gemeinschaft kultivieren, gegenseitiges Verständnis, Zusammenarbeit in dem Projekt, eine solche Gesellschaft aufzubauen. Sie muss sich damit begnügen, stufenweise voranzukommen. Das erlegt unserer Geduld und Toleranz Belastungen auf, aber es verhindert auch unnötige Zerstörung und bietet eine stabilere Grundlage für das, was darauf errichtet wird.«72 In Europa hatte eine viel bedrohlichere Entwicklung eingesetzt. »Die Strukturen der Demokratie wurden an vielen Orten von diktatorischen Horden überrannt, und ihre Feinde scheinen Europa übernommen zu haben«, erklärte Hansson in einer Rede in den frühen 1930er Jahren. Die Folgen wären auch für Schweden schrecklich: »Gewalt regiert, die Freiheit der Menschen wird in den Staub getreten, auf Widerspruch wird mit Terror reagiert, Rassenhass greift um sich und weckt entsetzliche Ängste.« Das sei ein »düsteres, manchmal beinahe hoffnungsloses Bild«, fuhr er fort. »Die Demokratie ist die einzige Form, in der ein Volk in menschlicher Anständigkeit, frei und zivilisiert leben kann. Und dennoch geben die 70 71 72
Ebenda, S. 110. Ebenda, S. 129. Ebenda, S. 130.
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Menschen die Demokratie auf, sie liefern sie und sich selbst dem Faschismus aus! Warum?«73 Die Frage blieb in der Schwebe. Eine Reihe von Demokratien hatte sich »einem System gewalttätiger Unterdrückung« unterworfen.74 Zu Hause »lauerten die Feinde der Demokratie auf neue Gelegenheiten«.75 Der alten Elite war nicht zu trauen, sie hatte »ihre Hoffnungen« noch nicht aufgegeben.76 Mit der Wirtschaftskrise kam die Gefahr neuer »Bekehrungen zum Nazismus«.77 Die Frage blieb, warum Schweden nicht in diese Entwicklung hineingezogen worden war. Hansson lehnte die Vorstellung ab, dass der Boden in Schweden besonders vorteilhaft war – dass besondere Charakterzüge im Volk existierten. Aber er sprach gerne von »freiheitliebenden Schweden« und vom schwedischen Volk als demokratisch. »Seid Schweden!«, sagte er häufig.78 In diesem Punkt ist er oft missverstanden worden, auch von Historikern der jüngsten Zeit.79 Hansson war nur nationalistisch, wenn er sein Publikum herausfordern musste – wenn er die Bedeutung der Demokratie betonte und erklärte, dass sie mehr sein sollte als ein weiteres hochtrabendes Wort, mit dem die Menschen aus den falschen Gründen in Unruhe versetzt oder ruhig gestellt würden. Demokratie war Hansson zufolge eine Frage der Bewegung, des Gesprächs über eine Gesellschaft in the making, die im Entstehen begriffen war, über dieses unvollkommene und unvollständige Ding, das wir selbst irgendwie fortlaufend erschaffen. Die einfachen demokratischen Prinzipien des medborgarhemmet umfassten eine Bandbreite denkbarer Formen, sie gingen über die »Paragraphen« und »Fassaden« der Demokratie hinaus und stellten die Verantwortung jedes Einzelnen heraus.80 Das Gespräch musste breit gefächert sein und alle Dimensionen der Gesellschaft erreichen. Die Demokratie konnte nicht jemand anderem überlassen werden. An dieser 73 74 75 76 77 78 79 80
Ebenda, S. 128. Ebenda, S. 126. Ebenda, S. 273. Ebenda, S. 275. Ebenda, S. 272. Ebenda, S. 131. Vgl. Berggren/Trägårdh, Är svensken människa?, S. 199–201. Hansson, Demokrati, S. 110.
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Stelle wurde Hanssons Ton schärfer, vermutlich weil es immer noch ungewiss war, ob Menschen (oder Schweden) für die Demokratie geeignet waren: »Glaubt nicht, dass der Geist und die Taten der Demokratie für das öffentliche Wohl allein kultiviert werden. Sie gehören gleichermaßen zum individuellen Leben, zur Familie, zum Freundeskreis, zum Arbeitsplatz, zu welcher Form auch immer menschliches Zusammenleben findet. Und wie bei allem anderen gilt für die Demokratie: Um etwas sicher und auf Dauer zu errichten, muss man mit den Fundamenten beginnen. Es sind Menschen, die eine Gesellschaft bilden, und diese Gesellschaft – in der ihre Stimmen gehört werden – wird sein, wie sie sind. Bei allem schuldigen Respekt für die Pioniere, die Führer und die Elite, in letzter Instanz muss die Demokratie einen Geist und eine Haltung aufbauen, die dem Allgemeinwohl verpflichtet sind. Größte Sorgfalt muss darum darauf gelegt werden, die Demokratie zu pflegen, was nicht nur eine Pflege durch Bildung im Zuhause oder in der Schule sein darf, sondern vor allem eine Pflege des Selbst und eine wechselseitige Pflege unter Gleichen sein muss.«81 Wie das Volk, so seine Gesellschaft: Hanssons Grundsatz stand im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Auffassung, dass die Demokratie trotz der menschlichen Natur existierte und dass sie einerseits brillant gestalteter Institutionen bedurfte, um Macht und Verantwortung zuzuordnen und zu beschränken und Grenzen zu setzen, sowie andererseits Führer mit tiefer Einsicht in das, was notwendig war, um eine gut funktionierende Gesellschaft aufzubauen. Wie der Politikwissenschaftler Ian Shapiro feststellt, stand die globale Ausbreitung der modernen Demokratie immer in scharfem Gegensatz zu den Zweifeln der Theoretiker an ihren guten Eigenschaften. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen haben die »Rationalität ihrer inneren Logik« infrage gestellt, »und viele andere sind sehr skeptisch gewesen, ob sie als politische Zukunftsperspektive wünschbar ist«.82
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Ebenda, S. 18f. Ian Shapiro, The State of Democratic Theory, Princeton 2003, S. 1.
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Hansson fand diesen Argumentationsgang, die Idee, dass optimale Gesellschaftsordnungen am Reißbrett entstehen, unter der Anleitung von Verfassungsarchitekten, die ein Talent für Sicherheitsmaßnahmen und funktionierende Lösungen hatten, nie überzeugend: »Die gegenwärtigen Instrumente der Demokratie sind, wie alles andere, wahrscheinlich unvollkommen. Unser Parlament, dessen fünfhundertjähriges Bestehen wir im nächsten Jahr feiern, ist oft bemängelt und beinahe immer kritisiert worden. […] Aber die Volksvertretung war dennoch das Bollwerk unseres Landes in kritischen Augenblicken der Katastrophe und Gefahr, das natürliche Fundament unseres Volks, wenn es seine Kräfte sammeln und einen Ausweg, einen Weg nach vorn finden musste.«83 Das war eine eigenartige Wahrnehmung. Man befand sich immer noch in den 1930er Jahren. Kaum ein Jahrzehnt war vergangen seit den Verfassungsreformen von 1921, die das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen eingeführt hatten. Die Entwicklungen in Europa zeigten, dass die alten Machthaber, die sich immer noch manche Hoffnungen machten, die politischen Institutionen der Demokratie für ihre eigenen Zwecke ausnutzten. In diesem kritischen Augenblick argumentierte Hansson, dass die Demokratie nur gerettet werden könne, wenn sie alle Menschen zu erreichen versuchte, »wenn wir unsere gemeinsamen Sorgen in den Vordergrund treten lassen und uns selbst und unsere Parteien die edle Kunst lehren, unserem Mutterland zu dienen«.84 Die Vorstellung war einfach, aber radikal, eine Herausforderung nicht nur für diejenigen, die sich um ihre eigenen Interessen kümmerten, sondern auch für die Intellektuellen, die befürchteten, dass die Qualität der politischen Sphäre sich verschlechtern würde, wenn die Regierung unter allzu vielen Beteiligten aufgeteilt war.
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Hansson, Demokrati, S. 152. Ebenda, S. 153. Das im Schwedischen idiomatische »Mutterland« wurde in der Übersetzung nicht durch das deutsche »Vaterland« ersetzt.
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Potenzielle Konvertiten des Nationalsozialismus Den Beobachtungen des französischen Historikers Jacques Rancière zufolge hat der Hass auf die Demokratie immer seinen Ursprung in der Angst vor der Freiheit und vor den Folgen der Gleichheit. Für diesen Hass bestehe das Hauptproblem nicht in den demokratischen Institutionen und ihrer Macht, sondern in den Menschen, die mit ihren unrealistischen Erwartungen an die Gesellschaft das intellektuelle Klima zerstörten.85 An manchen Stellen in seinen Reden und Schriften erkannte Hansson an, dass die Ausbreitung der Gleichheit legitime Sorgen hervorrief. Gleichzeitig setzte sein Glaube an das nie endende Gespräch über eine Gesellschaft, die sich stets im Entstehen befand, eine bestimmte Art von Menschen voraus und ein Vertrauen darauf, dass die Menschheit dieser Aufgabe gewachsen war – und dass sie sich dieser Herausforderung stellen würde. Hanssons Rezept war Selbstbeherrschung. Er kam immer wieder auf diesen Begriff zurück, auf die Lehre, dass »es nicht genug ist, die Freiheit zu besitzen, man muss auch in der Lage sein, richtig mit ihr umzugehen«. Alles hing von diesem Grundsatz ab, ohne den »die Freiheit eine leichte Beute für ihre Feinde würde«.86 Ausführlich sprach Hansson über die Bedrohung von außen – Bolschewismus und Faschismus, »die sich beide weigern, sich loyal den demokratischen Gesetzen eines zivilisierten Miteinanders unterzuordnen«. Man könnte sagen, dass er sich diese beiden spaltenden Kräfte zunutze machte. Denn medborgarhemmet wurde seine Alternative und bald die einzige Alternative zu den Entwicklungen auf dem Kontinent. Am meisten beunruhigten ihn jedoch Vorurteile. Nur wenige Menschen – selbst in der alten Elite – wollten unter Stalin, Hitler, Franco oder Mussolini leben. Aber wie könnte man sich gegen die individuelle Unverlässlichkeit absichern, die Vgl. Jacques Rancière, Der Hass der Demokratie, Berlin 2011. Der historische Kontext im Schweden der Zwischenkriegszeit stellte in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Zu frühen Kritikern der Demokratie, vor allem in den konservativen und agrarischen Parteien, vgl. Rolf Torstendahl, Mellan nykonservatism och liberalism. Idébrytningar inom högern och bondepartierna 1918–1934, Stockholm 1969. 86 Hansson, Demokrati, S. 134. 85
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jene zur Macht gebracht hatte? Die Frage war, ob die Menschen jemals mehr als eine inkompetente und manipulierbare Mehrheit bilden könnten. Der amerikanische Politikwissenschaftler Sheldon Wolin bezeichnet eine solche »massenpartizipatorische Politik« (demotic politics) als den »Wandel vom Objekt der Macht zum Handelnden«.87 Die Politik wurde von einer Domäne der Privilegierten und Mächtigen transformiert in eine allgemeine, öffentliche Sphäre.88 Im Verlauf der 1930er Jahre ließ Hansson Ermahnungen ergehen und verurteilte die Habgier, die Kleinlichkeit und die Selbstbezogenheit der Menschen. »Wer die Partizipation an der Arbeit der Gesellschaftsreform für eine Zumutung hält, kann nicht die Kraft und den Verstand einbringen, die notwendig sind, um diese Arbeit zum Erfolg zu führen.« Und weiter: »Das Ergebnis sind stattdessen kleinliche Berechnungen und Belanglosigkeiten, und wenn die Reform dann endlich kommt, ist jeder dieser Engstirnigkeit und Unwilligkeit, die ständig wieder überwunden werden müssen, bereits so überdrüssig, dass selbst die, denen die Reform am meisten bringt, keine Freude an ihrem Fortschreiten haben.«89 Die Botschaft war einfach, wenn auch überzogen: »Meine Freiheit sollte nicht ausgeweitet werden auf Kosten deiner Freiheit, und unsere Freiheit sollte keine unberechtigten Eingriffe in die Freiheit anderer machen.« Freiheit hatte ihre Grenzen, »in entwickelten Gesellschaften noch mehr als in primitiven«.90 Der Einzelne konnte sich nicht vor seinen Verpflichtungen drücken, indem er anderen Forderungen auferlegte. Das Problem der Gemeinschaft – die Schwierigkeit, eine Gesellschaft zu schaffen aus Individuen mit Interessen, die im Konflikt zueinander standen – hatte schon immer existiert, aber in einer Demokratie trat es auf eine neue und anstrengendere Weise auf. Seinen Status durch den Verweis auf Gewohnheit oder Tradition sichern zu wollen, war keine Option mehr: »Jeder kann seine Rechte verfechten, aber niemand, weder ein EinSheldon S. Wolin, Democracy Incorporated. Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism, Princeton 2008, S. 249. 88 Vgl. ebenda, S. 276. 89 Hansson, Demokrati, S. 10. 90 Ebenda, S. 134. 87
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zelner noch eine Klasse, kann einen Anspruch auf Privilegien erheben.«91 In letzter Instanz kam es darauf an, Verständnis dafür zu erzeugen, was es heißt, unter den Bedingungen der Gleichheit zu leben. Wenn jeder seine Verantwortung trug, gab es keinen Grund dafür, dass die Verhältnisse zu Platons ekstatischen Bacchanalien ausarteten, in denen man »von dem Honig der Drohnen kostet und mit feurigen und gewitzigten Unholden zusammenkommt, welche mannigfaltige und die größten Abwechslungen darbietende Vergnügungen aller Art zu verschaffen wissen«, während man auf die Polizeitrupps der Diktatur wartet.92 Selbstbeherrschung war Teil der Freiheit, so wie Freiheit und Partizipation Bedingungen der Demokratie waren. Das heißt nicht, dass Selbstbeherrschung eine einfache und unkomplizierte Sache war. Hansson war ständig im Zweifel, ob Menschen dazu befähigt waren, den Anforderungen der Gleichheit gerecht zu werden. Besonders zweifelte er an Mitgliedern seiner eigenen Partei. Wenn eine demokratische Arbeiterpartei überleben wollte, musste sie dafür sorgen, dass Verantwortungsgefühl und Selbstbeherrschung zu den handlungsleitenden Prinzipien der Parteibasis wurden. Auf dieser Grundlage griff er auch die Kommunisten an, als »Gegner der Selbstbeherrschung«, die ständig Gelegenheiten zu ergreifen versuchten, »die Leidenschaften der Arbeiter aufzupeitschen« zu »Wolken der Bitterkeit«.93 Auch die Intellektuellen boten Grund zur Sorge. Konnte man darauf vertrauen, dass sie loyal zur Demokratie blieben? Die Berichte aus Europa waren erschreckend. Hansson sprach dieses Problem 1934 in einer Rede vor den Studenten der Universität Lund an, der zweitältesten Universität Schwedens. »Ich will zu Ihnen als ein Bürger zu anderen Bürgern sprechen, zu Ihnen als jungen Männern und Frauen, die sich darauf vorbereiten, ihre Rechte als Bürger und damit auch ihre Verantwortung als Bürger wahrzunehmen.« Menschen als Bürger anzusprechen war ein wesentliches Merkmal von Hanssons medborgarhem91 92 93
Ebenda, S. 83, 265. Platon, Politeia (Der Staat), S. 689 [559d]. Per Albin Hansson, zit. nach Gunnar Lundberg, Verklig enhetsfront. En appell till svenska arbetare, Stockholm 1936, S. 9.
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met. Nicht um der Eitelkeit zu schmeicheln, nicht um den Wunsch nach Exklusivität zu wecken, »nicht um Kompromisse mit Vorurteilen einzugehen«, wie er den Nationaldichter Esaias Tegnér zitierte; Hansson wollte vielmehr das Interesse wecken an der »Zusammenarbeit freier Menschen für das Allgemeinwohl, das Beste in jeder Hinsicht, und die Gleichheit aller«, die die Grundlage für ein anständiges Leben war. Studenten, so redete er seinen Zuhörern ins Gewissen, sollten sich besonders gut für diese Herausforderung eignen. Denn immerhin besuchten sie die Universität »genau deswegen, um unter der Anleitung der klügsten Köpfe die hohe Kunst zu erlernen, frei von jedem Vorurteil zu sein«.94 Forschung war eine Übung darin, was es hieß, ein Bürger zu sein. Eine Übung, wie man als Einzelner mit all den Lasten, die man mit sich herumschleppte, Hanssons medborgarhemmet betrat: »Forschung endet nicht damit, Ergebnisse zu erhalten. Sie bewegt sich kontinuierlich weiter. Wissenschaft weigert sich, sich von Gewohnheiten oder Schemata einschränken zu lassen. Sie sucht, findet und bestimmt, sie gibt neuen Entdeckungen, Ideen und Methoden Raum, sie zeigt Verbindungen auf und fördert den Fortschritt. Sie atmet die Luft der Freiheit, und ihr Ziel ist es, zu vervollständigen und zu steuern. Warum sollten wir das, was im Bereich der Forschung und Wissenschaft sich als wahr und notwendig erwiesen hat, nicht auch im Allgemeinen für gut halten, insbesondere, was die Werte und die Entwicklung der Gesellschaft betrifft?«95 In Hanssons Reden und Schriften lässt sich schnell ein deutliches Muster erkennen. In seiner Rede auf dem Bauerntag im Stockholmer Freilichtmuseum Skansen 1935 ließ er die schwedischen Bauern als Träger der Freiheit des Volks hervortreten. Die Arbeit auf dem Feld, in der Scheune und auf dem Bauernhof wurde zum Akt des Bürgerseins umgestaltet. Ein Bürger zu sein, erklärte Hansson, bedeutete, das Beste aus dem zu machen, was einem an Mitteln zur Verfügung stand. Im Gegensatz zu einer Regierung der wenigen war die Demokratie bruchstückhaft, sie war in alle Arten von Alltagssorgen, -pflichten und -beziehungen eingeschrieben. Manchmal 94 95
Hansson, Demokrati, S. 150. Ebenda, S. 150.
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funktionierte sie gut, manchmal weniger gut. Mehr konnte man nicht von der Demokratie erwarten, wenn sie eine lebendige Kraft im Volk sein sollte. Es kam nicht darauf an, welche Gruppe die Öffentlichkeit bildete: Bonzen, arme Arbeiter oder gesichtslose und entfremdete Massen, die zufällig ihre Radiogeräte an einem typischen Nachmittag gleichzeitig einschalteten. Die Methode und die Botschaft waren immer gleich: nach dem zu schauen, was die Menschen vereinte, und sie anzuhalten, eine Gemeinschaft zu bilden. Niemand sollte ausgeschlossen sein, mit der möglichen Ausnahme derjenigen, die Homogenität und Systeme gewaltsamer Unterdrückung unterstützten. Hansson schnürte anderen manchmal beinahe die Luft ab, was ihm häufig vorgehalten wird. Sein Eifern für Zusammenarbeit wurde als Entwertung der Demokratie angeklagt, als Hinauswerfen aller, die nicht hineinpassten, als Erzeugung von Dichotomien und Hierarchien. Wer ihn so deutet, liest die falsche Seite, die vor dem Komma – folkhemmet als Ort einer dunklen Macht, der ein heimtückisches Facelifting verpasst wurde. Im Gegensatz dazu sollte man fragen, warum er so unermüdlich Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit anmahnte. Als Hansson am Bauerntag die Bauern in eine schwedische Tradition stellte, die auf Engelbrekt Engelbrektsson, den Aufständischen des 15. Jahrhunderts zurückging, wandte er sich an ein Publikum, das nicht aus seinen eigenen Anhängern bestand, sondern aus skeptischen Landwirten, die wie die alte Elite Gefahr liefen, durch die moderne Gesellschaft an den Rand gedrängt zu werden.96 Hansson unterließ es, gegen die adligen Großgrundbesitzer von Skåne in Südschweden zu hetzen, denen der größte Teil der besten landwirtschaftlichen Nutzflächen im ganzen Land gehörte; er versprach den Bauern auch kein ertragreicheres Ackerland. So wie vor den Studenten war er stattdessen bestrebt, einem Geist der Bürgerschaft den Weg zu bereiten, den Bürger in jedem Einzelnen zu erreichen und zugleich die persönlichen Eigenheiten seiner Mitmenschen zu respektieren. Vor allem sprach er über Selbstbeherrschung: 96 Ebenda, S. 262.
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»Der eigentliche Sinn einer Volksbewegung besteht darin, Menschen die Gleichberechtigung zu verschaffen, also das Recht eines jeden zu achten, sich selbst zu behaupten, ohne die Freiheit eines anderen zu verletzen. Ein solcher Geist erfordert dennoch, dass Egoismus und der Drang nach Unabhängigkeit im Zaum gehalten werden; er steht auf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung; er verlangt Selbstbeherrschung und Solidarität, weist aber Zumutungen und erniedrigende Pflichten zurück.«97 Die Demokratie war noch unerprobt. Die Öffentlichkeit schloss immer noch, in der Elite genauso wie unter den Bauern und Intellektuellen, potenzielle Anhänger des Nationalsozialismus ein. Jeden trieben seine eigenen Befürchtungen um: Die Elite fragte sich, was aus ihrem exklusiven Lebensstil würde; die Bauern, ob sie von ihren Höfen vertrieben würden; und die Intellektuellen, wie sich die Gleichheit auf die soziale Atmosphäre auswirken würde. Geschichte und politische Theorie lehrten, dass die Demokratie unvermeidlich mit der Guillotine enden würde, mit der Aufteilung des Eigentums, mit Massen, die Philosophen zwangen, Giftbecher zu leeren – während furchterregende und hinterlistige Volksführer auf ihre Chance warteten. Dem »Mitbürgerheim« ging es also nicht darum, Konflikte zu entschärfen, individuelle Interessen zu leugnen oder Debatten zum Schweigen zu bringen. Hansson hegte nicht die Illusion, dass die Menschen eines Tages »so vollständig versöhnt wären, dass der Streit aufhören würde«.98 Vereinheitlichung war die Methode der Diktatur. Zugleich gab es keinen Augenblick, in dem die Demokratie verwundbarer und anfälliger für ihre Feinde war, als den, so argumentierte er, wenn ein Volk selbstzufrieden innehielte und erklärte: »Jetzt, wo wir all das erreicht haben, haben wir alles erreicht.«99
97 Ebenda, S. 265. 98 Ebenda, S. 125. 99 Ebenda, S. 205.
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Zwei Nationen Die größte Gefahr für medborgarhemmet war, dass es zwischen die Fronten der »zwei großen Mächte« geriet, betonte Hansson, dass es also versäumte, Partei zu ergreifen in dem, was Benjamin Disraeli in seiner berühmten Formulierung als den Kampf zweier Nationen »innerhalb der Nation« bezeichnete. Hansson war persönlich außerstande, sich mit der Vorstellung abzufinden, dass dieser Konflikt zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen für alle Ewigkeit andauern musste. In seiner Sicht gab es keinen letztgültigen »Streitpunkt« zwischen Menschen. Die Aufgabe, die er beschrieb, bestand vielmehr darin, gemeinsam zu verstehen zu versuchen, was vor sich ging, und sicherzustellen, dass der Wandel so ruhig und friedlich wie möglich eintrat. Die Demokratie bedeutete einfach nur das: die Befriedigung, an einer großen Leistung beteiligt zu sein und mit anderen das Gespräch über eine Gesellschaft zu führen, die sich stets weiterentwickelte. Diese Freude war nicht das exklusive Vorrecht einer Elite. Jede Demokratie, die diesen Namen verdiente, setzte Gegenseitigkeit in allen Dingen voraus, einschließlich der Sicherstellung der Freiheit. Die Verantwortung für Ordnung und Gerechtigkeit trugen alle gemeinsam. Aus dieser Perspektive waren die epochalen Ereignissen in Ådalen 1931, als Soldaten das Feuer auf streikende Arbeiter eröffneten, die gegen den Einsatz von Streikbrechern protestierten, weder eine tragische Bestätigung der Unfähigkeit der Menschen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, noch eine romantische Geste des Widerstands gegen die Herrschenden. Wie das Ende der Weimarer Republik zeigte, konnte das Voranschreiten zur Demokratie nicht die Form immer schärferer politischer Polarisierung annehmen. Die Tragödie in Ådalen hatte offenbart, dass Schweden noch nicht ein wirkliches medborgarhemmet geworden war und dass die Demokratie noch in den Kinderschuhen steckte.100 Im Gegensatz dazu war die Krisenvereinbarung der sozialdemokratischen Regierung mit dem Bauernbund (Bondeförbundet) von 1934 über die Richtung der Wirtschaftspolitik – bei all seiner Geistlosigkeit – 100 Vgl. auch Roger Johansson, Kampen om Ådalen 1931, Stockholm 2001,
S. 121f.
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ein demokratisches Ereignis sowohl dem Geist als auch den Taten nach: Veränderung und Übereinstimmung, Geben und Nehmen, wechselseitiges Verständnis, Gegenseitigkeit. »Beide Seiten haben angesichts der Notwendigkeit etwas gelernt.« Und: »Es ist immer deutlicher geworden, dass verarmte Bauern zu verarmten Arbeitern führen und umgekehrt, mit dem Ergebnis, dass eine psychologische Grundlage für wechselseitiges Verständnis gelegt wurde, was ganz natürlich ist, auch wenn es sehr lange auf sich warten ließ.«101 Beide Seiten arbeiteten ihre Vorurteile auf und schufen so »Einheit auf breiter Front«. Noch wichtiger war, dass beide Seiten zur gemeinsamen Erfahrung der Demokratie in einer Zeit beitrugen, in der »diese noch keine tiefen Wurzeln geschlagen hatte, ihren Bürgern noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen war«. Für einen Augenblick hatte der Kampf der beiden Nationen geendet, wenn schon nicht völlig und für immer, dann aber wenigstens für den Augenblick und auf einem entscheidenden Gebiet. Durch diese Entwicklung wurde es leichter, medborgarhemmet als gesellschaftliches Ideal zu konkretisieren – nicht als kosmetisches Konzept, das Konflikte verdeckte, die Menschen miteinander diskutieren mussten, sondern als eine unvollendete Gesellschaft, die, wenn alles gut ging, nach Formen strebte, die »besser geeignet für Menschen waren und besser auf das Ziel hin organisiert, ihnen die Mittel für ein gutes Leben zur Verfügung zu stellen«.102
Unvollendete Demokratie Die Verschiebung von folkhemmet zu medborgarhemmet ändert natürlich nicht die schwedische Geschichte. Die Sterilisierungsgesetze wurden 1934 dennoch erlassen. Die Rassenkunde hatte immer noch Anhänger. Frauen blieben in untergeordneter Stellung (Hansson erwähnt sie selten). Sozialingenieure versuchten, einfachen Menschen zu sagen, wie sie leben sollten. Hansson war ein listiger Taktiker, dessen Manöver ihm die politische Macht sicherten. Aber statt diese kontroversen Bestandteile im Rahmen eines ge101 Hansson, Demokrati, S. 121f. 102 Ebenda, S. 202.
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schlossenen, verdinglichten und narzisstischen historischen Raums zu bewerten, treten diese als Aspekte einer unvollständigen, noch nicht verwirklichten Demokratie hervor, mit all ihren Mängeln, Unzulänglichkeiten, Fehltritten – und mit einer Zukunft, die darauf wartete, immer wieder neu erschlossen zu werden. Das Gleiche trifft auch auf die Eigenschaften zu, die üblicherweise positiver betrachtet werden, wie die umfassenden Krisenvereinbarungen, das gegenseitige Verständnis, die Sozialpolitik und die frühen Experimente mit keynesianischer Ankurbelung der Nachfrage. Die öffentliche Rhetorik von Per Albin Hansson stellte diese Anstrengungen nicht als das Ergebnis einer gut funktionierenden Demokratie dar, auch nicht als Produkt sozialdemokratischer Machtambitionen, sondern als eine Art unmittelbarer demokratischer Politik – als Versuch, zu einer Zeit, in der die Demokratie noch im Entstehen begriffen, umstritten und kontrovers war, die Bedeutung einer Demokratie für das Alltagsleben ihrer Bürger zu definieren. Gleichzeitig konnte der Erfolg einer Demokratie nicht am Vorhandensein bestimmter politischer Institutionen abgelesen werden. Eine Demokratie konnte nicht auf ihre »Fassade« reduziert werden, was durch die politischen Verhältnisse in Schweden veranschaulicht wird, vom Durchbruch der Demokratie 1920 – als selbstgemachte Regeln der Machtteilung, die seit 1809 praktiziert worden waren, aufgegeben wurden – bis zu den Reformen des Regierungssystems von 1974 – eine Periode, die der Rechtshistoriker Fredrik Sterzel als »das halbe Jahrhundert ohne Verfassung« bezeichnet hat.103 Für Hansson war dieser verfassungsrechtliche Ausnahmezustand von zweitrangiger Bedeutung. Eine Demokratie war immer eine ambivalente Angelegenheit, sie konnte nicht allein auf Rechtsnormen aufgebaut sein. Die entscheidende Frage für eine Demokratie lautete nicht, wie tief der theoretischen und historischen Analyse zufolge ihre Institutionen verankert waren, sondern inwieweit ihre Bürger gute Demokraten waren: inwieweit sie bereit waren, mit alltäglichen Problemen, Konflikten, Dilemmata, akuten Krisen zurechtzukommen; inwieweit sie in der Lage waren, ihre eigenen Interessen und Leidenschaften zurückzuhalten und sich selbst als 103 Fredrik Sterzel, Författning i utveckling. Konstitutionella studier, Uppsala
1998, S. 13.
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freie Menschen innerhalb einer funktionierenden sozialen Gemeinschaft anzupassen. Aus einer theoretischen Perspektive handelte es sich dabei damals wie auch heute um ein grundsätzlich nicht zu verwirklichendes Ideal. Es stand im Widerspruch sowohl zu den Ängsten, die die klassische Theorie vor der Missgunst und den unersättlichen Begierden der Massen weckte, als auch zu der Verteidigung der relativen Gleichgültigkeit des uninformierten Wählers durch die moderne liberale Theorie, die Demokratie als einen geregelten Wettbewerb unter Eliten darstellte.104 Dennoch erwies es sich letzten Endes als erfolgreich. Bis zum Ende der 1930er Jahre hatte die kompromissbereite sozialdemokratische Bewegung vollständig die Rolle der Regierungspartei übernommen. Arbeitsmarktkonflikte erreichten einen historischen Tiefstand. 1938 wurde der Arbeitsfrieden im Abkommen von Saltsjöbaden zwischen den Arbeitgebern und dem nationalen Dachverband der Gewerkschaften LO festgeschrieben. Die wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik erfreute sich großer Zustimmung bei den unterschiedlichen Parteien im Parlament; über sie wurde in großen Kommissionen verhandelt, in denen ein breites Spektrum der Gesellschaft vertreten war. Die Kommunisten wurden mehr oder minder aus den Organisationen der Arbeiterbewegung vertrieben, und in den nationalen Wahlen von 1940 gewann die einzige nationalsozialistische Partei, die je Kandidaten aufstellte, gerade 18000 Stimmen.105 Ob diese Ereignisse eine kausale Verbindung aufweisen, ist alles andere als selbstverständlich; es feststellen zu wollen, wäre vermutlich unmöglich. Eindeutig ist allerdings, dass die zentralen Ereignisse dieser Epoche – die entscheidenden Reformen und die dramatischen Vorfälle –, in einem viel größeren Ausmaß als es normalerweise in der Forschung zur Zwischenkriegszeit in Schweden anerkannt wird, im Rahmen einer demokratischen Sprache verhan104 Was ungefähr der auf die Machtkonkurrenz gerichteten Elitentheorie der
Demokratie von Schumpeter entspricht; vgl. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie [1942], Stuttgart 1993. 105 Von denen wiederum einige offenkundig dadurch getäuscht worden waren, dass die Partei sich »Sozialistische Partei« nannte. Zur Entwicklung Schwedens in der Zwischenkriegszeit vgl. Hirdman/Björkman/Lundberg, Sveriges historia.
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delt und gedeutet wurden, die die Verantwortung des Einzelnen für die Erhaltung der Freiheit hervorhob. Auch der Wert der Reformpolitik zeigte sich darin, dass sie die Demokratie stärkte und Schweden vor dem Schicksal so vieler anderer Staaten in Europa bewahrte. Selbstverständlich würde die Demokratie gegen autoritäre Ideologien verteidigt werden, aber vor allem würde sie dadurch geschaffen, dass Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Status in der sozialen Hierarchie eingeladen wurden, an einem unendlichen Gespräch über eine Gesellschaft teilzunehmen, die in irgendeiner Form gerade errichtet wurde. Anders ausgedrückt: Menschen verzichteten auf die Konformität, die traditionell mit folkhemmet assoziiert wird, und richteten stattdessen ihren Blick auf medborgarhemmet und auf die Formen einer gelebten und lebendigen Demokratie. Aus dem Englischen von Tim B. Müller
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Demokratiekonzepte in Dänemark
Jeppe Nevers
Demokratiekonzepte in Dänemark nach dem Ersten Weltkrieg
Die Geschichte der Demokratie in Dänemark fand in einem europäischen Kontext statt, vor dem nationale Besonderheiten sichtbar werden. Wenn das Zeitalter der Französischen Revolution die erste Epoche war, in der moderne Vorstellungen der Demokratie auftraten,1 und im 19. Jahrhundert das neue und umstrittene Konzept der Demokratie sich zugleich ausbreitete und »entradikalisiert« wurde, auch in Dänemark,2 setzte mit dem Ersten Weltkrieg eine dritte große Epoche in der europäischen Geschichte der Idee der Demokratie ein. In dieser Zeit etablierte sich »Demokratie« gleichzeitig als Bezeichnung für unsere repräsentativen politischen Systeme und als deren Legitimationsgrundlage. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war der Begriff der Demokratie etwa in Großbritannien noch immer mit ambivalenten Konnotationen besetzt, was sich erst im Krieg änderte.3 Während und nach dem Ersten Weltkrieg nahm auch die quantitative Verwendung des Wortes Demokratie erheb-
1
2 3
Vgl. etwa Horst Dippel, »Démocratie, Démocrates«, in: Rolf Reichardt/ Eberhard Schmitt (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Bd. 6, München 1986; Joanna Innis/Mark Philp (Hg.), Re-Imagining Democracy in the Age of Revolutions. America, France, Britain, Ireland 1750–1850, Oxford 2013; Pierre Rosanvallon, »The History of the Word ›Democracy‹ in France«, in: Journal of Democracy 4 (1995), H. 6, S. 140–154. Vgl. Jeppe Nevers, Fra skældsord til slagord. Demokratibegrebet i dansk politisk historie, Odense 2011. Vgl. etwa Bernard Crick, Democracy. A Very Short Introduction, Oxford 2002, S. 73; sowie den Beitrag von Adam Tooze in diesem Band.
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lich zu.4 Im Ersten Weltkrieg entstand die Vorstellung einer »westlichen Demokratie«, und auch in Deutschland bahnten die während des Krieges geführten Debatten der Idee der Demokratie einen Weg.5 Es ist offenkundig, dass das Konzept der Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit sehr viel populärer war, als es die »düstere« Geschichte der 1920er und 1930er Jahre nahelegt.6 Zwar existierte auch eine antidemokratische Rhetorik, doch die meisten Gegner der parlamentarischen Demokratie, ob Kommunisten, Faschisten, Monarchisten oder Anhänger eines autoritären Regimes, positionierten sich als Vertreter einer »wahren Demokratie«. Darum ist das »europäische 20. Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg« passend als »ein demokratisches Zeitalter« bezeichnet worden. »Natürlich waren nicht alle europäischen Staaten demokratisch geworden. […] Doch selbst die politischen Experimente, die sich in schroffem Gegensatz zur liberalen parlamentarischen Demokratie verstanden […], spielten auf der Klaviatur demokratischer Werte. Mitunter gaben sie sich sogar gleich als Original aus«.7
Demokratie und Folkestyre Aber aus europäischer Sicht dürfte Dänemark ein besonders interessanter Fall sein, weil nicht nur der Begriff der Demokratie im Mittelpunkt der Debatten stand, sondern weil es hier sowohl in den 1920er wie auch in den 1930er Jahren erheblich mehr Befürworter als Gegner auch der Regierungsform der parlamentarischen Demokratie gab. Die dänische Politik war in diesem Zeitraum von vier Parteien dominiert, die auch heute noch als die »vier alten Parteien« gelten: Im linken Spektrum waren das die Sozialdemokraten und 4 5 6 7
Vgl. R. R. Palmer, »Notes on the Use of the Word ›Democracy‹«, in: Political Science Quarterly 68 (1953), H. 2, S. 203–226. Vgl. etwa Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. Vgl. Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000. Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 11f.
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Det radikale Venstre, eine linksliberale Partei, die von der Intelligenzia und den Kleinbauern unterstützt wurde; eher rechts standen Venstre, eine liberale Partei mit stark landwirtschaftlich geprägter Tradition aus dem 19. Jahrhundert, und die Konservative Volkspartei. Alle vier Parteien stimmten 1915 für die dänische Verfassung, mit der das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde; die Konservative Volkspartei war gerade erst aus den Resten der alten Rechtspartei entstanden, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vehement gegen die Demokratie ausgesprochen hatte. Daher überrascht es wenig, dass sich viele hochrangige Konservative auch noch nach 1915 gegen die parlamentarische Demokratie und sogar gegen das allgemeine Wahlrecht sträubten.8 Aufseiten der Gegner der Demokratie wurde in erster Linie Front gegen den »Parlamentarismus« gemacht, aber auch gegen eine »Parteienherrschaft« (partistyret) oder gar »Parteientyrannei« (partityranniet). Im Rahmen dieses antiparlamentarischen Diskurses war es geradezu überlebenswichtig für die Demokratie, dass sie nicht mit der parlamentarischen Demokratie gleichgesetzt wurde, denn für viele Zeitgenossen war »Demokratie« nichts anderes als eine Herrschaftsform, in der die Politik durch den Willen des Volkes bestimmt wurde. Harald Nielsen, seinerzeit eine wichtige Stimme im konservativen Lager, befürwortete zum Beispiel das »demokratische Prinzip« insofern, als die Regierung eines Landes nach dem Willen des Volkes handeln solle. Gleichzeitig übte er Kritik an den politischen Parteien und am bestehenden Machtgefüge, in dem der wahre Wille des Volkes gerade nicht vertreten werde. Nielsen teilte die weit verbreitete Meinung, dass die Parteien lediglich die Interessen bestimmter Klassen wahrnahmen und daher kein gelungenes Beispiel für den Grundsatz der Demokratie boten; er ging sogar so weit zu sagen, dass ein einzelner Dichter oder ein guter König den Willen des Volkes weitaus besser vertreten könne.9
8
9
Zahlreiche Beispiele finden sich in Adam Holm, I opposition til fortiden. En teoretisk analyse af idégrundlaget bag mellemkrigstidens radikale konservatisme i Danmark, Dissertation Universität Kopenhagen 2002, S. 142–161. Harald Nielsen, Konservatisme, Kopenhagen 1925, S. 40. Siehe auch Nevers, Fra skældsord til slagord, S. 188ff.
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Parlamente und der Parlamentarismus standen also nicht nur bei den extremen Linken oder Rechten in der Kritik. In der dänischen Historiografie heißt es durchweg, die antidemokratischen Kräfte seien an den äußersten Flügeln beheimatet gewesen, also bei den Faschisten und den Kommunisten. Doch beim Blick auf die Unzufriedenheit mit dem Parlament, dem Parlamentarismus und den politischen Parteien wird deutlich, dass es sich um ein weit umfassenderes Phänomen handelte. So veröffentlichte C. C. Heilesen, ein hochangesehener Jurist und Abgeordneter der linksliberalen Partei Det radikale Venstre (die der »Mitte« so nahe stand wie in der dänischen Politik überhaupt möglich), im Jahr 1926 ein Buch mit dem Titel »Parlamentarisme og direkte Folkestyre« (Parlamentarismus und direkte Herrschaft des Volkes). Am »demokratischen System« an und für sich, so der Grundtenor, sei nichts Schlechtes, wohl aber an seiner gegenwärtigen Form, dem »Parlamentarismus«. Weitaus besser sei das Schweizer System der direkten Demokratie: »Dort werden Auseinandersetzungen anders ausgetragen als in einer parlamentarischen Regierungsform, man kämpft um die Sache und nicht um die Macht. Dort kann jeder viel lernen, der die Mängel des Parlamentarismus erkannt hat und einräumen muss, dass die Verwandlung des Parlamentarismus in eine Herrschaft der Klassen, unter welchem Namen auch immer, die Menschen von festem Grund […] in ein sumpfiges Moor hineinzieht.«10 Die offizielle Linie seiner Partei war indes, dass der Parlamentarismus die beste Form der Demokratie sei. So meinte etwa Sven Clausen: »Parlamentarismus […] stellt sich der Wirklichkeit und zielt darauf ab, Interessenkonflikte im Wege der Verhandlung zu lösen«.11 Doch gerade dieser Prozess der Verhandlung und Kompromissfindung zog Kritik auf sich, selbst aus der Mitte des politischen Spektrums. Martin Ellehauge, ebenfalls Mitglied von Det radikale Venstre, schrieb (in einer kommunistischen Zeitung): »Es sind unserer viele, die die aktuelle Form des Parlamentarismus nicht als wirksame Demokratie sehen, sondern eher als Diktatur der Regierung, als Herrschaft
10 11
C.C. Heilesen, Parlamentarisme og direkte Folkestyre, Kopenhagen 1925, S. 15. Sven Clausen, Folkestyre. For eller Imod, Kopenhagen 1934, S. 17.
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des Landsting [des Oberhauses] oder des Parlaments.«12 In Dänemark drehte sich der Diskurs während der Zwischenkriegszeit nicht in erster Linie darum, ob Demokratie gut war oder nicht, sondern ob das existierende politische System die optimale Form der Demokratie war und tatsächlich auf dem wahren Willen des Volkes basierte. Für manch einen waren »Parlamentarismus« und »Demokratie« eng miteinander verknüpft; andere hingegen hatten kein Problem damit, auf der Suche nach der wahren Demokratie Kritik am Parlamentarismus oder an den Parteien zu üben. Insgesamt jedoch herrschte Einigkeit darüber, dass die Verfassung von 1915 die Grundlage der dänischen Demokratie oder besser: des dänischen Folkestyre bildete. Diese volkssprachliche Übersetzung von Demokratie war gegen Ende der 1910er und während der 1920er Jahre sehr verbreitet. Im wörtlichen Sinn meint der Begriff genau dasselbe wie Demokratie, kommt gleichzeitig aber dem seinerzeit dominanten Konzept Folket (das Volk) viel näher. Interessanterweise war Folkestyre damals ein neues Wort. Es wurde erstmals um die Jahrhundertwende von Mitgliedern der bäuerlichen Partei Venstre anstelle des Begriffs »Demokratie« verwendet und verschob den Fokus von Konfrontation und Konflikt hin zu Harmonie und organischen Prozessen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Folkestyre dann aber im gesamten politischen Spektrum zunehmend als der (positiv besetzte) Name des politischen Systems als solches etabliert.13 Ein sehr sinnfälliges Beispiel für diese Rhetorik ist die Streitschrift von Thorvald Stauning, dem Führer der sozialdemokratischen Partei, aus dem Jahr 1923 mit dem Titel »Parlamentarisme eller Diktatur?« (Parlamentarismus oder Diktatur?). Zwischen 1913 und 1920 hatte die stark wachsende Sozialdemokratische Partei die linksliberale Regierung unterstützt, und Anfang der 1920er Jahre zeichnete sich ab, dass sie die führende Partei werden würde (Stauning wurde 1924 der erste sozialdemokratische Ministerpräsident). Noch im Jahr davor hatte er vehement den Parlamentarismus ver12 13
Martin Ellehauge, »Demokratisk Front«, in: Kommunistisk Tidsskrift 1935, S. 279–282. Ein Beispiel aus der Historiografie ist Peter Munch, Folkestyrets Vækst i det nittende Aarhundrede, Kopenhagen 1924.
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teidigt: »Das Parlament wird in der Presse häufig sehr herablassend kritisiert. […] Aber der Parlamentarismus ist die Form des Folkestyre, die dem Volk tatsächlich die Macht gibt, die politische Richtung der Regierung zu bestimmen. […] Ich will das Parlament und das parlamentarische System beibehalten, und wenn die Kritiker eine Volksabstimmung herbeiführen könnten, hätte ich keinen Zweifel, dass die große Mehrheit des dänischen Volkes ebenso denkt.«14 In den 1920er und 1930er Jahren sollte die Unterstützung der Demokratie und des Parlamentarismus für die Sozialdemokratie in ganz Skandinavien zum zentralen Thema werden.15 Dies trug zu einem umfassenden Wandel des Demokratiegedankens unter den Sozialdemokraten bei. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den Jahren um den Ersten Weltkrieg hatten die meisten von ihnen ein Demokratiekonzept geteilt, bei dem es um ein abstraktes Prinzip ging, das der Mehrheitsentscheidungen. Dieses Prinzip, so der Gedanke, müsse zunächst im politischen System verankert (»politische Demokratie«), und später dann durch demokratische Gesetzgebung im Bereich der Wirtschaft etabliert werden, wo es zur Abschaffung des Kapitalismus und zum Aufbau einer sozialistischen Wirtschaftsform führen werde (»absolute Demokratie«). Für die dänischen Sozialdemokraten war Demokratie von Anbeginn an zugleich Ziel und Mittel.16 Zwar überlebte dieses Demokratieverständnis, doch erfolgte in den 1920er und 1930er Jahren ein subtiler Wandel der Prioritäten, weg vom Konzept der Demokratie als Schlüssel zum Tor des Sozialismus und hin zu Demokratie (und Folkestyre) als politische Realität, die es zu verteidigen galt. So erklärte 1933 Hartvig Frisch, führender sozialdemokratischer Ideologe der Zwischenkriegsepoche, in seinem Werk »Pest over Europa« die nordischen Länder zur letzten Bastion der Demokratie in einem Zeitalter von Kommunismus, Kapitalismus und Faschismus.17 In Skandinavien habe sich die poli-
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Thorvald Stauning, Parlamentarisme eller Diktatur? Kan Parlamentslede helbredes, Kopenhagen 1923, S. 6–7. Jussi Kurunmäki/Johan Strang (Hg.), Rhetorics of Nordic Democracy, Helsinki 2010. Siehe z.B. Gustav Bang, Den socialistiske Fremtidsstat, Kopenhagen 1903. Hartvig Frisch, Pest over Europa, Kopenhagen 1933.
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tische Demokratie aus der Bauernbewegung des 19. Jahrhunderts heraus entwickelt und nun sei es an den Sozialdemokraten, die nächsten Schritte zu tun und eine wirklich soziale Demokratie zu errichten. Ein weiterer bedeutender Sozialdemokrat, der sich zunehmend auf die Demokratie als Wert konzentrierte, den es (als parlamentarisches System) zu verteidigen und (als soziale Demokratie) weiterzuentwickeln gelte, war der bekennende Antikommunist Karl Kristian Steincke, von 1929 bis 1935 Minister für Soziales, der für die Sozialreformen in den 1930er Jahren verantwortlich zeichnete.18
Die wahre Demokratie: Ansichten von links Die Gefahren, vor denen Frisch warnte – Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus – waren auch in Dänemark virulent. Nach der Russischen Revolution bildeten sich links von den Sozialdemokraten neue sozialistische Parteien, und 1919 gab sich eine von ihnen den Namen Kommunistische Partei Dänemarks. Doch während der gesamten 1920er Jahre war sie in verschiedene Flügel gespalten und kam bei den Parlamentswahlen nicht über ein halbes Prozent hinaus. 1932 erzielte sie dann etwas mehr als ein Prozent und errang zwei Parlamentssitze, bei der nächsten Wahl waren es über zwei Prozent. Dieser Stimmenzuwachs war unter anderem auf einen drastischen Wandel der ideologischen Ausrichtung – weg von der sogenannten »ultralinken« Linie hin zu den allseits bekannten Zielen der Volksfront – und auf die Suche nach Allianzen mit anderen progressiven Parteien zurückzuführen. Die Sozialdemokraten, die 1935 mit über 40 Prozent das beste Wahlergebnis errangen, distanzierten sich sehr klar von den Kommunisten.19
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Siehe z. B: K. K. Steincke, Demokrati og kultur: 6 Radioforedrag, Kopenhagen 1936, und ders./Viktor Pürschel, Demokrati eller Diktatur, Kopenhagen 1938. Zur Distanzierung der Sozialdemokraten von den Kommunisten siehe z.B. Hans Hansen, Kommunisterne splitter! Et stridsskrift mod det kommunistiske Splittelsesarbejde indenfor Arbejderorganisationerne, Kopenhagen 1933.
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Dieser taktische und strategische Wandel führte interessanterweise auch zu einer Änderung der demokratischen Rhetorik. In den 1920er Jahren formulierten die Kommunisten sehr deutlich, was Demokratie für sie bedeutete. Noch 1933 sagte ihr Anführer Aksel Larsen im Parlament: »Die Demokratie ist ein Kind ihrer Zeit. Nun liegt sie im Sterben, denn ihr wirtschaftliches System ist zusammengebrochen.«20 Nur wenige Jahre später erklärten die Kommunisten, zwar redeten alle Parteien von Demokratie, doch seien sie die einzigen »wahren Demokraten«. In einem Zeitungsartikel analysierte Larsen die anderen Parteien: »Die Sozialdemokraten versuchen, sich so schnell wie möglich zu häuten und den Wandel von einer sozialistischen Arbeiterpartei zu einer nationalsozialistischen Volkspartei zu vollziehen.«21 Auch die anderen Parteien nahm er ins Visier, und am schärfsten ging er mit den Konservativen ins Gericht, bei denen er einen »formal demokratischen« und einen »nazifizierten« Flügel ausmachte. Er zog das Fazit, dass die Demokratie keine Heimstatt mehr habe. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich das Volk gegen den Staat verbünden werde: »Wir sind heute die einzige Partei in Dänemark – und das müssen wir mit aller zu Gebote stehenden Entschlossenheit sagen –, die die demokratischen Rechte und Freiheiten der Bürger gegen alle Angriffe der Nazis und gegen alle Beschneidungen und Übergriffe des kapitalistischen Staates verteidigt. Wir wollen die Bürger gegen den Staat verteidigen – gegen den kapitalistischen Staat.«22 Es gibt diesem Demokratiekonzept etwas Faszinierendes, dass selbst Nichtkommunisten seinerzeit der Auffassung waren, die Kommunistische Partei sei von allen die demokratischste. Der Linksliberale Martin Ellehauge schrieb, sie sei »oft die einzige Partei im Parlament, die die Demokratie vertritt«.23 Larsen, der Führer der kommunistischen Partei, erwiderte darauf: »Die Kommunisten sind nicht ›undemokratisch‹ – ganz im Gegenteil. Wir sind, wie
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Zit. nach Politiken vom 24. 9. 1933. Aksel Larsen, »Skal vi organisere den demokratiske Front?«, in: Kommunistisk Tidsskrift 1935, S. 191–198. Ebenda S. 198. Martin Ellehauge, »Demokratisk Front«, in: Kommunistisk Tidsskrift 1935, S. 272–282.
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Dr. Ellehauge darlegt, die konsequentesten aller Demokraten, denn wir bleiben nicht bei der Frage einer formalen politischen Demokratie stehen, sondern wir fordern eine wahrhaft demokratische Grundlage, nämlich die Abschaffung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Unser Ziel ist eine vollständig freie demokratische Gesellschaft – die kommunistische klassenlose Gesellschaft.«24 Für Aksel Larsen war die wahre Demokratie erst im Kommunismus möglich und in jedem Fall unvereinbar mit Privatbesitz und jeder Art von Marktwirtschaft.
Die wahre Demokratie: Ansichten von rechts Auf der anderen Seite des politischen Spektrums lässt sich ein mehr oder weniger identisches Argumentationsmuster ausmachen. Die deutlichste Kritik am Konzept der Demokratie in der Zwischenkriegsepoche äußerte Arne Sørensen, der Anführer der kleinen nationalistischen Dansk Samling. Er brachte immer wieder seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die »Demokratie« und die »Herrschaft der Mehrheit« (Flertalsstyre) durch einen starken und autoritären Staat abgelöst würden. Er wollte ausdrücklich keine Diktatur, sondern beschrieb sehr vage eine vom Volksgeist (Folkeånd) getragene Regierung, die in der Lage sei, die Herausforderungen der Moderne anzunehmen: »Wir müssen eine Regierung bilden, die dem dänischen Geist der Freisassen (dansk Frimandsindstilling) entspricht, der so tief im Charakter unseres Volkes verankert ist und zu den höchsten Werten unseres kulturellen Erbes gehört […]. Wir müssen einen Staat bilden, der mit Kraft und Kreativität gegen die Widrigkeiten vorgeht, die wir mit der gesamten europäischen Welt teilen: Industrialismus, ungesunde Lebensverhältnisse in den Städten, Arbeitslosigkeit, ungezügelter und verantwortungsloser Kapitalismus, Wurzellosigkeit der Jugend […]. Das kann weder der Liberalismus noch der Sozialismus. Das Problem lässt sich nicht mit den Grundsätzen von ›Demokratie‹ oder ›Diktatur‹ lösen, und genau das ist die 24
Aksel Larsen, »Svar til Martin Ellehauge«, in: Kommunistisk Tidsskrift 1935, S. 282.
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Herausforderung, vor der wir stehen.«25 Interessanterweise hielt also auch Sørensen zwar die Demokratie für unzulänglich, nicht aber Folkestyre. Kritik an Folkestyre wurde in der Zwischenkriegszeit nur sehr selten geäußert. Selbst für Sørensen war die politische Legitimationsgrundlage in erster Linie das Volk (Folket). Eine ähnliche Wortwahl pflegten auch die dänischen Nationalsozialisten. Einerseits standen sie dem parlamentarischen System, wie es sich in der Zwischenkriegszeit darbot, feindlich gegenüber. In ihrem Parteiprogramm hieß es: »Wir kämpfen gegen die marxistische Klassenteilung unseres Volkes, wir sehen unser Volk als nationale, organische Einheit. Deshalb kämpfen wir gegen das parlamentarische System und wollen es durch eine persönliche und verantwortliche Staatsregierung ablösen, mit Kooperationen und Institutionen als konsultativer Grundlage.«26 Doch die starke Fokussierung auf das Volk als Legitimationsgrundlage zwang die Nationalsozialisten zugleich auch, am Konzept von Demokratie und Folkestyre festzuhalten. 1934 schrieb ihr Führer Frits Clausen: »Zu den gewichtigsten und stärksten Argumenten, die gegen die sogenannten diktatorischen Bewegungen vorgebracht wurden, gehört, dass sie eine Gefahr für das Folkestyre darstellen. Wir dänischen Nationalsozialisten haben derlei haltlose Anschuldigungen stets zurückgewiesen, denn sie decken sich nicht mit den Zielen, für die wir kämpfen: Wir, die wir das Volk als Anfang und Ende aller Dinge sehen, haben immer gesagt, dass eine Gesellschaft auf dieser Grundlage zu einem viel wahrhaftigeren Folkestyre führen wird als es der Parlamentarismus je getan hat, und deshalb bekämpfen wir das parlamentarische System aus genau den gleichen Gründen, aus denen seine Befürworter uns bekämpfen.«27 Mit anderen Worten: Für die Nationalsozialisten war das parlamentarische System ebenso wie für die Kommunisten ein Gegensatz zur »wahren Demokratie« – ihre Auffassungen von einer solchen »wahren Demokratie« waren allerdings nicht miteinander vereinbar.
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Alex Quaade/Ole Ravn, Højre om! Temaer og tendenser i den antiparlamentariske debat 1930–1939, Kopenhagen 1979, S. 97. John T. Lauridsen, »Føreren har ordet!«. Frits Clausen om sig selv og DNSAP , Kopenhagen 2003, S. 436. Ebenda S. 505f.
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Eine liberale Demokratie am Horizont? Diese Beispiele machen deutlich, dass das Demokratiekonzept in der Zwischenkriegszeit nicht nur in eine große Krise geriet, sondern zugleich auch stark an Dynamik gewann. Einige politische Gruppierungen hatten ihm schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselstellung zugeschrieben, und in den 1920er und 1930er Jahren kursierte der Begriff im gesamten politischen Spektrum, war insgesamt jedoch eine höchst instabile Kategorie. Als bemerkenswertester Aspekt ist festzuhalten, dass der Demokratiebegriff nicht automatisch mit parlamentarischen Institutionen verknüpft war. Es handelte sich also nicht nur um ein »bewegliches Ziel« und, mehr noch, um ein durchaus umstrittenes Konzept; in Dänemark gab es im Übrigen auch kaum zeitgenössische Theorien zur Demokratie. In einem der seinerzeit demokratischsten und stabilsten politischen Systeme in ganz Europa war der Demokratiediskurs kaum theoretisch untermauert. Doch gerade in dieser Zeit begannen einige Kolumnisten, oft in kurzen Artikeln und Druckschriften, nach einem Konzept für eine liberale beziehungsweise rechtsstaatliche Demokratie zu suchen, also den Demokratiebegriff mit parlamentarischen Verfahren, individuellen Freiheiten und bürgerlichen Rechten zu verknüpfen. Diese Tendenz war besonders ausgeprägt in den liberalen und konservativen Kreisen, wo sich viele vor den sozialdemokratischen Vorstellungen ängstigten, die Demokratie sei ein Prozess, der schlussendlich in noch größerer staatlicher Kontrolle der Wirtschaft und der Gesellschaft als Ganzes münden würde. Folglich bemühten sich einige Konservative, einen demokratischen Gegenentwurf zur Verstärkung der staatlichen Regulierung zu prägen und das Konzept einer begrenzten Demokratie zu lancieren. 1938 schrieb der führende konservative Journalist und Herausgeber Anders Vigen: »Es stimmt, dass der politische Ausdruck der Demokratie die Herrschaft der Mehrheit ist, aber wenn daraus Folkestyre werden soll, dann muss die reale Demokratie bereits fest verankert sein. Und hier stellt sich die Frage: Was ist denn reale Demokratie, was ist der innere Kern der Demokratie? Es ist die bürgerliche Freiheit; es ist das Recht der Bürger auf Freiheit im Privatleben wie im gesellschaftlichen Leben, sein Recht auf freie
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Überlegungen und Entscheidungen und seine Sorge, den Staat in die bestmöglichen Hände zu geben.«28 Weiter erklärte Vigen, der sehr eng mit den inneren Zirkeln der konservativen Partei verbunden war, dass die sozialdemokratische Regierung, die von 1924 bis zum Zweiten Weltkrieg an der Macht war, dabei sei, »uns durch ihre Machtbefugnis und Organisation derart zu sozialisieren, dass – wenn dies anhält – sich die sogenannte Demokratie selbst autokratisieren wird. Sie wird ihren eigenen Kern zerstören und schlussendlich nur noch eine Hülle rund um ein Chaos sein […], und wenn wir so weit gekommen sind, dann werden sich die Menschen von der Demokratie abwenden – und das zu Recht.«29 Ähnlich wurde auch in der bäuerlich-liberalen Partei Venstre argumentiert. Erik Eriksen, ehemaliger Vorsitzende der Jugendorganisation von Venstre und später Ministerpräsident (1950–1953), schrieb 1935 in einem Buch über den Liberalismus: »Folkestyre entstand in einer Zeit, als liberale Vorstellungen ihren Durchbruch erlebten. […] Doch Sozialisten und Konservative haben beide die liberale Basis verlassen und rufen, jeder auf seine Weise, nach mehr Lenkung durch den Staat. […] Es bleibt ein großes Fragezeichen, ob Folkestyre gedeihen kann, wenn wir es nicht am liberalen Staatsverständnis ausrichten, dass sich die Regierung so wenig wie möglich einmischen soll.«30 Die Demokratie sei in Gefahr, wenn sie nicht mit dem Liberalismus verbunden werde – dies war seine Botschaft in einer Zeit, als der Liberalismus in ganz Europa in der Krise war. Doch solche Gedanken über eine liberale, begrenzte oder konstitutionelle Demokratie blieben im dänischen Diskurs eher vage. Erst 1946 veröffentlichte der Rechtsphilosoph und Jurist Alf Ross mit seinem Buch »Hvorfor demokrati?« (Warum Demokratie?) eine systematische Abhandlung, in der er sich für ein zutiefst liberales und rechtsstaatliches Verständnis von Demokratie aussprach. Doch in der Zwischenkriegszeit und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Konzept zumeist von den »bürgerlichen« Kolumnisten befördert. 1948 erklärte der Konservative Alf 28 29 30
Anders Vigen, Konservatisme under Folkestyre. To politiske Taler, Kopenhagen 1938, S. 24. Ebenda S. 26f. Harald Nielsen/Erik Eriksen, Liberalismen i Danmark, Odense 1935, S. 134f.
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Bent Hermann, dass die »kommunistischen Konzepte wie ›Volksdemokratie‹ oder ›aktive Demokratie‹ nichts als Tarnung für eine kommunistische Diktatur« seien.31 Er verwies auf die vergleichbare Verwendung des Begriffs durch Kommunisten und Nationalsozialisten und warb für ein »westliches Konzept« – ein Konzept für die Länder also, die sich zu allgemeinen, regelmäßigen und geheimen Wahlen und zu den grundlegenden bürgerlichen Rechten wie Meinungs- und Religionsfreiheit sowie zur Rechtsstaatlichkeit bekannten. Diese Definition von Demokratie sollte später Eingang in die Alltagssprache und den politikwissenschaftlichen Diskurs finden. Doch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war sie keineswegs die einzige Lesart, ja nicht einmal die vorherrschende Interpretation. Es gab auch zahlreiche Überlegungen zu kultureller und bildungspolitischer Demokratie sowie zur Demokratie in der Arbeitswelt.32 Es war also ein allmählicher Prozess, der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte und sich durch das ganze 20. Jahrhundert zog und bei dem sich der Begriff Demokratie Schritt für Schritt zur liberalen Sichtweise hinbewegte. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
31 32
Alf Bent Hermann, Kommunisme og Demokrati, Kopenhagen 1948, S. 3. Vgl. Søren Hein Rasmussen/Niels Kayser Nielsen (Hg.), Strid om demokratiet! Artikler fra den danske demokratidebat 1945–46, Århus 2003.
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Die finnische Demokratie in der Zwischenkriegszeit
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Donaumonarchie sowie des Russischen Kaiserreichs entstand in Mittelund Osteuropa eine Reihe von demokratischen Nationalstaaten. Sie zogen sich auf der Landkarte als vertikaler Gürtel über den Kontinent, vom Balkan im Süden bis nach Finnland im Norden. Bis Anfang der 1920er Jahre hatten sich die meisten dieser neuen Länder eine liberale demokratische Ordnung gegeben, aber in keinem von ihnen entwickelte sich die Demokratie klar und geradlinig weiter. Viele der inneren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Spannungen und Konflikte, die zuvor nicht thematisiert worden waren, traten nun deutlicher zutage, und aus Mangel an Willen oder geeigneten Mechanismen für den Umgang mit diesen Konflikten wurden die Rufe nach der »Wiederherstellung der Ordnung« mithilfe autoritärer Ein-Parteien-Regierungen lauter. Bis Mitte der 1930er Jahre hatten die meisten der neu gebildeten Staaten ihr demokratisches System wieder abgeschafft. Dieser Beitrag befasst sich mit der Geschichte der Demokratie in Finnland, das nach der Unabhängigkeit von Russland im Dezember 1917 der erste der neuen Nachkriegsstaaten war – und neben der Tschechoslowakei der einzige, der seine demokratische Ordnung über die ganzen von autoritären Herausforderungen geprägten 1930er Jahre hinweg beibehielt. Von allen neuen Verfassungen, die nach 1918 in Mittel- und Nord-/Osteuropa verabschiedet wurden, sollte sich die finnische Verfassung von 1919 als die stabilste erweisen. Sie hielt dem Druck der extremen Linken und der autoritären Rechten in der Zwischenkriegszeit stand, überdauerte den Zweiten
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Weltkrieg und den Kalten Krieg und blieb bis 2000 weitgehend unverändert. Mit dieser historischen Entwicklung wurde Finnland der »erfolgreichste aller Nachfolgestaaten der großen europäischen Reiche« und eines der Länder, die die Bedrohungen der Demokratie in den 1930er Jahren heil überstanden.1 Die inneren und äußeren Herausforderungen für die finnische Demokratie waren sicher alles andere als gering. Bereits vor der Verabschiedung einer demokratischen, republikanischen Verfassung im Juli 1919 hatte das Land einen Bürgerkrieg zwischen den »Roten« und den »Weißen« durchgestanden und den Versuch der Errichtung einer Monarchie erlebt. In den 1920er und 1930er Jahren waren Politik und Gesellschaft weiterhin von Konflikten geprägt. Diese historischen Elemente machten Finnland zur instabilsten und spätesten unter den nordischen Demokratien, die im Allgemeinen als Bollwerke der Zwischenkriegsdemokratie in Europa gelten.2 Die historische Realität stützt alle diese Ansichten, und Finnland wird durch die paradoxe Situation, einerseits das erfolgreichste und andererseits das instabilste dieser Länder zu sein, in internationaler Perspektive zu einem interessanten Fall. Es fügt sich nicht nahtlos in die gängigen Narrative ein, die entweder auf den Erfolg (der skandinavischen Länder) oder die demokratischen Defizite (der mitteleuropäischen Länder) fokussieren, sondern umfasst Elemente beider Aspekte.
1
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Zu Finnland als Nachfolgestaat siehe z. B. Max Engmann, »Finland as a Successor State«, in: Max Engmann/David Kirby (Hg.), Finland. People. Nation. State, London 1989, S. 102–127. Zu Finnland als eines der Länder, das die Bedrohungen der Demokratie heil überstanden hat, siehe Giovanni Capoccia, Defending Democracy. Reactions to Extremism in Interwar Europe, Baltimore/London 2005. Die Literatur zur Kartierung und Konstruktion sowie unlängst auch zur historischen Dekonstruktion der Mythen und Realitäten der nordischen Demokratien ist umfangreich. Neuere Beiträge sind z.B. Øystein Sørensen/Bo Stråth (Hg.), The Cultural Construction of Norden, Oslo 1997; Jussi Kurunmäki/Johan Strang (Hg.), Rhetorics of Nordic Democracy, Helsinki 2011; Jóhann Páll Árnason/Björn Wittrock (Hg.), Nordic Paths to Modernity, New York/Oxford 2012. Vgl. auch den exzellenten Überblick der Politikwissenschaftler Neil Elder u.a., The Consensual Democracies? The Government and Politics of the Scandinavian States, Oxford/New York 1988.
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Die nordischen Traditionen in Staat und Gesellschaft Als Finnland im Dezember 1917 seine Unabhängigkeit erklärte, war das Land im Vergleich zu anderen außerordentlich gut auf die Existenz als eigener Staat und unabhängige Nation vorbereitet3: Es hatte ein gut ausgebautes Verwaltungssystem, die grundlegenden volkswirtschaftlichen Strukturen und eine Bevölkerung mit Nationalbewusstsein. Es besaß ein demokratisches Parlament und war, anders als viele andere europäische Länder, nicht direkt am Ersten Weltkrieg und auch an keinem anderen Krieg des 19. Jahrhunderts beteiligt gewesen.4 Diese guten infrastrukturellen und institutionellen Voraussetzungen erklären sich aus der älteren, typisch skandinavischen Geschichte des finnischen Staates und der Gesellschaft des Landes. Jahrhundertelang hatten Teile des späteren Finnland zum Königreich Schweden gehört, dessen wirkungsvolle Projekte zum Aufbau staatlicher Strukturen auch die Menschen und Gemeinden im östlichen Teil des Königreichs einbezogen. In Schweden erfolgte die Staatsbildung durch die Stärkung derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, deren Unterstützung lebensnotwendig war für die Durchsetzung der neuen staatszentrierten weltlichen und geistlichen (lutheranischen) Herrschaftsstrukturen gegen die Opposition der katholischen Kirche und des Landadels. Eine zweite wichtige Gruppe 3
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Die Rolle des Staates und der (staatlichen) Institutionen ist in jüngster Zeit wieder in den Fokus der Demokratiegeschichte gerückt, siehe z.B. Capoccia, Defending Democracy; Jan-Werner Müller, Constitutional Patriotism, Princeton 2007; Edward D. Mansfield/Jack Snyder, Electing to Fight. Why Emerging Democracies Go to War, Cambridge, Mass./London 2007. Vgl. auch Michael Mann, »The Autonomous Power of the State. Its Origins, Mechanisms and Results«, in: John A. Hall (Hg.), States in History, Oxford 1989. Zu Finnland siehe insbesondere Engman, Successor State; Max Engman, »Consequences of Dissolving an Empire. The Habsburg and Romanov Cases«, in: Anders Johansson u.a. (Hg.), Emancipation and Interdependence. The Baltic States as New Entities in the International Economy 1918–1940, Stockholm 1994, S. 21–33; Risto Alapuro, State and Revolution in Finland, Berkeley/Los Angeles 1988; Osmo Jussila, »Finland as a Grand Duchy 1809–1917«, in: Osmo Jussila u.a., From Grand Duchy to a Modern State. A Political History of Finland since 1809, London 1999.
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neben der neuen lutheranischen Geistlichkeit waren die freien Bauern, denen im Gegenzug für ihre Loyalität zum Monarchen eine wichtige Rolle bei der Organisation der lokalen öffentlichen Angelegenheiten übertragen wurde.5 Diese historischen »Wurzeln« ließen später die mythischen Vorstellungen von einer freien Bauernschaft und einer uralten Tradition der Selbstverwaltung (folkstyre) unter Gleichen entstehen.6 Hinter dem Mythos, der in allen nordischen Ländern, auch in Finnland, immer weiter ausgearbeitet wurde (insbesondere seit den 1930er Jahren), stand etwas, das mit der machtvollen Position des Landadels sowie den feudalistischen Besitzverhältnissen und Verwaltungsstrukturen, wie sie in vielen kontinentaleuropäischen Ländern anzutreffen waren, nicht zu vergleichen war. Auch die Position der Bauernschaft als einer der vier Stände im schwedischen Reichstag suchte in den anderen europäischen Monarchien ihresgleichen. Ihre formale Rolle und ihre Rechte waren Ende des 18. Jahrhunderts verfestigt worden. Die schwedische Verfassung von 1772 und 1789 zielte darauf ab, durch die Stärkung der Bauernschaft die Macht des Königs über den Adel wiederherzustellen. Dies erfolgte durch eine Art (proto-)demokratische, vom Staat geleitete Volks- bzw. Bauernrevolution »von oben«. 7 In Finnland wurden diese Verfassungsentwicklungen, die die starke Verbindung zwischen dem mächtigen Monarchen und der (bäuerlichen) Bevölkerung wiederherstellten, sorgfältig weitergepflegt und als »verfassungsrechtliche« Grundlage übernommen, als 1809 im Zuge der Napoleonischen Kriege die finnischen Gebiete
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Peter Flora u.a. (Hg.), State Formation, Nation Building and Mass Politics in Europe. The Theory of Stein Rokkan, Oxford 1999, z.B. S. 144–146, S. 164–168; Petri Karonen, Pohjoinen Suurvalta. Ruotsi ja Suomi 1521–1809, Helsinki 2008, insbesondere S. 72–77. Vgl. Sørensen/Stråth, Cultural Construction; Mary Hilson, The Nordic Model. Scandinavia since 1945, London 2008, S. 33–35; Jussi Kurunmäki/Johan Strang, »Introduction. Nordic Democracy in a World of Tensions«, in: Kurunmäki/Strang, Rhetorics, S. 29–31; vgl. Peter Hallberg, »The Language of Democracy in Eighteenth-Century Reformist Thought«, in: ebenda, S. 208–237. Karonen, Pohjoinen, S. 416–419; siehe auch Hallberg, Language of Democracy, S. 208–237.
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von Schweden an das zaristische Russland gingen und zum Großfürstentum Finnland wurden. Unter diesen neuen Gegebenheiten gewann das skandinavische Erbe eine neue Bedeutung als zentrales Merkmal, durch das sich Finnland mit seinem (selbst verwaltenden) Staatswesen und seiner »freien« Gesellschaft von Russland unterschied. Schwedisch blieb Amtssprache, und die geltenden Gesetze, der Status der Lutheranischen Kirche und die Privilegien der vier Stände (Adel, Geistlichkeit, Bürgertum und Bauernschaft) wurden vom Zar bestätigt.8 Mit einem unerwartet großen Gestaltungsspielraum ausgestattet, errichteten die neuen Verwaltungseliten ein verkleinertes Abbild des früheren, von Stockholm aus regierten Staates und verhielten sich zugleich ausgesprochen loyal gegenüber dem Zaren, der das neue Finnland mit seinem staatsähnlichen Status unter seinen persönlichen Schutz gestellt hatte. Dieses Zusammenspiel von kultureller Distanz und gleichzeitiger Loyalität zum Herrscher war ein augenfälliges Merkmal der nationalen Bewegung, die die zunächst noch schwedischsprachigen Eliten Ende des 18. Jahrhunderts ins Leben riefen, um dem Staat von innen Stärke zu verleihen.9 Die finnische Nationalbewegung gründete nach dem Modell der großen skandinavischen Volksbewegungen (folkrörelsen) jener Zeit auf einem Netz von Bürgervereinen, die fast alle Bereiche des sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens auf lokaler und nationaler Ebene abdeckten.10
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Seppo Tiihonen, »The Origins and Development of the Finnish System of Government«, in: Jorma Selovuori (Hg.), Power and Bureaucracy in Finland 1809–1998, Helsinki 1999; Jussila, Grand Duchy; Karonen, Pohjoinen, S. 425–438. Zum Charakter der nationalistischen Bewegung in Finnland siehe z.B. Alapuro, State and Revolution; Ilkka Liikanen, »Light to our People. Educational Organization and the Mobilization of Fennomania in the 1870’s«, in: Scandinavian Journal of History 13 (1988), H. 4, s. 421–438. Zu folkrörelsen siehe die Beiträge in Risto Alapuro u.a. (Hg.), Kansa liikkeessä, Helsinki 1989; Henrik Stenius, »The Adoption of the Principle of Association in Finland«, in: Scandinavian Journal of History 13 (1988), H. 4, S. 345–354.
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Ungeachtet dieser ausgesprochen nordischen Merkmale waren die zentralen Prozesse der Errichtung eines modernen Nationalstaats wie Mobilisierung der Bevölkerung und Demokratisierung auch deutlich von den Verbindungen mit dem Russischen Reich geprägt. Im Ergebnis entstand eine politische Kultur, die selbstbewusst deutlich erkennbare skandinavische Züge trug und zugleich Einflüsse der multinationalen Monarchie aufnahm, die den ost- und mittelosteuropäischen Ländern einen Rahmen für ihr gegen Ende des 19. Jahrhunderts intensiver werdendes gesellschaftliches und politisches Leben setzte. Diese Gemengelage erschwert eine Einordnung Finnlands anhand der klassischen historischen Theorie, die vor allem zwischen einem »westlichen« und einem »östlichen« Modell der Modernisierung und Demokratisierung unterscheidet.11
Finnland, das Zarenreich und der erstaunlich frühe Durchbruch der politischen Demokratie Finnlands Sonderstatus und die damit verbundene Möglichkeit, das skandinavische Erbe in Staat und Gesellschaft weiterzupflegen, beruhte auf der sehr heterogenen und indirekten Herrschaftsausübung, wie sie damals für alle europäischen Reiche charakteristisch war.12 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkte sich jedoch der 11
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Die klassischen historisch-soziologischen Vergleiche insbesondere der post1945er-Jahre (Charles Tilly, Barrington Moore, Iván T. Berénd und Gyorgy Ránki, Stein Rokkan) basieren auf dem Grundgedanken, dass die Länder des Westens und die des Ostens unterschiedliche Wege der Staats- und Nationenbildung, Industrialisierung, Modernisierung und Demokratisierung beschritten haben (wobei der Westen für »Normalität« steht). Dieser Gedanke floss dann in zahllose Analysen verschiedener Epochen, Länder und Völker ein. Diese vergleichenden historisch-soziologischen Kategorisierungen bilden auch den Hintergrund für die nationalen historischen Debatten über Sonderwege wie den demokratischen Erfolg der skandinavischen Länder. Zur Verortung Finnlands auf diesen Kartierungen der Nationen- und Staatenbildung vgl. z.B. Risto Alapuro, »What is Western and What is Eastern in Finland?«, in: Thesis Eleven 77, Mai 2004. Michael Mann, The Sources of Social Power. Vol. II. The Rise of Classes and Nation-States 1760–1914, Cambridge 1993; Aviel Roshwald, Ethnic Nationalism and the Fall of Empires. Central Europe, Russia and the Middle East
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Zentralisierungsdruck, und auch der besondere finnische Autonomiestatus wurde infrage gestellt. Dieser Prozess traf in Finnland auf heftigen Widerstand und führte schließlich zur abrupten Einführung einer modernen politischen Demokratie: In dem Bemühen, den finnischen Sonderstatus und die bestehende interne Verfassungsordnung zu stärken, ersetzten die Eliten des Großfürstentums den alten Vierständelandtag durch ein Einkammerparlament, das in allgemeinen Wahlen ermittelt wurde, bei denen auch die Frauen Stimmrecht besaßen. Durch diese »demokratische Revolution von oben« wurde also in einem Großfürstentum, das formal zu einer der autokratischsten Monarchien Europas gehörte, ein neues Parlament eingeführt, das auch im weltweiten Vergleich ein Vorreiter der Demokratie war.13 Doch die Reform blieb durch die außergewöhnlichen Umstände gekennzeichnet, unter denen sie zustande kam. Auf der Suche nach einer möglichst legitimen und überzeugenden Ausdrucksform für die Entschlossenheit der Nation, die Autonomie des Großfürstentums zu verteidigen, wurde die Demokratie als besondere Eigenschaft des Staates und der gesamten Nation wahrgenommen. Doch mit der Ausweitung der demokratischen Rechte auf Gruppen, die vorher kein Wahlrecht besessen hatten, traten automatisch auch Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikte innerhalb der Nation zutage. Bei den ersten landesweiten Wahlen im Jahr 1907 errang die 1903 gegründete Sozialdemokratische Partei 40 Prozent der Stimmen und 80 von 200 Parlamentssitzen, was sie zu einer der größten sozialdemokratischen Parteien Europas machte. Ihre Wähler kamen aus dem landwirtschaftlich geprägten Milieu, wo sich die Beziehungen zwischen den Bauern, die eigenes Land besaßen, und den
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1914–1923, London/New York 2001; Solomon Wank, »The Habsburg Empire«, in: Karen Barkey/Mark von Hagen (Hg.), After Empire. Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman and Habsburg Empires, Boulder/Oxford 1997. Siehe dazu auch z.B. Selovuori, Power and Bureaucracy; Jussila, Grand Duchy; Tiihonen, Origins and Development; sowie Steven Duncan Huxley, Constitutionalist Insurgency in Finland. Finnish Passive Resistance as a Case of Nonmilitary Struggle in the European Resistance Tradition, Helsinki 1990.
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Landpächtern, die wegen der Verknüpfung des Kommunalwahlrechts mit Landbesitz von der kommunalen Selbstverwaltung weitgehend ausgeschlossen waren, zu einem wichtigen Thema entwickelt hatten.14 In diesem Kontext, in dem Konflikte über Landbesitz und politische Teilhabe auf lokaler Ebene die zentralen Streitfragen darstellten, waren und blieben die gewerkschaftlichen Traditionen, die in den industriellen Zentren verwurzelt waren und sich auf die sozio-ökonomischen Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern konzentrierten, eher bedeutungslos. Im Gegensatz zu vielen anderen, stärker industrialisierten europäischen Ländern war die sozialdemokratische Partei in Finnland nicht der (auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konzentrierte) politische Arm der Gewerkschaftsbewegung, sondern die politische Vorstellung der Arbeiterbewegung stand hier im Vordergrund, schaffte den Durchbruch und überschattete die Gewerkschaftsbewegung.15 Im folgenden Jahrzehnt spielte das neue Parlament auf der nationalen politischen Bühne nur eine beschränkte Rolle: 1908 bezog der Zar auch Finnland wieder in seine Zentralisierungspolitik ein, und mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam das politische Leben des Landes zum Stillstand. Weder eine Landreform noch eine Reform des Kommunalwahlrechts – die Hauptforderungen der Sozialdemokraten – wurden noch durchgeführt.
Unabhängigkeit und Bürgerkrieg In all den neuen Ländern, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden, verschwand mit der Auflösung der multi- und supranationalen Herrschaftsautorität auch der Rahmen, in dem die staat14
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Panu Pulma, »Municipal Autonomy, Local Democracy and the State«, in: Selovuori, Power and Bureaucracy; Pertti Haapala, »How was the Working Class Formed? The Case of Finland« in: Scandinavian Journal of History 12 (1987), H. 3, S. 179–197; Alapuro, State and Revolution. Pauli Kettunen, Poliittinen liike ja sosiaalinen kollektiivisuus. Tutkimus sosialidemokratiasta ja ammattiyhdistysliikkeestä Suomessa 1918–1930, Helsinki 1986; Kari Teräs, »Industrial Actionism and Industrial Conflicts in Finland«, in: Pauli Kettunen (Hg.), Strike and Social Change, Turku 1993; Hannu Soikkanen, »Historical Review of Strikes in Finland«, in: ebenda.
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lichen, nationalen und demokratischen Traditionen der Teilgemeinwesen bis dato formuliert worden waren, und an der Spitze des Staates entstand ein Machtvakuum. Zur Frage der konkreten Ausübung der Staatsgewalt gab es zahlreiche, auch gegensätzliche Vorstellungen, Erwartungen und Ziele. Nach Kriegsende brach in ganz Europa eine Welle politischer Gewalt los, verbunden mit umfassenden, tiefgreifenden Umwälzungen von Staatsmacht, Gesellschaftsstrukturen und politischen Ideologien, die eine Vielzahl von Revolutionen und Konterrevolutionen, ethnischen Konflikten, Pogromen, Unabhängigkeitskriegen und Bürgerkriegen sowie Übergriffe paramilitärischer Gruppen und auch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Staaten zur Folge hatten.16 Finnland gehörte zu den ersten dieser neuen Länder. Mit der Unabhängigkeitserklärung im Dezember 1917, gefolgt von einem kurzen, heftigen Bürgerkrieg bis Mai 1918, hatte es vor den meisten anderen einen Vorsprung von etwa einem Jahr. Dieses Zeitfenster war insofern von Bedeutung, als es in gewissem Umfang half, die Turbulenzen und das Chaos nach dem Zusammenbruch zweier Kaiserreiche und dem Ende eines langen europaweiten Kriegs fernzuhalten. Da dies der Kristallisationspunkt war, an dem die Grundregeln des Staates verhandelt wurden und deren Echo während der gesamten Zwischenkriegszeit widerhallte, wird im Folgenden ein Blick auf die Entstehung der belastbaren Verfassung Finnlands in den kritischen Jahren 1917–1919 geworfen.17
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Roshwald, Ethnic Nationalism, S. 67 und S. 115; Wank, Habsburg Empire; Robert Gerwarth/John Horne, »Paramilitarism in Europe after the Great War. An Introduction«, in: Robert Gerwarth/John Horne (Hg.), War in Peace. Paramilitary Violence in Europe after the Great War, Oxford 2011. Dieses Kapitel basiert auf der Niederschrift der Parlamentsdebatten in Valtiopäivien istunnot. Toiset valtiopäivät 1917, pöytäkirjat I (istunnot 1–48), Helsinki 1918. Siehe auch die Quellen in Aappo Kähönen/Kauko Rumpunen (Hg.), Itsenäisyyden muotoilijat – porvarillisten puolueiden valtuuskunta 1917–1919, Helsinki 2008; Sven Lindman, Suomen Kansanedustuslaitoksen historia, kuudes osa. Eduskunnan aseman muuttuminen 1917–1919, Helsinki 1968. Vgl ebenso Tiihonen, Origins and Development; Alapuro, State and Revolution, S. 150–171. Zu den internationalen Aspekten siehe Juhani Paasivirta, Finland and Europe. The Early Years of Independence 1917–1939, Helsinki 1988.
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In der Phase zwischen dem Zusammenbruch des Reichs der Romanows im Februar/März 1917 und der Oktoberrevolution der Bolschewisten waren die wichtigsten Fragen für Finnland, welcher Institution die höchste Autorität im Staat zugeordnet und wie die Beziehung zu Russland gestaltet werden sollte. Seit den Parlamentswahlen von 1916 hatten die Sozialdemokraten mit 103 von 200 Sitzen die absolute Mehrheit im finnischen Parlament, dem ihrer Ansicht nach angemessensten und legitimsten politischen Akteur im Land. Die anderen Parteien vertraten eine vorsichtige Politik des Abwartens, favorisierten entweder die Zusammenarbeit mit der provisorischen russischen Regierung oder bemühten sich aktiv um (vor allem deutsche) Unterstützung für eine rasche Abtrennung Finnlands von Russland. Im Sommer unterbreiteten die Sozialdemokraten dem Parlament einen Vorschlag, der diesem großen Einfluss auf die Innenpolitik des Landes einräumen und lediglich die Außen- und Verteidigungspolitik in russischer Hand belassen sollte. Der vom Landbund unterstützte Vorschlag fand zwar im Parlament eine knappe Mehrheit, wurde aber nach dem Eingreifen der russischen provisorischen Regierung, der Auflösung des Parlaments und der Ausrufung von Neuwahlen nie umgesetzt. Bei den Parlamentswahlen im Oktober 1917 verloren die Sozialdemokraten ihre absolute Mehrheit und gewannen nur noch 92 von 200 Mandaten.18 Sie waren immer noch die größte Partei und gingen jetzt zunehmend in Opposition zu den »bürgerlichen« Parteien, die angeblich Einfluss auf die Politik der Provisorischen Regierung hatten. Die Kluft zwischen den beiden »Seiten« des nahenden Bürgerkriegs, den Roten und den Weißen, wurde immer tiefer. Die frühere taktische Zusammenarbeit zwischen dem bürgerlichen Landbund und den Sozialdemokraten scheiterte, alle Seiten suchten nach Unterstützung im Ausland, um ihre Position in den innenpolitischen Machtkämpfen zu stärken, und organisierten jeweils eigene paramilitärische Truppen. Nach der Machtübernahme der Bolschewiken in St. Petersburg am 7. November 1917 geriet die politische Konstellation in Finn18
Jaakko Nousiainen, The Finnish Political System, Cambridge, Mass. 1971, S. 40f.
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land aus dem Gleichgewicht. Die bislang eher vorsichtigen Konservativen drängten jetzt auf die Übertragung der höchsten Autorität an das Parlament und den von bürgerlichen Parteien dominierten Senat sowie auf die sofortige Abtrennung Finnlands von Russland. Die Linke rief am 14. November einen Generalstreik aus, woraufhin sich das Parlament selbst zur höchsten nationalen Autorität erklärte. In diesem Zeitfenster wurden auch die Gesetzentwürfe für eine Kommunalreform und die Einführung des Achtstundenarbeitstags verabschiedet.19 Am 6. Dezember schlug der neue bürgerliche finnische Senat die sofortige Erklärung der vollen staatlichen Souveränität vor. Der Vorschlag wurde mit 100 gegen 88 Stimmen angenommen, der Gegenvorschlag der Sozialdemokraten, die sich für eine abwartende Haltung gegenüber der neuen russischen Regierung aussprachen, wurde abgelehnt. Im Januar 1918 beauftragte die Regierung die Weißen Garden mit der Wiederherstellung der Ordnung im Land. Die Linke beschuldigte die Regierung eines Staatsstreichs: Als die Weißen Garden begannen, die im Land verbliebenen, der Unterstützung der Roten verdächtigten russischen Soldaten zu entwaffnen, ergriffen die Roten Garden in den wichtigsten industriellen Zentren Südfinnlands die Macht. Der Bürgerkrieg war relativ kurz, die Zahl der Opfer jedoch auch im internationalen Vergleich sehr hoch. Bis Mai 1918 hatten die Weißen die Roten geschlagen. Die Rache an den geschlagenen Roten war hart: Im ganzen Land wurden Standgerichte eingesetzt und Zehntausende von Menschen in Gefangenenlager gebracht, wo viele von ihnen durch Hunger, Krankheiten und Exekutionen ums Leben kamen, was die Verluste während des Krieges noch einmal vervielfachte.20
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Nach einigen internen Wirren stellte sich die Sozialdemokratische Partei gegen den Streik und sorgte dafür, dass er innerhalb einer Woche zu Ende ging. Der zeitliche Ablauf war wichtig: Die rasche Unterdrückung des Generalstreiks ermöglichte es Finnland, sich aus dem Strudel des Chaos in Russland zu lösen, während die Generalstreiks in den baltischen Provinzen eine umfassendere revolutionäre Welle hervorriefen. Pertti Haapala/MarkoTikka, »Revolution, Civil War and Terror in Finland in 1918« in: Gerwarth/Horn, War in Peace; Alapuro, State and Revolution,
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Als Folge des Bürgerkriegs zerbrach die politische Linke Finnlands in zwei Lager – eine Spaltung, die großen Einfluss auf die demokratische Entwicklung im ganzen 20. Jahrhundert haben sollte. Die gemäßigten Sozialdemokraten erklärten sich bereit, mit der »weißen« Hälfte der Gesellschaft zusammenzuarbeiten, und sprachen sich offen gegen die revolutionären Ziele aus. Der radikalere Teil der Linken gründete in Moskau die Kommunistische Partei Finnlands (Suomen kommunistinen puolue, SKP), und die Parteiführung residierte fürderhin dort im Exil. Wegen ihrer offen revolutionären Ziele war die SKP seit ihrer Gründung in Finnland verboten. Doch zwischen 1922 und 1930 traten im Rahmen verschiedener Wahlbündnisse auch weiterhin linksextreme und kommunistische Kandidaten bei den Parlamentswahlen an und erzielten etwa ein Drittel der linken Stimmen (insgesamt 10–15 Prozent). Dies steht in deutlichem Kontrast zu den anderen skandinavischen Ländern, wo die Kommunisten nie mehr als 5 Prozent erreichten.21
Monarchie oder Republik? Als der Bürgerkrieg zu Ende war, hatte der neue Staat noch immer keine Verfassung. Es gab drei Hauptkonzepte für die Zukunft Finnlands, die alle die dem Parlament 1906 verliehenen staatlichen Hoheitsbefugnisse berührten. Die konservativen Monarchisten favorisierten eine abgewandelte Form der konstitutionellen Monarchie mit der Begründung, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts sei nur dank eines ausreichend starken Gegengewichts möglich gewesen. Nun, da es keinen Zaren mehr gab, sollte im Einklang mit der alten Verfassung ein neuer König für das Land gewählt werden. Ein zweites, parteiübergreifendes Konzept sah eine liberale demokratische Republik mit klassischer Gewaltenteilung zwischen Exe-
21
S. 164–196; Jason Lavery, The History of Finland, Westport/London 2006, S. 85–88. Nousiainen, Finnish Political System; Kim O. K. Zilliacus, Finländsk kommunism i ljuset av väljarstod 1945–1991, Helsingfors 1995; Anthony F. Upton, Communism in Scandinavia and Finland. Politics of Opportunity. New York 1973, S. 187–189; Tauno Saarela, Suomalaisen kommunismin synty 1918–1923, Tampere 1996.
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kutive, Legislative und Judikative sowie starke Minderheitenrechte im Parlament vor. Dem Landbund wiederum schwebte ein vom Parlament dominiertes dualistisches System vor, bei dem das Volk (und damit Mehrheiten) durch die Wahl sowohl des Parlaments als auch des Präsidenten mehr Gewicht haben sollte als Exekutive und Beamtenschaft.22 Wie der Landbund, dem durch die Rolle der »weißen« Kleinbauern im Bürgerkrieg 1918 mehr Einfluss zugefallen war, in diesen Diskussionen immer wieder gern ausführte, hatte die »weiße Bauernarmee« nicht den Kampf gegen die »rote Bedrohung« aufgenommen, um dann doch das bürokratisch-elitäre System des Großfürstentums wieder zu installieren oder um irgendwelche neuen antidemokratischen Eliten in den Sattel zu heben. Sie waren in den Kampf gezogen, um die nordischen Traditionen der Freiheit, Bauerndemokratie und Selbstverwaltung zu verteidigen.23 Doch im August 1918 hatten außen- und wirtschaftspolitische Erwägungen das größte Gewicht. Nach einer Reihe komplizierter Abstimmungen siegten am 9. Oktober 1918 die Monarchisten mit ihrem Vorschlag, und der deutsche Karl Friedrich von Hessen wurde zum neuen König von Finnland gewählt. Auch viele Finnen, die die Monarchie ablehnten, teilten die Ansicht der führenden Monarchisten (darunter auch J.K. Paasikivi, später von 1945–1956 Präsident des Landes), dass ein kleiner Staat in der geopolitischen Position Finnlands nur in einer Allianz mit einem größeren Staat
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Es gab auch Überlegungen, das Einkammerparlament durch ein Zweikammersystem zu ersetzen, und man dachte sogar daran, das Einkammerparlament beizubehalten, aber eine festgelegte Zahl von Abgeordneten auf korporativ-funktionaler Grundlage nach fünf Berufsgruppen wählen zu lassen: (1) Beamte und Richterschaft, (2) Lehrer und Geistliche, (3) Vertreter von Handel und Industrie, (4) Landbesitzer und (5) Arbeiter, Handwerker und Kleinpächter. Siehe Lindman, Suomen Kansanedustuslaitoksen historia, S. 241; siehe auch Vesa Vares, Konservatiivi ja murrosvuodet. Lauri Ingman ja hänen poliittinen toimintansa vuoteen 1922, Helsinki 1994, S. 335–338. Zu den Vorstellungen des Landbunds siehe Juhani Mylly, Maalaisliitto-Keskustapuolueen historia 2: Maalaisliitto 1918–1939, Helsinki 1989, vor allem S. 42–44. Außer in Mylly, Maalaisliitto-Keskustapuolueen, kommt diese Argumentation auch in den gedruckten Parlamentsprotokollen deutlich zum Ausdruck.
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existieren könne. Auch wirtschaftlich schien die Verbindung mit Deutschland für Finnland, das sich mit dem Verlust des russischen Marktes konfrontiert sah, von unmittelbarem Nutzen zu sein.24 Doch nur wenige Wochen nach der Abstimmung in Finnland war die Niederlage Deutschlands nicht mehr abzuwenden, und die Wahl wurde rückgängig gemacht. Der König zog sich zurück, und Finnland hatte noch immer keine Verfassung. Mit dem Scheitern zuerst der »roten« und nun auch der monarchistischen Vision von der Zukunft Finnlands ging die politische Dynamik auf die bürgerlich-liberalen Kräfte über, und diese übernahmen die führende Rolle bei der Vollendung der Verfassung. Für März 1919 wurden Parlamentswahlen angesetzt. Mit der Renaissance der Sozialdemokraten hatten die prorepublikanischen Kräfte eine klare Mehrheit. Im Sommer 1919 erfolgte die Verabschiedung der neuen Verfassung (165/200 Stimmen), und mit K. J. Ståhlberg (1865–1952) wurde einer ihrer wichtigsten Architekten der erste Präsident der Republik Finnland. Für die »roten« Gefangenen wurde eine Generalamnestie erlassen.25 Die neue Verfassung war eine Mischung aus Elementen eines präsidialen und eines parlamentarischen Systems. Sie untermauerte die Macht des Volkes, das von einem Einkammerparlament repräsentiert wurde, und enthielt Mechanismen zur Begrenzung des destabilisierenden Einflusses wechselnder politischer Entscheidungen des Parlaments auf die Verwaltung und vor allem auf die höchsten staatlichen Institutionen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung wurde streng beachtet, doch nach französischem oder amerikanischem Vorbild wurde der Präsident mit großen Machtbefugnissen ausgestattet.26 Ein charakteristisches Merkmal der neuen Verfassung war, dass die verschiedenen Elemente der beiden Systeme 24 25 26
Engman, Consequences of Dissolving; Vares, Konservatiivi ja murrosvuodet, S. 320–322; Mylly, Maalaisliitto-Keskustapuolueen, S. 54–55. Mylly, Maalaisliitto-Keskustapuolueen, S. 80–86; Lindman, Suomen Kansanedustuslaitoksen, S. 422 und 424. Der Präsident war die höchste Autorität auf dem Gebiet der Außen- und Verteidungspolitik, und er konnte, wenn erforderlich, das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen, die Regierung ernennen und entlassen und die höchsten Beamten ernennen. Nousiainen, Finnish Political System, S. 226–228.
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nicht miteinander vermischt wurden, sondern nebeneinander bestanden und so die Möglichkeit eröffneten, bei Bedarf auf die mit dem Präsidentenamt verbundenen Machtbefugnisse zurückzugreifen.
Strategien zur nationalen Wiedervereinigung: Integration oder Ausgrenzung der politischen Linken? Das gesellschaftliche Leben der neuen Republik war durch das Erbe des Konflikts von 1918 zutiefst gespalten. Doch in einem Land, in dem die Einheit der Nation seit jeher als das höchste Gut eines kleinen Staates galt, erhielt die Wiederherstellung der verlorenen nationalen Einheit bald höchste politische Priorität. Bei allen Unterschieden in Detailfragen und zugrunde liegenden Motiven wurde der Gedanke als solcher in allen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und über die Parteigrenzen hinweg von sehr vielen Menschen geteilt. Selbst für die autoritärsten Segmente des politischen Lebens war die Wiedervereinigung ein vorrangiges Ziel, allerdings vor allem als wirksame Verteidigung gegen den östlichen Bolschewismus. Die Bemühungen um die nationale Wiedervereinigung waren in den Zwischenkriegsjahren noch immer von den »weißen« Siegern des Bürgerkriegs dominiert, doch herrschte in diesem Lager eine Pluralität der Sichtweisen, die sich letztlich als einer der entscheidenden Faktoren für das »Überleben« der finnischen Demokratie in diesem Zeitraum erwies. Alles in allem gab es im »weißen« Finnland zwei Hauptstrategien für die nationale Wiedervereinigung. Wichtigster Unterschied und zentraler Streitpunkt war das Verhalten gegenüber der Linken. Die erste, eher integrationistisch geprägte Strategie wurde von den bürgerlichen Kräften des politischen Zentrums vertreten; diese bemühten sich um Zusammenarbeit mit den gemäßigten Sozialdemokraten und wollten mit neuen Gesetzen soziale Reformen vorantreiben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt festigen. Sie waren aus den Auseinandersetzungen von 1918–1919 um die Verfassung stärker hervorgegangen als die Konservativen und hatten im politischen System des Landes zunächst eine gute Startposition. Die Koalitionen, an denen sie in den
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1920er Jahren beteiligt waren, hielten die Tür für eine erneute Einbeziehung der moderaten Sozialdemokraten offen; deren Vertreter wurden auch zu den sogenannten Staatskomitees eingeladen, die die Gesetzentwürfe und Sozialreformen erarbeiteten.27 Die eher exklusionistisch ausgerichtete Strategie hingegen zielte vor allem auf die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung und wollte jedweder kommunistischen Agitation Grenzen setzen. Zwar waren die extreme Linke und der Kommunismus die Hauptzielscheibe, aber im Gegensatz zu den Integrationisten stellten die Exklusionisten auch die Sozialdemokraten unter Verdacht. Schließlich wurde gegen alle, die zur Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten bereit waren, der Vorwurf erhoben, das Ausmaß des »roten Verrats« von 1918 und die Bedrohung, die der Bolschewismus für die Unabhängigkeit Finnlands und seine freie Gesellschaft darstellte, herunterzuspielen. Die beiden Strategien überlappten einander und waren zum Teil auch miteinander verknüpft. Doch der Konkurrenzkampf war heftig und machte nicht einmal vor politischen Terrorakten halt.28 Mitte der 1920er Jahre hatte sich ein gewisses Gleichgewicht zwischen den beiden Strategien und eine Arbeitsteilung zwischen 27
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1922 wurden Gesetze zu Arbeitsverträgen und Beschäftigungsverhältnissen verabschiedet. 1924 nahm das Parlament ein Tarifverhandlungsgesetz an und 1925 ein Gesetz über Schiedsverfahren in Arbeitskonflikten (vgl. Kaarlo Tuori, Valtionhallinnon sivuelinorganisaatiosta, Julkisoikeudellinen tutkimus komiteatyyppisten elinten asemasta Suomen valtio-organisaatiossa, Bd. 1, Helsinki 1983). Die Möglickeit, über die Staatskomitees (Regierungskommissionen, die im Rahmen des Verwaltungssystems tätig, aber nicht in die formelle ministerielle Hierarchie eingebunden waren) an der Erarbeitung von Rechtsvorschriften mitzuwirken, zeugt von einer gewissen Tradition des »Verwaltungskorporatismus« – in einem Land, das gemeinhin als neo-korporatistischer Spätzünder gilt. Johanna Rainio-Niemi, Small State Cultures of Consensus. State Traditions and Consensus-Seeking in Austria and Finland, Dissertation, Universität Helsinki 2008; Johanna Rainio-Niemi, »State Committees in Finland in Comparative Historical Perspective«, in: Risto Alapuro/Henrik Stenius (Hg.): Nordic Associations in a European Perspective, Berlin 2010, s. 241–268. Ein Opfer der anfangs sehr brutalen internen »weißen« Machtkämpfe in der neuen Republik war Innenminister Heikki Ritavuori von der liberalen Nationalen Fortschrittspartei, der im Februar 1922 von einem politischen Extremisten erschossen wurde.
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ihren Vertretern eingependelt: Die Integrationisten konzentrierten sich vor allem auf Reformen und auf den Dialog mit der moderaten Linken im Parlament und in der Verwaltung, während es den Exklusionisten (mit zumindest schweigender Zustimmung der Erstgenannten) hauptsächlich um Druck, Kontrolle und Ordnung ging, wozu über das gesamte Jahrzehnt hinweg auch die permanente Beobachtung und die polizeiliche Überwachung von bekannten bzw. vermuteten kommunistischen Aktivitäten auf lokaler und nationaler Ebene gehörten.29 Die Sozialdemokraten, eine der beiden Hälften, in die die politische Linke seit 1918 gespalten war, beteiligten sich bereits 1919 an den Parlamentswahlen und blieben auch weiterhin die zahlenmäßig größte Partei im Land. Als jedoch die landlosen Bauern in der neuen Republik das Wahlrecht erhielten und eine Landreform durchgeführt wurde, vollzog sich in ihrer bisherigen Stammwählerschaft ein Wandel: Aus Landpächtern wurden unabhängige Kleinbauern, und ihre Stimmen ging jetzt auch an den rasch wachsenden Landbund, der sich als nicht sozialistische Wahlalternative für die neue gesellschaftliche Gruppe der Kleinbauern profilierte. Die Sozialdemokraten konzentrierten sich nun stärker auf die Genossenschaftsbewegung und somit auf die Interessen der Verbraucher.30 Gleichzeitig stieg mit der Industrialisierung in den Jahren 1922–1937 die Zahl der Industriearbeiter, was wiederum zu einem verschärften Wettbewerb zwischen den Sozialdemokraten und den Kommunisten über deren Herzen und Köpfe führte. Während die gemäßigten Sozialdemokraten gegen Ende der 1920er Jahre wieder uneingeschränkt am politischen Leben teilnehmen konnten, wurden die Kommunisten von den Behörden weiter offen unter Druck gesetzt und verfolgt. Die Wiedereingliederung der einen und die Ausgrenzung der anderen Gruppe verschärfte alte 29
30
Matti Lackman, Esko Riekki. Jääkärivärväri, Etsivän Keskuspoliisin päällikkö, SS-pataljoonan luoja, Helsinki 2007, S. 189–214; ders., »The Finnish Secret Police and Political Intelligence. Their Methods and Collaborators in the 1920s and 30s«, in: Scandinavian Journal of History 12 (1988), H. 3, S. 199–213. Vgl. auch Capoccia, Defending Democracy. Dennoch kamen noch in den 1920er Jahren nur 12–13 % der sozialdemokratischen Wähler aus städtischen Gebieten. Kettunen, Poliittinen liike, S. 322–324, S. 218–222.
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und schuf neue Konfliktlinien um zentrale Fragen wie die nach Isolation oder Einbindung, Reformismus oder Radikalismus, Kompromiss mit der bestehenden Ordnung oder Konfrontation.31 Die aus den existierenden politischen Strukturen weitgehend ausgeschlossenen Kommunisten setzten vor allem auf die relativ schwache Gewerkschaftsbewegung als ihren wichtigsten potenziellen Einflusskanal. Der Zentralverband der finnischen Gewerkschaften Suomen Ammattijärjestö (SAJ) lag seit Beginn der 1920er Jahre in den Händen der extremen Linken und der Kommunisten. Arbeitsplätze und Industriebetriebe wurden zum Tummelplatz politisch motivierter Unruhen und Machtkämpfe zwischen den beiden linken Blöcken. Das verstärkte nicht nur die bestehenden Vorurteile der Geschäftswelt und der Arbeitgeberorganisationen, sondern trug auch zu einem generellen Legitimitäts- und Attraktivitätsverlust der Gewerkschaften bei. Die Sozialdemokraten intensivierten ihre politische Arbeit im Parlament, in der Genossenschaftsbewegung und für die Verbraucherinteressen (gegenüber den landwirtschaftlichen Erzeugern), während sich die Kommunisten immer mehr auf die Gewerkschaften konzentrierten, deren Führung während der gesamten 1920er Jahre in ihren Händen lag.32 Trotz dieser Auseinandersetzungen gründeten die Sozialdemokraten erst 1929 einen neuen zentralen Gewerkschaftsverband, die Suomen Ammattijärjestöjen Keskusliitto (SAK). Nur ein Jahr später wurde die alte, kommunistisch dominierte SAJ im Zuge der Einschränkung öffentlicher Aktivitäten der Kommunisten verboten.33
31 32
33
Tauno Saarela/Kimmo Rentola (Hg.), Communism. National & International, Helsinki 1998. Zur Legitimität und insbesondere zu den lokalen und firmenspezifischen Machtbasen der Gewerkschaften in den vorwiegend ländlichen Gemeinden Finnlands siehe Teräs, Industrial Actionism. Das ambivalente Verhalten der Sozialdemokraten gegenüber den Gewerkschaften trat während der sozialdemokratischen Minderheitsregierung 1926–1927 zutage, als die Regierung der massiven Streikwelle, bei der die Kommunisten eine zentrale Rolle spielten, nicht Herr wurde. Kettunen, Poliittinen liike, z.B. S. 314f.; 264, 281–283, 328. Vgl. auch Soikkanen, Historical Review; Upton, Communism. Zu den gesetzgeberischen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Verbot der SAJ (und anderer tatsächlich oder vermeintlich unter kommunistischem Einfluss stehender Organisationen) siehe Capoccia, Defending Democracy,
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Dieser Schlüsselbereich des spezifisch nordischen Demokratiemodells bot in Finnland wenig Raum für Kompromisse. Dennoch bemühten sich die Befürworter des integrationistischen Reformprozesses bereits in den 1920er Jahren darum, auch hier Tarifvereinbarungen zur Grundlage für die Arbeitsbeziehungen zu machen (was im Übrigen auch den Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO entsprach). Dieses Prinzip war in den anderen skandinavischen Ländern längst anerkannt und bildete dort die Grundlage für die berühmten nordischen klassenübergreifenden sozio-ökonomischen Kompromisse; in Finnland hingegen wurden die Gewerkschaften vom Arbeitgeberverband und von den großen Unternehmen nicht als rechtmäßige Vertreter der kollektiven Arbeitnehmerinteressen anerkannt und somit als Verhandlungspartner abgelehnt. Auch konnten viele der staatlich unterstützten Sozialreformen nicht effektiv in die Praxis umgesetzt werden: Die Mittel waren knapp, und die schwachen, kurzlebigen Koalitionsregierungen mit einer Amtszeit von durchschnittlich einem Jahr verfügten nicht über die notwendige Durchsetzungskraft. Gegen Ende der 1920er Jahre kulminierte der allgemeine Wunsch nach Wiederherstellung der »weißen«, dezidiert antisozialistischen Ordnung in der immer spürbareren Präsenz der zivilen Garden34 auf allen Ebenen des Staates und der Gesellschaft, auch am Arbeitsplatz. Diese Organisation (seit 1927 die größte Vereinigung im Land) verband alle Gruppen des »weißen« Finnlands miteinander, und gegen Ende des Jahrzehnts wurde die Frage, wer die Kontrolle über sie ausübte, Dreh- und Angelpunkt für den Erhalt oder Niedergang der Demokratie.35
34
35
S. 144f; 160f; Lauri Hyvämäki, »Kommunismin vastaisen lainsäädännön synty ja Lapuanliike«, in: Historian Aitta XVI (1964). Die Zivilgarden, 1918 das Kernstück der Weißen Armee, waren nun offiziell eine unpolitische, semioffizielle Organisation von halb Freiwilligen, die eigentlich der Armee oder der Polizei obliegende Aufgaben übernehmen durften. Sie waren in regionalen und lokalen Untergruppen organisiert und wurden von allen bürgerlichen Parteien und anderen gesellschaftlichen Gruppen mehr oder weniger aktiv unterstützt. Marko Tikka, Valkoisen hämärän maa? Suojeluskunnat, Virkavalta ja Kansa 1918–1921, Helsinki 2006. Siehe besonders die Beiträge in Risto Alapuro (Hg.), Raja railona. Näkökulmia suojeluskuntiin, Helsinki 1998. Dem Verhältnis zwischen Demokratie
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Die Grenzen der Demokratie Die Exklusionisten gewannen Ende der 1920er im Fahrwasser der antisozialistischen, antiparlamentarischen und antidemokratischen Bewegungen in vielen Ländern Europas an Bedeutung. Die konservativen, offen autoritären Eliten an der Spitze des politischen, wirtschaftlichen und militärischen Lebens verbündeten sich mit den bäuerlichen Massen, um gemeinsam jedwede sozialistische Bewegung im Land auszurotten – wozu das bestehende demokratische System mit seinen »schwachen« Führungsgestalten nicht in der Lage zu sein schien. Anfang der 1930er Jahre führte ein eher unbedeutender Zusammenstoß zwischen Kommunisten und rechtsgerichteten Aktivisten in der kleinen Stadt Lapua zur Bildung einer faschistischen Massenbewegung, die dem Parlament bald die ersten Gesetzentwürfe zum Verbot des Kommunismus vorlegte. Diese von den Integrationisten heftig kritisierten Vorlagen wurden mit knapper Mehrheit verabschiedet, wenn auch nicht in der ursprünglichen Bandbreite. Dieses »Versagen« führte zu einer weiteren Radikalisierung von Teilen der Lapua-Bewegung, die sich unversehens in Unruhen, Vandalismus und politischem Terrorismus zunächst gegen Kommunisten, dann auch gegen Sozialdemokraten und schließlich gegen alle entlud, die der Kollaboration verdächtig erschienen. Die Regierung geriet unter starken Druck und erklärte bald auch den Rest der Anti-Kommunisten-Gesetze für rechtsgültig, ohne sie dem Parlament zur Abstimmung vorzulegen. Massendemonstrationen und Märsche mit Tausenden von Teilnehmern aus dem ganzen Land, Sabotageakte, Erpressungsversuche und gewaltund Zivilgarden (als unleugbar in der Zivilgesellschaft breit verankerte Vereinigung bzw. Volksbewegung) widmen sich insbesondere Pauli Kettunen, »Suojeluskunnat ja suomalainen kansanvalta«, in: Alapuro, Raja railona, S. 273–292, hier besonders S. 277; Lauri Hyvämäki, Sinistä ja mustaa. Tutkielmia Suomen oikeistoradikalismista, Helsinki 1971. Siehe auch Martti Siisiäinen, Suomalainen protesti ja yhdistykset, Jyväskylä 1990, S. 34–39. Die entscheidende Rolle der Zivilgarden als Vermittler zwischen Staat, Parteien und Zivilgesellschaft und der nationalen und lokalen politischen Ebene kommt in Capoccias ansonsten sehr gründlicher Analyse etwas zu kurz, Capocci, Defending Democracy.
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tätige Auseinandersetzungen schürten die Angst vor einem erneuten Bürgerkrieg. Anfänglich zog die Lapua-Bewegung auch Anhänger der Mitte-rechts-Parteien an, und diese breite Unterstützung blieb relativ stabil, solange die Verbote nur gegen die Kommunisten gerichtet waren. Verglichen mit den subversiven Aktivitäten der Kommunisten, die an den Rändern der Gesellschaft stattfanden und auf verschiedenste Weisen unterdrückt wurden, war die Bedeutung des autoritären Rechtsextremismus in der Stärke der Massen und in der Tatsache begründet, dass die Bewegung bereits bis an die Spitze von Staat und Gesellschaft vorgedrungen war.36 Zahlreiche Mitglieder der politischen, militärischen, industriellen und administrativen Elite spielten eine Zeit lang mit dem Gedanken, diese Bewegung zur Stabilisierung der Vorherrschaft des »weißen«, autoritären Blocks zu nutzen.37 Mit dieser Methode wurden in Europa in den 1930er Jahren etliche demokratische Regierungen zu Fall gebracht. Die Lapua-Bewegung hatte viele einflussreiche Anhänger und Sympathisanten, und selbst dienigen, die sich nicht für ihre Politik begeisterten, verschlossen die Augen, solange es vor allem darum ging, die öffentlichen Aktivitäten der Kommunisten zu unterbinden.38 Die stillschweigende Unterstützung der Bewegung aufseiten der Mehrheit der Eliten schwand, als sie mit Gewalt und illegalen Methoden gegen weitere Bevölkerungskreise vorging und so die Grundpfeiler der bestehenden Rechtsordnung bedrohte.39 Hatten 36 37 38
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Alapuro, Raja railona; Lackman, The Finnish Secret Police. Capoccia, Defending Democracy, S. 139. Risto Alapuro/Erik Allardt, »The Lapua Movement. The Threat of Rightist Takeover in Finland, 1930–32«, in: Juan Linz/Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes. Europe, Baltimore 1978, S. 122–141; aus der historischen Perspektive der finnischen Sicherheitsbehörden siehe Lackman, Esko Riekki. Ein Wendepunkt war die Entführung des ersten Präsidenten der Republik und Architekten der finnischen Verfassung K. J. Ståhlberg und seiner Gattin im Herbst 1930, woraufhin insbesondere der Landbund und die in der politischen Mitte stehende liberale Fortschrittspartei die Unruhen mit scharfen Worten verurteilten. Siehe z.B. Juhani Mylly, »Porvarilliset puolueet ja suojeluskunnat«, in: Alapuro, Raja railona, S. 37–58, hier besonders S. 45–57; Martti Ahti, »Suojeluskuntalain kolmas pykälä«, in: ebenda S. 239–271, hier besonders S. 259–270; Siisiäinen, Suomalainen protesti, S. 37.
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alle Parteien (einschließlich der Sozialdemokraten) die Maßnahmen zur Einschränkung kommunistischer Aktivitäten zumindest noch stillschweigend gebilligt, so wurden die Angriffe auf das bestehende demokratische System und seine Vertreter nun nicht mehr toleriert. Die Kräfte der politischen Mitte machten jetzt gegen die Agitation der Lapua-Bewegung mobil, die während der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 1931 einen neuen Höhenflug erlebte. Mit Unterstützung der Lapua-Bewegung wurde der Kandidat der konservativen Nationalen Sammlungspartei P. E. Svinhufvud zum Präsidenten gewählt. Dadurch verschob sich das politische Gleichgewicht ein wenig nach rechts, doch die politische Mitte hatte einen festen Platz in der neuen Koalition, die nun mit dem erklärten Ziel antrat, »die Rechtmäßigkeit ohne Kompromisse wiederherzustellen […] und jedwede politischen Machenschaften und außerparlamentarische Aufwiegelung entschlossen zu unterdrücken, wer immer der Urheber sein mag«.40 Angesichts der zunehmenden Isolation und Feindseligkeit vonseiten der regierenden Koalition sowie ihres schwindenden öffentlichen Ansehens suchten die verbliebenen Segmente der LapuaGruppen ihr Heil in einem noch schärferen Radikalismus und immer absurderen Forderungen. Das Jahr 1931 war durch heftige bürokratische Auseinandersetzungen um den Erhalt der bestehenden staatlichen Ordnung mithilfe einer Mischung von repressiven, gesetzgeberischen, öffentlichen und verdeckten Operationen geprägt.41 Der Radikalismus der Lapua-Bewegung gipfelte 1932 in einem Putschversuch, bei dem militante Lapua-Mitglieder, darunter bewaffnete Zivilgardisten, in der kleinen Stadt Mäntsälä die Polizei entwaffneten und in allen anderen wichtigen Städten in Südfinnland ihre Anhänger mobilisierten; sie forderten Präsident Svinhufvud auf, die amtierende Koalitionsregierung zu entlassen und eine neue Regierung zu ernennen, die der Lapua gewogener war. Der von allen Seiten mit Ultimaten bedrängte Präsident musste Stellung beziehen. Er ließ die Führer der Zivilgarden und der Streitkräfte in aller Öffentlichkeit einen Treueid auf das bestehende poli40 41
Micheles Dean u.a., New Governments in Europe. The Trend Toward Dictatorship, 1934, S. 275, zit. nach Capoccia, Defending Democracy, S. 165. Einen guten Überblick liefert Capoccia, Defending Democracy, S. 161f.
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tische System und die Demokratie leisten. Sodann griff er auf seine verfassungsmäßigen Befugnisse zum Schutz des Staates zurück und rief den Notstand aus. Die Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Bewegungsfreiheit sowie das Recht auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung oder Durchsuchung wurden ausgesetzt und die Regierung zur Überwachung der Post-, Telefon- und Funkkommunikation ermächtigt. Die Gesetze zur Bekämpfung des Extremismus, mit denen 1930 alle öffentlichen Aktivitäten der Kommunisten verboten worden waren, kamen nun gegen die extreme Rechte zum Einsatz. Präsident Svinhufvud erinnerte die Mitglieder der Zivilgarde in einer Radioansprache an ihren Eid auf die Republik und beschwor die Rebellen, nach Hause zu gehen – mit dem Versprechen einer Amnestie für alle außer den Anführern.42 Nach einer Woche war der Putschversuch beendet.
Warum musste die autoritäre Bewegung in Finnland scheitern? Der Aufstieg der Lapua-Bewegung und insbesondere die Unterstützung, die sie von Teilen der Eliten in Industrie, Militär und Verwaltung und sogar von den kulturellen Eliten erhielt, zeugten von einer starken autoritären Strömung im Finnland der Zwischenkriegszeit. Ihr relativ schneller Niedergang wiederum dokumentiert einen hinreichenden Grund- und Verfahrenskonsens,43 der ein
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Siehe Ahti, Suojeluskuntalain, S. 267–269; Mylly, Porvarilliset puolueet, S. 47–56; ebenso Alapuro/Allardt, The Lapua Movement; Lauri Karvonen, From White to Blue-and-Black. Finnish Fascism in the Inter-War Era, Helsinki 1988. Nach Giovanni Sartoris Definition bedeutet Konsens nicht die aktive Zustimmung eines jeden, sondern eine Art Gemeinsamkeit, die verpflichtet. Zu den Gemeinsamkeiten gehören für ihn Werte, Spielregeln und bestimmte politische Programme. Auf der Ebene der Werte handelt es sich um einen »Grundkonsens«, auf der der Spielregeln um einen »Verfahrenskonsens« und auf der der politischen Programme um einen »politischen Konsens«. Anders als die Modernisierungstheoretiker betrachtet Sartori den Wertekonsens nicht als eine Voraussetzung für die anderen Arten von Konsens. Vielmehr lässt dieser sich als das Ergebnis eines Verfahrenskonsens beschreiben
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weiteres Abdriften nach rechts verhinderte. Das demokratische System Finnlands war zweifellos schwächer als das der anderen skandinavischen Länder, doch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nach dem 1. Weltkrieg stachen die relativ gut legitimierten staatlichen Strukturen (wie etwa die Verwaltung) und die historisch tief verwurzelte Achtung der Rechtstaatlichkeit und der Verfassungskontinuität hervor. Auf der parteipolitischen Ebene ist (ebenfalls aus vergleichender Perspektive) eine weitere Besonderheit festzuhalten, nämlich die »nordische« Parteienlandschaft, in der viele kleine Parteien mit einander überlappenden Interessen die wichtigsten Akteure zur Kooperation drängten (und zwangen).44 Diese Pluralität schuf Raum für je nach Sachfrage wechselnde und flexible Bündnisse aller Art. Von besonderer Bedeutung war die Rolle der Kräfte der politischen Mitte, die zahlreich und stark genug waren, um innerhalb und außerhalb der wichtigsten staatlichen Institutionen und aller Schichten der organisierten Zivilgesellschaft ein wirksames Gegengewicht zu bilden und damit die Radikalisierung am rechten Rand von innen zu begrenzen und den Sieg des Rechtstaats auf Dauer zu sichern. Dieses Gegengewicht blieb selbst in so bedeutenden Verbänden wie den Zivilgarden wichtig, aus denen sich die Parteien der Mitte trotz deren nachweislicher Verbindungen zu den autoritären Strömungen in Politik und Gesellschaft nie ganz zurückzogen.45 und bestenfalls als zusätzlicher Faktor, der andere Arten von Konsensbildung erleichtert, nicht aber als verbindliche Forderung. 44 Man vergleiche die Situation etwa mit der in Österreich, wo die Unfähigkeit der beiden großen politischen Gegenspieler zur Zusammenarbeit das Parlament lähmte und der Regierungspartei einen Vorwand lieferte, die Mehrparteiendemokratie abzuschaffen und das Parlament zu schließen. RainioNiemi, Small State Cultures of Consensus, S. 75–89. 45 Dieser Aspekt wird in der Literatur eingehend beleuchtet. Siehe z.B. die Beiträge in Alapuro, Raja railona; Tikka, Valkoisen hämärän maa?; Seppo Hentilä, »Independence between East and West. How Did Finland Survive as a Democracy?«, in: Thomas M. S. Lehtonen (Hg.), Europe’s Northern Frontier. Perspectives on Finland’s Western Identity, Jyväskylä 1999, S. 86–116. ; Siisiäinen, Suomalainen protesti. Zu vergleichenden Darstellungen siehe z.B. auch André Sahlström, Under blåsvarta färger. Den estniska konstitutionella krisens verkningar I de finsk-estniska relationerna åren 1934–1938, Helsinki 2000.
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Für das Ende des Lapua-Radikalismus sorgte der Präsident, der sich dabei auf die außerordentlich großen Befugnisse stützte, die ihm die Verfassung von 1919 einräumte. Zusammen mit der Anwendung der Rechtsinstrumente zur Bekämpfung des Extremismus, die im Jahr 1930 allen öffentlichen Aktivitäten der Kommunisten ein Ende gesetzt hatten, konnten nun die Forderungen nach autoritären Lösungen ohne weitere Änderungen an der bestehenden Ordnung gezügelt und befriedigt werden. Zwar wurde dabei die Demokratie bis hin zur Beschneidung von Grundrechten zurechtgebogen, doch die Anpassungsfähigkeit und Dualität der Verfassung ermöglichte die Durchführung dieser Maßnahmen, ohne dass dabei die Grenzen des demokratischen Systems überschritten wurden. Auch hier unterschied sich Finnland deutlich von den baltischen Staaten und auch von Österreich. Dort wurde die stark parlamentzentrierte Verfassung dazu missbraucht, das politische System lahmzulegen, um dann, in Ermangelung eines verfassungskonformen Auswegs, diese Lähmung als Rechtfertigung für die Abschaffung der Mehrparteiendemokratie und die Einführung einer autoritären Einparteienherrschaft zu nutzen.46 Außerdem waren, wie ein sozialdemokratischer Beobachter bereits zu Beginn der 1930er Jahre feststellte, die Aussichten für ein von der Bauernschaft unterstütztes faschistisches Regime in Finnland anfänglich schlecht, weil sich alle Einschränkungen der parlamentarischen Demokratie letztlich gegen die Kleinbauern selbst gewendet hätten.47 Die starke Tradition der lokalen Selbstverwaltung (und eine tiefe Abneigungen gegen Eliten) war grundlegender Bestandteil der – bemerkenswert fest etablierten – politischen Mentalität der Landbevölkerung. Während also die Kleinbauern zwar die Massenbasis der Lapua-Bewegung bildeten, ließ sich die politisch aktive Bauernschaft von den mächtigen rechten Eliten letztlich doch nicht zur Unterstützung eines antidemokratischen
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47
Zum Vergleich mit den baltischen Staaten: Alapuro, State and Revolution in Finland, S. 259; auch: Sahlström, Under blåsvarta färger; zu Österreich und Finnland: Rainio-Niemi, Small State Cultures of Consensus. Kettunen, Poliittinen liike, S. 310–313; auch: Mylly, Maalaisliitto-Keskustapuolueen, sowie ders., Porvarilliset puolueet.
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Putsches bewegen, der die Macht der Eliten auf Kosten der Bevölkerung wiederhergestellt hätte. Da die finnische Bauernschaft eher antisozialistisch denn antidemokratisch orientiert war, konnten ihre politischen Vertreter zwar einer populistisch-autoritären Allianz beitreten, waren aber unabhängig und selbstbewusst genug, diese auch wieder zu verlassen, wenn sie ihren Interessen nicht mehr diente. Während es als gesichert gelten kann, dass die Weltwirtschaftskrise einen erheblichen Anteil am Aufstieg des Faschismus in Europa hatte, zeigt ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung in Finnland, dass zwar auch hier in den Jahren 1929–1932 ein deutlicher Wirtschaftsabschwung festzustellen war, die Rezession aber weder so tief noch so umfassend war wie in vielen anderen europäischen Ländern. Insgesamt war Finnland, begünstigt durch einen verspäteten Durchbruch der Industrialisierung (1922–1937) und einen entsprechenden »Nachholeffekt« als Folge der relativen Rückständigkeit, eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften im Zwischenkriegseuropa.48
48
Die erste Wachstumsspitze bei BIP-Volumen (6,4 % pro Jahr) und Industrieproduktion (10 % pro Jahr) war im Zeitraum 1922–1928 zu verzeichnen, die nächste 1933–1938 (6,6 % pro Jahr/BIP). Das durchschnittliche BIP-Wachstum im gesamten Zeitraum 1920–1938 betrug 4,7 % pro Jahr: Olle Kranz, »Industrialisation in Three Nordic Countries: A Long-Term Quantitative View«, in: Hans Kryger Larsen (Hg.), Convergence? Industrialisation of Denmark, Finland and Sweden 1870–1940, Helsinki 2001, S. 46–48 und S. 55. Siehe auch Paasivirta, Finland and Europe, S. 410–425. Gemessen am durchschnittlichen realen Pro-Kopf-Einkommen war Finnland im Zeitraum 1925–1934 in etwa vergleichbar mit Ländern wie Griechenland, Ungarn, Polen, Italien und Jugoslawien. 1938 hatte es sich jedoch von dieser Gruppe abgesetzt: Das BIP der Tschechoslowakei (das größte der mittelosteuropäischen Länder) lag bei etwa vier Fünfteln des finnischen BIP, das wiederum nur die Hälfte des schwedischen und nur zwei Drittel des dänischen BIP betrug: Dieter Senghaas, The European Experience. A Historical Critique of Development Theory, Dover (New Hampshire) 1985, S. 73; vgl. Kranz, Industrialisation.
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Auf dem Weg zu den nordischen Modellen In den Auseinandersetzungen um die Demokratie zu Beginn der 1930er Jahre hatten sich die Sozialdemokraten auf die Seite der »bürgerlichen Demokraten« geschlagen und nicht auf die der Kommunisten. Nach dem Niedergang der Lapua-Bewegung gewann die integrationistische Strategie wieder an Dynamik. Da die öffentlichen Aktivitäten der Kommunisten aufgrund der Gesetze von 1930 weiterhin verboten waren, erhielten die moderaten Sozialdemokraten in der Gesellschaft nun deutlich mehr Zuspruch. Auch dank des beeindruckenden Wirtschaftswachstums ab 1934 führte dieser Versöhnungsprozess 1937 zur Bildung einer Koalitionsregierung der beiden zahlenmäßig größten Parteien, dem Landbund und der Sozialdemokratischen Partei. Diese Koalition war die finnische Variante einer typisch skandinavischen Bereitschaft zum »blockübergreifenden« Kompromiss zwischen Arbeitern und Bauern, mit der nicht nur die Kluft zwischen Verbrauchern (Gehaltsempfänger) und Erzeugern (Landwirte) überbrückt wurde, sondern auch die zwischen der industriellen und der agrarischen Vision von einer Modernisierung des demokratischen Finnlands.49 Doch anders als bei den umfassenden Kompromissen in den anderen nordischen Ländern war die finnische Arbeiter-Bauern-Koalition vor allem politisch motiviert. Sie spiegelte die politischen Schlussfolgerungen aus der Lapua-Krise wider, beinhaltete aber keine vergleichbaren ökonomischen bzw. sozioökonomischen Folgerungen, wie sie die anderen skandinavischen Länder aus der Weltwirtschaftskrise zogen.50 Die finnische Wirtschaftspolitik blieb auf den begrenzten Aspekt der Kosten- und Angebotsfaktoren fokussiert, ihre primären Ziele waren ein ausgeglichener Staatshaushalt und solide Finanzen. Diese Wirtschaftspolitik galt zudem bei vielen als Schlüsselfaktor für die erstaunlich rasche Erholung des Landes von der Rezession und für die beachtPauli Kettunen »The Nordic Welfare State in Finland«, in: Scandinavian Journal of History 26 (2001), H. 3, S. 225–247. 50 Jorma Kalela, Pulapolitiikkaa, Valtion talous- ja sosiaalipolitiikka Suomessa lamavuosina 1929–1933, Helsinki 1987; siehe auch Elder u. a., Consensual Democracies. 49
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lichen Wachstumsraten seit 1933/34. In diesem Zusammenhang wurde die fehlende Regulierung der Arbeitsbeziehungen bzw. des Arbeitsmarkts, die einer Lohnflexibilität (nach unten) und Massenentlassungen Tür und Tor öffnete, von den wirtschaftspolitischen und unternehmerischen Eliten nicht als Problem wahrgenommen.51 Die hartnäckige Weigerung der Arbeitgeber, die Gewerkschaften als legitime Verhandlungspartner und kollektive Interessenverteter der Arbeitnehmer anzuerkennen, grenzte Finnland in der Zwischenkriegszeit vom nordischen Demokratiemodell und den entsprechenden Regelungen des skandinavischen »demokratischen Korporatismus« ab. Doch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre verbesserten sich der Handlungsspielraum und die Legitimierung der Gewerkschaften rasch. Die Konsolidierung ihres Ansehens in der Gesellschaft erfolgte in erster Linie auf dem Weg des sogenannten »Verwaltungskorporatismus«, in dessen Rahmen die Gewerkschaften nun systematischer als zuvor an der Erarbeitung der neuen Sozialgesetzgebung der »rot-grünen« Allianz von Sozialdemokraten und Landbund beteiligt wurden. Diese Situation unterschied sich ganz erheblich von der in den 1920er Jahren, als die Gewerkschaften von den Behörden misstrauisch beäugt und verfolgt worden waren. Sie näherten sich der Sozialdemokratischen Partei stärker an und profitierten finanziell erheblich von der Zusammen-
51
Zu den allgemeinen wirtschafts- und sozialpolitischen Trends – und deren Nichtexistenz, was später Keynesianismus genannt wurde – siehe Jukka Pekkarinen, »Keynesianism and the Scandinavian models of economic policy«, in: Peter Hall (Hg.), The Political Power of Economic Ideas. Keynesianism Across Nations, Princeton 1989; Sakari Heikkinen u.a., The History of Finnish Economic Thought, Helsinki 2000; Jorma Kalela, »Unemployment as a Dimension of Politics in Finland between the Wars«, in: Scandinavian Economic History Review 42 (1994), H. 2, S. 145–172. Die Themen Lohnflexibilität (nach unten), Arbeitslosigkeit und institutioneller Arbeitsmarkt werden ebenfalls aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet, siehe hierzu z.B. Matti Hannikainen, »Unemployment and Labour Market Flexibility in the Great Depression. The Case of Construction Workers in Helsinki«, in: Scandinavian Journal of History 33 (2008), H. 2, S. 139–160; Jarmo Peltola, »Why did the Unemployment Rate Vary? Finnish Interwar Unemployment in a Comparative International Context«, in: Timo Myllyntaus (Hg.), Economic Crises and Restructuring in History. Experiences of Small Countries, St. Katharinen 1998.
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arbeit mit den anderen skandinavischen Gewerkschaftsdachverbänden.52 Nach Ausbruch des Winterkriegs mit der Sowjetunion Ende 1939 erkannten die finnischen Arbeitgeber den Gewerkschaftsverband schließlich als rechtmäßigen Verhandlungspartner auf Augenhöhe an. Die Gewerkschaften wiederum bekundeten ihre Entschlossenheit, sich der gemeinsamen Front gegen die »russische imperialistische Aggression« anzuschließen. Diese historische Vereinbarung, das »Januarabkommen«, wurde in der finnischen und der internationalen Kriegspropaganda umfassend eingesetzt. Im Inland sollte damit die nationale Einheit und die erfolgte Aussöhnung zwischen den »Roten« und den »Weißen« nach den Konflikten von 1918 hervorgehoben werden. Auf internationaler Ebene sollte durch die Vereinbarung der Charakter Finnlands als einer der nordischen Demokratien betont werden – nunmehr auch im Hinblick auf die bislang vernachlässigten Arbeitsbeziehungen. Der Weg zur institutionellen Konsolidierung in diesem Bereich war lang und steinig und sollte sich noch bis in die 1970er Jahre hinziehen. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
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Tapio Bergholm, History of SAK, Helsinki 2003; vgl. auch Kettunen, Nordic Welfare State.
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Demokratische Perspektiven in den Niederlanden
Elisabeth Dieterman
Demokratische Perspektiven in den Niederlanden der 1930er Jahre
In einer 1940 veröffentlichten Broschüre befand der ehemalige Ministerpräsident Hendrik Colijn, anscheinend ohne großes Bedauern, dass die Demokratie gescheitert sei.1 Das war nicht sein erster derartiger Gedanke; bereits 1928 hatte er festgestellt, dass »die Parlamente seit der Einführung des allgemeinen Verhältniswahlrechts viel an Bedeutung verloren hatten«. Weiter hatte er ausgeführt, man könne »von keinem politischen System erwarten, dass es ewig besteht«, und deshalb seien »Überdenken und Erneuerung« angezeigt.2 In der Broschüre von 1940 setzte Colijn dann die parlamentarische Demokratie mit Individualismus und Volkssouveränität gleich, zwei Prinzipien, die er nie vertreten hatte und die er jetzt als Relikte der Vergangenheit bezeichnete. Die Zukunft der niederländischen Politik stellte er sich anders vor. Im öffentlichen Gedächtnis verkörpert Hendrik Colijn, von 1933 bis 1939 Ministerpräsident der Niederlande, die stringente Finanzpolitik und den autoritären Führungsstil dieses Jahrzehnts. Er zeigte sich als tatkräftiger Politiker und wurde in den 1930er Jahren in seiner Partei und auch außerhalb für sein entschlossenes Handeln gelobt. Colijns primäre Antwort auf die politischen Herausforderungen seiner Zeit bestand in der Wahrung und Stärkung der Autorität. Er war kein Freund ideologischen Denkens, sondern führte das Land mit dem geradlinigen politischen Pragmatismus, der in 1 2
Hendrik Colijn, Op de grens van twee werelden, Amsterdam 1940. Zit. nach Herman Langeveld, Schipper naast God. Hendrikus Colijn 1869–1944. Deel 2, 1933–1944, Amersfoort 2004, S. 23–24.
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den 1930er Jahren von vielen für dringend notwendig gehalten, von späteren Generationen jedoch mit Misstrauen betrachtet wurde.3 Der Blick der Historiker auf die 1930er Jahre war lange Zeit auf die autoritären Experimenten der Zwischenkriegsepoche fokussiert. A.A. de Jonges Abhandlung »Crisis en kritiek der democratie« (1968), die sich ausschließlich auf die antidemokratischen Bewegungen und Ideologien konzentrierte, war lange die einflussreichste Darstellung der Zwischenkriegsdemokratie. In den letzten Jahren zeigten die niederländischen Historiker wieder verstärktes Interesse an der Geschichte der Demokratie, wobei sie ihre »umstrittene« Umsetzung zum Ausgangspunkt wählten.4 Die Dichotomie demokratisch/antidemokratisch hat viel von ihrer Selbstverständlichkeit verloren. Die Historiker rekurrieren stattdessen auf »Repertoires von Demokratie«, vor allem auf die vielfältige und bisweilen mehrdeutige Natur des demokratischen Denkens in Gegenwart und Vergangenheit. Mit diesem Ansatz hat sich auch die Bewertung einiger der politischen Experimente in den 1930er Jahren verändert. In einem unlängst veröffentlichten Artikel werden die restriktiven Maßnahmen der damaligen niederländischen Regierung nicht als Vorstoß zur Beschneidung der Demokratie betrachtet, sondern im Gegenteil als Versuch ihrer Stärkung.5 In dieser Sichtweise dienten die Maßnahmen dazu, die Demokratie zu »disziplinieren«, um sie als realisierbares politisches Prinzip zu bewahren. Analog dazu werden auch die damaligen Experimente mit dezentraler und repräsentativer
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Henk te Velde, Stijlen van leiderschap. Persoon en politiek van Thorbecke tot Den Uyl, Amsterdam 2002, S. 125–152; Piet de Rooy, »Een zoekende tijd«, in: Remieg Aerts u.a. (Hg.), Land van kleine gebaren. Een politieke geschiedenis van Nederland 1780–1990 (1999), S. 179–262, hier S. 208. Remieg Aerts/Peter de Goede (Hg.), Omstreden democratie. Over de problemen van een succesverhaal, Amsterdam 2013, S. 13–15. Joris Gijsenbergh, »Crisis of Democracy or Democratic Reform?« in: ders. u.a. (Hg.), Creative Crises of Democracy, Brüssel 2012, S. 237–268. Zu diesen Maßnahmen gehörte z.B. das Verbot für öffentliche Bedienstete und Angehörige der Streitkräfte, kommunistischen und sozialdemokratischen Organisationen beizutreten. In dem Beitrag werden auch die Pläne für eine Verfassungsreform diskutiert, die auf den Ausschluss radikaler Abgeordneter zielte.
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Demokratische Perspektiven in den Niederlanden
Machtausübung nicht als Versuche gesehen, die parlamentarische Demokratie abzulösen, wie es bei der traditionellen Verknüpfung des korporatistischen Denkens der Zwischenkriegszeit mit dem Autoritarismus nahegelegt wird, sondern als Bemühungen, sie zu ergänzen und zu verbessern.6 Im Allgemeinen werden die Zwischenkriegsjahre in der jüngeren Geschichtsschreibung eher als Zeit der Erneuerung und Neuerfindung interpretiert. Ein solches Herangehen, das die »kreative Kraft« der Epoche unterstreicht, deckt sich mit manchen Überlegungen zur Entwicklung der Demokratie in der Zwischenkriegszeit, die damals und in den ersten Nachkriegsjahren angestellt wurden. Ende der 1940er Jahre unterschied der Rechtswissenschaftler Jan van der Giessen verschiedene Repertoires von Demokratie; neben der politischen Demokratie im engeren, juristisch-formalen Sinn einer parlamentarischen Demokratie, gab es für ihn auch eine »Wirtschaftsdemokratie« und eine »soziale Demokratie«. Letztere entwickelte sich nach seiner Meinung vor allem in den Zwischenkriegsjahren, auch als Reaktion auf das enttäuschende Ergebnis der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahr 1919.7 Nicht alle teilten Colijns Ansicht, dass »Überdenken und Erneuerung« zu einer Zukunft mit weniger Demokratie führen würde (oder sollte). Im Gegenteil waren, wie hier gezeigt werden soll, in den Zwischenkriegsjahren Ansätze zur Erweiterung des demokratischen Denkens über die Grenzen der politischen Demokratie hinaus zu erkennen, auch im Sinne eines originär niederländischen Demokratiebegriffs.
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Stefan Couperus, »Fixing Democracy? Political Representation and the Crisis of Democracy in Interwar Europe and the Netherlands«, in: Gijsenbergh u.a. (Hg.), Creative Crises, S. 269–290; Erik Schrijvers/Stefan Couperus, »Voorbij verkiezing en parlement. Alternatieve representatie in Nederland na 1970«, in: Aerts/De Goede (Hg.), Omstreden democratie, S. 67–88. Jan van de Giessen, De opkomst van de democratie als leuze in Nederland, Den Haag 1948, S. 250–252.
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Demokratie in der Defensive In welchem Sinn befand sich die Demokratie »in der Defensive«, wie es in einer wichtigen Untersuchung zur niederländischen Politik in den 1930er Jahren heißt?8 Es fällt auf, dass in der öffentlichen Debatte der 1930er Jahre immer wieder Begriffe wie »Einheit der Nation« und »Harmonie« auftauchten, was zeigt, dass politische Spaltung und Uneinigkeit als die drängendsten Probleme der Zeit galten. Der Aufstieg und Erfolg rechts- und linksextremer Gruppen sowie die wachsende Zahl politischer Parteien, die zu den Wahlen antraten, ließen die starken Gegensätze in der Gesellschaft klarer zutage treten als je zuvor. Hinzu kam das wiederholte Tauziehen um die Bildung stabiler Koalitionen im Parlament, auch zwischen den großen Volksparteien. Auch die alten Klagen über langsame und ineffektive parlamentarische Verfahren wurden lauter. Die Eröffnungsrede des Parlamentspräsidenten enthielt Jahr für Jahr den Aufruf, das Parlament solle Selbstdisziplin zeigen und die Abgeordneten Zurückhaltung an den Tag legen; das Parlament könne seinen beschädigten Ruf nur wiederherstellen, wenn es durch sein Handeln unter Beweis stelle, dass es »im Interesse der gemeinsamen Sache zur harmonischen Zusammenarbeit« in der Lage war.9 Doch die Bedenken galten nicht nur den Differenzen zwischen den Parteien, sondern auch einer wahrgenommenen Entfremdung der Bevölkerung von den politischen Institutionen. Die Vorstellung einer von ihren politischen Institutionen entfremdeten Gesellschaft war nicht nur im faschistischen und nationalsozialistischen Wortschatz der 1930er Jahre bekannt; sie sprach in der Tat viele unterschiedliche ideologische Ausrichtungen an.10 Der bekannte konservative Historiker Johan Huizinga formulierte diese Ansicht wohl am eloquentesten in einem Vortrag von 1934, in dem er feststellte, 8 9
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De Rooy, »Een zoekende tijd«, S. 179–262. Handelingen Tweede Kamer der Staten-Generaal (Protokolle der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments), 21. 09. 1933, S. 5; 12. 05. 1933, S. 10; 20. 09. 1934, S. 6; 11. 06. 1937, S. 10–11. Siehe zum Beispiel: Wichert ten Have, De Nederlandse Unie. Aanpassing, vernieuwing en confrontatie in bezettingstijd, 1940–1941, Amsterdam 1999, S. 48–51; Josje Damsma, Nazis in the Netherlands. A Social History of National Socialist Collaborators 1940–1945, Amsterdam 2013, S. 14–16.
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die moderne Politik unterminiere die historisch gewachsene »nationale Einheit der niederländischen Gesellschaft« und habe sie durch eine Masse ersetzt, die sich »auf der Grundlage kleinlicher Eigeninteressen« organisiere.11 Ebenso hielten viele die Wirtschaftskrise für die Folge eines strukturellen Ungleichgewichts der nationalen und der internationalen Wirtschaftsordnung. Die Krisenstimmung in den 1930er Jahren verstärkte den Eindruck, dass das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik grundlegende Mängel aufweise. Liberale und orthodoxe Protestanten (darunter Hendrikus Colijn, die Führungsfigur der letzteren Gruppe) waren sich im Allgemeinen einig, dass die Krise Vorbote einer neuen Phase mit einem strukturell niedrigeren Wohlstandsniveau war. »Anpassung« war ihre Losung; dem Land sei am besten mit einer strengeren Austeritätspolitik gedient. Die Sozialdemokraten und (viele) Katholiken waren hingegen überzeugt, dass substanzielle Reformen im Sinne korporatistischer oder interventionistischer Vorgaben für wirtschaftliche und soziale Stabilität sorgen und eine prosperierende Zukunft garantieren würden. Die Gegner solcher Reformen setzten Interventionismus und Korporatismus oft mit Totalitarismus gleich, und die Entwicklung in Deutschland, Italien und der Sowjetunion schien ihnen recht zu geben.12 In der bereits erwähnten Broschüre führte Colijn den Niedergang der Demokratie in Europa vor allem auf den Ruf nach solchen wirtschaftlichen Reformen zurück. Nach seiner Meinung führte staatlicher Interventionismus und Protektionismus zwangsläufig dazu, dass die Regierungen immer größere Entscheidungsbefugnis erhielten und die Staaten sich auf den verhängnisvollen Weg zum Totalitarismus begaben. Interventionistische Maßnahmen seien nur ein Ergebnis grundlegenderer Mängel der Demokratie. »In der Regel ging die Entwicklung des demokratischen Denkens Hand in Hand mit einem Verlust an Verantwortungsbewusstsein für die öffentlichen Finanzen. […] Die Angst vor dem Nein! ist eine der Krankheiten der modernen Demokratie. Was [von den Wählern, E. D.] gefordert wird, muss umge11 12
Jolan Huizinga, Nederland’s Geestesmerk, Leiden 1935, S. 25–26. Vgl. W. Lubberink, Het socialistisch experiment. Dictatuur of democratie?, Maastricht 1931.
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setzt werden, auch wider besseres Wissen.« Die Demokratie, so Colijns weiter, habe zu hoch gepokert. Sein Blick in die Zukunft war pessimistisch: »[D]ie Neigung zu interventionistischen Maßnahmen nimmt nicht ab; im Gegenteil, sie wird immer stärker. Und je stärker sie wird, desto mehr nähern wir uns einem autoritären oder totalitären Staat, also dem Untergang der Demokratie.«13 Ähnliche Ansichten waren auch im Parlament zu hören, wo ein orthodoxprotestantischer Abgeordneter erklärte, er könne die bisweilen getroffene Unterscheidung zwischen wirtschaftlicher und politischer Demokratie nicht hinnehmen, denn »weniger wirtschaftliche Freiheit« werde letztlich auch zu weniger politischer Freiheit führen, und für eine »gesunde Demokratie« sei Wirtschaftsliberalismus unerlässlich.14
Ökonomische Demokratie Für die Sozialdemokraten war der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsliberalismus und Demokratie natürlich alles andere als selbstverständlich. Sie hatten sich für das allgemeine Wahlrecht engagiert, um sozialistische Reformen umzusetzen. Nicht »Demokratie«, sondern »Sozialismus« hatte die politische Losung ihrer Vorgänger gelautet. Mit der Zeit war ihre zögerliche Haltung gegenüber einer parlamentarischen Politik dann der Erwartung gewichen, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts würde ihnen in der Bevölkerung die notwendige Unterstützung sichern, um das politische System von innen, also mit legalen, parlamentarischen Mitteln zu reformieren.15 Sie waren allerdings über die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahr 1917 enttäuscht, weil sich in den ersten Jahren keine solche Volksbewegung herausgebildet hatte. Diese Enttäuschung veranlasste sie zu dem Schluss, dass politische Demokratie allein nicht ausreiche, um die dringend benötigten Reformen durchzusetzen, und sie dachten über andere Möglichkeiten nach, 13 14 15
Colijn, Op de grens, S. 30–34. Handelingen Tweede Kamer der Staten Generaal, 08. 12. 1938, S. 830. Van de Giessen, Democratie als leuze, S. 176–194.
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die Teilhabe der Arbeiterklasse an sozioökonomischen Angelegenheiten zu stärken und ihrer Stimme Geltung zu verschaffen.16 Im Verlauf der 1920er Jahre begannen die Sozialdemokraten, diese Bestrebungen mit dem Begriff der »Wirtschaftsdemokratie« zu umschreiben. »Das allgemeine Wahlrecht«, so einer ihrer Abgeordneten im Jahr 1932, »hat Untertanen zu Bürgern gemacht […], und jetzt ist mehr denn je die Zeit gekommen, die Demokratie in Handel und Industrie einzuführen, damit die arbeitende Bevölkerung von ›Arbeitsuntertanen‹ zu ›Arbeitsbürgern‹ werden können.«17 Die von den Sozialdemokraten entwickelte Theorie der Wirtschaftsdemokratie bestand aus einem vom Staat errichteten komplexen Netzwerk von Räten und Gremien, das den Arbeitnehmern ein Recht auf Mitbestimmung im Unternehmen sichern und die Zusammenarbeit von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Staat sowie Verhandlungen zwischen ihnen ermöglichen sollte.18 Die niederländischen Katholiken hatten derartige Reformen bereits von Beginn der 1920er Jahre an befürwortet, insbesondere Johannes Veraart, der ein korporatistisches System von selbstverwalteten Organisationen entwickelt hatte. Viele Katholiken teilten seine Ansichten, aber die konservativen Mitglieder seiner Partei konnte er nicht überzeugen. In den 1930er Jahren verhinderten innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten zu diesem Thema, dass die Römisch-Katholische Staatspartei die entsprechenden Vorschläge der Sozialdemokraten vorbehaltlos unterstützte.19 Die meisten linksgerichteten Katholiken hielten jedoch Veraarts Pläne nach wie vor für den besten Weg aus der Krise. Wie viele Sozialdemokraten glaubten sie, Wirtschaftsreformen könnten die ökonomische und politische
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Ebenda, S. 250–251. Handelingen Tweede Kamer der Staten Generaal, 18. 10. 1932, S. 106. De Rooy, »Een zoekende tijd«, S. 195, 203. R. Abma, »Het plan van de arbeid en de SDAP«, in: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden, BMGN – Low Countries Historical Review 92 (1977), S. 37–68, hier S. 58. Marcel Hoogenboom, »De democratische paradox van de RKSP. De ›leer van de uiterste noodzaak‹ als uiting van groeiende eensgezindheid tussen katholieken en sociaal-democraten in het interbellum«, BMGN – Low Countries Historical Review 120 (2005), H. 4, S. 521–545.
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Krise beenden und die parlamentarische Demokratie strukturell stärken.20 Die Forderung nach solchen Reformen fand sich auch in dem ehrgeizigen und sorgfältig erarbeiteten »Plan van de Arbeid«, den die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften 1935 gemeinsam vorstellten. Der von Sozialdemokraten wie dem Wirtschaftswissenschaftler Jan Tinbergen erstellte Plan sollte eine Alternative zur Krisenbekämpfungsstrategie der Regierung aufzeigen. Neben der Forderung nach einer radikalen Umstrukturierung der Bindungen zwischen Gesellschaft, Staat und Wirtschaft durch Schaffung der nötigen Infrastruktur für die geplante Wirtschaftsdemokratie enthielt er auch den Vorschlag für ein Drei-Jahres-Programm umfangreicher staatlicher Investitionen, mit dem die Wirtschaft angekurbelt, Arbeitsplätze geschaffen und weitere Investitionen generiert werden sollten.21 Insgesamt ließ das Konzept einen erstaunlich ehrgeizigen Reformwillen erkennen und beinhaltete einen optimistischen Ausblick auf die potenziellen politischen Folgen der wirtschaftlichen Reformen.22 Die Verfasser des Plans prognostizierten, dass er nicht nur zum Wirtschaftswachstum beitragen, sondern auch zur Einführung einer Reihe sozialer Leistungen wie Renten, Kinderbetreuung und Sozialversicherung führen werde und somit die »Grundlage für zukünftigen sozialen und kulturellen Fortschritt« darstelle.23 Im Gegensatz zu den düsteren Vorstellungen einer »totalitären« Zukunft als Folge des Interventionismus sahen die Befürworter des 20
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Servé Vaessen, »Democratie-kritiek in de RKSP. Staatkundige beginselen, corporatieve denkbeelden en het streven naar hervorming van het Nederlandse staatsbestel, 1931–1940«, in: Jaarboek Katholiek Documentatiecentrum 17 (1987), S. 86–111. Abma, »Het plan van de arbeid«, S. 55–61. In Vergleich zu seinen internationalen Pendants (wie dem belgischen Plan de Man) war der niederländische »Plan van de Arbeid« sowohl im Ton wie in den Reformambitionen relativ gemäßigt. Zu einer ausführlichen vergleichenden Diskussion des Plansozialismus, wie ihn die niederländische Sozialdemokratie vertrat, siehe: Bernard Rulof, »Selling Social Democracy in the Netherlands. Activism and its Sources of Inspiration during the 1930s«, in: Contemporary European History 18 (2009), H. 4, S. 475–497. Het Plan van de Arbeid. Rapport van de commissie uit N.V.V. en S.D.A.P., Amsterdam 1935, S. 23.
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»Plans van de Arbeid« durch die vorgeschlagenen Reformen eine Blütezeit der parlamentarischen Demokratie voraus. Sie gingen davon aus, dass eine Verbesserung der Wirtschaftslage den antidemokratischen Bewegungen vor allem in der Mittelschicht viel Unterstützung entziehen würde.24 Vor allem aber glaubten sie, dass zur Umsetzung des Plans neben entschlossenen Maßnahmen der Regierung auch ein starkes Parlament erforderlich sei.25 In einem Kommentar hieß es: »Eine starke Regierung schließt ein mächtiges Parlament nicht von vornherein aus; [vielmehr] ergänzen sie einander harmonisch.« Bei Durchführung des Plans erhalte das Parlament »eine neue, wichtige Aufgabe«, die sein Prestige nachhaltig stärken werde.26 Unter Historikern gilt die Entwicklung des Plans traditionell als Wendepunkt in der Geschichte der niederländischen Sozialdemokratie. Hier wurde mit der expliziten Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie der endgültige Bruch mit den verbliebenen revolutionären Ambitionen der Sozialdemokratie vollzogen und der Weg für die sozialdemokratisch-katholischen Koalitionen eröffnet, die die niederländische Politik zwischen 1945 und 1958 dominieren sollten.27 In der Tat kamen in diesen Jahren viele sozialdemokratische Intellektuelle zu der Überzeugung, dass die parlamentarische Demokratie das einzige politische System sei, das eine Konsensfindung ermögliche. »Kennzeichnend für die Demokratie sind Relativismus und Mäßigung«, schrieb ein Beobachter und fügte an, der Sozialismus sei nur erreichbar, wenn er praktikabel sei.28 Mit dem Verweis auf die Bedeutung des Parlaments rückten die Sozialdemokraten von der Vorstellung ab, dass effektives bezie-
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Zu ähnlichen Meinungsäußerungen unter Katholiken siehe Jos van Meeuwen, Lijden aan eenheid. Katholieke arbeiders op zoek naar hun politiek recht (1897–1929), Hilversum 1998, S. 313. Het Plan van de Arbeid, S. 16–18; D. Barmes, »Plan en democratie« in: Handboek voor het Plan van de Arbeid, Amsterdam 1936, S. 123–129. Barmes, »Plan en democratie«, S. 129. Abma, »Het plan van de arbeid«, S. 37–68; Dietrich Orlow, »The Paradoxes of Success. Dutch Social Democracy and its Historiography«, in: BMGN – Low Countries Historical Review 110 (1995), H. 1, S. 40–51, hier S. 42–43. Willem Adriaan Bonger, Problemen der demokratie. Een sociologische en psychologische studie, Groningen 1934, S. 153.
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hungsweise interventionistisches Regieren nur auf Kosten des Parlaments erreichbar sein könne (oder solle) – eine Annahme, die häufig sowohl von den Gegnern interventionistischer Maßnahmen wie den Liberalen und orthodoxen Protestanten geteilt wurde als auch von der radikalen Linken oder Rechten, die zu sozio-ökonomischen Reformen bereit waren, »selbst wenn dies weniger politische Demokratie bedeutete«.29
Die niederländische Demokratie Dass die Demokratie gleichzeitig als Teil des Problems und als Teil der Lösung dargestellt werden konnte, macht deutlich, dass sie in den 1930er Jahren nicht von allen als politisches Leitprinzip anerkannt wurde.30 Einer bekannten Untersuchung zur niederländischen Politik in den 1930er Jahren zufolge überlebte die parlamentarische Demokratie in den Zwischenkriegsjahren nicht deshalb, weil sie als das beste verfügbare politische System galt, sondern eher, weil sich die politischen Eliten nicht auf die beste Alternative einigen konnten.31 Diese Schlussfolgerung scheint zwar die Beobachtungen mancher Zeitgenossen zu bestätigen, doch wird dabei außer Acht gelassen, dass es in den Zwischenkriegsjahren durchaus Bestrebungen gab, die Demokratie als intrinsischen Teil der niederländischen Kultur darzustellen. Dies war kein neues Phänomen, denn schon in den Jahren vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts hatten vor allem progressive Liberale eine Perspektive der Demokratie entwickelt, die die Vereinbarkeit mit der niederlän-
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Siehe zum Beispiel: Pieter-Jan Bouman, »Nationaal of internationaal socialisme«, in: De Gids 101 (1937), S. 87–200, hier S. 199–200. Henk te Velde, »De domesticatie van democratie in Nederland. Democratie als strijdbegrip van de negentiende eeuw tot 1945«, in: BMGN – Low Countries Historical Review 127 (2012), H. 2, S. 3–27, hier S. 5. Hermann von der Dunk, »De partijen en de parlementaire democratie in het interbellum«, in: Jaarboek Documentatiecentrum Nederlandse Politieke Partijen (1983), S. 41–61; Gijsenbergh, Creative Crises, S. 264; Frits Rovers, »Eenheid door Democratie. Een analyse van een burgerlijk-democratische volksbeweging in de jaren dertig«, in: Utrechtse Historische Cahiers 7 (1986), H. 4, S. 1–82, hier S. 9.
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dischen Geschichte und Kultur in den Vordergrund rückte und bewusst nicht auf Begriffe wie »Volkssouveränität« oder »Individualismus« rekurrierte, denen mit allgemeinem Misstrauen begegnet wurde.32 Die Fokussierung auf »Einheit« und »Harmonie« hauchte dem ideologischen Repertoire der 1930er Jahre neues Leben ein. Der politische Dissens gab in dieser Epoche Anlass zu verbreiteter Sorge. Das Bild von einer historisch starken und einigen Nation, die durch politische Spaltung geschwächt war, wurde nicht nur von konservativen Intellektuellen wie dem bereits erwähnten Huizinga bemüht. Es fand sich in den 1930er Jahren auf allen Seiten des politischen Spektrums, besonders auch bei der extremen Rechten: Die »nationale Einheit« war ein fester Bestandteil der Ideologie der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB) die sich häufig als »Meister der Einigung in einer gespaltenen Gesellschaft« darstellte.33 Auch am anderen Ende des politischen Spektrums sorgte man sich in einer in vielerlei Hinsicht stark »versäulten« Gesellschaft um die Einheit. Im Laufe der 1930er Jahre wurden mehrere Initiativen ergriffen, um ungeachtet aller Unterschiede eine Basis für Zusammenarbeit zu finden, darunter die von Studenten- und Jugendorganisationen der Parteien der politischen Mitte organisierten Volkseenheidsconferenties.34 Hier wurde immer wieder das Ideal der »Einheit in der Vielfalt« beschworen, das als typisch für die niederländische Gesellschaft galt. Nach 1935 fand diese Vorstellung von einer starken, historisch gewachsenen nationalen Einheit, die oft mit Kritik an der demokratischen politischen Ordnung einherging, verstärkt Eingang in ein gedankliches Konzept, das diese Ordnung bei all ihren Mängeln
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Hendrik Pieter Marchant, »De Vrijzinnig-Democratische partij«, in: C. E. van Koetsveld, Onze politieke partijen, Baarn 1909, S. 11–13; vgl. Ismee Tames, Oorlog voor onze gedachten. Oorlog, neutraliteit en identiteit in het Nederlandse publieke debat, 1914–1918, Hilversum 2006, S. 210–211. Eine ähnliche Bestrebung kann übrigens auch in den deutlich früheren Arbeiten des protestantischen Politikers Abraham Kuyper gefunden werden: Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006, S. 136f. Josje Damsma, Nazis in the Netherlands. A Social History of National Socialist Collaborators 1940–1945, Amsterdam 2013, S. 47. De Rooy, »Een zoekende tijd«, S. 229; Rovers, »Eenheid door Democratie«, S. 69–70; Ten Have, De Nederlandse unie, S. 21–33.
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rechtfertigte. Als Reaktion auf die Erfolge des faschistischen und kommunistischen Denkens im In- und Ausland wurde die Demokratie zunehmend als Gegenentwurf zu Diktatur und Totalitarismus verstanden. Der Wahlerfolg der NSB bei den Provinzwahlen von 1935 führte zur Gründung der außerparlamentarischen Bewegung Eenheid door Democratie (EDD), mit der dem Aufstreben der kommunistischen und faschistischen Parteien Einhalt geboten werden sollte. Die EED erreichte im Jahr 1939 mit fast 30000 Mitgliedern ihren Höhepunkt. In Versammlungen, Demonstrationen und Publikationen warb sie entschlossen für die Ziele der demokratischen Parteien der Mitte und appellierte an die Bürger, weder für Mussert (den Führer der NSB) noch für Moskau zu stimmen.35 In den Publikationen der EDD wurde der »demokratischen Einheit« eine »leblose Einheit« des Faschismus und des Kommunismus gegenübergestellt: erstere entstamme dem historisch gewachsenen »Bewusstsein, dass sich in einem zivilisierten Volk unterschiedliche Einstellungen frei entwickeln können«, letztere beruhe auf »gewaltsamer Unterdrückung und Ausgrenzung«.36 Faschismus und Kommunismus wurden als »importierte« Ideologien dargestellt, die den niederländischen Nationalcharakter »kompromittierten«. Die Demokratie sei weniger ein politisches, sondern ein kulturelles Phänomen, ein historisches Gut, das in einer langen Tradition der Toleranz wurzele. Wenn Demokratie auf dem Prinzip der Freiheit aufbaue, berge sie zwangsläufig auch die Gefahr des sozialen Zerfalls und könne nur dort bestehen, wo das Freiheitsstreben durch ein starkes nationales Gemeinschaftsgefühl ausgeglichen werde.37 In den Augen der EDD-Ideologen bot die niederländische Geschichte eindrucksvolle Beispiele für einen solchen Ausgleich und für gesellschaftliche Harmonie – eine Ansicht, die sie mit recht selbstgefälli35 36
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Bei den Provinzwahlen von 1935 erzielte die NSB 8 % der Stimmen, vgl. Rovers, »Eenheid door Democratie«, S. 1–82. Jan Goudriaan, De eenheid der Nederlandsche democratie, Utrecht 1937, S. 1, 6, 7, 21. Solche, im Gegensatz zueinander stehende inklusive und exklusive Vorstellungen von Einheit wurden auch in den ersten Monaten der Besatzung geäußert, siehe Geestelijke Vrijheid. Redevoeringen gehouden in de Apollohal te Amsterdam op 10 augustus 1940, Amsterdam 1940. Heije Faber, Naar wijder horizon. Over de ziekten van dezen tijd en hun genezing door een vernieuwde democratie, Utrecht 1938, S. 216–226.
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gen Argumenten zu belegen versuchten: »Das Land des Erasmus, in dem Folter und Hexenprozesse bereits ein Jahrhundert früher als in anderen Ländern verurteilt wurden, trägt eine besondere Verantwortung für die eigene Gesellschaft und für die ganze Menschheit: die Demokratie zu bewahren, ganz gleich was anderswo geschieht.« Demokratie sei ein tief in der niederländischen Geschichte und in der Nation des Landes verwurzeltes kulturelles Phänomen, und die Niederländer seien ein Vorbild für andere demokratische Nationen: »Wahre Demokratie ist kein modischer Firlefanz, sondern erwächst aus jahrhundertelangem zivilisatorischen Fortschritt. Hier nehmen die Niederlande eine Spitzenstellung ein.«38 Die Positionen der EDD lassen sich am besten als ideologische Antwort auf die Vorstellungen beschreiben, die die Nationalsozialisten von der »Einheit« hatten; und gelegentlich ahmten sie auch deren Argumentationsstil nach. Ihre bisweilen recht schwülstigen Ergüsse schreckten manchen demokratisch gesinnten Intellektuellen ab, dem der Gegensatz Demokratie versus Diktatur bzw. Totalitarismus allzu vereinfachend erschien und der Blick der EDD auf die niederländische Demokratie insgesamt zu selbstgefällig.39 So berechtigt diese Kritik auch sein mochte – mit der Bewertung der niederländischen Kultur als nicht nur mit der Demokratie vereinbar (so die Meinung vieler progressiver Liberaler), sondern als inhärent demokratisch, führte die EDD die Idee der Demokratie als spezifisch niederländische Eigenschaft in das ideologische Repertoire des Landes ein. Zwar war ihr Hauptziel, der faschistischen und nationalsozialistischen Ideologie etwas entgegenzusetzen, doch vollzog sie damit auch einen Bruch mit den ideologischen Traditionen der gesellschaftlichen Mehrheit, für die Demokratie vor allem etwas Fremdes war.
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Goudriaan, De eenheid, S. 23–24; vgl. Faber, Naar wijder horizon. Mitglieder des Comité van Waakzaamheid van Intelectueelen, insbesondere: Menno ter Braak, Het national-socialisme als rancuneleer, Assen 1937, S. 21; ders., »Verkeerde democratie. Hoe een legende ontstaat«, in: De Groene Amsterdammer Nr. 3157 (1937), S. 10.
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Demokratische Perspektiven Der offensichtliche Unterschied zwischen der aktuellen Demokratiedebatte und der in der Zwischenkriegszeit besteht darin, dass die Demokratie heute als Leitprinzip kaum mehr infrage gestellt wird. In den 1930er Jahren wurde viel über Alternativen zur Demokratie diskutiert; damals war sie keineswegs als ideales System etabliert. Man konnte die Demokratie kritisieren und erklären, kein Demokrat zu sein, ohne seine politische Glaubwürdigkeit zu verlieren, und auch in einigen Strömungen der politischen Mitte war es gang und gäbe, Konzepte wie Individualismus und Volkssouveränität abzulehnen. Zudem waren die Erfahrungen mit den ersten 15 Jahren parlamentarischer Demokratie und die tiefe Wirtschaftskrise wenig geeignet, das Ansehen der Demokratie zu stärken. Zugleich aber erweiterte sich das niederländische demokratische Repertoire – die Vorstellung darüber, was Demokratie war und was daraus werden konnte. In den 1930er Jahre sah man die Demokratie zunehmend als Gegenkonzept zu den Alternativen der extremen Linken und Rechten. Die Sozialdemokraten, die auf die enttäuschenden Ergebnisse der Einführung des allgemeinen Wahlrechts reagieren mussten, akzeptierten zunächst den Gedanken, dass politische Demokratie allein noch nicht für umfassende soziale und wirtschaftliche Reformen ausreichen werde. Sie übernahmen sie schließlich vorbehaltlos und bemühten sich, ihre sozialistischen Ambitionen so zu formulieren, dass sie auch in der politischen Mitte Gehör fanden. Zur »Wirtschaftsdemokratie« vertraten sie reformistische Ansichten, die im Vergleich zum linksradikalen Antikapitalismus und zum faschistischen Korporatismus, von dem sie sich in diesen Jahren ausdrücklich distanzierten, durchaus gemäßigt waren. Auch die EDD war mit ihrer Darstellung der Demokratie als tief in der niederländischen Geschichte verwurzelte Erscheinung in erster Linie von dem Wunsch beseelt, einen Erfolg der kommunistischen und der nationalsozialistischen Partei zu verhindern. In den 1930er Jahren fühlten sich viele selbsterklärte Demokraten und auch zahlreiche Antidemokraten von den Vorstellungen des Korporatismus und des Interventionismus sowie von den gedanklichen Konzepten der Einheit und Harmonie durchaus angezogen. Der sozialdemokratische »Plan van de Arbeid« und die
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Kampagnen der EDD lassen sich als Versuche werten, diese Konzepte mit der Demokratie in Einklang zu bringen. Die Historiker haben ihre Aufmerksamkeit tendenziell eher auf die antidemokratischen als auf die demokratischen Ideologien jener Epoche gerichtet. Dies mag angesichts der schrecklichen Folgen einiger der extremistischen ideologischen Experimente dieser Zeit durchaus gerechtfertigt sein; es stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht spätere Generationen dazu bewegt hat, der gestalterischen demokratischen Kraft, die sich in dieser Epoche ebenfalls Bahn brach, zu wenig Bedeutung beizumessen. Beim Blick auf die demokratischen Perspektiven dieser Jahre springen auf jeden Fall die Kontinuitäten zwischen den Zwischenkriegsjahren und den (angeblich) demokratisch gefestigten frühen Nachkriegsjahren eher ins Auge als die Brüche. Die Dichotomie zwischen Demokratie und Diktatur beziehungsweise Totalitarismus gilt bis heute als unbestritten, und nach 1945 hätten nur sehr wenige Zweifel daran angemeldet, dass die Niederlande eine demokratische Nation par excellence sind. Gleiches gilt für die Feststellung, dass sich die soziale Marktwirtschaft zu einem wesentlichen Merkmal der modernen niederländischen Demokratie entwickelt hat. Der niederländische Sozialstaat und das »Poldermodel«, das die Wirtschaft des Landes nach 1945 zum Blühen brachte, enthält viele Elemente dessen, was sich die Sozialdemokraten und die Katholiken in den 1930er Jahren von der Wirtschaftsdemokratie versprachen. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
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Das Personal und das Vokabular der Demokratie Die Erste Tschechoslowakische Republik
Der Begriff Demokratie hatte in der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei wie in vielen europäischen Demokratien ganz unterschiedliche Bedeutungen. Er bezog sich natürlich auf einen laufenden politischen Prozess, der zwischen verschiedenen Parteien immer wieder neu ausgehandelt werden musste. Doch er stand auch für den moralischen Anspruch fast aller, die an den komplexen Funktionsmechanismen dieses kurzlebigen Staates beteiligt waren. Demokratie und der Anspruch, sie zu verkörpern bzw. ihr standhafter Verfechter zu sein, waren wesentliche Elemente des nationalen Gründungsmythos der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei. Den angeblichen Unterschieden zwischen einer ethnisch inklusiven, nach Westen orientierten Tschechoslowakei, die auf ihre Demokratie stolz war, und dem repressiven österreichischen Kaiserreich wurde große Bedeutung beigemessen, die unleugbaren Gemeinsamkeiten dieser beiden komplexen multiethnischen Staaten hingegen wurden immer wieder bestritten oder ignoriert. Gegen Ende der 1930er Jahre, als in mehreren Nachbarstaaten eine faschistische Regierung an die Macht kam und sich die Aggression der Nationalsozialisten bereits am Horizont abzeichnete, schien sich der Mythos der tschechoslowakischen Demokratie zumindest in den Augen mancher Außenstehender mit den tatsächlichen Verhältnissen zu decken. Liberale Intellektuelle, die zwischen 1938 und 1948 das Land verließen, führten diesen Mythos in den akademischen Diskurs ein. Die demokratische Praxis der Tschechoslowakei, ihre Institu-
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tionen und ihre Führungspersönlichkeiten waren bei Weitem nicht so ideal wie es der Mythos hätte erwarten lassen. Das ist keineswegs überraschend. Ein kurzer Abriss der demokratischen Realität der Tschechoslowakei ist hilfreich, um die Erste Tschechoslowakische Republik fester im europäischen Kontext zu verankern – zusammen mit anderen realen und fehlerbehafteten Staaten, die hofften, demokratische Strukturen würden die verschiedenen Nationalitäten miteinander verschweißen, die Bruchstellen zwischen den Klassen heilen und dem Land einen Platz in dem von Woodrow Wilson geprägten System von Versailles verschaffen.
Staatsbildung Als in Europa der Erste Weltkrieg am Horizont dräute, debattierte die tschechische politische Elite über die Zukunft ihrer kleinen Nation. Neben dem Soziologieprofessor und politischen Störenfried Tomáˇs Garrigue Masaryk und seinem engen Kollegen Edvard Beneˇs setzte sich nur eine Partei, die winzige Tschechische Partei staatsrechtlichen Fortschritts, für die volle Unabhängigkeit Tschechiens ein.1 Doch dieser Weg barg Gefahren. Ein tschechischer Journalist schrieb am Vorabend des Krieges, wenn die Neuordnung Europas nicht mehr auf der Grundlage der alten Vielvölkerreiche, sondern auf der von Nationalstaaten erfolge, ohne dass dabei den Deutschen in Mitteleuropa nicht Zügel angelegt würden, könnte dies das Ende des kleinen tschechischen Staats bedeuten. Die beste und sicherste Option sei der Verbleib in einem neuen, gerecht geordneten Österreich-Ungarn.2 Die meisten tschechischen Politiker gingen vom Fortbestehen Österreich-Ungarns aus und meinten, die Tschechen sollten versuchen, ihre Position in der Monarchie zu stärken.3
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H. Louis Rees, The Czechs during World War I. The Path to Independence, Boulder 1992, S. 8. Pˇrehled vom 1. 5. 1914, zit. nach: Zbynˇek Zeman, The Break-Up of the Habsburg Empire 1914–1918, London 1961, S. 20. Zbynˇek Zeman, The Masaryks. The Making of Czechoslovakia, New York 1976, S. 64–65.
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Die gespannte Lage in Prag während des Ersten Weltkriegs und die Verhaftung zahlreicher tschechischer Führungspersönlichkeiten zwangen Masaryk, seine politischen Aktivitäten ins Ausland zu verlegen: Er verbrachte den Großteil des Krieges in London, in Russland und in den Vereinigten Staaten. Zum »Auslandswiderstand« (hauptsächlich eine Exilregierung und ein Propagandaapparat) gehörte neben Beneˇs der schneidige slowakische Pilot, Astronom, Meteorologe und Offizier der französischen Luftwaffe Milan Rastislav Sˇtefánik.4 Unterstützung fand die Gruppe bei dem ehemaligen Wiener Korrespondenten der Times Henry Wickham Steed, dem Professor an der Sorbonne Ernest Denis und dem Historiker Robert Seton-Watson, der damals für den britischen Geheimdienst arbeitete und zu den wichtigsten Fürsprechen der Tschechen gehörte. Gegenüber diesen Gesprächspartnern und mit ihrer Hilfe gerierte sich Masaryk als Vertreter aller tschechischen politischen Parteien der Monarchie und behauptete, diese würden die tschechische Unabhängigkeit einmütig unterstützen. »Die Unabhängigkeit ist […] das Ziel ganz Böhmens […], es gibt nur einige wenige Anhänger Österreichs, und darunter ist kein Politiker von Format.« Für die Nachkriegszeit schwebte ihm die Errichtung eines unabhängigen tschechischen Königreichs mit einem Herrscher aus einer der westeuropäischen Adelsdynastien oder gar dem serbischen König als Regenten vor (wobei er einräumte, dass die meisten Tschechen russophil seien und einen Romanow als Monarchen begrüßen würden). Masaryks Nachkriegsstaat sollte auch die Slowakei umfassen – er erklärte die Slowaken einfach zu Böhmen – sowie alle Deutschen auf tschechischem Boden, denn es sei unmöglich, die deutschspra-
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Zu den Aktivitäten des Auslandswiderstands während des Krieges siehe u. a. Edvard Beneˇs, My War Memoirs, New York 1971 (Nachdruck der deutschen Ausgabe): »Der Aufstand der Nationen, Berlin 1928, übersetzt von Paul Selver); Frank Hadler, Weg von Österreich! Das Weltkriegsexil von Masaryk und Beneˇs im Spiegel ihrer Briefe und Aufzeichnungen 1914–1918. Eine Quellensammlung, Berlin 1995; Dagmar Hájková/Ivan Sˇedivıy´ (Hg.), Korespondence T. G. Masaryk-Edvard Beneˇs, 1914–1918, Prag 2004; Harry Hanak, Great Britain and Austria-Hungary during the First World War: A Study in the Formation of Public Opinion, London 1962, S. 121f.; Eva Schmidt-Hartmann/Stanley Winters (Hg.), Großbritannien, die USA und die böhmischen Länder 1848–1938, München 1991; Zeman, The Masaryks.
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chigen Grenzbezirke abzutrennen: »Böhmen ist ein ziemlich einmaliges Beispiel für ein national gemischtes Land; nirgendwo sonst sind zwei Nationalitäten so eng vermischt und miteinander verwoben.«5 Gegen Ende des Krieges führte der Auslandswiderstand tschechische und slowakische Freiwillige aus Frankreich, Italien, den Vereinigten Staaten und Kanada sowie etwa 10000 tschechoslowakische Soldaten aus der Sowjetunion an, die auf den westlichen und östlichen Kriegsschauplätzen bis hin nach Sibirien kämpften.6 Diese in der Tschechoslowakei als Legionäre bekannten Truppen sollten für Masaryk und Beneˇs zu einer wichtigen Hilfe beim Aufbau der Zwischenkriegsdemokratie werden. Die im Land verbliebenen tschechischen Politiker errichteten bereits vor der Aufnahme von Friedensgesprächen einen tschechoslowakischen De-facto-Staat. Ende Oktober 1918 reisten führende Prager Politiker – der frühere Jungtscheche, jetzt Staatsrechtsdemokrat (und bald Nationaldemokrat) Karel Kramáˇr, der Realist Pˇremysl Sˇámal, der Sozialdemokrat Gustav Habrman und der Generaldirektor der Prager Gewerbebank (Zˇivnostenska Bank) Jaroslav Preis – nach Genf, um Gespräche mit Masaryk und Beneˇs zu führen. Die Prager hatten detaillierte Pläne für den Übergang von der Monarchie zur unabhängigen Republik erarbeitet. Man einigte sich rasch, dass Masaryk der Präsident des neuen Staates werden sollte und Kramáˇr der Ministerpräsident, Beneˇs und Stefanik würden weiter ihre Ämter als Außenminister bzw. Kriegsminister bekleiden. Auch wurde vereinbart, dass die Deutschen in Böhmen und Mähren mindestens einen Kabinettsposten erhalten sollten, allerdings ohne Geschäftsbereich – man wollte also den Deutschen keinen direkten Einfluss auf die Regierungsarbeit zugestehen. Die oppositionelle Einstellung zur tschechischen parlamentarischen Führung, die Masaryk und Beneˇs vor 1914 eingenommen hatten, änderte sich auch durch den Krieg nicht. Sie waren überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen; das neue Parlament des Landes und seine Führung würden noch viel lernen müssen.7 Sie 5 6 7
R. W. Seton-Watson, Masaryk in England, Cambridge 1943, S. 125, 128. Beneˇs, My War Memoirs, S. 123, 139, 186, 276, 368. Peter Bugge, »Czech Democracy. Paragon or Parody?«, in: Bohemia: Jahrbuch des Collegium Carolinum 47 (2006–2007) 1, S. 19, 22.
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sahen im Ersten Weltkrieg den Höhepunkt eines globalen Kampfs zwischen theokratischem Absolutismus und humanistischer Demokratie, vergleichbar mit dem Kampf der Tschechen um die Unabhängigkeit ihres Landes. Mit Beneˇs’ Worten hatte der Krieg »dieselbe Bedeutung wie unsere nationale Revolution, die mit ihm einherging. […] Unser Kampf war erfolgreich, weil wir unsere Schritte an das Weltgeschehen anpassten. Wir haben ihn zu Recht mit dem Kampf um eine universelle Demokratie verbunden.«8
Die politischen Mechanismen des Staates Das tschechoslowakische Zwischenkriegsparlament wurde von einer Reihe tschechisch-sprachiger politischer Parteien dominiert, die Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Die nationalistische Rechte wurde durch die Nationaldemokraten (die vormaligen Jungtschechen, später die Staatsrechtspartei) unter Führung von Karel Kramáˇr und Alois Raˇsín vertreten. Die größte Partei waren die Mitte-rechts angesiedelten Agrarier (bisweilen auch als Republikaner bezeichnet). Diese von Antonín Sˇvehla geführte Partei bemühte sich erfolgreich um einen Ausgleich der Interessen von Kleinbauern und Großgrundbesitzern; ihre Stärke beruhte auf den Wählerstimmen der ländlichen Bevölkerung, auf Sˇvehlas unbestrittenem politischen Geschick und der erfolgreichen nationalistischen Rhetorik von der Bedeutung des Landes und der bäuerlichen Traditionen. Mitte-rechts stand auch die Tschechoslowakische Volkspartei, die zahlenmäßig allerdings wesentlich schwächer war als die Agrarier. Diese kleine katholische Partei unter Führung von Monsignor Jan Sˇrámek leitete ihr Programm aus der christlichen Moral und den Papstenzykliken ab.9
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Beneˇs, My War Memoirs, S. 497; T. G. Masaryk, Svˇetová revoluce: za války a ve válce, 1914–1918, Prag 1925, S. 500. Siehe die Arbeiten von Daniel A. Miller, darunter: Forging Political Compromise. Antonín Sˇvehla and the Czechoslovak Republican Party 1918–1933, Pittsburgh 1999; Vladimír V. Dostal, Agrární strana. Její rozmach a zánik, Brno 1998; Miloˇs Trapl, Political Catholicism and the Czechoslovak People’s Party in Czechoslovakia, 1918–1938, Boulder 1995.
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Zur tschechisch-sprachigen Linken gehörten die Tschechoslowakischen National-Sozialisten, die Sozialdemokraten und die Kommunisten. Die von Václav Klofáˇc und Jiˇrí Stˇríbrny´ geführten National-Sozialisten traten für einen moderaten Reformsozialismus und einen Nationalismus ein, der gelegentlich ins Chauvinistische abglitt. Sie wurden vor allem aus der unteren Mittelschicht unterstützt, von Angestellten und Bürokraten und von Vertretern der Intelligentsia. Die Sozialdemokraten, vor dem Krieg eine der stärksten Parteien, hatten eine breite, gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft als Basis. Ihre Vertreter waren Antonín Hampl, Gustav Habrman, Rudolf Bechynˇe und der Slowake Ivan Dérer.10 Den ethnischen Minderheiten wurde von Anfang an eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Die »revolutionäre« vorläufige Nationalversammlung ignorierte die Frage der Minderheitenvertretung; nur 40 von 256 Sitzen gingen an die Slowaken, und kein einziger an die Deutschen, Ungarn, Polen und Ruthenen. Viele der Slowakischen Parlamentsmandate gingen an »überparteiliche« Tschechen wie Masaryks Tochter Alice. Diese vorläufige Nationalversammlung verabschiedete sodann wichtige Gesetze, von der Verfassung bis zum Sprachengesetz, was bedeutete, dass die tschechoslowakischen Minderheiten vor der Staatsgründung nicht konsultiert wurden. De facto hatte keine der kleineren Volksgruppen Einfluss auf diesen Prozess, denn die Tschechoslowakei führte als einziges osteuropäisches Land in der Zeit zwischen den Kriegen kein Referendum über einen Verfassungsentwurf durch.11 Doch in vieler Hinsicht entsprach die tschechoslowakische Verfassung europäischen Standards: Sie sah ein direkt gewähltes Zweikammerparlament vor, das dann den Präsidenten wählte; alle volljährigen Bürger erhielten das Wahlrecht und sämtliche bürgerlichen Rechte, und die Bestimmungen zum Minderheitenschutz folgten den internationalen Präzedenzfällen im Vertrag von Saint-
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Die Tschechischen National-Sozialisten hatten nichts mit der NSDAP im benachbarten Deutschland zu tun. Siehe T. Mills Kelly, Without Remorse. Czech Radical Nationalism in Late-Habsburg Austria, Boulder 2006. Zu den Sozialdemokraten siehe Zdenˇek Karník, Socialisté na rozcestí. Habsburk, Masaryk cˇ i Sˇmeral, Prag 1996. Bugge, »Czech Democracy«, S. 8f.
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Germain.12 Nominell konzentrierte sich die Macht in der Zwischenkriegsrepublik auf das Parlament. Diese hervorgehobene Stellung der Legislative ergab sich automatisch durch die breite Unterstützung des Rechts auf »allgemeine, direkte und geheime Wahl«, im Kontrast zum eingeschränkten Stimmrecht und dem Primat des Kaisers gegenüber dem Parlament unter österreichischer Herrschaft; auch in der revolutionären Nachkriegsentwicklung in Richtung Rätedemokratie stand das Kollektiv im Vordergrund. In der ersten, vorläufigen Verfassung war der tschechoslowakische Präsident eine von der Nationalversammlung und sogar vom Kabinett leicht kontrollierbare Galionsfigur. Sein Veto konnte überstimmt und jede von ihm erlassene Verordnung musste von einem Minister unterzeichnet werden.13 Doch die Realität der tschechoslowakischen Zwischenkriegsdemokratie war komplizierter als in der Verfassung vorgesehen. Masaryk und Beneˇs waren beide überzeugt, dass die Tschechoslowakei einen aktiven Präsidenten brauchte.14 Masaryks Verbündete sorgten dafür, dass er durch die geänderte Verfassung von 1920 mehr Macht erhielt.15 Masaryk trug bei der Überarbeitung der Verfassung und in der gesamten Zwischenkriegszeit mehrmals den Sieg über das Parlament davon. Kein Parteiführer besaß genug Autorität, um dem Präsidenten entgegenzutreten; die Erste Republik wird deshalb manchmal auch als »Präsidialdemokratie« bezeichnet.16 Masaryk konnte Minister bis hin zum Ministerpräsidenten einsetzen und entlassen, das Parlament auflösen und ganze Gruppen von Beamten ernennen, d.h., die Gewaltenkontrolle war in der Verfassung der Ersten Republik mangelhaft geregelt und konnte von der Exekutive relativ leicht ausgehebelt werden. 12 13
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Hugh LeCaine Agnew, The Czechs and the Lands of the Bohemian Crown, Stanford 2004, S. 178–180. Vaclav Beneˇs, »Czechoslovak Democracy and Its Problems, 1918–1920«, in: Victor Mamatey/Radomir Luza ˇ (Hg.), A History of the Czechoslovak Republic 1918–1948, Princeton 1973, S. 93f. Karel Cˇapek, President Masaryk Tells His Story, New York 1971 (Nachdruck der Ausgabe von 1935), S. 289 und 291. Bugge, »Czech Democracy«, S. 7f. F. Gregory Campbell, »Central Europe’s Bastion of Democracy«, in: East European Quarterly 11 (Sommer 1977), S. 155–176.
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Auch die parlamentarischen Verfahren waren nicht wirklich repräsentativ. Die Fraktionsvorsitzenden bestanden auf absoluter Disziplin; die Parlamentsmandate gehörten der Partei, nicht den einzelnen Abgeordneten. Die Wähler entschieden sich für eine Partei, nicht für einen bestimmten Politiker, und konnten an den Wahllisten keine Änderung vornehmen.17 Die Vorherrschaft der Parteien und die Besorgnis über die politische Instabilität in den Jahren 1920–1921 führte zur Bildung der Pˇetka (»Die Fünf«), eines regelmäßigen, inoffiziellen und streng geheimen Treffens der Führer der fünf größten tschechischen Parteien.18 Historiker sehen die Pˇetka als notwendige stabilisierende Kraft und zugleich als eine Quelle oligarchischer, verfassungswidriger Macht, die Parlament und Regierung in reine Erfüllungsgehilfen verwandelte. Auch wird festgestellt, dass die Pˇetka eher an pragmatischen, kurzfristigen Lösungen interessiert war als daran, die drängenden langfristigen Probleme des Staates, wie die vollständige Integration der Minderheiten und die ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung der verschiedenen Regionen, anzugehen.19 Anfangs billigte Masaryk die Pˇetka; er begrüßte eine Führung von disziplinierten Fachleuten und vertraute ihnen.20 Doch ihm hatte sicher vorgeschwebt, dass die Pˇetka nur eine begrenzte Rolle spielen und seinen Wünschen und Richtungsvorgaben folgen würde. 17
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Bugge, »Czech Democracy«, S. 11f.; siehe auch Peter Heumos, »Der Klabautermann und der lydische Hirte. Aus dem Schatzkästlein erbaulicher Historie«, in: Bohemia: Jahrbuch des Collegium Carolinum 39 (1998), S. 409–421; Antonín Klímek, Boj o Hrad I: Hrad a Pˇetka, 1918–1926, Prag 1996, S. 44f. Zeman, The Masaryks, S. 142. Zur Pˇetka liegt umfangreiche Literatur vor. Siehe Bugge, »Czech Democracy«; F. Gregory Campbell, »Central Europe’s Bastion of Democracy«, in: East European Quarterly 9 (1977) 2; Peter Heumos, »Konfliktregelung und soziale Integration. Zur Struktur der Ersten Tschechoslowakischen Republik«, in: Bohemia: Jahrbuch des Collegium Carolinum 30 (1989); Zdenˇek Kárník, Cˇeské zemˇe eˇre první republiky, Bd. 1, Prag 2000; Klímek, Boj o Hrad I und II; Antonín Klímek, Velké dˇejiny zemí Koruny cˇ eské, Bde. 13–14, Prag 2000, 2002; Victor Mamatey, »The Development of Czechoslovak Democracy 1920–1938«, in: Victor Mamatey/Radomir Luza ˇ (Hg.), A History of the Czechoslovak Republic 1918–1948, Princeton 1973; Miller, Forging Political Compromise. Masaryk äußerte sich so in seiner Neujahrsansprache 1922. Siehe Zeman, The Masaryks, S. 143; Klímek, Boj o Hrad I, S. 177.
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Das erwies sich als blauäugig. Im Mai 1927 schrieb er Edvard Beneˇs: »Sˇvehla hat recht, wenn er den Parteien deutlich macht, dass ich [den Staat verkörpere]; so habe ich meine Wahl [zum Präsidenten] von Anfang an verstanden […]. Eine Partei, die sich gegen meine [Wieder]Wahl stellt, kann nicht der Regierung angehören. Mit anderen Worten: entweder ich repräsentiere den Staat, oder die Parteien tun es.«21 Der Historiker Jiˇrí Kunc hat dazu angemerkt, dass dieser Kampf, der vielfach als persönlicher Streit zwischen Masaryk und den Parteiführern oder aber als Konflikt zwischen dem Inlands- und dem Auslandswiderstand gegen die Habsburger-Monarchie dargestellt wurde, weder das eine noch das andere war. Vielmehr war er ein Konflikt um die grundsätzliche Natur der tschechoslowakischen Politik und Regierung, ein Gerangel, wie es in vielen Demokratien stattfindet: Würden die Parteien gewinnen oder die Exekutive?22 So war die tschechoslowakische Zwischenkriegsdemokratie vor allem das Ergebnis von Kompromissen und Absprachen zwischen zwei außerkonstitutionellen Machtzentren: der Pˇetka und der »Burg«, Masaryks und Beneˇs’ machtvoller, informeller politischer Organisation. Zur Burg gehörten die Präsidialkanzlei und Beneˇs’ Außenministerium sowie Abteilungen einiger anderer Ministerien wie z.B. des Innenministeriums. Masaryk und Beneˇs setzten auch ihr Privatvermögen ein sowie die Mittel, die ihnen das Parlament zur freien Verfügung bereitstellte, und sie nutzten ihre langjährige Freundschaft mit vielen einflussreichen Personen, darunter mächtigen Bankiers, Fraktionsvorsitzenden und Ministern, auf deren aktive Unterstützung der Sichtweise der Burg und ihrer Ziele sie vertrauen konnten. Die Burg konnte auf loyale Zeitungen, ergebene Journalisten und ihr freundlich gesinnte Verleger zählen.23 Das soll nicht heißen, dass sie immer als einheitlicher Block agierte. Doch alles in allem bildete sie eine sehr mächtige Verknüpfung von
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Jaroslav Pecháˇcek, Masaryk, Beneˇs, Hrad. Masarykovy dopisy Beneˇsovi, Prag 1996, Originalausgabe, München 1984, S. 56f. Jiˇrí Kunc, Stranické systémy v re/konstrukci, Prag 1999, S. 168–171. Robert Kvaˇcek, »The Rise and Fall of Democracy«, in: Mikuláˇs Teich (Hg.), Bohemia in History, Cambridge 1998, S. 251.
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Informations- und Geldbeschaffung mit direktem politischem Einfluss. Generell lässt sich die Burg als Repräsentantin unterschiedlicher Ideologien und politischer Ansätze beschreiben, die von Masaryk und Beneˇs artikuliert wurden – vor allem im Bereich der Außenpolitik. Eine Burg-freundliche Einstellung beinhaltete deshalb auch die Verteidigung der Westorientierung des Landes gegen Politiker, die eine Schwächung oder Neuausrichtung der Bindungen der Tschechoslowakei an ihre westeuropäischen Garantiemächte anstrebten. Die Burg engagierte sich für das neue Europa, das durch die Nachkriegsfriedensverträge entstanden war (eine logische Politik, da die Gründung der Tschechoslowakei selbst eine Folge dieser Verträge war) und widersetzte sich jedem Versuch, die Nachkriegsordnung zu verändern. Besondere Sorge galt einem Anschluss Österreichs an Deutschland, der zur Folge hätte, dass die Tschechoslowakei auf drei Seiten von Staaten umringt wäre, die den Versailler Vertrag ablehnten. Beneˇs konzentrierte seine diplomatischen Bemühungen auf bilaterale Vereinbarungen mit anderen europäischen Staaten und darauf, die Tschechoslowakei fest in europäische und internationale Organisationen einzubinden, wie den Völkerbund und die Kleine Entente, ein Bündnissystem zwischen der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien. Innenpolitisch bedeutete die Zugehörigkeit zur Burg, die Position von Masaryk und Beneˇs als Befreier des Landes und Gründer des neuen Staats gegen die Ansprüche derjenigen tschechischen Politiker zu verteidigen, die während des Krieges in der Tschechoslowakei geblieben waren. Da die Burg beanspruchte, nicht nur den tschechoslowakischen Staat zu verkörpern, sondern auch ein demokratisches Ideal, betrachteten ihre Verteidiger jede Opposition gegen ihre Politik und gegen Masaryk oder Beneˇs als einen Angriff auf die Demokratie und die Stabilität des Landes, als Betrug an der Nation und einen Schritt in Richtung Faschismus und Diktatur. Als Gegengewicht zum Parlament schwebte den Führern der Burg eine am Wohl der Bevölkerung orientiertes technokratisches Regierungssystem vor, geführt von einer aufgeklärten Elite, die sich mit revolutionärem Impetus daran machen sollte, die Regierung und die Bevölkerung nach ihrer Vorstellung umzufor-
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men.24 Vor diesem Hintergrund zog Masaryk 1919 in Erwägung, zusammen mit Beneˇs und den Mitgliedern des Nationalausschusses für kurze Zeit eine Diktatur zu errichten, um die Lösung »vieler brennender Fragen« zu ermöglichen.25 Viele Jahre später erklärte er, in einer Diktatur könne der Wille des Volkes besser zum Ausdruck kommen als in einem parlamentarischen System. »Als der Krieg zu Ende war, dachte ich: Wir werden eine Republik haben, aber anfangs wird sie Züge einer Diktatur tragen. […] Das beunruhigte mich nicht. […] Eine Diktatur entmachtet das Parlament, aber sie ermöglicht die Herrschaft des Volkes; das heißt, sie macht Demokratie möglich.«26 Ein weiterer Konfliktpunkt waren die Minderheitenparteien. Masaryk und Beneˇs wollten alle Nationalitäten des Landes, vor allem die Deutschen, in parlamentarische Koalitionen einbinden, und die Burg trug zur Einbeziehung deutscher »aktivistischer« (protschechoslowakischer) Parteien in die ausschließlich aus bürgerlichen Parteien bestehende sogenannte »Herrenkoalition« bei, die das Land von Oktober 1926 bis Oktober 1929 regierte.27 Die Burg hatte zuverlässige deutsche und slowakische Verbündete, darunter den deutschen Botschafter in Prag Samuel Saenger, den führenden Politiker der Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei Professor Robert Mayr-Harting, den Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik Ludwig Czech, die führenden Vertreter der deutschen Agrarier Franz Kˇrepek und Franz Spina (auch Lektor für die tschechische Sprache an der Deutschen Universität Prag), die slowakischen Agrarier Vavro Sˇrobar und Milan Hodza ˇ (dessen Verhältnis zur Burg allerdings zwischen Opposition und enger Zusammenarbeit hin und her pendelte) und den slowakischen Sozialdemokraten Ivan Dérer.28
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Klímek, Boj o Hrad I, S. 179. Klímek, Boj o Hrad I, S. 32. Ebenda. Klímek, Velké dˇejiny, Bd. 13, S. 583–592. Kárník, Cˇeské zemˇe eˇre první republiky, Bd. 1, S. 413.
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In der Minderheitenfrage taktierte die Burg. Robert Mayr-Harting kann hier als Beispiel dienen: Einerseits baute man auf ihn, ließ aber zugleich bis Ende 1936 seine Aktivitäten überwachen und Bericht über ihn erstatten.29 Für Masaryk und Beneˇs war die Gründung der Tschechoslowakei eine »nationale« (also tschechische) Revolution. Sie verteidigten die tschechischen Interessen, in der Annahme, die Minderheiten hätten eigentlich keinen Grund zur Beschwerde und ihr Genörgel werde nach etwa einer Generation aufhören. Ungeachtet der relativ großzügigen Garantien, die den nationalen Minderheiten in der Verfassung von 1920 eingeräumt wurden, blieb das Verhältnis zwischen der Mehrheit und den Minderheiten gespannt. In den ersten Jahren der Republik kam es in den Städten und Provinzen immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Tschechen und Deutschen.30 Die Slowaken stimmten in der gesamten Zwischenkriegszeit durchgehend für die autonomistische Slowakische Volkspartei (SPP) des katholischen Priesters und offenen Burg-Kritikers Andrej Hlinka; die SPP warf Masaryk vor, er habe sein Versprechen an die Slowaken, ihnen Autonomie zu gewähren, nach seiner Rückkehr in die Tschechoslowakei gebrochen. Auch mit Beneˇs’ Westorientierung und seiner feindseligen Einstellung gegenüber rechtsgerichteten katholischen Staaten wie Polen und Österreich waren sie nicht einverstanden.31 Die von den Tschechen herbeigeführte Landreform, angekündigt als Instrument für soziale Gerechtigkeit, umgesetzt aber als Mittel der nationalistischen Wiedergutmachung mythologisch verklärter Niederlagen – insbesondere der Schlacht am Weißen Berg von
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Alain Soubigou, Tomáˇs Garrigue Masaryk, Prag 2004, S. 262. Zu den Deutschen in der Tschechoslowakei siehe Nancy Meriwether Wingfield, Flag Wars and Stone Saints. Making the Bohemian Lands Czech, Cambridge, Mass., 2007, S. 151–156; Nancy Meriwether Wingfield, »Conflicting Constructions of Memory. Attacks on Statues of Joseph II in the Bohemian Lands after the Great War«, in: Austrian History Yearbook 1997, S. 147–171; Mark Cornwall/Marie L. Neudorflová (Hg.), Cˇeˇsi a Nˇemci v pojetí a politice T.G. Masaryka: sborník pˇríspˇevkù z mezinárodní conference, Prag 2004; Eagle Glassheim, Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge, Mass. 2005. James Felak, At the Price of the Republic. Hlinka’s Slovak People’s Party 1929–1938, Pittsburgh 1994, S. 40f., 153.
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1620 –, war den Deutschen und Ungarn in der gesamten Zwischenkriegszeit ein Dorn im Auge.32 Im Allgemeinen jedoch schoben Burg und Pˇetka (und ihre Nachfolger, wie die Sˇestka [die Sechs] und die Osmiˇcka [die Acht]) ihre Animositäten beiseite und arbeiteten miteinander, versuchten dabei aber durchaus, den Einfluss und die Macht des anderen zu verringern. Nach 1928 schienen die Fraktionsführer eher bereit, sich den Wünschen der Burg zu fügen: Vor den Wahlen von 1929 zum Beispiel diktierte Masaryk dem Ministerpräsidenten Udrzal ˇ von den Agrariern die Zusammensetzung der neuen Regierungskoalition praktisch ins Heft, und Udrzal ˇ fügte sich. Bis 1932 konnte Masaryk somit auch Minister ernennen und entlassen.33 Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise war der Konflikt praktisch beendet.34 Burg und Pˇetka warfen einander undemokratische Tendenzen vor, und beide hatten Recht.35 Die Weigerung der Parteien, im Parlament echte Debatten zuzulassen, ermöglichte es der Burg, sich als die loyale Opposition des Landes zu positionieren. Beide Seiten nahmen für sich in Anspruch, der idealen demokratischen Praxis näher zu stehen. Doch die Pˇetka ließe sich auch als Parteiendiktatur beschreiben. Masaryk und Beneˇs ihrerseits waren nicht länger an Volksnähe interessiert, sondern überzeugt, dass sich Demokratie aus einer Reihe von philosophischen Grundsätzen ganz von selbst ergebe und am besten von effizienten Eliten in die Praxis umgesetzt werden könne. Aus dieser Perspektive hatte ein demokratisch strukturierter Staat keine große Bedeutung mehr.36 Die Burg wurde zu einer symbolischen Demagogenkanzel, mit deren Hilfe die Exekutive das Parlament bekämpfen und unterminieren konnte, ohne die Verfassung zu ändern oder offen eine autoritäre Regierungsform anzustreben. 32
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Mark Cornwall, »National Reparation? The Czech Land Reform and the Sudeten Germans«, in: Slavonic and East European Review 75 (1997) 2, S. 259–280; Daniel E. Miller, »Colonizing the Hungarian and German Border Areas during the Czechoslovak Land Reform, 1918–1938«, in: Austrian History Yearbook (2003) 34, S. 303–317. Beneˇs, Czechoslovak Democracy, S. 141. Klímek, Boj o Hrad I, S. 174–178. Miller, Forging Political Compromise, S. 282. Bugge, »Czech Democracy«, S. 21.
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Masaryk, die Präsidentschaft und die Demokratie Demokratie war der zentrale Begriff in Masaryks politischem Vokabular, in all seinen schriftlichen und mündlichen Äußerungen. Doch er verwendete ihn unpräzise, bezog ihn weniger auf formale oder juristische Aspekte wie allgemeines Wahlrecht und freie Wahlen, sondern vor allem auf ein Ideal von Staat und Gesellschaft. Für ihn war Demokratie weniger eine politische Struktur denn eine Weltsicht, ja fast schon eine Religion.37 So merkte er am Ende seines Lebens an: »Mein Ziel war religiös und moralisch – die Politik war nur ein Werkzeug.«38 Masaryk war überzeugt, dass das rechtstaatliche und egalitäre Ethos der Demokratie es den Menschen erlaubte, sich zu moralischeren, menschlicheren und vollkommeneren Wesen zu entwickeln und ihren Brüdern und Schwestern mit Toleranz, Empathie, Vernunft und Selbstbeherrschung zu begegnen.39 Regierende und Regierte sollten fair und menschlich miteinander umgehen: Die Demokratie würde ihnen dabei helfen. Ein Beispiel für seine Gedanken zur Demokratie findet sich in seinen 1925 erschienenen, häufig zitierten Weltkriegsmemoiren »Svˇetová revoluce«: »Jesus, nicht Caesar – so lautet die Losung des demokratischen Europa.«40 Die Demokratie habe sich aus der Theokratie heraus entwickelt, denn der Staatsabsolutismus sei an die Stelle des religiösen Absolutismus getreten und die Demokratie sei als Reaktion auf diesen Staatsabsolutismus entstanden. Daher stelle die Demokratie den Kulminationspunkt der Trennung von Kirche und Staat dar, und das sei gut so. Moderne Demokraten Viele Historiker halten Masaryks zivilgesellschaftliches Denken im Grunde für religiös. Siehe Rene Wellek, »The Philosophical Basis of Masaryk’s Political Ideals«, in: Ethics 55 (1945) 4, S. 298–304; H. Gordon Skilling, »Masaryk. Religious Heretic«, in: John Morison (Hg.), The Czech and Slovak Experience, Basingstoke 1992, S. 62–88; Jan Zohar, »T. G. Masaryk. From Religion to Democracy«, in: The New Presence (2003) 3, S. 31; Bruce Berglund, Prague Castle as Sacred Acropolis. Faith, Conviction, and Skepticism in the House of Masaryk, unveröffentlichtes Manuskript. Ich danke Bruce Berglund für die Genehmigung, aus diesem Manuskript zu zitieren. 38 Karel Cˇapek, Hovory s T. G. Masarykem, Prag 1969, S. 102. 39 H. Gordon Skilling, T. G. Masaryk against the Current, 1882–1914, University Park 1994, S. 7. 40 Masaryk, Svˇetová revoluce, S. 608. 37
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verstünden es als ihre Aufgabe, »die religiösen und ethischen Gedanken Jesu, seine reine, makellose Religion der Menschlichkeit (lidskost) in die Wirklichkeit umzusetzen« – aber ohne Einmischung des Staates. Eine moderne Religion sollte das demokratische zivile Leben prägen und nicht zu einem Instrument der politischen Herrschaft des Staates werden.41 Masaryks kommunitaristische Vision von demokratischen tschechischen Idealen deckte sich nicht mit seinem eigenen politischen Vorgehen, das eher elitär und paternalistisch war, beeinflusst vom österreichischen Liberalismus. Der Wille des Volkes sollte zwar die allgemeine politische Ausrichtung vorgeben, doch die Erarbeitung der konkreten politischen Maßnahmen sollte durch gut ausgebildete Eliten erfolgen, die zum Wohl der Allgemeinheit unparteiische Entscheidungen träfen.42 Der Historiker und Philosoph Emanuel Rádl, einer der aufmerksamsten Kritiker Masaryks, merkte 1928 an: »Das charakteristische Merkmal einer humanitären Demokratie im Sinn Masaryks besteht darin, dass sie über die unbegrenzte Macht eines Souveräns verfügt, diese aber aus Sympathie für andere Menschen einschränkt. Deshalb gilt eine Demokratie selbst dann nicht als defizitär, wenn die Macht des Staatsapparats praktisch unbegrenzt ist.«43 Masaryks Programm ließ wenig Raum für die Bildung von Basisorganisationen und deren Aktivitäten. Die Distanz zwischen den Eliten und den Massen sollte durch Aufklärung der Wählerschaft verringert werden.44 Diese »politische Aufklärung« war zum Teil auf Masaryk selbst fokussiert – in Form eines Führerkults. Viele verschiedene Gruppen und Faktoren trugen dazu bei, dass Masaryk sich als der Einzige positionieren konnte, der als überzeugter Demokrat in der Lage Masaryk, Svˇetová revoluce S. 550, 552. Hier verzichtet Masaryk auf die wichtige Unterscheidung zwischen Liberalismus und Republikanismus. 42 Melissa Feinberg, Elusive Equality. Gender, Citizenship, and the Limits of Democracy in Czechoslovakia, 1918–1950, Pittsburg 2006, S. 17. Masaryks Ideen wurden von vielen führenden Politikern der Zwischenkriegszeit geteilt. Siehe Miller, Forging Political Compromise, S. 167. 43 Emanuel Rádl, Válka Cˇechù s Nˇemci, Prag 1993, S. 262. 44 Seine Schriften zu diesem Thema, »The Czech Question« und »Our Current Crisis« stammen aus den 1890er Jahren: Skilling, Masaryk against the Current, S. 36. 41
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war, die zum Ideal erklärte neue tschechoslowakische Demokratie zu führen und die ethnischen und politischen Spaltungen des Landes zu überwinden. Der Präsidentenkult, der dazu dienen sollte, die verschiedenen Nationalitäten miteinander zu verbinden und dem jungen Staat Legitimation zu verschaffen, wurde zu einem zentralen Element des nationalen Mythos der Burg und zu einem nützlichen politischen Instrument. Die öffentliche Verehrung Masaryks stärkte die Burg. Im Ausland wurde er durch diesen Personenkult zum vollkommenen Vertreter seines Staates und der Werte, für die dieser zu stehen vorgab, wie Freiheitsdrang, Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe und das Festhalten an Wilsons demokratischen Idealen. Seine internationale Reputation gab Masaryk wiederum mehr Handlungsfreiheit in der Innenpolitik.45 Die Ähnlichkeiten zwischen Masaryks Personenkult und dem von Kaiser Franz Josef in den letzten Jahren des Habsburger-Reichs halfen dabei, eine gewisse Kontinuität zwischen dem alten Kaiserreich und dem neuen Staat zu wahren, auch wenn die Anklänge an Franz Josef wohl nicht beabsichtigt waren: Die tschechoslowakische Demokratie sollte die Ordnung des Kaiserreichs nicht nachbilden, sondern ganz und gar verdrängen.46 Der Masaryk-Kult präsentierte seinen Protagonisten am häufigsten wie in einem Gedicht von Vitˇezslav Nezval als Landmann einer dankbaren Nation. Der Begriff »Landmann« lässt mehrere Deutungen zu: wohlwollender Gutsherr oder gütiger Familienvater, aber auch Behüter der Nation. Tatsächlich wurde Masaryk oft als Tatíˇcek, als »Papa« bezeichnet. Häufig wurde er als Gipfelpunkt der tschechischen Geschichte dargestellt und als Medium, diese Geschichte mit biblischer oder europäischer Größe zu verbinden. Jan Rokyta verglich Masaryk 1920 in Vít Vlnas, »Myty a kyˇce první republiky«, in: Nová Pˇrítomnost (1991) 8, S. 28f.; Robert Pynsent, Questions of Identity. Czech and Slovak Ideas of Nationality and Personality, London 1994, S. 193ff. 46 Zum imperialen Mythos der Habsburger siehe Daniel L. Unowsky, The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg Austria 1848–1916, West Lafayette 2005, S. 25; Peter Urbanitsch, »Pluralist Myth and Nationalist Realities. The Dynastic Myth of the Habsburg Monarchy – A Futile Exercise in the Creation of Identity?«, in: Austrian History Yearbook (2004) 35, S. 101–152. Zu Masaryk siehe Klímek, Boj o Hrad I, S. 84; siehe auch: Cˇapek, President Masaryk, S. 286–289. 45
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seinem Poem »Präsident Masaryk. Lied zu seinem siebzigsten Geburtstag« mit Moses (und durchaus nicht zufällig die Tschechen mit den Juden, dem Inbegriff des leidgeprüften Volkes) und anderen Heroen. Er lässt Masaryk die Burg der tschechischen Könige betreten, »als wäre sie seine Heimstatt«.47 Andere Mitwirkende am Masaryk-Kult nahmen auf das 19. Jahrhundert Bezug, wieder andere rekurrierten auf die Bibel. 1926 schickte ein selbsterklärter Arbeiter aus Osíku u Litomyˇsl ein Gedicht mit dem Titel »Unserem geliebten Präsidenten« an die Präsidialkanzlei; alle sechs Strophen beginnen mit den Worten »Unser Tatíˇcek, Herr Präsident« und vergleichen Masaryk mit Christus.48 Der Kult betonte die einfache Herkunft Masaryks und seine Nähe zum lid, dem Volk; damit stützte es sich auf ein tragendes Element des tschechischen romantischen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts. Außerdem wurde versucht, Masaryk als Kind eines slowakischen Vaters und einer deutschsprachigen Mutter aus Mähren zur Verkörperung des Tschechoslowakismus zu machen. Seine Erinnerungsalben enthielten stets Fotografien, die ihn im Gespräch mit schüchtern lächelnden mährischen oder slowakischen Bauern in Volkstracht zeigten. Seine zahlreichen Biografen beschrieben ausführlich das einfache Zuhause seiner Kindheit und seine Lehrzeit als Hufschmied. Die Wertschätzung, die das Amt des Staatspräsidenten genoss, festigte und verstärkte den Personenkult. So wie das Bild des Kaisers öffentliche Einrichtungen und Privatwohnungen geschmückt hatte, traf man jetzt überall in der neuen Republik auf Masaryks gütiges Antlitz; sein Bild hing in Läden und Wohnungen, in Schulen und Regierungsgebäuden. An öffentlichen Feiertagen blickten zwischen den Waren, die in den Schaufenstern ausgestellt wurden, »[Masaryks] Büsten und Bilder etwas kitschig auf die Händler und die Kunden«. Öffentliche Einrichtungen, Straßen, Armeeeinheiten
Jan Rokyta, President Masaryk. Basenˇ k jeho sˇ edmdesatym ´ narozeninám, Prag 1920, (ohne Seitenzählung: elfte Strophe). Wie viele ähnliche Pamphlete wurde auch dieses Poem sehr günstig verkauft: Sein Preis betrug 30 Heller – 100 Heller entsprachen einer Krone. 48 Václav Nˇemec, Naˇsemu milému presidentovi, AKPR 26 (1926) H. 189. 47
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und militärisches Material wurden nach ihm benannt, ebenso Schulen und Universitäten in der ganzen Republik.49 Masaryk und die Präsidialkanzlei bewahrten in der Zwischenkriegszeit die kaiserliche Tradition, nach der sich jeder Untertan direkt an die höchste Autorität im Staat wenden konnte, wie an einen »guten König«, der für Gerechtigkeit sorgt. Einfache Bürger konnten in die Burg gehen und um ein Gespräch mit dem Präsidenten bitten; sie ersuchten ihn auch bei finanziellen Schwierigkeiten oder juristischen Problemen schriftlich um Hilfe. Viele Arbeiter schickten eine Flut von »Eingaben, Beschwerden und Erklärungen« und nicht zuletzt ganze Delegationen in die Präsidialkanzlei und baten um Hilfe bei verschiedensten Konflikten.50 Zumeist wurde um finanzielle Unterstützung gebeten; die Verfasser reichten von bedürftigen Bürgern über ehemalige Legionäre bis hin zu früheren Senatoren. Die Kanzlei scheint sich zur Prüfung der Ansprüche schriftlich an die örtliche Polizei und soziale Organisationen gewandt zu haben, ehe Unterstützungsleistungen gewährt wurden.51 Masaryks bürgerliche Apotheose war tief im Kollektiv verwurzelt; sie zeigte sich in weitgehend spontanen Jubelstürmen und Dankbarkeitsbezeugungen am Ende des Krieges. Sowohl die Burg als auch einzelne Bürger stellten Masaryk-Souvenirs her und vertrieben sie. Man konnte Bücher, Broschüren, Erinnerungsteller, Tassen und Aschenbecher mit dem Konterfei des Präsidenten erwerben, und natürlich jede Menge Porträts. Viele Verlage produzierten in aller Eile kurze, billige Druckschriften über den Präsidenten für ein Massenpublikum. Einfache Menschen fertigten für Masaryks Geburtstag oder andere symbolische Gelegenheiten dem Präsidenten gewidmete kunsthandwerkliche Gegenstände an. In der Präsidialkanzlei gingen so viele dieser Dinge ein, dass das An49 50
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Klímek, Boj o Hrad I, S. 85–88. Bugge, »Czech Democracy«, S. 22f.; und Peter Heumos, »Die Arbeiterschaft in der Ersten Tschechoslowakischen Republik«, in: Bohemia: Jahrbuch des Collegium Carolinum (1988) 29, S. 69–71. AKPR, inventáˇrní kniha signatury R, zádosti ˇ o podporu. Brief aus dem Jahr 1928 von dem ehemaligen Senator P. Mudroch aus Sotiná pri Senici nad Myjavou: R 7/28. Helena Dˇedková, Hradec Králove, Husová ul 3. Ein Mitarbeiter der Präsidialkanzlei brachte auf dem Brief den Vermerk »Vyˇsetˇreno [geprüft]« an und bestätigte, dass die Familie Unterstützung benötigte: R 17273.
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fang der 1930er Jahre gegründete Masaryk-Institut ein Museum einrichtete, in dem diese Geschenke ausgestellt wurden.52 Ein Teil des Masaryk-Kults war an die Kinder gerichtet. Sein Porträt schmückte jede Schule, ja bisweilen jedes Klassenzimmer. An öffentlichen Feiertagen stellten die Schulklassen vaterländische Szenen nach, in denen Masaryk im Vordergrund stand.53 Die Schulkinder lasen auch Jugendromane über Masaryk – geringfügig »verbesserte« historische Beschreibungen seiner Kindheit – und Darstellungen seines Heranwachsens zum Mann, in deren Zentrum seine moralische Überlegenheit und seine Liebe zu Familie und Vaterland stand.54 In den Schulbüchern wurde die Ideologie der Burg häufig als objektive historische Wahrheit dargestellt.55 Der Masaryk-Kult stützte sich zumindest teilweise auf den eng damit verbundenen Heldenkult um die Tschechoslowakische Legion und ihren mutigen Dienst im Ersten Weltkrieg. Masaryk und die Burg nutzten die Legionäre auch zur Darstellung Masaryks als militärischer, von all seinen Soldaten bewunderter Held. Zugleich gestalteten und beförderten die Legionäre mit Unterstützung der Burg tatkräftig ihren eigenen Mythos; sie schrieben Romane, drehten Filme und errichteten Denkmäler und wurden dabei stets vom Präsidenten in seinen Schriften und öffentlichen Auftritten be-
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AMU /AUTGM, Masaryk-Archiv, Foto-Archiv, VIII/47/2* 411, Fotogra-
fien 4821, 4823. Zum Museum der Geschenke des Präsidenten siehe Eva Broklová u.a. (Hg.), Mám jen knihy a skripta, cenná práce zivotní, ˇ Prag (Masarykùv ústav AV CR), 2002), S. 164f. In den 1950er Jahren wurde die Sammlung aufgeteilt und zum Großteil vernichtet. Die wenigen Fotografien zeigen Ausstellungsräume voller Büsten, Porträts, Collagen, Aquarelle und andere kunstvoller Abbildungen des Präsidenten nebst Geschenken aller Art, von bestickten Stoffen bis zu Violinen. Siehe z.B. Josef Koudelák, T. G. Masaryk. Dˇetská hrá o 3 jednáních s dohrou, Brtnice 1930. Siehe unter anderem R. Eliáˇs, T. G. Masaryk, Prag 1920; und Lída Merlínová, Tatíˇcek Masaryk, Prag 1934. Der zweite Band wurde von Masaryks Sekretär V. K. Sˇkrach veröffentlicht. Hans Lemberg, »Ein Geschichtsbuch unter drei Staatsystemen. Josef Pekáˇrs Oberklassenlehrbuch von 1914–1945«, in: Hans Lemberg/Ferdinand Seibt (Hg.), Deutsch-tschechische Beziehungen in der Schulliteratur und im populären Geschichtsbild, Braunschweig 1980, S. 85; Josef Pekáˇr, Dˇejiny cˇ eskoslovenské. Pro nejvyˇssˇ í tˇrídy sˇ kol stˇredních, Prag 1921, S. 45ff., 168.
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stärkt.56 Der Kult um die Legionäre und der um Masaryk wurden von der Burg gleichermaßen gefördert, und sie erinnerten die Bürger immer wieder öffentlich daran, worauf die Macht der Burg beruhte und wie wichtig ihre Vorherrschaft in der tschechoslowakischen Politik war. Mit dem Kult wurde Masaryk zur Verkörperung verschiedener transzendenter Ideen: Er repräsentierte den Tschechoslowakischen Staat, den Gedanken der Demokratie und einen toleranten, kosmopolitischen tschechischen Nationalcharakter.57 Vor allem das letztgenannte Element bewirkte, dass der Masaryk-Kult in erster Linie ein tschechischer Kult war, der implizit das tschechische Nationalerbe mit der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft gleichsetzte. Er sorgte für die symbolische Verknüpfung der tschechischen Führungsrolle mit einer als ideal betrachteten Demokratie. Der Masaryk-Mythos stand als Symbol für die tschechoslowakische Demokratie, hielt zugleich aber einen gewissen Abstand von ihr. Von den nationalen Minderheiten des Landes und auch von manchen Tschechen, insbesondere den Katholiken, den Nationaldemokraten und den Kommunisten, wurde er entschieden abgelehnt oder zumindest infrage gestellt. Die Existenz eines Masaryk-Kults machte die Zwischenkriegsrepublik nicht weniger demokratisch, aber sein Beharren auf dem Primat der Demokratie machte sie auch nicht demokratischer. Doch möglicherweise rechtfertigten die monarchistischen Anklänge die rasche Demontage nicht nur der Masaryk’schen Re-
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Masaryks Schrift wird zit. in: Vlnas, Myty a kyˇce, S. 29. Zur patriotischen Kultur der Legionäre siehe Wingfield, Flag Wars and Stone Saints, S. 184–192; Manfred Alexander, »Die Rolle der Legionäre in der Ersten Republik. Ein politischer Verband und sein Geschichtsbild«, in: Michael Neumüller, Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Landern, München 1986, S. 265–279; Robert Pynsent, »The Literary Representation of the Czechoslovak ›Legions‹ in Russia«, in: Mark Cornwall/R. J. W. Evans, Czechoslovakia in a Nationalist and Fascist Europe 1918–1948, Oxford 2007, S. 76, 80–87. Ein Beispiel: Jaroslav Papouˇsek (Hg.), Masaryk a revoluˇcní armada. Masarykovy projevy k Legiím a o Legiích v zahraniˇcní revoluci, Prag 1922. E. A. Rees, »Leader Cults. Varieties, Preconditions and Functions«, in: Balazs Apor/Jan C. Behrends/Polly Jones/E. A. Rees (Hg.), The Leader Cult in Communist Dictatorships. Stalin and the Eastern Bloc, New York 2014, S. 3–26, hier S. 11.
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publik, sondern auch ihrer demokratischen Struktur in den Monaten der Zweiten Republik (1938–1939), die mit den Nazis kollaborierte.58
Das Ende der Republik In den 1930er Jahren hatte sich das parlamentarische System der Tschechoslowakei in eine »disziplinierte Demokratie« gewandelt, die bereit war, im Namen des Staates auch die Verfassung außer Kraft zu setzen.59 1933 verabschiedete das Parlament ein Ermächtigungsgesetz (zmocnování ˇ zákon), das der Regierung in den Jahren der Weltwirtschaftskrise eine Wirtschaftspolitik per Erlass ermöglichte. Das auf Betreiben der Agrarier entstandene Gesetz, mit dem diese die Sozialdemokraten schikanierten, wurde mit der Zeit so weit ausgedehnt, dass generell das Regieren per Dekret möglich war und sogar bestehende Rechtsvorschriften auf diese Weise ersetzt werden konnten; viele Experten sahen darin einen Verstoß gegen die Verfassung.60 Seit der Gründung der Republik gab es auch noch andere Mittel, um Plenarsitzungen des Parlaments zu umgehen, wie z.B. den Ständigen Ausschuss (stály´ vybor) ´ von 16 Abgeordneten und acht Senatoren, der außerhalb der Sitzungsperioden die Aufgaben des Parlaments wahrnehmen konnte und dies vor allem in den 1930er Jahren auch häufig tat.61 Masaryks designierter Nachfolger Beneˇs errang 1935 nur mit großer Mühe das Amt des Staatspräsidenten.62 17 Jahre lang hatte sich die Burg selbst zum Vertreter der Demokratie erklärt, und Beneˇs war Masaryks auserwählter Jünger. Bugge, »Czech Democracy«, Feinberg, Elusive Equality; Jan Rataj, O autoritativní národní stát. Ideologické promˇeny cˇ eské politiky v druhé republice 1938–1939, Prag 1997. 59 Giovanni Capoccia, »Legislative Responses Against Extremism. The Protection of Democracy in the First Czechoslovak Republic«, in: East European Politics and societies (2002) 16, S. 691–738; Karl Loewenstein, »Militant Democracy and Fundamental Rights, II«, in: American Political Science Review (1937): S. 641–644. 60 Bugge, »Czech Democracy«, S. 12f. 61 Klímek, Velké dˇejiny, Bd. 13, S. 190–192. 62 Klímek, Velké dˇejiny, Bd. 14, S. 332–384. 58
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Uneinigkeit und Zwist in einem Parlament, das immer weniger das gesamte Volk repräsentierte und das in einem feindseliger werdenden internationalen Umfeld agierte, ließen Schlimmes für die Zukunft ahnen.63 Auch die ethnischen Spannungen hatten nicht abgenommen. Obwohl die »nationalbewusste deutsche Zivilgesellschaft« sich von tschechischen oder tschechoslowakischen Angelegenheiten fern hielt und ungeachtet gelegentlicher Demonstrationen und Proteste schienen die meisten deutschsprachigen Bürger der Tschechoslowakei in den Jahren 1925–1932 widerstrebend ihren Frieden mit der Ersten Republik geschlossen zu haben.64 Das änderte sich im Verlauf der Wirtschaftskrise, die die mehrheitlich deutsch besiedelten Grenzregionen mit dem Großteil der Leichtindustrie des Landes besonders rasch und hart traf. Nicht einmal eine Abwertung der tschechoslowakischen Krone konnte die Exporte des Landes wieder ankurbeln.65 Die Nationalsozialisten jenseits der Grenze bedienten sich erfolgreich der wirtschaftlichen Misere in den sudetendeutschen Gebieten und riefen den Deutschen ihre unterschwelligen Ressentiments durch gefühlte Kränkungen wie die tschechoslowakische Landreform, das Sprachengesetz von 1926 und Beneˇs’ systematische Ablehnung aller Petitionen der deutschstämmigen Tschechoslowaken an den Völkerbund wieder in Erinnerung.66 Aus der Sudetendeutschen Heimatfront des ehemaligen Gymnasiallehrers Konrad Henlein und des Buchhändlers Karl Hermann Frank wurde 1935 eine organisierte Partei, die Sudetendeutsche Partei (SdP), die auch an den Parlamentswahlen teilnahm. Ihr Wahlkampf wurde von der NSDAP finanziert, doch manche Historiker wenden ein, dass die Partei zwar sehr autoritär, aber nur zum Teil nationalsozialistisch geprägt geweRobert Kvaˇcek, »Co zùstalo utájeno«, Svobodné slovo vom 13. 2. 1993. Mark Cornwall, »›A Leap into Ice-Cold Water‹. The Manoeuvres of the Henlein Movement in Czechoslovakia, 1933–193«, in: Mark Cornwall/R. J. W. Evans (Hg.), Czechoslovakia in a Nationalist and Fascist Europe 1918–1948, Oxford 2007, S. 134. 65 Hugh LeCaine Agnew, The Czechs and the Lands of the Bohemian Crown, Stanford 2004, S. 191. 66 Mark Cornwall, »Dr. Edvard Beneˇs and Czechoslovakia’s German Minority, 1918–1943«, in: John Morison (Hg.), The Czech and Slovak Experience, Basingstoke1992, S. 178–182. 63 64
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sen sei, und auch noch nach 1938 sei ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus sehr ambivalent gewesen.67 Die SdP erreichte insgesamt 15,2 Prozent (volle zwei Drittel der deutschen Stimmen), also mehr als alle anderen Parteien einschließlich der einflussreichen Agrarier. 1937 konnte sich die tschechoslowakische Wirtschaft dank eines auf die Landesverteidigung konzentrierten öffentlichen Investitionsprogramms auch in den von Deutschen besiedelten Grenzregionen langsam aus der Weltwirtschaftskrise befreien. Die Regierung hoffte, die Unzufriedenheit der Deutschen durch größere regionale Autonomie zu dämpfen und abwarten zu können, bis der wirtschaftliche Aufschwung auch im Sudetenland spürbar würde. Zur selben Zeit gewann jedoch der radikale rechte Flügel der SdP unter Karl Hermann Frank an Einfluss, und die Partei näherte sich Hitlers NSDAP an. Auf Hitlers Anraten stellte Henlein immer weitergehende Forderungen an die tschechoslowakische Regierung. 1938 bezog die SdP immer offener Stellung gegen den tschechoslowakischen Staat und bekannte sich zu Hitler; bei den Kommunalwahlen 1938 gewann sie unter der deutschstämmigen Bevölkerung 85 Prozent der Stimmen. Die Briten, die ohnehin Vorbehalte gegen die Tschechen hatten, verloren nun die Geduld, und zugleich stieg ihr Interesse an Konrad Henlein.68 Innerhalb der Tschechoslowakei, jetzt die letzte europäische Demokratie östlich des Rheins, äußerten selbst treue Anhänger Cornwall, A Leap into Ice-Cold Water, S. 125; Michael Walsh Campbell, A Crisis of Democracy. Czechoslovakia and the Rise of Sudeten German Nationalism, 1918–1938, Dissertation University of Washington 2003; Michael Walsh Campbell, »Keepers of Order? Strategic Legality in the 1935 Czechoslovak General Elections«, in: Nationalities Papers 31, (2003) 3, S. 298, 302f. 68 Paul Vyˇsny, ´ The Runciman Mission to Czechoslovakia, 1938. Prelude to Munich, Basingstoke 2003, S. 8–11, 20, Fn 30; Mark Cornwall, «A Fluctuating Barometer. British Diplomatic Views of the Czech-German Relationship in Czechoslovakia, 1918–1938«, in: Großbritannien, die USA und die böhmischen Länder 1848–1938. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 2. bis 6. November 1988, hrsg. von Eva SchmitdtHartmann/Stanley B.Winters, München 1991 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 16), S. 313–333, hier S. 327; Konrad Henlein, »The Sudeten Question and British Foreign Policy«, in: The Historical Journal (1969), H. 12, S. 674–697, hier S. 686, 691, 695. 67
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der Burg erhebliche Zweifel am Wert und an der Sicherheit des tschechoslowakischen demokratischen Systems.69 Im Rest der Bevölkerung war die Bereitschaft zu einem Rechtsruck sogar noch größer. 1937 starb Masaryk; ein Jahr später auch Karel Cˇapek, und die Erste Republik musste sich der Gewalt ergeben. Der Mythos der Burg wurde durch unzählige Texte von und über Masaryk, ihre wichtigste Symbolfigur, weiter verstärkt. In den Büchern wurde hervorgehoben, wie wichtig Masaryk und Beneˇs für den begeistert aufgenommenen Prozess der Demokratisierung gewesen waren und wie sie den Staat durch die relativ ruhigen und von einem gewissen Wohlstand geprägten 1920er Jahre gesteuert hatten. Der Dramatiker, Journalist und Intellektuelle Karel Cˇapek und der Journalist Ferdinand Peroutka schufen in ihren Werken ein Narrativ der Tschechoslowakei, die Masaryk und Beneˇs ihre Existenz verdankte und auf einer toleranten, alle Bevölkerungsgruppen einbeziehenden Multiethnizität, demokratischen Strukturen und der Unterstützung des Westens basierte. Masaryk sei mehr als ein Mensch, schrieb etwa Cˇapek nach Masaryks letzter, einmütiger Wiederwahl 1934: »Masaryk ist ein Prinzip. Für uns und für die gesamte zivilisierte Welt verkörpert er die moralischen und politischen Ideale, die man Demokratie nennen kann.« Tschechen, Slowaken und die nationalen Minderheiten des Landes hätten sich zu einem Zeitpunkt für Masaryk und die Demokratie entschieden, zu dem Europa sich davon abwandte: »In Deutschland, in Österreich, in Bulgarien. Überall rings um uns. [Wir sind] eine kleine Insel im Herzen Europas. Oder vielleicht auch Soldaten Gottes, deren Stärke im Glauben wurzelt und nicht in der Macht. […] Wie Antonín Sˇvehla kurz vor seinem Tod sagte: ›Wir sind das Bollwerk der westlichen Demokratie; also müssen wir durchhalten. […]‹ Man nenne es Schicksal […] oder den Sinn der Geschichte.«70
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Bugge, »Czech Democracy«, S. 13; Zbynˇek Zeman/Antonin Klímek, The Life of Edvard Beneˇs 1884–1948. Czechoslovakia in Peace and War, Oxford 1997, S. 100–101. Karel Cˇapek, »Dvacáty cˇ tvrty kvˇeten«, Lidové noviny vom 25. 5. 1934, abgedruckt in: Cˇapek, Hovory s T. G. Masarykem, S. 446–449. Hervorhebungen im Original.
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Zu der Frage, ob dem tschechischen System eine »politische Ästhetik« innewohne, erklärte Peroutka nüchterner, die Tschechoslowakei habe als einzige Demokratie Mittel- und Osteuropas der großen Krise der 1930er Jahre standgehalten. Alles in allem habe das Parteiensystem dem Land mehr genützt als geschadet.71 Die Kapitulation Beneˇs’ vor Hitlers Münchener Diktat 1938 und die Erfahrung der Nazi-Besatzung während des Zweiten Weltkriegs veränderten die Darstellung des Mythos. Die Tschechoslowakei war noch immer ein Symbol für Freiheit und Demokratie. Aber jetzt verkörperte sie zugleich auch die Blindheit des Westens. Beneˇs sagte dazu: »In den letzten zwanzig Jahren haben die Tschechoslowaken ihren eigenen Staat errichtet; sie schufen eine beneidenswert ausgewogene, harmonische Gesellschaftsordnung, ein fortschrittliches Rechtssystem, eine reife Volkswirtschaft. […] Die Menschen genossen echte politische Freiheit und religiöse Toleranz. Zwar gab es Minderheiten – ein Problem, das in ganz Europa existiert […]. Die Tschechoslowakei war als Zufluchtsort für Bürger freier Nationen und als begeisterte Befürworterin des Völkerbunds bekannt. Es gab weder religiöse noch konfessionelle Verfolgung; auch die Juden wurden hier nicht verfolgt, und es gab auch keinerlei rassische Verfolgung. Die Tschechoslowakei war wahrlich eine der aufgeklärtesten, fortschrittlichsten und am weitesten entwickelten Demokratien östlich des Rheins. Sie war die Republik des großen Humanisten T. G. Masaryk. […] Die Eroberung der Tschechoslowakei musste die Vernichtung des Gedankens der Freiheit in Mitteleuropa bedeuten. […] Die ganze Welt war bereit, die Tschechoslowakei zu opfern.«72 Überreste der früheren Ideale blieben erhalten. Masaryk hatte geglaubt, der Erste Weltkrieg habe zur Entwicklung der Welt von 71 72
Ferdinand Peroutka, Budování státu III (1920), Prag 1991, S. 929. ˇ eˇci, projevy a dokuDr. Edvard Beneˇs, Sˇest let exilu a druhé svˇetové války. R menty z r. 1938–1945, Prag 1946, S. 39–41, 43. Zu Beneˇs’ Exil siehe: Milan Hauner u.a. (Hg.), Formování cˇ sl. zahraniˇcního odboje 1938–39. Svˇedectví Jana Opoˇcenského »Presidentùv pobyt ve Spojenych ´ státech americkych«, ´ Prag 2000; Jan Kˇren, Do emigrace. Západní zahraniˇcní odboj 1938–1945, Prag 1963, S. 449–470. Die offizielle Sichtweise: Bohuˇs Beneˇs, Amerika jde s námi. Reportázˇ z pˇrednáˇskového turné Edvarda Beneˇse po americkych ´ univerzitách v roce 1939, Prag 1998.
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der Theokratie hin zur Demokratie beigetragen; Beneˇs sah im Zweiten Weltkrieg einen Teil derselben umfassenden historischen Entwicklung, die zu einer wahren, »wirtschaftlichen« Demokratie führen würde.73 Wieder sollte die Tschechoslowakei zur Stimme der Vernunft und der Demokratie werden: »Wir werden dieser Bewegung Ordnung, Respekt, Geschlossenheit und vor allem einen demokratischen Geist und Charakter verleihen.«74 Doch Beneˇs’ Vorstellung von Demokratie beinhaltete weder eine stärkere Beteiligung der Bürger an der Regierung noch die Schaffung effizienter, partizipatorischer Institutionen. In seiner Abhandlung »Demokracie dnes a zitra« (Demokratie heute und morgen) von 1939 konzentrierte er sich vor allem auf die Persönlichkeit und den Regierungsstil führender demokratischer Politiker. Wie in seinen Weltkriegserinnerungen gab er einzelnen Personen – Politikern und Bürgern – die Schuld an den demokratischen und gesellschaftlichen Mängeln.75 Für den Wiederaufbau nach dem Krieg sei also eine neue Art von Bürger notwendig. Dieser ideale homo democraticus würde die Fehler der Vorkriegszeit nicht wiederholen, wie zum Beispiel »mangelnde Zivilcourage, inakzeptabler utilitaristischer Opportunismus bei der Anwendung demokratischer Grundsätze und stetiges Bemühen um unmögliche Kompromisse mit den Faschisten, Egoismus im Hinblick auf die eigene Person, Partei, Klasse […]; mangelnde oder falsche Kenntnis der konkreten internationalen Probleme«.76 Tschechoslowaken und Europäer gleichermaßen hätten sich der Erziehung verweigert und seien auch moralisch gescheitert. Deshalb obliege es nun dem Nachkriegsstaat, die Bürgerschaft neu zu erschaffen, und nicht der Wählerschaft, einen neuen Staat zu errichten. 73
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Bugge, »Czech Democracy«, S. 19. Burg-Intellektuelle wie Ferdinand Peroutka hatten seit den 1920er Jahren solche Begriffe verwendet; siehe Orzoff, Battle for the Castle (Dissertation), Kapitel 2. Edvard Beneˇs, Memoirs of Dr. Eduard Beneˇs. From Munich to New War and New Victory [1954], hrsg. von Houghton Mifflin, New York 1972, S. 107. Hervorhebungen im Original. Siehe zum Beispiel: Edvard Beneˇs, Demokracie dnes a zitra, Bd. II: Unwin Brothers for Kruh pˇrátel cˇ eskoslovenské knihy, péˇcí tydeníku ´ »Cˇechoslovák«, 1941–1942, London 1939, S. 204–220. Ebenda, S. 203f.
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Schluss Viele Historiker haben die Erste Republik wegen ihrer demokratischen Defizite gegeißelt, doch neuere Forschungsarbeiten legen den Schluss nahe, dass das Beharren auf »Demokratie« im »Mythos der Burg« zwar mehrdeutig, aber zweckmäßig war, ein scheinbar vereinfachender moralischer und politischer Wert, der sich tatsächlich zu jeder Art von Anpassung und Weiterentwicklung eignete.77 Die europäischen Demokratien waren populistisch, technokratisch, oligarchisch und autoritär. Masaryks und Beneˇs’ Schriften und ihre politischen Aktivitäten enthalten, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, all diese Elemente. Der tschechische politische Diskurs des 20. Jahrhunderts ruft uns somit in Erinnerung, dass der Begriff Demokratie viele unterschiedliche Interpretationen zulässt. Er wurde als transzendenter Moralanspruch, aber auch als Synonym für den Status quo verwendet. Der Zusammenhang zwischen Demokratie und Mythos, und auch der zwischen Demokratie und Propaganda, war enger, als mancher Beobachter vermuten mochte. Das tschechische nationale Narrativ, wie Masaryk und Beneˇs es formuliert haben, ähnelt in vielem einem zivilgesellschaftlichen Nationalismus, in dem die Bürger ihre Identität aus dem Staat und den Werten, die ihm zugeschrieben werden, ableiten. Man könnte die These aufstellen, dass der innenpolitische Diskurs des 20. Jahrhunderts einen Beitrag zur Entwicklung eines nationalen Konsenses (oder zumindest zu einem Gedankenaustausch) über die Werte der Demokratie und die Legitimität der Ausübung von Macht, über kulturelle Toleranz und viele andere, dem Westen zugeschriebene Werte geleistet hat. Wenn dieser durch die internationale Gemeinschaft gestützte Konsens, so umstritten und brüchig er auch sein mag, nun die tschechische oder die osteuropäische Politik des 21. Jahrhunderts dominiert, dann wäre dies als großartiger Beitrag einer kleinen, kurzlebigen Republik zu werten. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer 77
Feinberg, Elusive Equality; Peter Bugge, vor allem: »Czech Democracy« – Giovanni Capoccia spricht von einer »schwierigen Demokratie«, siehe dazu: Giovanni Capoccia, »Legislative Responses against Extremism. The ›Protection of Democracy‹ in the First Czechoslovak Republic (1920–1938)«, in: East European Politics and Societies (2002) 16, S. 691–738.
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Demokratie und Gesellschaft in Spanien
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Demokratie und Gesellschaft in Spanien Populäre Vorstellungen der Zweiten Republik 1931– 1936
Als im April 1931, zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur von Miguel Primo de Rivera, eine Koalition aus mehreren republikanischen Parteien und der Sozialistischen Partei die ersten freien Kommunalwahlen gewann, strömten in den wichtigsten Städten Spaniens große Menschenmengen auf die Straßen, um den Sieg zu feiern. Die Wahlergebnisse waren keineswegs einheitlich, denn in einigen Teilen des Landes, vor allem dem ländlichen Norden, hatten die monarchistischen Parteien großen Zulauf erhalten; dennoch wurde das Resultat sofort als Plebiszit für einen politischen Kurswechsel verstanden. In allen großen Städten und auch in den ländlichen Gebieten im Süden trug die republikanisch-sozialistische Allianz einen überwältigenden Sieg davon, und die politische Dynamik, die die Massenfeiern entwickelten, zwang König Alfons XIII. ins Exil und bahnte den Weg für die Proklamation der Republik. Der Zusammenbruch der Diktatur Ende 1929 hatte auch die monarchistische Ordnung in eine schwere Krise gestürzt. Nach dem Putsch von 1923 war zwar der Wohlstand in Spanien angestiegen, doch hatte sich Primo de Riveras Politik der autoritären Modernisierung als widersprüchlich erwiesen, und nicht nur die unteren Klassen, sondern auch große Teile der städtischen Mittelschicht fühlten sich zunehmend an den Rand gedrängt. Der König hatte Primo de Rivera von Beginn an unterstützt und so die Zukunft der Monarchie an die Diktatur gebunden. Als de Rivera von der politi-
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schen Bühne abtrat, hatte der Monarch seine Glaubwürdigkeit weitgehend verloren, und, wichtiger noch, er verfügte über keine politischen Zukunftskonzepte mehr. Aus dieser Position der Schwäche heraus gab er im Frühjahr 1931 den lautstarken Forderungen nach freien Kommunalwahlen nach.1 Die Schwäche der Monarchie und der mit ihr verbündeten politischen Kräfte sorgte dafür, dass sich der Übergang zur Demokratie überraschend glatt und friedlich vollzog. Die republikanischen Kräfte mussten nicht mit Gewalt an die Macht drängen, sie füllten vielmehr das politische Vakuum aus, das die Diktatur hinterlassen hatte. Die Geschwindigkeit des politischen Wandels kam für viele Spanier überraschend. Der bekannte Journalist Antonio Zozaya schrieb im Mai 1931, selbst politische Beobachter, die sich für sachkundig hielten, seien angesichts des raschen Kurswechsels sprachlos. Besonders verblüffte sie, dass »ein solch radikaler Wandel ohne ernste Zwischenfälle« erfolgte.2 Zwar vermittelten die spontanen Freudenfeiern in Madrid, Barcelona und anderen Großstädten der neuen Regierung ein Gefühl der Legitimierung durch das Volk, doch bedeutete die Abdankung von Alfons XIII. keineswegs eine ungeteilte Zustimmung zur neuen politischen Ordnung. Hinzu kam, dass die Möglichkeit, einen breiten demokratischen Konsens herzustellen, von Anfang an ernsthaft untergraben wurde, denn die neue Republik sah sich sogleich mit tief verwurzelten, seit Ende des 19. Jahrhunderts schwelenden politischen Konflikten konfrontiert, die die Diktatur erfolglos zu unterdrücken versucht hatte. Die politischen Spannungen zwischen Kapital und Arbeit und zwischen den Verfechtern eines katholischen Spaniens und den Befürwortern einer säkularen Gesellschaft dauerten auch nach April 1931 weiter an und beherrschten bald die nationale Politik. Schon wenige Wochen nach der Aus1
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Allgemein: Mercedes Cabrera, »Proclamación de la República. Constitución y reformas«, in: Santos Juliá (Hg.), República y guerra civil, Madrid 2004, S. 3–57. Eine einschlägige Darstellung der Ereignisse findet sich bei Santos Juliá, Madrid, 1931–1934. De la fiesta popular a la lucha de clases, Madrid 1984, und bei Enric Ucelay da Cal, La Catalunya populista. Imatge, cultura i política en l’etapa republicana (1931–1939), Barcelona 1982; zum Niedergang der Monarchie siehe Shlomo Ben-Ami, The Origins of the Second Republic in Spain, Oxford 1978. Antonio Zozaya, »Sorprendidos«, Mundo Gráfico vom 20. 5. 1931.
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rufung der Republik kam es in Madrid und anderen Städten zu antiklerikalen Ausschreitungen, nachdem Monarchisten angeblich die Teilnehmer einer republikanischen Demonstration angegriffen hatten. Diese Unruhen waren der Beginn erbitterter politischer Kämpfe zwischen republikanischen und linksgerichteten Parteien auf der einen und katholischen und nationalistischen Kräften auf der anderen Seite, und sie vergifteten für viele Jahre die politische Debatte im Land.3 Der neuen Regierungskoalition gelang es nicht, die Spannungen abzubauen und sowohl die radikale Linke als auch die kirchenfreundliche Rechte in die neue politische Ordnung einzubeziehen. Die historische Forschung befasst sich noch immer mit der Frage, ob im Sommer und Herbst 1931 ein politischer Kompromiss zwischen den verschiedenen politischen Gruppen möglich gewesen wäre oder ob die politischen Vorstellungen der beiden Lager von vornherein unvereinbar waren. Manche Wissenschaftler halten die einseitige, offen antiklerikale und kompromisslose Politik der neuen Regierung für einen großen Fehler, denn sie habe damit sogar gemäßigte Katholiken vergrault, die eine demokratische Ordnung akzeptiert hätten. Der größte Fehler der Republikaner und Sozialisten sei es gewesen, nach ihrem überwältigenden Sieg bei den nationalen Wahlen im Sommer 1931 (der ihnen dank eines Wahlsystems, das die Sieger begünstigte, eine große Stimmenmehrheit im Parlament verschafft hatte) eine Verfassung durchzusetzen, die den Parteiprogrammen der Republikaner und der Sozialisten sehr ähnlich war. Sie umfasste ein weitreichendes Programm zur Modernisierung der Gesellschaft und verdrängte die katholische Kirche fast vollständig aus der Öffentlichkeit. Andere Forscher verweisen dagegen auf den sehr begrenzten Spielraum der neuen Regierung, denn ihre Anhänger und einfachen Parteimitglieder hätten noch weitaus entschlossenere Maßnahmen zur Errichtung eines »echten« republikanischen Systems gefordert.4 In der Tat bezeichneten repu3 4
Julián Casanova, Républica y Guerra Civil, Barcelona 2007, S. 86–98. Stanley Payne ist einer der bekanntesten Vertreter der erstgenannten Argumentationslinie: Stanley G. Payne, Spain’s First Democracy. The Second Republic, 1931–1936, Madison 1993; Stanley G. Payne, The Collapse of the Spanish Republic, 1933–1936. Origins of the Civil War, New Haven 2006. Eine andere Sichtweise, die den öffentlichen Druck auf die neue republikanische Regierung in den Vordergrund stellt, findet sich bei Gabriele
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blikanische Kolumnisten den Kampf gegen die Kirche als einen für den Aufbau der Demokratie unerlässlichen Schritt, denn die katholische Lehre pflanze »antiliberale, antidemokratische und antirepublikanische Vorstellungen« in die Herzen und Köpfe der Spanier.5 Angesichts solcher Forderungen aus der Bevölkerung war die Kompromissfindung schwierig, zumal die meisten Politiker der Rechten sich keinesfalls mit der Republik arrangieren, sondern lieber früher als später wieder ein autoritäres Regime installieren wollten. Doch abgesehen von solchen Debatten sind sich die meisten Historiker einig, dass Politik und Gesellschaft in der republikanischen Ära zusehends in zwei feindliche Lager zerfielen – eine Entwicklung, die vor der Wahl im Februar 1936 in der Bildung zweier Koalitionen, der »Volksfront« und der »Nationalen Front«, kulminierte. So war der Ausbruch des Bürgerkriegs im Juli 1936 eine logische Folge sowohl grundlegender struktureller Konflikte als auch einer politischen Polarisierung und Mobilisierung, die keinen gangbaren Mittelweg zuließen.6
5
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Ranzato, El ecplise de la democracia. La Guerra civil española y sus orígenes, 1931–1939, Madrid 2006, S. 117–143. Siehe auch Gabriele Ranzato, »The Republican Left and the Defence of Democracy, 1934–1936«, in: Fernando del Rey/Manuel Álvarez Tardío (Hg.), The Spanish Second Republic Revisited. From Democratic Hopes to the Civil War (1931–1936), Brighton 2012, S. 80–96. Martin Luis Guzman, »Doctrina católica y doctrina republicana«, El Sol vom 10. 9. 1931. Für eine tiefergehende Darstellung siehe: Fernando del Rey, Paisanos en lucha. Exclusión política y violencia en la Segunda República española, Madrid 2008. Die beste Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands findet sich in dem Sammelband: del Rey/Álvarez Tardío (Hg.), The Spanish Second Republic Revisited. Zur langfristigen Perspektive siehe die ausgezeichnete Studie: Pamela Radcliff, From Mobilization to Civil War. The Politics of Polarization in the Spanish City of Gijón, New York 1996. Eine hervorragende mikrohistorische Darstellung der republikanischen Jahre in einem andalusischen Dorf findet sich in: George Allen Collier, Socialists of Rural Andalusia. Unacknowledged Revolutionaries of the Second Republic, Stanford 1987.
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Der Zusammenbruch der spanischen Demokratie Die Frage, warum in Spanien die Demokratie in Gewalt und Bürgerkrieg versank, steht in der umfangreichen Forschung zur Zweiten Republik im Mittelpunkt. Die meisten Historiker führen eine hitzige Debatte über die Ursachen für den Untergang der Demokratie und bemühen sich, die Hauptverantwortlichen für den Zusammenbruch der Republik zu ermitteln. Sie rücken den Fall Spanien in einen umfassenderen europäischen Kontext des »Zeitalters der Extreme« und geben die Geschichte der Zweiten Republik und des Spanischen Bürgerkriegs als Parabel für das Scheitern der liberalen Demokratie und den Aufstieg antidemokratischer Bewegungen in den Zwischenkriegsjahren wieder. Sie betrachten Spanien als extremes Beispiel für die Instabilität der demokratischen Herrschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, für die Polarisierung der europäischen Gesellschaften in feindliche Lager und für den wachsenden Einfluss totalitärer Ideologien. Die Geschichte der Demokratie in Spanien wird daher als eine Geschichte von Misserfolgen, Fehlurteilen, fehlgeleiteten Ideologien und verpassten Gelegenheiten kolportiert.7 Die Forschung zur spanischen Demokratie in den 1930er Jahren verläuft entlang zweier Deutungsansätze. Zum einen sieht eine wichtige Gruppe von Historikern in der Zweiten Republik ein auf Modernisierung ausgerichtetes System, das sich erfolglos gegen die Kräfte der Tradition, vor allem gegen reiche Landbesitzer, reaktionäre Offiziere und antiliberale Geistliche, zur Wehr setzte. Aus dieser Perspektive waren die 1930er Jahre durch eine Reihe grundlegender struktureller Spannungen gekennzeichnet, die die erfolgreiche Umsetzung einer demokratischen Ordnung so gut wie unmöglich machten. Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Großgrundbesitzern und landlosen Bauern im Süden, die immense gesellschaftliche und politische Macht des reaktionären Militärs und der katholischen Kirche, die jeder modernen, liberalen Politik 7
Stanley Payne, The Spanish Civil War, Cambridge 2012, S. 1–4; ders., Civil War in Europe. 1905–1949, Cambridge 2011, insbesondere S. 117–192; Walther Bernecker, Europa zwischen den Weltkriegen, 1914–1945, Stuttgart 2002, S. 190–195.
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feindselig gegenüberstanden, und schließlich die Spannungen zwischen den wirtschaftlich entwickelten Regionen Katalonien und Baskenland und dem Verwaltungszentrum Madrid – all diese Konflikte führten zum tragischen Scheitern der ehrgeizigen Bemühungen der progressiven republikanischen und sozialistischen Kräfte, das Land zu modernisieren und ein wahrhaft demokratisches, von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragenes System zu errichten. Zwar waren die Traditionalisten nicht stark genug, um den progressiven Kräften wirklich Einhalt zu gebieten, doch gelang es ihnen, die Umsetzung der reformorientierten Gesetze zu blockieren, die die fortschrittlichen Regierungen im Zeitraum von 1931 bis 1933 und 1936 verabschiedeten. Die politischen Zusammenstöße nach 1931 vertieften die Kluft zwischen einem modern-progressiven und einem traditionellen, nationalistischen Lager weiter. Der Sieg der von General Franco geführten nationalistischen Kräfte im Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 setzte allen Versuchen der Demokratisierung ein gewalttätiges Ende, und erst nach der Wiedereinführung der Demokratie in den 1970er Jahren konnte das Land erfolgreich modernisiert werden.8 In den letzten beiden Jahrzehnten haben einige britische und amerikanische Historiker dieses Thema unter Einbeziehung der Kulturgeschichte weiter bearbeitet. Sie sehen die politischen Kämpfe in den 1930er Jahren als Teil eines »Kulturkriegs« zwischen den Protagonisten eines umfassenden Projekts von kultureller Befreiung, partizipatorischer Demokratie und emanzipatorischer Massenkultur auf der einen Seite und den Verteidigern einer traditionellen, hierarchischen und unterwürfigen Kultur auf der anderen. Während Republikaner, Sozialisten und Anarchisten und selbst Kommunisten gemeinsam für eine partizipatorische politische Ordnung, individuelle Freiheiten, die Gleichberechtigung der Ge8
Paul Preston, The Spanish Holocaust. Inquisition and Extermination in Twentieth-Century Spain, London 2012; Julián Casanova, Républica y Guerra Civil, Barcelona 2007 (engl. The Spanish Republic and Civil War, Cambridge 2010); Santos Juliá (Hg.), República y guerra en España (1931–1939), Madrid 2006. Eine frühe Version dieses Erklärungsansatzes findet sich bei Paul Preston, The Coming of the Spanish Civil War. Reform, Reactions and Revolutions in the Second Spanish Republic 1931–1936, London 1978.
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schlechter und einen kosmopolitischen Lebensstil kämpften, taten die traditionellen Eliten alles in ihrer Macht Stehende, um den kulturellen Wandel zu bremsen und ihre christlichen, nationalistischen Werte und eine hierarchische Gesellschaftsordnung zu bewahren. Nach dieser Lesart scheiterte die Demokratie letztlich an strukturellen Zwängen und an der Macht der Tradition, die die republikanischen Regierungen und Bewegungen daran hinderten, ihre Ziele umzusetzen. Der größte Feind der neuen Demokratie war demnach die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit.9 In deutlichem Kontrast zu diesem Erklärungsansatz sieht eine zweite Gruppe von Historikern die Geschichte Spaniens in den 1930er Jahren als Geschichte einer Krise des demokratischen Bewusstseins und der demokratischen Institutionen. Die Vertreter dieser Perspektive, insbesondere der amerikanische Historiker Stanley Payne, sind der Auffassung, dass es in Spanien Anfang der 1930er Jahre kaum Demokraten gegeben habe. Nur ein Bruchteil der Mitglieder des republikanischen Parlaments habe sich ernsthaft für Pluralismus und andere liberale demokratische Werte eingesetzt und um einen Kompromiss zwischen den gegnerischen politischen Parteien bemüht. Der Einfluss der antiliberalen, kollektivistischen Bewegungen sei in Spanien besonders ausgeprägt gewesen. Zwischen den Anarchisten und Kommunisten auf der einen Seite und den militanten Nationalkatholiken und Faschisten auf der anderen sei nur noch eine kleine Minderheit demoralisierter liberaler Demokraten übrig geblieben, die eine immer geringere Rolle spielten. Der Kollektivismus gewann die Oberhand über den liberalen Individualismus. Liberale demokratische Werte waren in Spanien seit jeher schwach ausgeprägt, und das turno-Prinzip, nach dem sich in der restaurativen Monarchie (1876–1923) die beiden führenden Parteien an der Macht abwechselten und die Wahlen entsprechend festlegten, verhinderte, dass die Bevölkerung Vertrauen in demokratische Institutionen entwickelte und dass sich eine Klasse von
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Helen Graham, The Spanish Civil War. A Very Short Introduction, Oxford 2005; Helen Graham/Jo Labanyi, »Culture and Modernity. The Case of Spain«, in: dies., Spanish Cultural Studies, Oxford 1995, S. 1–19; Chris Ealham/Michael Richards, The Splintering of Spain. Cultural History and the Spanish Civil War, 1936–1939, Cambridge 2005.
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Politikern bildete, die die Kunst des echten politischen Kompromisses beherrschte. Zudem erwiesen sich die demokratischen Verfahren der neuen Republik als nicht funktionsfähig. Das Wahlrecht bescherte den Siegern überproportional viele Parlamentssitze, sodass die großen Parteien dazu neigten, ihre Agenda ohne Rücksicht auf Einwände der Minderheitsgruppen durchzuboxen. Während der erste Erklärungsansatz das Scheitern der Republik mit strukturellen Umständen und der Blockadepolitik der Traditionalisten begründet, sehen die Vertreter des zweiten Ansatzes die Schuld für den Zusammenbruch der demokratischen Herrschaft bei den republikanischen politischen Eliten, die weder willens noch in der Lage gewesen seien, Kompromisse auszuhandeln und so die Republik auf eine breitere und solidere Basis zu stellen.10 Die beiden Interpretationen haben unser Verständnis für das Spanien der 1930er Jahre vertieft, doch beide weisen auch Mängel auf. Zum einen haben neue Forschungsarbeiten die Annahme der erstgenannten Historikergruppe, moderne und traditionelle Elemente und Gruppen ließen sich klar voneinander trennen, infrage gestellt. Schon ein flüchtiger Blick auf die katholischen und rechtsgerichteten Veröffentlichungen jener Zeit verrät, dass es keineswegs einen homogenen reaktionären Block gab, der die traditionellen Normen und Werte verteidigte.11 Zum anderen hat sich die Forschung bei der Untersuchung der Geschichte der »zwei Spanien«, 10
11
Fernando del Rey/Manuel Álvarez Tardío, »Introduction«, in: diess. (Hg.), The Spanish Second Republic Revisited, S. 1–9, siehe auch die einzelnen Beiträge in diesem Band; Gabriele Ranzato, El ecplise de la democracia. La Guerra civil española y sus orígenes, 1931–1939, Madrid 2006; Payne, Spain’s First Democracy; ders., The Collapse of the Spanish Republic. Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Forschungsrichtung war Juan José Linz, »From Great Hopes to Civil War. The Breakdown of Democracy in Spain«, in: ders./Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes, Baltimore 1978, S. 142–215. Ich führe dieses Argument näher aus in: »Towards a new understanding of the child. Catholic Mobilization and Modern Pedagogy in Spain (1900–36)«, in: Contemporary European History 18 (2009) 1, S. 1–23. Siehe auch Feliciano Montero/Julio de la Cueva Merino (Hg.), Laicismo y catolicismo. El conflicto político-religioso en la Segunda República, Alcalà de Henares 2009. Allgemeiner siehe dazu: Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, New York u. a. 2007.
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also der Fragmentierung der Gesellschaft, bislang vor allem auf die politischen Eliten, Bewegungen und Kommentare konzentriert, und nur gelegentlich wurde der Frage der Verbreitung der politischen Ideologien in der Gesamtgesellschaft nachgegangen. Einige auf lokaler Ebene durchgeführte neuere Studien zum Bürgerkrieg lassen jedoch Zweifel aufkommen, ob sich die politischen Visionen, Hoffnungen und Befürchtungen der spanischen Durchschnittsbevölkerung mit den politischen Debatten im Parlament und innerhalb der politischen Elite deckten. Vielmehr habe sich das politische Weltbild der meisten Bürger an der Basis deutlich von den politischen Programmen der wichtigsten Parteien und politischen Bewegungen unterschieden. Nur eine Minderheit politisch aktiver Spanier habe sich eindeutig zu einer bestimmten politischen Ideologie bekannt. In den kleinen Städten und Dörfern Spaniens habe sich ein komplexes Beziehungsgeflecht aus Gruppenloyalitäten, örtlichen Konflikten und der nationalen Politik entwickelt.12 Diese Feststellungen regen zur erneuten Prüfung der Frage an, ob die spanische Gesellschaft vor dem Bürgerkrieg wirklich so politisiert und gespalten war, wie es die Forschung oft andeutet. Auch die allgemeineren historischen Trends zur Zwischenkriegszeit legen eine Neubewertung der spanischen Demokratie in den Jahren vor dem Bürgerkrieg nahe. Neuere Forschungen schätzen die Chancen der Demokratie in der Zwischenkriegszeit optimistischer ein und warnen davor, alles Geschehen in den 1920er und am Anfang der 1930er Jahre ausschließlich aus der Perspektive des darauffolgenden Jahrzehnts einzuordnen. Auch haben die politischen Historiker begonnen, ihren Blick über die politischen Eliten und Parteiorganisationen hinaus auf einen breiteren Bereich zu richten, der auch die politischen Überzeugungen und Praktiken der »einfachen Leute« umfasst. Und schließlich wird dem Konsumverhalten und der Entwicklung einer wirtschaftlich erfolgreichen Massenkultur größere Aufmerksamkeit geschenkt. All diese Trends
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Michael Seidman, Republic of Egos. A Social History of the Spanish Civil War, Madison 2002; Carlos Gil Andrés, Lejos del Frente. La guerra civil en la Rioja Alta, Barcelona 2006; François Godicheau, »Guerra civil, guerra incivil. La pacificación por el nombre«, in: ders./Julio Aróstegui (Hg.), Guerra Civil. Mito y memoria, Madrid 2006, S. 137–166.
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ermöglichen eine umfassendere Bewertung der Demokratie im Spanien der 1930er Jahre. Bislang wissen wir nur sehr wenig darüber, wie Spanier, die nicht der politischen Elite angehörten, den Übergang von der Monarchie zur Demokratie erlebten, was ihnen die Begriffe »Demokratie« und »Republik« bedeuteten und welche Hoffnungen, Erwartungen und Ängste sie mit dem neuen System verbanden.13 Auch wenn zweifellos nur eine sehr kleine Minderheit von Angehörigen der Mittelschicht für liberale, demokratische Werte eintrat, erscheint es doch interessant zu untersuchen, wie die Proklamation der Zweiten Republik die Vorstellungen der Spanier von der Gesellschaft und der eigenen Zukunft veränderte, wie ihr Leben unter dem neuen System aussah und welche politischen Auswirkungen diese Wahrnehmungen und Erfahrungen zeitigten. Die folgenden Ausführungen können nur ein erster, vorläufiger Versuch sein, diese Fragen zu beantworten. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Diskussionen über die Rolle des Einzelnen und der Familie in der städtischen Mittelschicht. Während es nach 1931 zweifellos zu einem Erstarken radikaler und einander feindselig gegenüberstehender Gruppen der politischen Elite und sozialer Bewegungen kam, wurde bislang weitgehend übersehen, dass daneben auch eine breite Mitte mit eigenen Meinungen, Erfahrungen und Erwartungen existierte, die sich nicht so einfach unter ein antagonistisches Modell von Modernität und Tradition subsumieren lässt. Jenseits der engeren politischen Sphäre verliert das Narrativ vom Kampf zwischen den »zwei Spanien«, die in verschiedenen sozialen Welten lebten und einander verbissen gegenüberstanden, seine Überzeugungskraft, und ein viel komplexeres, stärker nuanciertes Bild tritt hervor. Im Allgemeinen kennen wir die politischen Vorstellungen der nationalen Eliten aus Reden, Artikeln und anderen Quellen recht gut. Viel schwieriger ist es hingegen, das Weltbild der Menschen zu erfassen, die außerhalb des Politikbetriebs standen. Tagebücher und Briefe liefern wertvolle Einblicke in die Erwartungen, Sorgen und 13
Siehe jedoch Ranzato, Eclipse; Rafael Cruz, En el nombre del pueblo. República, rebelión y guerra en la España de 1936, Madrid 2006; del Rey, Paisanos en lucha; Juan Martínez Leal, Los socialistas en acción. La II. República en Elche (1931–1936), Alicante 2005.
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Hoffnungen gebildeter Angehöriger der Mittelschicht, doch es ist nicht einfach, diese zu finden und weitergehende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, die über das Individuum oder bestimmte gesellschaftliche Gruppen hinaus gültig sind. In diesem Beitrag wird deshalb ein anderer Forschungsansatz verfolgt, der die beliebtesten spanischen illustrierten Zeitschriften als Quellen heranzieht. Natürlich bietet die Boulevardpresse keinen Zugang zum Einzelnen und seinem Denken, und gewiss liefert sie ein verzerrtes, gefiltertes Bild vom Leben in Spanien – sie konzentriert sich eher auf Neues und Spektakuläres denn auf Wohlbekanntes und Gewöhnliches, mehr auf Freizeit und Privatangelegenheiten als auf Wirtschaft, Arbeitsleben und Parteipolitik. Und doch wurde das Leben unter dem neuen System in diesen Zeitschriften genau beobachtet und unter verschiedenen Aspekten dargestellt. In Essays, Gesellschaftskolumnen und Ratgeberspalten wurde besprochen, was es hieß, in einer Republik zu leben, sodass ein breiterer Einblick in die Vorstellungen und Visionen der neuen republikanischen Ordnung möglich wurde. Als Medium, das den Gefühlen, Ängsten und Erwartungen der Bürger eine Stimme gab und diese zugleich formte, sind sie eine besonders wertvolle Quelle für die Verknüpfung des Privaten mit dem Politischen, der Politik mit der Familie und dem Leben des Einzelnen, denn in den Kolumnen und Ratgeberspalten wurde diskutiert, was die neue Welt des modernen Spanien von jedem einzelnen Bürger erwartete. 1931 waren die illustrierten Zeitschriften als äußerst beliebte Kommunikationsmedien etabliert. Vor allem Ende der 1920er Jahre florierte das Geschäft mit den Boulevardblättern; ihre Zahl und ihre Qualität nahmen zu, und sie wurden für ein breiteres Publikum erschwinglich. Als Anfang 1934 die beliebte katholische Zeitschrift Esto auf den Markt kam, war der Preis so gestaltet, dass jeder sie sich leisten konnte.14 Während die Tageszeitungen meist enge Verbindungen zu politischen Parteien oder gesellschaftlichen Bewe-
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»Presentación«, in Esto vom 4. 1. 1934. Zur Entwicklung der Presse in Spanien am Anfang des 20. Jahrhunderts siehe: María Cruz Seoane/María Dolores Sáiz, Historia del periodismo en España, Bd. 3: El siglo XX: 1898–1936, Madrid 1996; Justino Sinova, La prensa en la Segunda República española. Historia de una libertad frustrada, Barcelona 2006.
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gungen hatten, bemühte sich die illustrierte Presse in der Regel um eine Leserschaft jenseits der verfestigten politischen Lager. Zwar vertraten sie unterschiedliche politische Vorstellungen und kulturelle Milieus, doch waren sie meist um Distanz zur Parteipolitik bemüht. Vor allem aber druckten sie auch Texte von Journalisten ab, die nicht unbedingt ihr politisches Weltbild teilten. So war die berühmte Kinderbuchautorin Elena Fortún eine überzeugte Anhängerin der neuen Republik und unterstützte später auch die republikanischen Kämpfer im Bürgerkrieg. Dies hinderte sie nicht daran, wöchentliche Kurzgeschichten in der Zeitschrift Blanco y Negro zu veröffentlichen, die von einem Verlag herausgegeben wurde, der eindeutig monarchistische Positionen unterstützte. Auch der bekannte Arzt und Psychologe César Juarros, der 1931 bei den Kommunalwahlen in Madrid sogar als Kandidat für die Linksrepublikaner antrat, erteilte seine medizinischen Ratschläge sowohl den Lesern linksgerichteter Zeitschriften als auch denen des militant katholischen Esto.15 Seit Ende der 1920er Jahre kämpfte eine Vielzahl unterschiedlicher Zeitschriften um öffentliche Aufmerksamkeit und um neue Leser. Die bereits 1899 gegründete Illustrierte Blanco y Negro stand am konservativen, nationalistischen Ende des politischen Spektrums. Im Frühjahr 1936 veröffentlichte sie zum Beispiel in einer Sonderausgabe ein unkritisches, verherrlichendes Porträt von Nazi-Deutschland. 1934 gesellte sich die finanziell von der katholischen Kirche abhängige militante Esto hinzu, die ebenfalls entschieden gegen die Republik eingestellt war. Die am anderen Ende des politischen Spektrums angesiedelte Crónica unterstützte vorbehaltlos die links-republikanische Reformagenda. Die ebenso beliebte Mundo Gráfico und die glamouröse Estampa vertraten einen gemäßigteren republikanischen Standpunkt. Mundo Gráfico unterstützte vor allem den moderaten Republikaner und ersten Präsi-
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»Encuestas de Crónica. Cuáles son, a su juicio, los seis problemas más urgentes que debe resolver el Gobierno provisional de la República? Doctor Juarros«, Crónica vom 24. 5. 1931; »Candidatos«, El Sol vom 20. 6. 1931; Doctor César Juarros, »Una Institución Meritísma: La Escuela Nacional de Anormales«, Mundo Gráfico vom 4. 7. 1934; KAY, »La Vida de nuestros hijos. Puericultura, Ciencia Moderna«, Esto vom 25. 10. 1934.
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denten der neuen Republik Nieto Alcalá Zamora. Alle diese Zeitschriften hatten Leser im ganzen Land, wurden jedoch sämtlich in Madrid veröffentlicht und berichteten häufig über das Leben in der Hauptstadt.
Die Republik – Versprechen und Bedrohung Die Proklamation der Republik rief in der illustrierten Presse im Wesentlichen drei Reaktionen hervor. Diese unterschiedlichen Sichtweisen von Demokratie ließen sich nicht eindeutig nach Lagern unterteilen, sondern entsprachen drei sich überlappenden kulturellen Vorstellungen davon, was die neue politische Ordnung für den Einzelnen und für die spanische Gesellschaft bedeutete. Für die Vertreter eines ersten Meinungsclusters eröffnete die politische Revolution die Möglichkeit und Notwendigkeit der persönlichen Erneuerung und der Schaffung einer humaneren Gesellschaft. In klarem Kontrast dazu stand eine zweite, entschieden katholische Sichtweise, die die Republik als Sozialrevolution und als Herrschaft des Pöbels betrachtete. Zwischen diesen beiden antagonistischen Standpunkten bildete sich eine dritte, sehr einflussreiche Position heraus, die in der neuen Demokratie den Durchbruch zu einer rationaleren und zugleich stärker leistungsorientierten Gesellschaft sah. In jedem Fall erschien die Republik sowohl vielversprechend als auch bedrohlich, nur dass die Hoffnungen und Ängste unterschiedlich gewichtet waren. In den Boulevardzeitschriften, die der neuen republikanischen Ordnung am nächsten standen, insbesondere in Crónica, wurde die politische Revolution als Ausgangspunkt für die Demokratisierung aller Lebensbereiche, für die eigene Weiterentwicklung und für die demokratische Erneuerung des Familienlebens betrachtet. »Die Republik republikanisieren« (republicanizar la república) wurde der Slogan dieser kulturellen Bewegung.16 Eine neue, kultivierte und solidarische Gesellschaft gleichberechtigter Individuen, die einander anteilnehmend gegenüberstehen, sollte an die Stelle der als kalt, 16
»Temas Políticas. La República a los Transfugas«, Heraldo de Madrid vom 23. 5. 1931.
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hierarchisch und unterwürfig empfundenen früheren Beziehungen zwischen den Einzelnen treten. Die Kolumnisten forderten dazu auf, »sich selbst zu humanisieren« (nos humanizamos), und skizzierten Vorschläge, wie dies zu bewerkstelligen sei.17 Ein erstes Signal dieser breiten kulturellen Bewegung war der Versuch einiger Zeitschriften wie Crónica und Mundo Gráfíco im Frühjahr und Sommer 1931, die Mitglieder der neuen republikanischen Regierung in der Bevölkerung als Teil einer neuen, besseren politischen Elite bekannt zu machen.18 Vor allem Niceto Alcalá Zamora (1877–1949) wurde nach seiner Wahl zum ersten Präsidenten der neuen Republik in den Journalen mit langen Fotoreportagen, Interviews und Anekdoten aus seinem Leben ausführlich porträtiert. Ein weiterer sehr populärer Politiker war der erste Bildungsminister Marcelino Domingo (1884–1939), ein ehemaliger Lehrer. Die Boulevardblätter bemühten sich, die Parlamentarier einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, indem sie den Menschen hinter dem Politiker darstellten, und versuchten nach der Abdankung des Königs und nach der Emigration und dem Tod des früheren Diktators, neue demokratische Rollenmodelle zu etablieren. Die hier porträtierten Männer verkörperten neue demokratische Werte, die in scharfem Kontrast zur Prunksucht und Aufgeblasenheit der Monarchie standen. Alcalá Zamora z.B. wurde als »nüchterner und bescheidener Mann wie ein Held von Thomas Carlyle« dargestellt.19 Diese Versuche, den Spaniern durch die Darstellung der menschlichen Seite des neuen Systems und seiner wichtigsten Protagonisten eine emotionale Beziehung zur Republik zu vermitteln, waren Teil eines allgemeineren Appells, die demokratischen Versprechen der neuen Ordnung im eigenen Alltag und im eigenen gesellschaftlichen Umfeld umzusetzen. Viele Journalisten sahen in 17 18
19
Für ein frühes Beispiel siehe: Rafael N. Olivares, »Reforma de Madrid«, Crónica vom 8. 2. 1931. Siehe z.B.: »Hombres de la República. Don Marcelo Domingo«, Crónica vom 3. 5. 1931; »Hombres de la República. Don Domingo Barnés«, Crónica vom 10. 5. 1931; »Francisco Madrid, Tortosa y Marcelino Domingo«, Mundo Gráfico vom 8. 12. 1931. »La infancia de don Niceto Alcalá Zamora. El Presentimiento de un padre«, Mundo Gráfico vom 29. 12. 1931.
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dem Systemwechsel den Beginn einer neuen, solidarischen Gesellschaft. Fürsorgeeinrichtungen, Besserungsanstalten und Kinderheime sollten von »kalten«, unbarmherzigen Institutionen zu »warmen«, freundlichen und liebevollen Einrichtungen im Dienste der persönlichen Befreiung und Weiterentwicklung ihrer Bewohner umgestaltet werden. Die Sozialistin Elisa Soriano erklärte im Mai 1931, die Fürsorgeeinrichtungen, Schulen usw. sollten keine Gefängnisse für Kinder und alte Menschen mehr sein, sondern zu »Orten wahrhafter Kultur und Erholung« werden.20 Die republikanischen Kommentatoren forderten insbesondere neue republikanische Einrichtungen für Kinder, die als Werkstätten für die Errichtung einer neuen, menschlicheren Gesellschaft und die Schaffung authentischer sozialer Beziehungen dienen sollten.21 Doch die gesellschaftliche Erneuerung war nicht auf die Reform der Institutionen beschränkt, sondern beinhaltete auch eine Regeneration des Individuums. Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sollten die bisherigen hierarchischen, förmlichen und distanzierten familiären Verhältnisse überwinden und innigere, liebevollere Beziehungen begründen – zum Nutzen der Alten wie der Jungen. So drängte zum Beispiel im Jahr 1931 der Verfasser eines Artikels die Väter, alle Derbheiten ihres Charakters zu glätten und alle Impulse zu beherrschen, die nicht auf liebevollem Verständnis beruhten, damit sie zum »Berater, Freund und Beschützer« ihrer Kinder werden konnten.22 Ähnliche Gedanken kamen in einer Reihe von Interviews mit Journalisten zum Ausdruck, die das Ideal einer neuen gleichberechtigten Partnerschaft und sogar einer geistigen Union mit ihren Kindern skizzierten. Der Journalist José Montero Alonso zum Beispiel betrachtete seinen Sohn als »kleinen Freund und Kameraden« und gestattete ihm, ihn mit seinem Spitznamen »Pepe« anzureden, was Anfang der 1930er Jahre recht ungewöhnlich war. Er hoffte gar, dass sich das Verhältnis zwischen ihnen in der Zukunft zu einer »vollständigen, innigen Gemeinschaft des
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»Hacia el porvenir. Cual debe ser la labor de las mujeres en la República?«, Crónica vom 17. 5. 1931. Siehe z.B.: H. Peñaranda, »La Casa de los niños«, Mujer vom 4. 7. 1931. »Vida de Sociedad: Paternidad«, El Sol vom 1. 8. 1931.
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Strebens, der Freude und der Traurigkeit« entwickeln würde.23 In einem anderen Artikel in der bekannten republikanischen Tageszeitung El Sol wurde das neue Familienleben als Miteinander »im Geist einmütiger Kameradschaft zwischen allen Mitgliedern des Hauses« dargestellt, wo »alle sich an den häuslichen Aufgaben beteiligen«.24 In diesen Bemerkungen kam ein spezifischer republikanischer Lebensstil zum Ausdruck, mit dem die demokratisierenden Impulse aus der hohen Politik in den privaten Bereich der Familie übertragen werden sollten. Eine neue, innigere und gleichberechtigtere Familie würde zum Spiegel des neuen demokratischen Systems werden und es stärken. Insbesondere die Frauen sollten die republikanischen Werte ins Alltagsleben einführen. Im Mai 1931 brachte Crónica eine Reihe von Artikeln zur »Aufgabe der Frauen unter der neuen Republik«, in denen es hieß, jede Mutter solle »ihren Kindern durch einen demokratischen, liberalen Umgang in der Familie ein vorbildliches Konzept des gesellschaftlichen Lebens vermitteln und sie zu pflichtbewussten Bürgern erziehen«.25 Die Republik unterstützte Bemühungen, die Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu erneuern, für mehr Gleichberechtigung zu sorgen und die Bande zwischen den Ehepartnern zu vertiefen. Vielen Spaniern versprach das neue System einen Jungbrunnen für die Ehe, die ihnen längst zu einer formalen und leblosen Gesellschaftskonvention verkommen schien. Zahlreiche republikfreundliche Zeitschriften ließen in ihren Ratgeberspalten viel Raum für Diskussionen über die Auswirkungen des politischen Wandels auf das Privatleben der Bürger.26 In den ersten Monaten der Republik gingen die illustrierten Zeitschriften, die von vielen Frauen gelesen wurden, ausführlich auf die Debatten über das 23
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José Montero Alonso, »El Padre y el niño«, Crónica vom 10. 7. 1932, zit. nach Till Kössler, Demokratie und Demokratieerfahrung. Die spanische Zweite Republik (1931–1936/39) in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID __625/mid__11428/40208214/default.aspx [20. 4. 2015]. »Los Niños. Trabajo y Disciplina«, El Sol vom 26. 5. 1931, zit. nach ebenda. »Hacia el porvenir. Cual debe ser la labor de las mujeres en la República?«, Crónica vom 17. 5. 1931. Als frühes Beispiel: »La Mujer al servicio de la República«, Estampa vom 25. 4. 1931.
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Frauenwahlrecht, das neue Eherecht und das Recht auf Scheidung ein. Diese wichtigen Gesetzesinitiativen der Republik waren sehr umstritten, da sie von der katholischen Kirche entschieden abgelehnt wurden. Für die eher linksgerichteten Zeitschriften waren sie jedoch eine notwendige Voraussetzung für innigere, emotional befriedigendere Ehen, die auf der Gleichberechtigung der Partner gründeten. Für die von katholischem Denken und kirchlichen Institutionen beeinflussten Zeitschriften am anderen Ende des kulturpolitischen Spektrums bedeutete Demokratie etwas ganz anderes. Von Anfang an unterstützte nur eine kleine Minderheit katholischer Führungspersönlichkeiten die Republik. Die Mehrheit der kirchentreuen Katholiken stand dem neuen System zunächst abwartend gegenüber, entwickelte jedoch eine zusehends feindseligere Einstellung gegenüber der neuen Staatsform, als die republikanische Mehrheit die neue Verfassung stärker mit säkularem Denken füllte und im Zeitraum 1931/32 etliche antiklerikale Gesetze verabschiedete, um den Einfluss der Kirche auf das Bildungswesen und das öffentliche Leben einzuschränken. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die kirchenfreundlichen Zeitschriften kein Hohelied auf die republikanische Ordnung und ihre Vertreter sangen. Im Gegenteil, sie sahen das neue System als jüngstes Beispiel einer ganzen Reihe von antichristlichen revolutionären Erhebungen, angefangen bei der Französischen bis hin zur bolschewistischen Revolution. Für sie bedeutete Demokratie vor allem die Herrschaft des Pöbels und den Sieg niederer, verabscheuenswerter Instinkte über Vernunft und Ordnung. Die militante katholische Illustrierte Esto hielt ihren Lesern immer wieder antiklerikale Ausschreitungen und Verfolgungen in allen Teilen der Welt vor Augen und machte ihnen die verheerenden Folgen für die Gesellschaft deutlich. Außerdem brachte das Blatt regelmäßig Kurzgeschichten und Comics über die angebliche Brutalität und die Schrecken der Französischen und der Russischen Revolution und verknüpfte so die spanische Gegenwart implizit mit diesen Ereignissen. Die konterrevolutionären Bewegungen hingegen wurden glorifiziert. Im Frühjahr 1934 veröffentlichte Esto eine dokumentarisch anmutende Fortsetzungsgeschichte über die Flucht eines heldenhaften, von der bolschewistischen Erhebung aus seinem Land vertriebenen Russen quer durch
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das von Revolutionen zerrissene Europa.27 Aus dieser Perspektive drohte die Demokratie zum Zerfall der Gesellschaft und vor allem der Familie zu führen, da sie anscheinend die Bande zwischen ihren Mitgliedern schwächte. Die Frauenzeitschrift Ella schrieb, der neue Geist der Freiheit, den die Republik den Kindern eingeimpft hatte, richte in den christlichen Familien verheerenden Schaden an. Die Ermahnung, den Anweisungen und Ratschlägen der Eltern zu folgen, löste unter den Jungen nichts als »große Heiterkeit« aus: »Die kleine junge Dame von heute […] pocht auch auf ihre Freiheit; sie will sich nicht unterordnen.«28 Während die republikanische Presse das Recht auf Scheidung als großen Schritt hin zu authentischeren, liebevolleren Beziehungen begrüßte, sahen die katholischen Kolumnisten vor allem die Gefahr für die Frauen, von einem neuen Typ Ehemann, der sich nicht mehr an sein Eheversprechen gebunden fühlte, im Stich gelassen zu werden. Dieses Verständnis von Demokratie als Herrschaft der Leidenschaften und Zerfall der sozialen Ordnung hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Vorstellung, wie das Leben im neuen System aussehen werde. Katholische Leitartikel kolportierten die Einführung der Demokratie als Alarmsignal, das zur Verdoppelung der Bemühungen um Re-Christianisierung des Alltagslebens mahne. Angesichts der politischen Angriffe gegen die Kirche sei es für die Erneuerung der Gesellschaft im christlichen Sinn unerlässlich, dem Familienleben eine neue Spiritualität zu verleihen. Eine aktive, missionarische christliche Lebensführung galt als dringend notwendig, während die traditionellen, passiven und selbstgefällig wirkenden Ausprägungen des Katholizismus als veraltet und geradezu gefährlich kritisiert wurden. Genau wie in den republikanischen Blättern wurde den Müttern große Verantwortung zugewiesen. Die katholische Frauenzeitschrift Aspiraciones schrieb zum Beispiel im März 1932: »Heute gilt es die Aufmerksamkeit zu verdoppeln […]. Von ihrem Handeln in der Erziehung der Kinder kann die Zukunft Spa-
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»Un fugitivo ruso a traves de la Europa en llamas«, Esto vom 10. 5. 1934. F. Manjarrés, »Colaboración: Lo que era y lo que debe ser la familia cristiana«, Ellas vom 13. 11. 1932.
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niens abhängen.«29 Im selben Jahr rief ein anderer Kolumnist die katholischen Frauen zum Wiederaufbau von Heim und Familie auf, die »sich in unserer Gesellschaft unglücklicherweise in einer Krise befinden«.30 Weit davon entfernt, die traditionellen Lebensformen zu verteidigen, sprachen sich die katholischen Magazine für eine Erneuerung der Gesellschaft im Geist eines militanten Christentums aus. Sie wollten die Beziehungen in der Familie neu gestalten und zu einem wichtigen Bollwerk der gesellschaftlichen Ordnung gegen den demokratischen Angriff der aufsässigen Massen machen. Auch nach Ansicht der Katholiken sollte die formelle Hierarchie innerhalb der Familie durch neue, natürlichere Eltern-Kind-Beziehungen ersetzt werden, sodass sich unter Führung eines gütigen Vaters ein vertrauteres spirituelles Band entwickelt konnte. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Eltern gedrängt wurden, die profanen Tätigkeiten außerhalb der eigenen vier Wände zurückzustellen und stattdessen mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen.31 Alle Mitglieder der christlichen Familie, vor allem die Frauen, wurden dazu angehalten, sich zu verändern und zu verbessern. Die Frauen sollten nicht länger »einfältig, kleinmütig und ungebildet« sein, sondern alles tun, um sich Bildung anzueignen und die Welt jenseits des engen familiären Alltags kennenzulernen: »Der Drang nach Tätigkeit und Bildung wird kein Hindernis für die Einheit der Familie darstellen, sondern die familiären Bande stärken und zementieren.«32 Die »republikanischen« und die »katholischen« Reaktionen auf die Einführung der Demokratie hatten großen Einfluss auf die Politik der jeweiligen Parteien. Die langwierigen Auseinandersetzungen über die Säkularisierung der spanischen Gesellschaft, insbesondere über den Anspruch der Kirche, das Schulwesen, Eheschließungen, Beerdigungen und generell das öffentliche Leben zu 29
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Pilar Palacios de Hijas, »Las madres y el momento«, Aspiraciones vom 5. 3. 1932, zit. nach Till Kössler, Kinder der Demokratie. Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1936, München 2013, S. 331. Luis Sáinz de los Terreros, »La arquitectura moderna y el hogar«, Ellas vom 14. 8. 1932, zit. nach ebenda. Tirso Medina, »Cuentos de Esto: Un Hijo Modelo«, Esto vom 22. 3. 1934. Carmen Carriedo de Ruiz, »¿Puede discutirse?«, Aspiraciones vom 30. 1. 1932, zit. nach Kössler, Kinder der Demokratie, S. 165.
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kontrollieren, wurzelten in den gegensätzlichen Vorstellungen von einer neuen, demokratischen Gesellschaft.33 Die linken Strömungen, von der anarchistischen Bewegung und der Sozialistischen Partei bis zu den liberalen Republikanern, betrachteten die Kirche als das größte Hindernis auf dem Weg zu einer weniger autoritären, glücklicheren und emotional engagierten Gesellschaft und versuchten, ihren Einfluss in allen Bereichen des Lebens zurückzudrängen. Die katholischen Kreise ihrerseits sahen in der Re-Christianisierung das einzige Mittel, sich der Flut sozialer Unruhen und der politischen Tyrannei entgegenzustemmen, die sie mit der republikanischen Herrschaft verbanden. Diese erbitterten »Kulturkriege« drückten der neuen Demokratie ihren Stempel auf. Die deutliche Sichtbarkeit dieser Konflikte verwischte jedoch die gesellschaftlichen Grenzlinien, entlang derer die gegensätzlichen Ansichten aufeinandertrafen, und verleitete die Historiker dazu, die kulturelle Fragmentierung der spanischen Gesellschaft vor dem Bürgerkrieg zu überschätzen. An dieser Stelle seien an zwei Beispielen die Grenzen der Wahrnehmung aufgezeigt, die den Mobilisierungsbemühungen beider Gruppen im Weg standen. Zum einen lässt eine Analyse der illustrierten Presse deutlich die Grenzen der Reformbegeisterung erkennen. Bis zum Bürgerkrieg rückte die Erinnerung an die öffentlichen Freudenfeiern nach der Ausrufung der Republik im April 1931 im öffentlichen Diskurs zunehmend in den Hintergrund. Im April 1932 brachten die Magazine, die die neue politische Ordnung unterstützten, ausführliche Beiträge zum ersten Jahrestag der Republik und versuchten so, die Atmosphäre der entscheidenden Tage, die zum Sturz der Monarchie geführt hatten, wiederaufleben zu lassen.34 Aber die Versuche, das neue politische System populär
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Feliciano Montero/Julio de la Cueva Merino (Hg.), Laicismo y catolicismo. El conflicto político-religioso en la Segunda República, Alcalà de Henares 2009; Mary Vincent, Catholicism in the Second Spanish Republic. Religion and Politics in Salamanca 1930–1936, New York 1996. »Primer aniversario de la segunda República Española«, Crónica vom 10. 4. 1932; »Los últimos días de la Monarquía«, Crónica vom 10. 4. 1932; »Aniversario«, Crónica vom 17. 4. 1932; »El 12, el 13 y el 14 de abril 1931 vistos desde Paris«, Estampa vom 16. 4. 1932; »La Segunda Aurora de la República«,
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zu machen und Massenveranstaltungen zur Stärkung der Demokratie zu etablieren, waren nicht sehr erfolgreich. Anfang April 1932 veranstalteten republikanische Kräfte in Valencia, einer ihrer traditionellen Hochburgen, einen großen öffentlichen Empfang für Präsident Alcalá Zamora, zu dem sich eine große Menschenmenge drängte.35 Doch das war eine Ausnahme. Im Allgemeinen fanden nur wesentlich kleinere Feiern statt. Oft beschränkten sie sich auf die Einweihung öffentlicher Gebäude, insbesondere von Schulen, oder auf die Kür einer »Miss República« in Schönheitswettbewerben, wie sie Anfang der 1930er Jahre sehr beliebt waren.36 In den folgenden Jahren verschwanden selbst diese zaghaften Versuche, eine neue demokratische Kultur öffentlicher Gedenkfeiern zu etablieren, aus der öffentlichen Wahrnehmung. Im April 1933 mussten die Initiatoren entsprechender Veranstaltungen einräumen, dass der zweite Jahrestag der Republik von der Bevölkerung kaum mehr zur Kenntnis genommen wurde.37 Diese Gleichgültigkeit spiegelte sich in den Illustrierten wider. Selbst Crónica brachte aus Anlass des Jahrestags lediglich zwei Interviews mit hochrangigen republikanischen Politikern. Dort ging es vor allem um die Errungenschaften der Republik, aber auch um Fehler der Regierung; von öffentlichen Feiern war hingegen nicht die Rede. In den folgenden Jahren und selbst im politisch turbulenten Frühjahr 1936, als nach den Wahlen im Februar eine Volksfrontregierung ins Amt kam, blieb der Jahrestag der Republik weitgehend unbemerkt. Stattdessen berichteten fast alle Zeitschriften ausführlich über das Wahlverfahren für die alljährliche Miss-Spain-Wahl und über die Vorbereitungen zu den spektakulären Osterprozessionen in Andalusien.38 Auch die katho-
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Mundo Gráfico vom 13. 4. 1932; »Miss República en Valencia«, Mundo Gráfico vom 20. 4. 1932. »Valencia tributa un grandioso homenaje al presidente de la república«, Estampa vom 9. 4. 1932. »Arturo Menéndez en la Cárcel«, Mundo Gráfico vom 12. 4. 1933; »De las fiestas commemorativas del segunda aniversario de la República«, Mundo Gráfico vom 19. 4. 1933. »En el segundo aniversario de la proclamación del nuevo régimen«, Crónica vom 9. 4. 1933 und 16. 4. 1933. Ausnahmen bildeten 1935 eine kurze Meldung über die Wahl einer »Miss Democracy« in Valencia, und 1936 ein Beitrag zur Absetzung des ersten Prä-
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lische Interpretation der Republik hatte klare soziale Grenzen. In der illustrierten Presse spielte sie kaum eine Rolle und war faktisch auf die Zeitschriften beschränkt, die von der katholischen Kirche finanziert wurden. Selbst in Blanco y Negro, einem dezidiert gegen die Republik positionierten Blatt, hinterließ die katholische Sichtweise kaum Spuren. Auch die katholischen Bemühungen, eine starke gesellschaftliche Gegenbewegung gegen das neue System zu etablieren, scheiterten bereits im Ansatz. Elternorganisationen und lokale Interessengruppen, die sich für den Erhalt katholischer Schulen einsetzten, erhielten kaum nennenswerte Unterstützung und entwickelten keine politische Zugkraft.39 Diese Feststellungen legen die Vermutung nahe, dass im öffentlichen Diskurs neben den beiden Polen des republikanischen und des katholischen Standpunkts auch eine breite Mittelposition existierte. Deren Demokratieverständnis war keinem politischen Lager zuzuordnen, vielmehr beeinflusste es seinerseits das Denken der rechten und der republikanischen kulturellen Milieus. Die Kolumnisten dieser Gruppe sahen die Einführung der Demokratie vor allem als Durchgangsphase hin zu einer meritokratischen Leistungsgesellschaft, die mit der Abschaffung traditioneller Bräuche und Privilegien verbunden war. Aus dieser Perspektive heraus eröffnete das neue System einerseits neue Chancen für persönliche Befreiung und sozialen Aufstieg, stellte die Spanier andererseits aber auch vor neue Herausforderungen, denn nun mussten sie sich in einer von mehr Konkurrenz und sozialen Kämpfen geprägten Welt behaupten. Die neue Demokratie bot dem Einzelnen die Chance, einen Neuanfang zu wagen, die bisherigen Lebensgewohnheiten mit all ihren Einschränkungen und Grenzen abzustreifen und die eigene Persönlichkeit frei zu entfalten; sie zwang ihn aber gleichzeitig, mit dem Zeitgeist Schritt zu halten und sich dem grenzenlosen Wettbewerb um Einfluss und Erfolg zu stellen.
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sidenten der Republik, Alcalá Zamora: »La selección de las bellezas…«, Mundo Gráfico vom 10. 4. 1935; »El presidente destituído«, Mundo Gráfico vom 15. 4. 1936. Für eine ausführlichere Darstellung siehe Kössler, Kinder der Demokratie, S. 295–306.
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Die Einführung der Demokratie wurde in den Zeitschriften von zahlreichen Berichten, Kommentaren und Werbeanzeigen begleitet, die die neuen Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung betonten und Menschen porträtierten, die sich auf den Weg nach oben machten. Bildung wurde zum zentralen Instrument der Befreiung von den alten Zwängen und Traditionen. So wurde das Leben von Kinderdarstellern in Hollywood geschildert, die in Kinofilmen mitspielten und neben den Dreharbeiten in speziellen Internaten eine hervorragende Ausbildung erhielten, aber auch neue Techniken zur Frühförderung von Kleinkindern im Schlaf mittels Kopfhörern. Im Anzeigenteil der Zeitschriften verkündete eine rasch wachsende Zahl von Weiterbildungsinstituten, jeder verfüge über »unerkannte Talente«, die es zu entdecken und zu fördern gelte.40 Die Republik schien vor allem den Frauen neue Chancen zu bieten, und die Boulevardpresse brachte unabhängigen Frauen, die erfolgreich ihren Weg gingen, großes Interesse entgegen. So befasste sich ein Artikel sehr wohlwollend mit einer amerikanischen Mutter, die sich zusammen mit ihrer Tochter in der High School anmeldete, um die eigenen verpassten Bildungsmöglichkeiten nachzuholen.41 Die neue Gesellschaft eröffnete neue Möglichkeiten für die persönliche Weiterentwicklung, hielt aber auch für jeden Einzelnen neue Risiken bereit. Diese Ambiguität von Hoffnungen und Ängsten war Gegenstand der wöchentlichen Spalten der einflussreichen Kolumnistin Teresa de Escoriaza, die vor allem in Mundo Gráfico publizierte. Im Frühjahr 1931 warb sie in ihrer Kolumne fast wöchentlich für ein neues gegenseitiges Verständnis der Ehepartner und ermutigte die Frauen, ihre »Talente zu entfalten«. In den fol-
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»Advertisement Psychology Foundation«, Mundo Gráfico vom 1. 12. 1931. Siehe z.B. auch »Advertisement: Restablezca el vigor juvenil«, Crónica vom 17. 5. 1931; »Instituto Cervera«, Mundo Gráfico vom 1. 12. 1931; »Quiere usted aprender idiomas?« [Möchten Sie Sprachen lernen?], Mundo Gráfico vom 8. 12. 1931. Carmen F. de Lara, »La pintoresca vida de Norteamerica«, Estampa vom 20. 6. 1931; Teresa de Escoriaza: »Pagina de la Mujer«, Mundo Gráfico vom 26. 1. 1932. Siehe auch die Artikelreihe mit dem Titel »Qual es su mayor defecto, según usted mismo? Y que mérito admira usted más, y en quién?« [Was halten Sie für Ihren größten Mangel? Und welche Tugend bewundern Sie am meisten, und an wem?], Crónica vom 8. 7. 1931.
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genden Monaten wiederholte sie immer wieder die Aufforderung: »Bildet euch weiter und immer weiter.«42 Darin schwangen jedoch düstere Untertöne mit. De Escoriaza wollte, dass die Frauen sich zu unabhängigen Individuen entwickelten, aber gleichzeitig sollten sie Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Altersarmut nach dem möglichen Tod ihres Ehemannes vermeiden. Viele Kolumnisten zeichneten ein äußerst mehrdeutiges Bild der neuen demokratischen Ära. Die Aufgabe der Familie schien vor allem darin zu bestehen, allen ihren Mitgliedern die nötigen Ressourcen für ein erfolgreiches Leben bereitzustellen. In den Ratgeberspalten wurden die Eltern angehalten, ihre Kinder zu hart arbeitenden, durchsetzungsfähigen Menschen zu erziehen, die in einer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft bestehen konnten. So tadelte de Escoriaza immer wieder Mütter, die ihre Kinder verhätschelten und überbehüteten. Das sei schädlich, weil diese so nicht lernten, Widrigkeiten zu trotzen und für die eigenen Interessen zu kämpfen. Damit sie erfolgreich würden, müsse man die Kinder »zum Triumph im Leben anstacheln« und sie lehren, Nachteile wie Armut »nicht als Hindernis, sondern als Stimulus zu sehen, um im Leben zu triumphieren«.43 Diese Vorstellung von einem Durchbruch zu einer leistungsorientierten Gesellschaft mit darwinistischen Zügen beschränkte sich nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder ein bestimmtes Lager, sondern fand sich in den meisten illustrierten Zeitschriften wieder. Die Grenzen zwischen den verschiedenen ideologischen Kulturen waren nicht starr, sondern fließend. Mochten die politischen Implikationen dieser Wahrnehmung auch sehr unterschiedlich sein, so betonten doch alle Zeitschriften die Notwendigkeit, den Einzelnen zu trainieren, sich an eine neue, dezidiert nicht an Traditionen orientierte Gesellschaftsordnung anzupassen. Selbst aus konservativen, katholischen Kreisen wurde der Wunsch laut, dass Einzelne wie Familien ihren Lebensalltag rationaler gestalte-
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Siehe insbesondere: Teresa de Escoriaza, »Pagina de la Mujer. Epostolario«, Mundo Gráfico vom 13. 5., 20. 5. und 27. 5. 1931. Zitate vom 20. 5. 1931 und 26. 1. 1932. Teresa de Escoriaza, »Pagina de Mujer. Epistolario«, Mundo Gráfico vom 16. 11. 1932; dies., »Página de Mujer: Epistolario«, Mundo Gráfico vom 9. 5. 1934, zit. nach Kössler, Kinder der Demokratie S. 334.
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ten. In Esto, um ein extremes Beispiel zu nennen, stand die religiöse Mobilisierung der Familie einträchtig neben Bemühungen, das Familienleben und die Erziehung der Kinder zu modernisieren. Eltern wurden ermahnt, den schulischen Erfolgen ihrer Kinder mehr Beachtung zu schenken und ihnen so die Chance auf ein erfolgreiches Leben zu eröffnen. Es wurde für eine moderne Gesundheitserziehung geworben und dargestellt, wie eine moderne Familie wohnen sollte, mit Kinderzimmern, die die geistige Entwicklung des Nachwuchses optimal förderten. Überraschenderweise enthielten diese Beiträge keine religiösen Bezüge, sondern sie skizzierten ein modernes, rationales pädagogisches Umfeld.44
Von der Hoffnung zur Verzweiflung Die Forschung ist sich seit Langem einig, dass die geringen Chancen auf einen demokratischen Kompromiss und auf Stabilisierung der demokratischen Regierungsform schon in den ersten Jahren der Zweiten Republik dahinschwanden, da heftige Streikwellen, Aufstände und »Kulturkriege« um Fragen der Säkularisierung, der Frauenrechte und der Rolle des Militärs die Gräben zwischen den wichtigsten politischen Kräften vertieften und verhinderten, dass die Demokratie eine solide Unterstützerbasis erhielt. Der gescheiterte Putschversuch eines konservativen Generals im Jahr 1932, das Wiedererstarken der politischen Rechten bei den Parlamentswahlen 1933 und die anschließenden, zwei Jahre währenden Bemühungen, eine arbeitsfähige Koalition rechts der politischen Mitte zu etablieren, führten zu einer ganzen Reihe von Streiks und Unruhen; der bekannteste war der Generalstreik im Oktober 1934, der von wichtigen Gruppen der sozialistischen Partei unterstützt wurde und in Asturien zum Teil erfolgreich war. Während die fehlgeschlagene Revolution die Ängste der politischen Rechten vor einer regelrechten »bolschewistischen« Revolution verstärkte, führte die Nieder44
José Luis de Arrese (Architekt), »El Hogar. El cuarto de los niños«, Esto vom 31. 5. 1934; KAY, »La Vida de nuestros hijos. Puericultura, Ciencia Moderna«, Esto vom 25. 10. 1934; KAY, »La Vida de nuestros hijos. Jugando«, Esto vom 1. 11. 1934.
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schlagung des Bergarbeiterstreiks durch das Militär zur weiteren Verbitterung der politischen Linken und bereitete so den Weg für eine Konfrontation der »Volksfront« und der »Nationalen Front« bei den Wahlen von 1936. In der Boulevardpresse führten diese politischen Entwicklungen nicht zu einer Polarisierung der Demokratievorstellungen – die Medien waren weiter durch drei einander überlappende Standpunkte zur demokratischen Ordnung geprägt. Allerdings war die Erfahrung der Demokratie in den republikanischen Jahren keineswegs statisch, sondern unterlag erheblichen Veränderungen. Dies gilt ganz besonders für die »republikanischen« Positionen und die der »Mitte«. Der Optimismus des »republikanischen« Lagers schwächte sich nach 1932 deutlich ab und wich einer eher düsteren Sicht des Lebens in der neuen Staatsform. Auch in der »Mitte« kreisten die Gedanken am Ende der republikanischen Ära weniger um die Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung, sondern eher um die Last, die die neue Ordnung dem Einzelnen auferlegte. De facto bewegten sich die beiden Positionen aufeinander zu. Die anfängliche Begeisterung über die Einführung der Demokratie erwies sich selbst bei den überzeugten Befürwortern der republikanischen Ordnung als kurzlebig. Schon Ende 1931 zeichneten einige republikfreundliche Kolumnisten ein eher düsteres Bild vom Alltagsleben in Spanien, das nicht mehr viel mit dem Optimismus der ersten Wochen und Monate der neuen Republik gemein hatte. Ein gutes Beispiel für diesen Wandel ist ein Leitartikel des Publizisten Antonio Zozaya in der Zeitschrift Mundo Gráfico vom Dezember 1931. Er sieht die Einführung der Republik nicht mehr als Resultat der Emanzipation eines Volkes, sondern als Teil eines längeren säkularen Entwicklungsprozesses ohne individuelle Einflussmöglichkeiten, der sich am besten als naturgeschichtlicher Prozess beschreiben lässt: »Die Welt durchläuft eine ungeheuerliche und schmerzhafte Krise […] und leidet Geburtswehen und Entbindungsschmerzen.«45 Die Einführung der Demokratie ist für ihn ein 45
Antonio Zozaya, »El Imposible Regreso«, Mundo Gráfico vom 1. 12. 1931, zit. nach Kössler, Demokratie und Demokratieerfahrung, http://www.euro pa.clio-online.de/site/lang_ _de/ItemID_ _626/mid_ _12196/40208768/Def ault.aspx[20. 4. 2015].
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schmerzhafter, aber notwendiger Sprung in eine ungewisse Zukunft, dessen Folgen erst viel später abzusehen sind. Der Fortschritt wird als anonyme Naturgewalt dargestellt, die Traditionen zerstört, über Gesellschaften hinwegfegt und den Einzelnen mit nie dagewesenen Herausforderungen konfrontiert. Zozaya nennt weder spezifisch demokratische Errungenschaften, noch preist er die Demokratisierung als Schritt auf dem Weg zu einer menschlicheren, solidarischeren Gesellschaftsordnung. Vielmehr betrachtet er die Geschichte des Menschen aus der Vogelperspektive und sieht die Republik als notwendigen, durch strukturelle Umbrüche erzwungenen Entwicklungsschritt: »Wir Menschen können uns nicht von den Gesetzen der Physik lösen. […] Wir können nicht zurück.« Ganz offensichtlich will Zozaya seine Leser dazu bewegen, nicht in nostalgischer Verklärung auf vergangene Zeiten zurückzuschauen, sondern sich an die neue Ordnung anzupassen und sie sich zu eigen zu machen. Dabei schlägt er jedoch einen eher resignierten Ton an und ruft den Lesern in Erinnerung, dass jeder Fortschritt in der Geschichte der Menschheit von Chaos und Schmerz begleitet war: »Es gilt sich anzupassen oder unterzugehen […]. Wir sind nicht unsterblich und müssen uns darin schicken, dass die Zeit uns tötet.«46 Dieser freudlose Blick auf die neue demokratische Ordnung war sicherlich den gewaltsamen Konflikten und Aufständen geschuldet, die die Republik seit ihrer Gründung erschütterten, er zeugte jedoch auch von einer allgemeineren Sorge um den Zustand der Welt inmitten der Großen Depression, die sich auch in Spanien bemerkbar machte. Auch macht er deutlich, dass viele Spanier, die der Republik positiv gegenüberstanden, angesichts der aktuellen Krisen und Ängste mit Wehmut auf die Vergangenheit blickten. Zumindest den Intellektuellen, die in den Illustrierten die aktuelle Lage der Gesellschaft kommentierten, erschien es vor diesem Hintergrund plausibel, die Gegenwart als Zeit der Bedrängnis, der Mühsal und der erzwungenen Anpassung zu beschreiben. Als die Freudenfeiern vom April 1931 langsam aus dem kollektiven Gedächtnis verschwanden, rückten trostlosere Bilder über das Leben im demokratischen Spanien in den Vordergrund. Auch die Zukunftsaussichten trübten sich ein, und die gesellschaftspolitischen 46
Ebenda.
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Kommentare bekamen einen tragischen, fatalistischen Unterton. Bezeichnenderweise brachte das bekannte illustrierte Wochenmagazin Estampa im April 1933, eine Woche vor dem zweiten Jahrestag der Republik, einen langen Beitrag über das von Armut und Kriminalität geprägte Unterwelt-Milieu von Barcelona, in dem das Leben der Bettler, Kleinkriminellen und Prostituierten im Zentrum der katalanischen Hauptstadt beschrieben wurde.47 Dieser Artikel, Teil einer ganzen Serie über die Mühsal der spanischen Unterschicht, stand in krassem Gegensatz zu den optimistischen Beiträgen über die Umgestaltung des Alltagslebens und der sozialen Institutionen, die 1931 und Anfang 1932 erschienen. Die Protagonisten einer Humanisierung des Landes sahen ihre hohen Erwartungen enttäuscht, denn die Umsetzung der Sozialreformen verlief zögerlich und wurde oft durch die Massenabwanderung in die Ballungsgebiete und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die die Armut in den Städten weiter verschärfte, wieder zunichte gemacht. 1935 und 1936 wurden in zahlreichen Artikeln die wachsende Zahl von Straßenkindern und die nach wie vor erschreckenden Zustände in vielen Fürsorgeeinrichtungen angeprangert. So kritisierte im März 1935 in der Zeitschrift Crónica ein Kommentator die Sozialpolitik der Hauptstadt: »Oh Madrid! Nichts Neues: Die Hauptstadt der Republik sollte ein Vorbild sein, doch dem ist nicht so. Wie bei allen wichtigen Problemen dieses Landes ist auch im speziellen Fall der Kindersterblichkeit noch nichts geschehen.«48 Zur großen Enttäuschung der Republikaner war die Republik nicht in der Lage, die Situation gerade ihrer schwächsten Mitglieder zu verbessern. Der Zukunftsoptimismus schwand dahin. Die Kolumnisten sprachen nicht mehr von den Chancen auf individuellen Aufstieg und persönliches Glück unter der neuen Staatsform, sondern von den Herausforderungen und Zumutungen, die mit dem Leben in einer modernen Gesellschaft verbunden waren. So wies Teresa de Escoriaza kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs die spanischen Eltern darauf hin, dass sie die Pflicht hatten, ihre Kinder gegen das geVicente Sánchez-Ocaña, »El hampa sobre Barcelona«, Estampa vom 8. 4. 1933. 48 A. de C., »En favor de los niños abandonados o explotados«, Crónica vom 31. 3. 1935. 47
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genwärtige »soziale Chaos« zu impfen, damit sie widerstandsfähig wurden, und ihnen eine stoische Haltung anzutrainieren. Die neuen Generationen sollten lernen, den gesellschaftlichen und geistigen Verwerfungen ohne Zurückweichen und ohne Resignation zu begegnen: »Anstatt den Kopf senken zu lassen, müssen sie genötigt werden, dem Schicksal die Stirn zu bieten. Sie müssen lernen, zu sehen, zu widerstehen, zu kämpfen und zu siegen.«49 Diese Haltung lässt sich indes keinem spezifischen politischen Lager zuordnen. Sie wurde nicht nur von einem großen Teil der republikfreundlichen Menschen geteilt, denen die Sozialreformen nicht schnell genug vonstatten gingen. Auch viele Katholiken und Konservative, die sich durch das neue System unterdrückt fühlten, vertraten den Standpunkt, »moderne« Eltern sollten in die persönlichen Begabungen ihrer Kinder investieren und sie zu starken und erfolgreichen Persönlichkeiten erziehen.50
Schluss Zwar waren die Hoffnungen auf eine bessere, menschlichere Zukunft nicht gänzlich verschwunden. So schrieb etwa Rafael Suarez Solis Anfang Januar 1936 in Crónica, Kinder seien eine Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft und menschlichere Beziehungen, weil sie den Erwachsenen zeigten, wie »reduziert ihr Leben geworden ist«.51 Doch diese bessere Gesellschaft wurde zusehends in eine immer fernere Zukunft verschoben und in einen starken Kontrast zur düsteren Gegenwart gesetzt. Überdies vollzog die republikfreundTeresa de Escoriaza, »Página de la Mujer. Epistolario«, Mundo Gráfico vom 3. 6. 1936, zit. nach Kössler, Demokratie und Demokratieerfahrung, http:// www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__626/mid__12196/4020 8768/Default.aspx [20. 4. 2015]. 50 KAY, »La Vida de nuestros hijos. Puericultura, Ciencia Moderna«, Esto vom 25. 10. 1934. Siehe auch: »La vida de nuestros hijos. La educación debe empezar con la primera sonrisa, dice el doctor Víctor Pauchet«, Esto vom 15. 11. 1934; KAY, »La vida de nuestros hijos. ›Jardineras‹ de niños«, Esto vom 13. 12. 1934. 51 Rafael Suarez Solis, »Juguetes de los niños y juguetes de los hombres«, Chronica, 5. 1. 1936. 49
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liche Boulevardpresse eine Wende und setzte sich nun mit neuer Begeisterung für drastischere Staatsinterventionen ein, um die zutage getretenen sozialen Probleme zu beheben. So erklärte der Publizist Antonio Zozaya Ende 1935, die Familie als soziale Institution sei gescheitert und zur Herausbildung einer neuen Gesellschaft müsse der Staat eine aktivere Rolle übernehmen: »In dem Maße, in dem sich mit der Intensivierung der Kultur die Ansprüche an die Erziehung erhöhen, ist die Familie, die in einem zunehmenden Prozess der Auflösung begriffen ist, immer weniger geeignet, diese zu leiten. […] Aber heutzutage, um zivilisierte Menschen (hombres cultos) zu formen, braucht es eine höher entwickelte Kunst, […] die nur die Gesellschaft […] und der Staat mit seiner Macht bereitzustellen in der Lage ist.«52 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die große Begeisterung republikanischer Kreise für das im Frühjahr 1936 uraufgeführte Theaterstück Nuestra Natacha des ehemaligen Volksschullehrers Alejandro Casona. Die Protagonistin, eine junge Lehrerin, bricht mit ihren Schülerinnen aus einer gefängnisartigen Klostereinrichtung aus und gründet mit ihnen eine utopische Reformkolonie auf dem Land.53 Diese Idealvorstellungen von einer besseren Zukunft nach einem klaren Bruch mit den bestehenden Institutionen und Traditionen erreichten ihren Höhepunkt in den ersten Monaten des Bürgerkriegs nach dem Militärputsch vom Juli 1936, als unzählige republikanische Gruppen durch die Schaffung neuer und besserer Fürsorgeeinrichtungen und Schulen die Sozialpolitik radikal reformieren wollten.54 Doch die Enttäuschung über die republikanische Staatsform mündete nicht immer in die Forderung nach einer Revolution oder einem radikalen Systemwechsel. Der öffentliche Diskurs blieb ambivalent. So mahnte de Escoriaza bei all ihrer radikalen Rhetorik der Krise und des Widerstands im Juni 1936, die Spanier sollten sich »auf die Umstände einstellen, wie sie sind [und] die Gegenwart ak-
52
53 54
Antonio Zozaya, »Del ambiente y de la vida. Niños fugitivos«, Mundo Gráfico vom 7. 11. 1935, zit. nach Kössler, Kinder der Demokratie, S. 326; siehe auch: J. Aymami-Serra, »En Montgat existe una colonia de huérfanos«, Mundo Gráfico vom 15. 7. 1936. Rafael Suarez Solis, »Nuestra Natacha«, Crónica vom 16. 2. 1936. Kössler, Kinder der Demokratie.
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zeptieren, wie sie ist«.55 Auch Antonio Zozaya schlug in seinem Artikel nicht einen radikalen Politikwechsel vor, sondern äußerte allgemeine Kritik an der modernen Familie mit ihren Mängeln. Insgesamt lässt sich in der Boulevardpresse nicht einmal in der politisch aufgeheizten Atmosphäre des Frühjahrs 1936 eine dezidierte Polarisierung der Meinungen erkennen. Vielmehr diskutierten fast alle Kolumnisten die Mängel der modernen Gesellschaft und mögliche Lösungsansätze, ohne sich auf eine spezifische politische Ordnung zu beziehen. Hier scheinen zwei Deutungslinien möglich. Zum einen war, wie manche Historiker argumentieren, der Weg in den Bürgerkrieg keine Einbahnstraße. Selbst 1936 existierten noch Alternativen zu gewalttätiger Konfrontation und Krieg, und die Straßenschlachten im Frühjahr 1936 waren nicht notwendigerweise ein Zeichen für den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Es gibt sogar einige Hinweise darauf, dass die politischen Spannungen in den Wochen vor dem Putsch etwas nachließen.56 Bei allen Diskussionen der Historiker über das konkrete Ausmaß des Zusammenbruchs der demokratischen Verfahren und Institutionen im Frühjahr 1936 ist es doch erstaunlich, wie wenig Raum die Boulevardpresse der Politik in den Monaten und Wochen vor dem Militärputsch 1936 gab. Estampa, um nur ein Beispiel zu nennen, ging selbst in der ersten Ausgabe nach Ausbruch des Bürgerkriegs mit keiner Silbe auf parteipolitische Aktivitäten ein. Mundo Gráfico brachte in der Ausgabe vom 15. Juli zwar an prominenter Stelle einen Beitrag zum Attentat auf den führenden rechten Politiker Calvo Sotelo (eines der Ereignisse, die zum Putsch führten), doch in den wichtigsten Artikeln, darunter ein langer Bericht über die Tour de France, spielte die aktuelle Politik kaum eine Rolle. In der Woche davor hatte es kein Wort zur spanischen Innenpolitik gegeben. De Escoriaza ging in ihrer Kolumne der Frage nach, welche Vor- und Nachteile das Geschlecht eines Kindes für die Familie hatte. Crónica wiederum publizierte in der letzten Ausgabe vor dem Bürgerkrieg einen langen Beitrag zur »Miss Coruña 1936« und konzenTeresa de Escoriaza, »Página de la Mujer. Epistolario«, Mundo Gráfico vom 3. 6. 1936. 56 Für eine differenziertere Darstellung siehe Mary Vincent, Spain, 1833–2002. People and State, Oxford 2007. 55
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trierte sich in einem Bericht über Streiks auf die »pittoresken Aspekte« der Arbeiterproteste.57 Bis zum allerletzten Augenblick bemühten sich die Illustrierten, ein von politischen Kämpfen und Gewalt unberührtes Bild von der Welt und der Gesellschaft zu zeichnen. Insgesamt war das Demokratieverständnis nach wie vor von der »Mitte« beherrscht. Dies bedeutete aber auch, dass die Bindungen an die Republik als Staatsform nicht sehr fest waren. Selbst in der »progressiven« Boulevardpresse sprachen die Kommentatoren so gut wie nie von der Verteidigung der Demokratie oder von demokratischen Rechten. Unabhängig davon, für welches Blatt sie schrieben, interessierten sich die meisten Kolumnisten nur insoweit näher für das bestehende politische System, als es den sozialen Fortschritt und die Behebung der wahrgenommenen gesellschaftlichen Mängel versprach. Gerade die Positionen der politischen Mitte mit ihrer Betonung von individuellem Kampf und persönlichem Fortschritt ließen sich gut in verschiedene politische Projekte oder Systeme einbinden. Festzuhalten bleibt, dass die Demokratieerfahrung weitaus vielfältiger war, als die aktuelle historische Forschung nahelegt. Gewiss fanden sich in den 1930er Jahren in Spanien nur wenige dezidierte Befürworter eines liberalen demokratischen Systems. Das bedeutet aber nicht, dass es eine politische Polarisierung und Radikalisierung gab, die so stark auf alle gesellschaftlichen Bereiche, Beziehungen und Visionen eingewirkt hätte, dass keine Alternative blieb als das Abgleiten in den Krieg. Ohne Zweifel kam es in vielen Regionen und auch innerhalb bestimmter politischer Gruppierungen tatsächlich zu einer Radikalisierung, doch eine genauere Analyse der illustrierten Zeitschriften zeigt, dass der Politisierung und Polarisierung auch klare Grenzen gesetzt waren. Die Boulevardpresse reflektierte eine öffentliche Sphäre, die von Konsum und Freizeit geprägt war und sich über die politischen Milieus hinweg erstreckte, und schuf sie bisweilen sogar selbst. Gleichzeitig spiegelte diese Presse aber auch unterschiedliche Erfahrungen mit der 57
»El lado pintoresco de las huelgas«, Crónica vom 5. 7. 1936; »Miss Coruña 1936«, Crónica vom 12. 7. 1936; Teresa de Escoriaza, »Página de la Mujer«, Mundo Gráfico vom 15. 7. 1936.
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neuen Republik und unterschiedliche Erwartungen an sie wider, die sich nicht klar nach Parteizugehörigkeit trennen ließen. In der neuen Gesellschaft existierten konträre Lebensentwürfe, es gab aber auch eine breite Position der »Mitte«, die bis weit ins nationalistische und katholische Lager reichte und selbst in die liberal-republikanischen Medien vordrang. Diese Mitte erwartete von der neuen demokratischen Ordnung einen rationaleren, stärker leistungsorientierten Ansatz. Sie war nicht antidemokratisch, da sie Demokratie als vor allem antitraditionell und meritokratisch begriff, doch sie fühlte sich nicht zwingend an demokratische Werte und Institutionen gebunden. In einer weiteren Perspektive ist festzustellen, dass sich dieser Teil der öffentlichen Meinung nach 1939 ohne allzu große Probleme an das Franco-Regime anpassen konnte. Nach Jahren von gefühltem und realem Aufruhr und immer höheren Anforderungen an den Einzelnen und an die Familie mögen viele Angehörige der spanischen Mittelschicht das autoritäre Regime allein deshalb willkommen geheißen haben, weil es für eine stabilere gesellschaftliche Ordnung mit geringeren Anforderungen an den Einzelnen sorgte. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
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Jason Scott Smith
Der New Deal als demokratisches Projekt Die Weltwirtschaftskrise und die Vereinigten Staaten
Der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems, der sich Ende der 1920er Jahre abzeichnete, war ein globales Phänomen und zog sich über mehrere Jahre hin. Zahlreiche Länder weltweit gerieten in den Sog des internationalen Wirtschafts- und Geldsystems, dem ein glaubwürdiger »Kreditgeber letzter Instanz« fehlte, ein Land also, das in der Lage wäre, die Weltwirtschaft wieder zu stabilisieren. Der internationale Handel erlahmte, als die Staaten die Hoffnung auf die Rettung der globalen wirtschaftlichen Stabilität fahren ließen und stattdessen versuchten, die eigene Volkswirtschaft am Leben zu erhalten. In dieser Abwärtsspirale bemühten sie sich, leider oft vergeblich, durch Anhebung der Zölle und Abwertung der eigenen Währung kleine Inseln der Stabilität inmitten eines Orkans der weltweiten Depression zu schaffen. In den USA führte die rasante Zunahme von Privatkonkursen, Bankenpleiten und Zwangsversteigerungen von Landwirtschaftsbetrieben sowie der astronomische Anstieg der Arbeitslosenquote zu einer beunruhigenden und flächendeckenden Vertrauenskrise in die grundlegenden Institutionen, die eine Gesellschaft zusammenhalten. 1932 trat der Unmut auch innerhalb des politischen Systems zutage. In diesem Wahljahr erklärte der republikanische Senator David Reed aus Pennsylvania: »Wenn dieses Land je einen Mussolini gebraucht hat, dann jetzt.«1 Die Menschen machten ihrer tiefen und umfassenden Unzufriedenheit mit Präsident Herbert Hoover
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Die Weltwirtschaftskrise und die Vereinigten Staaten
Luft und wählten ihn mit klarer Mehrheit aus dem Amt. Sein Nachfolger, Franklin Delano Roosevelt, sollte die Nation aus der tiefen 1 Depression herausführen. Roosevelts Antrittsrede zu seiner ersten Amtseinführung ist unvergessen wegen seines Ausspruchs »Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst«, doch den meisten Applaus erhielt er für die Erklärung, dass er bereit sei, die normalen demokratischen Verfahren außer Acht zu lassen und alle Vollmachten auszuschöpfen, mit denen die Verfassung das Präsidentenamt ausgestattet hatte, um die Wirtschaftskrise wie einen Krieg zu bekämpfen. Seine Frau Eleanor war vom enthusiastischen Beifall der Massen geradezu beunruhigt. »Es war sehr, sehr feierlich«, erinnerte sie sich, »und auch furchteinflößend. Die Menschenmenge war so gewaltig, und man spürte, diese Leute würden alles tun, wenn ihnen nur jemand sagte, was zu tun war! Ich spürte es genau, denn als Franklin zu dem Teil seiner Rede kam, in dem er sagte, er werde möglicherweise auf Vollmachten zurückgreifen müssen, die einem Präsidenten normalerweise nur in Kriegszeiten zustanden, bekam er den meisten Zuspruch.«2 Die Weltwirtschaftskrise traf alle Industrienationen gleichermaßen, doch nicht alle reagierten auf die gleiche Weise. Großbritannien hielt an seiner parlamentarischen Demokratie fest, und Premierminister James Ramsay MacDonald griff nur zögerlich ins Wirtschaftsgeschehen ein, während andere Länder heftigere Verwerfungen erlebten. In Italien nutzte Benito Mussolini die Krise zur Konsolidierung seiner Herrschaft, indem er die Zölle drastisch anhob und umfangreiche Infrastrukturprojekte einleitete (wie etwa die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe), um Arbeitsplätze zu schaffen. In Deutschland ebnete die Weltwirtschaftskrise Adolf Hitler den Weg und beschleunigte die Errichtung der NS-Diktatur, und John Maynard Keynes’ Befürchtung, der einzige Erfolg des Vertrags von Versailles werde darin bestehen, eine neue globale Instabilität auszulösen, sollte sich bewahrheiten. Nach Errichtung 1 2
Zit. nach Ira Katznelson, Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013, S. 12. Zitat von Eleanor Roosevelt nach: Jason Scott Smith, A Concise History of the New Deal, New York 2014, S. 37.
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einer Ein-Parteien-Diktatur und Zerstörung der demokratischen Institutionen legte auch Hitler ein Infrastrukturprojekt auf (Stichwort Autobahn) und ließ seinen Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht die »Arbeitsschlacht« zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ausrufen.3 Roosevelts Regierung begegnete der Krise mit einem umfassenden Programm, das Politikwissenschaftler, Soziologen und Historiker als »state building«, als Aufbau staatlicher Strukturen, beschrieben haben. Das Reformprojekt des New Deal zielte darauf ab, den Handlungsspielraum der Regierung bei der Mitgestaltung der Gesellschaft zu erweitern und so die Mängel des kapitalistischen Marktsystems zu beheben. Mit dem entschlossenen Vorantreiben eines pragmatischen Wandels bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer funktionierenden (wenn auch selbst für damalige Erwartungen äußert unzureichenden) Demokratie wurde der New Deal während des gesamten folgenden Jahrzehnts zum Vorbild für zahlreiche Länder, die ebenfalls unter der Weltwirtschaftskrise litten. In Frankreich wurde die Regierung des Front populaire von Léon Blum als »New Deal français« bezeichnet. In Belgien brandmarkten die Gegner der Regierung der nationalen Einheit von Premierminister Paul Van Zeeland dessen Sozialpolitik als »sklavische Kopie des American New Deal«, und David Lloyd George warb erfolglos für einen »britischen New Deal« mitsamt einer Erhöhung der Staatsausgaben, wie es Keynes empfahl. Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre pilgerten Delegationen aus Westeuropa, Mexiko, der Sowjetunion, Nordafrika und dem Mittleren Osten zu den Staudammprojekten der Tennessee Valley Authority, in der Hoffnung, auch zu Hause solche Maßnahmen in Gang setzen zu können. Der mexikanische Präsident dankte Roosevelt in einem Schreiben für das »großherzige Werk Ihrer Regierung zugunsten der Arbeitslosen, der Werktätigen und aller Vergessenen«. Mit sei-
3
Alonzo L. Hamby, For the Survival of Democracy. Franklin Roosevelt and the World Crisis of the 1930s, New York 2004; Kiran Klaus Patel, Soldiers of Labor. Labor Service in Nazi Germany and New Deal America, 1933–1945, New York 2010; sowie John A. Garraty, »The New Deal, National Socialism, and the Great Depression«, in: American Historical Review 78 (Oktober 1973), S. 907–944.
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nen Reformen sollte der New Deal auch dazu beitragen, inmitten der schweren Wirtschaftskrise und der dadurch hervorgerufenen Unsicherheit eine stabile demokratische Regierung zusammenzuschweißen.4 Das Kernstück des New-Deal-Programms bestand darin, durch die Gewährung von Sozialleistungen und die Schaffung von Jobs der massiven Arbeitslosigkeit und Armut im Land entgegenzuwirken und damit zugleich auch die Wirtschaft anzukurbeln. Das Bestreben, den Millionen Arbeitslosen wieder eine ökonomische Perspektive zu geben, sollte auch ein umfassenderes demokratisches Projekt innerhalb der amerikanischen Gesellschaft befördern. Der Soziologe Howard Odum brachte auf den Punkt, was für den Wohlfahrtsstaat des New-Deal auf dem Spiel stand, als er seine Sorge kundtat, die »gravierenden Chancenungleichheiten für die Mehrheit der Bevölkerung« würden das Überleben der amerikanischen Demokratie in Gefahr bringen. Als Roosevelt in das sechste Jahr seiner Amtszeit ging, galt die Works Progress Administration (WPA), das Herzstück des New Deal, unter den US-Bürgern als die »größte Errungenschaft«, aber auch als das »größte Verhängnis« seiner Regierung. Dieses 1935 eingerichtete Amt für Arbeitsentwicklung war in mehrerer Hinsicht die zentrale Wohlfahrtseinrichtung des New Deal und brachte mit nützlichen Bauprojekten und Infrastrukturmaßnahmen Millionen Menschen in Lohn und Brot. Die sehr unterschiedliche öffentliche Wahrnehmung des Programms zeigt die Brisanz des Vorhabens, inmitten einer Wirtschaftskrise einen demokratischen Wohlfahrtsstaat zu errichten. »Wenn die Millionen, die jetzt von der Fürsorge leben, sich organisieren«, sorgte sich ein New-Deal-Gegner, »und diese Macht an der Wahlurne ausüben […], könnten sie alle Bemühungen um einen Wirtschaftsaufschwung torpedieren.«5
4
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Philip Nord, France’s New Deal. From the Thirties to the Postwar Era, Princeton 2010; William E. Leuchtenburg, »The ›Europeanization‹ of America, 1929–1950«, in: William E. Leuchtenburg (Hg.) The FDR Years. On Roosevelt and his Legacy, New York 1995, S. 283–306. Zitat von Odum nach: Katznelson, Fear Itself, S. 43; Zitat des New-DealGegners nach Alexander Keyssar, The Right to Vote. The Contested History of Democracy in the United States, New York 2000, S. 239–40. Weitere Aus-
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In der historischen Betrachtung des New Deal ist man sich seit Langem der Gefahr bewusst, die die Weltwirtschaftskrise für die amerikanische Demokratie mit sich brachte. Ira Katznelson hat sich unlängst mit der systematischen Verweigerung des Wahlrechts für Afroamerikaner befasst und die strukturellen Auswirkungen aufgezeigt, die die weiße Vorherrschaft auf das politische System der USA und die Entwicklung des New Deal zeitigte, vor allem durch den überproportional hohen Einfluss der Politiker aus den Südstaaten im Kongress. Alexander Keyssar lenkt in seiner Studie den Blick auf die zahlreichen Versuche konservativer Kreise, den mittellosen Bürgern durch entsprechende Gesetzesvorlagen das Wahlrecht zu entziehen. Eine Reihe von Historikern hat die Grenzen der amerikanischen Demokratie in den 1930er Jahren ausgeleuchtet, darunter William Leuchtenburg, Anthony Badger und David Kennedy. Auch andere Historiker haben das Potenzial antidemokratischer Strömungen untersucht, die sich während der Wirtschaftskrise den Arbeitslosen und Bedürftigen zuwandten.6 Schon der Schriftsteller Sinclair Lewis thematisierte in seiner düsteren Satire »Das ist bei uns nicht möglich«, in der sich ein demokratisch gewählter Präsident zum Diktator wandelt, die Ängste vieler Amerikaner um die Stabilität der Demokratie in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise.7 1932 prophezeite auch Roosevelt, dass die Große Depression massive Auswirkungen auf die politische Landschaft der USA haben werde, die so weit gehen könnten, dass die konservativen Demokraten aus der eigenen Partei hinausgedrängt würden. »Ich werde acht Jahre im Weißen Haus sein«, so seine Prognose. »Wenn diese acht Jahre vorbei sind, wird es eine Progressive Party geben – sie mag nicht demokratisch sein, aber progressiv wird sie sein.«8 Zwar schnitten Roosevelt und seine
6
7 8
führungen zur WPA siehe Jason Scott Smith, Building New Deal Liberalism. The Political Economy of Public Works, 1933–1956, New York 2006. Katznelson, Fear Itself; Keyssar, Right to Vote; William E. Leuchtenburg, Franklin D. Roosevelt and the New Deal, New York 1963; Anthony J. Badger, New Deal/New South, Little Rock 2007; David M. Kennedy, Freedom From Fear. The American People in Depression and War, 1929–1945, New York 1999. Sinclair Lewis, Das ist bei uns nicht möglich, Amsterdam 1936. Roosevelt zit. nach Smith, Concise History, S. 142.
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Democratic Party bei den Kongresswahlen 1932, 1934 und 1936 sehr gut ab, doch führte dies nicht zu einer umfassenden ideologischen Umgestaltung der Partei. Die Demokraten gewannen zwar neue Wähler aus der katholischen, jüdischen und afroamerikanischen Bevölkerung sowie von der städtischen Arbeiterschaft hinzu, doch stützten sie sich nach wie vor auf ihre Stammwählerschaft, insbesondere die konservativen Weißen im Süden. Die Struktur der eigenen Partei – besonders die Macht der alteingesessenen Südstaaten-Abgeordneten in den wichtigen Ausschüssen, in denen die Gesetzesentwürfe verhandelt wurden – stellte für Roosevelt während seiner gesamten Präsidentschaft eine Belastung dar. Am 24. Juni 1938 warb Roosevelt in einer Radioansprache um Unterstützung, um sich dieser Belastung zu entledigen. Angesichts des immer heftigeren Widerstands gegen den New Deal im Kongress auch aus den eigenen Reihen erklärte er: »Noch nie zuvor waren der Präsident, die Senatoren und die Abgeordneten solchen Schmähungen ausgesetzt wie in diesem 75. Kongress.« Er beschimpfte seine Gegner als copperheads 9 und beschwor die Amerikaner, bei den Vorwahlen der demokratischen Partei im Sommer und bei den Kongresswahlen im November zur Urne zu gehen. »Als Führer der Democratic Party«, erklärte er, »dem die Pflicht obliegt, die zutiefst liberalen Grundsätze des Wahlprogramms von 1936 umzusetzen, denke ich, dass mir jedes Recht zusteht, bei den wenigen Anlässen das Wort zu ergreifen, wenn demokratische Vorwahlkandidaten konträre Auffassungen zu diesen Grundsätzen vertreten oder wenn mein Name missbraucht wird.«10 Roosevelts Rede löste die unterschiedlichsten Reaktionen aus. Ein US-Bürger aus Ohio schickte das folgende Telegramm ans Weiße Haus: »als bürger der vereinigten staaten empört es mich von jemandem als copperhead bezeichnet zu werden dessen egoismus an manie grenzt wie in ihrem gestrigen kamingespräch durch die übermässige verwen9
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Ein beleidigender Ausdruck aus dem Bürgerkrieg für Nordstaatler, die der Demokratischen Partei angehörten, aber die Ziele von Präsident Lincoln ablehnten. Roosevelt zit. nach Smith, Concise History, S. 253, 255.
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dung der ersten person singular sowie von halbwahrheiten ungereimtheiten und beschimpfungen wieder einmal deutlich wurde .«11 Andere Bürger äußerten sich positiver. Ein Anhänger Roosevelts aus Raleigh, North Carolina, begrüßte den Aufruf, konservative Demokraten aus dem Amt zu entfernen und kommentierte deren undemokratische Politik: »Ich sah Männer aus dem Süden, die vorgaben, liberal zu sein, und die schamlos und offen die Menschen im Kongress betrogen haben, um sich bei den Geldkönigen der Nation anzubiedern. Die meisten dieser Männer verdanken Ihnen ihr Amt, und in den kommenden Monaten werden sie durch den Süden ziehen und in ihren Wahlreden mit donnernder Stimme ihre Loyalität zu Ihnen und zum Liberalismus kundtun. Das Einzige, was sie interessiert, ist ihre Wiederwahl, und sobald sie gewonnen haben, werden sie wie der Hund zu seinem Gespeiten zurückkehren.«12 Das Wahljahr 1938 sorgte also für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit. Was normalerweise eine relativ ereignislose Serie von Zwischenwahlen zum Kongress gewesen wäre, entwickelte sich schnell zu einem Referendum über die demokratische Partei, den New Deal und Roosevelt selbst. Mit Rat und Unterstützung von NewDeal-Anhängern wie Harold Ickes, Harry Hopkins und Thomas Corcoran (informell das »Elimininierungskomitee« genannt) machte sich Roosevelt daran, die konservativen Elemente aus der Democratic Party auszuschalten. Er wollte bei den Vorwahlen zur Nominierung der Kandidaten intervenieren, um seine Gegner zu entmachten, und so seine Partei zu einer wirksameren Kraft für liberale Reformen umgestalten. Kritiker zogen schnell den Vergleich zum Verhalten Stalins in der Sowjetunion und sprachen von einer undemokratischen »Säuberungsaktion«. In mehreren Bundesstaaten, vor allem in Kentucky, Georgia, South Carolina, Maryland und New York, engagierte sich Roosevelt im Vorwahlkampf 1938 auch
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Lawrence W. Levine/Cornelia R. Levine, The People and the President. America’s Conversation with FDR, Boston 2002, S. 257. Levine/Levine, People and the President, S. 259.
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persönlich sehr stark gegen konservative Demokraten. Der Vorwahlkampf hatte in jedem Bundesstaat eine ganz eigene Prägung, doch in Kentucky dürfte für Roosevelt am meisten auf dem Spiel gestanden haben.13 Dort trat der neue demokratische Fraktionsführer im Senat Alben Barkley gegen den Gouverneur des Bundesstaates Al »Happy« Chandler an. Barkley war 1937 mit Unterstützung Roosevelts zum Führer der Mehrheitspartei gewählt worden und genoss im Senat sehr hohes Ansehen, weshalb sein Schicksal bei vielen Beobachtern als Seismograf für das Wohl und Wehe des New Deal galt. Würden die Wähler den von Roosevelt selbst bestimmten Mehrheitsführer wieder in den Senat hineinwählen? Wie bei den politischen Auseinandersetzungen in anderen Bundesstaaten wurden auch in Kentucky Vorwürfe gegen beide Kandidaten erhoben, sie hätten sich öffentlicher Finanzmittel bedient, um die politische Maschinerie in Gang zu setzen: Bei Barkley ging es um die Works Progress Administration, bei Chandler um staatliche Fördermittel zum Ausbau der Highways. Das Thema zog landesweite Aufmerksamkeit auf sich, als der Journalist und bekennende New-Deal-Anhänger Thomas Stokes eine Artikelserie über die Rolle der WPA im Wahlkampf brachte. Für diese Reportagen, die zu einer eingehenden Untersuchung der WPA durch beide Häuser des Kongresses führten, erhielt Stokes den Pulitzer-Preis.14 Doch Stokes war nicht der Einzige, der die Machenschaften der WPA ins Licht der Öffentlichkeit zerrte. Einen unfreiwilligen Helfer hatte er in WPA-Chef Harry Hopkins. Der soll während des Wahlkampfs 1938 bei einem Pferderennen gegenüber einem Reporter eine denkbar unglückliche Bemerkung über die Philosophie des New Deal fallen gelassen haben: »Steuern rauf, Ausgaben rauf – so gewinnen wir die Wahlen.« Mit dieser entlarvenden Aussage
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Leuchtenburg, FDR and the New Deal, S. 266–274; Anthony J. Badger, The New Deal. The Depression Years, 1933–1939, New York 1989, S. 268–271; James T. Patterson, Congressional Conservatism and the New Deal. The Growth of the Conservative Coalition in Congress, 1933–1939, Louisville 1967, S. 250–287. Mehr zum Thema »Politische Einflussnahme in der Wohlfahrtspflege« siehe: Smith, Building New Deal Liberalism, Kapitel 6.
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machte Hopkins klar, dass das Investitionsprogramm des New Deal nicht nur beim Ausbau der Infrastruktur und in der Schaffung von Arbeitsplätzen erfolgreich war, sondern dass man damit auch wirksam Politik betreiben konnte. Hopkins’ Äußerung und die Fokussierung des New Deal auf die Schaffung von Infrastruktur und Arbeitsplätzen lieferten ein starkes Argument für das, was heute gelegentlich abschätzig als »Politik der Umverteilung von unten nach oben« bezeichnet wird. In aller Offenheit benannte Hopkins einen der Schlüsselfaktoren, warum der New-Deal-Liberalismus so wirkungsvoll war und zugleich so viele Konflikte provozierte: Für das öffentliche Investitionsprogramm wurde immer wieder das fiskalpolitische Instrument der Erhöhung von Steuern und Staatsausgaben eingesetzt, um für staatlich gelenktes Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zu sorgen. Diese Kombination erwies sich nicht nur als wirksames Rezept für eine Nation in der Wirtschaftskrise, sondern auch als geschickter politischer Schachzug zum Wohl der Democratic Party. Im Nachgang zu Roosevelts Versuch, seine parteiinternen Widersacher zu entmachten, geriet die politische Rolle der öffentlichen Investitionsprogramme zunehmend in die Kritik. Nach den Vorwahlen in Kentucky und den gleichzeitig eingeleiteten regierungsamtlichen Untersuchungen verabschiedete der Kongress 1939 mit dem Hatch Act ein Gesetz zur Verhütung »schädlicher politischer Aktivitäten«, dem Roosevelt nur widerstrebend zustimmte. Das Gesetz beschnitt die politischen Einflussmöglichkeiten der Regierung auf öffentliche Investitionsprojekte der Bundesstaaten und der Kommunen. Im Juni 1938 hatte Carl Hatch, der demokratische Senator von New Mexiko, eine Änderung des »Emergency Relief Appropriation Act von 1935« beantragt, einem legislativen Kernelement des New Deal, um den Mitarbeitern der Unterstützungsund Investitionsprogramme die Kandidatur für politische Ämter und sonstige »Einmischung« in politische Wahlen zu untersagen. Hatch, selbst ein Befürworter des New Deal, hatte Erfahrungen aus erster Hand mit dem Problem der politischen Einflussnahme in der Wohlfahrtspflege. Im Jahr zuvor war der andere demokratische Senator für New Mexico, Dennis Chavez, in einen WPA-Skandal verwickelt worden, der letztlich zur Anklage von 73 Personen (darunter auch Verwandte von Chavez) wegen Verschwörung zur
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Nutzung von WPA-Mitteln für die Beeinflussung der Politik des Bundesstaates führte. Hatchs Bemühungen, den politischen Sumpf in New Mexico auszutrocknen, überschnitten sich mit einem verbreiteten Bestreben nach Anwendung moralischer Kriterien im öffentlichen Leben. Zunächst einmal fiel Hatchs Änderungsvorschlag in drei namentlichen Abstimmungen durch. Unterstützung erhielt er von Republikanern, New-Deal-Gegnern und progressiven Republikanern wie George Norris und Robert La Follette. Eingefleischte New-Deal-Befürworter, darunter auch Barkley, stimmten dagegen. Trotz der anfänglichen Niederlage erkannten die meisten Republikaner rasch, dass sich aus der Forderung, die Politik aus der Wohlfahrtspflege herauszuhalten, Kapital schlagen ließ. Dudley A. White, republikanischer Vertreter des Bundesstaates Ohio im Repräsentantenhaus, brachte die Haltung seiner Partei zu dieser Frage in einer vom Radiosender CBS übertragenen Rede zum Ausdruck, in der er sich gegen den Finanzierungsvorschlag von Roosevelt und seinen Beratern zur Überwindung der »RooseveltRezession« 1937/38 aussprach. Zu Beginn des Wahlkampfs 1938 erklärte er: »Nun wurde Herr Roosevelt von anderen Besuchern beehrt. Ihnen ging es nicht um die staatliche Wohlfahrt, sondern um Stimmen. Zuerst einzeln, dann in Grüppchen ließen sich die verschlagenen Handlanger der weltgrößten Stimmenbeschaffungsmaschinerie im Weißen Haus nieder, kauten auf ihrer Zigarre und gaben dem Präsidenten zu verstehen, dass es im November schlecht für die Abstimmung über den New Deal aussehen werde, wenn die Rezession weiter anhalte. Und endlich rührten sie das warme, menschenfreundliche Herz unseres Regierungschefs. ›Das darf so nicht weitergehen‹, rief er aus und schickte nach seinem Beraterstab.«15 Kurz darauf, so White, habe die Verwaltung die Regierung aufgefordert, dort Ausgaben zu tätigen, wo die Wirtschaft das nicht tue. »Roosevelt und seine Berater wussten genau, was sie taten. Es ging ihnen nicht darum, die Wirtschaft in Gang, sondern die Wahl in trockene Tücher zu bringen.« Die investierten Dollars seien nicht dazu 15
Dudley A. White, »Pumping the Primaries«, 7. Juni 1938, »Reference File Work Relief« folder, box 256, Raymond Clapper Papers, Manuscript Division, Library of Congress.
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gedacht, die Wirtschaft anzukurbeln, sondern »dem New Deal eine Mehrheit zu sichern und jeden zu bestrafen, der sich den Diktatoren im Weißen Haus nicht fügte«. Mit Blick auf Barkley, der gegen den Vorschlag von Hatch gestimmt hatte, lästerte White: »Selbst der demokratische Fraktionsführer im Senat räumt die missbräuchliche Verwendung staatlicher Unterstützungsleistungen für politische Zwecke ein.« Die WPA-Zentrale selbst goss zusätzlich Öl ins Feuer, zum einen mit ihrer unvermittelten Ankündigung erheblicher Lohnerhöhungen für ungelernte Arbeitskräfte insbesondere in den Bundesstaaten Kentucky und Oklahoma (die beide bei den Wahlen hart umkämpft und von Roosevelts »Säuberungsaktion« besonders betroffen waren) und zum anderen durch eine Rede ihres stellvertretenden Leiters Aubrey Williams vor der Gewerkschaft der WPA-Arbeiter, der sie beschwor, »unsere Freunde an der Macht zu halten«.16 Gleichzeitig schlug die Women’s Rebellion, eine konservative Gruppe von New-Deal-Gegnerinnen, Alarm: Durch die WPA und die Wahlstimmen der durch ihre Maßnahmen Begünstigten werde eine Situation herbeigeführt, die »der der Lage in Deutschland und Russland nicht unähnlich ist«.17 Barkley wurde schlussendlich wiedergewählt, doch der für die Untersuchung der Verflechtungen zwischen der Politik und dem öffentlichen Investitionsprogramm zuständige Senatsausschuss erklärte in seinem Abschlussbericht, dass sowohl Chandler als auch Barkley Verantwortung für eine »beklagenswerte Lage« trugen. Ein Politiker aus Kentucky ließ dem Ausschuss lobende Worte zu seiner Arbeit zukommen und unterstrich die Sorgen der Konservativen über die Verwendung öffentlicher Mittel zum Kauf von Wählerstimmen: »Wenn Wähler mit öffentlichen Geldern oder Steuermitteln wie Sklaven gekauft und als Stimmvieh zur Urne getrieben werden, um eine politische Aristokratie am Leben zu halten, wird der Republik ihre Lebenskraft entzogen.«18 Freilich waren 16 17 18
Ebenda. Zit. nach Keyssar, Right to Vote, S. 242. G. Tom Hawkins an den Untersuchungsausschuss des Senats, 15. August 1938, U. S. Congress, Senate, Report of the Special Committee to Investigate Senatorial Campaign Expenditures and Use of Government Funds in 1938, Bericht des Senats Nr. 1, Teil 2, 76. Kongress, 1. Sitzung (Washington, D. C.: U. S. Government Printing Office, 1939), S. 70f.
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die Befürchtungen über den korrumpierenden Einfluss zentralisierter Macht auf das staatliche Gemeinwesen so alt wie die Nation selbst. Auf jeden Fall lieferte die Einstufung der Verwendung von Steuergeldern für öffentliche Investitionsmaßnahmen als antidemokratische »Korruption« den New-Deal-Gegnern ein vielseitig einsetzbares Argument, sei es auf den Wahlkampftouren oder bei der Erarbeitung des Hatch Act, der Angehörigen des öffentlichen Dienstes die Betätigung in politischen Parteien verbot. Harry Hopkins hatte mit seiner sarkastischen Zusammenfassung der politischen Erfolgsformel des New Deal – »Steuern rauf, Ausgaben rauf – so gewinnen wir die Wahlen« – den an der Wahlurne spürbaren Nutzen auf den Punkt gebracht, den die New-DealAnhänger daraus zogen, dass öffentliche Mittel für Arbeitsbeschaffungsprogramme ausgegeben wurden. Zwar stritt Hopkins, so erinnerte sich sein Freund Robert Sherwood später, »kategorisch ab, jemals so etwas gesagt zu haben«, doch hatte er drei Monate zuvor in einem Interview mit dem Journalisten Raymond Clapper ein politisches Bild gezeichnet, das genau zu seinem umstrittenen Zitat passte.19 Clappers Notizen, die er in seinen persönlichen Unterlagen aufbewahrte, lassen klare Rückschlüsse auf Hopkins’ politischen Realismus zu: »Betr. Politik. Hopkins: Zwei Stoßrichtungen, langfristig und politische Scharmützel. Zu langfr.: Er ist sich der weitreichenden politischen Konsequenzen der wpa und anderer Entwicklungen bewusst. Staatsgelder fließen in der einen oder anderen Form an etwa 20 Mio. Haushalte – macht zusammen mit Verwandten und Freunden einen riesigen Empfängerkreis/politische Gruppe. Nach Erfahrung in Europa würden diese Leistungen nie reduziert sondern tendenziell eher erhöht. Politiker gehen auf Wahlfang mit dem Thema, noch mehr Unterstützung zu leisten – früher ging’s um Zölle und abstrakte Dinge, nun aber konkret: Wie hoch ist der Scheck, den du mir ausstellst? Vor ein paar Jahren noch keine zehn Leute im Kongress, die auf
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Robert, E. Sherwood, Roosevelt and Hopkins. An Intimate History, New York 1948, , S. 103f.
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soziale Sicherheit gesetzt hätten, jetzt würde keiner mehr dagegen stimmen.«20 In diesem politischen Universum also lokalisierte Hopkins das Investitionsprogramm. Clapper weiter: »Hopkins meint, sein Laden laufe korrekt, denn wenn irgendwas nicht stimme, komme es sofort raus; bei krummen Dingern wären so viele beteiligt, dass es immer einen gebe, der nicht dichthält. […] Hopkins meint, die Politiker täten alles für Wählerstimmen, wpa und alles sei ihnen wurscht, solange sie die Wahlen gewinnen. Sie stellen ihr Fußvolk direkt vor das Werkstor und lassen die Arbeiter ansprechen, ihnen was zum Unterschreiben in die Hand drücken, das sie dann im Parteilokal abgeben sollen usw., suggerieren irgendwie, dass man besser die Richtigen wählt, sonst könnte es den Job kosten usw. Halten genau dann ihre Versammlungen ab, wenn Feierabend ist, besuchen sie zu Hause usw. und üben so einen Druck aus, dem WPA kaum etwas entgegensetzen kann.«21 Dieses Interview bildete die Grundlage für Clappers Analyse des Problemkreises WPA und Politik, in der er zu folgendem Schluss kommt: »Hopkins kann hart durchgreifen und tut es auch, wenn Politiker in seinem Revier wildern. Doch die tückischsten Versuche, aus der WPA politisches Kapital zu schlagen, entziehen sich seinem Einflussbereich und können nur gestoppt werden, indem man sie ans Licht der Öffentlichkeit zerrt.«22 In seinem Interview mit Clapper hatte Hopkins konkret von den Möglichkeiten der Regierung gesprochen, die Staatsausgaben so zu lenken, dass neue politische Koalitionen erzeugt werden und diese Stimmen in die Wahlurnen gelangen könnten; auch das passt gut zu seiner Bemerkung über Steuern, Ausgaben und Wahlen. Der Journalist Hugh S. Johnson brachte die Diskussion darüber, ob Hopkins diese Bemerkung nun fallen gelassen hatte oder nicht, wohl am elegantesten auf den Punkt. Er unterstellte dem ano-
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Raymond Clapper Tagebuch, 3. Mai 1938, »RC Diaries 1938 2« Folder, Box 8, Clapper Papers, LC. Ebenda. Raymond Clapper, »Hopkins Fights Politics«, 9. Mai 1938, »Clapper Columns« Bd. 1, scrapbook, box 60, Clapper Papers, LC.
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nymen Zeugen, dass dieser sicher nicht gelogen habe, und ging zugleich davon aus, dass auch Hopkins kein Lügner sei: »Mir geht es wie diesem in die Jahre gekommenen, sehr verliebten Colonel aus Kentucky, der seine junge Verlobte beschuldigte, sie habe einen schmucken jungen Kerl umarmt«, schrieb er. »Sie wies das indigniert zurück. Er entgegnete, er habe sie auf drei Meter Entfernung am helllichten Tag dabei gesehen. Doch sie gewann sein törichtes Herz mit den Worten: ›Glaubst du deiner Liebsten oder glaubst du deinen Augen?‹« In der Tat, so Johnson weiter, könne »jeder gedacht haben, er habe gesagt, was alle sagen, dass er gesagt habe, denn es passt zu allem, was seit der dritten Auflage des New Deal geschehen ist, und es steht zu nichts im Widerspruch, was Mr Hopkins gesagt oder getan hat. Deshalb ist es auch völlig egal, ob er es gesagt hat oder nicht. Das Geschehen, auf das sich diese missverstandene (?) Aussage zu beziehen scheint, macht es so viel sinnfälliger deutlich als dieser sagenumwobene Ausspruch; die Worte selbst sind völlig unbedeutend.«23 Am Tag bevor Johnsons Kolumne veröffentlicht wurde, druckte die Washington Daily News einen Cartoon mit dem Titel »WPA Project Number One!«, der der Argumentation Vorschub leistete, dass Worte nun nichts mehr nutzten. Man sieht einen verzweifelten Hopkins, der einer hinter ihm auf dem Boden scheppernden Blechdose zu entkommen sucht, doch die Dose ist mit einem Faden an seinem Mantelsaum befestigt. In der Spruchblase über Hopkins steht: »Schafft mir das Ding vom Hals!«, und auf der Dose steht: »Ausgaben rauf, Steuern rauf – so gewinnen wir die Wahlen!«24 Johnson bilanziert in seinem Artikel: »Da dieser Ausspruch, ob er nun getan wurde oder nicht, das Vorgehen der Regierung und das der WPA so treffend beschreibt, ist jedes Dementi sinnlos, und der Satz wird Hopkins noch jahrelang verfolgen.«25
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Hugh S. Johnson, Philadelphia Inquirer vom 30. 11. 1938, S. 17, »November 30, 1938. Press Clippings. Division of Press Information Room 210«, Folder, Box 30, Harry L. Hopkins Papers, Franklin D. Roosevelt Library. Cartoon aus Washington Daily News vom 29. 11. 1938, S. 16. Hugh S. Johnson, Philadelphia Inquirer vom 30. 11. 1938, S. 17.
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Nach den Rückschlägen durch den Hatch Act und die Kongresswahlen 1938, bei denen Roosevelt sein ganzes politisches Kapital einsetzte, aber nur wenig erreichte (abgesehen von Barkleys Wiederwahl), war das konservative Lager der Demokraten im Kongress stärker als zuvor, denn die Südstaaten-Abgeordneten hatten alle Versuche, sie zu entmachten, überlebt. Die Republikaner wiederum konnten sich über 81 neue Abgeordnete im Repräsentantenhaus und 8 im Senat freuen. Doch die Anhänger des New Deal taten alles, um ihr Reformprogramm auch gegen diese Opposition weiter durchzusetzen. Zwei Jahre zuvor hatte Roosevelt seine Rede, mit der er die zweite Nominierung als Präsidentschaftskandidat annahm, mit den Worten geschlossen, diese amerikanische Generation stehe vor einem Rendezvous mit dem Schicksal. Doch nun lief der New Deal Gefahr, aufs Abstellgleis zu geraten. Die Debatte um den Hatch Act berührte den Kern des New Deal als demokratisches Projekt im Allgemeinen und die politische Bedeutung und Überlebensfähigkeit der WPA im Besonderen. In der Tat hing das Schicksal sehr vieler Menschen auf die eine oder andere Weise von der WPA und ihrer Position beim Aufbau des Wohlfahrtsstaates während der Großen Depression ab. Die Arbeiter, die dank der WPA wieder in Lohn und Brot standen, fürchteten um ihre Jobs, wenn sie den politischen Aufrufen ihrer Vorgesetzten und der örtlichen Parteifunktionäre nicht Folge leisteten. Roosevelt und die Anhänger des New Deal befürchteten einen Machtzuwachs ihrer politischen Gegner, die sich unter anderem auf das Thema »Politik in der Wohlfahrtspflege« stürzten. Die konservativen Politiker und WPA-Gegner wiederum fürchteten den potenziellen Machtzuwachs der New Deal-Anhänger, die sich über die WPA einen starken Rückhalt unter den US-amerikanischen Wählern sichern wollten. Ein irisch-stämmiger Vorarbeiter in Boston, der in einem WPAProjekt beschäftig war, wusste, was auf dem Spiel stand, als er an einem Tag im Wahljahr 1940 kurz vor Werksschluss die hundert Arbeiter zusammentrommelte, die ihm unterstanden: »Leute, ich warne euch vor politischer Betätigung. Da gibt es einen Kerl namens Hatch, aus Texas [sic], der sitzt im Kongress. Als die anderen Abgeordneten einmal nicht hinschauten, hat er ein Gesetz durchgedrückt, das euch und mich zu Verbrechern macht, wenn wir über
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Politik reden, wenn wir zu Kundgebungen gehen, wenn wir für einen Kandidaten werben oder auch nur den Namen eines Kandidaten fallen lassen. Wenn ihr irgendwas in dieser Richtung tut, dann verliert ihr nicht nur euren Job, sondern kommt vielleicht sogar ins Gefängnis, also seid auf der Hut.« Dann schloss er seine kurze Rede mit dem Appell: »Ein Wort noch, ehe ich euch gehen lasse: Wenn ihr Jungs am Wahltag zur Arbeit kommt und nicht den mit den Krücken gewählt habt – dann wehe euch.«26 Der mit den Krücken – Franklin Delano Roosevelt – schaffte in diesem Jahr 1940, was noch niemandem gelungen war: Er wurde zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt. Insgesamt lässt sich die Demokratie, wie sie in den USA im Zeichen des New Deal praktiziert wurde, als eine unzureichende Verknüpfung der politischen Rechte mit einer Reihe von staatlichen Maßnahmen beschreiben, die die Möglichkeit des Einzelnen, sich selbst zu versorgen, stärken sollten. Als politisches Projekt war der New Deal bei all seinen ehrgeizigen Zielen mit erheblichen Mängeln behaftet, denn in vielen Fällen diente er dazu, die politische und kulturelle Macht der weißen Oberschicht zu konsolidieren, und er führte auch nicht zum allgemeinen Wahlrecht. Als Maßnahmenbündel jedoch konnte er alternative politische Optionen verhindern und die Anziehungskraft von Faschismus und Kommunismus eindämmen, und er brachte der Gesellschaft eine gewisse politische und wirtschaftliche Stabilität. Insgesamt erwies er sich in der Praxis in zweierlei Hinsicht als »demokratisches« Projekt: Er trug zur Aufrechterhaltung einer unvollkommenen Demokratie in den USA bei und stärkte den politischen Einfluss der Democratic Party. Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
26
William H. O’Brien an Margaret LeHand, 20. September 1940, »OF 252a Permitting Government Employees to Hold Elective Office«, Folder OF 252-A: Franklin D. Roosevelt Papers, FDRL.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Zu den Autorinnen und Autoren Laura Beers, Ph. D., ist Associate Professor an der American University in Washington, DC. Forschungsschwerpunkte: politische Geschichte Großbritanniens, Frauen und Politik. Wichtige Publikationen u. a.: Your Britain. Media and the Making of the Labour Party, Harvard 2010; als Mitherausgeberin: Brave New World. Imperial and Democratic Nation-Building in Britain between the Wars, London 2012. Elisabeth Dieterman ist Doktorandin am Historischen Institut der Universiteit Leiden mit dem Promotionsprojekt »Political Legitimacy under Debate. Democracy and Authority in the Netherlands in the 1880s, 1930s, and 1960s«. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Demokratie in den Niederlanden, parlamentarische Kultur, politische Diskurse und das Konzept politischer Legitimität. Moritz Föllmer, Dr. phil., ist Associate Professor für Neuere Geschichte an der Universiteit van Amsterdam. Forschungsschwerpunkte: Weimarer Republik und Nationalsozialismus; Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere Stadtgeschichte und Geschichte der Individualität. Wichtige Publikationen u. a.: Individuality in Berlin. From Weimar to the Wall, Cambridge 2013; als Herausgeber (zus. mit Rüdiger Graf), Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt 2005; Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900–1930, Göttingen 2002. Ben Jackson, Ph. D., ist Associate Professor für Neuere Geschichte an der University of Oxford und Fellow des University College. Forschungsschwerpunkte: neuere Geschichte Großbritanniens, politische Ideengeschichte, Geschichte der Arbeit sowie politische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Wichtige Publikationen u. a.: Equality and the British Left, Manchester 2007; Liberalism as Ideology. Essays in Honour of Michael Freeden, Oxford 2012; als Mitherausgeber, Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012. Till Kössler, Prof. Dr., ist Professor für Sozialgeschichte des Aufwachsens und der Erziehung an der Ruhr-Universität Bochum. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Kindheit, spanische Zeitgeschichte. Wichtige Publikationen u. a.: als Mitherausgeber, Obession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015; Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert, Essen 2014; Kinder der Demokratie. Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1939, München 2013. Urban Lundberg, Ph. D., ist Historiker an der Stockholms Universitet. Forschungsschwerpunkte: vergleichende Geschichte der Rentenpolitik, skandinavische Sozialdemokratien, Staatsbürgerschaft und persönliche Rechte sowie Politikgeschichte und die Geschichte Schwedens. Wichtige Publikationen u. a.: Jewel in the Crown. Swedish Social Democracy and the Politics of Pension Reform, Stockholm 2003 (ausgezeichnet mit dem Rudolf-Meidner-Preis 2004). Helen McCarthy, Ph. D., ist Senior Lecturer in Geschichte an der Queen Mary University of London, Herausgeberin der Zeitschrift Twentieth Century British History und stellvertretende Direktorin des Mile End Instituts, dem Zentrum für Politikforschung der Queen Mary, UL. Forschungsschwerpunkte: neuere britische Geschichte mit Fokus auf Politik und Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, Geschichte des britischen Außenministeriums sowie weibliche Erfahrungen von Familie und bezahlter Arbeit. Wichtige Publikationen u. a.: Women of the World. The Rise of the Female Diplomat, London 2014; The British People and the League of Nations. Citizenship, Democracy and Internationalism in Britain, 1918–1945, Manchester 2011; »Parties, Voluntary Associations and Democratic Politics in Interwar Britain«, in: Historical Journal 50 (Dezember 2007), H. 4, S. 891–912.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Stefanie Middendorf, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg und Mitglied der vom Bundesministerium der Finanzen beauftragten Forschungsgruppe zur Geschichte des Reichsfinanzministeriums. Forschungsschwerpunkte: Öffentliche Finanzen und Staatlichkeit im 20. Jahrhundert, Methoden der Institutionengeschichte, Theorie und Geschichte der Massen in Europa, Intellectual History der Emigration. Wichtige Publikationen u. a.: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980, Göttingen 2009; als Herausgeberin (zus. mit Corinna R. Unger und Ulrike Schulz), Institutional History Rediscovered. Observing Organizations’ Behavior in Times of Change (= Comparativ, 24 [2014], H. 1); »Staatsfinanzen und Regierungstaktiken. Das Reichsministerium der Finanzen (1919–1945) in der Geschichte von Staatlichkeit im 20. Jahrhundert«, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), H. 1, S. 140–168. Philipp Müller, Dr. phil., ist Doktorassistent an der Universität Fribourg. Forschungsschwerpunkte: Deutsche und französische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Theorie der Geschichte, Historiographiegeschichte. Wichtige Publikationen u. a.: »Kapitalismus der Vermittlung. Neo-Liberalismus in Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg«, in: Anselm Doering-Manteuffel/Jörn Leonhard (Hg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 97–126; »Comment sortir de la maladie révolutionnaire? La structure de l’âme et la réforme de la pensée chez Hippolyte Taine«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 39 (2015), S. 111–125. Tim B. Müller, Dr. phil., ist Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung, Redakteur der Zeitschrift für Ideengeschichte und Mitglied des Vorstands der Paul-Löbe-Stiftung Weimarer Demokratie. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Demokratie; Weimarer Republik; europäische und amerikanische Zwischenkriegszeit; Kalter Krieg; Ideen- und Wissenschaftsgeschichte, Geschichte des politischen Denkens und Geschichtstheorie. Wichtige Publikationen u. a.: Nach dem Ersten Weltkrieg. Le-
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Zu den Autorinnen und Autoren
bensversuche moderner Demokratien. Hamburg 2014; »Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), H. 4, S. 569–601; Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010. Jeppe Nevers, Ph. D., ist Associate Professor für Geschichte an der Syddansk Universitet, Odense. Forschungsschwerpunkte: neuere dänische und europäische Geschichte, politische Geschichte, historische Semantik, Demokratie, Liberalismus und politische Ökonomie. Wichtige Publikationen u. a. Fra skældsord til slagord. Demokratibegrebet i dansk politisk historie, Odense 2011; Det produktive samfund. Seks kapitler af industrialiseringens idéhistorie, Odense 2013; »Liberalism and the Welfare State. The Danish Case in a European Perspective« (zus. mit Niklas Olsen), in: Anselm Doering-Manteuffel/Jörn Leonhard (Hg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015. Philipp Nielsen, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Geschichte der Gefühle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Forschungsschwerpunkte: deutsch-jüdische Geschichte, Emotionsgeschichte, Architektur- und Designgeschichte, Geschichte der Demokratie. Wichtige Publikationen u. a.: »Politik und Emotionen aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft«, in: Karl-Rudolf Korte (Hg.), Emotionen und Politik, Baden-Baden, im Druck, S. 27–48; »Building Bonn. Democracy and the Architecture of Humility«, in: History of Emotions. Insights into Research (January 2014), DOI: 10.14280/08241.18; »Blut und Boden. Jüdische Deutsche zwischen Heimat und Deutschtum, 1892–1936«, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (Januar–März 2013), H. 1, S. 35–68. Andrea Orzoff, Ph. D., ist Associate Professor für europäische Geschichte an der New Mexico State University. Forschungsschwerpunkte: rransnationale Geschichte, Ost- und zentraleuropäischer Nationalismus, Kulturdiplomatie, Geschichte internationaler Organisationen sowie Propaganda und Massenmedien.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Wichtige Publikationen u. a.: Battle for the Castle. The Myth of Czechoslovakia in Europe, 1914–1948, Oxford 2009. Johanna Rainio-Niemi, Ph. D., ist Senior Research Fellow und Associate Professor für Politikgeschichte an der Universität Helsinki. Forschungsschwerpunkte: transnationale und vergleichende Geschichte, Geschichte der Demokratie, staatlichen Kontrolle und Staatlichkeit, Nationsbildungsprozesse des 20. Jahrhunderts in Europa mit Fokus auf Finnland und Österreich. Wichtige Publikationen u. a.: The Ideological Cold War. The Politics of Neutrality in Austria and Finland, New York 2014. Andrea Rehling, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz Institut für Europäische Geschichte in Mainz und leitet das Forschungsprojekt »Wissen der Welt – Erbe der Menschheit: Die Geschichte des Weltkultur- und Naturerbes der UNESCO«. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der internationalen Organisationen im 20. Jahrhundert, Erinnerungs- und Gedächtnisgeschichte, Neue Politikgeschichte, Geschichte der Arbeitsbeziehungen. Wichtige Publikationen u. a.: Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt, hrsg. von Isabella Löhr/Andrea Rehling (= Jahrbuch für Europäische Geschichte/European History Yearbook, Bd. 15), München 2014; Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion, Baden-Baden 2011; »Universalismen und Partikularismen im Widerstreit. Zur Genese des UNESCO-Welterbes«, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), H. 3, S. 414–436. Hedwig Richter, Dr. phil., ist wissenschaftliche Assistentin am Arbeitsbereich für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit der Universität Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Wahlen und Demokratie, Geschlechtergeschichte, Migrationsgeschichte sowie Geschichte der Religion. Wichtige Publikationen u. a.: Voting for Hitler and Stalin. Elections under 20th Century Dictatorships, Frankfurt am Main 2011 (mit Ralph Jessen); Die DDR (= UTB Profile), Paderborn 2009; Wahlen in der transatlantischen Moderne, Leipzig 2013 (Hg. zus. mit Claudia Gatzka und Benjamin Schröder).
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Zu den Autorinnen und Autoren
Benjamin Schröder ist Stipendiat der Johannes-Rau-Gesellschaft mit einem Promotionsprojekt über Demokratie und Wahlkämpfe in Deutschland und Großbritannien zwischen den Weltkriegen. Forschungsschwerpunkte: Politische und Kulturgeschichte Europas im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wichtige Publikationen u. a.: Wahlen in der transatlantischen Moderne, Leipzig 2013 (Herausgeber zus. mit Claudia Gatzka und Hedwig Richter). Jason Scott Smith, Ph. D., ist Associate Professor für Geschichte an der University of New Mexico. Forschungsschwerpunkte: Kapitalismusgeschichte, Geschichte des Liberalismus, Politikgeschichte. Wichtige Publikationen u. a.: A Concise History of the New Deal, Cambridge 2014; »The Great Transformation. The State and the Market in the Postwar World«, in: William Novak/Stephen Sawyer/James T. Sparrow (Hg.), Boundaries of the State in U. S. History, Chicago, erscheint im Oktober 2015; »The Liberal Invention of the Multinational Corporation. David Lilienthal and Postwar Capitalism«, in: Kim Phillips-Fein/Julian E. Zelizer, What’s Good for Business. Business and Politics since World War II, Oxford 2012. Adam Tooze, Ph. D., ist Professor für Geschichte und Direktor des European Institute an der Columbia University. Er war von 2009 bis 2015 Professor für moderne Geschichte und Kodirektor des Programms International Security Studies an der Yale University. Mitglied der unabhängigen Historikerkommissionen zur Geschichte der Bundesministerien der Finanzen und der Wirtschaft. Forschungsschwerpunkte: deutsche Geschichte, Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Sozialtheorien und Geschichtsphilosophie. Wichtige Publikationen u. a.: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015; Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007; Statistics and the German State 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Jessica Wardhaugh, Ph. D., ist Assistant Professor am Department of French Studies der Warwick University. Forschungsschwerpunkte: Verbindungen von Politik und Kultur in der Dritten Französischen Republik, street politics, Volkstheater und imagined communities. Wichtige Publikationen u. a.: In Pursuit of the People. Political Culture in France, 1934–39, Basingstoke 2009; als Herausgeberin: Paris and the Right in the Twentieth Century, Newcastle 2007; Politics and the Individual in France, 1930–50, Oxford 2015.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Zu den Herausgebern Tim B. Müller, Dr. phil, ist Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung und Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Ideengeschichte. In der Hamburger Edition erschienen zuletzt seine Monografien »Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien« und »Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg«. Der Band »Krieger und Gelehrte« wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Adam Tooze ist Professor für Geschichte und Direktor des European Institute an der Columbia University. Er lehrte Wirtschaftsgeschichte an der University of Cambridge und war von 2009 bis 2015 Professor für moderne Geschichte und Ko-Direktor des International-Security-Studies-Programms an der Yale University. Er gehört den beiden unabhängigen Historikerkommissionen an, die vom Bundesministerium der Finanzen und vom Bundesministerium der Wirtschaft eingesetzt wurden, um die Geschichte und besonders die NS-Verstrickungen dieser beiden Ministerien aufzuklären.
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