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German Pages 576 Year 2023
Jenny Sprenger-Seyffarth Kriegsküchen in Wien und Berlin
Histoire Band 208
Im Andenken an meinen Vater, der mich lehrte, trotz trüber Aussichten immer nach vorne zu schauen.
Jenny Sprenger-Seyffarth, geb. 1986, ist in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Sie studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie in Dresden, Berlin und Utrecht. 2021 promovierte sie mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung an der Freien Universität Berlin.
Jenny Sprenger-Seyffarth
Kriegsküchen in Wien und Berlin Öffentliche Massenverpflegung und private Familienmahlzeit im und nach dem Ersten Weltkrieg
Die Publikation wurde ermöglicht durch eine Ko-Finanzierung für Open-AccessMonografien und -Sammelbände der Freien Universität Berlin. Zugleich Dissertation unter dem Titel »Öffentliche Massenverpflegung und private Familienmahlzeit in Wien und Berlin im und nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1924)« am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin, Einreichung und Disputation 2021. Dieses Dissertationsprojekt ist im Rahmen eines Promotionsstipendiums der FriedrichEbert-Stiftung entstanden.
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Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © Jenny Sprenger-Seyffarth Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Umschlagabbildung: Kriegsküche Nr. XXI, III., Sophienbrückengasse 32, Wien. Fotografie: Wien Museum Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839467244 Print-ISBN 978-3-8376-6724-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6724-4 Buchreihen-ISSN: 2702-9409 Buchreihen-eISSN: 2702-9417 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagung .................................................................................... 7 I. 1| 2| 3|
Einleitung ..................................................................................9 Thema und Fragestellung ...................................................................9 Forschungsstand und Quellenlage .......................................................... 14 Gliederung der Arbeit ..................................................................... 20
II. Berlin und Wien vor dem Krieg ...........................................................27 1| Berlin und Wien werden Weltstädte ........................................................ 29 2| Familienalltag und Ernährungsgewohnheiten............................................... 62 III. 1| 2| 3| 4|
Metropolen im Krieg ..................................................................... 101 Die Auswirkungen des Krieges auf Verwaltung und Gesellschaft in Wien und Berlin..........103 Die Berliner Kriegsnot- und Volksspeisung .................................................165 Die Wiener Kriegsküchenversorgung...................................................... 253 Berliner und Wiener Kriegsküchen im Vergleich .......................................... 340
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit .................................................. 373 1| Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ....................................................... 374 2| Das Ernährungsproblem und die Massenversorgung ........................................418 3| Die Sozialdemokratie und die Massenverpflegung ......................................... 464 V. Schlussbetrachtung .................................................................... 487 1| Resümee ................................................................................ 487 2| Einordnung und Bewertung der Ergebnisse ............................................... 494 VI. 1| 2| 3|
Anhang ................................................................................. 505 Abkürzungen ............................................................................ 505 Tabellen und Abbildungen ................................................................ 507 Quellen und Literatur..................................................................... 532
Tabellenverzeichnis ........................................................................ 567 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 569 Personenregister ............................................................................ 571
Danksagung
Mit dem Erscheinen dieses Buches geht eine lange, spannende und ungemein bereichernde Reise zu Ende. Begleitet wurde ich hierbei von vielen Menschen, die mein Forschungsvorhaben und mich in verschiedentlicher Hinsicht unterstützt haben. Die vorliegende Publikation ist eine geringfügig überarbeitete Version meiner Dissertationsschrift, die ich im Mai 2021 am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin verteidigt habe. Meinem Doktorvater Professor Oliver Janz möchte ich herzlich für die hervorragende fachliche Betreuung meines Dissertationsprojektes danken. Unverzagt unterstützte er mein Vorhaben von der Idee bis zur Drucklegung des Manuskripts. Seine Geduld, seine kritische Begleitung und sein stets ermutigender Zuspruch trugen wesentlich zum Abschluss der Dissertation bei. Ein besonderer Dank gilt auch Professor Jürgen Kocka, der ohne Umschweife für das Zweitgutachten zur Verfügung stand und die Arbeit mit kritischen und wichtigen Anregungen unterstützte. Gefördert wurde die vorliegende Arbeit mit einem Promotionsstipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ohne diese finanzielle Förderung wäre das Forschungsprojekt nicht so schnell umsetzbar gewesen. Für diese und die mit dem Stipendium verbundene ideelle Förderung sowie die großartige Betreuung der Promotionsabteilung der FES bin ich sehr dankbar. Mein Dank gilt darüber hinaus der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, die einen bedeutenden Anteil an der Veröffentlichung der Arbeit hatte. Bereits zu Beginn meines Forschungsvorhabens stand für mich fest, dass das Ergebnis als frei zugängliches Werk für alle interessierten Studierenden und Forschenden in einem angemessenen Rahmen verfügbar gemacht werden soll. Mit dem Fonds zur Ko-Finanzierung von Open-Access-Monografien der Freien Universität Berlin war dies umsetzbar. Beim transcript-Verlag bedanke ich für die Aufnahme des Buches in sein Programm und die damit verbundene Betreuung. Für die hilfsbereite und freundliche Unterstützung bei meinen Recherchen möchte ich mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs in Berlin, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, des Landesarchivs Berlin, des Wiener Stadt- und Landesarchivs sowie der Wienbibliothek bedanken. Ein ganz besonderer Dank gilt Dr. Alfred Pfoser, der mir in den vergangenen Jahren regelmäßig mit Rat und wichtigen Anregungen zur Seite stand und keine Mühen scheute, das Manuskript mit großer Sorgfalt und kritischem Blick zu lesen. Ebenso bedeu-
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
tend war der stets bereichernde Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die auf ganz unterschiedliche Weise mit kritischen Ratschlägen und hilfreichen Impulsen zur Fertigstellung der Arbeit beitrugen. Namentlich seien Dr. Swen Steinberg, Dr. Mary Elisabeth Cox, Dr. Nina Régis, Dr. Heather Perry und Julian Nordhues genannt. Mein Dank gebührt auch der bemerkenswerten Unterstützung von Professor Maarten Prak, der meine Forschungsinteressen lange vor der Aufnahme des Promotionsstudiums förderte und mich auf inspirierende Weise überzeugte, das Dissertationsvorhaben umzusetzen. Ohne die wertvolle Unterstützung vieler Freundinnen, Freunde und Familienmitglieder während der letzten Jahre wäre die Entstehung dieses Buches deutlich mühsamer verlaufen. Sie haben entweder das gesamte Manuskript oder einzelne Kapitel gelesen und mit außerordentlichem Einsatz kommentiert. Einige von ihnen halfen mir, in Zeiten geschlossener Bibliotheken während der Pandemie, einen ruhigen Arbeitsplatz zu finden. Sie alle verstanden es, mich in den richtigen Momenten aufzufangen und erinnerten mich stets daran, dass es auch ein Leben neben der Dissertation gibt. Namentlich seien Elisabeth Röhr, Birgit Sprenger, Johanna Thoelke, Sarah Kehe, Sonja Schmidt, Sabine Friedel, Friederike Jaensch, Patrick Michalowski und Vivien Jacobi genannt. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Meiner Familie, insbesondere meinem Mann und meinem Sohn danke ich von Herzen dafür, dass sie während der gesamten Reise bedingungslos unterstützend an meiner Seite waren. Dresden, im Dezember 2022
I. Einleitung »Vor einer Volksküche. Sie sind angestellt, schon zwei Stunden. Der Elendszug der Welt, den du in dieser Stunde in allen Städten Europas sehen kannst. Sie stehen ruhig und geduldig, auf die Stunde wartend, die ihnen Erholung, Genuß und Lebensfreude bringen soll: die Essensstunde.« »Mittagsbilder«, in: Neues Wiener Tagblatt, 8. Oktober 1918.
1| Thema und Fragestellung Der Kriegsausbruch im August 1914 veränderte den Alltag der an den »Heimatfronten« lebenden Menschen schlagartig. Das Festhalten an »Normalität« und das Bewahren identitätsstiftender Elemente wie eines harmonischen Familienlebens wurden im Verlauf des Krieges immer schwieriger.1 Spätestens mit dem Einsetzen des Lebensmittelmangels hielt der Krieg schließlich Einzug in die Küchen. Die Gefahren einer Nahrungsmittelknappheit wurden von den Behörden im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn nicht erkannt und anstelle einer systematischen Nahrungsmittelverteilung setzte ein Chaos improvisierter Lebensmittelversorgungsmaßnahmen ein. Der damit einhergehende erzwungene Verzicht auf zahlreiche Nahrungsmittel beeinträchtigte die Aufrechterhaltung bisher alltäglicher Rituale wie der privat-familialen Mahlzeit und schürte die Angst vor dem Verlust des sozialen Status.2 Der sich ausbreitende Hunger veranlasste die Verantwortlichen auf kommunaler und ab der 1
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Vgl. Stekl, Hannes: »Die Verelendung der Mittelklassen nimmt ungeahnte Dimensionen an…«, in: Pfoser, Alfred und Andreas Weigl, Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, S. 88–95, hier S. 94. Rollet, Catherine: »The home and family life«, in: Winter, Jay und Jean-Louis Robert (Hg.): Capital cities at war: Paris, London, Berlin 1914–1919. Volume 2, A Cultural History, Cambridge 2007, S. 315–353. Ohne Bezugnahme auf die privat-familiale Mahlzeit vgl. Duménil, Anne: »Hunger, Ersatz und Rationierung«, in: Cabanes, Bruno und dies. (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe, Stuttgart 2013, S. 109–114, hier S. 111.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
zweiten Kriegshälfte auch auf staatlicher Ebene zur Suche nach geeigneten Mitteln und Methoden zur Streckung und Einsparung von Lebensmitteln. Im Frühjahr 1916 erkannten die Verwaltungen in der öffentlichen Massenverpflegung durch Großküchen eine Möglichkeit, die städtische Versorgungslage in den Griff zu bekommen. Vor allem in den Großstädten nahm die Zahl der Kriegsküchen rasant zu. Diese Entwicklung im Blick bemerkte die österreichische Tageszeitung Die Zeit im April 1917: »Mag sein, daß die Gemeinschaftsküche nur eine Zeiterscheinung ist, geboren aus der Not der Gegenwart. Trotzdem will es scheinen, als ob sie sich die Zukunft erst recht erobern wollte.«3 Hier zeige sich, so das Blatt weiter, »daß der Krieg die Menschen anders zu machen beginnt.« – War das der Fall? Bewirkte die kriegsbedingte Massenverpflegung eine nachhaltige Veränderung der Ernährungsgewohnheiten? Gewann die kollektive Außer-Haus-Verpflegung im großstädtischen Alltagsleben über den Ersten Weltkrieg hinaus tatsächlich an Bedeutung? Ein Novum waren die öffentlichen Massenspeisungen nicht. Bereits in der Vorkriegszeit standen einem großen Teil der Bevölkerung öffentliche Volksküchen der privaten Wohltätigkeit, kommerzielle Speisehallen sowie Fabrikküchen verschiedener (Groß-)Unternehmen zur Verfügung. Ihr Dasein half vielen Großstädten zu Beginn des Krieges auf den zunehmenden öffentlichen Verpflegungsbedarf zu reagieren. In den ersten Kriegswochen bauten zahlreiche Kommunen im Rahmen ihrer Kriegsfürsorge und in Zusammenarbeit mit städtischen Wohltätigkeitsvereinen die bestehenden Massenverpflegungsangebote aus und richteten Notküchen und Ausspeisungen4 für Bedürftige ein. Diese in der Forschung bisher kaum beachteten Verpflegungsangebote, die in der Versorgung der Städte seit dem Kriegsausbruch eine maßgebliche Rolle spielten und im Laufe des Krieges an Umfang und Vielfalt zunahmen, stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit.5 Im Zentrum stehen hierbei die beiden größten Städte der Mittelmächte Wien und Berlin. Mit jeweils über zwei Millionen Einwohnern6 besaßen die beiden Hauptstädte einen vergleichbare Bevölkerungsgröße und -struktur. Sie waren politische Zentren, kriegswichtige Industriestandorte und Kulturmetropolen. Die Stadtverwaltungen in Wien und Berlin starteten ihre Massenverpflegungsbestrebungen 3 4
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»Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 15. April 1917. Die bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich-Ungarn betriebenen Armen- und Notküchen wurden Ausspeisungen genannt. In der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg in Österreich findet der Begriff bis heute Verwendung. Die Bedeutung der Speiseeinrichtungen für die städtische Lebensmittelversorgung bestätigen sowohl die Besucherzahlen von mehreren Tausend in den ersten Tagen ihres Bestehens als auch die zunehmende Erweiterung der (Not-)Küchenspeisungsnetze. Für Berlin vgl. »Beim Mittagessen für 10 Pf.«, in: Lokal-Anzeiger, 1. September 1914. »Die Massenspeisung«, in: Berliner Tageblatt, 20. August 1914. Für Wien vgl. Die Gemeinde Wien während der ersten Kriegswochen, 1. August bis 22. September 1914. Nach dem vom Bürgermeister Dr. Richard Weiskirchner dem Wiener Gemeinderate erstatteten Bericht zusammengestellt vom Sekretariate der Wiener christsozialen Parteileitung, Wien 1914, S. 20. Die vorliegende Arbeit versucht nach Möglichkeit auf geschlechtsneutrale Begriffe zurückzugreifen. Im Interesse des Leseflusses wird in den meisten Fällen jedoch das generische Maskulinum verwendet. Wenn im Folgenden von Einwohnern, Besuchern, Wienern, Berlinern und Arbeitern gesprochen wird, ist das weibliche Geschlecht mehrheitlich mitgemeint. Ausnahmen werden durch entsprechende Formulierungen hervorgehoben.
I. Einleitung
im Jahr 1914 demnach unter sehr ähnlichen Ausgangsbedingungen. Darüber hinaus glichen sich die Gestaltung und Umsetzung der Aktivitäten im Bereich der städtischen Kriegsfürsorge. Sowohl in Wien als auch in Berlin organisierten sich zahlreiche Frauen, etwa im Rahmen der Wiener »Frauenhilfsaktion im Kriege« und im »Nationalen Frauendienst« (NFD), die in Zusammenarbeit mit verschiedenen (Groß-)Küchenbetrieben der Vorkriegszeit die kriegsbedingte Not in der Bevölkerung vorerst auffingen. Als die Massenspeisung im Sommer 1916 von den staatlichen Behörden zu einer tragenden Säule der städtischen Lebensmittelversorgung erklärt wurde, zeigte sich, dass die bis dahin eingerichteten Küchenspeisungen für eine großflächige Versorgung nicht ausreichten.7 Beauftragt mit dem Ausbau ihrer städtischen Massenverpflegung richteten die beiden Großstädte zwei unterschiedliche Massenverpflegungssysteme ein. Während Berlin ein völlig neuartiges, großflächiges Volksspeisesystem organisierte, optimierte Wien sein bestehendes Küchenspeisungsnetz durch die Einrichtung ergänzender Kriegsküchen. Beide Systeme hatten den Anspruch, möglichst weite Teile der Bevölkerung täglich mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen. Im Ergebnis aber – so viel kann vorweggenommen werden – konnte weder in Berlin noch in Wien eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung erreicht werden.8 Das Wiener Modell scheint aber in der Bevölkerung insgesamt mehr Akzeptanz erfahren zu haben, denn während die Inanspruchnahme der Kriegsküchen in Berlin mit Ausnahme der Krisenzeit im Frühjahr 1917 rückläufig war, nahm der Kreis der Besucher in Wien stetig zu.9 Diese Entwicklung lässt sich nicht allein auf die Nahrungsmittelknappheit zurückführen, die in Wien vor allem im letzten Kriegsjahr und den ersten Nachkriegsjahren sehr viel dramatischer war als in Berlin. Hierfür spricht insbesondere der Fortbestand der Wiener Küchen nach dem Krieg. Die im Jahr 1919 gegründete »Vienna Public Feeding Ges.m.b.H.« (ab 1920 »Wiener öffentliche Küchengesellschaft m.b.H.«, kurz: WÖK) war die Nachfolgeinstitution der Kriegsküchen. Ihre Angebote wurden auch noch lange nach dem Ende der Lebensmittelknappheit der frühen 1920er Jahre von Teilen der Bevölkerung im »Roten Wien« (1918–1934) in Anspruch genommen. Demgegenüber scheint die öffentliche Massenverpflegung in Berlin nicht mehr als ein Notbehelf der Kriegs- und Krisenzeit gewesen zu sein.10
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Zur zunehmenden Bedeutung der Massenspeisung ab 1916 vgl. Roerkohl, Anne: Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Lebensmittelversorgung in Westfalen während des Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1991, S. 234. Vgl. für Wien Healy, Maureen: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2004, S. 72. Für Berlin vgl. Seyffarth, Jenny: »Die Berliner Volks- und Kriegsküchen im Ersten Weltkrieg«, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 110 (2014), Heft 1, S. 307–316, hier S. 313f. Zu den Wiener Zahlen vgl. Die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Wien in der Zeit vom 1. Jänner 1914 bis 30. Juni 1919 unter den Bürgermeistern Dr. Richard Weiskirchner und Jakob Reumann, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1923, S. 160ff. Zum abnehmenden Besucherkreis in Berlin Seyffarth, Jenny: »Wenn Hunger und Not in den Krieg ziehen…« Zur Rolle großstädtischer Massenspeisungsanstalten während des Ersten Weltkrieges am Beispiel Berlins, Masterarbeit, Freie Universität Berlin 2012, S. 74. Ebd., S. 92.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Auf die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit, ob der Erste Weltkrieg ein Katalysator der kollektiven Außer-Haus-Verpflegung war und damit eine nachhaltige Veränderung der Essgewohnheiten der Menschen nach sich zog, liefern die beiden Städte Wien und Berlin auf dem ersten Blick zwei unterschiedliche Antworten. Das Hauptanliegen der Arbeit besteht darin, die gegensätzliche Entwicklung der Berliner und Wiener Massenverpflegung zu erklären und mit Blick auf einen Wandel der Ernährungsgewohnheiten einzuordnen. Hierbei sucht sie nach den Ursachen für die stärkere Inanspruchnahme und das »Überleben« der Wiener Großküchen bis weit nach der Hungersnot der Nachkriegsjahre. Es wird angenommen, dass die divergierende Entwicklung der Wiener und Berliner Massenverpflegung im und nach dem Krieg das Resultat eines Zusammenwirkens mehrerer sich gegenseitig überlagernder organisatorisch-administrativer, soziokultureller und (sozial-)politischer Faktoren war. Die Darstellung der Entwicklung der Massenspeisungsaktivitäten beider Städte während des Krieges und der Nachkriegszeit erfolgt somit in drei Schwerpunkten, die für die Ausgestaltung und den Fortbestand der Massenverpflegung entscheidend waren: 1. die von philanthropischen Vereinen und Frauenhilfsorganisationen unterstützten kommunalen (und ab 1916 staatlichen) Verwaltungen als Organisatoren der städtischen Massenverpflegungssysteme, 2. die mehrheitlich aus Arbeiterschaft und Mittelstand bestehende städtische Bevölkerung11 und damit die Besuchergruppen der Verpflegungseinrichtungen, deren Lebenswelten bis zum Ersten Weltkrieg noch weitgehend unterschiedliche waren, doch zugleich nicht nur den Wunsch nach Aufrechterhaltung der tradierten Rollenverteilung der Geschlechter im Haushalt gemeinsam hatten, sondern auch in ihren Vorstellungen von der alltäglichen Nahrungsaufnahme fast ausschließlich dem Ideal der privat-familialen Tischgemeinschaft anhingen12 , sowie 3. die (sozial-)politischen Entwicklungen der ersten Nachkriegsjahre, die ebenso wie die politischen Debatten über den Ausbau der städtischen Gemeinschaftsverpflegung ab Mitte des Jahres 1916 in starkem Maß von der Sozialdemokratie (mit-)bestimmt wurden.
Im Rahmen der Untersuchung und Darstellung dieser Schwerpunkte wird herausgearbeitet, in welchem Maße die organisatorisch-administrativen, soziokulturellen und (sozial-)politischen Faktoren auf die Entwicklung der Wiener und Berliner Gemeinschaftsverpflegung einwirkten. In Anlehnung an die Schwerpunkte ergibt sich eine Reihe relevanter Fragestellungen:
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Vgl. Ehmer, Josef: »Zur sozialen Schichtung der Wiener Bevölkerung 1857–1910«, in: Melinz, Gerhard und Susan Zimmermann (Hg.), Wien-Prag-Budapest. Blütezeit der Habsburgermetropolen: Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867–1918), Wien 1996, S. 73–83, hier S. 80. Sowie Demps, Laurenz und Ingo Materna et al.: Geschichte Berlins von den Anfängen bis 1945, Berlin 1987, S. 427 und S. 520. Vgl. hierzu Davis, Belinda J.: Home Fires Burning. Food, politics, and everyday life in World war I Berlin, Chapell Hill 2000, S. 142.
I. Einleitung 1. Sowohl für die Wiener als auch die Berliner Entscheidungsträger konstatierte die Forschung einen hohen Grad an Handlungsunfähigkeit und Versagen auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung.13 In Anbetracht der offenbar recht gegensätzlichen Entwicklungen im Bereich der Massenspeisungen stellt sich die Frage, inwiefern die Verantwortlichen in Wien die Gemeinschaftsverpflegung während des Krieges strukturierter organisiert haben. Umgekehrt muss jedoch auch gefragt werden, ob die höhere Inanspruchnahme der Wiener Küchen sowie ihr weiteres Bestehen nach dem Krieg nicht viel mehr als ein Resultat der Notsituation betrachtet werden muss, das heißt als Folge des Scheiterns der Behörden, die Lebensmittelversorgung gerecht und kontinuierlich zu gewährleisten. 2. Im Rahmen ihrer Darstellung der »Wiener öffentliche Küchengesellschaft« konstatierte Edith Hörandner den Bedeutungszuwachs der WÖK für den Mittelstand.14 Die städtischen Küchen etablierten sich nach dem Krieg nicht nur im Wiener Stadtund Alltagsleben, sondern sie wurden laut Hörandner auch zum »Herzeigbetrieb« der Stadt. Die abnehmende Zurückhaltung der Wiener Bevölkerung gegenüber den Küchen während des Krieges, das Weiterbestehen der Großküchen nach 1918 und die augenscheinlich entgegengesetzte Entwicklung in Berlin wirft die Frage auf, ob und inwiefern das Ideal der privat-familialen Mahlzeit innerhalb der Arbeiterschaft und des Mittelstands in Wien und in Berlin an Bedeutung verlor bzw. gewann. 3. Schließlich muss der Frage nachgegangen werden, ob die Entwicklung der Massenverpflegung in beiden Städten nach 1918 als Ausdruck sozialdemokratischer Reformpolitik gewertet werden kann. Die Sozialdemokraten in Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich befürworteten während des Krieges die städtische Gemeinschaftsverpflegung. In den Debatten um den Ausbau der Massenspeisungen kritisierten sie jedoch in beiden Städten deren Umsetzung.15 Welchen Einfluss hatten die Sozialdemokraten auf die Ausgestaltung der städtischen Kriegsküchen? Welchen Stellenwert besaß die Gemeinschaftsverpflegung in der kommunalen Sozialpolitik der Nachkriegszeit und inwiefern war sie Teil der sozialdemokratischen Modernisierungs- und Familienpolitik?
Mit der vorliegenden Untersuchung zur Wiener und Berliner Massenverpflegung im Ersten Weltkrieg rückt ein Thema in den Mittelpunkt, dem die Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht hat. Die für die Ursachenanalyse relevanten Fragestellungen verdeutlichen, dass die Untersuchung auf ein breites Feld der Wiener und Berliner Kommunal-, Sozial- und Alltagsgeschichte blickt. Die Studie betrachtet 13
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Hierzu vgl. u.a. Duménil, Hunger, S. 114. Healy, Vienna, S. 72. Davis, Belinda: »Food and Nutrition (Germany)«, in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. von Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, veröffentlicht durch die Freie Universität Berlin, Berlin 2014–10-08. DOI: 10.15463/ie14 18.10034 (16.03.2015). Hörandner, Edith: »Zur Rolle öffentlicher Speisehäuser nach dem Ersten Weltkrieg in Wien. Fallbeispiel: die WÖK«, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 87, Heft 1–2 (1991), S. 82–92, hier S. 87f. Zwei stellvertretende Beispiele liefern die Arbeiterinnen-Zeitung 21, 26. Jg. (17. Oktober 1916), S. 1–2. Sowie der Vorwärts, 1. Juni 1916, zitiert bei Skalweit, August: Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart 1927, S. 44.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
die (kommunal-)politischen Entwicklungen und sozialen Verhältnisse der Vorkriegs-, Kriegs- und frühen Nachkriegszeit. Sie liefert Einblicke in das Gesellschafts- und Alltagsleben der Wiener und Berliner im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts und nimmt mit der Mittagsverpflegung einen festen Bestandteil des Alltags in den Blick, der wie viele andere Bereiche des Privatlebens vermehrt in den Fokus der Politik rückte. Bereits im Zuge der Industrialisierung formulierten bürgerliche Sozialreformer und Sozialdemokraten verschiedene Ideen eines Social Engineering16 , die auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse zielten. Während des Krieges, der Thomas Etzemüller zufolge als »Laboratorium« gedient habe, um »spezifische Techniken des social engineering in großem Stile auszuprobieren«17 , gewann die »Politisierung des Mittagstischs« an Auftrieb. Ein Ausdruck dieser Entwicklung ist das Massenverpflegungswesen, das auf politischer und gesellschaftlicher Ebene kontrovers diskutiert wurde. Während die bürgerlichen Kräfte die Massenverpflegung nur als vorübergehende Einrichtung für die Dauer des Krieges akzeptierten, weil sie mit der allmählichen Auflösung der privaten Tischgemeinschaft einen Funktionsverlust der Familie einhergehen sahen, erachtete ein großer Teil der Sozialdemokratie die Gemeinschaftsküche als alltagserleichternde Einrichtung, mit der das Familienleben auch nach dem Krieg unterstützt werden sollte. Diese gegensätzlichen Positionen waren zwischen 1914 und 1924 in Wien und Berlin gleichermaßen präsent. Da die Sozialdemokraten nach dem Krieg in beiden Städten politisch stärkste Kraft waren, wird in der vorliegenden Untersuchung in erster Linie ihre Position im Kontext der sozialdemokratischen Reformpolitik in den Blick genommen.
2| Forschungsstand und Quellenlage In Anbetracht der Vielzahl an Publikationen und Forschungsarbeiten zum Ersten Weltkrieg, die im Hinblick auf das einhundertjährige Anniversarium nochmals zugenommen haben und von der ein beträchtlicher Teil, vor allem in den letzten Jahren, die sozial- und alltagsgeschichtlichen Aspekte des Krieges thematisiert hat, mag es beinahe überraschen, dass das Thema der städtischen Gemeinschaftsverpflegung zwischen 1914 und 1918 bisher kaum berücksichtigt wurde.18 Vereinzelte Ausnahmen sind über die 16
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Der Begriff Social Engineering ist nicht eindeutig definiert und wird in der Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaft unbestimmt verwendet. Social Engineering (auch: angewandte Sozialwissenschaft) kann als wissenschaftsbasierte Sozialtechnik verstanden werden, deren Entstehung auf die Krise der modernen Industriegesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Mit ihr wurden vielfältige »Sozialprobleme« definiert, politisiert und durch die systematische Umgestaltung der Lebenswelt und Alltagspraktiken zu lösen versucht. Die Hochzeit des Social Engineering reichte von 1920 bis 1960. Vgl. hierzu ausführlich u.a. Etzemüller, Thomas (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. Raphael, Lutz: »Zwischen Sozialaufklärung und radikalem Ordnungsdenken«, in: Hübinger, Gangolf (Hg.), Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890–1970), München 2014, S. 29–50. Etzemüller, Thomas: »Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze«, in: ders., Die Ordnung, S. 11–39, hier S. 30. Wie Alan Kramer im ersten seiner beiden Aufsätze zur Historiographie des Ersten Weltkrieges anmerkt, seien bis September/Oktober 2013 allein 500 Publikationen erschienen. Vgl. ders.: »Recent Historiography of the First World War (Part I)«, in: Journal of Modern European History, Vol.
I. Einleitung
zeitgenössischen Publikationen19 hinaus die Forschungsarbeit von Anne Roerkohl, die sich unter Berücksichtigung der gesamtdeutschen Entwicklungen in einem umfangreichen Kapitel der westfälischen Massenspeisungen annimmt, und die Studie von Keith R. Allen zur Entstehung und Entwicklung der Berliner Massenspeisungen vom 19. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre.20 Eine umfassende Analyse der Berliner Volksund Kriegsküchen in der Zeit des Ersten Weltkrieges legte die Verfasserin mit ihrer Masterabschlussarbeit vor, deren Ergebnisse hier weitgehend übernommen werden.21 Sie bildet das Grundgerüst der vorliegenden Studie und berücksichtigt nicht nur die ab 1916 eingerichtete Volksspeisung, sondern auch die Notstandsküchen der ersten Kriegshälfte. Während für die Darstellung der Berliner Großküchenversorgung der zweiten Kriegshälfte über Allens Ergebnisse hinaus die Ausführungen Ernst Käbers22 hilfreich waren, wurde die Herausbildung der Notküchen unter Anleitung des NFD und mithilfe von Berliner Wohltätigkeitsorganisationen, ihre Handhabung und Inanspruchnahme sowie deren Verortung im Stadtbild vor allem aus den Akten des Magistrats von Berlin zur Kriegsarbeit erarbeitet.23 Ergänzend dazu werden im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit u.a. auch zeitgenössische Publikationen und Druckschriften verschiedener Behörden, Institutionen und Vereine sowie die Sitzungsprotokolle der Berliner Stadtverordnetenversammlung herangezogen.24 Ausgewertet werden zudem einige
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12/1 (2014), S. 5–27, hier S. 5. Zu den zahlreichen und an dieser Stelle nennenswerten Veröffentlichungen zählen u.a. Gesamt- und Überblicksdarstellungen wie Winter, Jay (Hg.): The Cambridge History of the First World War. 3 Bände, Cambridge 2014. Hirschfeld, Gerd et al. (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2014. Janz, Oliver: 14 – Der große Krieg, Frankfurt a.M. 2013. Herwig, Holger: The First World War. Germany and Austria-Hungary 1914–1918, London 1997. Sowie Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien 2013. Den wohl bedeutendsten Beitrag zur aktuellen Forschung des Ersten Weltkrieges liefert die »1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War« (oben Anm. 13). Im Internet unter: https://encyclopedia.1914-1918-online.net/home/ (16.03.2015). Stellvertretend für die Fülle an Studien zur Sozial- und Alltagsgeschichte des Krieges stehen an dieser Stelle die beiden von Jay Winter und Jean-Louis Robert herausgegebenen Sammelbände Capital Cities at War: Paris, London, Berlin 1914–1919, 2 Vol., Cambridge 1997/2007. Hierzu gehören u.a. Die Massenspeisungen. Beiträge zur Kriegswirtschaft, Heft 14, hg. von der Volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegsernährungsamts, Berlin 1917. Praktische Durchführung von Massenspeisungen. Außerordentliche Tagung der Zentralstelle für Volkswohlfahrt in Gemeinschaft mit dem Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen im Reichstagssitzungssaal am 3. und 4. Juli 1916, hg. von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, Berlin 1916. Zu Roerkohl oben Anm. 7. Allen, Keith R.: Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt und Kommerz in Berlin, 1870–1950, Hamburg 2002. Oben Anm. 9. Hierzu siehe auch Sprenger-Seyffarth, Jenny: »Public Feeding in the First World War. Berlin’s First Public Kitchen System«, in: Benbow, Heather Merle und Heather R. Perry (Hg.), Food, Culture and Identity in Germany’s Century of War, Basingstoke 2019, S. 75–102. Sowie Seyffarth, Volks- und Kriegsküchen (oben Anm. 8). Käber, Ernst: Berlin im Weltkriege. Fünf Jahre städtischer Kriegsarbeit, Berlin 1921. Relevant waren vor allem der Bestand des Berliner Landesarchivs A Rep. 001–02 Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1931–1936. Berücksichtigt wurden darüber hinaus die Bestände LAB, A Rep. 000–02-01 Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 2531 und LAB, A Rep. 001–02 Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1930. Hierzu zählen z.B.: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, Ausgaben 41–45 (1914-1918), hg. vom Ma-
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Berliner Tageszeitungen und Periodika, deren Informationsgehalt einen beachtlichen Beitrag zur vorliegenden Untersuchung leistet. Die Massenverpflegungsaktivitäten in Wien fanden in der Forschung bisweilen kaum Berücksichtigung. Eine Untersuchung der Wiener Ausspeisungen und Kriegsküchen während des Krieges liegt nicht vor, obwohl eine ganze Reihe zeitgenössischer und teilweise von der Stadt herausgegebener Materialien zur Verfügung steht, die sehr reichhaltige Informationen über den Umfang, die Organisation und Frequentierung der Wiener Küchen liefern.25 Eine erste Annäherung an das Thema findet sich in zwei Kapiteln der Dissertation von Sigrid Augeneder, die im Rahmen der Untersuchung der Lebensverhältnisse österreichischer Arbeiterfrauen während des Krieges neben den städtischen Küchen auch die österreichische Fabrikkantinenspeisung in den Blick nimmt.26 Eine umfangreichere, aber auf die Zeit nach dem Krieg ausgerichtete Studie hat Edith Hörandner vorgelegt, in der sie den Werdegang der WÖK bis in die 1990er Jahre nachzeichnet.27 Über die hier genannten (zeitgenössischen) Publikationen hinaus wird sich die Untersuchung des Wiener Kriegsküchenwesens auf eine Fülle von gedruckten Quellen stützen. Hierzu gehören die Protokolle der Sitzungen des Gemeinderats, Amts- und Gesetzesblätter sowie diverse Denkschriften und Tätigkeitsberichte verschiedener Organisationen und Vereine.28 Eine besondere Berücksichtigung erhalten auch hier die regionalen und lokalen Tageszeitungen aller politischen Richtungen.29 Diese berichteten nicht nur umfassend über die Massenverpflegungsaktivitäten in Wien, auch geht der Informationsgehalt der Lokal- und Großpresseartikel weit über
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gistrat zu Berlin, Berlin 1915–1919. Die städtische Volksspeisung in Berlin [im Kriegsjahr 1916], hg. vom Magistrat von Berlin, Berlin 1916. Kriegsfürsorge in Groß-Berlin. Ein Führer, Gesetze, Bekanntmachungen, Wohlfahrtseinrichtungen, hg. von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1915. Berliner Fürsorge-Arbeit während des Krieges, hg. von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1916. Unsere Ernährungs-Fürsorge für bedürftige Kleinkinder während der Kriegsmonate vom 1. August 1914 bis 1. Mai 1915, hg. vom Verein für Kinder-Volksküchen und Volks-Kinderhorte Berlin, Berlin 1915. Herangezogen werden u.a. auch die Akten des Reichswirtschaftsministeriums (BA, R 3101–6040) und des preußischen Staatskommissars für Volksernährung (GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164 und Nr. 315). Siehe hierzu neben weiteren die Publikationen von Weiskirchner (oben Anm. 5) und vom Magistrat der Stadt Wien (oben Anm. 9). Dont, Jakob: Tätigkeits-Bericht über die Zeit vom 30. Juli 1914 bis 31. Dezember 1916, hg. von der Zentralstelle der Fürsorge für die Angehörigen der Einberufenen und für die durch den Krieg in Not Geratenen in Wien und Niederösterreich, Wien 1917. Und Löwenfeld-Russ, Hans: Die Regelung der Volksernährung im Kriege, Wien 1926. Augeneder, Sigrid: Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich, Wien 1987, S. 95–102 und S. 141–149. Die Kriegsküchen als Vorgängerinstitution der WÖK finden dennoch Beachtung. Hierzu Hörandner, Edith: WÖK eine Wiener Institution, Wien 1994. Siehe auch oben Anm. 14. Hierzu gehören u.a. die Akten des Wiener Gemeinderats, WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/73-75. Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 25–27, Wien 1916–1918. Erlaß des k.k. Amtes für Volksernährung an sämtliche Landesbehörden, betreffend die Errichtung von Kriegsküchen, Beilage II, Wien 1917. Denkschrift über die von der k.k. Regierung aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen. Vierter Teil, Juli 1916 bis Juni 1917, Wien 1918. Das digitale Archiv der Wienbibliothek im Rathaus liefert einen umfangreichen und bereits inhaltlich klassifizierten Bestand an Zeitungsartikeln zum Ersten Weltkrieg. Im Internet unter: http s://www.digital.wienbibliothek.at/nav/classification/2612547 (13.04.2020).
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den der Verwaltungsschriften hinaus. Für die Darstellung der Entwicklung der Wiener Kriegsküchen ist die Zeitungsquelle daher von hohem Wert, wobei das Problem ihrer Authentizität nicht unberücksichtigt bleibt. Ebenso relevant für die vorliegende Untersuchung sind die jüngsten Forschungsarbeiten zum Wiener und Berliner Stadt- und Alltagsleben während des Ersten Weltkrieges. Besonders hilfreiche Darstellungen zum Wiener Kriegsalltag bieten zum einen der von den Historikern Alfred Pfoser und Andreas Weigl herausgegebene und nahezu alle Facetten der österreich-ungarischen Metropole im Ersten Weltkrieg beleuchtende Sammelband30 und zum anderen die Studie von Maureen Healy zur Wiener Heimatfront und ihrem bedeutenden Anteil am Zerfall der Habsburgermonarchie.31 Das Gegenstück für Berlin und damit den wichtigsten Beitrag zum Kriegsalltag in der deutschen Hauptstadt verfasste Belinda J. Davis.32 Alle drei Publikationen behandeln u.a. drei wesentliche Aspekte des Krieges an den beiden Heimatfronten, die für die vorliegende Forschungsarbeit essentiell sind: die Nahrungsmittelversorgung, den städtischen Verwaltungsapparat und die Lebensbedingungen der Familien einschließlich der sich zunehmend politisierenden Rolle der Frau. Nicht nur Healys und Davis’ Arbeiten verdeutlichen, dass die Heimatfront in der Forschung der vergangenen Jahre große Aufmerksamkeit erfuhr. Erwähnenswert und hilfreich sind auch die jüngst publizierten Arbeiten von Sven Felix Kellerhoff, Thomas Flemming und Bernd Ulrich sowie Christa Hämmerle, die sich mithilfe von Selbstzeugnissen dem Alltagsleben an den Heimatfronten des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns widmen.33 Eine weitere wichtige Studie veröffentlichte Tammy M. Proctor, in der sie die Auswirkungen des Krieges auf die Zivilisten in globaler Perspektive thematisiert.34 Zugleich lieferte sie im Rahmen der Online-Enzyklopädie »1914-1918-online« einen wichtigen Beitrag zum »Alltag« im Ersten Weltkrieg.35 Als Konstante im Alltag der Menschen an den Heimatfronten findet die Nahrungsmittelversorgungsfrage in allen diesen Arbeiten besondere Berücksichtigung.
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Pfoser, Alfred und Andreas Weigl: Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013. Oben Anm. 8. Oben Anm. 12. In den vergangenen Jahren rückten weitere deutsche Städte in den Fokus der Weltkriegsforschung. Siehe hierzu u.a. Ullrich, Volker: Kriegsalltag. Hamburg im ersten Weltkrieg, Köln 1987. Chickering, Roger: The Great War and urban life in Germany. Freiburg, 1914–1918, Cambridge 2007. Nübel, Christoph: Die Mobilisierung der Kriegsgesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster, Münster 2008. Regulski, Christoph: Klippfisch und Steckrüben. Die Lebensmittelversorgung der Einwohner Frankfurts am Main im Ersten Weltkrieg 1914–1918, eine Studie zur deutschen Wirtschafts- und Innenpolitik in Kriegszeiten, Wiesbaden 2012. Ballerstedt, Maren, Gabriele Köster und Maik Hattenhorst (Hg.): Magdeburg im Ersten Weltkrieg 1914 bis 1918. Eine Großstadt an der Heimatfront, Halle 2014. Kellerhoff, Sven Felix: Heimatfront. Der Untergang der heilen Welt – Deutschland im Ersten Weltkrieg, Köln 2014. Flemming, Thomas und Bernd Ulrich: Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten, München 2014. Hämmerle, Christa: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in ÖsterreichUngarn, Wien 2014. Proctor, Tammy M.: Civilians in a world at war, 1914–1918, New York 2010. Dies.: »The Everyday as Involved in War«, in: 1914–1918-online. DOI: 10.15463/ie1418.10453 (16.03.2015).
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Im Hinblick auf die Ernährung der Bevölkerung und deren Organisation durch die Kommunalverwaltungen sowie staatlichen Instanzen sind an dieser Stelle auch ältere Beiträge von Bedeutung wie jene von Avner Offer, Dieter Baudis und Hans Hautmann.36 Nennenswert sind ebenfalls die nicht weniger bedeutenden Studien zum Konsum im Ersten Weltkrieg. Im Rahmen der Forschungen zur Entwicklung der europäischen Konsumgesellschaften legten Armin Triebel, Anne Roerkohl und Belinda J. Davis Beiträge zum deutschen Konsumverhalten während des Krieges vor.37 Hieran anschließend kann die vorliegende Arbeit hinsichtlich der unmittelbaren Auswirkungen des Krieges auf die Lebensverhältnisse der einzelnen Bevölkerungsgruppen auf eine Reihe von Forschungsergebnissen zurückgreifen.38 Besondere Aufmerksamkeit wurde der Arbeiterschaft zuteil, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen in zahlreichen Arbeiten thematisiert wurden. Beispielgebend sind für Österreich-Ungarn neben der Arbeit von Augeneder die Beiträge von Reinhard J. Sieder und Josef Ehmer, die sich vornehmlich des Arbeiterfamilienlebens annehmen.39 Für das Deutsche Reich sind es vor allem die Arbeiten von Ute Daniel und Kirsten Schlegel-Matthies, die über das Familiendasein und die Arbeiterhaushalte im Krieg hinaus die neue Rolle vieler Frauen innerhalb des eigenen Haushalts beleuchten.40
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Offer, Avner: The First World War. An Agrarian Interpretation, Oxford 1989, insb. S. 22–78. Baudis, Dieter: »›Vom Schweinemord zum Kohlrübenwinter‹. Streiflichter zur Entwicklung der Lebensverhältnisse in Berlin im Ersten Weltkrieg, August 1914 bis Frühjahr 1917«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1986), S. 128–157. Sowie ders.: »Auswirkungen des Krieges auf die Lage der Volksmassen in Berlin 1917/18«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 28/2 (1987), S. 9–27. Hautmann, Hans: »Hunger ist ein schlechter Koch. Die Ernährungslage der österreichischen Arbeiter im Ersten Weltkrieg«, in: Botz, Gerhard et al. (Hg.), Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte, 10 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien 1978, S. 661–682. Triebel, Armin: Zwei Klassen und die Vielfalt des Konsums, 2 Bände, Berlin 1991. Roerkohl, Anne: »Die Lebensmittelversorgung während des Ersten Weltkrieges im Spannungsfeld kommunaler und staatlicher Maßnahmen«, in: Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Münster 1987, S. 309–370. Davis, Belinda J.: Konsumgesellschaft und Politik im Ersten Weltkrieg, in: Haupt, Heinz-Gerhard und Claudius Torp, Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 2009, S. 232–249. Für die österreich-ungarische Konsumgeschichte ist insbesondere die Studie von Roman Sandgruber zu erwähnen. Vgl. ders.: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, München 1982. Die wohl umfassendste Darstellung lieferte Kocka, Jürgen: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 1978. Weitere und die Lebensverhältnisse des Mittelstands zur Zeit des Ersten Weltkrieges thematisierende Beiträge verfassten für Wien Hannes Stekl (oben Anm. 1) und Berlin Lawrence, Jon: »Material pressures on the middle classes«, in: Winter/ Robert, Capital Cities, Vol. 1, S. 229–254. Sieder, Reinhard J.: »Behind the lines: working-class family life in Vienna«, in: Wall, Richard und Jay Winter (Hg.), The Up-heaval of War. Family, Work, and Warfare in Europe, 1914–1918, Cambridge 1988, S. 109–138. Ehmer, Josef: »Frauenarbeit und Arbeiterfamilie in Wien. Vom Vormärz bis 1934«, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 438–473. Daniel, Ute: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 84, Göttingen 1989. Schlegel-Matthies, Kirs-
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Die Bedeutung der Familienmahlzeit als Konstante im Familienalltag sowie die identitätsstiftende Funktion des Essens fand inzwischen in zahlreichen Sammelbänden Berücksichtigung, wobei die Zeit des Ersten Weltkrieges häufig zu kurz kam.41 Nichtsdestoweniger enthalten diese Publikationen Beiträge, die für die vorliegende Forschungsarbeit von Relevanz sind. Die Aufsätze von Ulrike Thoms zur Entwicklung des Kantinenwesens in Deutschland seit den 1850er Jahren liefern wertvolle Hinweise hinsichtlich seiner Inanspruchnahme durch die Arbeiterschaft und seiner Daseinsform während des Krieges.42 In den letzten Jahren erfuhr die Humanisierung der Arbeit in der Forschung zunehmend Beachtung. So thematisieren u.a. die Arbeiten Karsten Uhls den Lebensraum Fabrik und die damit einhergehende Fabrikspeisung.43 Die Studie von Jakob Tanner zur Entwicklung der Fabrikmahlzeit in der Schweiz ist wohl das umfassendste Werk, dessen Ergebnisse sich mit Blick auf die Etablierung der Gemeinschaftsverpflegung im Alltag der Arbeiterschaft zumindest teilweise auf die Berliner und Wiener Arbeiterschaft übertragen lassen.44 Zur Alltags- und Stadtgeschichte Wiens und Berlins in der unmittelbaren Nachkriegs- und Inflationszeit und den langfristigen Auswirkungen des Krieges auf die deutsche und österreichische Gesellschaft sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Gesamtdarstellungen und Studien entstanden. Einen umfangreichen Beitrag zur Geschichte Wiens von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, der die Zeit zwischen den Weltkriegen in aller Ausführlichkeit berücksichtigt, legte der Wiener Historiker Wolfgang Maderthaner vor.45 Ebenso relevant ist das von Maderthaner und Helmut Konrad herausgegebene zweibändige Werk zum »Werden der Ersten Republik«, das mit einer Reihe von Aufsätzen »das Entstehen der
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ten: »Im Haus und am Herd«: Der Wandel des Hausfrauenbildes und der Hausarbeit (1880–1930), Stuttgart 1995. Hierzu gehören u.a. Jacobs, Marc und Peter Scholliers (Hg.), Eating out in Europe. Picnics, Gourmet Dining and Snacks since the Late Eighteenth Century, Oxford/New York 2003. Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.): Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19./20. Jahrhundert, Stuttgart 2004. Ausnahmen bilden jedoch: Benbow, Heather Merle und Heather R. Perry (Hg.), Food, Culture and Identity in Germany’s Century of War, Basingstoke 2019. ZweinigerBargielowska, Ina, Rachel Duffett und Alain Drouard (Hg.): Food and War in Twentieth Century Europe, Farnham/Burlington 2011. Thoms, Ulrike: »Physical Reproduction, Eating Culture and Communication at the Workplace. The Case of Industrial Canteens in Germany 1850–1950«, in: Food & History 7, Nr. 2 (2009), S. 119–154. Dies.: »Essen in der Arbeitswelt. Das betriebliche Kantinenwesen seit seiner Entstehung um 1850«, in: Teuteberg, Revolution am Esstisch, S. 203–218. Dies.: »Industrial Canteens in Germany 1850–1950«, in: Jacobs/Scholliers, Eating out in Europe, S. 351–372. Uhl, Karsten: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014, insb. S. 95ff. Sowie ders.: »›Schafft Lebensraum in der Fabrik!‹: Betriebliche Kantinen und Speiseräume im deutschen Rationalisierungsdiskurs 1880–1945«, in: Uhl, Karsten und Lars Bluma (Hg.), Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper?Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012, S. 361–395. Tanner, Jakob: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890–1950, Zürich 1999. Maderthaner, Wolfgang: »Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945«, in: Csendes, Peter und Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Band 3, Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien 2006, S. 175–544.
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Republik Österreich in seiner ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit«46 zu erfassen versucht und neben den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen sowie gesellschaftlichen Entwicklungen auch das »Rote Wien« thematisiert.47 Darüber hinaus sind die jüngsten Publikationen von Alfred Pfoser, Andreas Weigl und Walter Rauscher hervorzuheben, mit denen zwei anschauliche und umfassende Gesamtdarstellungen der österreichischen Republik während ihrer Gründungsjahre vorliegen.48 Zur Geschichte Berlins in den frühen Jahren der Weimarer Republik und damit auch zur Geschichte der Berliner Kommunalpolitik nach dem Krieg gibt es mittlerweile eine große Bandbreite an Publikationen. Nennenswert sind an dieser Stelle die neueren Stadtportraits von Jens Bisky, Ruth Glatzer und Manfred Görtemaker sowie ältere Darstellungen von Annemarie Lange und Henning Köhler.49 Noch umfangreicher gestaltet sich die Literaturlage im Hinblick auf die gesamtstaatlichen Entwicklungen in den Bereichen Gesellschaft sowie der Sozial- und Geschlechterpolitik während der Weimarer Zeit, die zur Kontextualisierung der Berliner Lebensverhältnisse in den frühen 1920er Jahren beitragen.50
3| Gliederung der Arbeit Die vergleichende Analyse der Wiener und Berliner Massenspeisungsentwicklungen während des Ersten Weltkrieges und deren Auswirkungen auf den privaten Küchentisch gliedert sich in drei zeitlich aufeinanderfolgende und in ihrem Umfang variierende Untersuchungsabschnitte. Zunächst werden in einem ersten Teil der Untersuchung die demographischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen sowie politischen und stadtplanerischen Gemeinsam46 47
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Gusenbauer, Alfred: »Geleitwort«, in: Konrad, Helmut und Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. …der Rest ist Österreich, Band 1, Wien 2008, S. 11–12, hier S. 11. Konrad, Helmut und Wolfgang Maderthaner (Hg.): Das Werden der Ersten Republik. …der Rest ist Österreich, 2 Bände, Wien 2008. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch Konrad, Helmut (Hg.): 1918–2018. Die Anfänge der Republik Österreich im internationalen Kontext, Wien 2018. Eine weitere hilfreiche, doch bereits ältere Studie zur Kommunalpolitik der Wiener Sozialdemokraten in der Zwischenkriegszeit veröffentlichte Weihsmann, Helmut: Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934, Wien 1985. Pfoser, Alfred und Andreas Weigl, Die erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918–1922, Salzburg 2017. Rauscher, Walter: Die verzweifelte Republik. Österreich 1918–1922, Wien 2017. Bisky, Jens: Berlin. Biographie einer großen Stadt, Berlin 2019. Glatzer, Ruth (Hg.): Berlin zur Weimarer Zeit 1919–1933. Panorama einer Metropole, Berlin 2000. Görtemaker, Manfred: Weimar in Berlin. Porträt einer Epoche, Berlin 2002. Lange, Annemarie: Berlin in der Weimarer Republik, Berlin 1987. Köhler, Henning: »Berlin in der Weimarer Republik (1918–1932)«, in: Ribbe, Wolfgang (Hg.), Geschichte Berlins. Zweiter Band: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München 1987, S. 797–923. Hierzu u.a. Rouette, Susanne: Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1993. Hagemann, Karen: Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990. Ferner Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008. Kluge, Ulrich: Die Weimarer Republik, Paderborn 2006.
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keiten und Unterschiede der beiden Metropolen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengetragen, um die sehr ähnlichen Ausgangsbedingungen aufzuzeigen, unter denen beide Hauptstädte dem Krieg entgegentraten.51 Wien und Berlin waren mit jeweils über zwei Millionen Einwohnern mehr als die größten Städte ihres Landes – sie waren politische Zentren, kriegswichtige Industriestandorte und Kulturmetropolen. Die gesellschaftlichen und soziostrukturellen Merkmale beider Städte erfahren besondere Berücksichtigung. Im Rahmen der Darstellung der sich wandelnden Lebensbedingungen der Angestellten und der Arbeiterschaft während des 19. Jahrhunderts stehen vor allem das Familienleben und die Rolle der Frau in den Angestellten- und Arbeiterfamilien im Vordergrund. Daran anschließend rückt mit der Betrachtung der Ernährungsgewohnheiten ein besonderer Aspekt des (Familien-)Alltags in den Blick. Die Familienmahlzeit war das »Symbol für das Ideal der bürgerlichen Familie«52 , das sich um die Jahrhundertwende auch im Alltag vieler Arbeiterfamilien etabliert hatte. Bereits im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts war die familiale Tischgemeinschaft einem Wandel unterworfen und erfuhr durch die Trennung von Arbeitsplatz und Haushalt einen Bedeutungszuwachs. Diese Entwicklung wird einschließlich der einsetzenden Rollenkumulation der zum Familieneinkommen beitragenden (Arbeiter-)Frauen genauer beleuchtet. Darüber hinaus wird der Prozess der Herausbildung und Verbreitung der Fabrikspeisung thematisiert. Die Auseinandersetzung mit der (betrieblichen) Gemeinschaftsverpflegung im Wien und Berlin der Vorkriegszeit ist dabei aus zwei Gründen notwendig: Erstens war ein nicht unbeträchtlicher Teil der Arbeiterschaft bereits vor den kriegsbedingten Massenspeisungsunternehmungen mit der öffentlichen und rationalisierten Mittagsverpflegung vertraut, welche die Bildung neuer (alltäglicher) Tischgemeinschaften außerhalb der Familie ermöglichte.53 Und zweitens wurden die Fabrikküchen kriegswichtiger Unternehmen während der Kriegszeit weiterbetrieben. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der Kriegszeit. Nach einem Überblick über die kriegsorganisatorischen Maßnahmen, die von beiden Hauptstädten hinsichtlich ihres Verwaltungsapparats ergriffen wurden, werden im ersten Kapitel die allgemeinen Auswirkungen des Krieges auf jene Teile der Bevölkerung dargestellt, welche sich vor dem Krieg dem Mittelstand und der Arbeiterschaft zurechneten. Ihr (familialer) Alltag wurde wohl am stärksten durch den Krieg beeinträchtigt. Die in den Kriegsdienst getretenen Ehemänner und Väter, aber auch Söhne hinterließen Familien, denen mit Kriegsbeginn mehrheitlich die wichtigste Einkommensquelle fehlte. Die an der Heimatfront verbliebenen Männer und die zum Familieneinkommen beitragenden Arbeiterfrauen waren oft mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes konfrontiert. Drastisch gestiegene Lebenshaltungskosten forderten die Betroffenen im Verlauf des Krieges heraus, ihren gesellschaftlichen
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Im Fall von Berlin gibt es bereits einige vergleichende Darstellungen, welche an dieser Stelle beispielgebend sind: Winter, Jay: »The myth of decline: an urban perspective«, in: Clarke, Peter und Clive Trebilcock (Hg.), Understanding decline. Perceptions and realities of British economic performance, Cambridge 1997, S. 103–122. Schlegel-Matthies, Kirsten: «Liebe geht durch den Magen.«Mahlzeit und Familienglück im Strom der Zeit. Geht die alte häusliche Tischgemeinschaft zu Ende?«, in: Teuteberg, Revolution am Esstisch, S. 148–161, hier S. 150. Vgl. Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 26.
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Status zu verteidigen. Die vor allem ab der zweiten Kriegshälfte zunehmende Frauenerwerbsarbeit in den kriegswichtigen Unternehmen verschaffte vielen Frauen die neue Rolle als »Familienernährerin«, die mit der Organisation des Haushalts, der Versorgung der Kinder und der Beschaffung der Lebensmittel – also der traditionellen weiblichen Familienrolle – kaum noch in Einklang zu bringen war.54 Die Beeinträchtigung des gesellschaftlichen Alltags durch den Krieg erstreckte sich bald auch auf die Lebensmittelversorgung, sodass in einem weiteren Punkt die Auswirkungen des Krieges auf die städtische Versorgung mit Nahrungsmitteln herausgestellt werden. Da keine staatlichen Vorkehrungen getroffen wurden, fiel die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln auch nach Kriegsbeginn in den Zuständigkeitsbereich der Kommunen, die angesichts des Nahrungsmittelmangels aber immer mehr auf staatliches Handeln angewiesen waren.55 Die Stadtverwaltungen in Berlin und Wien stellte diese Aufgabe vor enorme Herausforderungen. Die stets prekärer werdende Lebensmittelversorgung zwang die Verantwortlichen zu Rationierungsmaßnahmen und neuen Methoden zur Einsparung von Lebensmitteln, die im Hinblick auf die anschließende Untersuchung der städtischen Massenspeisungen zu berücksichtigen sind. Die Gegenüberstellung der städtischen Großküchen im Krieg in Wien und Berlin bildet den Schwerpunkt des zweiten Teils. Hierbei werden die Entwicklungen des Massenverpflegungswesens beider Städte in zwei voneinander getrennten Kapiteln in den Blick genommen. Im jeweils ersten Kapitelabschnitt wird dargestellt, in welcher Weise die Stadtverwaltungen zu Kriegsbeginn mit der Idee der Großküchenspeisung umgingen und welchen Stellenwert sie im Bereich der Lebensmittelversorgung sowie der Kriegsfürsorge bis zum Sommer 1916 einnahmen. Hinsichtlich der Dokumentation der städtischen Aktivitäten im Bereich der Massenspeisungsversorgung bis 1916 scheint die Wiener Stadtverwaltung beispielsweise insgesamt strukturierter vorgegangen zu sein als die Berlins – der Umfang des für Wien vorliegenden Materials für die Zeit von 1914 bis 1916, das hauptsächlich aus kommunalen Publikationen und Periodika besteht, legt diese Vermutung nahe.56 Im Mittelpunkt stehen an dieser Stelle vor allem die Initiativen philanthropischer Vereine, die als Träger der Großküchen die entscheidende Rolle bei der Einrichtung und Organisation der kommunalen Notstandsversorgung spielten. In Kooperation mit den Wiener und Berliner Frauenhilfsorganisationen gewährleisteten sie die Entstehung umfangreicher Notspeisestellennetze.57 Mit der Verortung der 54
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Vgl. Lindemann, Hugo: Die deutsche Stadtgemeinde im Kriege, Tübingen 1917, S. 91. Zur Lohnund Familienarbeit städtischer Arbeiterfrauen ausführlich bei Daniel, Ute: »Der Krieg der Frauen 1914–1918: Zur Innenansicht des Ersten Weltkriegs in Deutschland«, in: Hirschfeld, Gerhard, Gerd Krumeich und Irina Renz (Hg.), »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…« Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 131–149. Vgl. Enderle-Burcel, Gertrude: »Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung. Verwaltung im Ausnahmezustand – die Wiener Zentralbürokratie im Ersten Weltkrieg«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 274–283, hier S. 280ff. Zum Deutschen Reich siehe Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 312ff. Hierzu siehe oben Anm. 25. Vergleichbares Material für Berlin liegt lediglich in Form der Publikation von Ernst Käber (oben Anm. 22) vor. Berücksichtigt werden daher vornehmlich die Bestände des Landesarchivs Berlin (oben Anm. 23). Zur »Frauenhilfsaktion im Kriege« und die »Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs« (ROHÖ) u.a. Granitsch, Helene: Kriegsdienstleistung der Frauen, Wien 1915. Sowie Hämmerle,
I. Einleitung
Speiseeinrichtungen im Stadtbild Wiens und Berlins wird ersichtlich, welches Ausmaß die Massenverpflegung bereits in der ersten Kriegshälfte annahm. Im Anschluss an die Darstellung der organisatorischen Faktoren rückt die Inanspruchnahme der Speiseeinrichtungen zwischen 1914 und 1916 in den Vordergrund. Mit Hilfe der im Kontext der Entwicklung der Nahrungsmittelversorgung zu untersuchenden Besucherzahlen erfolgt eine nähere Beschreibung des Teilnehmerkreises der Notspeiseeinrichtungen während der ersten beiden Kriegsjahre. Es deutet vieles darauf hin, dass die Massenspeisungsbemühungen der ersten Phase maßgeblichen Einfluss auf die richtungsweisenden Entscheidungen und Entwicklungen der städtischen Gemeinschaftsverpflegung im bzw. ab dem Sommer 1916 hatten. Unter Zuhilfenahme einschlägiger Publikationen und Zeitungsartikel wird in einem nächsten Schritt für beide Städte gezeigt, wie die Stadtverwaltungen auf die wachsende Not und die zunehmende staatliche Intervention, die zwangsläufig zu Kompetenzverschiebungen im Bereich der Nahrungsmittelversorgung führte, reagierten. In den Blick genommen werden zunächst die im Frühjahr 1916 beinahe zeitgleich auftretenden Debatten rund um die Fortführung der Massenverpflegung. Hierbei finden sowohl die diskutierten Konzepte zum Aus- und Umbau der städtischen Küchensysteme als auch die Forderungen der Sozialdemokraten Berücksichtigung.58 Letztere waren in beiden Hauptstädten nicht nur an der Reorganisation der Massenverpflegung beteiligt, sondern setzten sich auch für die Bedürfnisse eines Großteils der Bevölkerung ein. In der zweiten Kriegshälfte führten die Großstadtverwaltungen ihre Massenspeisungsbestrebungen schließlich unter einem hohen staatlichen Erwartungsdruck fort. Die ausführlich dokumentierte Umgestaltung der Massenspeisungssysteme beider Städte einschließlich ihrer Funktionsweisen und die Verortung der neuen Kriegsküchen im Stadtbild nach 1916 werden in einem nächsten Abschnitt dargestellt.59 Durch die unentwegt zunehmende Verschlechterung der Versorgungsbedingungen war nun ein beträchtlicher Kreis von Berlinern und Wienern auf die Außer-Haus-Verpflegung angewiesen. Unter Berücksichtigung von Zeitungs- und Stimmungsberichten thematisiert dieser Untersuchungsabschnitt auch die Resonanz der Bevölkerung auf das städtische Verpflegungsangebot.60 Gezeigt wird zum einen, wie stark die kommunalen
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Heimat/Front, S. 85ff. Zum »Nationalen Frauendienst« u.a. Boyd, Catherine Elaine: Nationaler Frauendienst. German middle-class women in service to the fatherland, 1914–1918, University of Georgia, Ann Arbor 1979. Bäumer, Gertrud: »Die Tätigkeit des Nationalen Frauendienstes«, in: Berliner Fürsorge-Arbeit während des Krieges, hg. von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1916, S. 102–106. Sowie Nationaler Frauendienst in Berlin: 1914–1919, hg. vom Nationalen Frauendienst, Berlin 1919. Erste Ansätze für Berlin hierzu bei Seyffarth, Hunger und Not, S. 77ff. Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 40ff. Roerkohl, Hungerblockade, S. 234ff. Vgl. auch die Publikation der Zentralstelle für Volkswohlfahrt (oben Anm. 19). Zu Wien u.a. Healy, Vienna, S. 61ff, insb. S. 72. Und Augeneder, Arbeiterinnen, S. 142ff. Der Ausbau der Kriegsküchen in Wien in der zweiten Hälfte des Krieges wurde in der Presse so umfangreich thematisiert, dass vor allem diverse Artikel der Tagespresse herangezogen werden. Stimmungsberichte aus der Kriegszeit. 1914–1917, 5 Bände, verf. von der k. k. Polizeidirektion Wien und zur Verfügung gestellt im digitalen Archiv der Wienbibliothek im Rathaus (WBD). Im Internet unter: https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/titleinfo/60 7252 (03.08.2014). In ihrer Diplomarbeit zur Lebensmittelnot im Wien des Ersten Weltkrieges hat
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Massenspeisungen von den Stadtbewohnern in Anspruch genommen wurden. Zum anderen wird ermittelt, wie sich die Frequentierung der Stadtküchen im Vergleich zur Inanspruchnahme anderer Gemeinschaftsküchenangebote verhielt. Angesichts der Notverhältnisse sahen sich nicht nur die kommunalen Behörden dazu veranlasst, auf dem Gebiet der Massenversorgung aktiv zu werden. Spätestens ab der zweiten Kriegshälfte existierten in Berlin und Wien eine ganze Reihe weiterer Großküchen, die von (kriegswichtigen) Unternehmen und der Privatwohltätigkeit ins Leben gerufen wurden. Die Untersuchung der Berliner und Wiener Massenverpflegung während des Ersten Weltkrieges verlangt demnach auch eine Betrachtung dieser Einrichtungen. In den Blick genommen werden hierbei sowohl die Fabrikspeisungen, die ihre Verpflegungsangebote vornehmlich an die Fabrikarbeiterschaft richteten und damit einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung zur Verfügung standen,61 als auch die philanthropische und betriebliche Mittelstandsverpflegung, die ebenfalls auf einen exklusiven Kreis der Stadtbevölkerung ausgerichtet war und in zunehmendem Maß eine Alternative zu den kommunalen Großküchen darstellte.62 Der Vergleich der Wiener und Berliner Massenverpflegungsaktivitäten während des Krieges erfolgt schließlich im vierten und letzten Kapitel des zweiten Teils. Hierbei werden nicht nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Wiener und Berliner Küchensystemen ermittelt, sondern auch Kontinuitäten und Umbrüche zwischen der ersten und zweiten Kriegshälfte herausgearbeitet. Die Ausgestaltung und Entwicklung sowie der angestrebte Erfolg der Massenverpflegung waren über ihre organisatorischen Faktoren hinaus von ihrer Inanspruchnahme und den soziokulturellen Gegebenheiten abhängig. Die Besucher der städtischen Küchen entschieden letztlich über das »Gelingen« der kommunalen Massenspeisungsbemühungen und umgekehrt wirkten sich die Organisationstrukturen und die Ausgestaltung der Großküchen identitäts-
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Fatima Awad-Masalmeh bereits eine erste Zusammenfassung der Stimmungsberichte vorgelegt. Hierzu dies.: Zum Hunger in Wien im Ersten Weltkrieg. Diplomarbeit, Universität Wien, Wien 2009. Sowie Dokumente aus geheimen Archiven. Band 4: 1914–1918, Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin 1914–1918. Bearb. von Materna, Ingo und Hans-Joachim Schreckenbach, Weimar 1987. Die Untersuchung wird sich jedoch auf eine kleine Auswahl verschiedener Betriebe beschränken, da nur wenige Unternehmen ihre Aktivitäten im Bereich der Betriebsverpflegung dokumentierten. Über das vereinzelt herangezogene und sehr knapp ausfallende Archivmaterial hinaus werden verschiedene (zeitgenössische) Publikationen und Zeitungsartikel herangezogen, die das Thema Fabrikspeisung während der Zeit des Ersten Weltkrieges behandeln. Dazu gehören u.a. Wiernik, Lucian: »Die Arbeiterernährung in der Kriegsorganisation der Industrie«, in: Die Schwerarbeiterfrage. Beiträge zur Kriegswirtschaft, Heft 26/27, hg. von der Volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegsernährungsamts, Berlin 1917, S. 42–87. Yaney, George: The World of the Manager. Food Administration in Berlin during World War I, New York 1994, S. 99–203. Berichte der k.k. Gewerbeinspektoren über ihre Amtstätigkeit in den Jahren 1914 bis 1918, Wien 1915–1921. Während sich die Betrachtung der Wiener Gemeinschaftsküchenverpflegung für den Mittelstand vorrangig auf einschlägige Zeitungsartikel stützen wird, kann für die Darstellung der Berliner Mittelstandsküchen auf vereinzelte Publikationen zurückgegriffen werden: Abraham, Herrmann: Drei Kriegsjahre. Erlebtes und Geschaffenes, Berlin 1917. Sowie Yaney, The World, S. 203–224.
I. Einleitung
stiftend auf den Besucherkreis aus.63 Die Betrachtung dieses Wechselverhältnisses liefert bereits Hinweise auf das Fortbestehen der Wiener Kriegsküchen nach 1918. Im dritten Teil der Arbeit rücken die Nachkriegsverhältnisse und die Entwicklung der Berliner und Wiener Massenverpflegung während der frühen 1920er Jahre in den Mittelpunkt. Hierbei richtet sich der Blick zunächst auf die politische Situation beider Städte nach den revolutionären Ereignissen im November 1918. Wien und Berlin waren nicht nur »Tummelplätze der politischen Leidenschaften«64 , sondern erwiesen sich infolge der ersten Kommunalwahlen nach dem Krieg auch als linke Hochburgen. Für die Hauptstadt der ehemaligen Habsburgermonarchie war dies die Geburtsstunde des »Roten Wiens«, in dem die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ihre Reformpläne in die Tat umsetzen konnte. Auch in der Hauptstadt der neu gegründeten Weimarer Republik gingen die sozialdemokratischen Parteien SPD und USPD zunächst als stärkste Kräfte aus den Stadtverordnetenwahlen hervor, doch anders als in Wien besaß die Berliner SPD während der zwanziger Jahre nur eine relative Stärke. Zur Verwirklichung ihrer sozialpolitischen Ziele waren die Berliner Sozialdemokraten stets auf die Zusammenarbeit mit anderen Parteien und das Wohlwollen der staatlichen Behörden angewiesen. Die Stadtverwaltungen der beiden Hauptstädte standen nach dem Krieg vor enormen ökonomischen und sozialen Herausforderungen, die es in diesem Abschnitt der Arbeit näher zu betrachten gilt. Wien und Berlin büßten ihren Status als Wirtschaftsmetropole ein. Sie hatten nicht nur Probleme, ihre Wirtschaft auf die Friedensproduktion umzustellen, sondern kämpften zunehmend auch mit der Inflation und ihren Folgen. Auf die daraus resultierenden sozialen Probleme und die im Zuge des Krieges zerrütteten gesellschaftlichen Verhältnisse mussten zeitnah sozialpolitische Antworten gefunden werden. In diesem Kontext wird herausgearbeitet, in welcher Lage sich der Mittelstand und die Arbeiterschaft nach dem Krieg und in den Jahren der Inflation befanden und inwieweit eine Rückkehr zum (Familien-)Alltag und zur Rollenverteilung im Haushalt der Vorkriegszeit stattfand bzw. möglich war. Damit zusammenhängend finden in einem zweiten Abschnitt des Nachkriegskapitels die ernährungspolitischen Folgen des Krieges Berücksichtigung. Das Ernährungsproblem beschäftigte Wien und Berlin bis weit über das Ende der alliierten Wirtschaftsblockade hinaus. Beide Städte kamen vorerst nicht umhin, ihre während des Krieges ergriffenen Bewirtschaftungsmaßnahmen aufrechtzuerhalten und an ihren Massenverpflegungsaktivitäten festzuhalten.65 Angesichts der weiterhin vorherrschenden Versorgungsprobleme stießen die Verantwortlichen jedoch rasch an die Grenzen des Machbaren. Auf dem Gebiet der Massenversorgung waren sie in erheblichem Maß auf die humanitäre Unterstützung aus dem Ausland angewiesen.66 Durch die In63 64
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Vgl. Seyffarth, Hunger und Not, S. 73ff. Büsch, Otto: »Entstehung und Leistung der ersten Berliner Demokratie: Das neue Groß-Berlin als Hauptstadt der Weimarer Republik«, in: ders. und Wolfgang Haus, Berlin als Hauptstadt der Weimarer Republik 1919–1933 (Berliner Demokratie 1919–1985, Band I), Berlin 1987, S. 5–106, hier S. 34. Hierzu u.a. Böß, Gustav: Die Not in Berlin. Tatsachen und Zahlen, Berlin 1923. Löwenfeld-Russ, Hans und Isabella Ackerl (Hg.): Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung 1918–1920, Wien 1986. Hilfreiche Beiträge zu den Aktivitäten der Auslandshilfe sind u.a. Kilian, Lothar: Die unbekannte Winterhilfe. Die großen Nothilfesammlungen in den Krisenjahren der Weimarer Republik, Pader-
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
itiativen der Auslandshilfe konnten viele der Wiener und Berliner Großküchen nicht nur weiterbetrieben werden, sie lieferten auch Anknüpfungspunkte für die sozialdemokratische Massenverpflegungspolitik der 1920er Jahre. Hierbei werden die vielfältigen Wiener und Berliner Großküchen der 1920er Jahre in den Blick genommen. Ihre Betrachtung liefert allerhand Anhaltspunkte, mit denen sich die wachsende Bedeutung der Wiener Stadtküchen für den (bürgerlichen) Mittelstand und die weit reichende Ablehnung der Berliner Küchen erklären lassen. Hinsichtlich des Konzepts der städtischen Gemeinschaftsverpflegung wird im letzten Abschnitt des Nachkriegskapitels zum einen vergleichend herausgearbeitet, inwiefern die Sozialdemokraten an ihre während des Krieges formulierten Forderungen hinsichtlich der Großküchen festhielten und unter welchen Bedingungen die städtische Massenverpflegungspolitik betrieben wurde. Auch wird auch der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Kompetenzen der Kommunen verschoben und eine Zusammenarbeit mit den staatlichen Instanzen im Bereich der Sozial- und Wohlfahrtspolitik erfolgte. Zum anderen wird die Massenverpflegungspolitik im Kontext der sozialdemokratischen Rationalisierungsanstrengungen im Alltagsleben der Familien in den Blick genommen. Die »Rationalisierung und Zentralisierung der Hauswirtschaft« war ein zentrales Anliegen der (vorrangig weiblichen) Sozialdemokratie, das auf eine Reorganisation der häuslichen Reproduktionsarbeiten weg vom Einzel- und hin zum Gemeinschaftshaushalt und damit auf eine Erleichterung des Familien- und Arbeitsalltags berufstätiger Frauen zielte.67 Hieran anknüpfend wird untersucht, inwiefern die sozialdemokratische Modernisierungspolitik der Nachkriegsjahre alternative Formen des Lebens und Wohnens förderte und welchen Stellenwert die Gemeinschaftsküche hierbei einnahm. Mit verstärktem Blick auf Wien wird hierbei auch der Frage nachgegangen, inwieweit die sozialdemokratische Kommunalpolitik dazu beitrug, dass sich die Massenverpflegung der Nachkriegszeit vom Charakter der Notfürsorge löste und von der Bevölkerung als zweckmäßige und alltagserleichternde Einrichtung akzeptiert wurde. Im Ergebnis der vorliegenden Forschungsarbeit wird gezeigt, welchen Anteil der Erste Weltkrieg als »große[r] Schrittmacher der Sozialpolitik«68 , die Nachkriegsnot und die (kommunale) Sozialpolitik der Nachkriegsjahre an der unterschiedlichen Entwicklung der Wiener und Berliner Massenverpflegung hatten. Unter Berücksichtigung des kulturhistorischen Kontexts wird darüber hinaus deutlich, inwiefern das Fortbestehen der Großküchen im »Roten Wien« mit einer durch äußere Umstände erzwungenen Abkehr vom täglichen Ritual der Familienmahlzeit durch Teile der Wiener Bevölkerung einherging und inwieweit der Niedergang der Berliner Kriegsküchen tatsächlich auf das Festhalten an der den sozialen Status repräsentierenden privaten Tischgemeinschaft zurückgeführt werden kann.
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born 2013. Cox, Mary E.: Hunger in War and Peace. Women and Children in Germany, 1914–1924, Oxford 2019. Reischl, Friedrich: Wiens Kinder und Amerika. Die amerikanische Kinderhilfsaktion 1919, hg. vom Deutschösterreichischen Jugendhilfswerk in Wien, Wien 1919. Vgl. Yazdanpanah, Marie-Noëlle und Veronika Duma: »Die ›neue Frau‹ und Frauenrechte«, in: McFarland, Rob, Georg Spitaler und Ingo Zechner, Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne 1919–1934, Berlin 2020, S. 293–316, hier S. 293. Preller, Ludwig: Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978, S. 85.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg »Wer die allerfrühesten und allerersten Knospen der Gemeinschaftsspeisung hat sich entfalten sehen, wird selbst in seinen kühnsten Träumen nicht daran gedacht haben, daß daraus ein so kraftvoller und mächtiger Baum erwachsen würde.« Wirtschaftliches Wochenblatt für die Beamten-, Mittelstands- und Kleinkinderküchen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte Berlin, 14. Juli 1917.
Als im August 1914 in Europa die Lichter erloschen endete nicht nur eine über vierzig Jahre andauernde Epoche innereuropäischen Friedens, sondern auch eine von Tempo und Fortschritt, Wachstum und Aufschwung, Aufbruch und Vielfalt bestimmte Phase, die das Gesicht Europas und seiner Großstädte in den Jahren rund um die Jahrhundertwende tiefgreifend veränderte. »[E]in Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europas fast gleichmäßig zu fühlen war. Die Städte wurden schöner und volkreicher von Jahr zu Jahr, das Berlin von 1905 glich nicht mehr jenem, das ich 1901 gekannt, aus der Residenzstadt war eine Weltstadt geworden und war schon wieder großartig überholt von dem Berlin von 1910. […B]reiter, prunkvoller wurden die Straßen, machtvoller die öffentlichen Bauten, luxuriöser und geschmackvoller die Geschäfte. Man spürte es an allen Dingen, wie der Reichtum wuchs und wie er sich verbreitete […]. Überall entstanden neue Theater, Bibliotheken, Museen […] und von unten stieg, seit die Arbeitszeit verkürzt war, das Proletariat empor, Anteil wenigstens an den kleinen Freuden und Behaglichkeiten des Lebens zu nehmen. Überall ging es vorwärts. […] Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft […].«1 Die Erinnerungen von Stefan Zweig (1881–1942) lassen nur in Ansätzen erahnen wie stark sich der atemberaubende Wandel in der Belle Époque auf das Leben der europäi1
Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 1999, S. 223f.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
schen Großstadtbevölkerungen auswirkte. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges gehörten die Hauptstadt Österreich-Ungarns und die des Deutschen Reiches nicht nur zu den fünf größten Städten der Welt, Wien und Berlin hatten mit ihren geballten hauptstädtischen Funktionen zentrale Bedeutung in Wirtschaft, Politik sowie Kultur und somit auch den Rang als Weltstädte inne.2 Die im 19. Jahrhundert einsetzende Industrielle Revolution brachte zahlreiche Industriestädte in Europa hervor, doch längst nicht alle wurden wie Berlin und Wien durch die enorme wirtschaftliche Umwälzung mit einem so außergewöhnlichen geographischen wie demographischen Wachstum konfrontiert. Der damit verbundene innere und äußere Wandel beider Städte brachte in der Folge erhebliche soziostrukturelle Veränderungen mit sich, die zugleich die Grenzen der Modernisierung aufzeigten. Längst nicht alle Wiener und Berliner profitierten im neuen »Zeitalter der Massen« von den schönen und fortschrittlichen Innovationen jener Zeit, etwa von den neuen Verkehrsmitteln oder den imposanten Kultureinrichtungen. Die Belle Époque hatte auch eine unschöne Kehrseite, die in den bürgerlichen Memoiren eines Stefan Zweig verborgen blieb: die Not der Massen in den »Quartieren des Elends« der Wiener und Berliner Arbeiterbezirke.3 So waren die Vorkriegsjahrzehnte nicht nur durch die glanzvolle Metropolwerdung und die wirtschaftliche, städtebauliche, politische sowie kulturelle Modernisierung beider Residenzstädte gekennzeichnet, sie waren vor allem auch geprägt durch die mit diesem Wandel einhergehenden veränderten gegensätzlichen Lebens- und Arbeitsverhältnisse der großstädtischen Gesellschaftsschichten. Die massenhafte Fabrikarbeit bestimmte die Lebensführung und den Familienalltag der Wiener wie Berliner Angestellten- sowie der Arbeiterschaft und somit der Mehrheit der städtischen Bevölkerung. Die immer größer werdenden Entfernungen zu den Arbeitsstellen, die Arbeitszeiten und die Einkommensverhältnisse sowie die hiermit oftmals verbundene zunehmende Frauenerwerbsarbeit diktierten u.a. die Art und Weise des Zusammenlebens der Familien. Als besonders tiefgreifender Einschnitt in das Familienleben wurde von vielen Betroffenen die mit den veränderten Reproduktionsbedingungen einhergehende allmähliche Auflösung der privat-familialen Mittagsmahlzeit empfunden. Der Fabrikalltag brachte gemeinsam mit dem im Zuge der Industrialisierung allgemein einsetzenden Wandel zu einer modernen Nahrungsversorgung völlig neue Ernährungsformen und -verhältnisse hervor. Mit der Entstehung der modernen Konsumgesellschaft, an »der jeder nach seinem sozialen Rang und seinen finanziellen Möglichkeiten«4 teilhaben konnte, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der
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Vgl. u.a. Lenger, Friedrich: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 53. Maderthaner, Von der Zeit, S. 178. Die »Quartiere des Elends« nehmen Bezug auf den Titel der Sozialreportage »Durch die Quartiere des Elends und des Verbrechens« von 1908, in der der Journalist Emil Kläger (1880–1936) jene außerhalb des Stadtkerns liegenden Facetten Wiens beschrieb, die sich den bürgerlichen Wahrnehmungen des Stadtbildes entzogen. Den begrenzten Blick der bürgerlichen Literatur auf das Panorama der Wiener Vorstädte der Jahrhundertwende haben Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner bereits in einer umfassenden Studie betont. Dies., Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a.M./New York 2000, S. 68–85. Lummel, Peter: »Berlins nimmersatter »Riesenbauch«: Ausbau der Lebensmittelversorgung einer werdenden Millionenmetropole«, in: Teuteberg, Revolution am Esstisch, S. 84–100, hier S. 84.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Weg für die Herausbildung außerhäuslicher (Massen-)Verpflegungs- und Speiseeinrichtungen freigemacht. Diese sollten nicht nur in der Vorkriegszeit einen bedeutenden Anteil an der Versorgung der Großstadtbevölkerung in beiden Metropolen haben.
1| Berlin und Wien werden Weltstädte 1.1 Ein neues Zeitalter: Der Aufstieg zweier europäischer Wirtschaftszentren Der Aufstieg Berlins und Wiens zu Metropolen mit herausragender weltweiter Bedeutung während des 19. Jahrhunderts ist in besonderem Maß auf den enormen wirtschaftlichen Wandel infolge der Industriellen Revolution zurückzuführen, die um 1830 im Deutschen Reich und etwa zehn Jahre später in Österreich-Ungarn einsetzte. Berlin avancierte bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 und seinem Aufstieg zur Reichshauptstadt zum deutschen Wirtschaftszentrum. Während dieser ersten Phase der Industrialisierung bildete sich die schon bald expandierende Berliner Metall- und Maschinenbauindustrie heraus. Mit den vor allem im nördlichen Teils Berlins angesiedelten Maschinenbaubetrieben und Eisengießereien, die das Stadtbild nachhaltig veränderten, hielten die Großindustrien Einzug in die preußische Hauptstadt.5 Diese widmeten sich zunächst dem Eisenbahnbau, der mit der zunehmenden Verwendung von Eisen und Stahl in der Bauindustrie einen wachsenden Bedarf an Eisenteilen herbeiführte.6 Mit der Veränderung und Erweiterung der Güterproduktion nahm die Zahl der Arbeitskräfte und Produktionsstandorte jener Unternehmen im Berliner Raum zu. Etwas später erlangten auch die Betriebe der chemischen Industrie Bedeutung. Die Berliner Chemieunternehmen gehörten schon bald zu den tonangebenden Chemieproduzenten. Zum »Paradepferd der Berliner Wirtschaft«7 aber entwickelte sich die Elektroindustrie, die 1847 mit der Gründung der Telegraphen-Bau-Anstalt Siemens & Halske begründet wurde. Der Strukturwandel hin zur elektronischen Industrie setzte jedoch erst mit dem Beginn der zweiten Phase der Industrialisierung in den 1870er Jahren ein. Mit einer Elektrolok mit Wagen auf der Berliner Gewerbeausstellung von 1879 lieferte Siemens & Halske einen Markstein auf dem Weg zur Elektrifizierung des Berliner Nahverkehrsnetzes.8
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Zu den wohl bekanntesten Berliner Unternehmen in dieser Zeit gehören die 1837 eröffnete Eisengießerei und Maschinenbau-Anstalt Borsig sowie die im Jahr 1852 entstandene Maschinenfabrik L. Schwartzkopff. Die Entstehung der Großindustrien ist nicht allein auf die Industrielle Revolution zurückzuführen, sondern auch auf die Einführung der Gewerbefreiheit im Jahr 1810 sowie die Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahr 1834, der einen expandierenden deutschen Großund Binnenmarkt hervorbrachte. Vgl. »Berliner Stadtentwicklung: Industrialisierung Berlins«, in: Luisenstädter Bildungsverein e.v., Lexikon von A-Z zur Berlingeschichte und Gegenwart. Im Internet unter: https://berlingeschichte.de/stadtentwicklung/index.html (08.10.2019). Vgl. Erbe, Michael: »Berlin im Kaiserreich (1871–1918)«, in: Ribbe, Geschichte Berlins, S. 691–793, hier S. 723. Erbe, Berlin, S. 723. Zwei Jahre später folgte durch das Unternehmen die Eröffnung der ersten elektrischen Straßenbahnlinie der Welt in Lichterfelde. Vgl. Ribbe, Wolfgang: »Berlin als deutsches Wirtschaftszentrum«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 111 (2015), S. 14–23, hier S. 18. Erbe,
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Werner von Siemens’ (1816–1892) Betrieb entwickelte sich ebenfalls zum Großunternehmen und hatte dabei lange Zeit die führende Stellung inne. Ebenso rasant entwickelte sich die 1883 von Emil Rathenau (1838–1915) gegründete Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektrizität, ab 1887 Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (AEG) auf dem Gebiet der Starkstromtechnik. Mit zahlreichen Tochterunternehmen und angeschlossenen Elektrizitätswerken baute sich die AEG ein Wirtschaftsimperium auf, das nach der Fusion mit der Union Elektrizitätsgesellschaft (UEG) zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum größten deutschen Elektrokonzern aufstieg.9 Diese Entwicklung wurde durch die seit 1870 stattfindende Umwandlung, Reorganisation und Erweiterung der großen Industriebetriebe in Aktiengesellschaften begünstigt. Unter aktiver Beteiligung der Banken entstanden neue Großbetriebe als kapitalstarke Unternehmen. Anders als im Bereich der Maschinenbaubranche, wo Berlin neben Köln, Leipzig, Chemnitz und anderen Städten nur einen von mehreren Hauptstandorten darstellte, konzentrierte sich der elektronische Industriezweig in der noch jungen Reichshauptstadt. Der wirtschaftliche Aufstieg der traditionsreichen Habsburgerresidenz entwickelte sich etwa ein Dezennium zeitversetzt in die gleiche Richtung. Bevor die Entstehung des Eisenbahnwesens den wirtschaftlichen Wandel einläutete, dominierte in der von Kleinbetrieben bestimmten österreichischen Wirtschaft die Textilherstellung. Dabei hatte die Wiener Seidenindustrie in der Monarchie eine herausragende Stellung: 1841 erzielte sie mit insgesamt zwölf Millionen Gulden fast zwei Drittel des Umsatzes dieser Textilbranche in ganz Österreich.10 Der starke Textilsektor hatte einen Anteil daran, dass sich das wirtschaftliche Wachstum der Monarchie trotz des lange ausbleibenden Reformwillens und der ablehnenden Haltung des Habsburgerstaates gegenüber dem industriellen Wandel positiv entwickelte.11 Doch um mit dem Berliner Wirtschaftsaufstieg mitzuhalten, reichte die wirtschaftliche Kraft Wiens nicht mehr aus. In den 1850er Jahren wurde Wien von der preußischen Hauptstadt überflügelt.12 Der Einzug
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Berlin, S. 724. Sowie Haffner, Dorothee: »Industriekultur in Berlin«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 111 (2015), S. 24–31, hier S. 26. Vgl. Erbe, Berlin, S. 724. Vgl. Bled, Jean-Paul: Wien. Residenz – Metropole – Hauptstadt, Wien 2002, S. 198. Vgl. auch Grandits, Hannes: »Ländliches und städtisches Familienleben«, in: Rumpler, Helmut und Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Band IX/1: Soziale Strukturen, Von der Feudalagrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teilband 1/1, Lebens- und Arbeitswelten in der Industriellen Revolution, Wien 2010, S. 621–699, hier S. 673. Dies reichte jedoch nicht aus, um mit dem westeuropäischen Industrialisierungstempo mitzuhalten. Vgl. u.a. Konrad, Helmut: »Deutsch-Österreich: Gebremste Klassenbildung und importierte Arbeiterbewegung im Vielvölkerstaat«, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Deutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1983, S. 106–128, hier S. 106f. Der überfällige Reformwille der Habsburgermonarchie zeigte sich u.a. im Fortbestand der Feudalherrschaft, der Aufrechterhaltung der Zünfte und der Beibehaltung der Binnenzölle zwischen Österreich und Ungarn. Hierzu ausführlich Bled, Wien, S. 197f. und S. 203f. Vgl. Ribbe, Berlin, S. 15. Zum zögerlichen Strukturwandel der Wiener Wirtschaft vgl. Meißl, Gerhard: »Netzwerke oder Hierarchien? Zur Entstehung metropolitaner Produktionsräume im Spannungsfeld von historischer Einbettung und ökonomischer Rationalität am Beispiel Wiens im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 59 (2003), S. 197–217, hier S. 204.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
neuer Industriebetriebe in der Donaustadt im Zuge der Revolution im Transportwesen verhinderte jedoch, dass Wien weiter ins Hintertreffen geriet. Ab dem Ende der 1830er und in den 1840er Jahren entstand um Wien herum ein Eisenbahnverkehrsnetz, das die Stadt zum wichtigsten Verkehrsknotenpunkt der Monarchie machte – eine Funktion, die Berlin nicht nur innerhalb des Deutschen Reiches, sondern auch in ganz Mitteleuropa erfüllte.13 Diese Entwicklung führte zum Bau und zur Eröffnung der ersten Wiener Bahnhöfe und Werkstätten durch die Eisenbahngesellschaften, die damit den Maschinenbau- und Transportsektor stärkten.14 Darüber hinaus waren die metallverarbeitenden Industrien durch neue Reparatur- und Fabrikationswerkstätten für Eisenbahnzubehör weiter auf dem Vormarsch. Auch in Wien erkannten die Privatbanken die Zeichen der Zeit und beteiligten sich ab der Mitte des Jahrhunderts mit Investitionen im Transportwesen an der industriellen Entwicklung. Ein Gründungsboom von Aktienbanken, die mehrheitlich ihren Sitz in der Hauptstadt hatten, erfasste die Habsburgermonarchie. Sowohl in Österreich-Ungarn als auch im Deutschen Reich wurden die Börsenmärkte mit Aktien von überhastet gegründeten Gesellschaften überschwemmt. Spekulationen trieben die Aktienkurse in schwindelerregende Höhen. Der »Börsenkrach« von 1873 beendete schließlich die europäische Spekulationsbewegung. Die wirtschaftlichen Folgen bekamen vor allem die beiden Hauptstädte zu spüren. Dem Berliner Historiker Wolfgang Ribbe zufolge aber bedeutete der »Gründerkrach« lediglich »eine Unterbrechung des Aufschwungs, er beendete ihn nicht«15 . Die Krise von 1873, die in der zeitgenössischen Sicht als »große Depression« wahrgenommen wurde, war dennoch bis in die 1890er Jahre spürbar und traf neben dem Finanzsektor vor allem die Bekleidungs- und Bauindustrien beider Städte.16 Mit dem Einsetzen der erneuten Hochkonjunktur wenige Jahre vor der Jahrhundertwende gewannen sowohl die Berliner als auch die Wiener Wirtschaft wieder an Dynamik. Beide Hauptstädte blieben die ersten Finanzplätze ihrer Reiche und Zentren der modernen Wachstumsindustrien. Während dieser Krisenzeit erfolgte der Aufstieg der Wiener Elektroindustrie. Wie in Berlin läutete sie die zweite Phase der (österreichischen) Industrialisierung in den 1880er Jahren ein. Für den Bau elektrischer Straßenbahnen, die Errichtung von Kraftwerken sowie die Beleuchtung der Straßen und Häuser und die Ver-
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Zu Wien vgl. Meißl, Netzwerke, S. 201. Zu Berlin vgl. Richter, Günter: »Zwischen Revolution und Reichsgründung (1848–1870)«, in: Ribbe, Geschichte Berlins, S. 605–687, hier S. 657. Bedeutende Eisenbahngesellschaften waren die Kaiser-Ferdinand-Nordbahn, Kaiserin-ElisabethWestbahn, Franz-Josephs-Bahn und Nordwestbahn. Mit der Wiener Lokomotivfabrik AG und der Waggons und Tramway Baugesellschaft entstanden Fabriken, die unabhängig von den Bahngesellschaften gegründet wurden und den Sektor erweiterten. Hierzu vgl. Meißl, Netzwerke, S. 202. Bled, Wien, S. 209. Ribbe, Berlin, S. 17. Vgl. auch Erbe, Berlin, S. 726. Vgl. ebd., S. 725. Bled, Wien, S. 208.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
legung des Telefonnetzes entstanden in und um Wien massenproduzierende Elektrofabriken.17 Mit der Industrialisierung etablierten sich in beiden Hauptstädten die Großunternehmen, deren Zahl vor allem nach der Jahrhundertwende zunehmen sollten. Im Jahr 1907 gab es in Berlin 29 Unternehmen mit über 1.000 Beschäftigten, wobei sich diese Zahl bis 1917 auf 56 Unternehmen erhöhte. In Wien wuchs die Zahl der Unternehmen dieser Größenordnung zwischen 1900 von zehn auf 29 im Jahr 1913.18 Dabei konzentrierten sich diese vor allem auf den Maschinenbau und die Elektroindustrie, die in Berlin 1907 rund 70.000 und in Wien im Jahr 1914 rund 60.000 Arbeitnehmer beschäftigten.19 Trotz der Tendenz zum Großbetrieb spielten sowohl in Berlin als auch in Wien das Kleingewerbe und Handwerk weiterhin eine bedeutende Rolle. So arbeiteten am Vorabend des Krieges noch immer mehr als die Hälfte der Wiener Arbeiterschaft in Unternehmen mit weniger als zwanzig Beschäftigten.20 Beide Städte waren Zentren der heimgewerblich organisierten Bekleidungsindustrie, die jeweils die bedeutendste Einzelbranche darstellte. In der Mitte der 1870er Jahre arbeiteten die meisten Berliner Berufstätigen im Bekleidungsgewerbe, das auf familiale Absicherung der Arbeitskräfte angewiesen und somit auch die einzige großstädtische Produktionsbranche war, die in großem Umfang Frauen beschäftigte.21 Bis zum Jahr 1907 wuchs die Zahl der Berliner Beschäftigten im Bekleidungsgewerbe auf rund 143.600, davon waren über 64 Prozent Frauen. Auch in Wien, wo das Bekleidungsgewerbe seit den 1880er Jahren ebenfalls die beschäftigungsstärkste Produktionsbranche darstellte, überwog der Anteil der weiblichen Arbeitskräfte.22 1910 waren etwa 53 Prozent aller Berufstätigen in der Wiener Bekleidungsindustrie Frauen. Die in beiden Städten lange alles dominierende traditionelle Textilindustrie büßte demgegenüber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung ein. So schwanden die Fabriken und Werkstätten der Berliner (Baum-)Wollspinnerei und Seidenweberei sowie
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In vielen Fällen wurden diese elektronischen Industrien vom deutschen Kapital kontrolliert. Die Österreichische Union Elektrizitäts-Gesellschaft wurde 1898 von Berliner Unternehmen gegründet und 1903 von der AEG übernommen. Neben Siemens hatten auch das Kabel produzierende Unternehmen Felten und Guilleaume sowie der Lampenproduzent Kremenetzky ihre Firmensitze im Deutschen Reich. Vgl. ebd., S. 210f. Vgl. Erbe, Berlin, S. 722. Bled, Wien, S. 211. Vgl. den Wert für Berlin Berufsgruppe B »VI Industrie der Maschinen, Instrumente und Apparate« in der Statistik des Deutschen Reiches, Band 207, hg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Berlin 1910, S. 29. Für die Beschäftigtenzahl Wiens vgl. Bled, Wien, S. 211. Ob der Wert sowohl die Beschäftigten im Maschinenbau als auch jene in der Elektroindustrie umfasste, konnte nicht eindeutig ermittelt werden. Vgl. ebd., S. 200 und S. 209. Eine bemerkenswerte Darstellung der Beharrungskraft des Wiener Kleingewerbes bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat Meißl in seinem Aufsatz vorgelegt. Hierzu siehe ders., Netzwerke. Ehmer, Frauenarbeit, S. 453. Für Berlin vgl. Erbe, Berlin, S. 721. Vgl. Banik-Schweitzer, Renate: »Die Großstädte im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Melinz, Gerhard und Susan Zimmermann (Hg.), WienPrag-Budapest. Blütezeit der Habsburgermetropolen: Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867–1918), Wien 1996, S. 34–45, hier S. 40. Sowie Statistik des Deutschen Reiches, Band 207 (1910), S. 30. Vgl. Meißl, Netzwerke, S. 205. Ehmer, Frauenarbeit, S. 449. Sowie Banik-Schweitzer, Die Großstädte, S. 40.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
der Wiener Seidenindustrie in ihrer Zahl und beschäftigten immer weniger Arbeitskräfte.23 Die Lebensmittelindustrien der beiden Millionenstädte hatten wiederum einen Bedeutungszuwachs zu verzeichnen. Der konjunkturelle Aufschwung der Nahrungsmittelproduktion machte Berlin zum Mittelpunkt des deutschen Mehlgroßhandels. Großbäckereien und Molkereibetriebe entstanden, darunter die Brotfabrik Wittler und die Meierei C. Bolle. Letztere stellte in den 1880er Jahren das modernste Milchunternehmen Europas dar. Die tägliche Versorgung mit Fleisch und Wurstwaren übernahmen rund zehn Frisch- und Kochwurstfabriken. Auch die Genussmittelherstellung florierte – Kaffeeröstereien, Zigarettenfabriken, Bierbrauereien entstanden im großen Stil.24 In der Wiener Lebensmittelproduktion spielten die Biererzeuger, insbesondere die beiden Wiener Familiendynastien Brauerei Schwechat und Brauerei Sankt Marx eine bedeutende Rolle. Anders als in Berlin hatte Wien keine Großproduzenten im Bereich der Nahrungsmittelherstellung vorzuweisen. Produkte wie Milch, Butter und Getreide bezog die Donaustadt u.a. aus Niederösterreich, den Alpenregionen und vor allem der ungarischen Reichshälfte.25 Die Versorgung der Wiener Bevölkerung erfolgte durch die zahlreichen Wiener Märkte, seit den 1860er Jahren auch durch Markthallen sowie durch den boomenden Lebensmitteleinzelhandel.26 In der deutschen Reichshauptstadt fanden sich ebenfalls in fast jeder Straße mindestens ein Bäcker und ein Fleischer. Daneben boten die Bauern des Berliner Umlandes ihre Waren auf den vielen Berliner Wochenmärkten an, die aufgrund ihrer untragbaren hygienischen Verhältnisse ab den 1880er Jahren von den mit Kühlräumen ausgestatteten Berliner Markthallen allmählich abgelöst wurden.27 Die Zentralmarkthalle I am Alexanderplatz war als »Bauch von Berlin« bald der Mittelpunkt der Berliner Lebensmittelversorgung. Eine weitere Errungenschaft, die die Bedeutung
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Vgl. Roesler, Jörg: »Arbeiterschaft und Unternehmer in den Industrieregionen Berlin und Chemnitz im 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – ein Vergleich des Verhaltens in Konfliktsituationen«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 35/1 (1994), S. 151–170, hier S. 152. Diese Entwicklung setzte über Berlin hinaus im ganzen Deutschen Reich ein. Die Textilindustrie gab ihre führende Stellung u.a. an das Baugewerbe und die Metallverarbeitung ab. Hierzu Hohorst, Gerd, Jürgen Kocka und Gerhard A. Ritter: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch Band II. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1870–1914, München 1978, S. 62. Zu Wien vgl. Bled, Wien, S. 208. Vgl. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 449f. und S. 478ff. Hierzu ausführlich Langthaler, Ernst: »Vom transnationalen zum regionalen Hinterland – und retour. Wiens Nahrungsmittelversorgung vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg«, in: Karner, Stefan und Philipp Lesiak (Hg.), Erster Weltkrieg. Globaler Konflikt – lokale Folgen. Neue Perspektiven, Innsbruck 2014, S. 307–318, hier S. 308ff. Sowie ders., »Die Großstadt und ihr Hinterland«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 232–239, hier S. 233ff. Zwischen 1872 und 1890 erhöhte sich z.B. die Zahl der Wiener Bäckereien von 295 auf 720, die Zahl der Fleischereien stieg von 456 auf 1.400. Vgl. Bled, Wien, S. 216. Vgl. Knoll, Thorsten: Berliner Markthallen, Berlin 1994, S. 23ff. Uhlitz, Manfred: »Essen und Trinken im Wilhelminischen Berlin«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 29 (2022), S. 14–23, hier S. 17ff. Sowie Dettmer, Klaus: »Arbeiterleben im Berlin der Gründerzeit«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 111 (2015), S. 40–49, hier S. 47. Zu Wien vgl. Melinz, Gerhard und Susan Zimmermann: »Die aktive Stadt«, in: dies., Wien-Prag-Budapest. Blütezeit der Habsburgermetropolen: Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867–1918), Wien 1996, S. 140–176, hier S. 152.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
der beiden Handelsplätze Wien und Berlin erhöhten, waren die neuen Kaufhäuser nach Londoner und Pariser Vorbild.28 Neben der allgemeinen industriellen Entwicklung spielten nicht nur das Kleingewerbe zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Kleidung sowie das Handwerk weiterhin eine wichtige Rolle in Wien und Berlin. Als Folge ihrer Stellung als Hauptstädte wirkte sich auch die Konzentration eines großen Teils des Dienstleistungssektors auf ihre Wirtschaftsstruktur aus.29 Insgesamt erreichte der Aufstieg Wiens und Berlins zu europäischen Wirtschaftszentren im Zuge der Industrialisierung zwar nicht ganz das Niveau des Londoner und Pariser Wirtschaftswachstums, doch prägte er die Entwicklung beider Städte tiefgreifend. Immer mehr Menschen zog es in die Wirtschaftsmetropolen, deren räumliche und soziale Strukturen einem ebenso rasanten Wandel unterworfen waren.
1.2 Zwei Agglomerationen: Raum- und Bevölkerungswachstum Zu den Charakteristika europäischer Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert gehörte die Randwanderung der urbanen Industrien.30 Sowohl in Berlin als auch in Wien siedelten die Großunternehmen ihre Fabriken im Verlauf des 19. Jahrhunderts an der Peripherie an. In der preußischen Hauptstadt setzte ab 1860 die erste Randwanderung der industriellen Betriebe in das Berliner Umland ein, »wo billiger Boden und Ausdehnungsmöglichkeiten und mobile Arbeitskräfte vorhanden sowie geringere Steuern zu zahlen waren«31 . Doch nicht nur die Industriebetriebe zog es an den Stadtrand und in das Umland. Die wirtschaftliche Anziehungskraft lockte Zuwanderer aus den Provinzen Brandenburg, West- und Ostpreußen sowie Schlesien, Pommern und Sachsen in den Berliner Ballungsraum. Da der Wohnungsbau mit der fortschreitenden Industrialisierung im Inneren der Stadt nicht mithalten konnte, ließen sich immer mehr (Neu-)Berliner in den Außenbezirken nieder, wodurch sich nicht nur die Stadtgebietsfläche vergrößerte, sondern auch die Einwohnerdichte erhöhte. Die letzte offizielle Berliner Stadterweiterung vor dem Ersten Weltkrieg erfolgte 1861 mit den Eingemeindungen der Vororte Moabit und Wedding sowie der nördlichen Teile Schönebergs und Tempelhofs.32 Die Stadtge28
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Prominente Warenhäuser und Einkaufspaläste waren Haas, Kranner und Rothberger in Wien sowie Wertheim, Hermann Tietz und das berühmte »KaDeWe – Kaufhaus des Westens« des Kaufmanns Adolf Jandorf (1870–1932) in Berlin. Vgl. Bled, Wien, S. 216f. Ribbe, Berlin, S. 19. Vgl. Erbe, Berlin, S. 721. Bled, Wien, S. 223. So bewegten sich beispielsweise in Berlin die Beschäftigtenzahlen in den staatlichen Dienstleistungsbetrieben, darunter die Stadt- und Reichsverwaltungen, das Eisenbahn- und Postwesen sowie die städtischen Verkehrsmittel, im vierstelligen und beim Militär im fünfstelligen Bereich. Vgl. Richter, Zwischen Revolution, S. 660. Vgl. auch Lenger, Metropolen, S. 110f. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 451. Die AEG hatte Standorte in Wedding, Moabit und Oberschöneweide, Borsig verlegte seine Werksanlagen 1898 von Moabit nach Tegel und die zuerst in Kreuzberg ansässige Siemens AG eröffnete 1897 ihre Werke auf den Nonnenwiesen zwischen Charlottenburg und Spandau, womit sie die bis heute präsente Siemensstadt begründete. Vgl. Bienek, Karl H. P.: »Die Siemensstadt«, in: Verein für die Geschichte Berlins e.v., Die Geschichte Berlins. Im Internet unter: https://www.diegeschichteberlins.de/geschichteberlins/berlinabc/stic hworteot/631siemensstadt.html (07.09.2016). Vgl. Richter, Zwischen Revolution, S. 662.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
bietsfläche vergrößerte sich damit um nahezu siebzig Prozent auf 5.923 Hektar. In den 1890er Jahren, so konstatieren Laurenz Demps et al., sei Berlin jedoch längst über die engen Stadtgrenzen hinausgewachsen, sodass bereits von einem »Groß-Berlin« gesprochen wurde.33 Somit fixierte die Randwanderungswelle der Bevölkerung und der Industrien bereits Jahrzehnte vor dem Groß-Berlin-Gesetz von 192034 die zukünftigen Stadtgrenzen. Im direkten Vergleich mit der Wiener Stadtgebietsfläche, die im Jahr 1914 etwa 27.300 Hektar umfasste, fiel die Fläche Berlins demzufolge nur mit Blick auf die offiziell festgelegten Stadtgrenzen kleiner aus. Demgegenüber verschoben sich die Grenzen der Hauptstadt der Habsburgermonarchie seit 1850 in drei Schüben in das Wiener Umland. Vor dem ersten Eingemeindungserlass im Frühjahr 1850 erstreckte sich die auf das Altstadtgebiet begrenzte Stadtfläche gerade einmal auf 134 Hektar.35 Mit der Eingemeindung der klein- und mittelbürgerlichen Gewerbevorstädte zwischen Glacis und Linienwall war das Wiener Stadtgebiet mit seinen zunächst neun bzw. zehn Bezirken verteilt auf 5.500 Hektar bis zur zweiten Eingemeindung 1890–92 fast so groß wie Berlin (ohne Umland) am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Ein Dezennium vor der Jahrhundertwende erfolgte eine weitere kreisförmige Eingliederung der fast vollständig industriellen Vororte außerhalb des Linienwalles sowie eine Flächeneingemeindung des späteren, jenseits der Donau liegenden Bezirks Floridsdorf im Jahr 1904.36 Die zuvor an der Peripherie des Wiener Großraumes angesiedelten Industrien gehörten fortan zum Wiener Stadtgebiet. In Floridsdorf zum Beispiel, das sich dem Wiener Historiker Wolfgang Maderthaner zufolge bis zur Jahrhundertwende zur unbestritten bedeutendsten großindustriellen Agglomeration der Habsburgermetropole entwickelte, produzierten u.a. Siemens & Halske und Fiat.37 Neben Betrieben der chemischen Industrie und der Nahrungsmittelindustrie öffneten dort auch die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn und die Wiener Lokomotivfabrik AG ihre metallverarbeitenden Werkstätten und Fabriken. »1910 hatten hier bereits mehr als 100 fabrikmäßige Betriebe, davon sechs mit einer Belegschaftszahl von über 1.000 Beschäftigten, ihren Standort – eine Konzentration, wie sie in keinem anderen Stadtteil Wiens auch nur annähernd erreicht wurde.«38 Bedeutende Industriestandorte waren u.a. auch die Wiener Randbezirke Meidling, Ottakring, Hernals, Simmering und Favoriten, die entweder einen beträchtlichen Anteil
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Vgl. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 460. Vgl. auch Erbe, Berlin, S. 730. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz (Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin) vom 27. April 1920 wurden Alt-Berlin und die sechs kreisfreien Vorstädte Berlin-Schöneberg, Berlin-Lichtenberg, Berlin-Wilmersdorf, Neukölln, Charlottenburg und Spandau sowie die Stadtgemeinde Köpenick und weitere umliegende Kreise, Gemeinden und Gutsbezirke zusammengeführt. Die Bevölkerungszahl Groß-Berlins umfasste fast vier Millionen Einwohner, die sich auf einer Fläche von rund 87.800 Hektar verteilten. Vgl. Bled, Wien, S. 140. Für die folgenden Ausführungen vgl. ebd., S. 146f. Sowie Maderthaner, Von der Zeit, S. 178. Im Jahr 1910 umfasste die Fläche des Wiener Stadtgebiets 27.805 Hektar und war damit fast fünfmal so groß wie Berlin. Vgl. Maderthaner, Von der Zeit, S. 187. Ebd., S. 188.
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der Wiener Arbeiterschaft beherbergten oder gänzlich Arbeiterbezirke waren. Wie Berlin war die Donaumetropole Zielort zahlreicher Zuwanderer, deren Zustrom bereits vor dem wirtschaftlichen Aufstieg Wiens und den damit verbundenen besseren Arbeitsmarktbedingungen einsetzte und sich ab den 1860er Jahren spürbar verstärkte. Waren im Jahr 1830 noch rund siebzig Prozent der Stadtbevölkerung gebürtige Wiener, sank die Zahl ein halbes Jahrhundert später auf 38 Prozent.39 Die Neu-Wiener, von denen ein beträchtlicher Teil jüdischer Herkunft war, kamen vor allem aus der Hauptstadtumgebung in Niederösterreich, den Ostprovinzen der Doppelmonarchie sowie bis zur Mitte der 1860er Jahre aus Süddeutschland. Darüber hinaus kam ein großer Teil der Zugewanderten aus tschechischen und ungarischen Regionen.40 Um die Jahrhundertwende betrug der jährliche Bevölkerungszuwachs in Wien rund 34.000 Menschen.41 Im Jahr 1910 zählte die Donaumetropole knapp über zwei Millionen Einwohner. Demgegenüber lebten im Ballungsraum Berlin am Vorabend des Ersten Weltkrieges über vier Millionen Menschen. Die Bevölkerungszahl Berlins (ohne Umland) stieg sprunghaft von etwas mehr als einer halben Million im Jahr 1861 auf eine Million Ende der 1870er Jahre. Wie in Wien war die Bevölkerungszunahme über das natürliche Wachstum hinaus vor allem auf die Zuwanderungsbewegung zurückzuführen. Michael Erbe zufolge sei der Zuzugsgewinn allein zwischen 1871 und 1875 dreimal so hoch gewesen wie die Zunahme durch das natürliche Wachstum.42 Nachdem sich die Zahl der zugewanderten Berliner und die Zahl gebürtiger Hauptstädter 1864 noch die Waage hielten, sank der Anteil der in Berlin Geborenen im Jahr 1875 auf 41 Prozent. Um 1905 war Berlin schließlich eine »Zweimillionenstadt«. Im Jahr 1912 erreichte die Hauptstadt mit 2.095.030 Einwohnern ihren höchsten Stand vor der Stadterweiterung von 1920.43 Keine andere Stadt im Deutschen Reich zählte so viele Einwohner.44 Die Tatsache, dass 1910 selbst Charlottenburg (rund 309.000 Einwohner) zu den elf und Rixdorf (ab 1912 Neukölln; rund 252.000
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Vgl. Bled, Wien, S. 155. Ferner Maderthaner, Wolfgang: »Urbane Lebenswelten: Metropolen und Großstädte«, in: Rumpler, Helmut und Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Band IX/1: Soziale Strukturen, Von der Feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teilband 1/1, Lebens- und Arbeitswelten in der Industriellen Revolution, Wien 2010, S. 493–538, hier S. 495. Hinzu kamen die slowakischen, galizischen, ruthenischen, rumänischen, kroatischen, slowenischen, bosnischen und italienischen Minderheiten, die Sinti und Roma, sowie Emigranten aus anderen europäischen Ländern, z.B. Russland. Vgl. Schwendter, Rolf: »Armut und Kultur der Wiener Jahrhundertwende«, in: Nautz, Jürgen und Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien 1993, S. 677–693, hier S. 678. Vgl. Maderthaner, Von der Zeit, S. 178. Vgl. Erbe, Berlin, S. 695f. Wie Berlin waren auch die Vororte der Hauptstadt zunehmend Ziele der Zuwanderungsbewegung. Zwischen 1905 und 1910 betrug der Anteil des Wanderungsgewinns am Bevölkerungswachstum der großen Städte im Berliner Umland 75 bis neunzig Prozent. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 693. Nach Berlin war Hamburg die nächstgrößere Stadt, die zwischen 1880 und 1910 an die Millionengrenze heranschnellte. Die Gegenüberstellung der Einwohnerzahl der Stadt Hamburg, welche nach der Volkszählung von 1910 mit 931.035 Einwohnern an zweiter Stelle stand, zeigt, dass Berlin zum gleichen Zeitpunkt mit seinen damals 2.071.257 Einwohnern nochmal mehr als die doppelte Bevölkerungszahl aufwies. Vgl. Hohorst/Kocka/Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 45. Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 51.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Einwohner) zu den neunzehn größten Städten des Reiches zählten, macht deutlich wie immens die Bevölkerungszahl Berlins und seines Umlands anstieg. Neben diesen beiden beliebten Zuzugsgebieten erhielten fünf weitere Städte im Berliner Umland mit mehr als 100.000 Einwohnern den Status als Großstadt. Im Gegensatz zu Wien blieb in Berlin die große Stadterweiterung vor dem Krieg aus. Zurückzuführen war dies vor allem auf das lange waltende Konkurrenzdenken der Hauptstadt und ihrer Vororte, die allesamt Nachteile durch eine Zusammenführung mit den ärmeren Nachbargemeinden befürchteten. Auch die preußische Regierung stand einer derartigen Stadtreform ablehnend gegenüber.45 Im Jahr 1912 einigten sich Berlin und ein Großteil der umliegenden Städte sowie die preußischen Verwaltungen auf die Bildung eines Zweckverbandes Groß-Berlin, der nach Michael Erbe nicht ganz ohne Druck zustande kam: »Angesichts der immer dringlicher werdenden Probleme einer übergeordneten Bau-, Verkehrs- und Erholungsflächenplanung war man im Groß-Berliner Gebiet genötigt, trotz des Gewinns von z[um] T[eil] widerstreitenden Verwaltungskompetenzen zu einer tragfähigen Form der Kooperation zu gelangen.«46 Fortan bildete Berlin gemeinsam mit Charlottenburg, Spandau, Schöneberg, Wilmersdorf, Lichtenberg, Neukölln und den Kreisen Niederbarnim und Teltow einen mehr als vier Millionen Einwohnern zusammenfassenden Kommunalverband, der jene Bereiche künftig einheitlich zu regeln hatte. Da jedoch die Selbstverwaltungsansprüche innerhalb dieser »willkürliche[n] Verkoppelung von Kreisen und Städten«47 nach wie vor dominierten, blieben nicht nur die Leistungen des Zweckverbandes überschaubar, sondern die Groß-Berliner Verwaltungszersplitterung währte auch fort. Diese beeinträchtigte nicht nur die Lösung brennender sozialer Probleme vor dem Ersten Weltkrieg, sondern sollte sich auch hemmend auf die Handlungsfähigkeit Berlins und seiner Vororte hinsichtlich dringender gemeindeübergreifender Versorgungsmaßnahmen während des Krieges auswirken.
1.3 Glanz und Elend getrennt vereint: Stadtbild, Gesellschaft und Großstadtleben Über die expandierenden Stadtgrenzen und das rasant zunehmende Bevölkerungswachstum hinaus wandelte sich auch das Stadtbild beider Hauptstädte. So wurde die Berliner Innenstadt zunehmend entvölkert, während sich in den Randbezirken immer mehr Menschen niederließen.48 Das Straßenbild im Zentrum prägten vor allem die
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Vgl. Ribbe, Berlin, S. 20. Sowie Erbe, Berlin, S. 747ff. Escher, Felix: »Adolf Wermuth und der Zweckverband Groß-Berlin«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 20 (2020), S. 14–21, hier S. 16ff. Ebd., S. 748. Vgl. auch Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 517. Berliner Tageblatt, 29. September 1913, Abendausgabe, zitiert bei Glatzer, Ruth: Das Wilhelminische Berlin. Panorama einer Metropole 1890–1918, Berlin 1997, S. 324. Wie Erbe darlegt, habe es »einer längeren, ruhigen Entwicklung bedurft, in der Zusammenhalt und Zusammengehörigkeitsgefühl die Gemeinden von Groß-Berlin enger zusammengeführt und damit dem Verband mehr Kompetenzen gebracht hätten«. Erbe, Berlin, S. 751. So war das kommunale Gebilde nicht mehr als die behelfsmäßige Kompromisslösung eines drängenden Verwaltungsreformproblems. Vgl. Lange, Das Wilhelminische, S. 90. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 457.
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Monumental- und Repräsentationsbauten der zahlreichen Ministerialbehörden und Institutionen des Königreichs Preußen und des Deutschen Reiches.49 Seit den 1880er Jahren waren auch mehr und mehr Banken und Geschäftshäuser sowie zahlreiche Lokalitäten im Stadtinnern vorzufinden: »Die Innenstadt bildete sich zur ›City‹ um, zum Zentrum des Geschäfts- und Vergnügungsbetriebs. […] In der Friedrichstraße fand man zwischen Leipziger Straße und Unter den Linden mehr Lokale als Häuser: neue Bierpaläste, Weinrestaurants, sogar schon Automatenrestaurants, Cafés, Privatmittagstische […] wie denn überhaupt nirgends eine solche Kneipenkonzentration anzutreffen war wie im damaligen Berlin.«50 Dieser von Annemarie Lange (1907–1976) beschriebene Wandel kam nicht ausschließlich dem gut situierten Bürgertum zugute, das hauptsächlich in den Luxusgeschäften und Warenhäusern der Leipziger (Haupteinkaufs-)Straße sowie in den »Grand Hotels« (Adlon, Central-Hotel u.a.), Theatern und Varietés einkehrte. Auch die weniger bemittelten Bevölkerungsteile konnten ihrem Bedürfnis nach Vergnügen und Amüsement, das in jeder Preislage vorhanden war, nachgehen. So Lange weiter: »In der nördlichen Friedrichstraße, wo auch die billige Konfektion zu Hause war, im ›Studentenviertel‹ […] und in den Seitenstraßen zum Stettiner Bahnhof, dem berüchtigten ›Kaschemmenviertel‹, wo Polizeirazzien eine alltägliche Erscheinung waren, überwogen die Studentenkneipen, Keller›klappen‹, Tingeltangels und billigen Nachtcafés. […] Halbwelt und nach ›Tarif‹ gestufte Prostitution gehörten zum ›Nachtleben‹ Berlins ebenso wie die vielen bis zum Morgengrauen geöffneten Lokale, die Absteigequartiere, Stundenhotels und ›Pensionen‹ in allen Nebenstraßen.«51 Parallel zu den Veränderungen in der deutschen Kaiserstadt war auch die Habsburgerresidenzstadt ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einem Wandel unterworfen, der
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Nach Klaus Finkelnburg sei diese bunte Mischung aneinandergereihter Regierungsgebäude in der Wilhelmstraße am anschaulichsten gewesen – mit dem Reichskanzlerpalais, dem Ministerium des königlichen Hauses, dem Justizministerium, dem Handelsministerium, dem Auswärtigen Amt und dem Kriegsministerium. Vgl. ders.: »Berlin auf dem Weg zur deutschen Metropole«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 111 (2015), S. 6–13, hier S. 13. Vgl. auch Erbe, Berlin, S. 756. Ein weiteres Repräsentationszentrum entstand unterhalb des Spreebogens im »Alsenviertel« mit dem Königsplatz (ab 1919 Platz der Republik) und dem nach den Plänen von Paul Wallot (1841–1912) zwischen 1884 und 1894 errichteten Reichstagsgebäude im Mittelpunkt. Während die berühmte Allee »Unter den Linden« mit ihren Prachtbauten vor bedeutenden Veränderungen bewahrt blieb, entstanden in direkter Nachbarschaft zu den »Linden« und dem Schloss der Hohenzollern an der Spree »Kunst- und Architekturwerke von ewigem Wert«: der Neue Marstall (1901), das Pergamonmuseum (1901) und das Kaiser-Friedrich-Museum (ab 1956 Bodemuseum) auf der Museumsinsel sowie der Berliner Dom (1905) als einer von zahlreichen Kirchenneubauten der Reichshauptstadt. Hierzu Glatzer, Das Wilhelminische, S. 42. Lange, Das Wilhelminische, S. 74. Ebd., S. 74f. Glatzer weist darüber hinaus darauf hin, dass sich die imposanten Bauwerke der Berliner Innenstadt nicht nur auf repräsentative Gebäude, Banken und Handelshäuser beschränkten. Auch Gebäude, die alltäglichen Bedürfnissen dienten, schmückten das Stadtbild. Berühmtheit erlangte u.a. das »Weinhaus-Rheingold« der Aschinger-Gesellschaft. Vgl. Glatzer, Das Wilhelminische, S. 66f. und S. 73f.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
das Gesicht der Stadt bis in die Gegenwart prägte. Nachdem das Wiener Stadtbild lange Zeit vom kaiserlichen Hof und vom Hochadel bestimmt wurde, entfernte die Stadt auf kaiserlichen Erlass Ende der 1850er Jahre ihre Stadtmauern und begann mit der Errichtung eines bald weltbekannten halbkreisförmigen Prachtboulevards, dessen Besonderheit Wolfgang Maderthaner hervorhebt: »Unzweifelhaft ist der Ring mit seinen prachtvollen und kulturellen Monumentalbauten und seinen palaisartigen, luxuriösen Wohnblöcken, in seiner elektrischen, historistischen Repräsentationsarchitektur eine ganz außergewöhnliche städtebauliche und stadtplanerische Leistung, ein urbanes Gesamtkunstwerk.«52 Die am 1. Mai 1865 vom Kaiser Franz Joseph i. (1830–1916) feierlich eröffnete »Ringstraße« sollte nicht nur die Herrschaft der Habsburger repräsentieren. Sie wurde mit ihren im Stil des Historismus errichteten imposanten öffentlichen und privaten Bauten auch ein neues Zentrum gesellschaftlichen Lebens, das Politik, Verwaltung, Kultur und Wirtschaft vereinte, und beförderte das fortan in prächtigen Palais lebende liberale und reiche Großbürgertum zu Nachbarn der Habsburger und der Hocharistokratie.53 Der Prachtboulevard war u.a. Sitz verschiedener Ministerien, Banken, der Börse und einer Vielzahl kultureller Einrichtungen, darunter die Hofoper, das Opernhaus und das Burgtheater, weshalb er sich zu einer beliebten Flaniermeile entwickelte: »Für die erlauchte Gesellschaft wird [der] Spaziergang entlang der Ringstraße zu einem Ritual. […] Jeden Nachmittag zwischen drei und fünf Uhr spazieren Minister, geborene Barone und Finanzbarone, Schriftsteller, Musiker und Schauspieler, elegante Damen von Welt – oder Halbwelt – in einem genau festgelegten Reigen vom Sirk-Eck zum Schwarzbergplatz und wieder zurück. Alles, was in Wien Rang und Namen hat, trifft sich hier auf wenigen hundert Metern, wo es wichtig ist, gesehen zu werden, ein paar Worte zu wechseln oder ein Lächeln zu tauschen.«54 Wichtige gesellschaftliche Drehscheiben am Wiener Boulevard waren auch die noblen Herbergen wie das Hotel Sacher, Grand Hotel und Hotel Imperial. Die »Grand Hotels« zogen mit ihrer exquisiten Küche und intimen Atmosphäre nicht nur ausländische Gäste,
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Maderthaner, Von der Zeit, S. 179. In direkter Nachbarschaft zu dem von Theophil Hansen (1813–1891) im hellenistischen Stil errichteten und 1883 eröffneten Parlament entstanden im neugotischen Stil das Rathaus (1883) des Dombaumeisters Friedrich von Schmidt (1825–1891), die von Heinrich Ferstel (1828–1883) im italienischen Renaissancestil geplante Universität mit einem Arkadenhof (1884) sowie die bereits 1879 ebenfalls von Ferstel erbaute Votivkirche im Stil der französischen Gotik. Gegenüber der geplanten und 1913 fertiggestellten Neuen Wiener Hofburg entstanden als Teil des Kaiserforums die großen Museen im Barockstil der fürstlichen Sammlungen (1889/1891). Vgl. Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914, Bonn 2014, S. 71. Friehs, Julia Teresa: »Historismus – der Baustil der Ringstraße«, in: Die Welt der Habsburger. Im Internet unter: https://www.habsburg er.net/de/kapitel/historismus-der-baustil-der-ringstrasse (29.08.2016). Sowie Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt a.M. 1982, S. 34ff. Ferner auch Maderthaner, Urbane Lebenswelten, S. 512ff. Bled, Wien, S. 296.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
sondern auch die Kunstwelt, das Militär und Mitglieder des Kaiserhauses an.55 Nicht zuletzt galten auch die zahlreichen Wiener Kaffeehäuser als gesellschaftliche Treffpunkte und Orte der Unterhaltung u.a. für die Wiener Künstler und Schriftsteller. Anders als in Berlin mit seinen für jedermann zugänglichen innerstädtischen Seitenstraßen gab es für die unteren Schichten Wiens keinen Platz am exklusiven Wiener Ringstraßenkorso.56 Die Wirkmächtigkeit der städtebaulichen Modernisierung, deren Realisierung zu Lasten der massenhaft schwerstarbeitenden und niedrig entlohnten Bau- und Ziegelarbeiterschaft ging, fasst Maderthaner zusammen: »Was einst ein Ring militärischer Absonderung gewesen war, wurde nunmehr zu einem Ring gesellschaftlicher Trennung. Die Ringstraße bildete eine in sich abgeschlossene Figur, die zugleich eine Trennung der Gesellschaft definierte: die herrschenden Klassen, Adel und (Groß-)Bürgertum […] in der Innenstadt mit den alten Palästen und den neu entstandenen Refugien bürgerlicher Wohnkultur; und, davon abgetrennt, die inneren Vorstädte mit den Kleinbürgern und Beamten sowie die äußeren Vorstädte mit dem Industrieproletariat und den sozialen Unterschichten.«57 Ein beträchtlicher Teil der Ringstraßenbauten repräsentierte den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg des Wiener Großbürgertums im 19. Jahrhundert, der wiederum untrennbar mit der Entwicklung Wiens zur Wirtschafts- und Kulturmetropole in Verbindung stand. Die so genannte »Ringstraßengesellschaft«, bestehend aus Bankiers, Industriellen, Pressemagnaten, hohen Staatsbeamten und höheren Offizieren sowie einigen Medizinern und Anwälten, so Jean-Paul Bled, ließ ihr Vermögen, ihre Macht und ihre Ambitionen an den Fassaden und in der Möblierung der Mietpaläste erkennen.58 Das die Oberschicht der Wiener Gesellschaft bildende Besitz- und Bildungsbürgertum machte nach dem Schichtungsmodell des Sozialhistorikers Josef Ehmer im Jahr 1910 etwa drei Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in Wien aus.59
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Vgl. Friehs, Julia Teresa: »Grand Hotels am Wiener Boulevard«, in: Die Welt der Habsburger. Im Internet unter: https://www.habsburger.net/de/kapitel/grand-hotels-am-wiener-bouleva rd (29.08.2016). Anders verhielt es sich wiederum in den Vergnügungsparks am Stadtrand, etwa im »Wurstelprater«, wo alle sozialen Gruppen aufeinandertrafen. Maderthaner, Von der Zeit, S. 180. Vgl. auch Schorske, Wien, S. 31. Lenger, Metropolen, S. 181f. Vgl. Bled, Wien, S. 233ff. Ferner Lenger, Metropolen, S. 246. In ihrem Lebens- und Wohnstil orientierte sich die »zweite Gesellschaft« vornehmlich am alten Adel, der mehrheitlich in der Wiener Altstadt lebte. Hierzu vgl. Bled, Wien, S. 234. Die Luxuswohnungen der Ringstraße blieben demnach einem sehr kleinen Teil der Wiener Gesellschaft vorbehalten, der sich darüber hinaus auch in den Villenanlagen und Cottagevierteln der Außenbezirke Döbling und Währing sowie in direkter Nachbarschaft zum Schloss Schönbrunn im Bezirk Hietzing niederließ. Nach Ehmer gehörten alle Haus- und Grundbesitzer, Rentiers, Private sowie Selbständige in den freien, medizinischen und in Kulturberufen zur Oberschicht. Vgl. ders., Zur sozialen Schichtung, S. 74f. und S. 81. In seinen Ausführungen zum Schichtungsmodell betont Ehmer, dass die Grenzen zwischen Ober-, Mittel- und Unterschicht nicht trennscharf gezogen werden könnten. Auch berücksichtige die Untersuchung nur die erwerbstätige Bevölkerung. Eine Einbeziehung der nichterwerbstätigen Familienangehörigen führe zu einer Erhöhung des Oberschichtenanteils. Die Daten von Ehmers Schichtungsmodell stellen daher lediglich Annäherungswerte dar. Vgl. ebd., S. 74.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Demgegenüber wohnte der Großteil der Wiener in den inneren und äußeren Vorstädten der Habsburgermetropole. Während sich die alten Gewerbevorstädte innerhalb des Linienwalls bzw. Gürtels60 zu Beamten- und Mittelschichtsquartieren entwickelten, lebte die Mehrheit der einkommensschwachen arbeitenden Klassen zusammengepfercht in den zahlreichen sozial konfliktgeladenen Arbeiterwohnquartieren der Wiener Außenbezirke, wobei sich die südöstlich gelegenen Bezirke Favoriten und Simmering sowie Floridsdorf und die Brigittenau im Nordosten zu den stärksten Arbeiter- und Unterschichtenbezirken herausbildeten.61 Dort an der Wiener Peripherie entstand im Zuge der Industrialisierung »das andere Wien« – »[d]as dunkle, rauchige, elende und dreckige Wien, bevölkert mit Einwanderern, Proletariern, Hausierern, Dienstbotinnen, Arbeitslosen, Kriminellen und sogenannten Taugenichtsen, welches flächenmäßig das Zentrum bei weitem übertraf«62 . Seit den 1860er Jahren wurden im Wien der Vorstädte die sogenannten Zinskasernenviertel errichtet. Diese im Rastergrundriss angelegten Quartiere setzten sich aus zwei- bis dreigeschossigen Miethäusern mit Straßentrakt und Stutzflügel im Innenhof zusammen, wobei die Wohneinheiten oftmals nur aus einem Zimmer oder einem Zimmer mit Küche (»Zimmer-Küche-Wohnung«) bestanden und mit den notdürftigsten Gegenständen ausgestattet waren.63 Um die Jahrhundertwende vermerkte das Wiener Stadtphysikat in einem Bericht über seine Tätigkeit und die Wiener Gesundheitsverhältnisse in den Jahren 1897 bis 1899: »Die Wohnungsverhältnisse sind bei der armen Bevölkerung im allgemeinen ungünstige; oft ist nur ein einziger Wohnraum vorhanden, von den Eltern und mehreren Kindern bewohnt, in welchen gekocht und gewaschen werden muß und welcher meist im Winter, um Heizmateriale zu ersparen, nur nothdürftig oder gar nicht gelüftet wird. Bei besseren Arbeitern ist wohl nebst dem Wohnzimmer auch eine Küche vorhanden; aber hier dient das Wohnzimmer in vielen Fällen auch als Schneider-, Schuhmacheroder Weberwerkstätte u.s.f., wodurch die Luft im Wohnraume beständig verunreinigt und bei solchen Gewerben, bei welchen größere Staubentwicklung stattfindet, wie beim Drechslergewerbe, die Respirationsorgane der daselbst sich aufhaltenden zarten Kinder beständig gereizt werden.«64
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Der Wiener Gürtel entstand infolge der Eingemeindung der Vororte 1890 und der anschließenden Schleifung des Linienwalls. Neben diesen vier Bezirken war die Unterschichtenbevölkerung u.a. auch in den Bezirken Ottakring und Hernals stark vertreten. Darüber hinaus lebten Teile der unteren sozialen Schichten in weitgehend abgeschotteten Unterschichtquartieren in den Bezirken mit mittelschichtiger Dominanz innerhalb des Gürtels, z.B. Landstraße und Alsergrund. Hierzu ausführlicher Maderthaner/ Musner, Anarchie, S. 55 und S. 66. John, Michael: »›Kultur der Armut‹ in Wien 1890–1923. Zur Bedeutung von Solidarstrukturen, Nachbarschaft und Protest«, in: Zeitgeschichte 20 (1993), S. 158–186, hier S. 160. Maderthaner/Musner, Anarchie, S. 69. Vgl. Buchmann, Bertrand Michael: »Dynamik des Städtebaus«, in: Csendes, Peter und Ferdinand Opll (Hg.), Wien: Geschichte einer Stadt. Band 3, Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien 2006, S. 47–84, hier S. 56. Schwendter, Armut, S. 683. Auszug des Berichts zitiert bei Maderthaner/Musner, Anarchie, S. 79. Zu den Wohnverhältnissen vgl. auch Schwendter, Armut, S. 683f.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Darüber hinaus mussten die Klein- und Kleinstwohnungen aufgrund der exorbitant hohen Mietzinse von den Arbeiter- und einkommensschwachen Familien mit Bettgehern und Untermietern geteilt werden, um einen Teil der Mietausgaben auszugleichen.65 Äußerlich war den Wiener Mietskasernen das Elend in den Wohneinheiten jedoch kaum anzusehen, denn ihr Erscheinungsbild hob sich wenig von der Prachtarchitektur der Ringstraße ab. Das Wien um die Jahrhundertwende war eine Fassadenstadt, in der das soziale Elend, wie Maderthaner konstatiert, hinter einer Fassade von beeindruckender Schönheit verborgen gewesen sei: »Der [im Jahr 1912] in Wien tagende IX. Internationale Wohnungskongress diagnostizierte eine ›eigentümliche Mischung von äußerer Palasterscheinung und innerer Dürftigkeit‹; sie habe den Vororten ›den Stempel trostloser Ödigkeit und anspruchsvollster Schäbigkeit aufgedrückt‹. [… D]ie Zinskasernen bildeten in ihrer äußeren Gestalt weniger einen Kontrast zum Zentrum als vielmehr dessen symbolische Fortsetzung. Sie verdeckten damit die für Wien so charakteristische doppelte sozialräumliche Faltung der Stadt. Die Grenzen sind weniger durch baulich-ästhetische Unterschiede definiert als durch soziale Markierung und kulturelle Segregation.«66 Wenn auch das Elend der Unterschichten in den Vorstadtwohnungen nach außen hin nicht gleich ersichtlich war, so waren die Proletarierbezirke im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg dennoch merkbar von Armut und Obdachlosigkeit geprägt. Mit der enormen Zuwanderung nach Wien und in die Wiener Außenbezirke konnte die private, am Bedarf vorbeibauende Wohnungswirtschaft nicht mithalten. Die Folge war ein notorischer Mangel an Klein- und Kleinstwohnungen. Nach Michael John seien Kündigung, Delogierung und Umzug eine Alltagserfahrung vieler Unterschichtenfamilien gewesen.67 Das Ausmaß des Wohnungselends der Habsburgermetropole scheint ein außerordentliches gewesen zu sein. Bereits in der Mitte der 1890er Jahre legte der Nationalökonom Eugen von Philippovich (1851–1917) eine Studie zu den Wiener Wohnverhältnissen vor, wonach das Wohnungselend Wiens (und vieler weiterer Städte Cisleithaniens) jenes in den Hauptstädten London, Paris und Berlin bedeutend übertraf.68 Im »anderen Wien« der Belle Époque konnten die Obdachlosigkeit und Armut nahezu »jeden« treffen: 65
66 67
68
Etwa vier Fünftel der Wiener Bevölkerung hauste Maderthaner zufolge in überfüllten Kleinstwohnungen, die als lukratives Geschäft von Bauspekulanten am Vorabend des Ersten Weltkrieges drei Viertel des Wiener Wohnungsbestandes umfassten. Vgl. ders./Musner, Anarchie, S. 67. John, Kultur, S. 160. Roschitz, Karlheinz: Kaiserwalzer. Traum und Wirklichkeit der Ringstraßenzeit, Wien 1996, S. 102f. Rund vierzehn Prozent der Wiener seien nach Rudolf Schwendter Bettgeher oder Untermieter gewesen. Vgl. ders., Armut, S. 684. Sowie John, Michael: »Obdachlosigkeit – Massenerscheinung und Unruheherd im Wien der Spätgründerzeit«, in: Ehalt, Hubert Ch., Gernot Heiss und Hannes Stekl (Hg.), Glücklich ist, wer vergisst…? Das andere Wien um 1900, Wien 1986, S. 173–194, hier S. 173f. Maderthaner, Von der Zeit, S. 190f. Sowie ders., Urbane Lebenswelten, S. 517f. Vgl. auch ders./ Musner, Anarchie, S. 79ff. Ferner vgl. Blom, Der taumelnde, S. 71. Lenger, Metropolen, S. 118. Ab 1907 verschärfte sich die Wohnungsmarktsituation, indem sich die Zahl der Personen, die keine neue Wohnung finden konnten, stark vermehrte. In der Zeit von 1910 bis 1911 erreichte der starke Mangel an Kleinwohnungen seinen Höhepunkt. John zufolge gab es in den Wiener Arbeiterbezirken praktisch keine leerstehenden Wohnungen mehr. Vgl. ders., Obdachlosigkeit, S. 185ff. Vgl. Schwendter, Armut, S. 683.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
»In Zeitungsberichten hieß es: ›Die mit Kindern gesegneten Familien werden überall zurückgestoßen, ziehen von Wohnung zu Wohnung, von Haus zu Haus, vergebens.‹ […] Fast jeden Tag berichteten die Zeitungen über die extreme Wohnungsnot: von gut verdienenden Kommunalarbeitern, von 200 pro Tag obdachlos werdenden Familien im Sommer 1911, von Selbstmorden und Selbstmordversuchen wegen Delogierung, von Familien, die im Polizeiarrest nächtigen, von sterbenden Kindern vor dem Asyl.«69 Dieser potenziellen Gefährdung durch Armut und sozialen Abstieg war ein beträchtlicher Teil der Wiener Bevölkerung ausgesetzt. Im Schichtungsmodell von Ehmer bildeten allein die lohnabhängigen Unterschichtengruppen bereits rund zwei Drittel (68 Prozent) der Beschäftigten in der Habsburgermetropole.70 Die Wiener »Unterschicht« respektive Arbeiterschaft war nicht homogen und selbst wieder in verschiedene Schichten eingeteilt. Ehmer fasst sie in vier Kategorien zusammen: (1) häusliche Dienstboten, (2) unselbständige Arbeiter im Kleingewerbe, (3) Arbeiter in verschiedenen nichtindustriellen, traditionellen sowie modernen Lohnarbeitsverhältnissen, darunter Taglöhner, Heim- und Handarbeiter, sowie (4) Fabrikarbeiter.71 Zwischen der dominierenden lohnabhängigen Unterschicht und der kleinen erwerbstätigen Oberschicht bildeten rund 29 Prozent der Wiener Beschäftigten die Mittelschicht, die sich aus den (selbständigen) Handwerkern und Kleinhändlern des noch überwiegenden »alten« und den Angestellten und Beamten des »neuen« Mittelstandes zusammensetzte. Auch diese Gruppen waren nicht homogen und dadurch gekennzeichnet, dass der Übergang der mittelständischen Tätigkeiten zur Ober- und Unterschicht fließend sein konnte.72 Die bipolare Gesellschaftsstruktur, das Nebeneinander von beachtlichem Reichtum und extremer Armut, wie sie sich in der tiefen Kluft zwischen dem bürgerlich-aristokratischen Zentrum und der proletarisch-kleinbürgerlichen Vorstadt der Residenzmetropole offenbarte, war am Vorabend des Ersten Weltkrieges – jedoch sozialtopografisch variierend – in vielen Hauptstädten Europas vorzufinden. Auch die deutsche Hauptstadt vereinte Glanz und Elend, war geteilt in den wohlhabenden Westen des aufgestiegenen Bürgertums und verarmten Nordosten der lohnabhängigen Arbeiterschaft.
69 70
71
72
John, Obdachlosigkeit, S. 188. Da die nicht-lohnabhängige Bevölkerung in Ehmers Modell nicht einbezogen wurde, ist davon auszugehen, dass der Anteil der Unterschichtenbevölkerung noch um einiges höher ausfiel. Vgl. Ehmer, Zur sozialen Schichtung, S. 75 und S. 80. Ebd., S. 76 und S. 82. Die kleinste Arbeitergruppe bildeten im Jahr 1910 die häuslichen Bediensteten mit fünfzehn Prozent. Fast die Hälfte und die damit größte Gruppe der Arbeiterschaft stellten die Gesellen und Lehrlinge aus dem Kleingewerbe, gefolgt von den »verschiedenen Lohnarbeitern« (21 Prozent) und Fabrikarbeitern (achtzehn Prozent). Berücksichtigt werden muss hierbei neben der Unterteilung der gelernten und ungelernten Arbeiterschaft auch die Unterscheidung zwischen den Nationalitäten. So habe es innerhalb des Wiener Proletariats, wie Bled hervorhebt, eine große Anzahl von noch schlecht integrierten tschechischen Arbeitern gegeben. Vgl. Bled, Wien, S. 244. Eine ausführlichere Darstellung der einzelnen Gruppen der Wiener Arbeiterschaft findet sich bei Ehmer, Josef: »Wiener Arbeitswelten um 1900«, in: Ehalt, Hubert Ch., Gernot Heiss und Hannes Stekl (Hg.), Glücklich ist, wer vergisst…? Das andere Wien um 1900, Wien 1986, S. 195–214. Ehmer, Zur sozialen Schichtung, S. 75 und S. 81. Vgl. auch Lenger, Metropolen, S. 99. Bled, Wien, S. 244ff.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Tabelle 1: Berufsverteilung und soziale Schichtung in Wien und Berlin Berufsgruppe
Wien 1910 N
Berlin 1907 %
N
%
1
Eigentümer, Hausbesitzer und Rentiers
17.206
1,5
121.685
11,8
2
Selbständige in freien und Kulturberufen
17.380
1,6
10.141
1,0
3
Selbständige in Industrie, Handel, Gewerbe, Verkehr einschl. Landwirtschaft
139.231
12,5
8.544
0,8
4
Hausgewerbetreibende
33.249
3,0
31.598
3,1
5
Beamte, Militärs, Angestellte in Industrie, Handel, Gewerbe, Verkehr einschl. Landwirtschaft
140.633
12,7
146.026
14,2
6
Mithelfende Familienangehörige
12.068
1,1
17.385
1,7
7
Arbeiter
589.876
53,2
553.276
53,6
8
Hausdienerschaft, persönliche Dienste
104.364
9,4
60.826
5,9
Gesamtzahl der Erwerbstätigen (N1)
1.053.319
9
Rentner, Pensionäre
10
Almosenempfänger Zusammen (N2)
949.481 69.632
6,8
54.986
5,0
11.512
1,1
1.108.305
100
1.030.625
100
Quellen: Ehmer, Zur sozialen Schichtung, S. 80. Statistik des Deutschen Reiches, Band 207 (1910), S. 29 und S. 38; Band 211 (1913), Anhang, S. 2, 14f., 20f., 36f., 60f., 66f., 74f., 82f., 140, 144f., 160f. und 168f. Eigene Berechnungen.
Anmerkungen zu Tabelle 1 Die Daten für Wien wurden vollständig von Ehmer übernommen einschließlich der Abweichung von etwa 0,05 Prozent zwischen der Summe der Einzelwerte und der Summe N. Ehmer zufolge wurden in Anstalten und in Ausbildung befindliche Personen sowie Personen ohne Berufsangaben nicht aufgenommen (zusammen 90.244 Personen). Die Daten für Berlin wurden sowohl mithilfe der Tabelle I im Anhang als auch unter Verwendung verschiedener Übersichten der Statistik des Deutschen Reiches zusammengestellt.73 Hierbei umfasst die Gruppe 1 Eigentümer, Hausbesitzer und Rentiers: alle, die in der Statistik unter a1 (hauptberufliche Eigentümer) aufgeführt wurden. Gruppe 2 Selbständige in freien und Kulturberufen: alle a-Personen der Berufsgruppen E6, E7 und E8. Gruppe 3 Selbständige in Industrie, Handel, Gewerbe, Verkehr einschl. Landwirtschaft: alle a-Personen in den Berufsgruppen A bis C. Gruppe 4 Hausgewerbetreibende: alle afr-Personen in der Berufsgruppe B.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Gruppe 5 Beamte, Militärs, Angestellte in Industrie, Handel, Gewerbe, Verkehr einschl. Landwirtschaft: alle b-Personen der Berufsgruppen A bis C (zusammen 92.350), der Berufsgruppe E (35.300) und die a-Personen der Berufsgruppen E1 bis E5 (18.376). Gruppe 6 Mithelfende Familienangehörige: alle c1-Personen der Berufsgruppen A bis C. Gruppe 7 Arbeiter: alle c-Personen (gelernte Arbeiter, ungelernte Arbeiter, Tagelöhner etc.) der Berufsgruppen A bis C und E. Gruppe 8 Hausdienerschaft, persönliche Dienste: alle Personen der Berufsgruppe D. Gruppe 9 Rentner, Pensionäre: alle Personen der (Berufs-)Gruppe F1. Gruppe 10 Almosenempfänger: alle Personen der (Berufs-)Gruppe F2. In der Tabelle nicht berücksichtigt wurden die Berufsgruppen F3 bis F9 (Schüler, Personen ohne Berufsangaben, Anstaltsinsassen etc.; zusammen 30.463), die Berufsgruppe G (im Haushalt des Arbeitgebers wohnende Dienende; zusammen 56.775) und die Berufsgruppe H (Angehörige ohne Hauptberuf; zusammen 887.283). Alle Berufsgruppen bilden zusammen eine Gesamtbevölkerung von 2.005.146. Die Zuordnung der Berliner Bevölkerung in die einzelnen Gruppen erfolgte nach vereinfachten Gesichtspunkten, um eine mit Ehmers Modell vergleichbare Übersicht zu erhalten. Dabei sticht bspw. die für Berlin recht groß ausfallende Gruppe 1 der Eigentümer heraus. Da die Hausbesitzer und die Betriebseigentümer in der amtlichen Statistik des Deutschen Reiches nicht getrennt, sondern gemeinsam unter a1-Personen geführt wurden, erfolgte die Zuordnung aller Eigentümer zur Gruppe 1. Es ist davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil der Gruppe 1 tatsächlich zur Gruppe 3 gehörte, d.h. zu den Selbständigen in Industrie, Handel etc. Dadurch wird der im Vergleich zu Wien sehr gering ausfallende Wert für Gruppe 3 ausgeglichen.
Berlin entwickelte sich wie Wien zur »Stadt der Arbeit und Arbeiter«. Vor dem Ausbruch des Krieges gehörten über sechzig Prozent der Berliner Bevölkerung zur Arbeiterklasse.74 In einer Gegenüberstellung der Berufsverteilung der erwerbstätigen Bevölkerung Berlins im Jahr 1907 und der Berufszugehörigkeit der Wiener um 1910 wird ersichtlich, dass die Gruppen der »Arbeiter« und »Hausgewerbetreibenden« zusammen in beiden Städten etwa 56 bis 57 Prozent der Bevölkerung umfassten (Tab. 1). Der Vergleich der sozialen Schichtung zeigt, dass die Berliner Unterschicht, die über die beiden genannten Gruppen hinaus auch von Bediensteten, mithelfenden Familienangehörigen sowie »Almosenempfängern« gebildet wurde, mit 65,4 Prozent geringfügig unter dem Wie-
73
74
Es liegen bereits vereinzelte veröffentlichte Übersichten zur sozialen Schichtung Berlins im Jahr 1907 vor. Diese sind jedoch sehr allgemein gehalten und für eine direkte Gegenüberstellung mit Ehmers Daten nicht umfassend genug. Vgl. Grzywatz, Berthold: Arbeit und Bevölkerung im Berlin der Weimarer Zeit. Eine historisch-statistische Untersuchung, Berlin 1988, S. 325f. Sowie Hohorst/ Kocka/Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 70ff. Vgl. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 427 und S. 520. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Wert noch höher ausfiel. Hierzu ausführlich unter 2.1. in Kapitel ii.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
ner Wert lag (Tab. 2).75 Etwas größer als in Wien fiel in Berlin hingegen die Gruppe der Mittelschicht aus, die zirka 34 Prozent umfasste. Auch für Berlin muss betont werden, dass die Grenzen der zur Mittelschicht gerechneten Gruppen zur Ober- und besonders zur Unterschicht fließend waren.76 Wie in Wien bildete auch in Berlin die Oberschicht die kleinste Gruppe der erwerbstätigen Bevölkerung. Den Ausführungen von Annemarie Lange folgend umfasste die Oberschicht nur einen Bruchteil des wohlhabenden Bürgertums, d.h. nicht mehr als die sprichwörtlich »oberen Zehntausend« oder anders formuliert nicht ganz ein Prozent der Berliner Gesamtbevölkerung.77
Tabelle 2: Soziale Schichtung der erwerbstätigen Bevölkerung in Wien und Berlin (in Prozent)
Oberschicht
Wien 1910
Berlin 1907
3
1
Mittelschicht
29
33,6
Unterschicht
68
65,4
Zusammen
100
100
1.108.305
1.030.625
Gesamtzahl (N)
Sowohl für Wien als auch für Berlin waren die Grenzen zwischen den einzelnen Schichten fließend. Die Grundlage der Werte bilden die Daten aus Tabelle 1, deren Zuordnung nach verschiedenen Kriterien78 erfolgte. Die Angaben stellen daher lediglich Annäherungswerte dar. Quellen: Ehmer, Zur sozialen Schichtung, S. 81. Statistik des Deutschen Reiches, Band 207 (1910), S. 29 und S. 38; Band 211 (1913), Anhang, S. 2, 14f., 20f., 36f., 60f., 66f., 74f., 82f., 140, 144f., 160f. und 168f.
75
76 77
78
Dies ist größtenteils auf die in Berlin kleiner ausfallende Gruppe der Bediensteten zurückzuführen. In den Tab. 1 und 2 wurden für Berlin nur jene Bediensteten berücksichtigt, die nicht im Haushalt der Arbeitgeber lebten. Nach den amtlichen Statistiken wurde die Hausdienerschaft, die im Haushalt der Herrschaft lebte, der Berufsgruppe der Arbeitgeber zugeordnet. Die Gruppe der Hausdienerschaft fiel demzufolge tatsächlich höher aus als der Wert in der Tab. 1. Die Angaben sollten daher als Annäherungswerte betrachtet werden. Vgl. hierzu auch Lawrence, Material pressures, S. 232. Nach Lange setzten sich die Veranlagten (schätzungsweise) aus etwa 9.380 Familien mit jährlich 12.000 bis 100.000 Mark Einkommen, 159 »sehr reichen Herren der Großbourgeoisie« mit über 100.000 Mark Jahreseinkommen sowie »60 Multimillionäre[n] mit zweieinhalb und mehr Millionen« zusammen. Insgesamt bildeten sie zweieinhalb Prozent aller Veranlagten (354.000) bzw. ein halbes Prozent der Gesamtbevölkerung. Hierzu vgl. Lange, Das Wilhelminische, S. 67ff. Die Bildung der Schichten in Wien erfolgte nach Josef Ehmers Kriterien: Die Oberschicht setzte sich zusammen aus Haus- und Grundbesitzer, Rentiers, Private sowie Selbständige in freien, medizinischen und in Kulturberufen. Zur Mittelschicht zählte Ehmer Selbständige in Industrie, Gewerbe, Handel, Verkehr und Landwirtschaft sowie deren mithelfende Familienangehörige, Angestellte und Beamte (einschl. Militärs und öffentliche Bedienstete). Die wirtschaftliche Stellung der Selbständigen wurde bei ihrer Zuweisung zur Mittelschicht nicht berücksichtigt. Für Heimarbeiter, die in der amtlichen Statistik zu den Selbständigen gezählt wurden, lagen keine genauen Zahlen vor. Ehmer nahm einen Heimarbeiteranteil von drei Prozent an, den er nicht der Mittelschicht, sondern der Unterschicht zugeordnet hat. Darüber hinaus wurden die sozial nicht näher bestimmbaren Empfänger eines Ruhegenusses (Rentner, Almosenempfänger etc.) zur Hälfte der
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Wie bereits angedeutet manifestierte sich die bis hierhin in Zahlen veranschaulichte Kluft zwischen Armut und Wohlstand in der deutschen Hauptstadt auch im äußeren Stadtbild. So lebte ein Großteil der Berliner Unterschichten vor allem im Norden und Osten der Stadt, wo infolge des »Hobrecht-Plans« seit den 1860/70er Jahren im großen Umfang schachbrettartig angelegte Massenquartiere gebaut wurden. Der 1862 vom preußischen Stadtplaner James Hobrecht (1825–1902) vorgelegte und in Kraft getretene »Bebauungsplan der Umgebungen Berlins«79 , sah zunächst eine Veränderung der Straßenzüge vor. Der Regierungsbaumeister entwickelte einen Fluchtlinienplan, der die Bebauung der dabei entstandenen rechtwinkeligen Baublöcke den Grundstückseigentümern überließ. In Verbindung mit der Baupolizeiordnung von 1853, welche den Bauherren kaum Beschränkungen in der Nutzung ihrer Grundstücke auferlegte, wurde eine Baupraxis begünstigt, die eine Verschlechterung der Berliner Wohnverhältnisse herbeiführte.80 In der Folge entstanden die Berliner Mietskasernen – mehrgeschossige Wohn-
79
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Mittelschicht und zur Hälfte der Unterschicht zugeordnet. Konkret basieren die Angaben für Wien in Tabelle 2 auf den Zuordnungen der Gruppen in Tabelle 1: Die Oberschicht bilden die Gruppen 1 und 2, die Mittelschicht die Gruppen 3, 5, 6 und 9, die Unterschicht die Gruppen 4, 7, 8 und 10. Die Bildung der Schichten in Berlin erfolgte nach folgenden vereinfachten Kriterien: Die Oberschicht umfasste nur einen Bruchteil des wohlhabenden Berliner Bürgertums. Nach amtlichen Schätzungen von 1900 umfassten sie nicht mehr als 9500 »Steuer-Individuen«. Im Anschluss an Lange wird vermutet, dass die Berliner Oberschicht von nicht mehr als 10.000 Eigentümer und Hausbesitzer gebildet wurde. Zur Mittelschicht wurden alle weiteren Selbständigen (a-Personen in der amtlichen Statistik ohne die Hausgewerbetreibenden) in freien und Kulturberufen sowie in Industrie, Gewerbe, Handel, Verkehr und Landwirtschaft, die Beamte, Militärs und Angestellten (b-Personen) in Industrie, Gewerbe, Handel, Verkehr und Landwirtschaft sowie die Rentner und Pensionäre gezählt. Anders als in Ehmers Übersicht wurden die mithelfenden Familienangehörigen nicht zur Mittelschicht, sondern zur Unterschicht gerechnet. Es ist anzunehmen, dass die Spanne der wirtschaftlichen Stellung zwischen a- und b-Personen relativ groß war. Aufgrund fehlender ausführlicher Einkommensdaten musste die Zuordnung nach vereinfachten Gesichtspunkten vorgenommen werden. Die Mittelschicht umfasste hiernach alle jene, die in der offiziellen Statistik nicht als c-Personen aufgeführt wurden. Die Unterschicht bildeten demnach alle c-Personen der amtlichen Statistik einschl. der Hausgewerbetreibenden (afr-Personen) und der Almosenempfänger. Konkret basieren die Angaben für Berlin in Tabelle 2 auf den Zuordnungen der Gruppen in Tabelle 1: Die Oberschicht bilden ein Prozent der Gruppe 1, die Mittelschicht die weiteren 10,8 Prozent der Gruppe 1 sowie die Gruppen 2, 3, 5, und 9, die Unterschicht die Gruppen 4, 6, 7, 8 und 10. Das Planungsgebiet umfasste weite Teile der Stadt und erstreckte sich über die Eingemeindungen von 1861 hinaus im Norden bis zum Wedding, im Osten bis nach Weißensee und Lichtenberg, im Süden bis nach Rixdorf und Schöneberg sowie im Westen bis nach Charlottenburg. Vgl. Stimmann, Hans: »James Hobrecht und Berlin – 140 Jahre Berliner Stadtgüter«, in: Kähler, Susanne, Wolfgang Krogel und Manfred Uhlitz (Hg.), 150 Jahre Metropole Berlin, Festschrift zum 150. Jubiläum des Vereins für die Geschichte Berlins e.V., Berlin 2015, S. 105–116, hier S. 110. Vgl. auch Demps, Laurenz: »Stadtplanung und Stadtbild«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 111 (2015), S. 32–39, hier S. 38f. Strauch, Dietmar: Adolf Wermuth. Der Beamte, der Groß-Berlin schuf, Berlin 2020, S. 36. Eine ausführliche Darstellung des Hobrecht-Plans liefert Felix Escher, Berlin und sein Umland. Zur Genese der Berliner Stadtlandschaft bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 207ff. Die Baupolizeiordnung von 1853 beschränkte sich auf die Festlegung der Einhaltung der Straßenfluchtlinie sowie der Hofgrößen von 5,34 Metern im Quadrat in den Wohnhäusern mit erlaubten Bauhöhen von vier bis sechs Geschossen. Vgl. Richter, Zwischen Revolution, S. 666. Stimmann, James Hobrecht, S. 111.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
quartiere, Gebäude mit Seitenflügeln sowie mehreren Hinterhäusern und lichtarmen Innenhöfen, in denen zunehmend mehr Menschen dicht zusammengedrängt auf engstem Raum lebten: »In Berlin kamen im Mittel 77 Bewohner auf ein Grundstück. 22,6 Prozent aller vorwiegend fünfgeschossigen Häuser wurden von 100 bis 300 Menschen bewohnt. 26 000 Wohnungen lagen im Keller. Die Wohnungsstatistik von 1905 weist aus, daß 788 809 Berliner – das sind eine Dreiviertelmillion Erwachsener und Kinder – in jeweils nur einer heizbaren Stube ohne Nebengelaß oder überhaupt nur in einer ›Wohnküche‹ zusammengepfercht lebten. In diesen als ›mäßig‹ bis ›stark übervölkert‹ bezeichneten Wohnlöchern kamen auf einen Raum drei, vier, sechs und mehr Personen.«81 Doch nicht nur die Bewohnerdichte, die in keiner anderen europäischen Großstadt in der Höhe vorzufinden war, beeinträchtigte die Wohnbedingungen der Berliner Bevölkerung innerhalb des wilhelminischen Mietskasernengürtels. Nicht selten siedelten sich in den Hinterhäusern der Mietskasernen Gewerbetreibende an, die mit der Lärmund Geruchsbelästigung ihrer Kleinbetriebe, darunter Druckereien und Werkstätten, die (unhygienischen) Wohnverhältnisse zusätzlich verschlechterten. Zu dieser Mischung aus Wohnen und Arbeiten, die sich vor allem aus den günstigen Mietpreisen für Betriebsinhaber ergab, trat die von Hobrecht beabsichtigte soziale Mischung der Mieterschaft. Die Vereinigung aller Einkommensklassen unter einer Hausnummer wirkte aus Sicht des Stadtbaurats als gesellschaftlich stabilisierendes Moment, womit er nach Klaus Dettmer einer Segregation vorgebeugt habe. Während die untersten Einkommensklassen in den Hinter- und Seitenhauswohnungen unterkamen, die im Jahr 1910 rund 48 Prozent aller Groß-Berliner Etagenwohnungen bildeten, bewohnte der besserbetuchte Mittelstand die Zwei- und Dreizimmerwohnungen in den Vorderhäusern.82 Das von Hobrecht forcierte »Durcheinanderwohnen« sollte der Entstehung proletarischer Armenviertel vorbeugen. Nichtdestotrotz entstanden mit den vielen Mietskasernenhinterhäusern, die von unzähligen Arbeiterfamilien unter entsetzlichen hygienischen Verhältnissen bewohnt wurden, auch in Berlin vom sozialen Elend gekennzeichnete Arbeiterbezirke, z.B. im Wedding, in Moabit und Kreuzberg. Es waren jedoch nicht nur die Massenquartiere, die das nordöstliche und südöstliche Berliner Stadtbild vor dem Ersten Weltkrieg prägten. Der anhaltende Andrang von Zuzugswilligen führte zu einer ausgeprägten Wohnungsnot, die von den Hauseigentümern zusätzlich gefördert wurde, indem sie diese ausnutzten, um die Mieten in die Höhe zu treiben. So waren Zehntausende Arbeiter obdachlos und hausten in Behelfsquartie-
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Lange, Das Wilhelminische, S. 89f. Vgl. auch Glatzer, Das Wilhelminische, S. 313. Als »Vater des »steinernen Berlin« bzw. »Schöpfer des Massenmietshauses« wurde Hobrecht für die intensive Bebauung der Grundstücke und die hohe Wohndichte in den Mietskasernen viel kritisiert. Zur Auseinandersetzung mit der Kritik an Hobrecht siehe u.a. den Aufsatz von Stimmann. Siehe auch Hegemann, Werner: Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt, Berlin 1930. Vgl. Dettmer, Arbeiterleben, S. 44. Lange, Das Wilhelminische, S. 93f. Glatzer, Das Wilhelminische, S. 313. Sowie Richter, Zwischen Revolution, S. 665.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
ren.83 Seit den achtziger und neunziger Jahren verließ mit dem raschen Wachstum der Vorortgemeinden ein beträchtlicher Teil der wohlhabenden Bevölkerung das alte Berlin, womit die räumliche Trennung von Bourgeoisie und Proletariat einherging. »Wer es ›zu was gebracht‹ hatte«, so Lange, »zog möglichst bald weg, nach Schöneberg, Charlottenburg oder Steglitz.«84 Die besitzende Klasse lebte vornehmlich im grünen Südwesten in eleganten Wohnvierteln mit vornehmen Mietshäusern und Villen: »Statt mehrerer Hinterhöfe wie bei der Mietskaserne gab es im ›Neuen Westen‹ den ›Gartenhof‹, statt der Hinterhäuser das ›Gartenhaus‹ mit kleineren Wohnungen, die für Offiziere, Beamte oder arrivierte freie Berufe durchaus als standesgemäß galten. […] Nicht nur das Proletariat (dem man die Portiers nicht zurechnen kann), selbst der Mittelstand wurde hier ferngehalten. Man blieb ›unter sich‹.«85 Vom »Zug nach Westen« und »Berlin W« war die Rede. Der Westen Berlins passte sich der Entwicklung im Stadtkern an. Vor allem zwischen Berlin und Charlottenburg war die Grenze bald nur noch auf der Karte auszumachen. Das Kurfürstendammviertel lockte zahlreiche Unternehmer an, die sich mit ihren Geschäften und Restaurationen niederließen. Neben zahlreichen Cafés und Restaurants gewannen Kunst, Kultur und Wissenschaft auch hier festen Boden und schufen Anreize zur Zuwanderung. Zugleich war Charlottenburg der erste Vorort, der 1865 durch die Aufnahme des Pferdebahnbetriebes als erste Form des öffentlichen Nahverkehrs an die Hauptstadt angeschlossen wurde. Bald schon entstanden Stadt-, Ring-, U- und Vorortbahn, die sich zu Massentransportmitteln entwickelten und um 1912 etwa 388 Millionen Menschen beförderten.86 Die 1877 fertiggestellte Ringbahn und die seit 1882 Osten und Westen verbindende Berliner Stadtbahn bildeten ein Verkehrssystem, das außerordentlich günstige Voraussetzungen zur Anbindung der wachsenden Vororte bot.87 Zugleich entlasteten sie den innerstädtischen Verkehr, der vor allem von Omnibussen, Straßenbahnen, Droschken und Passanten dominiert wurde. Das Verkehrswesen im Innenstadtbereich erfuhr wiederum eine Revolutionierung durch Werner von Siemens’ Erfindung der elektrisch betriebenen Bahnen. Zwischen 1896 und 1902 wurde das gesamte Streckennetz der Pferdebahnen auf elektrischen Betrieb umgestellt. Im Jahr 1914 verkehrten Michael Erbe zufolge 130 Straßenbahnlinien im Berliner Raum: »Sie beförderten etwas mehr als die Hälfte aller Personen, die öffentliche Verkehrsmittel benutzten. Hinzu kam ein Anteil des sich langsam auf Motorfahrzeuge umstellen-
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Das Mietskasernenelend und die dichte Bebauung reichten bis in die angrenzenden Vororte. Rixdorf, Pankow oder Tempelhof – die Berliner Vorstädte waren ebenso vom Wohnungsmangel, Mietwucher und der Bauspekulation betroffen. Vgl. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 425. Die Wohnungsnot wurde nicht nur durch die Zuwanderung hervorgerufen, sondern auch durch die um sich greifende Bauspekulation. Hierzu vgl. Lange, Das Wilhelminische, S. 91. Glatzer, Das Wilhelminische, S. 315f. Lange, Das Wilhelminische, S. 94. Ebd., S. 88. Vgl. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 392 und S. 519. Vgl. Erbe, Berlin, S. 734.
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den Omnibusverkehrs von 13 %, womit fast zwei Drittel des öffentlichen Personennahverkehrs die Straßen mehr und mehr belasteten.«88 Eine weitere Erleichterung des Stadtverkehrs brachte die 1902 in Betrieb genommene elektrische Schnellbahn, die Berlin auch im Nahverkehrswesen den Ruf als »Elektropolis« verschaffte: »Eine wichtige Rolle beim Zusammenwachsen Berlins mit seinen Vororten spielt ein neues Verkehrsmittel – die elektrische Hoch- und Untergrundbahn, deren erste Linie, von Siemens gebaut, von der Deutschen Bank finanziert, vom Potsdamer Platz über das Gleisdreieck zum Stralauer Tor beziehungsweise über Bülowstraße und Wittenbergplatz zum Bahnhof Zoo führt […]. Bis zum Ausbruch des Weltkrieges erweitert sich das Berliner U-Bahn-Netz auf sechs Linien mit achtunddreißig Kilometern Länge.«89 Gleichwohl waren vor allem die gehobenen Gesellschaftskreise die Nutznießer der U-Bahn. Zum einen fand der Osten der Stadt beim Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes anfangs kaum Berücksichtigung. Zum anderen konnte sich die Arbeiterschaft, die vom Nahverkehr hätte profitieren können, die Fahrten zunächst nicht leisten und bewältigte weiterhin die immer länger werdenden Strecken zur Arbeit zu Fuß. Das Wachstum des Gemeindegebietes führte auch in Wien zu immer größeren Entfernungen und der Einrichtung öffentlicher Verkehrsmittel. Als Folge der innerstädtischen Umgestaltungen und der Eröffnung der Ringstraße im Jahr 1865 entfaltete sich ein reger Verkehr von der Stadtmitte in die umliegenden Vorstädte.90 Noch im gleichen Jahr und damit parallel zu Berlin führte die Habsburgermetropole die Pferdebahn (»Pferdetramway«) ein, die sich aus verschiedenen Stellwagen- und Omnibuslinien entwickelte und zunächst vom Schottentor bis Hernals verkehrte. Nach Jean-Paul Bled entwickelte sich daraus recht bald ein ganzes Netz von Linien, das die Stadt durchzog und darüber hinaus seit den 1880er Jahren auch mit dampfbetriebenen Tramways ergänzt wurde: »1890 werden nicht weniger als 42,8 Millionen Fahrgäste befördert; in fünf Jahren steigt ihre Zahl auf 56,8 Millionen.«91 Kurz nachdem Berlin die Umstellung seines Streckennetzes auf Elektrobetrieb einleitete, wurde im Januar 1897 auch in Wien die erste elektrische Straßenbahn in Betrieb genommen.92 Die anschließend einsetzende Umgestaltung des gesamten Wiener Tramwaynetzes auf elektrischen Betrieb war jedoch eine Folge der Wahl Karl Luegers (1844–1910) zum Bürgermeister im April 1897, der die Kommunalisierung der Gas- und Stromversorgung in die Wege leitete und damit zugleich die Elektrifizierung und schrittweise Kommunalisierung des Straßenbahnnetzes ermöglichte. Im Jahr 1903 verfügte die Gemeinde Wien über ein Straßenbahnnetz von 160 Kilometern
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Erbe, Berlin, S. 737. Wie an anderer Stelle bereits beschrieben wurde die erste Straßenbahn bereits 1881 in Betrieb genommen. Vgl. auch Haffner, Industriekultur, S. 26. Glatzer, Das Wilhelminische, S. 299ff. Vgl. »Verkehrsgeschichte«, in: Wien Geschichte Wiki. Eine historische Wissensplattform der Stadt Wien. Im Internet unter: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Verkehrsgeschichte (13.04.2020). Bled, Wien, S. 154. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Leistungen des Straßenbahnnetzes vor allem auf die private und dominierende »Wiener Tramway-Gesellschaft« zurückzuführen.
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Länge, mit 945 Motor- und 888 Beiwagen.93 Die Straßenbahn blieb zunächst das einzige Massenverkehrsmittel. Zwar lagen bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts Überlegungen zum Bau einer Stadt- bzw. Untergrundbahn vor, doch erst kurz vor der Jahrhundertwende nach der Wienflussregulierung und der Errichtung des Gürtels konnte 1895 der Bau der Stadtbahn in Angriff genommen werden. Die erste – oberirdisch verkehrende – Wiener Stadtbahnlinie, die Obere Wiental- und die Gürtellinie, eröffnete im Juni 1898. Da die Stadtbahn weniger eine Antwort auf die vorhandenen Verkehrsbedürfnisse war und vorrangig militärischen Anforderungen gerecht werden sollte, erlangte sie erst nach dem Ersten Weltkrieg größere Bedeutung.94 Gegenüber der deutschen Hauptstadt wies Wien keine vergleichbare Fülle verschiedener öffentlicher (Schnell-)Verkehrsmittel auf. Dies änderte sich auch nicht mit der Einführung der benzinbetriebenen Wiener Autobusse im Jahr 1907, die bereits etwa zwei Jahre zuvor in Berlin eingeweiht wurden. Dadurch blieb der Habsburgermetropole aber auch jene chaotische Verkehrslage erspart, die in der deutschen Hauptstadt vermehrt Probleme bereitete. Gemeinsam hatten beide Städte jedoch die »Beständigkeit des Zu-Fuß-Gehens« der Unterschichtenbevölkerung, für die die vorhandenen öffentlichen Verkehrsmittel oftmals wenig erschwinglich waren.95 Der Ausbau des innerstädtischen Verkehrswesens blieb nicht die einzige infrastrukturelle Errungenschaft, die das Wiener und Berliner Stadtbild und Großstadtleben vor dem Ersten Weltkrieg nachhaltig veränderte. Das Raum- und Bevölkerungswachstum bereitete beiden Hauptstädten eine Fülle an Problemen im Bereich der kommunalen Verund Entsorgung, wodurch die Stadtverwaltungen insbesondere seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Infrastrukturmodernisierung ergriffen.96 Hierbei eigneten sich die Städte nach und nach wichtige Domänen im Versorgungsbereich an, mit denen sie die Entwicklung zur »städtischen Leistungsverwaltung« in die Wege leiteten.
1.4 Neue Herausforderungen und Aufgaben: Politik und Verwaltung Das Spektrum gesellschaftspolitischer Betätigung seitens der Kommunalverwaltungen war breit und umfasste neben den Leistungen im Bereich der technischen Infrastruktur auch soziale Infrastrukturmaßnahmen sowie gesundheits- und bildungspolitische Unternehmungen, die alle, so Gerhard Melinz und Susan Zimmermann, »teil an einer
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Vgl. »Straßenbahn«, in: Wien Geschichte Wiki. Eine historische Wissensplattform der Stadt Wien. Im Internet unter: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Stra %C3 %9Fenbahn (13.04.2020). Siehe auch Czeike, Felix: Historisches Lexikon Wien, Band 5, Wien 2004, S. 362. Vgl. Melinz/Zimmermann, Die aktive Stadt, S. 149 und 153. Sowie Wien Wiki, Verkehrsgeschichte (oben Kapitel ii, Anm. 90). Erst im Jahr 1925 wurde die Stadtbahn auf elektrischen Betrieb umgestellt und in das übrige Verkehrsnetz eingebunden. Darüber hinaus scheiterten vor dem Ersten Weltkrieg auch die Pläne zur Realisierung des U-Bahn-Baus, der tatsächlich erst in den 1960er Jahren einsetzen sollte. Vgl. Schwendter, Armut, S. 691. Vgl. Melinz/Zimmermann, Großstadtgeschichte, S. 28. Auch Pohanka, Reinhard: Eine kurze Geschichte der Stadt Wien, Wien 1998, S. 185.
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umfassenden Bereitstellung bzw. Regulierung von Produktions- und Reproduktionsbedingungen der industriekapitalistischen Gesellschaft [hatten …und] keineswegs mit der Schaffung eines Netzwerks von system- und klassenunspezifischen kommunalen Dienstleistungen zum Wohl aller Bürger«97 zu verwechseln sind. Wiens Weg zur »aktiven Stadt« wurde seit den 1860er Jahren bis zur Mitte der 1890er Jahre von der kommunalpolitischen Vorherrschaft des liberalen Lagers im Gemeinderat, dem wichtigsten städtischen Verwaltungsorgan, geprägt. Nach der Wiener Gemeindeordnung von 1850 galt der Gemeinderat als beschlussfähiges Organ, das den Magistrat als sein ausführendes Verwaltungsorgan beaufsichtigte.98 Begünstigt vom Dreiklassenwahlrecht stellten die Liberalen in diesen Jahrzehnten den Vorsitzenden des Gemeinderates und damit den Bürgermeister. Ein Großteil der in dieser Zeit auf den Weg gebrachten (liberalen) Infrastrukturgroßprojekte wurde jedoch durch staatlichen Druck und staatliche Beteiligung herbeigeführt. Obwohl die Gemeindeordnung sowie das provisorische Gemeindegesetz von 1849 und das Reichsgemeindegesetz von 1862 die städtische Autonomie in der Verwaltung der städtischen Finanzen und in den Bereichen des Bau-, Sicherheits-, Armen- und Schulwesens festschrieben sowie den Schutz der Gemeinde vor staatlicher Willkür seitens der Regierungsbehörden garantierten, waren viele der oben dargestellten städtischen Neuerungen aufoktroyierte Vorgaben des Staates.99 Neben dem Abriss der Fortifikationen und des darauffolgenden Ringstraßensowie Stadtbahnbaus gehörten hierzu auch die Eröffnung des Wiener Zentralfriedhofes (1874) sowie die Errichtung der ersten Wiener Hochquellwasserleitung (1870–73), das seinerzeit teuerste Wiener Infrastrukturprojekt, das erstmals eine flächendeckende städtische Wasserversorgung ermöglichte und den Ausbau der Kanalisation in die Wege leitete. Diese Großprojekte fielen wie die den Stadtraum von Grund auf verändernde Donauregulierung (1869–75) in die Amtszeit des Bürgermeisters Cajetan Felder (1814–1894), der die Habsburgerhauptstadt von 1868 bis 1878 regierte.100 Über Felders Infrastrukturprojekte hinaus fiel die mit diesen hygienischen Maßnahmen verbundene Schaffung verbesserter Verkehrsbedingungen, die zweite Eingemeindung der Wiener Vororte (1890/92), die damit einhergehende Wienflussregulierung der 1890er Jahre, die Errichtung von Markthallen und die Eröffnung zahlreicher Schulen in die liberale Ära. »Die Liberalen betrieben […] den Um- und Neubau der Stadt, sie schufen die moderne Stadt im Sinn einer Rahmenbedingung: Dort, wo es ihre unmittelbaren Interessen er97 98
Melinz/Zimmermann, Die aktive Stadt, S. 140f. Vgl. Buchmann, Bertrand Michael: »Politik und Verwaltung«, in: Csendes, Peter und Ferdinand Opll (Hg.), Wien: Geschichte einer Stadt. Band 3, Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien 2006, S. 85–127, hier S. 121. 99 Vgl. ausführlich Enderle-Burcel, Verwaltung, S. 280. 100 So hielt Felder auch im »Schicksalsjahr 1873« die Geschicke der Stadt in der Hand – das Jahr, in dem Wien mit seiner prestigeträchtigen Weltausstellung und dem kurz darauffolgenden großen Börsenkrach im Fokus der Weltöffentlichkeit stand. Dem Historiker Felix Czeike zufolge sei Felder der unzweifelhaft bedeutendste Mann der liberalen Epoche (1848–1895) gewesen. Er habe mit Blick auf die Wiener Stadtentwicklung wichtige Entscheidungen getroffen. Hierzu vgl. ders.: »Bürgermeister Dr. Cajetan Felder und seine Bedeutung für Wien«, Festvortrag anlässlich der Gründung des Cajetan-Felder-Institutes am 23. April 1987, S. 10. Im Internet unter: https://www.cajetan.net/ publikationen_dateien/cf %20vortrag.pdf (15.11.2016).
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forderten, griffen sie unmittelbar und direkt ein, ordneten, modifizierten sie die dynamische, teils explosive urbane Entwicklung (Hygiene, Bildung). Alles Übrige überantworteten sie nach Möglichkeit der privaten Initiative, dem Spiel der freien Marktkräfte, der Spekulation (Wohnbau, Verkehrs-, Gasversorgung etc.).«101 Während die Stadtverwaltung im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr Einflussgebiet schrittweise ausweitete, büßte der Liberalismus seine Vorherrschaft allmählich ein. Mit dem Ende ihrer Dominanz auf staatlicher Ebene im Jahr 1879 begann auch für die Liberalen im Wiener Gemeinderat ein zäher Kampf um den Erhalt der Mehrheit. Der Börsenkrach von 1873 und die nachfolgende Wirtschaftsdepression brachten populistische, antikapitalistische und antisemitische Bewegungen hervor, die sich gegen die großbürgerliche liberale Vorherrschaft richteten.102 Der wirtschaftliche Strukturwandel und die Auswirkungen der Depression setzten vor allem das in seiner Existenz bedrohte Kleinbürgertum unter Druck, das infolge der 1885 vom Wiener Gemeinderat beschlossenen Wahlrechtsreform bald die Kernwählerschaft des antiliberalen Lagers bildete. Die Herabsenkung der Wahlrechtschranke auf ein Jahreseinkommen von fünf Gulden begünstigte den Aufstieg des redegewandten Advokaten Karl Lueger, der seine politische Laufbahn zunächst im Kreise der Liberalen startete und im Jahr 1893 die antiliberale Christlichsoziale Partei gründete, die sich schnell zu einer Massenbewegung der »kleinen Leute« entwickelte.103 Bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung erreichte die Christlichsoziale Partei eine Mehrheit im Wiener Gemeinderat.104 In seinen dreizehn Amtsjahren als Bürgermeister realisierte Lueger die im christlichsozialen Kommunalprogramm propagierte Kommunalisierung der wichtigsten Versorgungsbetriebe. Wie in der Darstellung der
101 Maderthaner, Von der Zeit, S. 196. 102 Vgl. Öhlinger, Walter: »Kommunale Oligarchie. Der Wiener Gemeinderat in der liberalen Ära«, in: Kos, Wolfgang, Ralph Gleis und Thomas Aigner (Hg.), Experiment Metropole. 1873: Wien und die Weltausstellung, Wien 2014, S. 74–83, hier S. 74. Die Depression infolge des Börsenkrachs bewirkte nicht nur das Heranwachsen einer antiliberalen Gegenbewegung, sondern führte auch zu Spaltungen und Fusionen innerhalb des sehr heterogenen liberalen Lagers. 103 Mit seiner Sprachgewandtheit und der Anpassung seines politischen Vokabulars an antisemitische Stereotype erreichte Lueger über das kleinbürgerlich-demokratische Wählerreservoir hinaus auch katholisch-konservative Schichten. Vgl. »Auf dem Weg zur Macht«, in: Wienbibliothek im Rathaus, Virtuelle Ausstellung zum 100. Todestag von Karl Lueger. Im Internet unter: www.w ienbibliothek-digital.at/ausstellung/lueger/auf-dem-weg-zur-macht.html (13.04. 2020). Lenger zufolge blieb der Kreis der Wahlberechtigten nach wie vor eng gezogen. Vor der Halbierung des Steuerzensus war kaum jeder sechste männliche Einwohner wahlberechtigt. Nach der Reform besaß nicht mal jeder vierte Wiener das Wahlrecht. Vgl. Lenger, Metropolen, S. 158. Vgl. auch Melinz/Zimmermann, Großstadtgeschichte, S. 25f. 104 Mit der Umsetzung ihres ambitionierten kommunalen Reformprogramms mussten die Christlichsozialen jedoch die kaiserliche Bestätigung der Wahl Luegers zum Bürgermeister im Frühjahr 1897 abwarten. Da Kaiser Franz Joseph i. den wachsenden Zuspruch für die Christlichsozialen nicht anerkennen wollte und die Bestätigung der Wahl Luegers zum Bürgermeister lange verweigerte, benötigte es bei einer Dauer von zwei Jahren mehrere Wahl-Anläufe bis lueger zum Stadtoberhaupt befördert wurde. Vgl. »Bürgermeister und Parteiführer«, in: Wienbibliothek im Rathaus, Virtuelle Ausstellung zum 100. Todestag von Karl Lueger. Im Internet unter: www.wienbibliothek -digital.at/ausstellung/lueger/buergermeister-und-parteifuehrer.html (13.04.2020).
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Entwicklung des innerstädtischen Verkehrswesens bereits angedeutet, erfolgte in der Lueger-Ära die Einrichtung gemeindeeigener Elektrizitätswerke, die Errichtung von städtischen Gaswerken und die schrittweise »Verstadtlichung« des Verkehrswesens, womit sich die Habsburgermetropole ihre finanzielle Autonomie gegenüber den zentralstaatlichen Instanzen sicherte. Die Gewinne der Gemeindebetriebe, die für das städtische Budget abgeschöpft wurden, stellten einen bedeutsamen Teil der jährlichen städtischen Haushaltseinnahmen dar.105 Zu den weiteren Infrastrukturmaßnahmen, die von den Christlichsozialen darüber hinaus ergriffen wurden, gehörten die Eröffnung einer zweiten Hochquellwasserleitung, der Bau weiterer Schulen, der Ausbau des Zentralfriedhofs und der Erwerb von Grünanlagen. Im wohlfahrtspolitischen Bereich brachte Lueger ebenso allerhand Neuerungen auf den Weg, auch wenn die an sich steigenden kommunalen Ausgaben im Fürsorgewesen überschaubar blieben. »Kommunale Fürsorgepolitik«, so Maderthaner, »wurde im Sinn einer karitativen Armenfürsorge verstanden, als eine aus christlichem Ethos heraus gewährte Gabe, die für ein zum Überleben notwendiges Minimum sorgen sollte[.]«106 Das begrenzte städtische Armenwesen stützte sich größtenteils auf private Vereine, Stiftungen und ehrenamtlich erbrachte Leistungen der Wiener Mittelschichten. In seinem Resümee zur Wiener Armenpflege vor dem Ersten Weltkrieg hält der Wiener Historiker Andreas Weigl fest: »Wenn auch der christlichsozialen Stadtregierung eine Wohlfahrtspolitik für alle Schichten der Bevölkerung fremd blieb, so konnte sie sich doch vor den Problemen einer rasch wachsenden Zwei-Millionen-Metropole sozialpolitisch nicht völlig verschließen. Dies führte zu einem vorsichtigen, partiellen Abrücken von reaktivrepressiver Politik traditioneller Art hin zu einer gewissen Sozialpolitisierung, die sich auch im Budget niederschlug. […] Vor allem in drei Bereichen bestand erheblicher Handlungsbedarf: in der Altenpflege, in der Säuglings- und Kinderfürsorge und zunehmend in den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch in der Unterstützung von Opfern konjunktureller Arbeitslosigkeit.«107 Somit erfolgte unter dem »Volksbürgermeister« Lueger nicht nur der Bau des Lainzer Versorgungshauses, das seinerzeit modernste kommunale Altersversorgungsund Armenhaus in Europa, sondern auch die Einrichtung von Kinderheilstätten, des »Jubiläumsspitals« sowie weiterer Kliniken, die Modernisierung des Sanitäts- und
105 Vgl. Maderthaner, Von der Zeit, S. 222. Ermöglicht wurden Luegers Kommunalisierungsschritte vor allem durch die von den Liberalen erlassene Erneuerung des Gemeindestatuts von 1890, das eine Erweiterung der Kompetenzen des Bürgermeisters beinhaltete. Darüber hinaus sah es eine Umgestaltung der Gemeindeverwaltung vor. Als beschließendes Organ wurde dem Bürgermeister ein Stadtrat zur Seite gestellt, dem wichtige Befugnisse des Gemeinderates übertragen wurden. Vgl. Lehner, Isabella: »Migration, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im Wiener Gemeinderat (1892–1912)«, in: Röhrlich, Elisabeth (Hg.), Migration und Innovation um 1900. Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende, Wien 2016, S. 459–480, hier S. 462f. 106 Maderthaner, Von der Zeit, S. 228. 107 Weigl, Andreas: »Kommunale Daseinsfürsorge. Zur Genesis des ›Fürsorgekomplexes‹«, in: Pfoser/ders., Epizentrum, S. 336–347, hier S. 337. Vgl. ferner Melinz/Zimmermann, Die aktive Stadt, S. 174f.
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Rettungswesens und die Gründung einer städtischen Arbeitsvermittlungsanstalt.108 Darüber hinaus erweiterte die Stadt im Bereich der Armenfürsorge den Kreis der Unterstützungsempfänger und richtete 1912 unter dem späteren »Kriegsbürgermeister« Richard Weiskirchner (1861–1926) die ersten kommunalen Säuglingsfürsorgestellen und Säuglingspflegerinnenposten ein. Neben all diesen sozialen Infrastrukturmaßnahmen, die die Stadt in den Vorkriegsjahrzehnten im großen Stil voranbrachte, blieb mit dem Fehlen einer sozialen Wohnungs- und Wohnbaupolitik ein bedeutender Bereich unberücksichtigt. Die christlichsoziale Wiener Stadtverwaltung lehnte den kommunalen Wohnbau als Mittel gegen die Wohnungsnot ab. Ihrer Ansicht nach sollte der Wohnungsbau Sache des Privatkapitals bleiben. Dementsprechend zurückhaltend verhielt sich die Stadt hinsichtlich der verheerenden Wohnungsnotsituation.109 Der Blick auf die parallel in die Wege geleiteten Infrastrukturmaßnahmen in der deutschen Hauptstadt zeigt, dass die Wohnbaupolitik nicht nur in Wien vernachlässigt wurde. Auch in der deutschen Hauptstadt galten nach der Städteordnung der preußischen Monarchie von 1853 die von der Bevölkerung gewählte Stadtverordnetenversammlung und der die Stadtregierung bildende Magistrat mit dem Oberbürgermeister an der Spitze als die obersten Organe der städtischen Verwaltung.110 Doch anders als in Wien behauptete sich der Liberalismus als prägende Kraft der kommunalpolitischen Gestaltung in Berlin bis zum Ausbruch des Krieges. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt von national- und linksliberalen Oberbürgermeistern regiert, die wie die Gemeindeoberhäupter Wiens mehrheitlich eine Verbesserung der städtischen Versorgungsleistungen einleiteten. So brachte Karl Theodor Seydel (1812–1873) mit dem Ziel der Steigerung der städtischen Hygiene den Ausbau des Krankenhauswesens auf den Weg und leitete den Bau eines leistungsfähigen Entwässerungssystems ein. Das bis zur Mitte der 1880er Jahre entstandene und sich auf das gesamte Stadtgebiet erstreckende Kanalisationsnetz basierte wie schon der Mietskasernenbau auf den Plänen von James Hobrecht. Sein bis 1878 als Oberbürgermeister amtierender Bruder und Seydels Nachfolger Arthur Hobrecht (1824–1912) machte die Stadt zur Eigentümerin mehrerer Wasserwerke und sicherte damit eine ausreichende Wasserversorgung für die wachsende Berliner Bevölkerung. Noch tiefgreifender wirkte der nach Hobrecht amtierende Verwaltungsjurist Max(imilian) von Forckenbeck (1821–1892), in dessen Regierungszeit nicht nur die Fertigstellung des Kanalisationsnetzes und der Ausbau des Verkehrsnetzes fallen, sondern auch die Gründung der »Berliner Elektricitäts-Werke«, die
108 Vgl. Maderthaner, Von der Zeit S. 227. Sowie »Kommunalpolitische Projekte«, in: Wienbibliothek im Rathaus, Virtuelle Ausstellung zum 100. Todestag von Karl Lueger. Im Internet unter: www.wienbibliothek-digital.at/ausstellung/lueger/kommunalpolitische-projekte.html (13.04.2020). 109 Unter Weiskirchner brachte die Gemeinde vor dem Krieg lediglich die Errichtung von Notstandswohnungen zur Unterbringung Obdachloser sowie die Schaffung einer Magistratsabteilung für städtische Wohnungsfürsorge auf den Weg. Vgl. Banik-Schweitzer, Die Großstädte, S. 43. Eigner, Peter, Herbert Matis und Andreas Resch: »Sozialer Wohnbau in Wien. Eine historische Bestandsaufnahme«, S. 8. Im Internet unter: https://mediawien-film.at/media/uploads/documen ts/320_neues_wien/matis_wohnbau.pdf (07.12.2022). 110 Vgl. ausführlich Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. XI. Sowie Erbe, Berlin, S. 746.
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in der Folge neben dem gewerblichen und privaten Verbrauch auch für städtische Belange, z.B. die Straßenbeleuchtung und den Straßenbahnbetrieb, zum Einsatz kamen. Auch hinsichtlich der Zufuhr und Verteilung lebensnotwendiger Waren verhalf der nationalliberale Forckenbeck der durch Eisenbahnlinien und Wasserstraßen gut angebundenen deutschen Hauptstadt zum Bau moderner Markthallen und eines Zentralviehhofes. Wie keiner seiner Vorgänger stellte er die Weichen für seine Nachfolger, darunter den Linksliberalen Martin Kirschner (1842–1912) sowie den Verwaltungsbeamten und späteren »Kriegsoberbürgermeister« Adolf Wermuth (1885–1927), die ebenfalls ihren Beitrag zur Entwicklung Berlins als eine der gesündesten und saubersten Großstädte Europas vor dem Ersten Weltkrieg leisteten.111 Nicht nur in der Kontinuität der liberalen Vorherrschaft unterschied sich Berlin von der Habsburgermetropole. Die mit ihr verbundene Infrastrukturmodernisierung erfolgte auch weitgehend ohne jenen staatlichen Druck, den die Wiener Verwaltung bis in die 1890er Jahre zu spüren bekam.112 Die Autonomie der Hauptstadtverwaltung blieb jedoch nicht völlig unberührt von Eingriffen durch übergeordnete Behörden. So verfügte der preußische Staat auch nach der Herauslösung der Hauptstadt aus der Provinz Brandenburg und der Bildung des Stadtkreises Berlin im Jahr 1881 über eine Reihe von Kontrollbefugnissen, die die städtische Selbstverwaltung einschränkten. Die Stadt stand nicht nur unter kommunaler Aufsicht des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg, sondern wurde auch durch den Polizeipräsidenten, der dem preußischen Innenministerium unterstand und faktisch als Regierungspräsident des Verwaltungsbezirks Berlin fungierte, in ihrer Eigenständigkeit beschnitten.113 Die preußischen Staats- und Provinzialbehörden pflegten ihren Willen in kommunalen Angelegenheiten wiederholt durchzusetzen, was zwangsläufig zu Kompetenzgerangel und begrenzter Handlungsfähigkeit seitens der Berliner Verwaltung führte. Hierbei gehörte mit Blick auf die spätere Kriegszeit der Oberbefehlshaber in den Marken, die Kommandoinstanz der preußischen Armee für die Berliner Garnison, zu den bedeutendsten Institutionen. Die beschränkte »Selbstverwaltung« verdeutlicht, dass die Machtposition des Berliner Oberbürgermeisters nicht so stark war wie die des Wiener Stadtoberhauptes und dass die Stadtregierung »vielfach und wirksam gegen alle konsequent demokratischen Bestrebungen abgesichert«114 war. Die Maßnahmen der sich herausbildenden Berliner »Leistungsverwaltung« fielen jedoch größtenteils in jene Aufgabengebiete der Kommune, die weitgehend
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Vgl. Ribbe, Berlin, S. 20. Der kaiserliche Gestaltungswille war in Berlin im wahrsten Sinne des Wortes »begrenzt« auf das innerstädtische Zentrum und den dort von Wilhelm ii. (1859–1941) vorangetriebenen offiziösen Baustil. Eine Ausnahme bildete auch die vom Kaiser durchgesetzte »Heerstraße« als Verlängerung des Straßenzugs Unter den Linden – Charlottenburger Chaussee bis in den Westen Spandaus. Gegenüber Wien blieb der deutschen Kaiserstadt darüber hinaus jenes Projekt verwehrt, »mit dem Berlin sich als Hauptstadt eines der modernsten Industrieländer der Weltöffentlichkeit hätte präsentieren und den hohen Stand der kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Entwicklung zur Schau stellen können«. Erbe zufolge habe sich der deutsche Kaiser mit aller Hartnäckigkeit einer Weltausstellung in Berlin verschlossen. Ders., Berlin, S. 758. Vgl. ebd., S. 745. Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. XI. Zur Gegenüberstellung der Machtpositionen des Wiener und Berliner (Ober-)Bürgermeisters vgl. Lenger, Metropolen, S. 158.
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unabhängig von staatlichen Einflüssen verwaltet werden konnten.115 Ähnlich wie in der Habsburgermetropole brachte die Berliner Verwaltung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Reihe von wohlfahrtspolitischen Maßnahmen auf den Weg. Dazu gehörte, um nur einige Beispiele zu nennen, der intensive Ausbau des weltweit vorbildhaften Krankenhauswesens, die Errichtung eines neuen – ebenfalls mustergültigen – städtischen Obdachs, der Ausbau der Säuglings- und Jugendfürsorge sowie die Unterstützung der Arbeitskräftevermittlung über Arbeitsnachweise.116 Im Bereich der Wohnbaupolitik blieben städtische Aktivitäten jedoch wie in Wien aus. Auch hier wurde der Wohnungsbau fast völlig der privaten Hand überlassen. Zwar ergriffen seit den 1880/90er Jahren verschiedene gemeinnützige Bau- und Wohnungsbaugenossenschaften die Initiative zum Bau bedarfsgerechter Wohnhäuser, doch ihr Einfluss blieb vor dem Ersten Weltkrieg begrenzt.117 Darüber hinaus bekamen die Berliner Linksliberalen ebenso wie die Wiener Christlichsozialen auf dem Gebiet der Wohnbaupolitik zunehmenden Gegenwind zu spüren. Die Sozialdemokratie, die sich als »Partei der Mieter« verstand, machte die Wohnungsfrage in beiden Städten zu einem zentralen Thema ihres Programms.118
1.5 Ausgebremste Opposition: Aufstieg der Sozialdemokratie Die veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen führten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in beiden Metropolen zur Verschärfung der Klassengegensätze und massenhaften Verarmung der Arbeiterschaft. Seit den 1860er Jahren formierte und organisierte sich die Arbeiterbewegung, die »sofort und unmittelbar in den Kampf um die Verbesserung der allgemeinen Lage der werktätigen Bevölkerung, die Sicherung ihrer Existenzbedingungen ein[griff]« und das Klassenbewusstsein unter den Berliner und Wiener Arbeiter förderte.119 Mit Protesten gegen Mietwucher und Wohnungselend, Zwangsräumungen
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Mit Ausnahme der fehlenden Einflussnahme auf das Sicherheits- und Schulwesen betraf dies wie in Wien die Verwaltungsbereiche Finanzen, Technik und Gewerbe sowie das Wohlfahrtswesen. Vgl. Wölbling, Paul: Berliner Stadtrecht. Ein Handbuch des Verwaltungsrechts der Stadt Berlin, Berlin 1911, S. 77ff. Der Bereich Technik und Gewerbe umfasste sämtliche Aufgaben rund um die städtische Infrastruktur (Bau- und Verkehrswesen u.a.). In den Bereich Wohlfahrt fiel hierbei nicht nur das Armen-, sondern u.a. auch das Gesundheitswesen und die Waisenpflege. Wölbling zufolge konnte die Gemeinde in diesen Aufgabengebieten unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben und der für die gesamte Gemeindetätigkeit bestehenden Staatsaufsicht »frei schalten und walten«. Vgl. Erbe, Berlin, S. 717f. Baron, Rüdeger: »Die Entwicklung der Armenpflege in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg«, in: ders. und Rolf Landwehr (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit. Hauptlinien ihrer Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Weinheim 1983, S. 11–71, hier S. 40ff. Sowie »Städtisches Obdachlosenasyl »Palme«, in: Gedenktafeln in Berlin, hg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Im Internet unter: https://www.gedenkt afeln-in-berlin.de/gedenktafeln/detail/staedtisches-obdachlosenasyl-palme/3034 (07.12.2022). Vgl. Erbe, Berlin, S. 707f. Glatzer, Das Wilhelminische, S. 316f. Vgl. Maderthaner, Von der Zeit, S. 229. Gransche, Elisabeth: »Die Entwicklung der Wohnungspolitik bis zum Ersten Weltkrieg«, in: Historical Social Research 11 (1986), 4, S. 47–71, hier S. 53f. Im Internet unter: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/3458 (18.11.2016). Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 403. Die Herausbildung der österreichischen Arbeiterbewegung beschränkte sich jedoch zunächst auf das Dasein als Organisation ohne Basis, die sich na-
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und Obdachlosigkeit sowie Streiks um Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen versuchten sich die deutsche und österreichische Arbeiterschaft Gehör zu verschaffen. Im Deutschen Reich fand die Arbeiterschaft in der seit 1868 agierenden Gewerkschaftsbewegung und der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« (SAD, ab 1891 Sozialdemokratische Partei Deutschlands, SPD)120 Unterstützung. Der breite Rückhalt der SAD in der Arbeiterschaft und der zunehmende Erfolg bei den Wahlen stellte für die herrschende Ordnung eine ernsthafte Bedrohung dar. Im Jahr 1878 sah sich der Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) gezwungen, das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«, das sogenannte Sozialistengesetz, durchzusetzen.121 Darüber hinaus versuchte Bismarck in den 1880er Jahren die »Arbeiterfrage« mit der Einführung der Sozialversicherungsgesetzgebung zu lösen. Doch weder das bis 1890 anhaltende Verbot der Sozialdemokratie noch die neuen Sozialgesetze konnten die sozialdemokratische Bewegung aufhalten. Stattdessen wuchs die Sozialdemokratie zur wählerstärksten Partei im Deutschen Reich. Bei den Reichstagswahlen im Februar 1890 gewann sie in Berlin bereits die absolute Mehrheit. Bis 1903 erkämpfte sich die SPD in der Kaiserstadt, der »Metropole der Opposition«, fünf der sechs Berliner Wahlkreise.122 In keiner anderen deutschen Großstadt war die Arbeiterbewegung stärker als in der deutschen Hauptstadt. Schon bald war die Rede vom »roten Berlin«: »Die Entwicklung war in der Tat beeindruckend. Die Mitgliederzahl stieg im Zeitraum 1892 bis 1912 von 6.260 auf 67.512, also um mehr als das Zehnfache. Zusammen mit den Verbänden der umliegenden Wahlkreise gab es im Großraum Berlin 122.132 Sozialdemokraten. Damit war dieser Regionalverband der mit Abstand größte der SPD im Kaiserreich. […] Am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatten […] über drei Viertel der Berliner Wähler für die SPD votiert, im Deutschen Reich waren es knapp 35 Prozent.«123
hezu zeitgleich entstehend stark an der deutschen Arbeiterbewegung orientierte und personell mit ihr verflochten war. Hierzu ausführlich Konrad, Gebremste Klassenbildung, S. 112ff. 120 Die SAD gründete sich nach der Überwindung inhaltlicher Gegensätze aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) im Jahr 1875 in Gotha. Hierzu ausführlich u.a. Walter, Franz: Die SPD. Biographie einer Partei, Berlin 2009, S. 7ff. 121 Vgl. Degethoff de Campos, Heidi: Von der Armenpflege zum Sozialstaat. 100 Jahre Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen im Dienste der praktischen Wohlfahrtsarbeit, Deutsches Zentralinstitut für Soziale Fragen, Berlin 1993, S. 14. Zu den Wahlerfolgen vgl. Potthoff, Heinrich und Susanne Miller: Kleine Geschichte der SPD 1848–2002, Bonn 2002, S. 48f. Für die sozialdemokratischen Wahlerfolge in Berlin vgl. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 432f. 122 Vgl. Erbe, Berlin, S. 771f. Auch während der darauffolgenden Reichstagswahl von 1907, bei der die Sozialdemokratie reichsweit starke Verluste hinnehmen musste, konnte die SPD die Wahlkreise im Berliner Raum erneut für sich gewinnen. Michael Erbes Bezeichnung Berlins als »Metropole der Opposition« bezieht sich nicht nur auf die stark wachsende Rolle der Sozialdemokraten in der Hauptstadt, sondern auch auf die lang andauernde Dominanz des Linksliberalismus. Vgl. ebd., S. 755. 123 Weipert, Axel: Das Rote Berlin. Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830–1934, Berlin 2013, S. 62.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Obwohl die SPD bei den Reichstagswahlen durch das absolute Mehrheitswahlrecht sowie durch fehlende Anpassungen des Wahlkreissystems an die Bevölkerungsverschiebungen benachteiligt wurde, war sie im Jahr 1912 die stärkste Fraktion im Parlament. Noch stärker aber fiel die Benachteiligung der sozialdemokratischen Wählerschaft auf regionaler und lokaler Ebene aus. Für die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus und zur Berliner Stadtverordnetenversammlung galt das Dreiklassenwahlrecht, das den Stimmen der Wohlhabenden ein sehr viel höheres Gewicht beimaß als denen der ärmeren Wählerschicht. Durch die verzerrenden Auswirkungen des Wahlsystems konnten die Sozialdemokraten auf beiden Ebenen nur eine kleine Zahl an Mandaten gewinnen. In Anbetracht des »undemokratischen« Wahlrechts stellten sie dennoch beachtenswerte Erfolge dar.124 Die Forderung der deutschen Sozialdemokraten nach der Einführung eines allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für alle Staatsbürger war daher eine logische Konsequenz, die jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg erfüllt werden sollte. Auch für die österreichischen Sozialdemokraten war das allgemeine Wahlrecht ein bedeutendes politisches Ziel. Durch das unausgeglichene Kurienwahlsystem wurde auch ihr Aufstieg ausgebremst. Nachdem sich 1874 zahlreiche Arbeiterbildungsund Gewerkschaftsvereine zur »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs« zusammengeschlossen hatten und die anschließenden Richtungsstreitigkeiten auf dem Hainfelder Einigungsparteitag 1888/89 beigelegt wurden, erfuhr die SDAP seit Ende der 1890er Jahre wachsende Unterstützung.125 Im Zuge der »Badenischen Wahlrechtsreform«126 , die unter dem Druck großer Straßendemonstrationen in die Wege geleitet wurde, erlangte die sozialdemokratische Partei bei den Reichratswahlen 1897 ihre ersten vierzehn Mandate, wobei in Wien erst 1901 die ersten beiden Sitze gewonnen werden konnten. In den darauffolgenden Reichsratswahlen von 1907 und 1911 erreichte die SDAP bereits 87 bzw. 82 von 516 Sitzen – ein Ergebnis, das sich die österreichische Sozialdemokratie hartnäckig erkämpft hatte:
124 Im Jahr 1911 gehörten von den 144 Mitgliedern im Stadtparlament immerhin 38 Stadtverordnete zur sozialdemokratischen Fraktion. Vgl. Laschitza, Annelies: Die Liebknechts. Karl und Sophie – Politik und Familie, Berlin 2007, S. 194. Im Jahr 1913 waren nach Materna bereits 45 der 126 Stadtverordneten Sozialdemokraten. Vgl. hierzu Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. XVI. 125 Die zuvor als politische Organisation ohne Basis agierende österreichische Arbeiterpartei entwickelte sich nun zur Massenbewegung. Hierzu siehe auch oben Kapitel ii, Anm. 119. Vgl. Konrad, Gebremste Klassenbildung, S. 114. Zur Geschichte der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich siehe Maderthaner, Wolfgang: »Das Entstehen einer demokratischen Massenpartei. Sozialdemokratische Organisation von 1889 bis 1918«, in: ders. und Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Organisation der österreichischen Sozialdemokratie 1889–1995, Band 1, Wien 1996, S. 21–92. Ferner Maderthaner, Wolfgang: »Die Entwicklung der Organisationsstruktur der deutschen Sozialdemokratie in Österreich 1889 bis 1913«, in: ders. (Hg.), Sozialdemokratie und Habsburgerstaat, Band 1, Wien 1988, S. 25–51. 126 Die Wahlreform wurde von Ministerpräsident Kasimir Felix von Badeni (1846–1909) im Jahr 1896 eingeführt. Zu den vier Wahlkurien der privilegierten Klassen wurde eine fünfte allgemeine Wählerkurie für alle über 24 Jahre alten Staatsbürger eingerichtet. Damit durften die fünf Millionen Wähler der fünften Kurie fortan ebenso viele Abgeordnete entsenden wie die 5.000 Großgrundbesitzer. Vgl. »Wahlrecht«, in: Das Rote Wien. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie. Im Internet unter: www.dasrotewien.at/seite/wahlrecht (13.04.2020). Sowie »Arbeiterbewegung«, in: ebd. Im Internet unter: www.dasrotewien.at/seite/arbeiterbewegung (13.04.2020).
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
»Unter dem Eindruck der Ereignisse in Russland […] kam es Ende Oktober, Anfang November 1905 auf der Ringstraße zu mehreren großen Demonstrationen für das allgemeine Wahlrecht. Nachdem die Partei neuerlich mit Generalstreik drohte und die Eisenbahner eine ›passive Resistenz‹ begannen, die den gesamten Verkehr lahm legte [sic!], versprach die Regierung am 4. November 1905 eine weitere Wahlrechtsreform.«127 Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer auf staatlicher Ebene im Januar 1907 erzielten die Sozialdemokraten auch in Wien erhebliche Stimmengewinne. Im Jahr 1911 erreichten sie mit 42,9 Prozent der Stimmen (neunzehn Mandate) die Wählermehrheit. Trotz der Entwicklung der SDAP zur stärksten Partei in Wien und Umgebung verblieb die Hauptstadtverwaltung wie in Berlin in den Händen der politischen Gegner.128 Zwar löste die sozialdemokratische Partei 1906 die Liberalen als Opposition ab, doch gegenüber den 158 christlichsozialen Stadträten fiel diese mit ihren sieben Stadtratssitzen sehr klein aus. Die SDAP blieb ähnlich wie in Berlin, so hält Maderthaner fest, »von realpolitischer Einflussnahme auf die Stadt weitgehend ausgeschlossen [… und] darauf beschränkt, die Stadt als den künftigen Ort einer anderen Politik, einer anderen Gesellschaft und einer anderen Kultur zu proklamieren«129 . Das Sprachrohr der sozialdemokratischen Ankündigungen und Zukunftsvorstellungen waren in beiden Hauptstädten neben der Gewerkschaftspresse ihre parteieigenen Presseorgane: die Arbeiter-Zeitung in Wien und der Vorwärts in Berlin. Während sich die Arbeiter-Zeitung in Wien gegen die liberale Großpresse kaum durchsetzen konnte, gehörte der Vorwärts zu den meistgelesenen Zeitungen der deutschen Hauptstadt.130
1.6 Eintritt in das Zeitalter der Massen: Presse und Kulturleben für alle Im Zuge des Aufstiegs der Massenpresse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dominierten neben dem Vorwärts auch einige linksliberale Blätter wie das Berliner Tageblatt, die Berliner Zeitung und der Berliner Lokal-Anzeiger die Berliner Presselandschaft. Über die tagesaktuellen Nachrichten und den großen Anzeigenanteil hinaus berichteten diese
127 128
Das Rote Wien, Wahlrecht (oben Kapitel ii, Anm. 126). Auf kommunaler Ebene bestand das Kurienwahlsystem weiter fort, das seine letzten Änderungen vor dem Krieg im Jahr 1900 infolge der Badenischen Wahlreform erfuhr. Mit der Einführung der allgemeinen vierten Wählerkurie, in der alle Erwachsenen und damit auch die bisher ausgeschlossenen Hausangestellten sowie die Arbeiterschaft zusammengefasst wurden, erhielten die Wiener Sozialdemokraten 1900 ihre ersten zwei Sitze im Stadtparlament. Bled zufolge ermöglichten die Änderungen des Wahlsystems den Sozialdemokraten zwar den Einzug in den Gemeinderat, doch zugleich wurde auch die Zahl der Abgeordneten beschränkt. Da die Angehörigen der drei weiteren Kurien das Recht besaßen, zweimal zu wählen, erreichte die SDAP nie mehr als einstellige Mandatszahlen. Vgl. Bled, Wien, S. 193. 129 Maderthaner, Von der Zeit, S. 242. Vgl. auch Erbe, Berlin, S. 766. 130 Die Auflage des Vorwärts stieg zwischen 1891 und 1914 von 25.000 auf 161.000. In Wien hingegen lag die Auflage der Arbeiter-Zeitung um die Jahrhundertwende bei 24.000 täglichen Ausgaben gegenüber einer Auflage der liberalen Neuen Freien Presse von 50.000. Vgl. Weipert, Das Rote Berlin, S. 64. Bled, Wien, S. 332.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
auflageorientierten Tageszeitungen mit niedrigem Verkaufspreis über Sport, Mode, Vermischtes und Lokales, womit sie ihrer Großstadtleserschaft u.a. auch wichtige Orientierungsfunktionen boten. Der Aufstieg der Massenpresse stand Lenger zufolge in unmittelbarem Zusammenhang mit der Durchsetzung und Verbreitung der Massenkultur.131 Lenger hebt die damit einhergehende »Ablösung eines kulturell räsonierenden Lesepublikums durch das Massenpublikum der Kulturkonsumenten«132 hervor. Eine Auflistung der auflagenstärksten Wiener Tageszeitungen von 1915 bestätigt diese Entwicklung auch für die Habsburgermetropole. Danach führte das massenorientierte unparteiische Lokalblatt Illustrierte Kronen Zeitung die Liste an.133 Doch die in den 1860er Jahren gegründeten liberalen Tageszeitungen wie die Neue Freie Presse und das Neue Wiener Tagblatt konnten sich ebenfalls weit vor der christlichsozialen Reichspost unter den sechs auflagenstärksten Presseerzeugnissen behaupten. Auch ihre Berichterstattungen beschränkten sich nicht nur auf das politische Zeitgeschehen, sondern lieferten auch regelmäßig Beiträge aus den wichtigsten Bereichen der Kultur. Das Gros der (Wiener) Schriftstellerund Künstlerschaft schrieb im Interesse des eigenen Bekanntheitsgrades für das Feuilleton der Neuen Freien Presse, die eine zentrale Stellung im kulturellen Leben Wiens einnahm.134 Um die Jahrhundertwende florierten in Wien Literatur, Musik, bildende Kunst, Architektur und Wissenschaft gleichzeitig. Die künstlerische und intellektuelle Kreativität und Vielfalt der Wiener Moderne war so außerordentlich, dass sie bedeutende Impulse in die anderen europäischen Großstädte sendete und eine enorme Anziehungskraft auf Kulturschaffende hatte. Wiens kulturelle Infrastruktur spielte hierbei eine wichtige Rolle, denn ohne Opernhäuser und Konzertsäle, Zeitungsvielfalt und Verlage, Mäzenatentum und Universität sei diese Entwicklung, wie Lenger betont, kaum möglich gewesen.135 Neben Wien gab es in Europa noch eine ganze Reihe weiterer kultureller Zentren. Wie die Donaumetropole gehörte auch Berlin zur Weltspitze auf dem Gebiet von Wissenschaft und Kultur. Auch sie war Konzert- und Opernstadt, setzte Akzente als Literaturund vor allem als Theaterstadt, brachte Innovationen in der bildenden Kunst und Architektur hervor und besaß neben modernen Forschungsinstituten eine der einflussreichsten Universitäten im deutschen Sprachraum. Doch das kulturelle Leben beider Hauptstädte wurde am Vorabend des Ersten Weltkrieges schon lange nicht mehr nur durch die bürgerliche Hochkultur geprägt. Insgesamt vermehrten sich die großstädtischen massenkulturellen (Freizeit-)Angebote für breite Bevölkerungsschichten. So verfügten z.B. beide Städte mit dem Wiener Wurstelprater und dem Berliner Lunapark über große Vergnügungsparks, die mit ihrer Mischung aus Musik, Tanz, Theater, Spiel und Attraktion ein »schichtenübergreifendes Massenpublikum« anzogen.136 131 132 133 134 135 136
Vgl. Lenger, Metropolen, S. 227f. Lenger, Metropolen, S. 228. Vgl. Schwendinger, Christian: Kriegspropaganda in der Habsburgermonarchie zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Eine Analyse anhand fünf ausgewählter Zeitungen, Hamburg 2011, S. 41. Vgl. Bled, Wien, S. 333. Vgl. Lenger, Metropolen, S. 243. Vgl. Niedbalski, Johanna: »Lunapark in Berlin: Extrem laut und unglaublich voll«, in: Der Tagesspiegel, 2. April 2015. Im Internet unter: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/extrem-laut-und-u nglaublich-voll-3619732.html (09.12.2016). Vgl. auch dies., »Vergnügungsparks«, in: Morat, Dani-
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts riefen darüber hinaus sowohl in Berlin als auch in Wien die straff organisierte Sozialdemokratie und die Gewerkschaften die Arbeiterbewegungskultur ins Leben. Das gesellschaftliche Miteinander der Wiener und Berliner Arbeiterbewegung war somit mehr als die regelmäßige Teilnahme an den von Arbeitervereinen und Gewerkschaftsgruppen organisierten Demonstrationen, Massenumzügen und Wahlrechtsspaziergängen, die sich immer stärker im Stadtbild etablierten. Die Arbeiterbewegungskultur sollte den Arbeitern den Zugang zu Wissen, Bildung und Kultur sowie Freizeitaktivitäten verschaffen und das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Arbeiterbewegung stärken.137 Seit den achtziger Jahren öffneten sich diese politischen und kulturellen Weiterbildungs- und Freizeitangebote dem weiblichen Publikum. Es entstanden zahlreiche Arbeiterinnenvereine, die ähnlich wie die Vereine der bürgerlichen Frauenbewegung eine »anregende Geselligkeit« pflegten und zu Vorträgen und Diskussionen u.a. über Literatur, Religion, Kinderziehung, Prostitution und Ehescheidung zusammenkamen.138
2| Familienalltag und Ernährungsgewohnheiten 2.1 Wiens und Berlins Kragenlinie: Die Lage der Angestellten und Arbeiterschaft Der Kreis all jener Großstädter, die nach Stefan Zweig »Anteil an den kleinen Freuden und Behaglichkeiten des Lebens« nehmen konnten, wuchs im Zuge der Wiener und Berliner Metropolwerdung. Ermöglicht wurde dies nicht nur durch die Angebotsvielfalt kultureller Vergnügungen, sondern auch durch den Wandel der Lebens- und Arbeitsverhältnisse eines großen Teils der erwerbstätigen Bevölkerung während der Jahrzehnte vor und den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende. Von besonderer Bedeutung waren hier die Steigerung der Reallöhne sowie die Freizeit schaffenden Arbeitszeitverkürzungen.139 Doch von diesen Veränderungen profitierten längst nicht alle (lohn- und gehalts-
137
138 139
el et al., Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen 2016, S. 153–192. Bled, Wien, S. 297. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg etablierte sich zudem ein neuer Ort geselligen Zusammenseins im Berliner und Wiener Stadtbild – in Konkurrenz zum Theater entwickelte sich das Kino mit über 280 Einrichtungen in Berlin und rund 150 Kinosälen in Wien zu einem populären Volksvergnügen für Groß und Klein. Vgl. ebd., S. 311. Sowie Glatzer, Das Wilhelminische, S. 341ff. So wurden zahlreiche Arbeiterbibliotheken und Arbeiterbildungsvereine gegründet, die Vortragsreihen und kulturelle Veranstaltungen anboten. Es entstanden im Zuge des Freizeitzugewinns regelrechte Massenorganisationen u.a. in Form von Arbeitergesangsvereinen, Arbeiterblaskapellen, Arbeiterturn- und Arbeiterradvereinen. Vgl. Gogos, Manuel: »Wir sind viele – Der Aufstieg zur Massenpartei«, in: Kruke, Anja und Meik Woyke (Hg.), Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung 1848 – 1863 – 2013, Bonn 2012, S. 62–77, hier S. 70. Vgl. Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 136. Vgl. Ehmer, Josef: »Die Entstehung der ›modernen Familie‹ in Wien (1780–1930)«, in: Cseh-Szombathy, Laszlo und Rudolf Richter (Hg.), Familien in Wien und Budapest, Wien 1993, S. 9–34, hier S. 22 und S. 26. Sowie ders., Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 200. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 15.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
abhängigen) Erwerbstätigen im gleichen Maß. Wie die Wiener und Berliner ihr Familien- und Alltagsleben gestalteten und welche Möglichkeiten sich ihnen boten oder ihnen verwehrt blieben, hing in erster Linie von ihrer sozialen Stellung innerhalb der Stadtgesellschaft ab. So breit gefächert das Berufs- und Einkommensspektrum war, so vielfältig waren auch die Formen des Familiendaseins, die sich im Verlauf der Industrialisierung und mit dem Übergang zu industriekapitalistischen Arbeitsverhältnissen in beiden Städten herausbildeten. Dabei unterschieden sich diese Entwicklungen in Wien und Berlin im Allgemeinen kaum voneinander. Mit der Betrachtung des Familien- und Alltagslebens rücken daher die Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb der erwerbstätigen Wiener und Berliner Mittel- und Unterschichten in den Vordergrund. Im Kapitel 1.3. wurde gezeigt, dass diese beiden Gruppen in Wien und Berlin die Mehrheit der berufstätigen Bevölkerung bildeten, keine homogenen Einheiten darstellten und die Übergänge zwischen den Schichten fließend sein konnten. Diese Eigenschaften galten darüber hinaus auch konkret für die Angestellten- und die Arbeiterschaft als Vertreter der Mittel- und Unterschichten. Die Gruppe der Angestellten, die infolge des Ausbaus des Dienstleistungssektors und der Bürokratisierung der großen Industrien entstand, umfasste in Wien um 1910 etwa neun Prozent und in Berlin im Jahr 1907 rund zehn Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung, wovon die Mehrheit in beiden Städten im Handels- und Verkehrswesen tätig war (Tab. 3).140 Mit einem Anteil von rund 24 Prozent in Wien und 27 Prozent in Berlin bildeten vor allem junge Frauen die wachsende Gruppe der weiblichen Angestellten, die in kaufmännischen Berufen, überwiegend aber als Verkäuferin im expandierenden Einzelhandel tätig waren.141 Das Einkommensspektrum innerhalb der Angestelltenschaft »reichte von Spitzenverdiensten angestellter Bank- und Fabrikdirektoren bis zu den Gehältern der kleinen Buchhalter oder Boten, die am Ende des 19. Jahrhunderts von denen der Facharbeiter bereits übertroffen wurden«142 . Als Teil des »neuen Mittelstandes« bewegte sich die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasant wachsende Gruppe der Angestellten insgesamt am unteren Rand des Bürgertums, an dessen meist kaum zu erreichenden Lebensstil sie sich orientierten. Als abhängig Arbeitende teilten sie die
140 Beide Angaben sind Ergebnis eigener Berechnungen, die auf Grundlage der Daten zur Berufsverteilung und sozialen Schichtung in Tabelle 1 sowie der Angestelltenzahlen in Tabelle 3 erfolgten. Vgl. auch Mesch, Michael und Andreas Weigl: »Angestellte und Tertiärisierung in Österreich 1910–51«, in: Wirtschaft und Gesellschaft 37 (2011), Heft 1, S. 95–138, hier S. 121 und 138. Zur allgemeinen Herausbildung der Angestelltenschaft siehe den kurzen Abriss von Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011, S. 988ff. 141 Es muss berücksichtigt werden, dass der Wert für Wien auch die weiblichen Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst und in den freien Berufen einbezieht, die im Berliner Wert nicht inkludiert sind. Diese Angaben sind ebenfalls das Ergebnis eigener Berechnungen. Siehe auch Tab. ii im Anhang. Sowie Schulz, Günther: Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert, München 2000, S. 80. 142 Gestrich, Geschichte, S. 19. Vgl. auch Ludescher, Marcus: Büromenschen. Angestellte und Dienstleistungsarbeit in Österreich. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung, München/Wien 1998, S. 64ff. Sowie ausführlich Schulz, Die Angestellten, S. 18. In seinem Überblickswerk hebt Schulz hervor, dass sich nicht wenige der Angestellten im Laufe des 19. Jahrhunderts aus dem »alten Mittelstand«, insbesondere dem Kleingewerbe, und später auch aus der Arbeiterschaft rekrutierten. Hierzu ebd., S. 69.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Klassenlage der Arbeiterschaft, von der sich vor allem die kleinen Angestellten mehrheitlich vehement abzugrenzen versuchten. Über ihr bürgerliches Erscheinungsbild (»Kragenlinie«143 ) und ihr Selbstverständnis hinaus unterschieden sich die Büro-, Handelsund Dienstleistungsangestellten (white-collar workers) in erster Linie durch objektive materielle Kriterien von der (Industrie-)Arbeiterschaft (blue-collar workers). Nach Jürgen Kocka verdienten Angestellte trotz vieler Überschneidungen im Durchschnitt mehr als Arbeiter und erhielten keinen Wochenlohn, sondern ein monatliches Gehalt.144 Gegenüber den Arbeitern hatten die Angestellten zudem eine höhere Arbeitsplatzsicherheit, kamen häufig in den Genuss anderer innerbetrieblicher Privilegien und hatten mehr Aufstiegsmöglichkeiten. Der Sozialhistoriker macht deutlich: »Nicht als Arbeitnehmer, geschweige denn als Proletarier, fühlten sie sich, sondern als Kaufleute, Techniker oder als ›Privatbeamte‹, und als solche wurden sie von den meisten akzeptiert. […D]ie Begriffe ›Privatbeamter‹ und ›Angestellter‹ [… bezeichneten] die verschiedensten Berufe zusammenfassend, eine distinguierte, klar von der Lohnarbeiterschaft einerseits und allen Selbständigen wie Arbeitgebern andererseits abgehobene soziale Schicht mit spezifischem Status und Recht.«145 Mit der im Verlauf der Industrialisierung allmählichen Annäherung ihrer Beschäftigungsverhältnisse und ihrer wirtschaftlichen Lage an die der Arbeiterschaft verstärkten sich die »anti-proletarischen Absetzungsbemühungen« der Angestellten.146 Mittels zahlreicher Angestelltenverbände forderten sie in Deutschland seit 1900 eine versicherungsrechtliche Privilegierung gegenüber der Arbeiterschaft. Bismarcks Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre erreichte lediglich einen kleinen Teil der kleinen Angestellten, sodass der Anspruch auf »eine eigene, von den Arbeitern abgesetzte, staatsbeamtenähnliche Pensionsversicherung«147 immer lauter formuliert wurde. Impulsgebend war auch die in Österreich 1906 beschlossene und 1909 in Kraft getretene Sonderversicherung für Privatbeamte, mit der die sozialrechtliche Stellung der Angestellten hier früher geregelt wurde als die der Arbeiterschaft.148 Im Dezember 1911 wurde schließlich auch im Deut-
143
Die Angestellten benutzten ihre Kleidung, um sich sichtlich von der Arbeiterschaft abzugrenzen. Schulz zufolge habe der weiße Kragen anders als der blaue der Arbeiterschaft gezeigt, dass sich die Angestellten bei der Arbeit nicht schmutzig machten. Vgl. ebd., S. 5. Siehe auch Kocka, Jürgen: Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie. Zur politischen Sozialgeschichte der Angestellten: USA 1890–1940 im internationalen Vergleich, Göttingen 1977, S. 11. 144 Vgl. Kocka, Klassengesellschaft, S. 65f. Vgl. auch Gestrich, Geschichte, S. 18f. Ludescher, Büromenschen, S. 63ff. Eine sehr ausführliche Darstellung der Kennzeichen deutscher Angestellter ist zu finden bei Schulz, Die Angestellten, S. 13ff. 145 Kocka, Klassengesellschaft, S. 66. 146 Vgl. ebd., S. 66f. Zur Verringerung der Lohn-Gehalts-Differenz in Österreich vgl. Ludescher, Büromenschen, S. 64ff. Sowie Schulz, Die Angestellten, S. 27f. 147 Ebd., S. 27. 148 Anders als in Deutschland verfügte die österreichische Arbeiterschaft bis zu diesem Zeitpunkt lediglich über eine Krankenversicherung, die 1889 in Kraft trat. Eine umfassende Sozialversicherungsgesetzgebung sowohl für die Angestellten als auch für die Arbeiter in Österreich erfolgte u.a. mit dem Angestelltenversicherungsgesetz von 1926 und dem Arbeiterversicherungsgesetz von 1927. Zur staatlichen Pensionsversicherung Österreichs vgl. Ludescher, Büromenschen, S. 44ff.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
schen Reich ein »Versicherungsgesetz für Angestellte« eingeführt, das die Angestellten privilegierend von den Arbeitern abhob.
Tabelle 3: Angestellte und Arbeiterschaft in Wien und Berlin Wien 1910
Berlin 1907
Angestellte
Zahl
Prozent
Zahl
Prozent
in Land- und Forstwirtschaft
357
0,3
237
0,1
in Industrie und Gewerbe
32.305
23,0
44.113
34,6
im Handel und Verkehr
60.161
42,8
48.000
37,6
im öffentlichen Dienst und in freien Berufen
47.750
34,0
35.300
27,7
Zusammen (N)
140.633
100
127.650
100
a)
34,072
24,2
Arbeiterschaft
Zahl
Prozent
Zahl
Prozent
589.876
79,8
553.276
83,4
Arbeiter
24,834
26,9a)
davon weiblich
Mithelfende Familienangehörige
12.068
1,6
17.385
2,6
Hausdienerschaft und persönliche Dienste
104.364
14,1
60.826
9,2
Hausgewerbetreibende
33.249
4,5
31.598
4,8
Zusammen (N)
739.557
100
663.085
100
davon weiblich
254.388b)
34,4b)
218.098c)
32,9c)
Erwerbstätige Bevölkerung
Zahl
Prozent
Zahl
Prozent
140.633
13,4
127.650
13,4
Arbeiterschaft
739.557
70,2
663.085
69,8
Andere
173.129
16,4
158.746
16,8
1.053.319
100
949.481
100
Angestellted) e)
Zusammen (N)
Quellen: Ehmer, Zur sozialen Schichtung, S. 80. Mesch/Weigl, Angestellte, S. 121 und S. 123. Statistik des Deutschen Reiches, Band 207 (1910), S. 29; Band 211 (1913), Anhang, S. 36f., 60f., 66f., 74f., 82f., 140, 160f. und 168f. Eigene Berechnungen.
Anmerkungen zu Tabelle 3 a) Die Gesamtzahl (24.824) bezieht sich auf alle weiblichen Angestellten ohne Erwerbstätige im öffentlichen Dienst oder in den freien Berufen.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
b) Beide Werte sind grobe Schätzungen, die auf den relativen Werten in Tab. II (Anhang) basieren. Berücksichtigt wurden 144.990 Arbeiterinnen, 10.116 mithelfende Familienangehörige und 99.282 Beschäftigte in häuslichen Diensten. Da keine Daten zu den Hausgewerbetreibenden vorlagen, konnten diese bei den Berechnungen nicht einbezogen werden. Die Zahl der Arbeiterinnen wird demnach etwas höher gelegen haben. c) Berücksichtigt wurden alle 131.995 Arbeiterinnen, 15.799 mithelfende Familienangehörige, 32.909 in häuslichen Diensten Beschäftigte ohne die im Haushalt der Herrschaft lebenden Dienenden, sowie 37.395 Hausgewerbetreibende. d) Ohne die Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst und in den freien Berufen umfasst die Zahl der Angestellten in Wien 92.823 Personen (8,8 Prozent) und in Berlin 92.350 Personen (9,7 Prozent). e) Ohne Hausgewerbetreibende umfasst die Zahl der Arbeiterschaft in Wien 706.308 Personen (67,1 Prozent) und in Berlin 631.487 Personen (66,5 Prozent).
Zu der höheren gesellschaftlichen Wertschätzung der Angestelltentätigkeiten, die mit den bis hierhin vorgestellten Kennzeichen der Angestelltenschaft einherging, traten zwei weitere bedeutende Merkmale, mit denen sich die angestellten Beschäftigten von der Arbeiterschaft unterschieden. Ihrer kulturellen Identität entsprechend grenzten sich die Angestellten sowohl in ihrer Lebensführung als auch mit ihrem Konsumverhalten vom lohnabhängigen Proletariat ab und trugen damit – wie im folgenden Kapitel zu sehen sein wird – zur Existenz einer »Kragenlinie« in verschiedenen Bereichen des alltäglichen Lebens bei.149 Doch die Lebensverhältnisse innerhalb der lohnabhängigen Arbeiterschaft, die sowohl in Wien als auch in Berlin mit jeweils rund 67 Prozent die größte Gruppe der erwerbstätigen Bevölkerung bildete150 , waren keinesfalls so homogen wie es die bisherigen Ausführungen vermuten lassen. So lebte zwar die Mehrheit der Wiener und Berliner Lohnarbeiterschaft am Rande des Existenzminimums, aber es gab auch hoch qualifizierte Facharbeiter in stabilen Arbeitsverhältnissen, deren Löhne das Mittelstandsni-
149 Vgl. ebd., S. 206f. Sowie Schulz, Die Angestellten, S. 55. 150 Der Prozentsatz stellt lediglich eine Annäherung an die tatsächlich vorhandene Zahl der Arbeiter dar. Berücksichtigt wurden hierbei Arbeiter, mithelfende Familienangehörige und die Hausdienerschaft sowie in persönlichen Diensten Beschäftigte. Werden die Hausgewerbetreibenden in die Berechnungen einbezogen, steigt der Prozentsatz in beiden Städten auf rund siebzig Prozent. Vgl. Tab. 3. Nach wie vor waren nicht wenige Hausgewerbetreibende, die in der offiziellen Statistik in der Regel unter die Gruppe der Selbständigen fielen, in Heimarbeit organisierte Frauen, die zum Familieneinkommen beitrugen. Die Massenfertigung im Bekleidungsgewerbe beschäftigte z.B. in Berlin im Jahr 1896 rund 90.000 meist hausindustriell arbeitende Frauen. Vgl. Gestrich, Geschichte, S. 16. Der überwiegende Teil der Hausgewerbetreibenden wird jedoch zum Handwerk gehört haben, wobei auch hier viele Familien am Rande des Existenzminimums lebten. Vgl. ebd., S. 14.
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veau erreichten und zur Versorgung der Familie ausreichten.151 Der Großteil der Arbeiter, die keine Familienlöhne nach Hause brachten, war zur Versorgung der Familie auf den Zuverdienst der Ehefrau und der Kinder angewiesen. Nach einer Umfrage in Berliner Maschinenindustriebetrieben vor dem Kriegsausbruch waren etwa ein Drittel der Arbeiterehefrauen berufstätig, wovon drei Viertel in Heimarbeit beschäftigt waren.152 Für Wien liefert der Sozialhistoriker Ehmer noch deutlichere Zahlen, die er aus Volkszählungslisten und sozialwissenschaftlichen Erhebungen der drei Jahrzehnte vor dem Krieg ermitteln konnte. Demzufolge gingen rund vierzig Prozent der verheirateten Arbeiterfrauen einer vollen Erwerbstätigkeit und weitere rund vierzig Prozent einer wechselnden Beschäftigung nach.153 Etwa zehn bis zwanzig Prozent der Wiener Arbeiterehefrauen mussten keinen Zuverdienst leisten und konnten sich ausschließlich der Hausarbeit und der Versorgung der Kinder zuwenden. Über neunzig Prozent der erwerbstätigen verheirateten Frauen hatten Ehmer zufolge im Dienstleistungsbereich, in der Bekleidungs- und Textilindustrie sowie im Handel Beschäftigung gefunden: »Als Einzelberufe werden am häufigsten ›Näherin‹, ›Weißnäherin‹, ›Stickerin‹ in der Bekleidungsindustrie genannt, in der Textilerzeugung ›Spulerin‹, im Dienstleistungsbereich ›Wäscherin‹, ›Bedienerin‹, ›Hausbesorgerin‹. Für alle diese Berufsangaben ist charakteristisch, daß sie sowohl bei den ›voll‹ erwerbstätigen Frauen als auch bei jenen mit einer ›wechselnden Beschäftigung‹ dominierten, und daß sie keine klare Festlegung auf häusliche oder außerhäusliche Arbeit verlangten. Sie ermöglichten den verheirateten Arbeiterfrauen eine hohe Flexibilität, ihre Kräfte je nach Bedarf für Berufsarbeit oder Hausarbeit einzusetzen.«154 Mit dem Übergang zu industriekapitalistischen Verhältnissen veränderte sich allmählich die Struktur weiblicher Berufsarbeit und mit ihr auch die Arbeitsbedingungen der Arbeiterfrauen. Zum einen entstanden in den Branchen mit weiblich dominierter Beschäftigungsstruktur, wie der Bekleidungs- und Textilindustrie, vermehrt industrielle Mittel- und Großbetriebe. Zum anderen erhöhten im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen die technologisch fortgeschrittenen, expandierenden Branchen wie die der Elektrotechnik und des Maschinenbaus sehr schnell ihren Frauenanteil.155 Diese Entwicklungen gingen nicht folgenlos an den Lebensverhältnissen der Arbeiterfrauen und deren Familien vorbei. Reichte schon in vielen Fällen der Zuverdienst der Arbeiterinnen noch immer nicht aus, um die Lebenskosten der Familie durch die Arbeitslöhne beider Ehegatten zu decken, trat seit der Jahrhundertwende die Unvereinbarkeit der räumlich wie inhaltlich getrennten weiblichen Haus- und Frauenberufsarbeit infolge 151
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Vgl. Kocka, Jürgen: Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Bonn 2015, S. 164. Vgl. auch Osterhammel, Jürgen: »Das 19. Jahrhundert«, in: Informationen zur politischen Bildung 315 (2012), Heft 2, S. 63. Ferner Grandits, Ländliches, S. 675. Vgl. Gestrich, Geschichte, S. 16. Vgl. Ehmer, Frauenarbeit, S. 451. Vgl. auch Ludescher, Büromenschen, S. 159. Ehmer, Frauenarbeit, S. 451. Vgl. ebd., S. 453ff. Ehmer hebt hervor, dass diese beiden Tendenzen der Einbeziehung von Frauen in die industrielle Produktion in unterschiedlichem Ausmaß ledige und verheiratete Frauen erfassten. Während erstere vor allem junge, ledige Frauen betraf, die zum Familieneinkommen der Eltern beitrugen, wirkte sich die letztere stärker auf verheiratete Frauen aus.
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der veränderten Arbeitsbedingungen vieler Arbeiterinnen immer deutlicher hervor.156 Die »Doppelbelastung« der Arbeiterfrauen charakterisierte das Arbeiterfamilienleben und stand im Widerspruch zum bürgerlichen Familienideal, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum gesellschaftlichen Leitbild entwickelte.
2.2 Zwischen bürgerlichem Ideal und Wirklichkeit: Familienleben und Geschlechterrollen Mit der Auflösung des »ganzen Hauses«, der familialen Wirtschaftseinheit der agrarischen, vorindustriellen Lebenswelt, ging im Zuge der räumlichen und zeitlichen Trennung von Erwerbsarbeit während des industriellen Zeitalters ein Strukturwandel der Familie einher. Es entstand die (bürgerliche) Kleinfamilie als eine neue Form des Familiendaseins, die auf der Basis einer auf Liebe begründeten Ehe entstand. Die damit verbundene Privatisierung und Emotionalisierung der Familie stand im Zusammenhang mit einer starken Betonung der unterschiedlichen Geschlechtscharaktere von Mann und Frau.157 Während dem Mann die Rolle des aktiven, rationalen und berufsorientierten Familienernährers zufiel, oblag der Frau die Rolle der passiven, gefühlsbetonten und fürsorglichen Gattin und Mutter. Sein Zuständigkeitsbereich war das außerhäusliche Leben in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat, in dem er sich beruflich verwirklichte und seine Familie sozial wie politisch repräsentierte.158 Demgegenüber war ihre Lebenssphäre das Private, der familiäre Haushalt, in dem sie sich um die Kindererziehung und die Hauswirtschaft kümmerte. Wie die Haushaltswissenschaftlerin Kirsten Schlegel-Matthies darlegt, war die nichterwerbstätige Hausfrau nicht nur die weibliche Rollennorm im bürgerlichen Familienideal, sie bildete auch den Mittelpunkt der Familie: »Die Hausfrau […] trug die Verantwortung sowohl für die materiellen Bedürfnisse, also für Nahrung und Kleidung der Familienmitglieder, als auch für die immateriellen Bedürfnisse, die ›Häuslichkeit‹. Außerdem leitete sie die Dienstboten an.«159 Das besondere Verständnis von Familie und der Rolle der Geschlechter war neben der Wertschätzung von Bildung und Wissenschaft sowie den »inneren« Tugenden Individualismus, Bedeutung von Arbeit und Leistung, Ordnungsliebe, Fleiß und Sparsamkeit usw. ein Merkmal der bürgerlichen Kultur und Mentalität.160 Der bürgerliche Lebensstil, 156
Vgl. ebd., S. 464. Vgl. auch Dehne, Harald: »Dem Alltag ein Stück näher? Alltag und Arbeiterleben als Gegenstand historischer Forschung in der DDR«, in: Lüdtke, Alf (Hg.), Alltagsgeschichte: Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M./New York 1989, S. 137–168, hier S. 157. 157 Vgl. Gestrich, Geschichte, S. 5f. 158 Kruse, Wolfgang: »Bürgerliche Kultur und ihre Reformbewegungen«, in: Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier: Das Deutsche Kaiserreich. Im Internet unter: https://www.bpb.de/t hemen/kolonialismus-imperialismus/kaiserreich/139652/buergerliche-kultur-und-ihre-reformbe wegungen/ (10.03.2017). 159 Schlegel-Matthies, Im Haus, S. 25. 160 Vgl. Orth, Karin: »Nur weiblichen Besuch«: Dienstbotinnen in Berlin 1890–1914, Frankfurt a.M./ New York 1993, S. 41. Hierzu vgl. auch Kocka, Jürgen: »Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert«, in: ders. (Hg.), Bürger
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der sich u.a. in der Wohnform, der Anstellung von Dienstboten, der Kindererziehung sowie dem Ehe- und Familienideal manifestierte, variierte jedoch in seiner Ausprägung innerhalb der bürgerlichen Schichten und war eine Frage des zur Verfügung stehenden finanziellen Spielraumes: »Das bürgerliche Lebensideal, das unter den besonderen ökonomischen und kulturellen Bedingungen des späten 18. Jahrhunderts entstanden war, übte mit seinem hohen Anspruch starke Anziehung aus, doch als reales Lebensmuster finden wir es nur im gehobenen Bürgertum.«161 Auch für die Gruppe der Angestellten galten bürgerliche Vorbilder und Ideale als Maßstab für ihre persönliche Lebensführung. Tatsächlich aber konnte sich die Mehrheit den bürgerlich-mittelständischen Lebensstil kaum leisten. So konstatiert Marcus Ludescher für die Wiener Angestelltenschaft: »Männliche Angestellte heirateten zwar vorzugsweise nicht erwerbstätige Frauen, welche gemäß der geschlechtsspezifischen Rollenteilung in der bürgerlichen Familie sich in erster Linie um Mann, Kinder und Haushalt zu kümmern hatten. Doch war der Lebensstandard, den ein verheirateter Angestellter seiner Ehefrau bieten konnte, äußerst bescheiden: Die durchschnittliche Angestelltenfamilie bewohnte eine Zwei-Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung; und Dienstboten, um die Gattin von der Hausarbeit zu entlasten, wurden um 1900 nur in weniger als der Hälfte der Wiener Angestelltenhaushalte beschäftigt.«162 Da die wirtschaftlichen Verhältnisse vieler Angestelltenfamilien eine standesgemäße Lebensführung nach bürgerlichem Muster nicht gestatteten, blieb den Angestellten, wie Ludescher verdeutlicht, nur das Insistieren auf der »Kragenlinie«: »die Abgrenzung von der Arbeiterschaft […] als Surrogat positiver kultureller Identitätsfindung«163 . Hieran anschließend liefert der Historiker allerhand Beispiele für die Lebensführung der Wiener Angestelltenschaft, die, so ist anzunehmen, auch die Lebensrealität vieler Berliner Angestellter widerspiegelten. Die in Kapitel 1.3. erfolgte Darstellung der von sozialer Segregation geprägten Wohnverhältnisse beider Städte veranschaulichte bereits die räumliche Distanz bürgerlich-mittelständischer Wohnviertel zu den Arbeiterquartieren. Neben der Lage im Stadtgebiet unterschieden sich die Wohnverhältnisse der Angestelltenfamilien von denen der Arbeiterfamilien im erhöhten Wohnkomfort, der sich durch höhere Mieten und Mobiliarkosten auszeichnete. Hinsichtlich ihres Konsumverhaltens ho-
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und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21–63, hier S. 42ff. Sowie Ludescher, Büromenschen, S. 152. Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Band 1: Das Haus und seine Menschen, München 1990, S. 240. Vgl. auch Grandits, Ländliches, S. 694. Schlegel-Matthies, Im Haus, S. 26. Ludescher, Büromenschen, S. 206. Hinsichtlich der Anstellung von Dienstboten stellt Ludescher darüber hinaus fest, dass die Zahl der (bürgerlichen) Haushalte, die sich die Anstellung von Dienstboten leisten konnten, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts abnahm. Vgl. ebd., S. 161. Diesen Trend bestätigt Gestrich auch für Berlin. Vgl. ders., Geschichte, S. 18. Siehe hierzu auch Orth, Nur weiblichen Besuch, S. 49. Ludescher, Büromenschen, S. 152.
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ben sich die Angestellten darüber hinaus durch ihre tendenziell höheren Ausgaben für eine standesgemäße Kleidung und Kindererziehung von der Arbeiterschaft ab. Demgegenüber fiel der Anteil der Ausgaben für Nahrungs- und Genussmittel tendenziell geringer aus als in vielen Arbeiterhaushalten.164 Mit dem Konsumverhalten der Angestellten ging auch ein generatives Verhalten einher, mit dem sie sich ebenfalls von Arbeiterfamilien unterschieden. So war in Angestelltenfamilien der Trend zur Kleinfamilie stark ausgeprägt: »Je weniger Kinder zu versorgen waren, desto mehr konnte in deren Ausbildung investiert werden. Fast die Hälfte der Wiener Angestellten (inkl. öffentlicher Dienst) hatte um die Jahrhundertwende ein bis zwei Kinder, ein Viertel der Ehen blieb kinderlos.«165 Die Kleinhaltung der Familie ermöglichte vielen Angestellten die Finanzierung ihres Lebensstils, der neben den schon genannten Ausgaben auch durch hohe Aufwendungen für soziale Aktivitäten und massenkulturelle Vergnügungen geprägt war.166 Zwar konnten sich nur die besser verdienenden Angestellten die für den bürgerlichen Stand repräsentative Anstellung von Dienstboten leisten, doch – im Gegensatz zur Lohnarbeiterschaft – war für die Mehrheit der Angestelltenfamilien ein entscheidendes Kriterium des bürgerlichen Familienideals finanzierbar: die Ehefrauen der Angestellten waren in der Regel nicht erwerbstätig und konnten ihre Rolle als Hausfrau, Mutter und Gattin ausfüllen. Die Ausstrahlungskraft des bürgerlichen Familienmodells reichte weit über den unteren Rand des Bürgertums hinaus in die Unterschichten und erfasste weite Teile der Arbeiterklasse, die Kocka zufolge seit ihrer Entstehung eine enorme Variationsbreite von Familienstatus, Familienform und Haushalt aufwies: »Sie reichte von verbreiteter Familienlosigkeit mit und ohne Einbindung in die Haushalte anderer über die Produktionsfamilie im Heimgewerbe bis zur Kernfamilie als angespannter Überlebensgemeinschaft bei den Werkstatt- und Facharbeitern verschiedener Art. […] Die durch die örtliche Trennung von zunehmend zentralisierter Produktion und dezentralisiert bleibenden Haushalten gekennzeichnete Kernfamilie setzte sich mit der Ausdehnung der Fabrikarbeit auch in der Arbeiterschaft immer mehr durch. Die Vielgestaltigkeit der Verhältnisse war immens.«167 Ungeachtet der vielfältigen Familienformen innerhalb der Arbeiterschichten entwickelte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Fabrikarbeiterfamilie langfristig zum Normaltyp der Arbeiterfamilie.168 Wie die bürgerliche Familie war die Fabrikarbeiterfamilie von der Trennung zwischen Arbeitsplatz und Haushalt geprägt, die infolge der Zen164 Vgl. ebd., S. 162. Sowie Schulz, Die Angestellten, S. 106. Ferner Triebel, Zwei Klassen, Band I, S. 395f., S. 398 und S. 405f. 165 Ludescher, Büromenschen, S. 165. 166 Vgl. Schulz, Die Angestellten, S. 19. Ludescher zufolge gibt es mit Blick auf Wien und Österreich keine Belege dafür. Vgl. ders., Büromenschen, S. 207. 167 Kocka, Arbeiterleben, S. 169. 168 Vgl. hierzu und die weiteren Ausführungen ebd., S. 157ff. Kocka zufolge gehörten zu diesem Typus auch die Familien in anderen zentralen Betrieben, Manufakturen, Werkstätten und Bergwerken sowie die Familien von verheirateten Gesellen mit eigener Haushaltsführung. Ferner Ehmer, Soziale Traditionen, S. 182ff. Ebenso Grandits, Ländliches, S. 675.
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tralisierung der industriellen Produktion einsetzte. Ihr Zeitrhythmus wurde von der Fabrikarbeit bestimmt. Die Familie, die auf engstem Raum zusammenlebte, war nun keine Arbeitseinheit mehr, sondern eine – weiterhin patriarchalische – »Überlebensgemeinschaft«, in der alle Mitglieder gemeinsam zum Familieneinkommen beitrugen. »Die Erwerbsarbeit aller Familienmitglieder«, so Kocka, »prägte das Familienleben zutiefst und unterschied die Arbeiterfamilie grundsätzlich von der bürgerlichen Familie.«169 Auch nach Josef Ehmer setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Verblassen der vielfältigen Unterschiede in der Entwicklung der Arbeiterfamilie ein. Stattdessen traten nun einheitliche Merkmale hervor, die der Sozialhistoriker vor allem in drei Bereichen konstatiert.170 So wurden erstens die – im Vergleich mit bürgerlichen Verhältnissen – frühe Heirat und Familiengründung zur allgemeinen Norm. Zweitens setzte eine Reduktion der Arbeiterhaushalte auf die Kernfamilie ein, die mit dem Rückgang des Untermieter- und Schlafburschenwesens einherging. Auch immer mehr Arbeiterkinder, deren Anzahl pro Familie tendenziell zurückging171 , lebten bis zur eigenen Familiengründung im Haushalt ihrer Eltern. Mit der Verkleinerung zum Kernfamilienhaushalt wurde Ehmer zufolge die Voraussetzung für eine stärkere Abschließung der Familie nach außen und eine Intimisierung des Familienlebens geschaffen. Drittens schließlich ließen »[d]ie Durchsetzung der industriellen Produktion, die Urbanisierung und die zunehmende Reproduktion der Arbeiterbevölkerung aus sich selbst, […] die Existenz von ›reinen Industriearbeiterfamilien‹ wahrscheinlicher werden«172 . Der Vereinheitlichung der Arbeiterfamilienverhältnisse muss jedoch, wie Ehmer darlegt, eine Ebene der Differenzierung entgegengesetzt werden, die sich aus der industriellen Produktionsweise ergab. Die strukturellen Unterschiede in den vielfältigen Familienverhältnissen ergaben sich vor allem aus der Qualifikation und der Stellung des vornehmlich männlichen Familienoberhaupts am Arbeitsmarkt. Die internationale sozialhistorische Forschung unterscheidet hierbei zwischen zwei Arbeitertypen: den gelernten Arbeiter in stabilen Arbeitsverhältnissen und den ungelernten in wechselnder Beschäftigung173 : »Wie es scheint, waren Gelernte und in stabilen Arbeitsverhältnissen Beschäftigte häufiger verheiratet als Ungelernte, sie heirateten im allgemeinen früher, und in ihren Haushalten waren weniger oft familienfremde Mitbewohner anzutreffen. […] Gelernte Arbeiter konnten Kontinuität, Stabilität und Planbarkeit ihres Familienlebens anstre-
169 Kocka, Arbeiterleben, S. 171. Vgl. auch Schlegel-Matthies, Im Haus, S. 79. Der Zuverdienst der weiteren Familienmitglieder machte Gestrich zufolge in der Regel etwa zehn bis zwanzig Prozent des Familieneinkommens aus. Hierzu ders., Geschichte, S. 16. Verdienten die Frau und die schon älteren Kinder kräftig mit, dann machte der Lohn des Familienvaters, wie Kocka darlegt, oft nicht mehr als die Hälfte des Familieneinkommens aus. Vgl. ders., Arbeiterleben, S. 167. 170 Vgl. für die weiteren Ausführungen Ehmer, Soziale Traditionen, S. 193ff. 171 Nach Kocka lebten im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts in den Haushalten der Fabrikarbeiterfamilien die Eltern mit drei bis fünf Kindern. Vgl. ders., Arbeiterleben, S. 165. Auch Ehmer kommt zu dem Ergebnis, dass im gleichen Zeitraum mehr als fünf Personen in einem durchschnittlichen Wiener Haushalt lebten. In der Zeit um den Ersten Weltkrieg sank die Zahl auf vier Personen pro Haushalt. Vgl. ders., Die Entstehung, S. 18. 172 Ehmer, Soziale Traditionen, S. 194. 173 Vgl. Ehmer, Die Entstehung, S. 28. Sowie ders., Soziale Traditionen, S. 195.
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ben; Ungelernte mußten diese Ziele einer ständigen Bereitschaft zur Veränderung unterordnen, um in den wechselnden ökonomischen Bedingungen zu überleben.«174 Während die Lebensweise der Letzteren von einem ständigen Kampf um das Lebensnotwendige geprägt war, konnten Erstere losgelöst vom Armutszyklus ihre gesamte Familie ernähren und lebten durch die langfristige Bindung an den Arbeitsplatz in stabilen Wohnverhältnissen. Entsprechend ihrer Lage konnten die bessergestellten Arbeiterschichten das Familienmodell der »respektablen Arbeiterfamilie« entwickeln, das dem bürgerlichen Familienideal sehr ähnlich war. Dieses Familienleitbild war dadurch gekennzeichnet, dass sich das Familienleben an den Bedürfnissen des Familienvaters orientierte. Durch die finanzielle Absicherung seiner Familie nahm er als Familienernährer die dominierende Stellung ein. »Ein respektabler Lebensstil beruhte aber auch auf den organisatorischen und psychologischen Fähigkeiten der Hausfrau, ihrer Sparsamkeit, Sauberkeit und Planung, ihrer Sensibilität bei der Lösung von Spannungen und Konflikten in der Familie. Und schließlich lag es an den Kindern, durch ihr Aussehen und Verhalten in der Öffentlichkeit diesen Lebensstil zu dokumentieren.«175 Den Rahmen dieses Familienlebens bildeten eine gut ausgestattete Wohnung und eine sorgfältige Haushaltsführung. Die zunehmende Orientierung der Arbeiterschaft am Familienmodell der »respektablen Familie« ab dem Ende des 19. Jahrhunderts sei nach Ansicht Ehmers nicht zwangsläufig mit dem Streben nach politischer Anpassung in die bürgerliche Gesellschaft verbunden gewesen. Die umfassende Übernahme einer bürgerlichen Familienlebensweise habe vielmehr den Stolz und das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft gestärkt.176 Mit der tendenziellen Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen vieler Arbeiterfamilien durch soziale und ökonomische Veränderungen (Reallohnsteigerungen, Arbeitszeitverkürzungen, allmähliche Zunahme stabiler Arbeitsverhältnisse u.a.) setzte nach der Jahrhundertwende ein allgemeiner Trend zur Stabilisierung des Alltagslebens der Arbeiterschaft ein, wodurch die Umsetzung vereinzelter Elemente des Familienmodells innerhalb der Arbeiterklasse befördert wurde. Darüber hinaus entwickelte sich innerhalb der Arbeiterbewegung eine kritische Sichtweise auf die in den Arbeiterschichten vorherrschenden desolaten Familien- und Haushaltsstrukturen. Sozialdemokratische Theoretiker wie Karl Kautsky (1854–1938) und Otto Bauer (1881–1938) propagierten »eine planmäßige Lebensführung und geordnete Familienverhältnisse in einem behaglichen Heim als Ideal des disziplinierten,
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Ebd., S. 195ff. Vgl. ferner Teuteberg, Hans-Jürgen und Günter Wiegelmann: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluss der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 324. Ehmer, Die Entstehung, S. 29. Vgl. auch Heinemann, Rebecca: Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik, München 2004, S. 136f. Vgl. Ehmer, Die Entstehung, S. 29. Ausführlich zu Arbeiterfamilie und Klassenbewusstsein, siehe ders., Soziale Traditionen, S. 204–209. Siehe hierzu auch Kocka, Arbeiterleben, S. 184–187. Zur Ausbreitung des »respektablen« Familienmodells unter Berücksichtigung der kontroversen Befunde in der Literatur vgl. ebenfalls Ehmer, Soziale Traditionen, S. 199ff.
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gebildeten, sozialistischen Arbeiters [… und erklärten] davon abweichende Verhaltensweisen zum Merkmal des Lumpenproletariats«177 . Dieser kritischen Haltung in den eigenen Reihen war eine von bürgerlichen Sozialreformern und Kritikern vorgetragene Beanstandung der proletarischen Familienverhältnisse vorausgegangen. »Je mehr sich [… das] Leitbild der [bürgerlichen] Familie in den Köpfen festsetzte, desto mehr musste kritikbedürftig erscheinen, was seit langer Zeit in den Familien des Volkes gang und gäbe war: die Instrumentalisierung der Familie zu Zwecken des Überlebens, der Mangel an Privatheit und Raum, die Erwerbstätigkeit der Frauen und Kinder.«178 Gegenstand der bürgerlichen Kritik waren auch der Kinderreichtum der Arbeiterfamilien, die dem Primat der Arbeit untergeordnete vernachlässigte Kindererziehung und die proletarische Haushaltsführung. Damit standen insbesondere die Arbeiterfrauen im Fokus der bürgerlichen Maßregelungen, die mit der Befürchtung vor sozialen Unruhen in den Arbeiterschichten einhergingen. Ohne Berücksichtigung der realen Lebensbedingungen der Arbeiterfrauen gingen bürgerliche Sozialtheoretiker und Wohltäter seit den 1880er Jahren davon aus, dass z.B. hauswirtschaftliche Unterweisungen im Rahmen von Haushaltungskursen für Arbeiterinnen sowie bürgerliche Bildungskonzeptionen für Arbeiterfrauen, die die Bestimmung der Frauenrolle als Gattin, Hausfrau und Mutter thematisierten, eine Verbesserung der proletarischen Familienverhältnisse herbeiführen werden.179 Doch nur den wenigsten Arbeiterfrauen bot sich die ökonomische Möglichkeit, sich zugunsten der Hausfrauenarbeit aus dem Berufsleben zurückzuziehen.180 Trotz aller sozialen und ökonomischen Veränderungen hatte die Mehrheit der Arbeiterfrauen am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Doppelrolle als Hausfrau und Erwerbstätige zu erfüllen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr die Doppelbelastung der Arbeiterfrauen eine Verschärfung, die nicht allein auf die wachsenden Anforderungen im Berufsleben zurückzuführen war. Mit der industriellen Verstädterung und der parallel einsetzenden 177 178 179
Ehmer, Soziale Traditionen, S. 201. Vgl. ferner Heinemann, Familie, S. 137. Kocka, Arbeiterleben, S. 179. Hierzu ausführlich Schlegel-Matthies, Im Haus, S. 101ff. So richtete z.B. die Wiener Handelskammer abendliche Haushaltskurse für Fabrikarbeiterinnen ein. Nach der Jahrhundertwende nahmen in Wien derartige Initiativen zu, indem sich verstärkt zahlreiche (Frauen-)Vereine der Organisation von Haushaltskursen annahmen. Vgl. hierzu Ehmer, Frauenarbeit, S. 461. Doch auch innerhalb der sozialdemokratischen Frauenbewegung gab es Initiativen, die den Arbeiterfrauen Unterstützung für eine effizientere Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten zukommen ließen. Vgl. Eifert, Christiane: »Wann kommt das ›Fressen‹, wann die ›Moral‹? Das ›Kriegserlebnis‹ der sozialdemokratischen Frauenbewegung«, in: August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg, hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt, Berlin 1989, S. 103–111, hier S. 104f. 180 Vgl. Mitterauer, Michael: Familie und Arbeitsteilung. Historischvergleichende Studien, Wien 1992, S. 361. Sowie Ehmer, Frauenarbeit, S. 464. Auch wenn es das Familieneinkommen ermöglichte, gaben nicht alle Arbeiterinnen ihre außerhäusliche Erwerbstätigkeit auf. Mit den Erfahrungen im industriellen Fabrikbetrieb gingen Politisierungsprozesse einher, die das Interesse der Frauen an der Erwerbsarbeit unter Inkaufnahme der Doppelbelastung steigerten. »Hier bahnte sich«, so Ehmer, »ein grundlegend neues Selbstverständnis von Arbeiterfrauen an, das in Konflikt mit dem sich unter Arbeitern gerade verfestigenden Frauenleitbild trat.« Ebd., S. 467.
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Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der Ernährung sowie der Entwicklung zu einer konsumorientierten modernen Gesellschaft ging eine Intensivierung der Hausarbeit einher. Zum wachsenden Aufgabenspektrum im Haushalt, der nicht nur die Arbeiterfrauen herausforderte, sondern auch die »Nur-Hausfrauen« der Angestellten- und Bürgerfamilien, gehörten der Einkauf als neue Form der Nahrungsmittelbeschaffung und die immer aufwändiger werdende tägliche Mahlzeitengestaltung: »Dafür mußten sich die Hausfrauen völlig neue Kenntnisse über Beschaffenheit und Qualität der Produkte, Möglichkeiten der Vorratshaltung, Preiswürdigkeit usw. aneignen. [… D]ie zunehmende Verbreitung der Erkenntnisse der wissenschaftlichen Ernährungslehre über den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit sowie [… s]teigende Anforderungen an Hygiene und Sauberkeit vergrößerten zusätzlich das Arbeitspensum der Hausfrau. Neben dem Einkauf der Lebensmittel gehörte auch die richtige Auswahl und Zusammensetzung sowie die Zubereitung der Speisen und Gerichte für die Mahlzeit zur täglichen Hausarbeit.«181 Unterstützt durch eine Fülle an Ratgeberliteratur erlernten die Hausfrauen im Zuge der zunehmenden Marktabhängigkeit der Haushalte die Rationalisierung und Systematisierung des Einkaufs. Während sich die Hausfrauen ohne berufliche Verpflichtungen die Zeit nehmen konnten, einen Überblick über das neu entstandene reichliche und permanente Konsumangebot der Großstadt zu gewinnen, um mit dem geregelten Familieneinkommen sparsam und vorausschauend zu wirtschaften, hatten die berufstätigen Arbeiterfrauen mit knappen Mitteln auszukommen und teurere Kaufbedingungen hinzunehmen.182 Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehenden Konsum- und Hausfrauenvereine konnten den überbelasteten Frauen immerhin etwas Orientierung und Unterstützung bieten. Die Hausfrauentätigkeit verlangte zudem eine durchdachte Vorratshaltung und Konservierung der Lebensmittel. Auch die tägliche sparsame und rationelle Mahlzeitenzubereitung »stellte immer höhere Anforderungen an die Hausfrau, ohne dass zunächst Modernisierung und technische Weiterentwicklung der Küchenausstattung sowie des Küchengeräts zu einer Verminderung der hausfraulichen Arbeitsbelastung führten«183 . Parallel zu diesen neuen Anforderungen an die Hausfrauen nahm mit dem Wandel der städtischen Ernährungsversorgung und dem Übergang zur massenhaften Fabrikarbeit auch die Bedeutung der heimischen Mahlzeitengestaltung zu: Das häusliche Mittagsmahl im Kreise der Familie entwickelte sich »zum Sinnbild der Familie schlechthin«184 .
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Schlegel-Matthies, Im Haus, S. 36. Nach Banik-Schweitzer übertraf die Vielfältigkeit der Logistik- und Managementleistungen der Frauen nicht selten die Arbeitsleistung der Männer. Vgl. dies., Die Großstädte, S. 45. 182 Vgl. ebd., S. 45. Sowie Sandgruber, Roman: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, München 1982, S. 263. 183 Schlegel-Matthies, Liebe, S. 149. Zwar gab es bereits arbeitserleichternde und -sparende Haushaltsgeräte, doch für den Großteil der Haushalte waren sie nicht erschwinglich. Vgl. ebd. 184 Ebd.
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2.3 Entfernte Ideale: Private Familienmahlzeit und bürgerliche Küche Die Auflösung der Wirtschaftsgemeinschaft des »ganzen Hauses« und die damit verbundene Herausbildung der auf Liebe basierenden Familiengemeinschaft bewirkte weitreichende Veränderungen des Familienalltags. Besonders die Familienmahlzeit als ein wesentliches Element des früheren familiären Zusammenlebens erfuhr infolge dieses Wandels einen enormen Bedeutungszuwachs. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war die privat-familiale Mahlzeit für das Familienleben weit mehr als die bloße Nahrungsaufnahme – sie war »ein soziales und kommunikatives Ereignis, das die Familie am Tisch vereinen«185 sollte. Sie entwickelte sich zum »Symbol für das Ideal der bürgerlichen Familie«186 , das sich auch im Alltag der Arbeiterschichten etabliert hatte wie eine Beschreibung der abendlichen Familienmahlzeit eines Wiener Arbeiterkindes aus der Zeit der Jahrhundertwende verdeutlicht: »In the evening we [the mother and the children] were all waiting for my father to come home. Everything had to be ready and in place, so that he could have his meal at once. That was the most important event of the day.«187 Im Leitbild der (bürgerlichen) Familienmahlzeit nahm die treu sorgende Ehefrau, Mutter und Hausfrau die entscheidende Rolle ein, welche die Auswahl und Zubereitung der täglichen Speisen nach dem individuellen Geschmack des Ehemannes vornahm. Kochen und Familienglück standen in einem engen Zusammenhang. »Das von der Mutter oder Ehefrau zubereitete Essen symbolisiert[e]«, so Schlegel-Matthies, »die Liebe als Zeichen der Sorge für die Familienangehörigen.«188 Nach dem Ideal der Familienmahlzeit kamen die Familienmitglieder zu den drei täglichen gemeinsamen Mahlzeiten morgens, mittags und abends zu Hause zusammen, wo sie abgeschnitten von den Verpflichtungen der Außenwelt zur Ruhe kommen konnten. Doch nicht nur das Ereignis der familiären Mahlzeitenaufnahme galt über die bürgerlichen Schichten hinaus als nachahmenswertes Leitbild. »Die ›Bürgerliche Küche‹ als spezifische Form einer der Industriegesellschaft mehr konformen Lebensweise entwickelte sich zum bestimmenden Ideal und erreichte sehr bald auch untere Gesellschaftsschichten, die allerdings aufgrund ökonomischer Zwän-
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Ebd., S. 148 und 152. Die »ungeheure sozialisierende Kraft« des gemeinsamen Essens und Trinkens betonte bereits der Soziologe Georg Simmel (1858–1918), »Soziologie der Mahlzeit«, in: ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart 1957, S. 243–250, hier S. 244. Hieran anknüpfend hebt auch Eva Barlösius die Herstellung sozialer Zugehörigkeit durch die gemeinsame Mahlzeit hervor. Es gebe keine andere soziale Institution, die in ähnlicher Weise Gleichheit, Gemeinschaft und Zugehörigkeit versinnbildlicht und keine andere Form der Vergemeinschaftung verbinde so stark wie die des gemeinsamen Tisches. Familien vereinen sich nicht nur aufgrund des Hungers am Tisch, »sondern weil sie miteinander kommunizieren wollen«. Hierzu dies., Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim 2011, S. 165f. und 184ff. 186 Schlegel-Matthies, Liebe, S. 150. 187 Sieder, Behind the lines, S. 114. 188 Schlegel-Matthies, Liebe, S. 150.
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ge nicht alles übernehmen konnten und vielfach auf billige Surrogate zurückgreifen mussten.«189 Popularisiert durch die Kochbuchliteratur war die materielle wie ästhetische Kultur des Bürgertums, wie der Ernährungshistoriker Peter Lesniczak darlegt, der Orientierungsmaßstab des täglichen Essens.190 Danach bildete das Mittagessen die Hauptmahlzeit des Tages, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch eine »doppelte Trias« gekennzeichnet war. So wurden in der Regel mindestens drei Gänge, bestehend aus der fest vorgeschriebenen Vorsuppe, dem Hauptgericht und dem Dessert, serviert. Das Hauptgericht setzte sich wiederum aus der Trias von Fleisch, Beilage und Gemüse oder Kompott zusammen. Eine große Vielfalt an Fleischgerichten und eine Fülle gelagerter Obst- und eingemachter Gemüsesorten garantierten im bürgerlichen Haushalt durchgängig einen abwechslungsreichen Speiseplan. In der Alltagspraxis vieler klein- und unterbürgerlicher Familien war die Übernahme des bürgerlichen Küchensystems kaum umsetzbar. Zeitgenössische Hauswirtschaftsratgeber und Kochbücher wiesen bereits darauf hin, dass die Hausfrauen bei der täglichen Speiseauswahl und Zubereitung der Mahlzeiten neben den Vorlieben und Abneigungen des Familienernährers auch auf Sparsamkeit zu achten hatten. »[Doch] Sparsamkeit war gerade für die Frauen in Kleinbürger- und Arbeiterhaushalten häufig nur auf Kosten ihrer Gesundheit, sei es durch übermäßige Arbeitsbelastung oder durch unzureichende Ernährung zugunsten des Mannes oder der Kinder, zu üben. Je geringer das zur Verfügung stehende Wirtschaftsgeld war, desto größer war die Arbeitsbelastung der Hausfrau und desto höhere Anforderungen wurden an ihren Einfallsreichtum gestellt.«191 Die unzureichenden hauswirtschaftlichen Fähigkeiten der Arbeiterfrauen auf dem Gebiet der Nahrungszubereitung standen besonders im Fokus der Kritik der bürgerlichen Sozialreformer an der Haushaltsführung der Arbeiterschichten. Als »Hüterin der gesellschaftlichen Ordnung« bildete die Arbeiterfrau den »Mittelpunkt der Arbeiterfamilie«.192 Sie wurde allgemein für die vielfach schlechte physische und gesundheitliche Verfassung der proletarischen Familien verantwortlich gemacht. »Da die Arbeiterfamilien […] die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten«, so Schlegel-Matthies, »führte man ›das Wohl und Wehe der weiteren Entwicklung [… des] Volkes auf die Frau des deutschen Arbeiters‹ zurück.«193 Mit der festen Überzeugung, dass die Lösung der sozialen Frage im
189 Lesniczak, Peter: »Derbe bäuerliche Kost und feine städtische Küche. Zur Verbürgerlichung der Ernährungsgewohnheiten zwischen 1880 und 1930«, in: Teuteberg, Revolution am Esstisch, S. 129–147, hier S. 132. 190 Vgl. hierzu und für die weiteren Ausführungen ebd., S. 141f. Vgl. auch Teuteberg/Wiegelmann, Der Wandel, S. 331. 191 Schlegel-Matthies, Im Haus, S. 76. 192 Vgl. Roberts, James S.: »Wirtshaus und Politik in der deutschen Arbeiterbewegung«, in: Huck, Gerhard (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1982, S. 123–139, hier S. 137. Sowie Schlegel-Matthies, Im Haus, S. 80. 193 Ebd. Vgl. ferner Thoms, Essen, S. 207f.
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»Kochtopf der Arbeiterfrau« steckt, glaubten die Reformer mit Kochunterricht für Arbeitermädchen und -frauen im Rahmen von hauswirtschaftlichen Fortbildungskursen eine Verbesserung der Verhältnisse herbeizuführen und damit einen Beitrag zur Herstellung des »sozialen Friedens« zu leisten. Eine wirkliche Verbesserung der Ernährungsverhältnisse großer Teile der Bevölkerung, die auch eine Übernahme bürgerlicher Ernährungsweisen möglich machte, setzte aber – wie im Folgenden zu sehen sein wird – in erster Linie mit der tiefgreifenden Rationalisierung und Mechanisierung von Landwirtschaft, Verkehr und Konservierungstechnik im Zuge der Industrialisierung ein.194 Die hierbei neu geschaffenen Formen der Nahrungszubereitung und des Verzehrs bedeuteten jedoch nicht nur einen Zugewinn an Lebensqualität, die die Arbeiterschichten für sich auf eigene Weise definierten. Der Erhalt alltäglicher Rituale wie das der familiären Tischgemeinschaft der vorindustriellen Zeit wurde durch die massenhafte Fabrikarbeit erschwert.195 Als Antwort auf die veränderten Reproduktionsbedingungen der Familien entstanden mit dem Wandel zu einer modernen Nahrungsversorgung außerhäusliche Alternativen zum privat-familialen Mittagstisch. Diese bestärkten innerhalb der Arbeiter- und Angestelltenschaft den Wunsch nach der Aufrechterhaltung des im Bürgertum weitgehend ausgelebten Ideals der privaten Familienmahlzeit.
2.4 Tiefgreifender Umbruch: Wandel zu einer modernen Nahrungsversorgung Die Ernährung der ärmeren Bevölkerungsschichten war seit dem 18. Jahrhundert vorwiegend durch einfache Speisen gekennzeichnet. Kartoffeln, Brot und Zichorienbrühe bildeten bis in das späte 19. Jahrhundert die alltägliche Massenkost der Arbeiterschaft.196 Durch die Entstehung der modernen Ernährungsindustrie und den mit ihr einhergehenden »ernährungsphysiologisch bedeutungsvollen Qualitätsveränderungen der Nahrungsmittel«197 seit den 1870er Jahren setzte ein rasanter Wandel der Ernährungsgewohnheiten ein, der eine Verbesserung der Ernährung und die Überwindung der kalorischen Unterversorgung für weite Teile der Bevölkerung mit sich brachte. In der Forschung werden drei entscheidende Faktoren angeführt, die diese bahnbrechende Veränderung der Versorgungsverhältnisse hervorriefen: »1. Die in der Agrargeschichte einmalige Produktivitätssteigerung, unter anderem verbunden mit dem Übergang zur Fruchtwechselwirtschaft, Bodenreform, Mechanisierung der Produktion und besonders der künstlichen Dünger. 2. Der Ausbau der Infrastruktur und vor allem die Ausweitung der Transportwege für den Güterverkehr
194 Vgl. Teuteberg, Hans-Jürgen: »Der Verzehr von Nahrungsmitteln in Deutschland pro Kopf und Jahr seit Beginn der Industrialisierung (1850–1975): Versuch einer quantitativen Langzeitanalyse«, in: Archiv für Sozialgeschichte 19 (1979), S. 331–388, hier S. 335. 195 Vgl. Dehne, Alltag, S. 156. 196 Vgl. Teuteberg/Wiegelmann, Der Wandel, S. 329. 197 Ellerbrock, K.-P.: »Lebensmittelqualität vor dem Ersten Weltkrieg: Industrielle Produktion und staatliche Gesundheitspolitik«, in: Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Münster 1987, S. 127–188, hier S. 128.
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verbunden mit der Verbesserung des Nachrichtenwesens (Bahnpost, Telegraphie und Telephon). 3. Die Einführung neuer Konservierungstechniken und der automatischen Fliessbandproduktion in der emporstrebenden modernen Nahrungsmittelindustrie.«198 Nach Ansicht des Kulturanthropologen Gunther Hirschfelder bestand der dritte Faktor über die Verbesserung der Konservierungsmethoden und der Nahrungsmittelverarbeitung hinaus aus einer ganzen Reihe von Neuerungen, die zur Genese der modernen Massenkonsumgesellschaft führten.199 Ihm zufolge spielte auch die Expansion und Neuorganisation des (Klein-)Handels eine maßgebliche Rolle. So wurde die Ausweitung des städtischen Marktwesens durch die Schaffung der städtischen Schlacht- und Viehhöfe und insbesondere durch das Wachstum des Fleischer- und Bäckerhandwerks angekurbelt.200 Überdies traten zu der wachsenden Zahl und dem dichten Netz von Lebensmittelgeschäften zukunftsweisende Handelsstrukturen. Durch neue Be- und Vertriebsformen stand der Stadtbevölkerung fortan eine Vielzahl neuartiger Einkaufsmöglichkeiten zur Verfügung. Eine Vorstellung davon wie sich diese Entwicklung in Berlin konkret gestaltete, liefert der Berliner Historiker Peter Lummel: »Die Zentralmarkthalle, die von der Bevölkerung liebevoll die Pariser Bezeichnung übernehmend ›Bauch von Berlin‹ genannt wurde, bildete das Rückgrat für den Großeinkauf der Lebensmittelkleinhändler. Diese bezogen in der Großmarkthalle fortan sauber, schnell und günstig ihre Waren und waren damit Garanten für den flächendeckenden Verkauf in der Metropole. Inzwischen gab es längst an jeder Ecke kleine Lebensmittelläden, die sich mit vielfältigen Serviceleistungen an den Wünschen der Kunden orientierten. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitere große Warenhäuser, Konsumvereine, Massenfilialisten und Versandgeschäfte entstanden, wurde eine weitere Etappe erreicht in der Versorgung einer im Konsum immer ausdifferenzierteren Gesellschaft.«201 Die zugleich immer größer werdenden Geschäfte offerierten ihrer Kundschaft eine nie da gewesene Angebotsvielfalt, die sich aufgrund der wachsenden Händlerkonkurrenz auch durch erschwinglichere Preise auszeichnete. Die Kommerzialisierung der Lebensmittelversorgung, die sich in Großstädten wie Wien und Berlin sehr viel früher als in Kleinstädten oder ländlichen Regionen durchsetzte, bedeutete für die Masse der Bevölkerung die zunehmende Abhängigkeit vom Marktgeschehen beim Lebensmittelbezug.202 Der Ernährungsstandard einer Familie richtete sich dem Ernährungshistoriker
198 Lesniczak, Derbe bäuerliche Kost, S. 132. Vgl. auch Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 189f. Sowie Teuteberg, Der Verzehr, S. 334f. 199 Vgl. Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 190. 200 Vgl. Ellerbrock, Lebensmittelqualität, S. 127. Die kommunalen Initiativen waren eine Reaktion auf die zunehmenden Versorgungsprobleme, die das rasante Bevölkerungswachstum der Städte hervorbrachte. Neben den Ausführungen unter 1.4. in Kapitel ii. vgl. hierzu auch mit Bezug auf Berlin Lummel, Riesenbauch, S. 89. 201 Lummel, Riesenbauch, S. 97. Vgl. auch Uhlitz, Essen und Trinken, S. 17ff. 202 Vgl. Teuteberg, Der Verzehr, S. 336.
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Hans-Jürgen Teuteberg zufolge weiterhin im Allgemeinen nach ihrer Kaufkraft, d.h. die Höhe der Realeinkommen und die realen Lebensmittelpreise hatten nach wie vor Einfluss auf den Umfang und die Zusammensetzung der Ernährungskosten: »[… Diese] richteten sich im wesentlichen [sic!] noch nach dem Engelschen Gesetz: Je höher das Familieneinkommen, desto geringer der Anteil der Ernährungsausgaben im Rahmen des gesamten Familienhaushalts, weil mit steigenden Einkommen die Ausgaben für Lebensmittel relativ weniger zunehmen. Das Gesetz läßt sich aber auch anders herum formulieren und lautet dann: Je ärmer eine Familie ist, einen desto größeren Anteil der Gesamtausgaben muß sie zur Beschaffung der Nahrung aufwenden.«203 In seiner Studie über den deutschen Pro-Kopf-Konsum von Nahrungsmitteln seit der Industrialisierung stellte Teuteberg heraus, dass die Kosten für Ernährung im Rahmen der Gesamthaushaltskosten generell sanken und animalische Nahrungsmittelmittel in den täglichen Ernährungsbudgets zunahmen. Das galt jedoch nicht für Familien mit großem Ernährungskostenanteil, die weiterhin mehr pflanzliche als tierische Lebensmittel erstanden. »Nach den verzehrten Kalorienmengen«, so der Historiker, »machten um 1900 […] Brot, Kartoffeln und tierische Fette fast 90 v.H. der täglichen Energiezufuhr aus.«204 Immer mehr Arbeiterfamilien konnten sich einen höheren Konsum von Fleisch leisten, das innerhalb der Bevölkerung eine hohe Wertschätzung genoss. Zwischen 1850 und 1913 verdoppelte sich der jährliche Pro-Kopf-Konsum von Fleisch einschließlich Wurst, Innereien, Geflügel und Knochen auf rund 45 Kilogramm.205 Während der Verzehr von Hammel- und Kalbfleisch zurückging, entwickelte sich das Schweinefleisch zum absoluten Marktführer. »Zusammen mit Schinken, Speck und Wurst war Schweinefleisch am Ende des 19. Jahrhunderts bereits die beliebteste Fleischart und machte 1907 bereits rund 50 v.H. des Gesamtfleischverzehrs aus.«206 Im Vergleich zu anderen Fleischarten war das Schweinefleisch weniger von Preissteigerungen betroffen. Für Teuteberg war dies ein Beleg für den zunehmenden Fleischverzehr der sozialen Unterschichten, die beim Frischfleisch dennoch eher die billigeren Teile (Innereien, Bauch, Rippe usw.) konsumierten. Der beträchtliche Verzehr qualitativ minderwertiger Wurst- und Fleischsorten geriet ebenfalls in die Kritik der Ernährungsphysiologie und vieler bürgerlicher Sozialreformer, die vergeblich an eine rationelle Haushaltsführung der Unterschichtenfamilien appellierten: »Die […] empfohlene Reduzierung des Fleischverzehrs stieß […] auf heftigen Widerstand bei der Arbeiterschaft. Fleischgenuss galt gerade dort immer noch wie in der vorindustriellen Zeit als eine Prestigeangelegenheit, dokumentierte sichtbar bescheidenen Wohlstand und damit auch den sozialen Status der jeweiligen Person. Zudem
203 Ebd. Vgl. ferner Triebel, Zwei Klassen, Band I, S. 395. 204 Ebd. 205 Teuteberg, Hans-Jürgen: »Wie ernährten sich Arbeiter im Kaiserreich?«, in: Conze, Werner und Ulrich Engelhardt (Hg.), Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981, S. 57–73, hier S. 61. Siehe auch Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 196. 206 Teuteberg, Der Verzehr, S. 377.
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erschien Fleisch, selbst in Form wässeriger Wurstwaren, als höchst nahrhaftes und damit zutiefst ›männliches‹ Nahrungsmittel.«207 Gegenüber den Ernährungsverhältnissen des frühen 19. Jahrhunderts bedeutete der zunehmende Fleischgenuss eine enorme Verbesserung der Lebensqualität großer Teile der Bevölkerung, wenn auch einige und hierbei vor allem große Familien mit niedrigem Lebensstandard einen geringeren Anteil am durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsum hatten. Neben den sozialen gab es zudem regionale Unterschiede beim Fleischverbrauch. Über die Konsumunterschiede zwischen Stadt und Land hinaus, machte sich auch zwischen den nord- und süddeutschen Regionen eine Ungleichheit bemerkbar. So waren Fleischwaren auf den nord- und mitteldeutschen Speisezetteln eher vorzufinden als im Süden, wo der Mehlverbrauch und der Verzehr von Mehlspeisen noch stark verbreitet war.208 Die Verbesserung der Ernährungsverhältnisse machte sich nicht nur im kontinuierlich steigenden Konsum animalischer Produkte, die vor dem Ersten Weltkrieg den ersten Platz der Nährstoffversorgung belegten209 , bemerkbar. Auch andere nicht-tierische Lebensmittel wurden vermehrt von den unteren Schichten konsumiert. Der ansteigende Verzehr von frischem Obst und Frischgemüse sowie Zucker und Kaffee trug – obgleich in unterschiedlichem Maß – ebenfalls zur Steigerung der Lebensqualität vieler Menschen bei. Bis zur Jahrhundertwende stieg außerdem der Verbrauch von Kartoffeln ununterbrochen an. Das Knollengewächs etablierte sich auch erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Speisezetteln großer Bevölkerungsteile und schloss dabei zugleich die im Zuge des rasanten Bevölkerungswachstums entstandenen Ernährungslücken. So verdeutlichte Teuteberg: »Die Kartoffel hatte damit vor allem die Funktion, auftretende Defizite in der täglichen Ernährung auszugleichen. Wie die Haushaltsrechnungen beweisen, wurden regelmäßig mehr Kartoffeln gegessen, je größer die Familie und je geringer das Gesamteinkommen war. Den jahrhundertealten Charakter als Notspeise hat die Kartoffel trotz des zunehmenden mengenmäßigen Konsums offenbar nie ganz abstreifen können. Wenn es irgend ging, suchte man sich wieder von ihr als Hauptnahrungsmittel zu lösen.«210
207 Lesniczak, Derbe bäuerliche Kost, S. 140. Vgl. auch Dehne, Harald: »›Das Essen wird also auch ambulando eingenommen.‹ Das belegte Brot und andere schnelle Kostformen für Berliner Arbeiterinnen und ihre Kinder im Kaiserreich«, in: Schaffner, Martin (Hg.), Brot, Brei und was dazugehört. Über sozialen Sinn und physiologischen Wert der Nahrung, Zürich 1992, S. 105–123, hier S. 110. 208 Vgl. ebd., S. 134. Ob dies zugleich ein Indiz dafür ist, dass der Fleischverbrauch in Berlin höher ausfiel als in Wien, lässt sich aufgrund des fehlenden Datenmaterials nicht eindeutig klären. Zwar zeichnet sich die Wiener bzw. österreichische Küche im Gegensatz zu Berlin bis heute durch ihre Mehlspeisenvielfalt aus, doch ist sie seit jeher auch bekannt für ihren Reichtum an Fleischgerichten. Nach Susanne Breuss sei der Fleischkonsum der Wiener im 19. Jahrhundert außergewöhnlich hoch gewesen. Vgl. dies., »Fleischhunger und Sodawasserlaune: Konkurrierende Esskulturen des. 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Spring, Ulrike, Wolfgang Kos und Wolfgang Freitag (Hg.), Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit, Wien 2007, S. 170–179, hier S. 171. 209 Vgl. hierzu Lesniczak, Derbe bäuerliche Kost, S. 129. Vgl. auch Teuteberg, Der Verzehr, S. 384. 210 Ebd., S. 364.
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Neben der zunehmenden Verfügbarkeit dieser Lebensmittel gehörten zu den Neuerungen der Versorgungsverhältnisse auch die für die unteren und mittleren Schichten nicht unbedeutenden Fertig- und Halbfertigprodukte der Nahrungsmittelindustrie. Ob Margarine, Fleischextrakt, Erbswurst oder Trockensuppen – die industriell gefertigten Waren wurden zum festen Bestandteil der Küchenzettel und trugen zu einer Zeitersparnis im Haushalt bei.211 Auch Gemüse-, Fleisch- und Wurstkonserven etablierten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf dem Markt, die sich infolge ihres hohen Preises jedoch nur die wenigsten leisten konnten. Den Konsum luxuriöser Qualitätsprodukte durch die breite Masse brachten die revolutionären Veränderungen der Ernährungsverhältnisse noch nicht hervor. Sowohl in Berlin als auch Wien lebten weite Teile der Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach wie vor äußerst bescheiden. »Arbeiterhaushalte [mussten] im Durchschnitt immer noch ungefähr zwei Drittel der gesamten Haushaltskasse aufwenden, damit die Menschen einigermaßen satt wurden.«212 Die Nachahmung gutbürgerlicher Essgewohnheiten in den sozialen Unterschichten blieb dementsprechend begrenzt. Tendenziell aber nahm während der Industrialisierung der Verzehr ballastreicher, schwer verdaulicher und energieärmerer Hauptnahrungsmittel ab und der Konsum ballastärmerer, leichter verdaulicher und energiereicher Produkte zu.213 Doch nicht nur die finanziellen Möglichkeiten vor allem der einfachen ungelernten Industriearbeiterschaft schränkten die Übernahme einer feineren und abwechslungsreichen Ernährung nach dem Vorbild der Wohlhabenden ein: »Mangelnde Marktübersicht, traditionelle Vorurteile und Innovationsfeindlichkeit sowie die Unkenntnis der wissenschaftlichen Ernährungsnormen waren die Gründe dafür, weshalb man vielfach an alten Mahlzeitgewohnheiten festhielt, die eine an sich mögliche Verbesserung der Ernährung somit verhinderten.«214 Bedeutete die Umstellung auf die neuen Ernährungsverhältnisse schon eine Herausforderung für alteingesessene Großstädter, fiel es der massenhaft vom Lande zugewanderten Arbeiterschaft noch viel schwerer, sich abrupt den neuen Versorgungs- und Ernährungsbedingungen anzupassen. Ein Festhalten an herkömmlichen Ernährungsgewohnheiten wurde jedoch in Anbetracht des festen Zeitreglements des Fabrikalltags auch immer schwieriger. Die Arbeitszeiten und Arbeitspausen waren in ihrer Dauer fixiert und bestimmten das Leben und die Mahlzeitenaufnahme der Werktätigen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten alte privat-familiare Mahlzeitengewohnheiten längst neuen außerhäuslichen Ernährungs- und Verpflegungsformen Platz gemacht. Der Wandel von der privaten zur öffentlichen Essensaufnahme gehörte ebenfalls zu den bedeutenden Neuerungen der Ernährungsverhältnisse.
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Vgl. Schlegel-Matthies, Liebe, S. 153. Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 205. Vgl. auch Lummel, Riesenbauch, S. 99. Vgl. Teuteberg, Der Verzehr, S. 384. Vgl. auch Teuteberg/Wiegelmann, Der Wandel, S. 92. Teuteberg, Der Verzehr, S. 336. Vgl. hierzu auch Dehne, Das Essen, S. 113f.
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2.5 Außerhäusliche Verpflegung: Fabrikspeisung und öffentliche Speiseangebote Während der Entstehung der modernen Nahrungsversorgung führten die massenhafte Fabrikarbeit und die mit ihr einhergehenden neuen Reproduktionsbedingungen der Arbeiterfamilien die wohl größte Umstellung der Ernährung herbei.215 Die wachsende Entfernung zwischen Arbeitsplatz und Wohnung, die tendenzielle Verkürzung der Arbeitspausen sowie die Außerhausarbeit der Arbeiterfrauen bewirkten zwangsläufig, dass die familiäre Tischgemeinschaft höchstens noch abends zusammenkommen konnte und Alternativen für die Mittagsverpflegung gefunden werden mussten. »Schon durch die einfache Tatsache, daß beim städtischen Industriearbeiter mindestens zwei Mahlzeiten am Tage nicht mehr in der Familie wie Jahrtausende zuvor, sondern mehr oder minder allein im Kreis fremder Arbeitsgenossen im Betrieb unter Zeitdruck eingenommen wurde, mußte zwangsläufig das ganze Wesen der Eßweise im Kern verändern.«216 Solange wie es den Arbeitern möglich war, ihre Mittagspause im Kreise der Familie zu Hause zu verbringen, nahmen sie die langen Wege und die damit verbundene Zeitnot in Kauf.217 Eine wichtige Voraussetzung hierfür war, dass die Ehefrauen für die Zubereitung der Mahlzeit und die Bewirtung der Familie zu Hause waren. Doch viele Arbeiterfrauen mussten während ihrer Mittagspause selbst unter Hast und Eile den Heimweg bewältigen. Zwar bestand für sie die Option, eine verlängerte Mittagspause zum Zweck der häuslichen Mahlzeitenzubereitung zu beantragen, aber oftmals reichte das sehr enge Zeitfenster nur zum Aufwärmen vorgekochter Speisen.218 Schließlich setzte sich die Mahlzeiteinnahme in der Fabrik und die Inanspruchnahme öffentlicher (Massen-)Speiseangebote im Alltag der Arbeiterschaft immer mehr durch.
2.5.1 Mahlzeiten in der Fabrik: Henkelmann, belegte Brote und Fabrikspeisung Mit der von vielen Unternehmen um die Jahrhundertwende eingeführten Verkürzung der Arbeitszeit von bis zu sechzehn Stunden auf acht bis neun Stunden reduzierte sich auch der Umfang der Mittagspausen der Werktätigen.219 In den oftmals nur halbstündigen Arbeitspausen war der Gang nach Hause nicht mehr möglich. Die Reduktion der
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Vgl. Dehne, Alltag, S. 156. Sowie ders., Das Essen, S. 107f. Teuteberg/Wiegelmann, Der Wandel, S. 75. Ebd., S. 77. Dies galt auch für die Angestellten, die eher noch die Mittel zur Nutzung der Verkehrsmittel aufbringen konnten, um die weiten Entfernungen zwischen den bevorzugten Wohngegenden am Stadtrand und den oftmals in den Geschäftsvierteln des Stadtzentrums befindlichen Arbeitsstätten zu überwinden. Vgl. hierzu Thoms, Essen, S. 207. Vgl. ebd. Sowie Dehne, Alltag, S. 157. Die gesetzliche Einführung des Achtstundentages erfolgte sowohl in Deutschland als auch in Österreich erst nach dem Ersten Weltkrieg. Um die Jahrhundertwende schwankten in Berlin und Wien die Arbeitszeiten daher zwischen acht und sechzehn Stunden, wobei jene Branchen mit überwiegend weiblichen Lohnabhängigen häufig diejenigen mit den längeren Arbeitszeiten waren. Vgl. hierzu z.B. Ehmer, Die Entstehung, S. 22f. Für die weiteren Ausführungen vgl. Thoms, Essen, S. 208f. Sowie dies., Physical Reproduction, S. 128f.
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Arbeitszeit brachte eine Intensivierung der Arbeit mit sich, die dazu führte, dass die Arbeitspause ausschließlich der Reproduktion galt: der physischen Stärkung durch Essen und Trinken und somit der Wiederherstellung der Arbeitskraft.220 Wer die Möglichkeit hatte, ließ sich das Mittagessen von den Familienangehörigen in Wärmebehältnissen zutragen, um es gemeinsam am Arbeitsplatz oder vor den Fabriktoren einzunehmen. Nicht wenige Unternehmen, darunter Siemens & Halske und Borsig, richteten eigens für diesen Zweck Speiseräume am Rande des Fabrikgeländes ein. »Auf diese Weise konstituierte sich häufig erneut eine familiäre Tischgemeinschaft […]. Diese gab zwar die Chance für ein ›momentanes Durchbrechen der Produktionssphäre durch ein Überwechseln in familiäre Beziehungen‹; aber viel mehr als ein kümmerlicher und zudem auch nicht dauerhafter Rest des häuslichen Familientisches war sie nicht.«221 Der Historiker Harald Dehne deutet hier bereits an, dass dieses unternehmerische Entgegenkommen nicht lange währte. Mit der zunehmenden Fabrikdisziplin traten neben die räumliche Trennung der Angehörigen vom Werksgelände sehr bald auch Kontrollen der Fabrikbesucher sowie die zeitliche Beschränkung der familiären Pausenzeit auf eine Viertelstunde bis der familiäre Besuch schließlich ganz verboten wurde.222 Nach Ansicht des Sozialhistorikers Karsten Uhl sei die Einführung von Speiseräumen nicht einfach nur eine betriebliche Wohlfahrtsmaßnahme gewesen. Die Vorschriften zur Nutzung der Räumlichkeiten gaben zugleich die Möglichkeit, »die am Ende des 19. Jahrhundert[s] noch nicht klar gezogenen Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zu etablieren: Die Fabrik wurde zum abgegrenzten Raum«223 . Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich die Selbstverpflegung bei der Mehrheit der Arbeiterschaft weitgehend durchgesetzt. Viele Arbeiter brachten ihre eigenen Speisen im »Henkelmann« mit in die Fabrik oder stiegen auf die »kalte Küche« um. In Berlin war die Kaltverpflegung in Form des häufig mit Fleisch- und Wurstwaren belegten Brotes besonders beliebt. Obwohl die belegte »Butterstulle« bzw. »Butterschrippe« vergleichsweise teuer war, setzte sie sich innerhalb der Arbeiterschaft massenhaft als praktische und zugleich energiereiche, geschmackintensive und sättigende Kost durch.224 Die Verbreitung der »Brötchenernährung« geriet im Anschluss an die allgemein negative Beurteilung der proletarischen Ernährungsweise schon sehr bald in die Kritik verschiedener Ernährungsphysiologen. Auch wenn der Vorteil der bequemen Handhabung durchaus
220 Vgl. Lüdtke, Alf: »Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende. Skizzen zu Bedürfnisbefriedigung und Industriearbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in: Huck, Gerhard (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1982, S. 95–122, hier S. 116. Vgl. auch Dehne, Das Essen, S. 113. 221 Dehne, Alltag, S. 156f. Ferner Thoms, Physical Reproduction, S. 136f. 222 Bis in die 1890er Jahre wurde der Besuch von Familien während der betrieblichen Mittagspausen allgemein gebilligt. Vgl. Thoms, Industrial Canteens, S. 354. Sowie dies., Essen, S. 207. Lüdtke, Arbeitsbeginn, S. 110. Uhl, Humane Rationalisierung, S. 119. 223 Uhl, Schafft Lebensraum, S. 378. 224 Vgl. Dehne, Das Essen, S. 111ff. Mit einem Verweis auf zeitgenössische Berichte betont der Autor, dass die Ernährung durch belegte Brote nirgendwo so ausgeprägt gewesen war wie im Deutschen Reich. Vgl. ebd., S. 110.
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auf fachmännisches Verständnis stieß, so wurde die ungesunde Zusammensetzung der Kaltverpflegung als sehr bedenklich eingestuft. Das belegte Brot, das »zwar eine konzentrierte Speise mit geringem Volumen [… darstellte], aber einen extrem hohen Fettanteil zu Ungunsten der Kohlenhydrate […aufwies]«225 , trug nach der Meinung der Ernährungsexperten dazu bei, dass die traditionell angesehenen Vegetabilien immer seltener eine Rolle im Ernährungshaushalt vieler Arbeiter spielten und auch die Genussfähigkeit des Brotes ohne weitere Zutaten an Bedeutung verlor. Dehne zufolge taten sich die zeitgenössischen Kritiker schwer, auch die objektiven Bedingungen und auslösenden Faktoren der Veränderung der Ernährungsweise angemessen zu berücksichtigen: »[…D]ie Ernährungsfachleute [gerieten] in das bemerkenswerte Dilemma, dass sie derartige Ernährungswandlungen, die mit der Intensivierung technologischer Prozesse, der Verkürzung zeitlicher Abläufe, den erhöhten Anforderungen an die geistige Konzentration usw. zusammenhingen, zwar wahrnahmen, als Erklärung dafür aber jedoch weniger die objektiven Wandlungen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion als mehr die fehlerhaften subjektiven Einstellungen der betroffenen sozialen Gruppen bemühten.«226 Die von den Ernährungsphysiologen ignorierten Veränderungen der Arbeitsbedingungen waren wiederum eine wesentliche Motivation einiger Fabrikanten und Unternehmer Kantinen227 respektive Fabrikspeiseräume einzurichten.228 Auf Empfehlung von Gewerbeinspektoren, die den engen Zusammenhang zwischen Arbeitsleistung und gesunder Ernährung während der Arbeitspausen hervorhoben, zielten die Unternehmer mit ihren freiwilligen Einrichtungen auf die Stärkung der Leistungsbereitschaft und Arbeitsfähigkeit ihrer Werksangehörigen.229 Nicht wenige Unternehmer verfolgten mit einer paternalistischen Unternehmensführung darüber hinaus auch eine stärkere Bindung der Belegschaft an den Betrieb. Der Schweizer Sozial- und Wirtschaftshistoriker Jakob Tanner kommt in seiner Untersuchung der Fabrikkantinen in der Schweiz zu dem Ergebnis, dass sich die Initiatoren der Fabrikspeiseräume durchaus darüber im Klaren waren, dass das Ziel der Leistungssteigerung durch den Verzehr gesunder und nahrhafter Speisen allein nicht zu erreichen war:
225 Ebd., S. 111f. 226 Ebd., S. 113. 227 Der Begriff »Kantine« als Bezeichnung für den Ort der Betriebsverpflegung sei Thoms zufolge erst seit den 1930er Jahren geläufig. In den Quellen des 19. Jahrhunderts waren »Speiseanstalt«, »Werksküche«, »Fabrikküche« oder »Fabrikspeisung« die gängigen Bezeichnungen für die betrieblichen Speiseeinrichtungen. Hierzu vgl. dies., Essen, S. 206. Sowie dies., Industrial Canteens, S. 352. 228 Die Anfänge unternehmerischer Sozialleistungen richteten sich zunächst vor allem an die unverheiratete Arbeiterschaft, die oftmals aus ländlichen Regionen zugewandert war. Nicht selten ließen sie sich in direkter Nachbarschaft zur Fabrik in Logishäusern nieder, die auf Initiative des jeweiligen Unternehmens für diesen Zweck errichtet wurden. Die Einrichtung von Kosthäusern und Fabrikspeisungen war eine parallel verlaufende Entwicklung und richtete sich zunächst an die ledige Arbeiterschaft. 229 Vgl. Thoms, Essen, S. 203 und S. 205. Noch ausführlicher vgl. dies., Physical Reproduction, S. 125 und S. 130ff. Hierzu und für die weiteren Ausführungen siehe auch Uhl, Humane Rationalisierung, S. 115. Sowie ders., Schafft Lebensraum, S. 375f.
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»Das Mittagsmahl sollte über seinen kalorischen Gehalt hinaus auch einen Motivationsinput bringen und den Emotionalitätsverlust kompensieren, den die kalte Rationalität der Industrie mit sich brachte. Die Kantine wurde als ›Familienraum‹ konzipiert; sie hatte als emotionale Tankstelle im komplex verzahnten Funktionsgetriebe der modernen Fabrik und der mechanisierten Maschinenproduktion zu fungieren und temporären Ersatz für fehlende Zuneigung und Wertschätzung zu bieten.«230 Demnach diente die Fabrikspeisung als Ort der Regeneration auch als »temporärer Familienersatz«, der sich Tanner und Uhl zufolge positiv auf die innerbetrieblichen Beziehungen auswirkte.231 Eine weitere Motivation zur Gründung von Speiseeinrichtungen in den Unternehmen sieht die Medizinhistorikerin Ulrike Thoms in der zunehmenden Bedeutung der Arbeitssicherheit und Hygiene. Kosten und Nutzen wurden gegeneinander abgewogen: »Gesund und auskömmlich ernährte Arbeiter arbeiteten besser, waren weniger häufig krank [und] verursachten seltener Unfälle[.]«232 Darüber hinaus half ein gesteuertes Angebot von Speisen und Getränken in Fabrikkantinen auch bei der Bekämpfung des Alkoholkonsums, der oftmals die Ursache für Arbeitsunfälle war.233 Einen weiteren bedeutenden Antrieb zur Einrichtung von Fabrikspeisungen gab, wie Thoms hervorhebt, der von vielen Fabrikanten gehegte Wunsch nach Ordnung und Sauberkeit in der Fabrik. Die Beweggründe vieler Unternehmer zur Inbetriebnahme einer Fabrikkantine zielten demnach in erster Linie auf die Sozialdisziplinierung der Angestellten- und Arbeiterschaft.234 Die Mehrzahl der Fabrikkantinen, die vor dem Ersten Weltkrieg in den Betrieben eingerichtet wurden, waren reine Speiseräume für den Verzehr mitgebrachter Speisen. Nur wenige Unternehmer konnten und wollten es sich leisten, eine Kantine mit Küchenbetrieb zu unterhalten. Sowohl die eine als auch die andere Variante der Fabrikspeisung war dadurch gekennzeichnet, dass sie oftmals nur von einem kleinen Teil der Belegschaft in Anspruch genommen wurde. Die Gründe für die geringe Frequenz der betrieblichen Speisung waren verschieden. So stießen u.a. die sozialdisziplinarischen Bemühungen der Unternehmer häufig auf Ablehnung der Einrichtungen. Ein weiterer Grund, weshalb die Mahlzeitenaufnahme weiterhin vielfach fernab der betrieblichen Tischgemeinschaft stattfand, war das Schamgefühl vieler Arbeiter gegenüber den Kollegen: »Der ›Grund dieses Benehmens‹ wurde nicht in einer ›Abneigung gegen das Esszimmer oder die Gesellschaft darin‹ gesehen, sondern im ›gewissen Gefühl der Beschämung über die kärgliche Mahlzeit, die der Mann mitgebracht hat oder die ihm zugetragen wird‹.«235 Während ein Teil der Arbeiterschaft die Zusammensetzung der persönlichen Mittagsmahlzeit nicht preisgeben wollte, neigte ein anderer aufgrund des sozialen Drucks dazu,
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Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 369. Vgl. ebd., S. 460. Uhl, Humane Rationalisierung, S. 117. Thoms, Essen, S. 208. Vgl. Uhl, Schafft Lebensraum, S. 376. Vgl. Thoms, Physical Reproduction, S. 134f. Uhl, Humane Rationalisierung, S. 116. Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 259.
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mehr und aufwendiger zu essen als es das Haushaltsbudget erlaubte. So sei die Situation bei Tisch Hirschfelder zufolge angespannt, von Futterneid und sozialen Zwängen geprägt gewesen.236 Das Speiseangebot in den Fabrikspeisungen mit Küchenbetrieb variierte von Betrieb zu Betrieb und wirkte sich ebenfalls auf die Frequenz der Betriebsspeisung aus. In der Regel wurden belegte Brote und Wurstwaren sowie – wenn auch seltener – warme Mahlzeiten verkauft. Noch entscheidender als die Vielfalt der betrieblichen Speisekarte war jedoch das Preis-Leistungsverhältnis der jeweiligen Fabrikspeisung wie Thoms darlegt: »Where prices where [sic!] low, frequency was relatively high. […] Low prices were required in the textile Industry [sic!] with their mostly female workers and traditional low incomes, higher prices in the chemical and mining industry.«237 Geringe Preise wiederum blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Qualität der angebotenen Speisen wie die Autorin bezugnehmend auf eine Erhebung von 1911 betont. In den Speiseanstalten mit höheren Speisepreisen spielten teure animalische Produkte eine wesentlich größere Rolle als in jenen Einrichtungen mit niedrigen Preisen. Letztere wiesen nicht nur bei Fleisch, sondern auch bei Vegetabilien die relativ geringsten Verbrauchshöhen auf. Aus Sicht der Fabrikinspektoren war die Ernährung von Arbeiterinnen mit durchschnittlich geringem Einkommen in den Niedriglohnbranchen besonders bedenklich.238 Die Angebote und Preise der Speiseeinrichtungen variierten aber nicht nur zwischen den einzelnen Branchen. Auch innerhalb eines Unternehmens gab es verschiedene Angebote und Räumlichkeiten für die Belegschaft. Erstens herrschte nach den Regularien des Gewerberechts die Geschlechtertrennung in den Speiseräumlichkeiten. Zweitens speiste die Belegschaft der sozialen Hierarchie entsprechend in unterschiedlichen Speiseräumen. Während die Mehrheit der Arbeiterschaft ihre Mahlzeit in der Regel auf langen Bänken in kahlen und großen, schmucklosen Hallen zu sich nahm, verzehrten die Angestellten ihre qualitativ hochwertigeren Speisen häufig in den üppig dekorierten Angestelltenkasinos.239 Die soziale Distinktion zwischen den Angestellten und Arbeitern und die damit einhergehende unterschiedliche Behandlung wurde seitens der Arbeiterschaft protestlos akzeptiert, »da sie zum einen mit den günstigeren Preisen (für das schlechtere Angebot) zufrieden [… war] und die Trennung zum anderen mit sich brachte, dass sie ungestört von den Vorgesetzten essen [… konnte]«240 . Entsprechend der oben angeführten geringen Inanspruchnahme nutzte die Arbeiterschaft das betriebliche Speiseangebot im Vergleich zu den Angestellten sehr viel seltener: »As a general rule white collar workers from the administration were not as reluctant to visit canteens as were manual laborers, which resulted partly from higher salaries,
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Vgl. Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 205. Thoms, Physical Reproduction, S. 142. Vgl. Thoms, Essen, S. 211. Vgl. dies., Physical Reproduction, S. 137 und S. 141. Dies., Industrial Canteens, S. 363. Vgl. auch Uhl, Schafft Lebensraum, S. 378ff. 240 Uhl, Humane Rationalisierung, S. 142.
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partly from the fact, that the short lunch break was introduced for them quite early and probably, thirdly, because they had already been used to eating out.«241 Dass sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Inanspruchnahme betrieblicher Speiseangebote und -räumlichkeiten innerhalb der Arbeiterschaft noch lange nicht umfassend durchgesetzt hatte, belegen auch die vom Sozialhistoriker Roman Sandgruber zitierten Umfragedaten aus zwei Wiener Betrieben. In einem der Betriebe nahmen im Jahr 1914 immer noch 45 Prozent der Belegschaft ihre Mittagsmahlzeit zu Hause ein. Von der Belegschaft des anderen Betriebes, der um die Jahrhundertwende befragt wurde, speisten rund 53 Prozent der Arbeiterschaft in den eigenen vier Wänden, weitere 31 Prozent suchten Gasthäuser oder Lebensmittelgeschäfte auf, etwa zwei Prozent aßen privat und nur rund zwölf Prozent speisten in der Fabrik.242 In der Berliner Papierfabrik Max Krause wiederum nahmen bereits im Jahr 1890 etwas mehr als 27 Prozent der Belegschaft die Fabrikspeiseeinrichtung in Anspruch.243 Auch wenn diese Zahlen aufgrund ihres Bezugs auf Einzelfälle nicht überbewertet werden sollten, so veranschaulichen sie doch, dass die heimische Mahlzeitenaufnahme ab- und die Außer-Haus-Speisung tendenziell zunahm. Neben der Inanspruchnahme betrieblicher Speiseräumlichkeiten stand der Arbeiterschaft eine Reihe weiterer (Massen-)Speiseeinrichtungen zur Verfügung, die oftmals preiswertere Speisen anboten und nicht nur deshalb attraktive Alternativen zur Fabrikspeisung darstellten.
2.5.2 Öffentliche Speisedienstleistungen: Wirtshäuser, Speisehallen und Volksküchen Der Angestellten- und Arbeiterschaft in Wien und Berlin stand außerhalb der eigenen vier Wände und der Fabrik ein reichhaltiges Angebot verschiedener Speisedienstleistungen zur Verfügung. Von Restaurants, Eckkneipen und Wirtshäusern über Stehbier-, Wein- und Kaffeehallen bis hin zu Volksspeisehallen, Schnellimbissketten und Volksküchen wurde jedes individuelle Bedürfnis, jeder Geschmack und Geldbeutel angesprochen. Eine ganze Reihe dieser Gastgewerbeeinrichtungen waren neuartige Lokalitäten, die infolge des Wandels der Lebensverhältnisse und der Nahrungsversorgung das Geschäft mit der zunehmend konsumorientierten Masse machten und sich auf die großstädtischen Ernährungsgewohnheiten auswirkten. Vor allem in der deutschen Hauptstadt wuchs die Zahl der Speisedienstleistungen seit den 1890er Jahren rasch an und erreichte am Vorabend des Ersten Weltkrieges ihren Höhepunkt.244 Das Wachstum des 241 Thoms, Physical Reproduction, S. 142. Die verkürzte Mittagspause sei nach Thoms, die sich hierbei auf Siemens & Halske bezieht, zunächst bei den Angestellten und Beamten eingeführt worden bevor sie schließlich für alle Betriebsangehörigen galt. Vgl. dies., Essen, S. 208f. Zur stärkeren Inanspruchnahme innerbetrieblicher Sozialleistungen durch Angestellte vgl. ferner Schulz, Die Angestellten, S. 20. 242 Vgl. Sandgruber, Die Anfänge, S. 264. Aus dem Zahlenmaterial von Sandgruber geht nicht hervor, ob diejenigen, die ihre Mahlzeit in der Fabrik einnahmen, auch die betrieblichen Speiseräumlichkeiten nutzten. Der Verzehr von Speisen direkt am Arbeitsplatz war zu jener Zeit noch verbreitet. 243 Vgl. Thoms, Industrial Canteens, S. 357. 244 Vgl. Drummer, Christian: »Das sich ausbreitende Restaurant in deutschen Großstädten als Ausdruck bürgerlichen Repräsentationsstrebens 1870–1930«, in: Teuteberg, Hans Jürgen et al. (Hg.),
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gastronomischen Massengewerbes in Wien wiederum endete bereits in den 1880er Jahren. Nach Andreas Weigl bewirkte der zunehmende Konkurrenzdruck seitens der Nahrungs- und Genussmittelindustrie den Rückgang der vergleichsweise hohen »Gaststättendichte«.245 Dennoch boomte auch hier das Gastgewerbe, das sich dem großstädtischen Wandel seit Beginn der Industrialisierung anpasste. Eine besondere Rolle nahm das Wirtshaus ein, das in Wien bereits seit Jahrhunderten als »Ort der Geselligkeit« fungierte und sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in großer Anzahl in den Arbeiterbezirken ausbreitete. Mitten in den ausgedehnten Fabrik- und Wohnarealen befanden sich u.a. in Ottakring und in der Brigittenau Haus an Haus kleine einfache »Arbeiterwirtshäuser«, die eine wichtige Versorgungsfunktion für die Industriearbeiterschaft übernahmen.246 Die Ursache ihrer Entstehung waren vor allem die schlechten Wohnbedingungen. James S. Roberts zufolge mussten die Bewohner der Arbeiterviertel aufgrund der beengten Wohnverhältnisse Formen des geselligen Lebens entwickeln, deren Mittelpunkt außerhalb der eigenen Wohnung lag.247 Mit dem Wirtshaus, das gleichsam als »Wohnzimmer der Wiener« fungierte, sei zum einen der häuslich-familiäre Bereich erweitert und zum anderen ein bestimmtes Maß an Kontinuität inmitten einer Umgebung mit ständig wechselnder Nachbarschaft gewahrt worden. Lange diente das »Wirtshaus ums Eck« als Anlauf- und Vermittlungsstelle für Arbeits- und Wohnungssuchende sowie als Versammlungsort der aufstrebenden Arbeiterbewegung248 bis es seit der Jahrhundertwende vor allem die Funktionen als Treff- und Fluchtpunkt sowie als Nahversorger der – vornehmlich männlichen – Arbeiterschaft erfüllte. »In der Arbeiterkultur der Industriegesellschaft gehörte der gepflegte Feierabendschwips zur Reproduktion männlicher Arbeitskraft, erfüllte Schleusenfunktion zwischen Berufs- und Privatleben. Ob Stress, Schulden, Langeweile oder Sauflust, auf dem Weg nach Hause kehrte ›mann‹ lieber vorher ein.«249 Für eine Vielzahl der Arbeiter war der Besuch in der Eckkneipe oft das einzige Vergnügen im Alltag, das sie mit Gleichgesinnten teilten. So gab es kaum einen anderen Ort,
245
246 247 248
249
Essen und kulturelle Identität: Europäische Perspektiven, Berlin 1997, S. 303–321, hier S. 308f. Ferner Lummel, Riesenbauch, S. 84 und S. 98. Ein vergleichbares Florieren massenkonsumorientierter Speisedienstleister in Wien ist der vorliegenden Literatur nicht zu entnehmen. Vgl. ausführlich zu dieser Entwicklung Weigl, Andreas: »Zwischen Kaffeehaus und ›Beisl‹. Zur Institutionalisierung der Wiener Gastronomie seit dem späten 18. Jahrhundert«, in: Teuteberg, Revolution am Esstisch, S. 175–189, hier S. 175 und S. 179. Vgl. auch Spring, Ulrike, Wolfgang Kos und Wolfgang Freitag (Hg.): Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit, Wien 2007, S. 118. Vgl. ebd., S. 12, S. 47, S. 90 und S. 118. Vgl. hierzu und die weiteren Ausführungen Roberts, Wirtshaus, S. 125f. Mit der Verbesserung der Lebensbedingungen für Teile der Wiener Arbeiterschaft seit den 1880er Jahren, ihrer zunehmenden höheren Qualifizierung und vermehrten Teilhabe am Konsum sowie dem Aufstieg der Sozialdemokratie verlor das Wirtshaus diese Funktionen allmählich. Hierzu vgl. Schwarz, Werner Michael: »›Trinkerland‹ Neulerchenfeld: Vorstadtschenken zwischen Dorfkultur und Moderne«, in: Spring/Kos/Freitag, Im Wirtshaus, S. 88–93, hier S. 91. Zur Symbiose von Arbeiterbewegung und Wirtshaus siehe Roberts, Wirtshaus, S. 128ff. Beneder, Beatrix: »Mädchenbedienung im Männerort: Geschlechter-Inszenierung im Wirtshaus«, in: Spring/Kos/Freitag, Im Wirtshaus, S. 242–247, hier S. 242.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
wo Arbeiter derart auf Augenhöhe miteinander verkehrten. Die gemeinschaftsstiftende Geselligkeitskultur des Gasthofes brachte Arbeiter unterschiedlicher Berufs- und Betriebszugehörigkeit zusammen und bot ihnen die Gelegenheit zu Meinungsaustausch und Meinungsbildung.250 Nach Roberts war das Wirtshaus ein primäres soziales Zentrum für die Arbeiter, das mit dem in ihm verankerten Gemeinschaftsleben »zu einer Hauptquelle persönlicher Identität und gesellschaftlicher Integration in das städtische Sozialmilieu«251 wurde. Obwohl der Gasthausbesuch als Unterhaltungsform außerhalb des Familienlebens in erster Linie ein männliches Privileg war, kehrten hier und da aber auch weibliche Gäste im Wirtshaus ein. Während der verheiratete Arbeiter samstags ab und zu von seiner Ehefrau begleitet wurde, nahm die ledige Arbeiterin nach Feierabend auch schon mal ein Bier in der Eckkneipe ein. Dass der weibliche Besuch im Gasthaus in Wien nicht unüblich war, geht aus einer Reihe von Interviews mit Wiener Arbeiterinnen hervor, die im Rahmen einer Befragung der Arbeiterinnenenquete im Jahr 1896 geführt wurden.252 Dabei beschränkte sich der Arbeiterinnenbesuch im Gasthaus aber in der Regel auf das Abholen des Mittagessens. Neben dem obligatorischen Bier- und Weinausschank wurde in diesen einfachen mit Holztischen, Holzvertäfelungen und geölten Holzböden eingerichteten Wiener Gasthöfen, deren Schankräume meistens voll Lärm, Rauch und Trubel waren, eine überschaubare Auswahl deftiger Gerichte angeboten, die nahrhaft und billig zu sein hatten.253 So wie das Wirtshaus ein Ort des Alkohols war, so war es auch ein Ort erhöhten Fleischgenusses. Kritisiert wurde die Wirtshausvergnügungskultur nicht nur von bürgerlichen Sozialreformern. Auch innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, die sich infolge ihres Aufstiegs vom Wirtshaus allmählich löste, geriet sie in Verruf und galt als »Inbegriff eines verschwenderischen und perspektivelosen [sic!] Umgangs mit den Ressourcen Zeit, Geld und Gesundheit«254 . In der Tat war der Wirtshausbesuch vielfach die teuerste Form der Außer-Haus-Speisung, die sich auch innerhalb der Berliner Arbeiterschaft zu einer bedeutenden sozialen Institution entwickelte. Da die Gasthausspeisung für die Mehrheit der Bevölkerung oftmals nicht erschwinglich war255 , bildeten sich seit den 1890er Jahren in der deutschen Hauptstadt vermehrt kommerziell ausgerichtete Volksspeisungen und Schnellrestaurants heraus, die in der Vielzahl der Lohnarbeiter und Angestellten ihre Klientel sahen und sich auf deren Lebensrhythmus ausrichteten. So rief der Begründer der Volks-Kaffee- und Speisehallen-Ge-
250 Vgl. Kocka, Arbeiterleben, S. 308f. 251 Roberts, Wirtshaus, S. 139. 252 Vgl. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Wiener Lohnarbeiterinnen. Ergebnisse und stenographisches Protokoll der Enquête über Frauenarbeit abgehalten in Wien vom 1. März bis 21. April 1896, Wien 1897, hier z.B. S. 121, S. 156, S. 242, S. 437, S. 503 und S. 530. Vgl. auch Sandgruber, Die Anfänge, S. 265ff. Allgemein zur Rolle der Frau im Wirtshaus vgl. Beneder, Mädchenbedienung, S. 245ff. 253 Vgl. Weinzierl, Ulrich: »Quell proletarischer Gemütlichkeit«, in: Welt, 8. August 2007. Im Internet unter: https://www.welt.de/welt_print/article1088796/Quell-proletarischer-Gemuetlichkeit.html (13.04. 2020). 254 Schwarz, Trinkerland, S. 92. Vgl. ferner Breuss, Fleischhunger, S. 174. 255 Vgl. Geschäftsbericht der Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft, 25. Betriebsjahr, 1913, S. 6. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931.
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sellschaft Emil Minlos (1828–1901), ein Lübecker Kaufmann, im Januar 1889 die auf gemeinnütziger Grundlage beruhende erste Volkskaffee- und Speisehalle Berlins ins Leben, in der »gute und reichliche Nahrung zu möglichst billigem Preise in ansprechenden Räumlichkeiten verabreicht«256 wurde. Minlos, der wenige Jahre zuvor seine ersten Speiseanstalten in Lübeck und Hamburg gründete, verfolgte zunächst ein philanthropisches Konzept der Selbstfinanzierung, doch wandelte sich dieses rasch in eines mit Gewinnorientierung.257 »Die Aktiengesellschaft gründete sich im Jahre 1890 und stellte sich in ihrer Satzung das Ziel, »in gemeinnützigem Sinne den weniger bemittelten Volksklassen billige und der Gesundheit zuträgliche Getränke und Speisen zu bieten«.«258 Der ersten Berliner Niederlassung in der Niederwallstraße folgten bis zum Sommer 1914 sieben weitere Speisehallen in Berlin und Umgebung, die ganzjährig zwischen 6.30 Uhr morgens und 9.00 Uhr abends ein abwechslungsreiches Angebot an Speisen zwischen fünf und fünfzig Pfennig offerierten: »Man konnte Frühstück, Mittag- und Abendessen bekommen wie auch kleine Imbisshappen, d.h. belegte und unbelegte Brotstullen, gekochte Eier, Hering, Kartoffelsalat, Sülze, Wurst, Käse und Kuchen. Weiter gab es Kaffee, Kakao, Tee, Milch, Buttermilch, Schokolade, Apfelwein und Limonade (um dem Alkoholgenuß entgegenzusteuern), aber auch Zigarren, Zigaretten und Bier im Sortiment.«259 Beim Eintritt in die Speiseanstalten, welche an einem Tag zusammen bis zu 12.000 Gäste zählen konnten, kauften die Besucher Wertmarken, die sie entsprechend der Höhe des gezahlten Betrages für ihre nach Wunsch zusammengestellten Mahlzeiten einlösten.260 256 Allen, Hungrige Metropole, S. 52. 257 Vgl. Allen, Keith R.: »Von der Volksküche zum fast food. Essen außer Haus im wilhelminischen Deutschland«, in: WerkstattGeschichte 31/2002, S. 5–25, hier S. 12. Minlos’ erste Speiseanstalten, die er 1881 in Lübeck errichtete, waren zunächst von wohltätigen Vereinen getragene philanthropische Einrichtungen, die »durch sorgsame Verwaltung zur wirtschaftlichen Selbständigkeit berufen und befähigt« worden waren. Der Profit ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Nur sechs Jahre später gründete der Geschäftsmann in Hamburg einen gemeinnützigen Verein für Volkskaffeehallen, der bis 1912 neben zwanzig Kaffeehallen bis zu fünfzehn Speisehallen hervorbrachte. Durch die Speiseanstalten, die mit Werksspeisungen zu vergleichen waren, erhielten die Kostgänger für vierzig bis fünfzig Pfennig ein Mittagessen, das sie sich aus einem noch überschaubaren Angebot auswählen konnten. Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 13. Siehe auch Schreber, Bernhard: »Obdachlosenasyle, Herbergen, Schlafhäuser, Ledigenheime, Volksküchen und Wärmehallen«, in: Gärtner, August, Weyl’s Handbuch der Hygiene. Soziale Hygiene, Ergänzungsband, Leipzig 1918, S. 293–387, hier S. 377 und S. 380. Ausführlich zur Entstehung der Volksspeiseanstalten in Hamburg und Lübeck bei Pastuschka, Bernd: Volksspeisung und Kaffeeklappen, Hamburg 2015. 258 Dehne, Das Essen, S. 118. 259 Allen, Von der Volksküche, S. 14. 260 Vgl. Gottstein, Adolf: »Volksspeisung, Schulkinderspeisung, Notstandsspeisung, Massenspeisung«, in: Gärtner, August, Weyl’s Handbuch der Hygiene. Soziale Hygiene, Ergänzungsband, Leipzig 1918, S. 227–289, hier S. 247. Zu den Besucherzahlen vgl. Geschäftsbericht der Volks-Kaffeeund Speisehallen-Gesellschaft, 25. Betriebsjahr, 1913, S. 20. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. Die Zahl wurde von der Gesellschaft durch Stichproben Ende 1913 ermittelt. Die Besucherzahl könnte durchaus auch höher ausgefallen sein. So schrieb die Gesellschaft im selbigen Bericht, dass während des Bestehens der ersten drei Hallen im Durchschnitt 16.000 Personen täglich die Speisehallen besuchten. Hierzu vgl. ebd., S. 10.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Tabelle 4: Anzahl der ausgegebenen Speisen und Getränke in den Hallen der Berliner Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft (1889–1913) 1889–1913
1911–1913
1911
1912
1913
Getränke
32.670.618
6.988.700
1.921.922
2.316.055
2.750.723
Imbiss und Süßspeisen
30.904.721
6.013.920
1.345.524
2.170.136
2.498.260
Mittag- und Abendessen
21.311.814
4.966.577
1.224.012
1.720.972
2.021.593
Quellen: Geschäftsbericht der Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft, 25. Betriebsjahr, 1913. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. Eigene Berechnungen.
Die Preise wurden trotz der zunehmenden Teuerung der Lebensmittel konstant gehalten. Dadurch, sowie durch die erschwingliche Kost, sicherte sich die Speisehallen-Gesellschaft einen ununterbrochenen Zulauf an Gästen. Die Zahl der verkauften Portionen nahm stetig zu. Allein in den letzten drei Jahren vor Kriegsausbruch wurden 21 Prozent aller seit 1889 verabreichten Speisen und Getränke verkauft (Tab. 4). Die Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft war jedoch nicht die einzige Konkurrenz der Berliner Gasthäuser. Seit 1892 verbreiteten sich auch die Schnellrestaurants der Brüder Carl (1855–1909) und August Aschinger (1862–1911) zunächst in der Berliner Innenstadt und bald darauf auch in den nördlichen und östlichen Arbeiterbezirken. Der Aschinger-Betrieb, der um 1900 den Status als größter Gastronomiekonzern der Stadt innehatte, wusste die Berliner Angestellten- und Arbeiterschaft beider Geschlechter mit günstigen Preisen und kluger Vermarktung der populären kalten Küche als Kunden zu gewinnen: »Überzeugender als jeder bisherigen öffentlichen Einrichtung gelang es diesem Unternehmen, billiges, schmackhaftes Essen und Trinken anzubieten, dem kein Hauch von Armut und Elend anhing. In den großen Restaurationshallen von Aschinger traten reale Klassengegensätze hinter die behagliche Illusion gesellschaftlicher Gleichheit zurück.«261 Eine mit Aschinger vergleichbare Gastronomiekette gab es in Wien nicht. Doch auch hier entstanden auf Initiative einiger Wirte seit 1900 größere Lokalitäten, die günstige und deftige Speisen an eine Massenkundschaft ausgaben.262 Die (Steh-)Weinhallen und Bierhäuser, darunter auch die bis heute noch existenten Weinhäuser Arlt, Hochmayer und Allen, Hungrige Metropole, S. 97. Ausführlich zum Werdegang des Aschinger-Gastronomiekonzerns ebd., S. 95ff. Siehe auch Conze, Vanessa: »Aschinger. Eine Berliner Institution«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 29 (2022), S. 42–49. 262 Vgl. Haslinger, Ingrid: »Budl, Sparherd, Flaschensumpf: Zum Erscheinungsbild des Wiener Wirtshauses«, in: Spring/Kos/Freitag, Im Wirtshaus, S. 46–53, hier S. 47. Vgl. auch »Wiener Wirtshaus«, in: Kuratorium Kulinarisches Erbe Österreich. Im Internet unter: https://www.kulinar isches-erbe.at/geschichte-der-ess-trinkkultur/historische-kuechen/wiener-kueche/esskulturen/ wiener-wirtshaus (13.04.2020). 261
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Sittl, wurden vor allem von der Wiener Arbeiterschaft besucht und waren in Ansätzen mit den Speisehallen der Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft vergleichbar. Das öffentliche Speiseangebot im Wien und Berlin der Vorkriegszeit beschränkte sich aber nicht auf kommerziell ausgerichtete Speisedienstleistungen. Hinsichtlich der Mittagsverpflegung der Arbeiterschaft und ihrer Familien spielten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in beiden Städten auch philanthropische Großverpflegungsinitiativen eine wichtige Rolle. Diese von privaten bzw. karitativen Vereinen getragenen Speiseeinrichtungen besaßen zumeist Wohltätigkeitscharakter und waren nicht selten mit erzieherischen Ideen wie der Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs, Wirtshausreform oder der Förderung des Vegetarismus verbunden.263 In Berlin war es die Sozialaktivistin Lina Morgenstern (1830–1909), die während des Deutschen Krieges den Verein Berliner Volksküchen von 1866 gründete. Wie viele andere Begründer von Massenspeisungseinrichtungen264 des 19. Jahrhunderts verfolgte sie zunächst das Ziel, die ärmere Bevölkerung vor Hunger und die Stadt vor Aufruhr zu bewahren.265 Doch anders als die anderen in Kriegszeiten entstandenen Speiseanstalten blieben Morgensterns Volksküchen über den Krieg hinaus bestehen und entwickelten sich bald zu einer »dauerhaften Einrichtung des Berliner Alltagslebens«266 , die sich zuerst an das männliche Industrieproletariat und seit den 1890er Jahren auch an erwerbstätige Frauen richtete. Der Verein etablierte bis 1894 insgesamt fünfzehn Suppenküchen und eine Frauenküche, die für ein geringes Entgelt Mahlzeiten ausgaben und jeweils für durchschnittlich 100 Personen Platz boten. Darüber hinaus konnten die Nutznießer die-
263 Vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 232. 264 Die Herausbildung von Massenspeisungen im Deutschen Reich wurde durch verschiedene politische und sozialwirtschaftliche Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts gefördert und erfuhr durch die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen ab den 1850er Jahren einen rasanten Aufschwung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts existierte die Massenspeisungseinrichtung vorwiegend in Form eines Provisoriums, das während Hungersnöten, Krieg und Seuchen, also in Zeiten akuter Not, zum Einsatz kam. Bereits während der Napoleonischen Kriege um 1801 wurde der Verein Wohlfahrtsspeisung Berlin ins Leben gerufen, erregte aber nur kurze Aufmerksamkeit. Erst die Hungersnöte 1816/17 und 1846/47 brachten mehrere städtische Speiseanstalten hervor, die für längere Zeit bestanden. Regelmäßig speisten in öffentlichen Räumen in der Regel nur Studierende, Soldaten, wandernde Händler und Fremde, aber vor allem auch Arme, die zum Beispiel in Berlin seit 1800 in den Küchen der Armen-Speisungs-Anstalt während der Wintermonate kostenlos Suppengerichte angeboten bekamen. Auch viele andere deutsche Städte bemühten sich um die Einrichtung von Speiseanstalten für den minderbemittelten und mittellosen Teil der Bevölkerung. Eine der ersten Großküchen, die nicht die Funktion einer Armenspeisung übernehmen wollte, wurde 1849 in Leipzig gegründet. Es handelte sich um ein Wohlfahrtsunternehmen, das vorsah, die Speiseanstalt auf lange Zeit zu betreiben. Wie in Leipzig entstanden kurz vor der Reichsgründung auch in weiteren deutschen Städten Massenspeisungen mit einem ähnlichen Konzept. Eine Umfrage aus dem Jahr 1903 ergab, dass in 119 von 258 deutschen Städten mit jeweils über 10.000 Einwohnern eine oder mehrere Volksküchen betrieben wurden. Hierzu vgl. Teuteberg, Hans-Jürgen, »Historische Vorläufer der Lebensmitteltafeln in Deutschland«, in: Selke, Stefan (Hg.), Tafeln in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 41–63, hier S. 54. Sowie Allen, Von der Volksküche, S. 6. Roerkohl, Hungerblockade, S. 232. 265 Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 42 266 Ebd.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
ser Speiseanstalten das Essen auch mit nach Hause nehmen, wodurch Massenansammlungen vor den Küchen vermieden wurden.
Tabelle 5: Anzahl der täglichen Besucher der Berliner Volksküchen von 1866 (1866–1912) Jahr Zahl der Besucher
1866–1873
1891
1894
1901–1908
1909
1910
1912
∼ 7.000
7.300
∼ 9.000
∼ 2.500
1.500
450
430
Quellen: Dehne, Das Essen, S. 117. Allen, Hungrige Metropole, S. 44 und S. 49. Geschäftsbericht des Vereins Berliner Volksküchen von 1866, 47. Jahresbericht – 1913, S. 15. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. Eigene Berechnungen.
Die »Bero-Lina-Küchen«, die das ganze Jahr über von Montag bis Samstag geöffnet waren, gaben seit den 1880ern nicht nur Mittagessen, sondern auch Abendmahlzeiten aus. Dabei habe die Kost, wie Dehne betont, jahrzehntelang aus einem Einheitsessen bestanden: »einem Napf voll Gemüse mit Fleisch«267 . Dennoch zogen Morgensterns Küchen zahlreiche Gäste an. Seit der Gründung des Vereins speisten täglich im Durchschnitt 7.000 bzw. 9.000 Berlinerinnen und Berliner in den Volksküchen (Tab. 5).268 Nach dem Vorbild des Vereins Berliner Volksküchen von 1866 wurde im Frühjahr 1872 auch in der Habsburgermetropole der Erste Wiener Volksküchen-Verein gegründet. Seit 1869 setzte sich der Wiener Gemeinderat und Philanthrop Josef von Kühn (1833–1913) für die Gründung einer Volksküche ein, um den Werktätigen Wiens mit geringem Einkommen eine einfache, gesunde und nahrhafte Kost zu einem günstigen Preis zu bieten.269 Im Januar 1873 eröffnete er mit Unterstützung weiterer Fürsprecher im Bezirk Wieden die erste Wiener Volksküche mit rund 200 Sitzplätzen. In den darauffolgenden acht Jahren gründete und errichtete der Verein in verschiedenen Bezirken der Stadt weitere sieben Küchen, die der Arbeiterbevölkerung morgens, mittags und abends für jeweils zwei bis drei Stunden zur Verfügung standen und Mitte der 1890er Jahre täglich zwischen 7.000 und 8.000 Wienerinnen und Wiener mit einem Mittagsmahl versorgten.270
267 Dehne, Das Essen, S. 116. 268 Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 44. In der Literatur variieren die Angaben zu den maximalen Besucherzahlen der Küchen. So schreibt Harald Dehne, dass die meisten Personen, täglich 7.300, um 1891 gespeist worden seien. Vgl. ders., Das Essen, S. 117. Allen hingegen erklärt, dass 1891 mit 2.850.975 Portionen zwar der Höchststand ausgegebener Suppen erreicht worden sei, dass aber die Anzahl der Besucher während der erneut eingesetzten Blütezeit der Volksküchen um 1894 bei 9.000 Personen täglich lag. In Zeiten großer Not wurden auch schon mal 20.000 Personen am Tag verpflegt. Hierzu vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 44 und S. 48. 269 Vgl. Kühn, Josef: Die Wiener Volksküche unter Darlegung der Organisation des unter dem Protectorate Ihrer Majestät der Kaiserin Elisabeth stehenden Ersten Wiener Volksküchen-Vereines, Wien 1894, S. 3 und S. 41f. Sowie Erster Wiener Volksküchen-Verein: Zur dritten General-Versammlung des Vereines abgehalten im grossen Saale des Gemeindehauses Wieden. Rechenschaftsbericht, Wien 1874, S. 3f. WStLA, Marktamt, 1.1.12.A2/1 Volksküche. 270 Vgl. Kühn, Volksküche, S. 14 und S. 33. Nach den Ausführungen Kühns entstand der Großteil der Volksküchen auf Eigeninitiative des Vereins in den 1870er Jahren. Zwei der Volksküchen wurden
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Darüber hinaus unterstützte Kühns Verein die Gründung weiterer Volksküchenvereine in bislang unberücksichtigten Wiener Bezirken. Auch der 1874 begründete Verein zur Errichtung von Volksküchen nach israelitischem Ritus entstand durch die Förderung des Ersten Wiener Volksküchen-Vereins. Im Jahr 1894 waren in Wien und seinen Vororten insgesamt dreizehn Volksküchen in Betrieb, die nur mit ehrenamtlich tätigen Funktionären und ohne Zuschüsse von öffentlicher Seite arbeiteten.271 Gegenüber den Berliner Volksküchen unterschieden sich die Wiener Einrichtungen vor allem in ihrem Speiseangebot, das in Wien abwechslungsreicher war wie aus den Ausführungen Kühns zur Organisation und Arbeitsweise des Vereins hervorgeht: »In dem Bestreben, unsere Volksküchen den verschiedenen Kreisen unserer unbemittelten Bevölkerung möglichst dienstbar zu machen und dem unsere Anstalten besuchenden Publicum eine thunlichste Abwechslung in ihrem bescheidenen Mahle bieten zu können, sind wir in Wien von der in anderen Volksküchenvereinen bestehenden Norm, nach welcher nur Gemüse und Fleisch oder Suppe[,] Gemüse und Fleisch […] in zwei verschiedenen Portionsgrössen […] gegeben wird, abgegangen und lassen […] täglich Suppe, Rindfleisch, Gemüse und Mehlspeise, mehrmals in der Woche auch eine Extraspeise zubereiten, von welchen Speisen Suppe, Gemüse, Rindfleisch mit Gemüse, Extraspeise mit Beilage und Mehlspeise einzeln, Rindfleisch mit Gemüse und einige Extraspeisen mit Beilage auch in halben Portionen zu möglichst niederem Preise gegeben werden.«272 Die wenigsten Volksküchenbesucher konnten es sich leisten, diese Angebotsvielfalt in Anspruch zu nehmen. Dem Vereinsgründer zufolge bestand das Mittagsmahl der meisten Kostgänger nur aus den günstigsten Speisen auf der Karte, einer Portion Gemüse und einer Portion Brot. Darüber hinaus waren die Wiener Volksküchen – trotz der zeitweise recht hohen Inanspruchnahme – in der arbeitenden Bevölkerung nicht sehr beliebt. Abgesehen von den Preisen wurde der Besucherandrang auch durch die Beschränkung der Aufenthaltszeit vor Ort und den schlechten Ruf der Einrichtungen als Armenküchen gehemmt. So hebt Hedwig Lemberger in ihrer Studie zu den Arbeits- und Lebensbedingungen der Wiener Wäscheindustriearbeiterinnen von 1907 hervor: »Durch [… den] Raummangel wird einerseits den Bedürfnissen der Arbeiterschaft nur in einseitiger Weise entgegengekommen, denn nach der oft ermüdenden Arbeit […] ist der Wunsch nach einem Plätzchen, wo man bequem und so lange es die Pause gestattet, Rast halten kann, ebenso stark, wie der nach warmer, kräftiger Kost; andererseits mag aber der Charakter dieser Anstalten als einer Wohlfahrtseinrichtung, durch diese
1892 infolge einer drohenden Choleraepidemie eröffnet. Über den weiteren Entwicklungsgang der einzelnen Volksküchenstandorte geben die vorhandenen Quellen keine Auskunft. Nachweislich existierte nur eine kleine Zahl der Volksküchen bis in die Kriegszeit hinein. Hierzu vgl. Tabelle III im Anhang. 271 Vgl. »Josef von Kühn«, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 4, Lfg. 19, Wien 1968, S. 322. Kühn unterstützte darüber hinaus auch die im Jahr 1892 gegründete »Mensa Academica« der Wiener Universität. Hierzu vgl. »Dr. Josef Edler v. Kühn«, in: Neue Freie Presse, 12. April 1913. 272 Kühn, Volksküche, S. 13.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Maßnahme der beschränkten Aufenthaltszeit, vielleicht in einer Weise in den Vordergrund treten, welche die klassenbewußte Arbeiterschaft den Aufenthalt daselbst als etwas sie sozial Degradierendes empfinden läßt.«273 Auch wenn der Wiener Volksküchen-Verein bemüht war, sämtliche Ähnlichkeiten mit der unentgeltlichen Speisung in den Wiener Armenküchen, die vom Verein zur Errichtung und Erhaltung der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt unterhalten wurden, zu vermeiden, erweckten die Volksküchen durch ihre enge Zusammenarbeit mit dem Wiener Armendepartement oft den Anschein einer Armenspeisung.274 Die Wiener Arbeiter bevorzugten daher neben dem Gasthaus eher die günstigeren Kaffeeschenken und Auskochereien. Obwohl es in Berlin keine vergleichbare Verbindung zur städtischen Armendirektion gab, hatten auch die Berliner Volksküchen bald mit dem Vorwurf der »Armeleuteküchen« zu kämpfen. Sowohl die hohe Inanspruchnahme als auch die Küchenanzahl konnte der Verein auf die Dauer nicht halten. Neben finanziellen Problemen des Vereins begründete sich der Bedeutungsverlust aus der nachlassenden Qualität des Essens wie Keith R. Allen hervorhebt: »Obgleich zahlreiche prominente Sozialreformer Berlins Morgensterns Eintopf lange Zeit als ›schmackhaft, angenehm, sorgfältig zubereitet und abwechslungsreich‹ charakterisiert hatten, schien der Nährwert gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr ›den physiologischen Erfordernissen‹ zu entsprechen.«275 Kritisiert wurde zudem die Eintönigkeit der Speisen, die immer mehr den »Armeleutesuppen« der im Jahr 1800 ins Leben gerufenen städtischen Armen-Speisungs-Anstalt ähnelten.276 Der Rückgang der Besuchergruppen in den Berliner Volksküchen war aber vor allem das Ergebnis der wachsenden Beliebtheit des geselligeren Ambientes der neu entstandenen kommerziellen Speiselokale, mit denen auch die Ansprüche der AußerHaus-Speisenden stiegen. Damit entflohen die Kostgänger auch der »erzieherischen Atmosphäre« der Morgensternschen Speiseanstalten, in denen die Besucher strengen Regeln zu folgen hatten – lautes Unterhalten, Alkohol und Tabak sowie das Tragen von Kopfbedeckungen waren nicht gestattet. Die abnehmende Inanspruchnahme der Suppenküchen seit dem Bestehen der aufstrebenden profitorientierten Konkurrenz belegen
273 Lemberger, Hedwig: Die Wiener Wäscheindustrie, Wien 1907, S. 222. Die Aufenthaltsdauer wird schätzungsweise nicht mehr als fünfzehn Minuten umfasst haben, denn nach den Ausführungen Kühns wurden die Sitzplätze in den Volksküchen pro Stunde vier Mal besetzt. Vgl. Kühn, Volksküche, S. 37. 274 Zur Zusammenarbeit des Wiener Volksküchenvereins mit dem städtischen Armeninstitut vgl. ebd., S. 31. 275 Allen, Hungrige Metrople, S. 47. 276 Vgl. ebd., S. 49. Zur Gründung der Berliner Armen-Speisungs-Anstalt vgl. oben Kapitel ii, Anm. 264. Die Armenküchen der durch Spenden und Gemeindezuschüsse finanzierten Speisungs-Anstalt, gaben jedes Jahr zwischen Dezember und April kostenlos einen Liter Eintopf an Existenz- und Mittellose aus. Mit den wachsenden sozialen Problemen im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm der Bedarf an der Armenspeisung zu. Der schlechte Ruf der Berliner Armenküchen ergab sich nicht allein durch das einfach gehaltene Suppenangebot. Auch Vorfälle mit Betrunkenen, die auch Aufruhr mit sich ziehen konnten, schadeten dem Ansehen der Armenspeisung. Vgl. hierzu u.a. Allen, Hungrige Metrople, S. 30. Siehe auch ders., Von der Volksküche, S. 9.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
die Besucherzahlen der Berliner Volksküchen, die seit den 1890ern rapide sanken. Im Jahr 1912 speisten nur noch 430 Personen täglich in den vier verbliebenen Küchen. In Wien wiederum könnte die Gruppe der Volksküchenbesucher zu jener Zeit etwas größer ausgefallen sein. Die Zahl der täglich ausgegebenen Portionen in der Volksküche im Wiener Bezirk Meidling umfasste im Jahr 1912 allein etwas mehr als 400 Portionen (Tab. 6).277 Neben der Meidlinger Volksküche waren zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch mindestens sechs weitere Wiener Volksküchen mit ähnlichen Portionszahlen in Betrieb. Wie viele Wiener aber tatsächlich von ihnen Gebrauch machten, geht aus dem vorhandenen Quellenmaterial nicht hervor.
Tabelle 6: Anzahl der ausgegebenen Portionen in der Volksküche des Meidlinger VolksküchenVereines (1912–1918)
jährlich a)
täglich
1912
1913
1914
1915
1916
1917
1918
151 352
142 851
141 420
260 481
531 088
629 851
589 997
∼ 415
∼ 391
∼ 388
∼ 714
∼ 1 455
∼ 1 726
∼ 1 616
a) Die Berechnungen basieren auf der Annahme, dass die Volksküche täglich geöffnet war. Quellen: Rechnungsabschlüsse des Vereines der Meidlinger Volksküche für die Jahre 1913 bis 1918, Wien 1914–1919. Eigene Berechnungen.
Trotz ihrer abnehmenden Inanspruchnahme verdeutlichen die dauerhafte und kontinuierliche Existenz der Wiener und Berliner Volksküchen bis zum Vorabend des Großen Krieges, dass sie wie die Fabrikspeisungen, Gastwirtschaften und konkurrierenden kommerziellen Massenspeisungen einen vorhandenen Bedarf bedienten, der sich aus den veränderten Strukturen der Reproduktionsbedingungen ergab.
2.5.3 Trotz Ablehnung und Widerstand: Die öffentliche Mittagsmahlzeit setzt sich durch Der zunehmende Konsum außerhäuslicher Mittagskost seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete nicht, dass die Angestellten- und Arbeiterschaft zu begeisterten Anhängern der Außer-Haus-Speisung wurden. Die öffentlichen (Massen-)Speisedienstleistungen und Fabrikspeisungsangebote wurden nur von wenigen Kostgängern als tatsächliche und beständige Alternativen zur privat-familialen Hauskost wahrgenommen.278 Gegenüber der gewohnten privaten Beköstigung wurde die »Veröffentlichung« der (Mittags-)Mahlzeiten vielmehr als Verschlechterung der eigenen Ernährung empfunden. Der Großteil der Arbeiter und Angestellten beharrte so lange wie möglich hartnäckig auf dem häuslichen Mittagsmahl. Da dies mit der Arbeitsalltagspraxis immer weniger vereinbar war und das Mittagessen als erforderliche Hauptmahlzeit einen
277 Vgl. Rechnungs-Abschluß des Vereines der Meidlinger Volksküche für das Jahr 1913, Wien 1914, [S. 10]. 278 Vgl. Dehne, Alltag, S. 157. Ders., Das Essen, S. 122.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
außerordentlichen Stellenwert bei der Reproduktion der Leistungsfähigkeit im Arbeitsalltag einnahm, wurden die außerhäuslichen Speiseangebote gezwungenermaßen in Anspruch genommen. Das zähe Beharrungsvermögen vor allem der männlichen Angestellten und der Arbeiter, ihre Mittagskost im Kreis der Familie einzunehmen, hing eng mit ihrer Rolle innerhalb der Familie zusammen. Die hierarchische Position und Selbstbestimmung der Familienernährer hatten in den öffentlichen Speiseeinrichtungen genauso wenig Platz wie in der Fabrik. Dehne resümiert: »Bei der widerwilligen Hinnahme der Auflösung des gewohnten familiären Mittagstisches und bei der (proletarischen wie bürgerlichen) Ablehnung neuer, außerhäuslicher Formen der Mittagsmahlzeit ging es um mehr als den symbolischen Wert der Hausmannskost. Entscheidend war vielmehr die routinehafte Realisierung bekannter und vertrauter Rituale, Wahrnehmungsmuster und Wertvorstellungen.«279 Die ablehnende Haltung gegenüber der Außer-Haus-Speisung verteilte sich, wie gezeigt wurde, nicht auf alle Beköstigungstypen gleichermaßen. Eine Ausnahme bildete zweifellos das Gasthaus, das vor allem bei der männlichen Arbeiterschaft, aber auch bei Angestellten sehr beliebt war.280 Sowohl die Preise als auch das Ambiente unterschieden sich stark von den neueren Kosttypen. Im Gegensatz zu den anderen (öffentlichen) Speiseeinrichtungen handelte es sich nicht um eine Massenspeisung, die ihren Gästen Regeln auferlegte und die rationalisierte Mittagsverpflegung fokussierte. Davon abgesehen, dass die beliebte Wirtshausspeisung ihren größten Zulauf in den Feierabendstunden erhielt, stellte das Gasthaus vielfach die teuerste Alternative der Mittagsverpflegung dar. Für die Mehrheit der Arbeiterschaft war der Verzehr des Mittagsmahls im Gasthaus keine dauerhafte Option, da sie sich die außerhäusliche Speisung nur im begrenzten Maß und zu kleinen Preisen leisten konnte.281 Dementsprechend mussten viele Arbeiter auf die kostengünstigeren Massenspeisungsdienstleister ausweichen, um eine warme und nahrhafte Mittagsmahlzeit während der Arbeitspause einnehmen zu können. Der verbreiteten ablehnenden Haltung gegenüber der Außer-Haus-Speisung zum Trotz, trug die Etablierung der verschiedenen Dienstleistungsangebote infolge der veränderten Reproduktionsbedingungen nach Dehne dazu bei, dass die herkömmliche kulturelle Form der privat-familialen Tischgemeinschaft schließlich aufgebrochen wurde: »Anstelle des familiären Mittagstisches wurden für die Wochentage allmählich neue, öffentlichkeitsorientierte Formen der Einnahme des Mittagessens geschaffen, die die außerhäusliche Bildung neuer mittäglicher Tischgemeinschaften – allerdings
279 Dehne, Alltag, S. 160. Vgl. ferner Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 26 und S. 258. 280 Vgl. Triebel, Zwei Klassen, Band I, S. 399 und S. 409. 281 Nach Armin Triebel stiegen die Ausgaben für die außerhäusliche Verköstigung mit zunehmenden Einkommen. Vgl. ebd., S. 399. Sowie Drummer, Das sich ausbreitende Restaurant, S. 318. Vor 1914 gaben Arbeiterfamilien rund zweieinhalb Prozent des Einkommens für die Außer-Haus-Speisung aus. In den Ausgaben der vielfach besser gestellten Angestelltenfamilien fiel der Prozentsatz für die außerhäusliche Speisung gleich hoch aus. Vgl. Teuteberg, Hans-Jürgen: »The Rising Popularity of Dining Out in German Restaurants in the Aftermath of Modern Urbanization«, in: Jacobs/ Scholliers, Eating out in Europe, S. 281–299, hier S. 289.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
nunmehr für jedes Familienmitglied gesondert – zumindest zulassen. Damit wurde die soziale Seite der Mittagsmahlzeit ›tendenziell von der Familie auf andere soziale Einheiten, die sich aus dem Arbeitsprozeß heraus konstituieren‹, verlagert.«282 Die neuen Tischgemeinschaften unter Arbeitskollegen bildeten unabhängig davon, ob die Mittagspause im Gasthaus, in der Kantine oder der Volksküche verbracht wurde, ein neues »Zentrum der Kommunikation« im (Arbeits-)Alltag der Arbeiterschaft und auch vieler Angestellter.283 Zugleich dienten sie als Kontaktstellen für neue Ernährungsweisen und Konsumformen. Durch das Nebeneinander der verschiedenen Werktätigen in den verschiedenen Speisehäusern, von der gelernten Arbeiterschaft und den Büroangestellten bis hin zur Hilfsarbeiterschaft, gelangten Günter Wiegelmann zufolge neue Akzente in die Mahlzeiten der städtischen Arbeiterschaft.284 Die Veröffentlichung des (Mittag-)Essens schuf Möglichkeiten zur Übernahme bürgerlicher Ernährungsmuster. Gleichwohl stand die Außer-Haus-Speisung auch in der Kritik zahlreicher bürgerlicher Sozialreformer und Ernährungsphysiologen. Ohne die Beweggründe der öffentlichen Kostgänger näher in den Blick zu nehmen, klagten sie über den Funktionsverlust der Familie als Folge der allmählichen Auflösung der privaten Familienmahlzeit, die Unwissenheit sowie die ungesunde und überteuerte Ernährungsweise der unteren Schichten. »Die Masse folge«, so Dehne bezugnehmend auf den Physiologen Max Rubner (1854–1932), »einstweilen nur ihrem Geschmack und der herrschenden Sitte, Arbeiter wollten feinere städtische Kost der Bessergestellten nachahmen, ohne dafür die Mittel zu haben, es sei der ›Trieb, es den besseren Klassen in der Ernährung gleichzutun‹.«285 Am Ideal der familiären Tischgemeinschaft festhaltend waren die Gelehrten nicht gewillt, die alternativen (Massen-)Speisegelegenheiten und Tischgemeinschaften der Arbeiterschichten zu akzeptieren. Ihr Widerstand kannte jedoch auch Ausnahmen. In besonderen Fällen familiärer Bedürftigkeit wurde neben der Armenspeisung auch die privat organisierte (temporäre) Schulspeisung geduldet.286
282 Dehne, Alltag, S. 159. Auch nach Barlösius könne davon ausgegangen werden, »daß bei diesen Tischgemeinschaften ähnliche soziale Mechanismen wirken wie bei der traditional-familialen Tischgemeinschaft«. Die vergemeinschaftende Wirkung und die kommunikative Bedeutung dieser Mahlzeiten sei hoch zu bewerten. Vgl. Barlösius, Soziologie, S. 189. 283 Vgl. Thoms, Industrial Canteens, S. 136. Ferner Beispiel Lemberger, Wäscheindustrie, S. 221. Die gemeinsame Erholung während der Mittagspause erfolgte mitunter auch schweigsam, z.B. Zeitung lesend. Vgl. ebd. Sowie Lüdtke, Arbeitsbeginn, S. 116. 284 Vgl. Teuteberg/Wiegelmann, Der Wandel, S. 324. Ferner Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 26. 285 Dehne, Das Essen, S. 115. 286 Vgl. Dehne, Alltag, S. 158. Sowie ders., Das Essen, S. 122. Dehne betont darüber hinaus, dass längst nicht alle Physiologen die allgemeine Außer-Haus-Speisung kritisierten. Ihm zufolge gab es auch eine andere Denkrichtung, die den Bedarf der außerhäuslichen Verpflegung akzeptierte solange diese gegen eine angemessene Bezahlung erfolge. Vgl. ebd.
II. Berlin und Wien vor dem Krieg
Abbildung 1: Eröffnung der XIII. Kinderküche des Vereins für Kindervolksküchen in der Manteuffelstraße 67, Berlin (1907)
Abbildung aus Berliner Leben 10, Heft 11, S. 15. Quelle: Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Public Domain (CC-PD). Im Internet unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:109-1-5303735.
In den Vorkriegsjahrzehnten rückte neben der Arbeiterschaft die nicht unerhebliche Zahl unterernährter Schulkinder in den Fokus der philanthropischen Bemühungen. In Berlin leistete hierbei der vom jüdischen Wohltäter Herrmann Abraham (1847–1932) 1893 ins Leben gerufene Verein für Kindervolksküchen einen beachtlichen Beitrag (Abb. 1). Der Verein, dessen Kosten für die Mittagssuppen seit Februar 1908 von der Stadt gedeckt wurden, unterhielt im Jahr 1914 bis zu zwanzig Speiseeinrichtungen. Bis zum Frühjahr 1914 gaben die Küchen des Vereins über 27 Millionen Portionen an Schulkinder aus und versorgten kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges etwa 200.000 Kinder monatlich mit einem Mittagessen.287 In Wien wurde die Versorgung bedürftiger Schulkinder 287 Vgl. »Verzeichnis der Kinder-Volksküchen des Vereins«, in: Die Kinderfürsorge, März 1914, S. 8. GStAPK, I. HA Rep. 89, Nr. 12728. Unsere Ernährungs-Fürsorge für bedürftige Kleinkinder während der Kriegsmonate vom 1. August 1914 bis 1. Mai 1915, hg. Vom Verein für Kinder-Volksküchen und Volks-Kinderhorte Berlin, Berlin 1915, S. 3. Ausführlich zu Abrahams Wirken und der Geschichte der Berliner Schulspeisung siehe Allen, Keith R.: »Schul- und Armenspeisungen in Berlin 1880–1914. Der Menschenfreund Hermann Abraham und seine Kritiker«, in: Teuteberg, Revolution am Esstisch, S. 190–202. Siehe auch Simon, Helene: »Kinderspeisungen in Deutschland. Entwicklung bis zum Ende des Weltkrieges«, in: Henriques, Clara, Kinderspeisung, Weimar 1926, S. 43–58. Dehne, Das Essen, S. 119ff. Gottstein, Volksspeisung, S. 267–287. Zur allgemeinen Entwicklung der Schulspeisung in Berlin siehe Dehne, Harald: »Die fremde arme Welt in der hei-
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
bereits 1887 in Gang gesetzt. Der Zentralverein zur Beköstigung armer Schulkinder richtete rund vierzig Schulspeiseanstalten ein, die mithilfe kommunaler Subventionen jährlich in den Wintermonaten etwa 10.000 Kinder unentgeltlich mit Mittagsspeisen versorgten.288 Der Verein blieb in Wien nicht die einzige Initiative, die sich der Versorgung von Kindern mittelloser Familien verschrieb. Im Jahr 1912 gründete die Sozialarbeiterin Betty Kolm (1866–1946) ein Kuratorium zur Speisung hungernder Schulkinder, das in Wien eine Reihe von Schulspeisestellen eröffnete.289 Sowohl Kolms als auch Abrahams Aktivitäten sollten später während der ersten Kriegswochen im August 1914 einen entscheidenden Beitrag zur städtischen Handlungsfähigkeit auf dem Gebiet der Massenverpflegung durch Großküchen leisten. Der ernährungswissenschaftliche Widerstand gegenüber der Veröffentlichung der Mahlzeiten und die weitreichende gesellschaftliche Ablehnung der öffentlichen und rationalisierten Mittagsverpflegung hielten den Durchbruch der außerhäuslichen (Massen-)Speisung im Alltag der Angestellten- und Arbeiterschaft nicht auf. Sowohl die »halböffentlichen« Speisedienstleistungseinrichtungen, die wie die Betriebs-, Armenund Schulspeisungen nur bestimmten Bevölkerungsgruppen vorbehalten waren, als auch die »öffentlichen« Volksküchen und Volksspeisehallen, die allen zur Verfügung standen, die es sich leisten konnten und sich den Regeln der einzelnen Einrichtungen fügten, wurden in Wien und Berlin in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg mehr oder weniger stark beziehungsweise widerwillig in Anspruch genommen. Weder die Bevölkerung noch die Sozialreformer und Physiologen hatten am Vorabend des Krieges eine Vorstellung davon, dass die so alltagsverändernden und einschneidenden Entwicklungen auf dem Gebiet der außerhäuslichen Mahlzeitenversorgung während der Vorkriegsjahrzehnte noch eine Steigerung erfahren konnten.
len Stadt. Ernährungsdefizite im Übergang, bürgerlicher Missionseifer und die Einbildungen des Berliner Magistrats 1871–1914«, in: Kühlberger, Christoph und Clemens Sedmak (Hg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung, Münster 2005, S. 129–165, hier S. 145ff. 288 Vgl. Mattutat, Hermann: »Die öffentliche Speisung der Volksschuljugend«, in: Sozialistische Monatshefte 15 (1910), S. 970–977, hier S. 972. Siehe auch Federn, Ernestine: »Die Speisung hungernder Kinder«, in: Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischer Frauenvereine 2 (1912), S. 1–3, hier S. 2. 289 Vgl. ebd. Sowie Vgl. Fichna-Schüssel: »Berta (Betty) Kolm«, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 4, Lfg. 16, Wien 1966, S. 92. In einigen Quellen erfolgt die Nennung des Vereins auch unter dem Namen Kuratorium zur Speisung bedürftiger Kinder.
III. Metropolen im Krieg »Die Tatsachen sind immer stärker als alle Einwände. Es war Hungersnot, man bot Speisegelegenheiten, sie wurden benützt, es entstanden immer neue, sie wurden nachgemacht, gut, schlecht, mittelmäßig, viele nur nach dem äußeren Schein, ohne den inneren Sinn zu begreifen, aber immerhin, es kam der Tag, an dem 200.000 Menschen, die es verdienten, am Leben zu bleiben, nur am Leben bleiben konnten, weil es die Gemeinschaftsküchen gab.« Sozialreformerin Eugenie Schwarzwald, »Undankbare Arbeit«, in: Neue Freie Presse, 15. März 1925.
Für die Wiener und Berliner Arbeiter- und Mittelstandsfamilien bedeutete der Kriegsausbruch eine enorme Verschlechterung der Lebensumstände, die im Verlauf des Krieges dramatisch zunehmen sollte. Als Kaiser Franz Joseph i. am 28. Juli 1914 die österreich-ungarische Kriegserklärung unterschrieb und die deutsche Reichsregierung sich vier Tage später zur »Flucht nach vorn« entschied, gab es in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich so gut wie keine langfristigen kriegswirtschaftlichen und finanzpolitischen Planungen. Die militärischen Führungen gingen von einem kurzen Krieg aus und begannen diesen mit den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts in relativer Sorglosigkeit.1 Nur wenige vorausschauende Zeitgenossen ahnten, welche Auswirkungen ein länger anhaltender großer Krieg auf das Leben in der Heimat haben würde. »[V]on Tag zu 1
Vgl. Landwehr, Rolf: »Funktionswandel der Fürsorge vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik«, in: Baron, Rüdeger und ders. (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit. Hauptlinien ihrer Entwicklung im 19. Und 20. Jahrhundert, Weinheim 1983, S. 73–138, hier S. 74. Teuteberg, HansJürgen: »Food Provisioning on the German Home Front 1914–1918«, in: Zweiniger-Bargielowska, Ina, Rachel Duffett und Alain Drouard (Hg.), Food and War in Twentieth Century Europe, London 2016, S. 59–72, hier S. 60. Ferner Lüders, Marie-Elisabeth: Das unbekannte Heer. Frauen kämpfen für Deutschland 1914–1918, Berlin 1936, S. 51ff. Vgl. auch Weigl, Andreas: Mangel, Hunger, Tod. Die
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Tag«, prophezeite der sozialdemokratische Vorwärts bereits in seiner Ausgabe vom 2. August 1914, »[wird] die Preissteigerung eine empfindlichere und für die infolge des Krieges arbeitslosen oder des Ernährers beraubten Massen werden diese Teuerungszeiten zu Hungerzeiten.«2 Doch die Mehrheit glaubte fest daran, dass die Truppen zu Weihnachten wieder zu Hause sein würden. Eine Mobilmachung auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung wurde daher nicht in Erwägung gezogen. Ein Irrtum, der »unvorstellbar grausige Jahre«3 nach sich zog – sowohl für die Soldaten in den Schützengräben als auch die Daheimgebliebenen. Es dauerte nicht lange und die prophezeiten Hungerzeiten brachen herein. Bereits im Jahre 1915 wurden in beiden Staaten die ersten Lebensmittel rationiert. Im Jahr darauf waren die österreichische Reichshälfte und das Deutsche Reich den kriegswirtschaftlichen Engpässen nicht mehr gewachsen. Spätestens jetzt entfaltete sich die verheerende Wirkung der im November 1914 durch Großbritannien eingeleiteten Seeblockade in vollem Maße. Zusammen mit der misslungenen Steuerung der wirtschaftlichen Produktion, Transportproblemen und dem Ausbleiben der – für die Versorgung Cisleithaniens dringend erforderlichen – Importe aus der ungarischen Reichshälfte wurde die alliierte Seeblockade für die verbündeten Mittelmächte zur »Hungerblockade«. »Die gegenwärtige Kriegszeit ist ernster als zuvor, die Not im Volke größer als jemals. […] Was man heute gibt, ist morgen verzehrt, darum reichen die Mittel nur von einem Tag zum anderen.«4 So beschrieb ein gemeinnütziger Berliner Verein die Lage um 1916/17 in der deutschen Hauptstadt. Lange Menschenschlangen, die sich um knappe Lebensmittel anstellten, wurden auch auf den Wiener Straßen zu einem vertrauten Bild.5 Der Hunger und die Verelendung machten den Menschen im Hinterland den Krieg allgegenwärtig. Seit Kriegsbeginn versuchten die städtischen Zivilverwaltungen der zunehmenden Not in der Bevölkerung und dem bedrohlichen Lebensmittelmangel entgegenzusteuern. Unterstützung erhielten sie von den lokalen Frauenvereinigungen und privaten Wohltätigkeitsvereinen. Der gut durchorganisierte Einsatz hilfswilliger Frauen war sowohl in Berlin als auch in Wien entscheidend für die Handlungsfähigkeit der insgesamt sehr unüberschaubaren kommunalen Kriegsverwaltungen. In beiden Hauptstädten waren die Organisationsstrukturen der Kriegsverwaltungsapparate ein Produkt kommunaler Improvisation und (später auch) staatlicher Intervention. Mit der Gründung einer Reihe neuer Verwaltungsgremien und Institutionen sollte eine rasche Handlungsfähigkeit vor allem in den Bereichen der städtischen Fürsorge und der Lebensmittelversorgung hergestellt werden. Je länger der Krieg andauerte, desto mehr waren die Berliner und Wiener
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Wiener Bevölkerung und die Folgen des Ersten Weltkriegs, Ausstellungskatalog des Wiener Stadtund Landesarchivs, Reihe B, Heft 90, Wien 2014, S. 14. »Wirtschaftlicher Zusammenbuch in einem europäischen Kriege – Teuerungspolitik«, in: Vorwärts, 2. August 1914, abgedruckt bei Bönisch, Monika, Herrad-Ulrike Bussemer und Susanne Rouette: »Dokumentation: Der Kriegsbeginn in den Schlagzeilen«, in: August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg, hg. Von der Berliner Geschichtswerkstatt, Berlin 1989, S. 11–25, hier S. 21. Degethoff de Campos, Von der Armenpflege, S. 55. Kriegsjahresbericht vom Berliner Brockenhaus über das Vereinsjahr 1916–1917, S. 2. LAB, A Rep. 001–02, Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1930. Vgl. Weigl, Mangel, S. 16.
III. Metropolen im Krieg
Stadtverwaltungen auf staatliches Handeln angewiesen und desto stärker setzten staatliche wie militärische Vorgaben und die realen Versorgungsbedingungen den kommunalen Eigeninitiativen Grenzen. Sowohl in Berlin als auch in Wien gehörte die frühzeitig eingeführte Massenverpflegung durch Großküchen zu den wichtigsten Notstandsmaßnahmen. Als eine Antwort auf den wachsenden Fürsorgebedarf und die zunehmenden Lebensmittelversorgungnöte fielen die städtischen Massenverpflegungsaktivitäten in die beiden zentralen kommunalen Kriegsverwaltungsbereiche. Mit ihrer wachsenden Inanspruchnahme durch große Teile der Bevölkerung und der mit ihr verbundenen Möglichkeit des sparsamen Kochens weckten sie ein zunehmendes staatliches Interesse am Ausbau der Großküchen. Im Verlauf des Krieges entwickelten sich die öffentlichen Massenküchen für viele Großstädter und ihre Familien zwangsläufig zu einer unentbehrlichen Einrichtung des öffentlichen Lebens.
1| Die Auswirkungen des Krieges auf Verwaltung und Gesellschaft in Wien und Berlin 1.1 Improvisierende Behörden: Zwei Stadtverwaltungen im Ausnahmezustand Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erweiterte sich das Spektrum der von den Kommunalverwaltungen zu bewältigenden Aufgaben innerhalb weniger Tage. Weder der Berliner Oberbürgermeister Wermuth noch der Wiener Bürgermeister Weiskirchner ahnten, welche Ausmaße die kommunalen Verwaltungsaufgaben annehmen sollten. Während die bisherigen Tätigkeiten der Selbstverwaltung den Kriegsverhältnissen und Forderungen der Militärverwaltungen angepasst werden mussten, verschaffte die Kriegssituation den Stadtverwaltungen eine Reihe neuer Aufgabengebiete, auf die sie nur partiell vorbereitet waren. Dabei deckten die Durchführung umfassender Kriegsfürsorge- und Kriegswohlfahrtsmaßnahmen sowie die dauerhafte Sicherstellung der Lebensmittelversorgung nur einen Teil der neuen kommunalen Aufgabenfelder ab.6 Die Stadtverwaltungen beider Hauptstädte waren mit ihren Vorkriegsstrukturen und ihrer personellen Ausstattung allein nicht in der Lage, den neuen Verpflichtungen angemessen nachzukommen. So reagierten die Verantwortlichen in Berlin und Wien während der ersten Kriegstage mit einer den Kriegsverhältnissen mehr oder weniger angepassten Umstrukturierung der Verwaltungsarbeit. Zugleich schlug die Stunde der
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Weitere Aufgabengebiete der Gemeinden waren, um nur einige Beispiele zu nennen, die Unterstützung bei der Mobilisierung, die Errichtung von Lazaretten, Baracken und Notspitälern und die Bekämpfung der Wohnungsnot sowie die seitens der Wiener Verwaltung zu gewährleistende Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. Vgl. hierzu u.a. Enderle-Burcel, Verwaltung, S. 280. Sowie Käber, Berlin, S. 1ff. Nicht unbedeutend für die Verwaltungsarbeit während der Kriegsjahre war darüber hinaus die permanente finanzielle Überforderung der Kommunen. Die weitreichende Selbstfinanzierung durch aufgenommene Kredite und Anleihen führte zu kommunalen Verschuldungen und brachte die beiden Hauptstädte in »budgetäre Extremsituationen«. Hierzu vgl. Eigner, Peter: »Der Krieg erobert die Stadt«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/der-krieg-erobert-die-stadt (04.05.2017). Siehe auch Enderle-Burcel, Verwaltung, S. 281. Käber, Berlin, S. 531ff.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
hilfswilligen Frauenbewegung, die durch den Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) sowie den Bund Österreichischer Frauenvereine (BÖFV) und der Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs (ROHÖ) organisatorisch und personell gut aufgestellt war und die Kriegsfürsorge an der Heimatfront zu ihrer nationalen Pflicht erklärte.
1.1.1
Eine ungeordnete Organisation: Die Berliner Kriegsverwaltung
Bereits einen Tag vor dem Mobilmachungstag, am frühen Abend des 31. Juli 1914 wurde für Berlin und die Provinz Brandenburg die ›Allerhöchste Verordnung‹ über den Kriegszustand veröffentlicht. Hiernach hatten die Zivil- und Gemeindebehörden fortan den Anforderungen und Aufträgen des Oberbefehlshabers in den Marken Gustav von Kessel (1846–1918) zu folgen, der mit der Ausrufung des Kriegszustandes die vollziehende Gewalt in Berlin und Brandenburg übernahm.7 Die Berliner Zivilverwaltung behielt jedoch ihre bisherigen Funktionen. Auf Anweisung des Oberkommandierenden Kessel sollte sie ihre bisherige Arbeitsweise beibehalten und sich der vollen Unterstützung des Oberkommandierenden gewiss sein.8 Die beiden obersten Gremien der Stadt, der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung, tagten nach Kriegsbeginn weiter, traten aber in Anbetracht der neuen Situation häufiger zusammen. Noch am Tag der Ausrufung des Kriegszustandes begründete der 36-köpfige Berliner Magistrat, der aufgrund seiner Größe zu »unbeweglich« war, um schnell auf die Fülle der bevorstehenden Aufgaben zu reagieren, eine Kommission für vorbereitende Maßnahmen.9 Diese setzte sich aus dem Oberbürgermeister, dem zweiten Bürgermeister Georg Reicke (1863–1923) und neun (später zwölf) weiteren Mitgliedern zusammen. Ohne dass der Magistrat seine Stellung als höchste Instanz einbüßte, wurde der Magistratskommission das Recht eingeräumt, sämtliche Beschlüsse zu fassen, die sich den städtischen Kriegsangelegenheiten widmeten.10 Dieser »kleine Magistrat«, der seit dem 19. August den Namen »Kriegskommission« trug, beriet sich seit dem 3. August wie der große Magistrat zunächst täglich, ab Ende September zweimal und ab 1917 einmal wöchentlich. Hinsichtlich der weiteren zu ergreifenden Verwaltungsmaßnahmen zeichnete das Berliner Stadtrecht auf einem Gebiet den Weg vor und lieferte theoretische Vorüberlegungen.11 Dies betraf den Bereich der städtischen Militäranliegen, die von einem Magistratsmitglied als Magistratskommissar für Militärangelegenheiten im so genannten
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Vgl. Wermuth, Adolf: Ein Beamtenleben. Erinnerungen, Berlin 1922, S. 380. Darüber hinaus wurde eine Reihe von Grundrechten, darunter die Freiheit der Person sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, außer Kraft gesetzt. Vgl. Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. IX. Zur Rolle des Oberkommandos in den Marken siehe ausführlich Yaney, The World, S. 49ff. Vgl. ebd., S. 57f. Vgl. Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. IX. Sowie Bötticher, Kerstin: »Der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen auf Berlin – eine Einführung«, in: Der Erste Weltkrieg in Dokumenten. Quellensammlung des Landesarchivs Berlin, hg. Vom Landesarchiv Berlin, Berlin 2017, S. 3–7, hier S. 4. Vgl. Käber, Berlin, S. 6f. Ausführlicher zur Zusammensetzung der Kriegskommission vgl. Wermuth, Beamtenleben, S. 361. Vgl. Käber, Berlin S. 5f. Ferner Liebrecht, Arthur: »Maßnahmen und Verordnungen der Gemeinde während des Krieges«, in: Berliner Fürsorge-Arbeit während des Krieges, hg. Von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1916, S. 27–33, hier S. 27. Wölbling, Berliner Stadtrecht, S. 216ff.
III. Metropolen im Krieg
»Militärbüro« verwaltet wurden. Das Aufgabenspektrum war fest geregelt und umfasste neben der lokalen Organisation der Heeresangelegenheiten vor allem die finanzielle Unterstützung der Angehörigen der zum Kriegsdienst eingezogenen Soldaten und die sich ihr anschließende Kriegswohlfahrtspflege. Nach dem am 4. August 1914 neu gefassten »Gesetz betreffend die Unterstützung von Familien in den Dienst getretener Mannschaften« vom 28. Februar 1888 gewährte das Reich Unterstützungsbeiträge für »Kriegerfamilien«. Während die Kosten vom Staat übernommen werden sollten, oblag die Durchführung der Familienunterstützung den Stadt- und Landkreisen, die in so genannte »Lieferungsverbände« umgewandelt wurden. So nahmen in Berlin unmittelbar nach der Mobilmachung 23 städtische Unterstützungskommissionen des Lieferungsverbandes ihre Arbeit auf. Diese Kriegsfürsorgestellen, die übereinstimmend mit den 23 Steuerbezirken eingerichtet wurden, bildeten die Grundstruktur der Kriegsfürsorge in Berlin.12 Für Fragen rund um das Unterstützungswesen und die Organisation der Unterstützungsbüros stand dem Magistratskommissar für Militärangelegenheiten ein »Unterstützungsausschuss« zur Verfügung, der sich u.a. aus Magistratsmitgliedern und Stadtverordneten zusammensetzte. Die gremienübergreifende Zusammenarbeit des Magistrats und der Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung in kommunalen Ausschüssen und Deputationen hatte sich bereits vor dem Krieg bewährt und zielte – nicht zuletzt aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeiten beider Gremien voneinander – stets auf gemeinsame Lösungen. In seiner Geschichte der Berliner Verwaltung während der Kriegsjahre betonte der frühere Direktor des Berliner Stadtarchivs Ernst Käber (1882–1961): »Viel hing für eine glückliche Führung der städtischen Geschäfte von dem Geist ab, in dem Magistrat und Stadtverordnete miteinander arbeiteten. Wer die Verhandlungsberichte der Stadtverordneten aus den Kriegsjahren liest, wird den Eindruck erhalten, daß dieser Geist durch das Bestreben gekennzeichnet ist, gemeinsam die Wege zu finden, auf denen die Reichshauptstadt durch alle Sorgen und Nöte hindurch in den ersehnten Frieden geführt werden konnte.«13 Die Zusammenarbeit beider Gremien während des Krieges war auch durch einen parteiübergreifenden Zusammenhalt geprägt. Entsprechend der »Burgfriedenspolitik« auf staatlicher Ebene stellten die Stadtverordneten ihre Interessensgegensätze für die Dauer des Krieges weitgehend zurück. Auch die Berliner Sozialdemokraten folgten zunächst der Parteilinie auf Reichsebene, die mit ihrer Unterstützung des Krieges weitergehende Ziele verfolgte. Die Parteispitze und Vertreter des rechten Flügels der SPD glaubten, dass die Eigendynamik des Krieges, der ohne die sozialdemokratische Arbeiterschaft nicht zu führen war, zwangsläufig eine innenpolitische »Neuorientierung« nach sich ziehen werde.14 Von ihrem Schulterschluss mit der Reichsregierung erhofften sie sich sowohl eine Reform des preußischen Wahlrechts als auch eine größere Akzeptanz ihrer Partei als
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Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 81. Käber, Berlin, S. 18f. Vgl. Auch Yaney, The World, S. 86ff. Vgl. Janz, 14, S. 199. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 77. Guttmann, Barbara: Weibliche Heimarmee. Frauen in Deutschland 1914–1918, Weinheim 1989, S. 123ff.
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Partner der bürgerlichen Kräfte.15 Mit zunehmender Kriegsdauer und dem Ausbleiben der erwarteten Reformen wuchs innerhalb der SPD jedoch die Skepsis gegenüber dem Kalkül der Parteispitze. So gab die sozialdemokratische Fraktion in der Berliner Stadtverordnetenversammlung den kommunalen Haushaltsplänen nur im ersten Kriegsjahr ihre Zustimmung. Spätestens ab dem Frühjahr 1916 bekamen die parteipolitischen Auseinandersetzungen aufgrund der sich verbreitenden Notsituation in der städtischen Bevölkerung neuen Aufwind. Innerhalb der Berliner SPD wuchs der Anteil der Friedensbefürworter und damit die Ablehnung der Aufrechterhaltung des »Burgfriedens«. Die wachsende Kriegsgegnerschaft in den sozialdemokratischen Reihen, die auf Reichsebene schließlich zur Spaltung der SPD und im April 1917 zur Gründung der neuen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) führte, tat der administrativen parteiübergreifenden Zusammenarbeit innerhalb der Berliner Stadtverordnetenversammlung jedoch keinen Abbruch.16 Die Organisationsstruktur des Militärbüros war beispielgebend für viele weitere Kriegsmaßnahmen, die von der Berliner Verwaltung ergriffen wurden. Eine bedeutende Rolle nahm auch das Generalbüro des Magistrats ein. Hier wurden zunächst alle Kriegsangelegenheiten, die nicht in den Verwaltungsbereich des Militärbüros fielen, bearbeitet. Das Generalbüro bildete damit die »Keimzelle« sämtlicher Kriegsaufgaben, die gemeinhin freiwillig, aber alles andere als einheitlich und in erster Linie durch Improvisation geregelt wurden.17 Während der ersten Kriegswochen bildeten die zunehmende Arbeitslosigkeit infolge der Umstellung auf die Kriegswirtschaft und die dauerhafte Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln die zwei Hauptaufgabenfelder des Generalbüros. Um das Problem der Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, wurde nach dem Muster des Militärbüros ein Magistratskommissar ernannt, der u.a. in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften die neu eingerichtete »Zentralstelle für Arbeitslosenfürsorge« leitete. Dieser unterstanden ebenfalls 23 Unterkommissionen, die nach dem Prinzip der Kriegsfürsorgestellen organisiert waren. Durch vermehrte Einberufungen zum Militär und die zunehmende Kriegsproduktion ging die Arbeitslosigkeit bereits nach einigen Wochen zurück. Stattdessen stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften. Während die Zahl der zu unterstützenden Erwerbslosen kontinuierlich
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Zudem sahen einige Sozialdemokraten im Staatsinterventionismus der Kriegswirtschaft einen ersten Schritt zur Verwirklichung des Sozialismus. Vgl. ausführlich zum Theorem des »Kriegssozialismus« Janz, 14, S. 200f. Vgl. Käber, Berlin, S. 19. Ferner Yaney, The World, S. 97. Zur Parteispaltung der SPD und Entstehung der USPD vgl. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 77ff. Sowie Weipert, Das Rote Berlin, S. 126ff. Die Gruppe der Kriegsgegner stellte innerhalb der Sozialdemokratie insgesamt zwar eine Minderheit dar. In Berlin und in einigen anderen Städten waren sie jedoch dominierend. So trat der Berliner SPD-Bezirk weitgehend geschlossen in die USPD über. Nach Axel Weipert zählte die USPD in Berlin im Juli 1917 etwa 28.000 Mitglieder. In der Berliner SPD (auch MSPD, Mehrheitssozialdemokratische Partei) verblieben hingegen nur rund 6.500 Mitglieder. Vgl. ebd., S. 129. Dementsprechend kam es innerhalb der Berliner Stadtverordnetenversammlung zur Gründung einer neuen Fraktion, der neben den USPD-Mitbegründern Adolph Hoffmann (1858–1930), Arthur Stadthagen (1857–1917) und Kurt Rosenfeld (1877–1943) u.a. auch die Stadtverordneten Emanuel Wurm (1857–1920) und Hermann Weyl (1866–1925) angehörten. Vgl. Käber, Berlin, S. 6 und S. 8.
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sank18 , gewannen mit der zunehmenden Zahl der Kriegshinterbliebenen und -beschädigten schon bald andere Kriegsfürsorgemaßnahmen an Bedeutung. So trugen seit dem Sommer 1915 die Kriegsbeschädigtenfürsorge und ab dem Sommer 1916 die Kriegshinterbliebenenfürsorge, die nach einem mit der Arbeitslosenfürsorge vergleichbaren Organisationsprinzip arbeiteten, dafür Sorge, dass die Betroffenen nicht in den Zuständigkeitsbereich der städtischen Armenfürsorge fielen.19 Schwieriger und umfangreicher gestaltete sich die langfristige Organisation der Lebensmittelversorgung in der Millionenmetropole. Während von der Verwaltung im ersten Kriegshalbjahr vor allem »planlos-eigennützige«20 Lebensmittelankäufe getätigt wurden, wurden ab Anfang des Jahres 1915 nach und nach städtische Lebensmittelbüros eingerichtet. Ausschlaggebend war hierbei die vom Oberbürgermeister Wermuth vorangetriebene Bundesratsverordnung vom 25. Januar 1915, die der Kriegswirtschaft die Grundlage gab und die Zuständigkeit der Gemeinden bei der Durchführung der Lebensmittelversorgung festschrieb.21 Daraufhin begründete die Kriegskommission eine unabhängig vom Generalbüro agierende »Magistratsabteilung für Brotversorgung«, der infolge der zunehmenden Versorgungsschwierigkeiten im Verlauf der Kriegsjahre mehr oder weniger improvisiert weitere Einrichtungen folgten. In einem Resümee Käbers wird deutlich wie ungeordnet die Lebensmittelversorgung in der Hauptstadt verwaltet wurde: »Es entstand die Abteilung für Hafer- und die für Kartoffelversorgung, die im Oktober 1915 vorübergehend in eine allgemeine Abteilung für Lebensmittelversorgung aufging, aus der sich 1916 wieder selbständige Abteilungen für Kartoffeln, Eier und Gemüse loslösten, so daß schließlich nur eine Abteilung für Fleischversorgung von der allgemeinen Lebensmittelabteilung übrig blieb. Butter war einige Zeit von ihr, dann von der Brotabteilung mit bearbeitet worden, verlangte aber auch nach einer eigenen Abteilung, während die Nährmittel erst bedeutend später von der Brotversorgung getrennt wurden. Das Jahr 1916 brachte schließlich noch Abteilungen für die Volksspeisung und für Zucker, Fische und Milch.«22 Neben diesen Magistratsabteilungen, in denen sich Beamte, Kaufleute und Hilfskräfte unter der Leitung eines Magistratsmitglieds der Lebensmittelbeschaffung annahmen,
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Die von der Stadt Berlin geleisteten Arbeitslosenunterstützungsbeiträge sanken zwischen Oktober 1914 und April 1916 von 800.000 Mark auf »nur« noch 68.000 Mark. Hierzu siehe Liebrecht, Maßnahmen, S. 30. Vgl. Käber, Berlin, S. 10. Insbesondere die Kriegsbeschädigten sollten nicht nur eine materielle Besserstellung, sondern auch eine intensivere und individuelle Beratung erfahren. Vgl. hierzu Sachße, Christoph und Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Stuttgart 1988, S. 55f. Wermuth, Beamtenleben, S. 364. Vgl. ebd., S. 368. Sowie Käber, Berlin, S. 8. Käber, Berlin, S. 18f. Vgl. auch ausführlicher ebd., S. 94ff. Sowie Yaney, The World, S. 86ff. Ferner Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 159. Die Berliner Lebensmittelorganisation war einer von mehreren Wegen die Versorgung sicherzustellen. Zu den Organisationsformen anderer deutscher Städte vgl. ebd.
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existierte darüber hinaus noch eine fünfzehnköpfige gemischte »Deputation für Lebensmittelversorgung«, in der wiederum gremien- und parteiübergreifende Absprachen sowie Beschlussfassungen rund um anstehende Versorgungsfragen zwischen dem Magistrat und den Stadtverordneten getroffen wurden.23 Diese Institution wurde als Folge der sich stets verschlechternden Versorgungslage der Stadt und des damit im Zusammenhang stehenden »Brotstreiks« im April 1917 fast vollständig durch die sogenannte »Arbeiterkommission« ersetzt, in der sich u.a. der Oberbürgermeister, weitere Magistratsvertreter und rund zwölf Arbeiterdelegierte wöchentlich über die städtische Lebensmittelversorgung berieten.24 Die Fülle der im Verlauf des Krieges errichteten Berliner Versorgungseinrichtungen lässt sich aufgrund wechselnder Zuständigkeiten, der sich stets wandelnden Versorgungsnot, der Zunahme gesetzlicher Verordnungen und staatlicher Eingriffe vor allem ab der zweiten Kriegshälfte sowie der daraus resultierenden unüberschaubaren Organisationsweise kaum vollständig darstellen.25 Über die genannten Versorgungsbehörden hinaus gilt es neben der im Sommer 1915 gegründeten »Preisprüfungsstelle Groß-Berlin« jedoch auch jene bedeutenden Institutionen zu benennen, die im direkten Kontakt mit der Bevölkerung standen und nicht nur deshalb einen enormen Arbeitsaufwand für die Hauptstadtverwaltung nach sich zogen. So entwickelten sich die 170 bis 246 »Brotkommissionen« für die Berliner zu den »vertrautesten Organe[n] der Kriegswirtschaft«26 . Diese wurden im Anschluss an die Gründung der Groß-Berliner »Brotkartengemeinschaft« und der sich ihr anschließenden Rationierung des Brotes durch die Einführung der Brotkarte im Februar 1915 vor allem in Schulen und öffentlichen Gebäuden eingerichtet. Als Bindeglied zwischen den städtischen Lebensmittelämtern und der Bevölkerung übernahmen die Brotkommissionen die wöchentliche Ausgabe und Verteilung der Brot- und später auch weiterer Lebensmittelkarten. Um dem Andrang von rund 12.000 Einwohnern je Brotkommission angemessen zu begegnen, war die Verwaltung auf ein Heer ehrenamtlicher Hilfskräfte angewiesen. Zahlreiche Lehrkräfte und Bezirksvorsteher übernahmen leitende Funktionen in den Brotkommissionen. Die mühevolle Ausgabe der Lebensmittelrationskarten wurde aber vor allem von weiblichen Hilfskräften erledigt, die sich im Rahmen des NFD engagierten. 23 24
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Vgl. Hirsch, Paul: Kriegsfürsorge in Berlin und Vororten, Berlin 1915, S. 64. Käber, Berlin, S. 9. Nach Dieter Baudis sei mit der Einrichtung der »Arbeiterkommission«, die ursprünglich von staatlichen Regierungsvertretern hätte geleitet werden sollen und letztlich von den Gemeindebehörden am Leben erhalten wurde, keine Verbesserung der Versorgungslage herbeizuführen gewesen. Vielmehr ging es darum, der unzufriedenen Arbeiterschaft ein Forum der Mitsprache zu geben, das sich beruhigend auf die Stimmung in der Bevölkerung auswirken sollte. Hierzu vgl. Baudis, Auswirkungen, S. 10. Wermuths Erinnerungen zufolge wirkte sich die Existenz der Arbeiterkommission jedoch kaum positiv auf die Unzufriedenheit der Arbeitermassen aus. Vgl. Wermuth, Beamtenleben, S. 378f. Ferner Allen, Keith R.: »Food and the German Home Front: Evidence from Berlin«, in: Braybon, Gail (Hg.): Evidence, History and The Great War, New York 2002, S. 172–197, hier S. 181f. Einen umfassenden und dennoch schwer erfassbaren Überblick liefert die von Adolf Wermuth in Auftrag gegebene und von Ernst Käber verfasste Geschichte der Berliner Verwaltung während des Ersten Weltkrieges »Berlin im Weltkriege. Fünf Jahre städtischer Kriegsarbeit«, die drei Jahre nach Kriegsende veröffentlicht wurde. Käber, Berlin, S. 12. Vgl. auch ebd., S. 161f. Sowie Bötticher, Einführung, S. 4f.
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1.1.2 Ein »Hilfsheer« für die Verwaltung: Der Nationale Frauendienst in Berlin Der NFD konstituierte sich noch bevor die Nachricht von der Mobilmachung bekanntgegeben wurde auf Initiative des Bundes Deutscher Frauenvereine und seiner Vorsitzenden Gertrud Bäumer (1873–1954). Aus Sicht des BDF eröffnete der Krieg »neue Wirkungskreise und neue Verantwortung für die brachliegenden Kräfte der Frauen«27 . Für diese bot der Krieg die Gelegenheit, die eigene Emanzipation voranzutreiben. Am 31. Juli 1914 wurden alle dem Bund angeschlossenen Vereine und Verbände von Bäumer aufgefordert, sich mit dem Vaterländischen Frauenverein, dem Roten Kreuz sowie den zuständigen Wohlfahrtsbehörden und privaten Wohltätigkeitsvereinen in Verbindung zu setzen, um die Gründung des NFD als umfassende Organisation der Kriegsfürsorge auf den Weg zu bringen.28 Nachdem das Preußische Innenministerium Bäumers Plan bereits am 1. August 1914 genehmigt hatte, entstanden in der Hauptstadt und allen größeren Städten des Reiches Ortsgruppen dieser nationalen Frauenhilfsorganisation, die sich den städtischen Kriegsfürsorgeverwaltungen zur Verfügung stellten. »In Berlin«, so Bäumer, »schlossen sich nicht nur sämtliche dem Bund angehörigen Frauenvereine zusammen, sondern auch eine Anzahl außerhalb des Bundes stehender konfessioneller Vereine, sowie die Gesamtorganisation der sozialdemokratischen Frauen.«29 Die Beteiligung letzterer an der Kriegsfürsorgearbeit war innerhalb der Sozialdemokratie nicht unumstritten. Doch angesichts der Notlage und im Interesse des Burgfriedens wurden grundsätzliche politische Bedenken bis auf weiteres zurückgestellt: »Offensichtlich war es vielen sozialdemokratischen Frauen, unabhängig von ihrer Haltung zum Krieg und zu den Kriegskrediten, in den ersten Kriegsmonaten selbstverständlich, in der Kriegswohlfahrt mitzuarbeiten. […] In Berlin meldeten sich ungefähr 600 Sozialdemokratinnen, um ihre Mitarbeit anzubieten. Die durch den Krieg bedingte immense Erwerbslosigkeit, die allgemeine Unsicherheit und Ratlosigkeit, die die Umstrukturierung in eine Kriegsgesellschaft begleiteten, trafen besonders Arbeiterfrauen und -kinder. Ihnen zu helfen, ihre Interessen zu vertreten, war ein unerschütterlicher Grundsatz sozialdemokratischer Politik.«30
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Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 79. Vgl. Riesenberger, Dieter: Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1964–1990, Paderborn 2002, S. 171. Sowie Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 57. Bäumer, Die Tätigkeit, S. 102. Der BDF allein umfasste bereits rund 33.000 Vereine und etwa 600.000 Mitglieder. Hierzu gehörten seit 1908 der Deutsch-Evangelische Frauenbund und seit 1907 der Jüdische Frauenbund. Dem überkonfessionellen und überparteilichen NFD traten nun auch der Katholische Frauenbund sowie Gewerk- und Genossenschaften bei. Hierzu siehe Bussemer, Herrad-Ulrike: »›Weit hinter den Schützengräben‹: Das Kriegserlebnis der bürgerlichen Frauenbewegung«, in: August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg, hg. Von der Berliner Geschichtswerkstatt, Berlin 1989, S. 136–146, hier S. 137. Eifert, Wann kommt, S. 105. Sowie Boyd, Nationaler Frauendienst, S. 58. Eifert, Wann kommt, S. 106. Ein prominentes Beispiel war das SPD-Parteivorstandsmitglied Luise Zietz (1865–1922), die innerhalb des Vorstandes gegen die Bewilligung der Kriegskredite votierte und dennoch zur »Hilfsaktion der Proletarierinnen« aufrief. Hierzu ebd., S. 105. Sowie »Die proletarische Hilfsaktion«, in: Vorwärts, 11. August 1914. Zietz, Luise: Die sozialdemokratischen Frauen und der Krieg, Berlin 1915, S. 6ff.
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Der NFD organisierte somit innerhalb kürzester Zeit eine große Gruppe von Hilfswilligen. Keith R. Allens Ausführungen zufolge waren im Verlauf des Krieges Zehntausende Frauen im Dienst der Berliner Kriegsfürsorgearbeit des NFD tätig.31 Dieser arbeitete in enger Verbindung mit der Kriegsfürsorgeverwaltung der Reichshauptstadt. Er gliederte sich an die städtischen Kriegsfürsorgestellen respektive Unterstützungsbüros an und bildete parallel seine 23 Hilfskommissionen, die sowohl den Unterstützungsbüros mit Recherchetätigkeiten zuarbeiteten als auch einer Reihe eigenständiger Aufgaben nachgingen. In Hinblick auf die früh einsetzenden und zunehmenden Versorgungsprobleme entwickelte sich die Lebensmittelanweisung durch die Hilfskommissionen zu einem bedeutsamen Tätigkeitsfeld. Im Rahmen dessen unterstützte der NFD nicht nur die städtischen Brotkommissionen und Bezugsscheinstellen mit weiblichen Hilfskräften, sondern übernahm auch – wie in Kapitel 2.1. zu sehen sein wird – die Organisation und Koordination der Volksküchen und Speisehallen sowie die Einrichtung von Essensausgabestellen. Auch wurden Hausfrauenberatungsstellen aufgebaut, die Versammlungen für Köchinnen und Hausfrauen organisierten. Hierbei wurden Kochvorführungen sowie Vorträge zu physiologisch-hygienischen Aspekten und zur »Küchentechnik« abgehalten.32 Darüber hinaus beteiligten sich die Hilfskommissionen maßgeblich an offiziellen Kriegsfürsorgemaßnahmen der Unterstützungsbüros. »Es bildete sich die Praxis heraus«, so der Sozialhistoriker Rolf Landwehr, »daß die Mitglieder des N[ationalen] F[rauendienstes] zunehmend die gesamte Ermittlungsarbeit der Kriegsunterstützungskommissionen im Außendienst übernahmen.«33 Ebenso betätigten sich die Frauen auf dem Gebiet der Arbeitsbeschaffung und -vermittlung. Die Hilfsstellen richteten Strickund Nähstuben sowie Heimarbeitsausgabestellen ein und organisierten die »Anlernung und Umschulung von Frauen zu Näherinnen, Verkäuferinnen, Buchhalterinnen, Stenographinnen, Köchinnen und Hauswirtschafterinnen«34 . Neben diesen Aufgabenschwerpunkten erteilten die Hilfskommissionen Auskunft über jegliche Maßnahmen der Kriegsfürsorge. Die Bedeutsamkeit der dafür eingerichteten Sprechstunden kommt in einem von der Sozialarbeiterin Josephine Levy-Rathenau (1877–1921) verfassten Rückblick auf die Arbeit der Berliner Abteilung des NFD zum Ausdruck: »23 Hilfskommissionen, verschiedenartig in ihren Arbeitsmethoden, wie Individualität der Leiterinnen und örtliche Verhältnisse es bedingten, hatten übereinstimmend den Wunsch, nicht lediglich materielle Nöte zu lindern, sondern Stätten der freundschaftlichen Beratung und vertrauensvollen Beziehungen bilden zu können.«35 31 32
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Vgl. Allen, Food, S. 188. Vgl. Bäumer, Die Tätigkeit, S. 106. Siehe auch dies. und Albert Moll: »Aufklärungsdienst für die Volksernährung in der Reichshauptstadt«, in: Medizinische Reform, Halbmonatsschrift für soziale Hygiene und praktische Medizin Nr. 6 (1915), Sonderabdruck. GStAPK, I. HA Rep. 76, VIII B, Nr. 2045. Sowie Bussemer, Weit hinter, S. 140. Landwehr, Funktionswandel, S. 81f. Eifert, Christiane: »Frauenarbeit im Krieg. Die Berliner ›Heimatfront‹ 1914 bis 1918«, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 21/3 (1985), S. 281–295, hier S. 284. Ferner Bussemer, Weit hinter, S. 139. Nationaler Frauendienst in Berlin: 1914–1919. Hg. Vom Nationalen Frauendienst, Berlin 1919, S. 3.
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So dienten die Hilfsbüros des im Vergleich zur Berliner Verwaltung hervorragend organisierten NFD oftmals als Vermittlungsinstanz zwischen dem Verwaltungsapparat und den vielen nach Hilfe und Orientierung suchenden bedürftigen Frauen.
Abbildung 2: Besucherzahlen der Berliner Hilfskommissionen des NFD (1914–1915)
Gesamtzahl der Besucher: 693.452. Wiederkehrende Unterstützungsfälle sind inbegriffen, da die Kommissionen wöchentliche Zählungen der Fälle vornahmen. Am höchsten lag die Anzahl der zu unterstützenden Fälle in den Monaten September und Oktober 1914 mit jeweils über 100.000 Gesuchen. Am niedrigsten waren die Fallzahlen hingegen im April und Mai 1915 mit je rund 40.000 Unterstützungsfällen. Quelle: Angaben übernommen und errechnet nach Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 11.
Aus dem Tätigkeitsbericht des Berliner Frauendienstes über das erste Kriegsjahr geht hervor, dass zwischen Mitte August 1914 und Ende Juni 1915 insgesamt 693.452 Unterstützungsfälle von den 23 Kommissionen bearbeitet wurden (Abb. 2).36 Die ehren- und hauptamtlich tätigen Frauen des NFD genossen seitens der kommunalen Entscheidungsträger vollstes Vertrauen und fassten auch infolge des schrumpfenden Personalbestandes mehr und mehr Fuß in der Berliner Verwaltung. »Die bürgerliche Frauenbewegung erreichte«, so resümierte die Berliner Historikerin Herrad-Ulrike Bussemer, »in der Ausnahmesituation des Krieges mit einem Schlage, wofür sie in den Jahrzehnten zuvor weitgehend vergeblich gekämpft hatte: öffentliche Anerkennung und Integration ihrer Fürsorgearbeit in den Apparat der kommunalen Wohlfahrtspflege.«37 Wie das Aufgabenspektrum der Berliner Kriegsverwaltung nahmen auch die Verantwortungsbereiche des NFD im Verlauf des Krieges immerfort zu. Die Mehrarbeit leistete 36
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Wiederkehrende Unterstützungsfälle sind inbegriffen, da die Kommissionen eine wöchentliche Zählung der Fälle vornahmen. Vgl. Nationaler Frauendienst: Kriegsjahr 1914–1915. Abteilung Berlin, hg. Vom Nationalen Frauendienst, Berlin 1915, S. 11. Ferner Bussemer, Weit hinter, S. 139. Ebd., S. 140f. Dennoch blieben den Frauen des NFD Sitz und Stimme in den entscheidenden städtischen Gremien versagt. An den Sitzungen der Kriegskommission nahmen sie, wenn es die Tagesordnung gestattete, häufig nur beratend teil. Vgl. Eifert, Frauenarbeit, S. 284f. Ferner Nationaler Frauendienst in Berlin 1914–1917, Berlin 1917, S. 7. Kundrus, Birthe: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995, S. 106.
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der NFD jedoch mit einer während der Kriegsjahre sinkenden Zahl weiblicher Hilfskräfte. Vor allem sozialdemokratische und gewerkschaftliche Frauendienstlerinnen nahmen häufiger Abstand von der Arbeit des NFD. Wie die Historikerin Christiane Eifert darlegt, waren es anfänglich häufig persönliche Gründe, die zur Aufgabe der sozialdemokratischen Mitarbeit in der Kriegswohlfahrtspflege während der ersten beiden Kriegsjahre führten: »An erster Stelle gilt es zu berücksichtigen, daß die Frauen in wachsendem Ausmaß damit beschäftigt waren, den Lebensunterhalt ihrer eigenen Familie sicherzustellen. Der Zwang zur Erwerbstätigkeit wuchs mit der Teuerung, die Hausarbeit nahm mit der Bewirtschaftung der Lebensmittel immer mehr Zeit in Anspruch. […] Außerdem […] änderten immer mehr Sozialdemokratinnen ihre Haltung, lehnten den Krieg ab und blieben deshalb auch der Kriegswohlfahrt fern.«38 Immer öfter kam es aber auch zu Konflikten zwischen bürgerlichen Frauen und Sozialdemokratinnen und Gewerkschafterinnen. Im Gegensatz zu der kontinuierlich anhaltenden überparteilichen Zusammenarbeit eines Großteils der Stadtverordneten gelang es dem NFD nicht, die gemeinsame Bündnisarbeit bis zum Ende des Krieges aufrechtzuerhalten. Die sozialdemokratische Kritik am Umgang der bürgerlichen Frauen mit den Hilfesuchenden, die wachsende Kriegsgegnerschaft in den Reihen der Sozialdemokratie und Gewerkschaften sowie die mit ihr verbundene Spaltung der SPD führten u.a. dazu, dass sich die proletarische Kriegswohlfahrtsarbeit seit Anfang des Jahres 1916 auf eigene, vom NFD getrennte Initiativen beschränkte und nur noch vereinzelt sozialdemokratische und gewerkschaftliche Hilfsarbeiterinnen für die Tätigkeiten des NFD zur Verfügung standen.39 Diese Entwicklung minderte jedoch keinesfalls die umfänglichen Leistungen, die der Einsatz der freiwillig mithelfenden Frauen an der Berliner Heimatfront mit sich brachte. Das »Frauenheer der Hilfe« gewährleistete die Handlungsfähigkeit der Berliner Kriegsverwaltung, die infolge der wachsenden Not in der Bevölkerung sowohl in der Kriegsfürsorgearbeit als auch auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung immer häufiger durch die Einflussnahme staatlicher Institutionen herausgefordert wurde.40
1.1.3 Zwischen Staatsverordnungen und Eigeninitiativen: Die Wiener Zivilverwaltung Während die Berliner Verwaltung vor allem ab der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges die staatlichen und militärischen Interventionen in den Bereichen kommunaler Selbstverwaltung verstärkt zu spüren bekam, arbeitete die Verwaltung der Habsburgermetropole bereits seit Kriegsbeginn unter dem Druck der Zentralbehörden und einer zunehmend an Übermacht gewinnenden Militärverwaltung. Mit dem Ausbruch des Krieges trat in der Donaumonarchie zum einen das »Kriegsleistungsgesetz« aus dem Jahr 1912 in Kraft, dessen Bestimmungen eine umfassende Militarisierung des gesellschaftlichen Alltags vorsahen und diktatorische Maßnahmen in die Wege leiteten,
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Eifert, Wann kommt, S. 107. Vgl. ebd., S. 108ff. Sowie dies., Frauenarbeit, S. 285f. Zur Würdigung der Leistung der weiblichen Hilfskräfte in Berlin vgl. Allen, Food, S. 188.
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die über die Sicherung der Mobilisierung hinausgingen.41 Zum anderen traten mit dem Ausnahme- und Notverordnungsrecht der Dezemberverfassung von 1867 eine Reihe von Ausnahmebestimmungen in Kraft, welche die staatsbürgerlichen Grundund Freiheitsrechte aufhoben oder einschränkten sowie Verwaltungs- und Wirtschaftskompetenzen zugunsten des Militärapparats verschoben.42 Da das österreichische Parlament bereits seit März 1914 infolge von Obstruktion nicht einberufen wurde, unterstand die cisleithanische Reichshälfte Österreich-Ungarns bis zum Frühjahr 1917 keiner parlamentarischen Kontrolle und war daher stärker von diesen Entwicklungen betroffen als die transleithanische Reichshälfte, in der das ungarische Parlament weiterhin zusammentrat. Nach Christoph Tepperberg konnte die Zivilregierung des Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh (1859–1916) von der Sistierung des Reichsrates nicht profitieren.43 Vielmehr büßte die österreichische Zentralverwaltung als ein Verwaltungsapparat ohne politische Legitimation gegenüber der Militärverwaltung und den Armeeoberkommandos, deren Wirkungs- und Einflussbereiche im Verlauf des Krieges stetig zunahmen, immer mehr an Autorität ein. »So herrschten in der österreichischen Reichshälfte allmählich Verhältnisse, die einer Militärdiktatur ziemlich nahe kamen.«44 Die Dominanz der militärischen Instanzen hatte auch Auswirkungen auf die Wiener Gemeindeverwaltung, die ihrer Pflicht nachkam und die kriegsnotwendigen Verordnungen und Bestimmungen ausführte. Dabei sah sie sich einerseits stets gezwungen, ihre Selbstverwaltungskompetenzen in regelmäßig wiederkehrenden Auseinandersetzungen mit der Militärverwaltung über Autonomiefragen zu verteidigen, und war andererseits in Anbetracht der im Verlauf des Krieges wachsenden und kaum noch zu bewältigenden Aufgaben immer mehr auf die Unterstützung der Militär- und der Zentralbehörden angewiesen.45 41 42
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Vgl. Enderle-Burcel, Verwaltung, S. 276. Vgl. Tepperberg, Christoph: »Totalisierung des Krieges und Militarisierung der Zivilgesellschaft: Militärbürokratie und Militärjustiz im Hinterland. Das Beispiel Wien«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 264–273, hier S. 265. Vgl. auch Zenzmaier, Jakob: »Die Totalisierung des Militärs. Der Erste Weltkrieg und die Ausnahmeverfügungen«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/die-totalisierung-des-militaers-der-er ster-weltkrieg-und-die-ausnahmeverfuegungen (19.06.2017). Die Verordnungen beruhten größtenteils auf dem Paragraph 14 (dem sogenannten »Diktatur-Paragraphen«) der Dezemberverfassung von 1867. Hierzu siehe Enderle-Burcel, Verwaltung, S. 276. Eine Zusammenstellung der Ausnahmegesetze findet sich bei Koller, Alexander: Ausnahms-Gesetze und Verordnungen für den Kriegsfall in der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1914. Vgl. Tepperberg, Totalisierung, S. 267. Ebd., S. 267f. Vgl. auch Enderle-Burcel, Verwaltung, S. 276f. Nach Jakob Zenzmaier seien eine Reihe von militärischen Institutionen, darunter das Kriegsüberwachungsamt, das Kriegsministerium und das k. u. k. Armeeoberkommando, für die Errichtung dieser »Beinahe-Diktatur« von zentraler Bedeutung gewesen. Hierzu ders., Die Totalisierung (oben Kapitel iii, Anm. 42). Eine Milderung der Kriegsdiktatur setzte erst mit der Wiedereinberufung des Reichsrates und der Rücknahme von Ausnahmeverordnungen unter Kaiser Karl i. (1887–1922) ein. Vgl. Mertens, Christian: »Die Wiener Stadtverwaltung im Ersten Weltkrieg«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 284–291, hier S. 285. Sowie Eigner, Der Krieg (oben Kapitel iii, Anm. 6). Nach Alfred Pfoser besaß die Gemeinde zum einen eine relative Autonomie in den Entscheidungen des selbstständigen Wirkungskreises und war zum anderen nachgeordnete Instanz der mittelbaren Zentralverwaltung. Im übertragenen Wirkungsbereich hatte sie Erlässe seitens der Regierung und der
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Die Wiener Stadtverwaltung hatte wie jene in Berlin ihre Arbeit unmittelbar zu Kriegsbeginn sehr schnell den lange vorbereiteten gesetzlichen Vorgaben und der Kriegssituation anzupassen. Ebenso wie die Berliner Behörden war sie nur sehr begrenzt auf das Ausmaß der neuen Aufgaben vorbereitet, sodass auch die Wiener Kommunalverwaltung in den ersten Kriegswochen im Wesentlichen improvisiert handelte. In seiner ersten und vorerst letzten Sitzung während des Krieges hatte der Wiener Gemeinderat am 22. September 1914 eine Fülle an provisorischen Verfügungen nachträglich zu genehmigen. Zugleich wurde Bürgermeister Weiskirchner bevollmächtigt, »alle in der Gemeindeverwaltung notwendigen Anordnungen und Verfügungen, insbesondere auch in finanzieller Hinsicht, unter seiner Verantwortung zu treffen und sie zu einem geeigneten Zeitpunkt – spätestens nach Kriegsende – nachträglich genehmigen zu lassen«46 . Bis zum Februar 1916 blieben die Beratungen des Gemeinderates unterbrochen. Stattdessen führte Weiskirchner mit der sogenannten »Obmänner-Konferenz« ein neues Gremium ein, das sich als eine ständige Kriegsinstitution der österreichischen Hauptstadt etablierte: »Da eine Beratung und Beschlußfassung in den mit dem Kriege zusammenhängenden Fragen in öffentlicher Gemeinderatssitzung aus den verschiedensten Gründen nicht ratsam erschien, berief Bürgermeister Dr. Weiskirchner von Fall zu Fall vor wichtigen Entscheidungen die Obmänner der Gemeinderatsparteien zu weiteren Konferenzen, um, gestützt auf ihre Zustimmung, den drängenden Forderungen des Tages mit der gebotenen Raschheit entsprechen zu können.«47 Die im Gemeindestatut gar nicht vorgesehene Institution der Obmänner-Konferenz trat bereits am 28. Juli 1914 das erste Mal zusammen und beriet sich bis zum 16. Dezember 1918 in insgesamt 112 Sitzungen über kriegswichtige Angelegenheiten. Damit übernahm sie gewissermaßen die Funktion des Gemeinderates, wobei Weiskirchnner einen Teil seiner Verantwortung an die Opposition abgab, der das Gremium Mitwirkungsund Kontrollrechte einräumte.48 So wurden unter dem Vorsitz des Bürgermeisters über die Fachbeamten des Magistrats hinaus einzelne Vertreter der christlichsozialen, der deutschfreiheitlichen und erstmals auch der sozialdemokratischen Fraktion an der kommunalpolitischen Entscheidungsfindung beteiligt. Wie in Berlin stellten die Parteien ihre grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten bis Anfang 1918 im Interesse der gemeinsamen Anstrengungen und zur Wahrung der Ruhe in der Habsburgermetropole zurück. Nach dem Wiener Historiker Alfred Pfoser gelang Weiskirchner mit der
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niederösterreichischen Statthalterei zu vollziehen. Vgl. hierzu ders.: »Die ›Approvisionierung‹«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.ne t/de/kapitel/die-approvisionierung (22.06.2017). Mertens, Die Wiener, S. 285. Die Tätigkeit der Wiener Gemeindeverwaltung in der Obmänner-Konferenz während des Weltkrieges, Band 1, Wien 1917, [S. 3]. Vgl. Mertens, Christian: Richard Weiskirchner (1861–1926). Der unbekannte Wiener Bürgermeister, Wien 2006, S. 143. Sowie Pfoser, Alfred: »Das politische System: Die Obmännerkonferenz und der Gemeinderat«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: h ttps://ww1.habsburger.net/de/kapitel/das-politische-system-die-obmaennerkonferenz-und-dergemeinderat (20.06.2017).
III. Metropolen im Krieg
Einbindung der sozialdemokratischen Opposition bei der Lösung der kriegsbedingten Probleme und dem hierdurch hergestellten »Burgfrieden« ein »politischer Coup, der – trotz aller Konflikte in den Jahren 1916 bis 1918 – die ganze Kriegszeit«49 bis über das Kriegsende hinaus wirkte. Die den Krieg prinzipiell ablehnenden Sozialdemokraten wussten um die Bedeutung ihrer Einbindung in die Beratungen über die Kriegsmaßnahmen und nutzten die Möglichkeit einige programmatische Forderungen in die politische Kriegsarbeit hineinzutragen. Umgekehrt hatten sie mit der Übernahme der Mitverantwortung jedoch auch die Maßnahmen zur Disziplinierung der Arbeiterschaft mitzutragen, was sich angesichts der zunehmenden Streiks in Wien im Verlauf des Krieges zu einer kontinuierlichen Herausforderung entwickelte. Dabei waren die Sozialdemokraten stets bestrebt, den Frieden innerhalb der Arbeiterschaft zu wahren.50 Anders als in Berlin und im Deutschen Reich kam es in den sozialdemokratischen Reihen Wiens und Österreichs zu keiner vergleichbaren Spaltung. Demzufolge zogen die Verantwortlichen aller Parteien in der Kriegsverwaltung seit dem Ausbruch des Krieges an einem Strang und unterstützten den Bürgermeister bei der Umsetzung der Regierungserlässe. In seiner Funktion als »militärisches Logistikzentrum« der Habsburgermonarchie befand sich Wien nach Kriegsausbruch in einer besonderen Lage. Die Stadt war »das zentrale Verwaltungszentrum aller Kriegsanstrengungen an der Front und im Hinterland«51 und musste sich bereits in den ersten Kriegswochen mit Aufgaben und Verpflichtungen auseinandersetzen, die Berlin in der Fülle nicht zu bewältigen hatte. Innerhalb kürzester Zeit strömten täglich Massen an Militärs in die Hauptstadt, die einquartiert werden mussten und die Kapazitäten der vorhandenen Kasernenhöfe überstiegen. Für die Beherbergung Zehntausender Soldaten galt es, Schulen und leerstehende Gebäude militärischen Zwecken zuzuführen.52 Noch vor Ende August 1914 trafen zudem täglich unzählige Verwundete und Kriegsversehrte in Wien ein, so dass sich die Bautätigkeit der Stadt rasch auf die Errichtung von Baracken und Lazaretten konzentrierte. Um die ärztliche Versorgung der Zehntausenden (und bald Hunderttausenden) verletzten Soldaten zu gewährleisten, entstanden allein bis zum Frühjahr 1916 über Hundert Spitäler.53 Es waren aber nicht nur die kaum zu bewältigenden Massen an Verwundeten, die die Kommunalbehörden vor enorme Herausforderungen stellten. Zeitgleich mit den ersten Kriegsversehrten erreichten Wien auch Tausende überwiegend mittellose Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten. Im September 1914 zählte die Stadt mehr als 70.000 Geflüch-
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Ebd. Ob Angst vor einer Militärdiktatur, der Ausschaltung der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften oder gar vor einem Bürgerkrieg in Österreich – Gründe für die defensive Taktik habe es Pfoser zufolge zahlreiche gegeben. Hierzu vgl. ebd. Pfoser, Alfred und Andreas Weigl: »Die Pflicht zu sterben und das Recht zu leben. Der Erste Weltkrieg als bleibendes Trauma in der Geschichte Wiens«, in: dies., Epizentrum, S. 14–31, hier S. 16. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. Eigner, Peter: »Umbauen für den Krieg: Die Baracken- und Lazarettstadt Wien«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/ umbauen-fuer-den-krieg-die-baracken-und-lazarettstadt-wien (30.07.2020).
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
tete, deren Zahl in den folgenden Monaten weiter zunahm.54 Im Jahr 1915 hielten sich schätzungsweise 200.000 Flüchtlinge in Wien auf, von denen rund zwei Drittel materiell versorgt werden mussten. Durch den nicht abreißenden Zustrom an Soldaten, Verwundeten und Geflüchteten stieg die Zahl der in Wien lebenden Menschen zeitweise auf über 2,4 Millionen.55 Vor allem mit Blick auf die Sicherstellung und Organisation einer ausreichenden Lebensmittelversorgung, die sich wie in Berlin sehr früh zu einem der wichtigsten Betätigungsfelder der Wiener Stadtregierung entwickelte, bedeutete der Bevölkerungszuwachs für die Stadt eine enorme Mehrbelastung. In den ersten Kriegswochen kam es zu starken Preissteigerungen auf den Märkten der Habsburgermetropole, die die ersten Teuerungsdemonstrationen herbeiführten und auf Hamsterkäufe, Preistreiberei, Transportprobleme, vor allem aber auf ausbleibende Lebensmittelimporte aus Ungarn zurückzuführen waren.56 Im Frühjahr 1915 setzte die schrittweise Rationierung der Grundnahrungsmittel ein. Die »Verwaltung des Mangels« begann auch hier mit der Einführung der Mehl- und Brotkarte. Wie in der deutschen Hauptstadt richtete Wien auf Anordnung der Regierung im April 1915 Brotkommissionen für die Kartenausgabe ein. Deren mühsamer Betrieb wurde durch städtische Lehrkräfte gewährleistet, die in den 401 (später 413) Brotkommissionen allein bei der ersten Kartenausgabe 1.995.113 Personen mit Brotmarken versorgten.57 Es dauerte nicht lange und weitere Lebensmittelkarten gelangten in den Kommissionen zur Ausgabe. Die Gesamtleitung und Organisation des Lebensmittelkartensystems übernahm die eigens im Rathaus eingerichtete »Brot- und Mehlkartenzentrale«, die im Dezember 1916 in der »Stelle für städtische Lebensmittelversorgung« (ab April 1917 »Bezirkswirtschaftsamt Wien«) aufging. Die Behörde war dem Magistratsdirektor direkt unterstellt und gliederte sich in acht Abteilungen, die u.a. der Beschaffung und Sicherstellung der verschiedenen staatlich bewirtschafteten Lebensmittel und Waren dienten.58 Ihre Tätigkeiten hatten sich an den Vorgaben und Anweisungen der staatlichen Behörden zu orientieren, die jedoch mit den tatsächlichen Versorgungsbedingungen der Gemeinde oftmals kaum in Einklang zu bringen waren. Der Wiener Bürgermeister beklagte wiederholt das Missverhältnis von Theorie und Praxis in der Versorgung der Donaumetropole und scheute sich nicht, seine Kritik an der Zentralverwaltung offen auszusprechen: »Ich will nicht bitter werden. Was für Verordnungen wurden am grünen Tisch durchbesprochen […] und die Durchführung? – Lieber Bürgermeister, das ist Deine Sache! Das Verordnen ist leicht und die Herren, die da an den grünen Tischen sitzen, haben nicht immer jene Kenntnis des Volks- und Wirtschaftslebens […], um ermessen zu können,
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Vgl. Eigner, Peter: »›Flüchtlingslager‹ Wien«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/fluechtlingslager-wien (30.07.2020). Vgl. auch Pfoser/Weigl, Die Pflicht, S. 18. Vgl. ebd. Vgl. Weigl, Mangel, S. 15. Hierzu und zur generellen Entwicklung der Lebensmittelversorgung ausführlich unter 1.3. in Kapitel iii. Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 373. Sowie Löwenfeld-Russ, Die Regelung, S. 329. Hierzu vgl. ausführlich Mertens, Weiskirchner, S. 155. Sowie ders., Die Wiener, S. 286. Im Februar 1918 erfolgte darüber hinaus die Einrichtung des »Städtischen Landwirtschaftsamtes«, das die Koordinierung aller landwirtschaftlichen Aktivitäten der Gemeinde übernahm. Vgl. ebd., S. 286f.
III. Metropolen im Krieg
wie die Durchführung zu besorgen ist[.] Da oben sitzen jene Männer, welche […] keine Ahnung von dem wirtschaftlichen Leben einer Zweimillionenstadt haben.«59 Auch auf dem Gebiet der Kriegsfürsorge hatte die Wiener Stadtverwaltung ihre sozialen Aktivitäten mit den staatlichen Vorgaben in Einklang zu bringen. Wie im Deutschen Reich gewährte auch Österreich nach dem »Gesetz über den staatlichen Unterhaltsbeitrag für die Angehörigen von Mobilisierten« vom 26. Dezember 1912 eine finanzielle Unterstützung für Kriegerfamilien. Im Rahmen des übertragenen Wirkungsbereiches war die Mitarbeit der Wiener Stadtverwaltung bei der Durchführung des Kriegsunterhaltsgesetzes gefragt. So übernahmen die Bezirksämter der Gemeinde die Entgegennahme der Anspruchsanmeldungen und deren Prüfung auf Rechtmäßigkeit. Während die Entscheidungen über die Gesuche in Anwesenheit jeweils eines Gemeindevertreters in den zwanzig Unterhaltskommissionen bei der niederösterreichischen Statthalterei fielen, wurden die Unterhaltsauszahlungen über die kommunalen Hauptkassen abgewickelt.60 Doch nicht nur durch Verordnungen, sondern auch durch ein hohes Maß an kommunaler Eigeninitiative entstanden im Verlauf des Krieges eine Reihe städtischer Fürsorgeeinrichtungen als Antwort auf die drängendste Not in der Wiener Bevölkerung. Hierzu gehörten das im Oktober 1915 gegründete Invalidenamt, das sich der Kriegsbeschädigten- und Hinterbliebenenfürsorge widmete; das im April 1916 geschaffene Städtische Jugendamt; das im Mai 1917 eingerichtete Arbeiterfürsorgeamt, das sich als Nachfolger des städtischen Arbeits- und Dienstvermittlungsamtes der Arbeitslosenfürsorge und der Arbeitsvermittlung annahm; und das im Juli 1917 errichtete Städtische Wohlfahrtsamt, »das alle sonstigen Fürsorgeagenden [umfasste], das heißt solche, die nicht in die Kompetenz der drei bisher genannten Stellen, des Wohnungsamts oder der Gesundheitsverwaltung fielen«61 . Die bedeutendste Institution der Wiener Kriegsfürsorge riefen Weiskirchner und seine Stadtverwaltung jedoch bereits in den ersten Kriegstagen ins Leben. Wie in der deutschen Hauptstadt richtete sich das Hauptaugenmerk der kommunalen Fürsorgeaktivitäten auf die über die staatlichen Versorgungsleistungen hinausgehende supplementäre Unterstützung der Familienangehörigen der einberufenen Soldaten sowie auf das Problem der hohen Arbeitslosigkeit. Unterstützt vom Land Niederösterreich rief der Bürgermeister am 30. Juli 1914 die Wiener zu freiwilligen Spenden für Kriegerfamilien auf und verkündete zugleich die Einrichtung der »Zentrale der Fürsorge für Soldaten und ihre Familienangehörigen«, die nur wenige Wochen später – nachdem sich herausstellte, dass die kriegsbedingte Not noch weitere Bevölkerungsteile
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»Zweite Vollversammlung der christlichsozialen Mandatare Wiens«, [S. 3], in: Wienbibliothek Digital, Konvolut Materialien zum 1. Weltkrieg. Kundmachungen, Erlässe, Drucksorten, Flugblätter, Rundschreiben etc. (1914–1919), zur Verfügung gestellt von der Wienbibliothek im Rathaus. Im Internet unter: https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/pageview/924 286 (13.04.2020). Siehe auch Mertens, Weiskirchner, S. 152ff. Vgl. Ein Jahr Kriegsfürsorge der Gemeinde Wien, Wien 1915, S. 7f. Sowie Pfoser, Alfred: »Staatliche, kommunale und freiwillige Fürsorge«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/staatliche-kommunale-und-freiwillige-fu ersorge (27.06. 2017). Mertens, Die Wiener, S. 288.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
erfasste – in »Zentralstelle der Fürsorge für die Angehörigen der Einberufenen und für die durch den Krieg in Not Geratenen in Wien und Niederösterreich« umbenannt wurde.62 Die Kriegsfürsorgezentrale, die »alle Geld- und Sachspenden unter öffentlicher Kontrolle vereinigen und deren Verwendung koordinieren«63 sollte, hatte ihren Sitz im Wiener Rathaus, wo ihre Geschäftsführung unter der Leitung des Bürgermeisters von Beamten des Magistrats übernommen wurde. Angegliedert war der Zentralstelle ein Gemeinderatsausschuss, der mit Weiskirchner an der Spitze die überparteiliche Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Kriegsfürsorge sicherte und dessen Aufgabe es war, über den Einsatz der Spendenmittel zu entscheiden.64 Von Anfang an richtete sich die Arbeit der Rathauszentrale nach festen Grundsätzen: »1. daß die Kriegsfürsorge außerhalb des Rahmens der öffentlichen Armenpflege stehen müßte, 2. daß sie sich nicht lediglich in der Form der Geldunterstützung werde betätigen können, und 3. daß sie vielmehr als ihre Hauptaufgaben zu betrachten haben werde, vor Obdachlosigkeit zu schützen, nach Möglichkeit Arbeit und Verdienst zu schaffen und jedermann täglich wenigstens eine warme Mahlzeit zu sichern.«65 Das Aufgabenspektrum der Wiener Fürsorgezentrale reichte demzufolge weit über eine zusätzliche finanzielle Unterstützung für die Angehörigen von Eingerückten und andere durch den Krieg in Not geratene Personen aus Wien und Niederösterreich hinaus. Für die lokale Arbeit vor Ort richtete die Zentralstelle in allen 21 Bezirken jeweils ein Hilfskomitee ein, das im direkten Kontakt zur Bevölkerung stand. Unter der Leitung der Bezirksvorsteher wurden in den Komitees u.a. die Sach- und Geldspenden organisiert, Unterstützungsgesuche entgegengenommen, Geldunterstützungsanträge für die Zentrale angefertigt und die Ausgabe von Naturalien vorgenommen. Doch der Großteil der lokalen Kriegsfürsorgearbeit wurde wie in Berlin von einer großen Gruppe hilfswilliger Wiener Frauen und Mädchen aller Gesellschaftsklassen bewerkstelligt, die sowohl der Zentralstelle als auch den Bezirksorganisationen mit Rat und Tat zur Seite standen.
1.1.4 Im Dienst für das Vaterland: Die Wiener Frauenhilfsaktion im Kriege Auch in der Habsburgermonarchie ging die Mobilisierung der Frauen zügig vonstatten. Noch bevor die Kriegserklärung an Serbien erfolgte, riefen die großen Frauenorganisationen Österreichs, darunter die ROHÖ und der BÖFV sowie die Katholische Frauenorganisation, die Österreicherinnen am 27. Juli 1914 in verschiedenen Appellen zum Dienst für das Vaterland für die Dauer des Krieges auf:
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Nach den zu Anfang August 1914 herausgegebenen Bekanntmachungen des Ministeriums des Innern galt die Zentralstelle als Landeshilfskomitee für Niederösterreich, das dem Kriegshilfsbüro des Innenministeriums angegliedert war. Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 153. Sowie Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 43. Hierzu vgl. auch Weigl, Daseinsfürsorge, S. 338. Mertens, Die Wiener, S. 288. Vgl. auch Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 45. Neben einer Reihe von Gemeinderäten und dem Bürgermeister setzte sich das Gremium aus Weiskirchners Stellvertretern, Magistratsbediensteten, Behördenvertretern des Landes Niederösterreich sowie aus Vertretern des Militärkommandos und der Wiener Polizeidirektion zusammen. Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 153. Sowie Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 45. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 154.
III. Metropolen im Krieg
»Ernste dringende Forderungen stellt diese ernste schwere Zeit an uns Frauen und es ist Pflicht aller österreichischen Frauen, diesen Forderungen mit allen zu Gebote stehenden Kräften gerecht zu werden. Wir rufen Österreichs Frauen zur Dienstleistung für die Kriegszeit auf! Strengste Solidarität muß in diesem Augenblick den Arbeitswillen aller Frauen zum Ausdruck bringen und alle Gegensätze müssen schweigen.«66 Dieser von der ROHÖ veröffentlichte Aufruf mahnte nicht nur zur Einigkeit aller Frauen, sondern verwies darüber hinaus auf die »typisch weiblichen Eigenschaften der Fürsorge und Mütterlichkeit«67 . Die »wirtschaftlich Schwächsten« sollten durch Fraueneinigkeit, Frauenkraft und Frauenarbeit »in hereinbrechender Not und Sorge«68 Unterstützung erfahren. So konstituierte sich nur wenige Tage später in Wien und in anderen Orten der Monarchie die parteiübergreifende »Frauenhilfsaktion im Kriege«. Durch die Kooperation der ROHÖ, des BÖFV, der katholischen Frauenorganisation Niederösterreichs sowie des christlichen Wiener Frauenbundes und der sozialdemokratischen Frauenorganisation entstand in der österreichischen Hauptstadt die »Wiener Frauenhilfsaktion«, womit der Krieg die Einheit einer Reihe von Frauenvereinigungen und -initiativen herbeiführte, die sich zuvor konkurrierend gegenüberstanden oder sich gar gegenseitig bekämpften. Die Sozial- und Kulturhistorikerin Maureen Healy resümiert: »›[A]lmost overnight,‹ according to the Frauenhilfsaktion Wien, war had mandated that women suspend their Parteilichkeiten and serve an Austria ringed by enemies. War, they believed, accomplished a miracle in this politically divided capital city: it ›united us, men and women, members of all parties, young and old.‹«69 Der Antrieb der sozialdemokratischen Frauen, der Frauenhilfsaktion beizutreten, war vor allem darauf zurückzuführen, dass sie die Fürsorge für die Arbeiterfamilien nicht den Frauen der bürgerlichen Kreise überlassen wollten. Von Anfang an setzten sie sich dafür ein, dass die Fürsorgeaktivitäten der Wiener Frauen seitens der Arbeiterschaft nicht als entwürdigende Almosenunterstützung wahrgenommen wurden.70 Durch die Mitwirkung der Sozialdemokratinnen sollte die Arbeiterschaft darin bestärkt werden, die Unterstützungsangebote der Frauenkriegsfürsorge anzunehmen. Der offizielle Zusammenschluss der Frauenorganisationen zur Wiener Frauenhilfsaktion erfolgte im Rahmen der Gründung eines siebzehnköpfigen Frauenausschusses, der von der Bürgermeistergattin Berta Weiskirchner (1865–1934) geleitet und von Vertreterinnen der kooperierenden Frauenvereinigungen gebildet wurde.71 Beginnend mit der ersten Sitzung am 13. August 1914 trat dieser »Frauenbeirat« einmal wöchentlich im 66 67
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Granitsch, Kriegsdienstleistung, S. 8ff. Hierzu siehe auch Hämmerle, Heimat/Front, S. 84ff. Scharf, Michaela: »Im Dienst für das Vaterland«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/im-dienst-fuer-das-vaterla nd (27.06.2017). Granitsch, Kriegsdienstleistung, S. 8. Healy, Maureen: »Becoming Austrian: Women, the State, and Citizenship in World War I«, in: Central European History 35/1 (2002), S. 1–35, hier S. 6. Vgl. »Die Frauenhilfskomitees«, in: Arbeiterinnen-Zeitung 1, 24. Jg. (5. Januar 1915), S. 3–4. Sowie Healy, Becoming Austrian, S. 7f. Vgl. Weiskirchner, Berta: Die Frauen-Hilfsaktion Wien, Wien o.J. [vermutlich 1916], S. 12ff. Hämmerle, Heimat/Front, S. 89.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Rathaus zusammen, wo er angegliedert an die Zentralstelle zu einem festen Bestandteil der kommunalen Kriegsverwaltung wurde. Unterstützt vom Obermagistratsrat Jakob Dont (1864–1946), der die Fürsorgearbeit der Zentralstelle in der Obmänner-Konferenz vertrat, beriet und koordinierte der Frauenbeirat die lokalen Tätigkeiten der Frauenhilfsaktion. »Ein gewaltiges Arbeitsfeld war den Damen überlassen. Da natürlich diese Arbeit von den 17 Damen des Ausschusses nicht allein geleistet werden konnte, […] wurden in allen 21 Bezirken Wiens, meist in den Gemeindebezirksamtshäusern, eigene Ämter eröffnet, ein großes Frauen-Arbeitskomitee wurde aus freiwilligen Kräften zusammengestellt und in 23 Arbeitskomitees verteilt, so daß auf jeden Bezirk ein Arbeitskomitee entfällt und im I. und XIII. Bezirk je zwei Komitees bestehen.«72 In den sogenannten Damenkomitees der Frauenhilfsaktion, die jeweils von einer Vertreterin der verschiedenen Frauenorganisationen angeleitet wurden, waren anfangs bis zu 1.000 Frauen und Mädchen tätig. Bis zum Ende des zweiten Kriegsjahres hatte sich die Zahl der freiwilligen Mitarbeiterinnen auf rund 700 reduziert. In Zusammenarbeit mit den Bezirkshilfskomitees der Zentralstelle nahmen sich die Frauenarbeitskomitees vor allem der Sorgen und Nöte der erwerbslosen Frauen und Mädchen an. Dabei war das Aufgabenspektrum der Wiener Frauenhilfe ebenso breit gefächert wie in den Hilfskommissionen des Berliner Frauendienstes.73 So unterstützten sie die einzelnen Bezirksorganisationen bei Geld- und Naturaliensammlungen sowie »Freitischablösungen«74 . Des Weiteren gehörte die Auskunftserteilung über die staatliche Unterstützung und die Vermittlung der öffentlichen und privaten Fürsorgeleistungen sowie der umfangreiche »Recherchedienst« zu ihren Aufgaben: »Der Recherchedienst umfaßt: a) Erhebungen über die Unterstützungsfälle, deren Entscheidung der Zentralstelle zusteht. b) Erhebungen auf dem Gebiete der Kinderfürsorge (Freitischanmeldungen, Freitischzuweisungen, Milch- und Speiseanweisungen, Kinderbeaufsichtigung). c) Mitarbeit bei der Ausspeisungsaktion.«75 Darüber hinaus zählten die Unterstützung der unter Personalmangel leidenden öffentlichen Armenpflege, die Leistung von Beistand für die Frauen der einberufenen Soldaten sowie die Mitarbeit bei der Arbeitsvermittlung und -beschaffung zu den weiteren Tätigkeiten der Damenkomitees. Letzteres wurde vor allem von der »Kommission für soziale
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Weiskirchner, Frauen-Hilfsaktion, S. 15. Vgl. auch zu den weiteren Ausführungen ebd., S. 16ff. sowie 23f. »Die Wiener Frauen während des Krieges«, in: Arbeiterinnen-Zeitung 20, 24. Jg. (5. Oktober 1915), S. 2–3, hier S. 2. Die Gemeinde Wien während der ersten Kriegswochen, S. 13. Hämmerle, Heimat/Front, S. 90f. Durch Spendengelder wurden Freitische bei öffentlichen Ausspeisungen arrangiert. Vgl. ebd., S. 90. Weiskirchner, Frauen-Hilfsaktion, S. 19. Durch Tätigkeiten wie die Durchführung von Erhebungen zu Fürsorgezwecken sei nach Hämmerle die für weite Bereiche der organisierten weiblichen Kriegsfürsorge charakteristische Zusammenarbeit mit kommunalen Institutionen respektive die »staatliche Instrumentalisierung der vorhandenen Organisationsstrukturen der Frauenbewegung« während des Krieges in starkem Maße deutlich geworden. Vgl. hierzu dies., Heimat/Front, S. 88.
III. Metropolen im Krieg
Fürsorge in Wien und Niederösterreich« koordiniert. Diese von der Stadtverwaltung im Anschluss an die Zentralstelle eingerichtete Kommission arbeitete mit den Arbeitsvermittlungsstellen in Wien und Niederösterreich sowie den Landesarbeitsnachweisstellen zusammen.76 Eine bedeutende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die von den Damenkomitees selbst in die Wege geleitet wurde und die Existenz vieler Wienerinnen im Krieg sicherte, war die Einrichtung zahlreicher Näh- und Strickstuben. Die von der Frauenhilfsaktion geleiteten Arbeitsstuben beschäftigten zeitweise bis zu 4.000 Frauen und rüsteten u.a. das Heer mit warmer Kleidung aus.77 Zu guter Letzt leistete die Wiener Frauenhilfe auch auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung und der Ernährungsfürsorge einen unentbehrlichen Beitrag. Wie die Berliner Frauendienstlerinnen stellten die Frauen Kochrezepte zusammen, gaben Kochkurse und hielten Vorträge über die veränderten Versorgungsverhältnisse. In den Arbeitskomitees versorgten sie zahlreiche Familien mit Lebensmitteln, sammelten im Rahmen ihrer Mitarbeit an den städtischen Ausspeisungsaktivitäten Spenden und gaben Speiseausweiskarten aus.78 Darüber hinaus übernahm die Wiener Frauenhilfsaktion eine Reihe von Aufgaben bei der Durchführung der Ausspeisungsaktionen.
1.2 Die Verwaltung der Not: Neue Familienverhältnisse und Kriegsfürsorge Noch viel schneller als die Zivilverwaltungen sich auf die Kriegssituation einstellen konnten, wirkte sich der Kriegsausbruch auf die Lebensverhältnisse in Wien und Berlin aus. Innerhalb weniger Stunden sah sich eine Vielzahl der Menschen in ihrer Existenz gefährdet. So berichtete die Berliner Sozialarbeiterin Siddy Wronsky (1883–1947) von einer Frau, die am zweiten Kriegstag in der Zentrale für private Fürsorge79 Hilfe suchte. Ihr Mann, ein kleiner Angestellter, sowie ihre zwei Söhne und die beiden Töchter hätten ihre Arbeitsplätze verloren. Die beiden anderen Söhne und ihr Mieter wären eingezogen worden. Und auch ihr eigenes Plättgeschäft hätte wegen ausbleibender Kundschaft schließen müssen. »[A]uf diese Weise«, so Wronsky, »waren auf einmal neun Einnah-
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Vgl. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 103ff. Ferner Die Gemeinde Wien während der ersten Kriegswochen, S. 13. Nach der Schriftstellerin und Präsidentin der ROHÖ Helene Granitsch (1876–1956) arbeiteten Frauen und Männer in der Kommission zusammen. Hierzu ausführlich dies.: »Die Kriegsarbeitsleistung der Wiener Frauen«, in: Almanach des Kriegsjahres 1914–15 der patriotischen Frauen Österreichs. Hg. Zu Gunsten des Witwen- und Waisenhilfsfonds für die gesamte bewaffnete Macht, Wien o.J., S. 40–45, hier S. 42. Vgl. Weigl, Daseinsfürsorge, S. 339. Hierzu ausführlich Hämmerle, Heimat/Front, S. 91ff. Sowie Weiskirchner, Frauen-Hilfsaktion, S. 31ff. Vgl. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 73ff. Als städtische Fürsorgezentrale leistete die Zentrale für private Fürsorge einen bedeutenden Beitrag bei der Herbeiführung einer geordneten Systematisierung und Koordination der Privatwohltätigkeit auf lokaler Ebene. Sie stellte Hilfsbedürftigen archivierte Informationen über die Vielzahl verschiedener Berliner Wohltätigkeitseinrichtungen zur Verfügung und half den Hilfesuchenden die für sie geeigneten Einrichtungen zu vermitteln. Zur Entstehung und Entwicklung der Zentrale für private Fürsorge vgl. ausführlich Degethoff de Campos, Von der Armenpflege, S. 17ff.
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mequellen einer wirtschaftlich gut dastehenden Familie vernichtet.«80 Fälle wie diesen gab es in Berlin und Wien zu Tausenden. Nach der Einberufung der Wehrpflichtigen zum Kriegsdienst waren in der deutschen Hauptstadt innerhalb des ersten Kriegsmonats fast 63.000 Familien auf finanzielle Unterstützung angewiesen. In Wien erhielten im Oktober 1914 rund 60.000 Personen staatliche Unterstützungsbeiträge.81 Hinzu kam in beiden Städten ein starker Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Bis Ende August 1914 verloren in Wien etwa 150.000 und in Berlin über 100.000 – überwiegend weibliche – Beschäftigte ihren Arbeitsplatz, da viele kleinere und mittlere Betriebe – insbesondere in der Nahrungsmittel-, Genussmittel- und Textilindustrie – wegen des fehlenden Personals schließen mussten.82 Dieser im Fortgang des Krieges anhaltende Notstand an der »Heimatfront« verlangte ein rasches und angemessenes Handeln, das von privaten Fürsorgeorganisationen wie der Zentrale für private Fürsorge allein nicht gewährleistet werden konnte. Für die neuen kriegsbedingten Notlagen war auch die traditionelle Armenfürsorge nicht geeignet. So verdeutlichte die deutsche Sozialpolitikerin Else Wex (1884–1961): »Verschuldete und Arme machten vor dem Krieg nur einen geringen Prozentsatz […] aus… Da sie politisch machtlos waren, mußten sie sich mit dem geringfügigen, notdürftigen Lebensunterhalt begnügen… Sehr anders wurde dies im Verlauf des Krieges. Ganz neue Bevölkerungsschichten rückten nunmehr in die Scharen der Hilfsbedürftigen ein; ihre Ansprüche zu berücksichtigen wurde zu einer politischen Notwendigkeit.«83 Die Verantwortlichen in Wien und Berlin nahmen bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch erste Kriegsfürsorgemaßnahmen in Angriff, wodurch erstmals Einrichtungen materieller Unterstützung außerhalb der Armenpflege entstanden, die aus öffentlichen Mitteln der Staaten und der Gemeinden finanziert wurden.84 80
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Wronsky, Siddy: »Die Fürsorge in ihren verschiedenen Gebieten«, in: Berliner Fürsorge-Arbeit während des Krieges, hg. Von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1916, S. 82–102, hier S. 86. Vgl. für Berlin Liebrecht, Maßnahmen, S. 29. Es ist anzunehmen, dass die Zahl sich nicht nur auf die staatlich unterstützten Familien bezieht, sondern auch mit kommunalen Mitteln versorgte Unterstützungsfälle einschließt. In einem anderen Bericht desselben Autors umfasste die Zahl bewilligter Familienunterstützungsanträge im August 1914 rund 35.300. Hierzu Liebrecht, Arthur: »Grundlagen, Ziele und Durchführung der unter der Bezeichnung ›Kriegswohlfahrtspflege‹ von den Staatsbehörden den Gemeinden übertragenen Aufgaben«, in: Sonderabdruck aus der Zeitschrift der Zentralstelle für Volkswohlfahrt »Concordia«, Nr. 19, 1. Oktober 1917, S. 1–16, hier S. 5. Für Wien vgl. Pfoser, Staatliche (oben Kapitel iii, Anm. 60). Nach einem Bericht des Wiener Bürgermeisters Weiskirchner stieg die Zahl staatlich unterstützter Personen bis Ende September 1914 auf über 82.000. Vgl. hierzu Die Gemeinde Wien während der ersten Kriegswochen, S. 10. Vgl. Weigl, Andreas: »Kriegsindustrie. Die Wiener Wirtschaft im Dienst der Kriegsökonomie«, in: Pfoser/ders., Epizentrum, S. 210–219, hier S. 224. Vorwärts, 25. August 1914, zitiert bei Glatzer, Dieter und Ruth Glatzer, Berliner Leben 1914–1918, Berlin 1983, S. 71. Vgl. auch Baudis, Schweinemord, S. 132. Landwehr, Funktionswandel, S. 80. Ferner Kundrus, Kriegerfrauen, S. 46. Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 79. Während sich der Terminus »Kriegsfürsorge« im Deutschen Reich allgemeinhin auf die staatliche Fürsorge bezog, umfasste er im Habsburgerreich sowohl die staatliche als auch die kommunale Fürsorge. Die freiwillige städtische Fürsorgearbeit Ber-
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1.2.1 Kein Auskommen: Die staatliche Familienfürsorge und ihre Verwaltung Mit dem Inkrafttreten des Familienunterstützungsgesetzes von 1888 im Deutschen Reich und des Kriegsunterhaltsgesetzes von 1912 in Österreich-Ungarn wurden unmittelbar nach Kriegsbeginn erste finanzielle Unterstützungsmaßnahmen für die Familien der zum Kriegsdienst eingezogenen Soldaten ergriffen und damit zugleich die öffentliche Kriegsfürsorge in Berlin und Wien in die Wege geleitet. Beide Unterstützungsgesetze zielten auf die Erhaltung der Kriegsteilnehmer in ihrer sozialen Schicht.85 Im Vordergrund standen demzufolge die Bedürfnisse der Militärdienstleistenden, deren Angehörigen ein soziales Existenzminimum gewährt werden sollte. Beide Gesetze regelten die Art und Weise der finanziellen Hilfe für die »Kriegerfamilien« und legten fest, wer zum anspruchsberechtigten Personenkreis gehörte. So galten in Österreich-Ungarn all jene Angehörigen von Militärpersonen als anspruchsberechtigt, »deren Unterhalt bisher im wesentlichen [sic!] von dem aus der Arbeit des zur aktiven Dienstleistung Herangezogenen erzielten Einkommen nachweisbar abhängig war«86 . Danach hatten nicht nur die Ehefrauen und die Kinder Anspruch auf den staatlichen Unterstützungsbeitrag, sondern auch die Eltern, Großeltern, Geschwister, Schwiegereltern und unter bestimmten Voraussetzungen auch die unehelichen Kinder und deren Mütter. Zu Beginn des Krieges betrug der Unterstützungsbeitrag, der sich aus einer Unterhaltszahlung (88 Heller) und einem Mietzinsbeitrag (44 Heller) zusammensetzte, pro Person und Tag maximal 1.32 Kronen, wobei Kinder unter acht Jahren mit 66 Hellern die Hälfte erhielten.87 Für die Hilfsbedürftigen im Deutschen Reich schrieb das Familienunterstützungsgesetz Mindestsätze vor, die ergänzend zum Wehrsold der Kriegsteilnehmer geleistet werden sollten. Bei Kriegsausbruch betrugen diese für die »Kriegerfrauen« monatlich neun Mark im Sommer bzw. zwölf Mark im Winter und für eheliche Kinder unter fünfzehn Jahren sowie weitere Bedürftige monatlich sechs Mark. Unter die weiteren Bedürftigen fielen hier alle ehelichen Kinder über fünfzehn Jahre, Verwandte in aufsteigender Linie und Geschwister sowie später auch nicht-eheliche Kinder sofern ein Nachweis darüber
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lins und anderer deutscher Städte wurde in der Regel als »Kriegswohlfahrtspflege« bezeichnet. Private Organisationen wie die Zentrale für private Fürsorge unterstützten die Fürsorgetätigkeiten der Gemeinden in starkem Maße und leisteten nicht selten die notwendige Vorarbeit oder trieben Sach- und Geldspenden ein. Wronsky, Siddy und Edmund Friedeberg: Handbuch der Kriegsfürsorge im Deutschen Reich, hg. Von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1917, insb. das Kapitel »Kriegswohlfahrtspflege«, S. 111–222. Vgl. auch Pfoser, Staatliche (oben Kapitel iii, Anm. 60). Siehe hierzu u.a. auch Wegweiser der Kriegsfürsorge, hg. Von der Kommission für soziale Fürsorge, Wien 1914. Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 51. Vgl. auch Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 51. Sowie Healy, Becoming Austrian, S. 23. Gesetz vom 26. Dezember 1912, betreffend den Unterhaltsbeitrag für Angehörige von Mobilisierten. Reichsgesetzblatt (RGBl) für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, 1849–1918, Nr. 237, S. 1201. Im Verlauf des Krieges wurde der Kreis der Bezugsberechtigten den Kriegsverhältnissen angepasst, sodass auch die Angehörigen von Kriegsgefangenen, Kriegsflüchtlinge und Zivilgeschädigte einen Anspruch auf den Unterhaltsbeitrag erhielten. Vgl. Mertens, Die Wiener, S. 287. Vgl. Weigl, Daseinsfürsorge, S. 339. Sowie Healy, Becoming Austrian, S. 20f.
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erbracht wurde, dass der zum Kriegsdienst Eingezogene deren Unterhalt bestritt.88 Anders als in Wien umfasste die staatliche Familienunterstützung keine Mietbeihilfe. Da diese für viele Berliner »Kriegerfamilien« jedoch zwingend erforderlich war, leistete die Berliner Fürsorgeverwaltung sie im Falle der besonderen Bedürftigkeit im Rahmen ihrer freiwilligen kommunalen Kriegswohlfahrtspflegemaßnahmen, die darüber hinaus noch weitere Dienstleistungen sowie Naturalabgaben umfassten.
Abbildung 3: Anspruchsanmeldungen für den staatlichen Unterhaltsbeitrag in den einzelnen Wiener Bezirksämtern zwischen August 1914 und Ende Juli 1915
Gesamtzahl der Anspruchsanmeldungen: 186.434. Mit 23.328 Anspruchsanmeldungen lag der Bezirk Ottakring (XVI) in diesem Zeitraum an der Spitze. Besonders hoch fiel auch der Anmeldestand in Favoriten (X; 16.754), Leopoldstadt (II; 14.987) und in der Brigittenau (XX; 14.619) aus. Mit den Anmeldungen in den Bezirken Hietzing (XIII; 12.375) und Landstraße (III; 11.993) wird deutlich, dass auch die Bewohner der wohlhabenderen Stadtbezirke in höherer Zahl Anspruch auf den staatlichen Unterhaltsbeitrag erhoben. Quelle: Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 7f.
Im Verlauf der Kriegsjahre nahm in beiden Hauptstädten die Zahl staatlich unterstützter Personen und Familien kontinuierlich zu. In Wien vervierfachte sich der Kreis der Unterhaltsbeitragsempfänger zwischen August 1914 und Juli 1915 auf rund 250.000 Personen.89 Zum Ende des Jahres 1916 wurde bereits ein Fünftel der Wiener Bevölkerung (430.000 Personen) mit dem staatlichen Unterhaltsbeitrag unterstützt. Bis einschließlich Juli 1917 stieg die Zahl der Wiener Beitragsempfänger weiter auf 520.000 Personen. Der Neuen Freien Presse zufolge waren zu diesem Zeitpunkt über 250.000 Wiener Familien staatlich unterstützt worden. Für die deutsche Hauptstadt liegen vergleichbare Zahlen 88
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Vgl. Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 50. Sowie Kriegsfürsorge in Groß-Berlin. Ein Führer, Gesetze, Bekanntmachungen, Wohlfahrtseinrichtungen, hg. Von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1915, S. 12ff. Vgl. hierzu Mertens, Die Wiener, S. 287. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 8. Weigl, Daseinsfürsorge, S. 339f. Sowie »Neuregelung des staatlichen Unterhaltsbeitrages für die Angehörigen der Eingerückten«, in: Neue Freie Presse, 21. Juli 1917.
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vor.90 Nach der Zahl bewilligter Anträge erhielten hier im Juli 1915 etwa 141.000 Berliner Familien den staatlichen Unterstützungsbeitrag. Zwei Jahre später hatte sich der Empfängerkreis in Berlin ebenfalls mehr als verdoppelt, der mit rund 287.000 unterstützten Familien im Juli 1917 sogar noch etwas größer ausfiel als in der Habsburgermetropole. In beiden Städten stammte der Großteil der antragsstellenden Angehörigen der Kriegsteilnehmer aus der Arbeiterschicht. Eine Aufschlüsselung der Unterstützungsgesuche nach Wiener Bezirken belegt, dass zwischen August 1914 und Juli 1915 etwa siebzig Prozent der Anträge in den Arbeiterbezirken gestellt wurden (Abb. 3).91 Ein vergleichbares Bild für Berlin liefert eine Aufschlüsselung nach Besucherzahlen in den einzelnen Berliner Hilfskommissionen des NFD für eine Juniwoche des Jahres 1915. Sie gibt Auskunft darüber, wie sich die Fälle auf die Stadtteile verteilten.92 Sie zeigt zum einen, dass auch hier die Mehrheit der Unterstützungsgesuche in den Arbeitervierteln erfolgte, d.h. vor allem im Norden, aber auch im Osten der Stadt. Zum anderen bestätigen die Unterstützungsfallzahlen in den Hilfsstellen der südwestlichen und südöstlichen Stadtregion, dass nicht nur die ärmeren Bevölkerungs- und Stadtteile auf die staatliche Kriegsfürsorge angewiesen waren. Dennoch kamen in beiden Städten die wenigsten Gesuche aus den bevölkerungsärmeren Stadtzentren und den wohlhabenderen Stadtteilen. Ebenso wie die Unterstützungsfallzahlen in Wien und Berlin zunahmen, zeigte sich auch sehr schnell, dass die gesetzlichen Kriegsfürsorgebestimmungen für die Betroffenen unzureichend waren und ihre praktische Umsetzung alles andere als ein reibungsloses Unterfangen darstellte. Die Unterstützungsbeträge wurden sowohl im Deutschen Reich als auch in der Habsburgermonarchie als völlig ungenügend angesehen und mussten im Verlauf des Krieges mehrfach erhöht werden.93 Dennoch hielten die staatlichen Unterstützungssätze mit der kriegsbedingten Teuerung und den gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht mit, sodass sich die Berliner Verwaltung zur Aufstockung der Unterstützungssätze gezwungen sah. Der Berliner Magistratsrat Arthur Liebrecht (*1872) erklärte 1916 in einem Bericht zur Berliner Fürsorgearbeit während des Krieges, dass die Stadt gleich zu Beginn des Krieges 100 Prozent Zuschlag zu der staatlichen Unter-
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Die konkreten Angaben zur Anzahl unterstützter Berliner Familien sind zu finden bei Liebrecht, Grundlagen, S. 5. Sowie ders., Maßnahmen, S. 29. Der Anteil antragstellender mittelständischer Soldatenfamilien, der in der Übersicht der Anspruchsanmeldungen nach Stadtbezirken insgesamt noch geringer ausfiel, wird infolge der zunehmenden Not im Verlauf des Krieges jedoch stark zugenommen haben. Hierzu Tab. iv im Anhang. Da es sich lediglich um eine Momentaufnahme handelt, dürfen die Angaben nicht überbewertet werden. Vgl. auch Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 12. Vgl. Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 50. Bis zum Kriegsende hatten sich die Mindestsätze im Deutschen Reich für Ehefrauen auf monatlich 25 Mark und für unterstützte Kinder auf fünfzehn Mark erhöht. Die differierenden Sommer- und Wintersätze wurden unterdessen aufgehoben. Ausführlich zu den Novellierungen des Familienunterstützungsgesetzes Kundrus, Kriegerfrauen, S. 50ff. Ferner Burchardt, Lothar: »Die Auswirkungen der Kriegswirtschaft auf die deutsche Zivilbevölkerung im ersten und zweiten Weltkrieg«, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen Nr. 1 (1974), S. 65–97, hier S. 84. In Österreich-Ungarn erfuhr der staatliche Unterhaltsbeitrag bis zum Herbst 1917 eine Erhöhung auf zwei Kronen pro Person und Tag. Hierzu Weigl, Daseinsfürsorge, S. 339. Sowie Healy, Becoming Austrian, S. 21.
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stützung gezahlt habe.94 Ebenso erhielten die bedürftigen Wiener von der städtischen Fürsorgezentrale im Rathaus Vor- und Zuschüsse zum staatlichen Unterhaltsbeitrag. Darüber hinaus wurden auch jene Bedürftigen finanziell unterstützt, die keinen gesetzlichen Anspruch auf den Unterhaltsbeitrag hatten.95 Betroffen waren hierbei vor allem die vielen Arbeiterfrauen, die bereits vor dem Krieg einer Erwerbsarbeit nachgingen und zum Familieneinkommen beitrugen sowie all jene Frauen, die nach der Einberufung ihrer gewerbetreibenden Ehemänner den familiären Geschäftsbetrieb übernahmen. Dass den erwerbstätigen Wienerinnen der Unterhaltsbeitrag nicht gewährt wurde, stieß nicht nur bei den betroffenen Frauen auf Unverständnis. Auch die Stadtverwaltung und an vorderster Front Bürgermeister Weiskirchner kritisierten diese wenig nachvollziehbare gesetzliche Bestimmung: »Es gelangen häufig Fälle zur Kenntnis […], in denen ein auch nur bescheidener Arbeitserwerb der Frau eines Eingerückten von den Unterhaltskommissionen als Bestimmungsgrund geltend gemacht wird, um der Frau den staatlichen Unterhaltsbeitrag zu versagen oder zu entziehen, und zwar dies auch dann, wenn die Frau inzwischen den Erwerb verloren hat und nunmehr der ärgsten Notlage preisgegeben wird. Das Gesetz spricht vom Unterhaltsbeitrag und gibt damit zu erkennen, daß den Angehörigen der Eingerückten bei Vorhandensein der übrigen Voraussetzungen nicht der Unterhalt gezahlt, sondern ein Beitrag zum Unterhalt geleistet werden soll. Das Gesetz will also mit dem Unterhaltsbeitrag nur eine Gefährdung der Existenz verhüten, die dann eintreten müßte, wenn die Frau lediglich auf ihren Lohn angewiesen bleibt.«96 Darüber hinaus kam es nicht selten vor, dass Frauen mit ihren Unterstützungsanträgen in den Unterstützungskommissionen auf unhöfliche und schroffe Weise grundlos zurückgewiesen wurden. Unter den Unterstützungssuchenden herrschte eine weitverbreitete Unklarheit darüber, wer zum Kreis der Anspruchsberechtigten gehörte, was damit zusammenhing, dass kein einheitliches, sondern ein eher willkürliches Vorgehen hinsichtlich der Antragsannahme und -genehmigungen zu beobachten war.97 Die Bearbeitung der Unterstützungsgesuche nach subjektiven Wahrnehmungen war nicht unüblich und führte auch in Berlin zu Schwierigkeiten. Hier bildete sich im Verlauf des Krieges in der Bevölkerung eine Anspruchshaltung gegenüber der Kriegsfürsorge heraus, die eng mit der verbreiteten Auffassung zusammenhing, dass die Kriegs- bzw. Familienunterstützung eine Art Sold mit Rechtsanspruch darstelle.98 Dies war in erster Linie auf die »laxe Praxis« in der Unterstützungsgewährung zurückzuführen, die zu immer mehr Bewilligungen führte. Die Familienunterstützung habe, wie die Historikerin Ute Daniel
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Vgl. Liebrecht, Maßnahmen, S. 28. Allein bis Februar 1915 beliefen sich die Zuschlagszahlungen Berlins auf 8,5 Millionen Mark (ohne Mietbeihilfen). Hierzu Daniel, Arbeiterfrauen, S. 174. Der kommunale Zuschlag wird sich im Verlauf des Krieges stets erhöht haben. Kundrus zufolge habe Berlin sogar bis zu 200 Prozent der Reichsmittel auf die Mindestsätze aus Eigenmitteln dazugegeben. Vgl. dies., Kriegerfrauen, S. 57. Vgl. Pfoser, Staatliche (oben Kapitel iii, Anm. 60). Sowie Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 44. »Unterhaltsbeitrag und Arbeitswilligkeit«, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. August 1915. Vgl. Healy, Becoming Austrian, S. 21. Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 88. Ferner Kundrus, Kriegerfrauen, S. 84.
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hervorhebt, während des Krieges eine unaufhaltsame Verallgemeinerungstendenz entwickelt.99 Dies habe dazu geführt, dass eine ursprünglich für einen klar umgrenzten Personenkreis angelegte Spezialunterstützung zu einer Unterstützungspflicht des Staates für weite Teile der lohnabhängigen sowie der selbständigen Bevölkerung geworden sei. Unter dem Druck steigender Kosten bemühten sich das Deutsche Reich und die Gemeinde ab der zweiten Kriegshälfte die Erwartungshaltung in der Bevölkerung zu bremsen. Während anfangs im Interesse der Kriegsziele großzügig verfahren worden sei, so Landwehr, sei nun der Übergang zu Normalverhältnissen angestrebt worden.100 Einerseits sollten sich die Schulungen des Ermittlungspersonals verbessern, um die Qualität der Ermittlungen zu steigern. Andererseits galt fortan auch für die bedürftigen Berliner, dass arbeitsfähigen Personen die Unterstützung nicht mehr bewilligt wurde. Um die »minimalste Existenzsicherung zu gewährleisten« sollte nun vor allem die Naturalunterstützung ausgebaut werden.101 Faktisch näherte sich die Kriegsfürsorge immer mehr der Armenfürsorge an, von der sich die Familienunterstützung von Anfang an klar abgrenzen sollte. So hieß es in einem Erlass der preußischen Regierung vom 28. September 1914: »Es handelt sich nicht um Armenhilfe, darum müssen auch nicht die Voraussetzungen der Armenhilfe erfüllt sein. Anspruch haben alle Angehörigen, die der Unterstützung zum notwendigen Lebensunterhalt und zur Fortführung ihres geordneten Haushalts bedürftig sind.«102 In der alltäglichen Praxis und angesichts der zunehmenden kriegsbedingten Notlagen war es der Fürsorgeverwaltung kaum noch möglich, einerseits den Bedürftigen »das angestrebte ›soziale Existenzminimum‹« zu gewähren und andererseits den rechtlichen Unterschied zwischen Kriegs- und Armenfürsorge aufrechtzuerhalten sowie die Kriegsfürsorgeunterstützten vor dem diskriminierenden Charakter der Armenpflege zu schützen.103 Auch in der praktischen Fürsorgearbeit der Habsburgermetropole war die gewünschte Abgrenzung der Kriegsfürsorge vom Armenwesen nicht umsetzbar. Durch die Einberufungen zahlreicher Armenräte war die Armenpflege von Anfang an auf die Unterstützung der Wiener Frauenhilfe angewiesen.104 Neben der Ermittlungsarbeit für die Fürsorgezentrale nahmen die Wiener Damenkomitees auch die Erhebungen im Armenfürsorgewesen vor – ein Umstand, der sich auf viele Unterstützungsempfänger, die unverschuldet durch den Krieg in Not geraten waren, demütigend ausgewirkt haben muss. Dies trat – sowohl in Wien als auch in Berlin – neben die schon allgemein vorhandene Unzufriedenheit mit der Kriegsfürsorgearbeit seitens der Bedürftigen. Die Probleme, 99 100 101 102
Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 172f. Siehe auch Kundrus, Kriegerfrauen, S. 52 und S. 83ff. Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 88. Ebd, S. 88f. Für die weiteren Ausführungen vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 61f. Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 50. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die in Berlin vorgenommene Trennung der Armenpflege von der Kriegsfürsorge nicht in allen deutschen Gemeinden vorzufinden war. In einigen Städten wurden die Armenverwaltungen mit der Fürsorge für die Kriegerfamilien und deren Bedürftigkeitsprüfung betraut. Hierzu ausführlich Lindemann, Stadtgemeinde, S. 12. 103 Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 89. Ferner Landwehr, Funktionswandel, S. 89. 104 Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 155.
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die das Missmanagement der Kriegsfürsorge kennzeichneten und den Unmut der Unterstützungssuchenden hervorriefen, summiert die Sozialhistorikerin Birthe Kundrus: »Viele Kommissionen waren […] schlicht überfordert, so daß die Akten nicht rechtzeitig zum Zahltag vorbereitet waren. Die Angehörigen [der Kriegsteilnehmer] mußten vielfach nach stundenlangem Warten ohne Geld heimgeschickt werden. In Anbetracht der uneinheitlichen Behandlung, der sich ständig ändernden Vorschriften, die wiederum neue Berechnungen nach sich zogen, und der langsamen Bearbeitung kam es zu zahlreichen ›ernsten Auftritten‹ von Kriegerfrauen in den Amtsstuben.«105 Das beschwerliche Unterstützungsverfahren machte die Notsituation der Kriegerfrauen und -familien kaum erträglicher. Wurde der Antrag bewilligt, war ein Auskommen mit der in vielen Fällen kärglichen Unterstützung längst nicht gesichert. Die Sorge um die Aufrechterhaltung der sozialen Existenz war für die gesamte Dauer des Krieges in den meisten Kriegerfamilien präsent. Dabei konnte sich die familiäre Notlage jederzeit noch verschärfen. War der eingerückte Familienversorger im Felde gefallen, wurde die staatliche Unterstützung für die Kriegshinterbliebenen um ein Beträchtliches reduziert.106 Nur wenigen Kriegerfamilien brachte die Familienunterstützung bzw. der staatliche Unterhaltsbeitrag eine Verbesserung der finanziellen Situation. So profitierten hauptsächlich kinderreiche Familien ungelernter Arbeiter von der Berechnung der Unterstützungssätze nach Kinderzahl.107 Kleinere Familien von eingezogenen gelernten Arbeitern und Angestellten hatten dagegen schwere Einbußen hinzunehmen. Doch die Familien mit schwindenden finanziellen Mitteln mussten sich nicht nur mit den Sorgen um die eigene Existenz auseinandersetzen. Viele Kriegerfrauen, die während der Abwesenheit der Ehemänner Verwalterinnen der familiären Finanzen waren, sahen sich auch dem in Teilen der Bevölkerung und der Verwaltung hervorgebrachten Vorwurf ausgesetzt, die staatlichen Geldmittel zu verschwenden. »These ›welfare women‹ (Unterstützungsweiber)«, so Healy, »were accused of wasting money intended for their husbands, money that came into their hands only by chance of war.«108 Außerdem hätten viele Frauen in Abwesenheit des Ehemannes Haushalt und Kinder vernachlässigt und sich und ihre Kinder mit Butterbrötchen und Fleisch versorgt.109 Auch wenn der Erhalt staatlicher Alimente nicht wenigen Frauen mehr Selbständigkeit und ein erhöhtes Selbstwertgefühl verschaffte, waren diese Anschuldigungen, die Healy zufolge im Deutschen Reich lauter erhoben wurden als in Österreich-Ungarn, nur für einen sehr kleinen Kreis der Unterstützungsempfängerinnen zutreffend. Vor allem für viele Frauen aus dem mittelständischen Milieu, die es oftmals Überwindung kostete, die staatliche Kriegsunterstützung zu beantragen, und die tagtäglich mit der Angst vor dem sozialen Abstieg kämpften, müssen jene Vorwürfe blanker Hohn gewesen sein.
105 Kundrus, Kriegerfrauen, S. 82. Vgl. auch Pfoser, Staatliche (oben Kapitel iii, Anm. 60). Sowie Ma-Kircher, Klaralinda: »Die Frauen, der Krieg und die Stadt«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 72–81, hier S. 74. 106 Vgl. Healy, Becoming Austrian, S. 22. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 52. 107 Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S 182. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 90ff. 108 Healy, Becoming Austrian, S. 22. Vgl. auch Daniel, Arbeiterfrauen, S. 177f. sowie S. 272. 109 Vgl. Kellerhoff, Heimatfront, S. 141.
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Die Frauen und Familien des Mittelstandes litten besonders unter der Verteuerung des Lebensunterhaltes. Auch wenn der mittelständische Familienernährer nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurde oder von Arbeitslosigkeit betroffen war, mussten die Mittelstandsfamilien durch drastisch gestiegene Lebenshaltungskosten infolge der zunehmenden kriegswirtschaftlichen Versorgungsschwierigkeiten oftmals mit einem deutlich niedrigeren Familieneinkommen auskommen. Die »Not des Mittelstandes« beförderte Teile der Bevölkerung »in den Zugriffsbereich öffentlicher Fürsorge, die sozial von den traditionellen Armutsgruppen weit entfernt waren«110 . Betroffen war davon aber auch der Großteil der Arbeiterschaft. Doch es gelang auch einigen Arbeiterfamilien, ihre Einkommensverhältnisse während des Krieges zu verbessern, wie Christoph Sachße und Florian Tennstedt mit Blick auf die Verhältnisse im Deutschen Reich feststellen: »Durch die zunehmende Lohnarbeit von Frauen und Jugendlichen stieg in zahlreichen Arbeiterfamilien die Zahl der Erwerbstätigen und damit der Verdiener. Damit erhöhte sich das Familieneinkommen in einer Vielzahl von Arbeiterfamilien beträchtlich und überholte teilweise das Einkommen von Angestellten und mittleren Beamten. Dadurch nivellierten sich z.T. hergebrachte klassenmäßige Unterschiede in der Lebenshaltung von Arbeiterschaft und Mittelstand […].«111 Jene Umkehrung der Einkommensverhältnisse konnte der österreichische Jurist und Staatsbeamte Eduard von Liszt (1867–1961) auch für die Angestellten- und Arbeiterschaft der Wiener Bevölkerung ermitteln: »Die Bezahlung war vor dem Kriege im allgemeinen beim Angestellten besser als beim Arbeiter. Im Kriege hat sich das Verhältnis zum großen Teile verschoben. Während die Angestellten in ihrer Lebensführung oft tief unter die Friedensstufe gesunken sind, ist es großen Schichten der Arbeiterschaft gelungen, […] ihre Lebenshaltung zu festigen und bis wenigstens zum Ende des Jahres 1917 auf etwa der gleichen Höhe wie im Jahre 1913 zu erhalten.«112 Dennoch betraf diese Besserstellung von Wiener und Berliner Arbeiterfamilien nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Für die breite Mehrheit der Arbeiter- und Angestelltenfamilien brachte der Krieg ein hohes Maß an Entbehrung und Mittellosigkeit. Die Zahl der Frauen, die sich gezwungen sahen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, nahm im Verlauf des Krieges stetig zu. Die davon erhoffte Verbesserung der familiären Einkommenssituation ging jedoch häufig mit dem Abschied vom bis dahin noch halbwegs aufrechterhaltenen Familienalltag einher.
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Sachße, Christoph: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Opladen 1994, S. 141. Ferner Liszt, Eduard von: Der Einfluß des Krieges auf die soziale Schichtung der Wiener Bevölkerung, Wien 1919, S. 38. Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 47. Mit Bezug auf Berlin vgl. auch Lawrence, Material pressures, S. 239ff. Liszt, Der Einfluß, S. 55.
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1.2.2 Verzweifelte Frauen: Rollenkumulation und begrenzte Fürsorgeangebote Bereits zu Kriegsbeginn war der Anteil erwerbsuchender Frauen rasch gewachsen. Im Zuge unzähliger Betriebsstilllegungen infolge des Kriegsausbruchs verloren sowohl in Berlin als auch in Wien zahlreiche Frauen ihren Arbeitsplatz. Einige von ihnen fanden zunächst in den neueingerichteten Näh- und Strickstuben der örtlichen Frauenhilfsorganisationen Arbeit oder waren in Heimarbeit tätig. Mit dem anhaltenden Kriegszustand nahmen die Frauen neben den Tätigkeiten in den traditionellen Frauenberufen auch Erwerbstätigkeiten auf, die bis zu den Einberufungen als Männerdomänen galten. So wurden Frauen bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben z.B. als Schaffnerinnen angestellt. Die Zahl der bei den Städtischen Straßenbahnen in Wien angestellten Frauen stieg während des Krieges um mehr als das 26-fache von 287 im Juni 1914 auf 7.490 im Juni 1918.113 Frauen stellten hier am Ende des Krieges über die Hälfte des Personals. Dies galt auch für die weiblichen Berufstätigen in der Verkehrsbranche im Groß-Berliner Raum, wo sich ihr Anteil zwischen August 1914 und Oktober 1917 von 6.158 auf 31.364 verfünffachte.114 Viele Frauen waren u.a. auch als Briefträgerinnen, Kutscherinnen sowie Straßenkehrerinnen tätig. Ein beträchtlicher Teil der weiblichen Erwerbstätigen aber arbeitete in der Kriegswirtschaft in Metall-, Rüstungs-, Maschinen-, Elektro- oder chemischen Industriebetrieben. Zwischen August 1914 und Oktober 1917 hatte sich in Groß-Berlin der Anteil erwerbstätiger Frauen in der Metall- und Maschinenindustrie mehr als vervierfacht und in der chemischen Industrie sogar mehr als verneunfacht.115 Auch in diesen beiden Branchen stellten Frauen noch vor Beginn des letzten Kriegsjahres über die Hälfte des Personals. Zugleich sank die Zahl der Arbeiterinnen in der Textil-, Papier- und Lebensmittelbranche. Dennoch nahm ihr Anteil an der Beschäftigtenzahl in der Friedensindustrie weiterhin zu. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in der Habsburgermetropole festzustellen. In den Sparten Metallverarbeitung und Maschinenbau hatte sich in Wien der Anteil der Frauen ebenfalls von 17,5 Prozent im Jahr 1913 auf 42,5 Prozent im Jahr 1916 mehr als verdoppelt.116 Im Jahr 1917 war die Zahl der Arbeiterinnen in den metallverarbeitenden Betrieben genauso hoch wie die Zahl der in der Textilbranche arbeitenden Frauen. Wie viele Wienerinnen und Berlinerinnen während des Krieges tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nachgingen, ist auf Basis der vorhandenen (Krankenkassen-)Statistiken nur ansatzweise zu erahnen, da diese die starken Fluktuationen nicht vollständig erfassen konnten. Nach Christiane Eifert z.B. erreichte die Zahl pflichtversicherter weiblicher Krankenkassenmitglieder in Berlin und Umgebung im Dezember 1917 ihren Höchststand. »[…] 502.166 Frauen waren als pflichtversichert gemeldet, 43.104 freiwillig versichert, womit die Gesamtzahl versicherter Frauen 545.270 betrug.«117 Demnach wird
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Vgl. Sieder, Behind the lines, S. 119. Vgl. Eifert, Frauenarbeit, S. 287. Vgl. ebd. Danach stieg der Anteil der Frauen in der Metall- und Maschinenindustrie von 40.275 (1. August 1914) auf 168.762 (1. Oktober 1917) und in der chemischen Industrie von 1.359 auf 11.546. Vgl. Herwig, First World War, S. 281. Hierzu auch Augeneder, Arbeiterinnen, S. 45. Siehe auch Ma-Kircher, Die Frauen, S. 74. Ferner Sieder, Behind the lines, S. 119. Eifert, Frauenarbeit, S. 286.
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die Zahl erwerbstätiger Frauen für Berlin ohne Umland geringer ausgefallen sein. Die Zahlen zur weiblichen Erwerbstätigkeit in Wien liefert Reinhard Sieder: »According to the statistics of the industrial, trading and transport sectors in the service of the Imperial and Royal Military Administration, a total of 363,970 women and 920,702 men were employed in 1916. In the same year, 61,573 women worked in the armaments and munition factories alongside 160,900 men.«118 Sowohl in Wien als auch in Berlin stieg die Gesamtzahl der weiblichen Erwerbstätigen infolge der Intensivierung der Rüstungsproduktion ab der zweiten Kriegshälfte. Mit dem im August 1916 vorgelegten Hindenburg-Programm und dem »Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst« vom 5. Dezember 1916 forderte die Oberste Heeresleitung (OHL) die Mobilisierung aller »personellen und materiellen Ressourcen der Nation für die Kriegsführung«119 . Die gesamte Kriegswirtschaft wurde ab November dem neugegründeten Kriegsamt unterstellt. Alle Männer zwischen dem 17. und 60. Lebensjahr, die keinen Kriegsdienst leisteten, wurden verpflichtet, für die Kriegsindustrie zu arbeiten. Entgegen dem Wunsch der OHL wurde im Deutschen Reich auf die Rekrutierung von Frauen, die bereits vor dem Erlass des Hilfsdienstgesetzes im großen Umfang in die Kriegsindustrie integriert waren, verzichtet. Dennoch konnten zahlreiche Frauen für die Rüstungsproduktion gewonnen werden.120 Die wachsende Not und die Sicherstellung des familiären Lebensunterhaltes blieben die entscheidenden Ursachen für die wachsende Zahl von Arbeiterinnen. Um über die Runden zu kommen, mussten auch viele Frauen, die seit dem Beginn des Krieges als Teil des Frauenheeres in der Kriegswohlfahrtspflege tätig waren, ihre freiwillige Einsatzbereitschaft aufgeben und eine Lohnarbeit aufnehmen. Es ist davon auszugehen, dass die Wiener Frauenhilfsaktion im Verlauf des Krieges ebenfalls mit dem Verlust zahlreicher freiwillig dienender Frauen zu kämpfen hatte. Anders als in Deutschland wurden die Frauen in der Donaumonarchie durch die kaiserliche Verordnung vom 18. März 1917 »betreffend die Regelung von Lohn- und Arbeitsverhältnissen in den militärischen Zwecken dienenden Betrieben«, welche die Freizügigkeit aller Beschäftigten in der Kriegsindustrie ohne Unterschied des Alters und des Geschlechts aufhob, direkt unter das seit August 1914 geltende Kriegsleistungsgesetz gestellt.121 Die Arbeitsbedingungen, denen die Wienerinnen und Berlinerinnen in den »Granatenbuden«122 und anderen Betrieben der kriegswichtigen Industrien ausgesetzt waren, unterschieden sich wiederum kaum voneinander. Hinsichtlich der Bedingungen in Österreich resümierte die sozialdemokratische Publizistin und Politikerin Emmy Freundlich (1878–1948): 118
Sieder, Behind the lines, S. 119. Vgl. auch Unfried, Berthold: »Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung im 1. Weltkrieg: Wien und Niederösterreich«, in: Maderthaner, Wolfgang (Hg.), Sozialdemokratie und Habsburgerstaat, Band 1, Wien 1988, S. 131–165, hier S. 134. 119 Hirschfeld, Enzyklopädie, S. 261. Im August 1916 übernahmen der Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (1847–1934) und sein Stabschef Erich Ludendorff (1865–1937) die dritte und letzte OHL. 120 Vgl. Eifert, Frauenarbeit, S. 286. 121 Vgl. Augeneder, Arbeiterinnen, S. 104. 122 Ebd., S. 56.
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»Die Arbeiterschutzgesetze hatten teilweise aufgehört. Man wollte nur viel Arbeit, eine möglichst hohe Arbeitsleistung, auch wenn die Menschen dabei zugrunde gehen mußten. Wenn so viele draußen an den Fronten starben, warum sollten die ›Soldaten des Hinterlandes‹, wie man die Frauen genannt hat, nicht auch sterben?«123 Tägliche Arbeitszeiten von bis zu achtzehn Stunden, Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit sowie ungenügende oder ausbleibende Arbeitspausen waren keine Seltenheit. Derartige Verhältnisse herrschten auch im Deutschen Reich. »Von der durch die Bundesratsverordnung vom 4. August 1914 eröffneten Möglichkeit der Zulassung von Ausnahmen von den Beschäftigungsbeschränkungen für Frauen und Jugendliche«, so Ute Daniel, »wurde ein derart extensiver Gebrauch gemacht, daß sie der Aufhebung der Arbeitsschutzbestimmungen gleich kam[.]«124 Darüber hinaus einte die Frauen beider Hauptstädte die Gemeinsamkeit, weniger zu verdienen als ihre männlichen Kollegen. Trotz der zu beobachtenden Abnahme der Verdienstunterschiede zwischen Frauen und Männern, verdienten Berlinerinnen mindestens ein Drittel weniger.125 In Wien fiel diese Diskrepanz Sieder zufolge noch größer aus: »Even for the same kind of work, women frequently earned just a third of male wage.«126 Die erwerbstätigen Frauen kämpften im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen aber nicht nur gegen einen geringeren Verdienst. Auch waren sie herausgefordert, ihre neue Rolle als »Familienernährerin« mit ihrer traditionellen Familienrolle in Einklang zu bringen. Wie vor dem Krieg hatten die Frauen den Haushalt zu organisieren, die Lebensmittel zu beschaffen und die Kinder zu versorgen. Wie aus den Ausführungen des Kommunalwissenschaftlers Hugo Lindemann (1867–1949) hervorgeht, war es den werktätigen Frauen in Anbetracht der Lebensmittelteuerung und des sich im Verlauf des Krieges ausbreitenden Lebensmittel- und Konsumgütermangels immer weniger möglich, ihre althergebrachten familiären Pflichten zu erfüllen: »Die Frauen sind nicht mehr imstande, den Einkauf vorzunehmen und daneben ihren Haushalt zu führen, wenn sie nicht über Hilfskräfte, größere Kinder, Verwandte usw. verfügen. Soweit sie aber in einem Erwerb beschäftigt sind – und ihre Zahl ist in stetem Wachsen begriffen – sind sie in einer geradezu hoffnungslosen Lage. Sie können nicht stundenlang vor den Läden stehen, um den Lebensmittelbedarf für ihre Familie in kleinsten Quantitäten zusammenzukaufen.«127 Je länger der Krieg andauerte, desto schwieriger wurde es für die Frauen beider Großstädte die für ihre Familien so wichtigen Lebensmittel und Bedarfsartikel zu beschaffen. Täglich stellten sich Hundertausende Berlinerinnen und Wienerinnen in aller Frühe vor
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Freundlich, Emmy: »Die Frauenarbeit im Kriege«, in: Leichter, Käthe, Handbuch der Frauenarbeit in Österreich, hg. Von der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien, Wien 1930, S. 19–27, hier S. 20. 124 Daniel, Arbeiterfrauen, S. 73. 125 Vgl. Eifert, Frauenarbeit, S. 287. 126 Sieder, Behind the lines, S. 119. Vgl. hierzu auch Herwig, First World War, S. 281. 127 Lindemann, Stadtgemeinde, S. 91. Zur Mehrbelastung der Arbeiterfrauen im Bereich der Hausarbeit siehe ausführlich Daniel, Arbeiterfrauen, S. 215ff. Sowie Augeneder, Arbeiterinnen, S. 135ff.
III. Metropolen im Krieg
den Geschäften an und oftmals zog die Mehrheit von ihnen nach langem Warten wieder mit leeren Händen davon. Das Kriegsphänomen der »Polonaisen« vor den Läden der Städte sei Daniel zufolge zum charakteristischen Merkmal der Hausarbeit im Krieg geworden.128 Die Haushaltsführung sei aber nicht nur durch das Anstehen für Lebensmittel und Konsumgüter erschwert worden: »Je mehr sich die Qualität der Nahrungsmittel verschlechterte, desto mehr Zeit und Energie mußte auf ihre Zubereitung verwendet werden. Je seltener Nahrungsmittel oder Bekleidung zugeteilt wurden, desto intensiver mußte das Vorhandene durch Sparen oder Flicken gestreckt werden. Abfälle waren für die Wiederverwertung aufzubereiten, Lebensmittel wurden in den Einzelhaushalten konserviert. Das Diktat des Angebots, das die öffentliche Bewirtschaftung mit sich brachte, konfrontierte die Hausfrauen mit ihnen bislang unbekannten Nahrungsmitteln und machte durch die Unberechenbarkeit der Zuteilungen ein geplantes Wirtschaften unmöglich[.]«129 Die schon vor dem Krieg verbreitete Vermittlung von hauswirtschaftlichen Kenntnissen in Form von Vorträgen, Kursen und Ratgebern durch Frauenvereine und Behörden hatte bereits im ersten Kriegsjahr Hochkonjunktur. Doch trotz ihrer Ausrichtung auf die veränderten Kriegsverhältnisse lieferten diese den hauswirtschaftenden Frauen kaum Unterstützung. Zu unvorhersehbar waren die sich schnell ändernden Versorgungsbedingungen. In vielen Familienhaushalten waren die werktätigen Ehefrauen und Mütter bei der Versorgung sehr bald auf die Mithilfe ihrer Kinder angewiesen. So standen auch zahlreiche Hauptstadtkinder – oftmals vergebens – in den Polonaisen vor den Geschäften, begaben sich auf Brennholzsuche oder begleiteten die familiären Hamsterfahrten aufs Land.130 Nach Daniel war beinahe das gesamte Familienleben während des Krieges durch seine wirtschaftliche Funktion, d.h. die Produktion und Konsumtion von Gütern, geprägt. Währenddessen reduzierten sich die physische und psychische Reproduktionsleistung der Familien auf das Allernotwendigste.131 Für unzählige Frauen, die durch die familiäre Notsituation auf eine Lohnarbeit angewiesen waren, gestaltete sich demzufolge auch die Kinderversorgung und -erziehung als Teil der familiären Reproduktionsleistung äußerst schwierig. Wie Augeneder darlegt, war der Großteil der erwerbstätigen Österreicherinnen gezwungen, ihre Kinder bereits vier Wochen nach der Geburt tagsüber in die Obhut einer anderen Person zu geben. »Häufig waren das Verwandte, mitunter auch die älteren Geschwister, oft mußte das Kind aber auch zu fremden Leuten in Kostpflege gegeben werden.«132 Da die Betreu128 Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 217. Siehe exemplarisch für Wien Augeneder, Arbeiterinnen, S. 141. 129 Daniel, Arbeiterfrauen, S. 218. 130 Hierzu ausführlich u.a. Winterberg, Yury und Sonya Winterberg: Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg, Berlin 2014, S. 303ff. Stekl, Hannes und Christa Hämmerle: »Kindheit/en im Ersten Weltkrieg – eine Annäherung«, in: dies. und Ernst Bruckmüller (Hg.), Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg, Wien 2015, S. 7–44, hier S. 21f. Sieder, Reinhard: »Wiener Arbeiterkinder. Praktiken des Alltagslebens und die Anfänge der eugenischen Fürsorgepolitik«, in: ebd., S. 260–285, hier S. 280f. Sowie ders., Behind the lines, S. 120ff. 131 Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 126 sowie S. 265. 132 Augeneder, Arbeiterinnen, S. 155.
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ungskosten häufig nicht im Verhältnis zum Verdienst der Arbeiterfrauen standen, sahen sich viele »Familienernährerinnen« genötigt, einer Heimarbeit und somit einer Tätigkeit zu Hungerlöhnen nachzugehen. Es gab auch nicht wenige berufstätige Mütter, die ihre Kinder gezwungenermaßen von morgens bis abends unbeaufsichtigt sich selbst überließen. Die mangelnde Aufsicht führte vielfach zu Unglückfällen im Haushalt sowie zu einer enormen Zunahme der Kinder- und Jugendkriminalität.133 Zwar engagierten sich einige wenige private Vereine wie die Kinderfreunde und die Bereitschaft in Wien oder die Volkskinderhorte von Herrmann Abraham in Berlin auf diesem Gebiet, doch waren sie in Anbetracht der hohen Zahl von Kindern und Familien in hoffnungsloser Lage nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Im Deutschen Reich wurden ab der zweiten Kriegshälfte auf dem Gebiet der Kinderfürsorge sowie in weiteren Fürsorgebereichen auch staatliche Maßnahmen ergriffen, um nicht nur möglichst viele Frauen mit Doppelbelastung für die Kriegswirtschaft zu mobilisieren, sondern auch deren Arbeitseinsatz langfristig sicherzustellen. Nach dem Erlass des Hilfsdienstgesetzes seien, wie Landwehr darlegt, beim Kriegsamt ein Referat für Frauenarbeit als Arbeitsbeschaffungsorganisation eingerichtet und ein aus mehreren Frauen- und Fürsorgeorganisationen zusammengeschlossener und für die fürsorgerische Betreuung zuständiger Nationaler Ausschuss für Frauenarbeit im Kriege gebildet worden.134 Mit der Zusammenführung beider Organisationen im Sommer 1917 entstand die Frauenzentrale beim Kriegsamt, die von der Frauenrechtlerin Marie-Elisabeth Lüders (1878–1966) geleitet wurde. Neben ihr stellten sich viele bekannte Persönlichkeiten aus der Frauenbewegung und der Sozialarbeit, darunter u.a. Gertrud Bäumer und Alice Salomon (1872–1948), in den Dienst der Zentrale und bemühten sich um die Erhöhung der weiblichen Arbeitsfähigkeit und -willigkeit. Erreicht werden sollte dies durch ein spezielles Fürsorgewesen für die erwerbstätigen Frauen. Nach dem Arbeitsprogramm der Institution, das vom Vorsitzenden des Kriegsamtes Generalleutnant Wilhelm Groener (1867–1939) festgelegt wurde, hatte die Frauenzentrale »darauf hinzuwirken, daß alle Arbeitshemmnisse für die Frau nach Möglichkeit hinweggeräumt werden. Hierzu gehört: a) Schutz der Gesundheit[,] b) Bereitstellung geeigneter Erholungsräume, Wohn- und Schlafgelegenheiten[,] c) Beschaffung angemessener Berufskleidung[,] d) Verbesserung der Beförderungsverhältnisse und Verkehrsmittel[,] e) Verbesserung der Organisation der Nahrungsmittelbeschaffung und -verteilung für die Frauen[.]«135 Hierzu gehörte auch eine planmäßige Kinder- und Säuglingsfürsorge, welche die Einrichtung von Kinderpflegestellen, Krippen, Stillstuben und ähnlichem in den Fabriken und Betrieben zu bewerkstelligen hatte. Da hierfür ausgebildetes Fabrikpflegepersonal benötigt wurde, organisierte das Kriegsamt Lehrkurse, wodurch der Umfang der Fabrik-
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Vgl. ebd., S. 167. Ma-Kircher, Die Frauen, S. 79. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 269. Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 85. Sowie Gersdorff, Ursula von: Frauen im Kriegsdienst 1914–1945, Stuttgart 1969, S. 22ff. Besonders ausführlich Lüders, Das unbekannte Heer, S. 104ff. Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 62. Siehe auch Gersdorff, Frauen, S. 23. Ferner Daniel, Arbeiterfrauen, S. 100ff.
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pflege schnell zunahm.136 Die planmäßige Mobilisierung der weiblichen Bevölkerung durch die Fürsorgetätigkeit im Kriegsamt sei, wie Sachße und Tennstedt erklären, mit der klassischen Fürsorgearbeit nicht mehr zu vergleichen gewesen, denn unter den Bedingungen des Krieges sei die Fürsorgearbeit erstmals Gegenstand zentralstaatlicher Sozialverantwortung geworden.137 Die umfassende Förderung der Frauenfürsorgearbeit darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass längst nicht alle erwerbstätigen Frauen ihren Nutzen daraus ziehen konnten. Nach den Ausführungen von Emmy Freundlich seien nicht mehr als dreißig bis sechzig Prozent der deutschen Arbeiterinnen von der Fabrikfürsorge erfasst worden.138 So blieb doch ein beträchtlicher Teil der berufstätigen Frauen »sich selbst und ihrer Not überlassen«139 . Dieses Schicksal teilten sie wiederum mit vielen Arbeiterinnen in Wien und Österreich, wo es keine vergleichbare Einrichtung oder eine ähnliche Förderung der Frauenfürsorge gab. Indessen verstärkte sich aber das kommunale wie staatliche Engagement auf dem Gebiet der Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge. So wurde z.B. im Laufe des Jahres 1917 das k.u.k. Ministerium für soziale Fürsorge gegründet, womit die Fürsorge Weigl zufolge gesetzlich verankert wurde.140 Fürsorgeeinrichtungen für Schwangere, Wöchnerinnen und Mütter sowie Säuglinge und Kleinkinder, Beratungsstellen, Krippen, Kleinkinderheime und Kinderbewahranstalten nahmen sich fortan der Bedürftigen an. Für die Mehrheit der werktätigen Wienerinnen und ihre Familien galt es jedoch, die Schwierigkeiten des Kriegsalltags auf eigene Faust zu bewältigen.
1.3 Die Verwaltung des Mangels: Die städtische Lebensmittelversorgung in der Krise Ebenso wie die Organisation der Kriegsfürsorge fiel die Sicherstellung der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln in den Aufgabenbereich der kommunalen Selbstverwaltung.141 In Erwartung eines kurzen Krieges wurden auch auf dem Gebiet der Nahrungsmittelwirtschaft keine langfristigen Vorbereitungen getroffen. Weder im Deutschen Reich noch in Österreich-Ungarn war den Verantwortlichen auf kommunaler und staatlicher Ebene zu Beginn des Krieges klar wie komplex und schwierig sich dieser Aufgabenbereich schon wenige Wochen später gestalten würde. So dauerte es nicht lange und der Hunger breitete sich schleichend in den Grenzen der Bündnispartner aus.
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In 877 Betrieben des Reiches waren ab Mitte 1917 bis zum Kriegsende 630 Fabrikpflegerinnen tätig, die bis zu 700.000 Arbeiterinnen betreuten. Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 86. 137 Vgl. Sachße/Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, S. 63. 138 Vgl. Freundlich, Frauenarbeit, S. 25. 139 Ebd. 140 Vgl. Weigl, Daseinsfürsorge, S. 346. 141 Vgl. Ackerl, Isabella: Österreichs Ernährungslage während des Krieges und in den Nachkriegsjahren bis 1920. Zu den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung Hans Löwenfeld-Russ, in: Löwenfeld-Russ, Hans und dies. (Hg.), Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung 1918–1920, Wien 1986, S. IX-XXIV, hier S. XIII. Sowie Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 312.
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1.3.1 Hungrige Metropolen: Improvisierte Versorgungsmaßnahmen 1914–1916 In der Vorkriegszeit produzierte die Habsburgermonarchie genug Nahrungsmittel, um den Bedarf der eigenen Bevölkerung an tierischen Produkten, Getreide, Gemüse und Obst zu decken. Den Löwenanteil der Eigenproduktion leistete hierbei die ungarische Reichshälfte. Österreich war auf fast allen Sektoren der landwirtschaftlichen Produktion auf die Importe aus Transleithanien angewiesen. Demzufolge war eine ausreichende »Approvisionierung«142 der Wiener Bevölkerung ohne das ernährungswirtschaftlich so wichtige Hinterland Ungarn kaum möglich.143 Diese Abhängigkeit aber stellte Österreich bei Ausbruch des Krieges nicht infrage. Es verließ sich auf seine »Korn- und Fleischkammer«: »Eine Not an Fleisch ist selbst bei sehr langer Dauer des Krieges nicht zu befürchten. […] Ungarn, und besonders Süd-Ungarn, hat einen solchen Reichtum an Rindern und Schweinen, daß wir dem längsten Krieg ruhig entgegensehen können.«144 Doch vertragliche Vereinbarungen, die einen einheitlichen Wirtschaftsraum festlegten bzw. die ungarischen Lieferungen nach Cisleithanien absicherten, existierten nicht. Infolge der unzureichenden Ernteerträge im Jahr 1914 reduzierte Ungarn sehr bald nach Kriegsausbruch seine Zulieferungen. Die österreichischen Appelle für eine gemeinsame Leitung der Ernährungswirtschaft fanden bei der ungarischen Regierung keinen Anklang. So war die Versorgung Wiens und Österreichs während der Fortdauer des Krieges durchweg vom »ungarischen Gutdünken«145 abhängig. Gemessen am Vorkriegsniveau veranschaulicht Ernst Langthaler den Rückgang der ungarischen Nahrungsmittellieferungen: »Der Warenstrom entlang des Korridors von Ungarn nach Österreich versiegte nach und nach. Die österreichischen Einfuhren aus Ungarn sanken bis 1917 auf 2 Prozent, von Mehl auf 3 Prozent, von Rindern auf 29 Prozent, von Schweinen auf 19 Prozent und von Milch auf 17 Prozent des Vorkriegsdurchschnitts […]. Die gesamte Viehzufuhr nach Wien schrumpfte bis 1918 auf 30 Prozent der Menge von 1914.«146 Durch die Kriegsverhältnisse war Österreich außerstande die ausgebliebenen Einfuhren anderweitig auszugleichen. Noch bevor die alliierte Seeblockade im November 1914 142 Amtssprachlich veraltete, doch in der Literatur noch häufig verwendete österreichische Bezeichnung für die Versorgung mit Lebensmitteln. 143 Vgl. Fritz, Judith: »Ursachen der Versorgungskrise«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/ursachen-der-versorgungskrise (28.02.2018). Anders als die Mehrheit der anderen österreichischen Städte, die sich größtenteils aus ihrer ländlichen Umgebung versorgen konnten, war Wien stets auf überregionale Zufuhren angewiesen, wodurch die Hauptstadt eine besondere Position hinsichtlich der Ernährungsversorgung einnahm. Hierzu vgl. Weisgram, Alfred: Das Problem der Versorgung Wiens mit Lebensmitteln von der Zeit nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie bis zur Trennung Wiens von Niederösterreich. Dissertation, Universität Wien, Wien 1969, S. 246. 144 »Approvisionierung Wiens«, in: Die Zeit, 22. August 1914. Siehe auch Breiter, Marion: Hinter der Front. Zur Versorgungslage der Zivilbevölkerung im Wien des Ersten Weltkriegs, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 50 (1994), S. 229–267, hier S. 232. 145 Ackerl, Österreichs Ernährungslage, S. XIII. 146 Langthaler, Vom transnationalen, S. 312.
III. Metropolen im Krieg
eingeleitet wurde, fiel mit der russischen Besetzung Galiziens Anfang September 1914 ein weiterer wichtiger Agrarwarenlieferant für Cisleithanien aus. Letztlich blieb für die Approvisionierung der Hauptstadt der Habsburgermonarchie nur noch der Versorgungsring Niederösterreich, dessen landwirtschaftliche Produktion durch fehlende Zugtiere und Arbeitskräfte infolge der Mobilisierung sowie des Mangels an Saatgut und Futtermitteln bis 1917 auf die Hälfte des Friedensvolumens schrumpfte.147 Das in Teilen planlose Requirieren zahlreicher Nahrungsmittel und Güter des zivilen Bedarfs seitens der Heeresverwaltung tat ein Übriges. Nach dem österreichischen Zeithistoriker Hans Hautmann seien die Versorgungsprobleme nicht einfach ein unvermeidliches »bloßes Verhängnis« oder ein nicht regulierbares »Walten des Schicksals« gewesen. Die zunehmende Not in der Bevölkerung habe in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der »Kriegspolitik der herrschenden Klassen« gestanden: »Staatliche Bemühungen, die Versorgung der Arbeiter im Gesamtinteresse der Herrschenden auf einem einigermaßen erträglichen Niveau zu halten, kollidierten mit den Profitinteressen der Großgrundbesitzer, Nahrungsmittelindustriellen und Großhändler, die sich jeder Beeinträchtigung ihres Gewinnstrebens erbittert widersetzten. Sowohl diese Gruppen als auch ihre Kompagnons – Schieber, Spekulanten, Kriegsgewinnler – nützten den Nahrungsmittelmangel rücksichtslos aus. Sie horteten die aufgekauften Waren in ihren Lagern, um sie bei weiterer Verknappung eines Artikels mit großem Gewinn zu verkaufen.«148 Seit dem ersten Tag des Krieges waltete die Preistreiberei auf den Wiener Märkten. Die Wiener Bevölkerung reagierte unmittelbar mit Vorratskäufen, ersten Teuerungsdemonstrationen und kleineren krawallartigen Auftritten gegenüber den Marktleuten. Während der ersten Kriegswochen vermochte sich in Wien niemand vorzustellen, was auf die Donaumetropole in den folgenden vier Jahren noch zukommen würde. Im Deutschen Reich nahm die Entwicklung nach dem Ausbruch des Krieges einen ähnlichen Verlauf. Auch die deutsche Landwirtschaft produzierte zu Friedenszeiten einen beträchtlichen Teil der reichsweit konsumierten Lebensmittel selbst, wie Thierry Bonzon und Belinda Davis hervorheben: »[…] German agriculture produced 90 per cent of the bread cereals, meat, and dairy products, and almost all the nation’s necessary supply of potatoes and sugar. In particular, Berlin profited from the rich arable lands of Brandenburg and West Prussia.«149 Die Deckung des Bedarfs an Fetten, Fisch und Eiern erfolgte zu sechzig Prozent in Eigenproduktion. Im Gegensatz zur Habsburgermonarchie, die zumindest gesamtstaatlich betrachtet in Friedenszeiten genug Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierte, deckte das Deutsche Reich die Nachfrage nach Gemüse und Obst sowie Weizen, Nährmitteln und Hülsenfrüchten hingegen in großen Mengen durch Importe.
147 Vgl. ebd. Sowie Fritz, Ursachen (oben Kapitel iii, Anm. 143). 148 Hautmann, Hunger, S. 671. 149 Bonzon, Thierry und Belinda J. Davis: »Feeding the cities«, in: Winter/Robert, Capital Cities, 1997, S. 305–341, hier S. 309.
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Insgesamt importierte das Reich in den Jahren vor 1914 zwanzig Prozent der konsumierten Lebensmittel. Jährlich wurden zudem fast sechs Millionen Tonnen Futtermittel eingeführt.150 »Diese Einfuhren«, so Thomas Schindler, »brachen fast zeitgleich mit dem Kriegsbeginn weg, was die Reichsführung zunächst aber nicht beunruhigte […].«151 Die Reichsebene und Ernährungswissenschaftler waren überzeugt, dass die deutsche Landwirtschaft das Volk während des »kurzen Krieges« aus eigener Produktion ernähren könne, wenn dieses sich einer klugen und selbstlosen Einschränkung unterwerfe.152 »Wir werden«, so versicherte der Ernährungsexperte Max Winckel in seiner Broschüre »Krieg und Volksernährung« von 1914, »in Zukunft nicht an einer Nahrungsnot zu leiden haben, wir müssen aber lernen uns einzuschränken und die dem heimischen, deutschen Boden erwachsene Nahrung rationell […] verwerten.«153 Dies war ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte. Der Importausfall blieb nicht das einzige Hindernis in der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung im Deutschen Reich. Hinzu kamen zum einen wie in Ungarn schlechte Ernten, welche die Produktionsmenge und -qualität reduzierten, und zum anderen die Zurückhaltung produzierter Nahrungsmittel durch die Landwirte.154 Die von Winckel propagierte sparsame Verwertung, die durch die »Lebensmittelstreckung« und Konsumeinschränkung erreicht werden sollte, gestaltete sich durch diese zusätzliche und nicht unbeträchtliche Nahrungsmittelverknappung sehr viel schwieriger als angenommen. Auch für die deutsche Bevölkerung wurde die Knappheit der Nahrungsmittel unmittelbar nach Ausbruch des Krieges spürbar, indem die Preise für Schweinefleisch, Fett, Brot und Hülsenfrüchte stiegen. Im September berichtete der Vorwärts von ersten »deutliche[n] Zeichen eines drückenden Notstands« in den Berliner Arbeitervierteln.155 Ein großer Teil der ärmeren Bevölkerung habe sich schon jetzt kein Fleisch mehr leisten können und diejenigen, die noch genug Mittel aufbringen konnten, hatten lange Wartezeiten beim Fleischerwerb in Kauf nehmen müssen. Fleisch, insbesondere Schweinefleisch,
150 Vgl. Allen, Food, S. 182. 151 Schindler, Thomas: »Ernährung in der Krise. Anmerkungen zur Ersatzmittelbewirtschaftung in Marburg während des Kriegsjahres 1916«, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG), Band 111 (2006), S. 219–236, hier S. 220. Ein sechzehnköpfiges Expertengremium unter der Leitung von Paul Eltzbacher (1868–1928) beschäftigte sich unmittelbar nach Ausbruch des Krieges mit der Ernährungsfrage. Laut Avner Offer hatte diese Kommission die Aufgabe, den Vorkriegskonsum und den Umfang des Kriegsbedarfs zu ermitteln. Dabei kamen die Experten zu dem Ergebnis, dass 27 Prozent des Eiweißbedarfs und 42 Prozent des Fettverbrauchs in Deutschland durch Importe gedeckt wurden. Hierzu ausführlich in Eltzbacher, Paul (Hg.): Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan. Eine Denkschrift von Friedrich Aereboe et al., Braunschweig 1914, S. 62f. Vgl. auch Offer, First World War, S. 25. 152 Vgl. Winckel, Max: Krieg und Volksernährung, München 1914, S. 6. GStAPK, I. HA Rep. 193A, Nr. 127. Ferner Flemming/Ulrich, Heimatfront, S. 160. 153 Winckel, Krieg, S. 6. Andere Ernährungsexperten wie zum Beispiel Max Rubner betrachteten den Krieg sogar als günstige Gelegenheit für die Bevölkerung, sich von ihrer schlechten Angewohnheit, dem übermäßigen Nahrungsmittelverbrauch, zu lösen. Vgl. hierzu Davis, Home Fires, S. 27. Ferner Allen, Food, S. 173f. 154 Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 183. Flemming/Ulrich, Heimatfront, S. 166. 155 Vorwärts, 8. September 1914, zitiert bei Glatzer/Glatzer, Berliner Leben, S. 86f.
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aber war zur Genüge vorhanden. Belinda Davis sieht die Ursache der Fleischteuerung bei den Produzenten: »Farmers argued that the cost of fodder and the limitations on their use of potatoes as fodder drove up the cost. By February, pork prices had become completely ›unaffordable… for the poorer circles of the population‹ […].«156 Neben der Fleischteuerung zeichnete sich auch früh die Getreideknappheit ab. Die Reichshauptstadt hatte noch Ende Juli mit einem Mehl-Großeinkauf versucht sich für die erste Kriegszeit zu wappnen. Ende Oktober 1914 wurde die stärkere Ausmahlung des Brotgetreides und eine Streckung des Roggenbrotes mit zunächst fünf und bald schon darauf zehn Prozent Kartoffelzusätzen angeordnet. So sei das berühmte K-Brot entstanden, das, wie Anne Roerkohl erklärt, sowohl »Kartoffelbrot« als auch patriotisch »Kriegsbrot« genannt worden sei.157 Diese Maßnahmen waren jedoch nicht ausreichend, sodass auf Drängen der deutschen Kommunen Ende Januar 1915 vom Bundesrat die Regelung des Verkehrs von Brotgetreide und Mehl und somit deren Rationierung verordnet wurde. Es folgte die Beschlagnahme des gesamten Getreidebestands durch die im November gegründete Kriegsgetreidegesellschaft (ab Ende Februar 1915 Reichsgetreidestelle) und die Einführung der Brotkarte in Berlin. »Der Tagessatz sah für den Verbraucher eine Menge von 225g Mehl vor, die einer wöchentlichen Ration von 2000g Brot entsprach.«158 Mit der Einführung der Brotkarte bildeten Berlin und der Großteil seiner Vororte fortan eine »Brotkartengemeinschaft«159 . Nicht wenigen Berlinern war der Bezug von Nahrungsmitteln durch Lebensmittelscheine zu diesem Zeitpunkt schon bekannt. So erhielten die Unterstützten der Kriegsfürsorge und -wohlfahrtspflege im Rahmen der Lebensmittelanweisungen des NFD bereits seit Anfang Oktober 1914 Brot-, Milch- und Speisemarken sowie Lebensmittelscheine.160 Die Einrichtung der Mehlverteilungsstelle und der Magistratsabteilung für Brotversorgung leitete, wie in der Darstellung der Berliner Kriegsverwaltung gezeigt wurde, die Entstehung eines umfangreichen und unüberschaubaren Versorgungssystems in die Wege. So folgten schon bald weitere Abteilungen bzw. Verteilungsstellen u.a. für Butter, Milch und Kartoffeln. Eine ähnliche Struktur des 156 157
Davis, Home Fires, S. 69. Vgl. Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 315. Vgl. auch Baudis, Schweinemord, S. 135. Ebenso Davis, Home Fires, S. 28f. Daneben gab es ab Januar 1915 noch das KK-Brot, welches zu zwanzig Prozent aus Kartoffelzusätzen hergestellt wurde. 158 Baudis, Schweinemord, S. 135. In vorbildlicher Weise habe sich die Berliner Bevölkerung diesen Beschränkungen unterworfen, wie der Magistrat von Berlin rückblickend festhielt. Vgl. Die Versorgung Berlins mit Mehl und Brot im Erntejahr 1914/15, hg. Vom Magistrat von Berlin, Berlin 1915, S. 20f. 159 Zur Brotkartengemeinschaft gehörten neben Berlin die Vororte Charlottenburg, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg und Wilmersdorf sowie zahlreiche Gemeinden der Landkreise Teltow und Niederbarnim. Käber zufolge wuchs die Zahl der beteiligten Gemeinden während des Krieges auf 44, womit sie sich auf weite Teile des Groß-Berliner Raums erstreckte. Vgl. ders., Berlin, S. 162. 160 Wöchentlich meldeten die 23 Hilfskommissionen den Bedarf an Marken ihrer Unterstützungssuchenden und die kalkulierten Kosten beim Generalbüro des Berliner Magistrats. Hierzu vgl. die wöchentlichen Schreiben betreffend die Bedarfsanmeldungen an Lebensmittelmarken des NFD an den Magistrat von Berlin, hier das Schreiben vom 10. Oktober 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931.
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Berliner Versorgungssystems entstand auch auf der Reichsebene.161 Im Jahr 1917 zählten die Reichsbehörden über 100 staatliche Einrichtungen zur Lebensmittelbewirtschaftung. Zur gleichen Zeit nahmen auch die Versorgungsprobleme in der zunehmend isolierten österreichischen Reichshälfte der k.k. Monarchie zu. Vor allem die Wiener Versorgungssituation hatte sich seit Beginn des Jahres 1915 merkbar verschlechtert. Die Auswirkungen der alliierten Blockadepolitik waren inzwischen spürbar. Über Italien waren keine Zufuhren mehr möglich und auch Ungarn verwehrte weiterhin die Lebensmittelzulieferungen. Wie in Berlin kämpfte die Habsburgermetropole bereits im Oktober mit einer Getreideknappheit, sodass auch hier die Streckung der Mehlvorräte und die Einführung des so genannten K-Brots unumgänglich waren. Auf Anweisung des k.k. Handelsministeriums sollten dem Brotgetreide fortan billigere Getreidesorten wie Mais, Gerste oder Dinkel beigemischt werden.162 Die Grundlage für derartige Vorgaben bildete eine Verordnung, die Kaiser Franz Joseph i. noch im gleichen Monat unterzeichnete. Sie ermächtigte die Regierung »aus Anlaß der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen«163 . Mit diesem kaiserlichen Erlass, dem noch eine Reihe weiterer Gesetze sowie Ministerialverordnungen folgen sollten, wurde der Grundstein für die Schaffung von insgesamt 91 Kriegszentralen einschließlich der Einführung des Bezugskartensystems für Lebensmittel, Rohstoffe und Bedarfsartikel gelegt. »Nach und nach mußten die im Laufe des Krieges so verhaßten ›Zentralen‹ geschaffen werden, was zu Friktionen auf allen Ebenen führte. Diese, immer ad hoc für den akuten Bedarfsfall geschaffen, wiesen unterschiedlichste rechtliche Strukturen auf. Sie waren entweder staatliche Verwaltungsanstalten, Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Kartellartige [sic! …] oder Zwangsverbände. Sie alle waren gleichzeitig Organe der staatlichen Verwaltung.«164 Im Februar 1915 wurde mit der Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt die erste von zwanzig Lebensmittelkriegszentralen ins Leben gerufen. Diese führte zwei Monate später die Bezugskarten für Brot und Mehl ein und legte die wöchentlichen Rationen auf 1.960 Gramm Brot bzw. 1.400 Gramm Mehl fest.165 Mittlerweile kämpfte Wien aber nicht mehr nur mit Engpässen bei der Brot- und Mehlversorgung. Auch für Milch und Kartoffeln bildeten sich inzwischen lange Warteschlangen vor den Geschäften. In den äußeren Wiener Bezirken war der Andrang vor den Lebensmittelgeschäften besonders groß. Die Angst, ohne Brot heimzukehren, konnten hier auch die Rationskarten nicht mindern:
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Vgl. U.a. Teuteberg, Food Provisioning, S. 61ff. Kellerhoff, Heimatfront, S. 193f. Vgl. Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 213. Kaiserliche Verordnung vom 10. Oktober 1914, mit welcher die Regierung ermächtigt wird, aus Anlaß der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen. Reichsgesetzblatt (RGBl) für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, 1849–1918, Nr. 274, S. 1113. 164 Ackerl, Österreichs Ernährungslage, S. XIII. Vgl. auch Enderle-Burcel, Verwaltung, S. 278f. Ferner Breiter, Hinter der Front, S. 233. 165 Vgl. Weigl, Mangel, S. 16. Sowie Hautmann, Hunger, S. 666f.
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»In den frühesten Morgenstunden schon beginnt es vor den Niederlagen der Brotfabriken lebendig zu werden, um 5 Uhr und früher noch kommen die ersten, die sich einen Platz ganz dicht vor der Ladentür erobern wollen, um nur ja Brot zu bekommen; denn es ist furchtbar, abgewiesen zu werden und mit leeren Händen nach Hause zu kommen.«166 Im Mai 1915 wurde darüber hinaus der Fleischverkauf auf fünf Tage pro Woche beschränkt. Da es sich schon längst Hundertausende Familien nicht mehr leisten konnten, regelmäßig hochwertige Lebensmittel wie Fleisch oder Butter zu kaufen, sei dies, wie Hautmann darlegt, für die arbeitende Bevölkerung bittere Ironie gewesen.167 Auch in ihrem Stimmungsbericht vom 14. Oktober 1915 hob die Wiener Polizeidirektion hervor, dass die Fleisch- und Fettpreise für den Großteil der Bevölkerung schon lange nicht mehr erschwinglich seien. Noch dazu habe eine empfindliche Not an zahlreichen weiteren Lebensmitteln geherrscht.168 Die Stimmung innerhalb der Wiener Bevölkerung hatte sich mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn merklich verschlechtert. Ihren Ärger und ihren Unmut über die schwierigen Versorgungsverhältnisse und das Missmanagement äußerten die Wiener deutlich. Eine Momentaufnahme liefert ein Polizeibericht: »[… M]an will uns den letzten Heller aus der Tasche nehmen und uns dabei aushungern; […] die Regierung ist Schuld, weil sie keine Energie bekundet und keine Massnahmen ergreift, um schon bei den Produzenten die Höchstpreise zu fixieren […]. Die Bauern füttern ihr Vieh mit Milch und Kartoffeln, und wir haben nichts zu essen; die Milchgrosshändler schicken keine Kannen hinaus, damit keine Milch hereinkomme. Die Bahnverwaltung stelle keine Waggons bei, die Bauern und Kartoffelhändler halten ihre Waren zu Wucherzwecken zurück und die Regierung schaue zu und dulde alles; ohne die vorhandenen Lebensmittel einfach zu requirieren […].«169 Während in Wien die Unzufriedenheit und die »Ausverkauft«-Schilder in den Lebensmittelgeschäften in ihrer Zahl zunahmen, kämpfte auch die Hauptstadt des Bündnispartners mit immer größeren Versorgungsschwierigkeiten. Auch hier beobachtete die Polizei im März 1915 eine »tiefgreifende Mißstimmung« unter den Berlinern.170 Kaum war die Rationierung des Brotes in Berlin geregelt, kündigte sich die Kartoffelknappheit an. Wermuths Ambitionen, die »kommunalpolitische Errungenschaft« der Brotkartengemeinschaft auf weitere Lebensmittel auszuweiten, schlugen fehl: »Wenige Monate nach Einführung der Brotkarte versuchte ich ohne Erfolg, die Verteilung der Kartoffeln auf die gleiche große Grundlage zu bringen. Und jedesmal, wenn
166 Österreichische Volkszeitung, 17. April 1915, zitiert bei Pfoser, Alfred: »Wohin der Krieg führt. Eine Chronologie des Zusammenbruchs«, in: ders./Weigl, Epizentrum, S. 578–687, hier S. 605. 167 Vgl. Hautmann, Hunger, S. 666. 168 Vgl. WBD, Stimmungsbericht vom 14. Oktober 1915, S. 1. 169 Ebd., S. 1f. 170 Vgl. »Bericht der Abteilung VII, Exekutive, 6. Kommissariat an den Polizeipräsidenten, 5. März 1915«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 48.
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nachher ein neues Nahrungsmittel unter öffentliche Regelung fiel, erhob sich von neuem der leidige Streit [mit den Berliner Vorortgemeinden].«171 In dieser und den daran anschließenden Ausführungen des Oberbürgermeisters ließ er sein Missbehagen durchblicken, was angesichts der Berliner Versorgungssituation im Frühjahr 1915 nachvollziehbar war. Der im November 1914 festgelegte Höchstpreis von drei Mark für den Zentner Kartoffeln erhöhte sich auf 3,70 Mark.172 Diese erste »Kartoffelkrise«, die einen Vorgeschmack des noch Kommenden bot, war in zweierlei Hinsicht ein schwerwiegendes Problem. Zum einen war die Kartoffel ein bedeutender Faktor in der Ernährung der (Berliner) Bevölkerung, da sie bis zu diesem Zeitpunkt eine preisgünstige und wichtige Kalorienquelle bildete.173 Besonders den sozial schwachen Bevölkerungsteil trafen die Preissteigerungen hart. »The potato question,« so Davis, »is the most important, the most burning, since the potato plays such an important role for the poorer population.«174 Zum anderen schränkten die fehlenden Kartoffeln die Verfügbarkeit des »K-Brotes« ein. Was brachte also die frisch eingeführte Brotkarte, wenn das dazugehörige Lebensmittel nicht angeboten werden konnte?
Abbildung 4: Wöchentliche Bedarfsanmeldungen für Brotmarken durch den NFD (1914–1918)
Quelle: Die einzelnen Angaben wurden nach den wöchentlich vom NFD erstellten Listen an den Berliner Magistrat zusammengetragen. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931–1935.
171 172 173
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Wermuth, Beamtenleben, S. 382. Vgl. Davis, Home Fires, S. 50 und S. 69. Vgl. ebd., S. 49ff. Demgegenüber spielte die Kartoffel in Österreich keine so bedeutende Rolle. Im Vergleich zum Deutschen Reich war der Kartoffelkonsum in den österreichischen Alpenländern geringer, wobei in der Habsburgermetropole Wien insgesamt mehr Erdäpfel verbraucht wurden als im übrigen Österreich. Vgl. hierzu Landwehr von Pragenau, Ottokar: Hunger. Die Erschöpfungsjahre der Mittelmächte 1917/18, Zürich 1931, S. 113f. Davis, Home Fires, S. 56. Vgl. auch »Bericht der Abteilung VII, Exekutive, 6. Kommissariat an den Polizeipräsidenten, 5. März 1915«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 48.
III. Metropolen im Krieg
Anmerkungen zu Abbildung 4 Die Angaben entsprechen jeweils einer ausgewählten Woche des jeweiligen Monats. Die zeitlichen Abstände zwischen den gewählten Wochen umfassen drei bis vier Wochen. Im November/Dezember 1914 höchste Anzahl der Bedarfsanmeldungen mit 20.100 bzw. 16.000. Ab Anfang Februar 1915 bis Ende März 1915 erfolgte keine Ausgabe von Brotmarken. Seit Ende März 1915 bis Anfang Dezember 1915 lagen Meldungen unter 1.000 Stück (mit Ausnahme August/September 1.100 Stück). Ab Dezember 1915 bis August 1916 Steigerung auf über 1.000 bis 1.350. Nochmalige Zunahme ab Anfang September 1916 bis Ende Juli 1917 mit rund 2.000 bis 2.600 Meldungen.
Das fehlende Brot spiegelte sich auch in den Bedarfsanmeldungen für Lebensmittelmarken des NFD vom Februar und März wider (Abb. 4).175 Der NFD beschloss aufgrund der Brotknappheit vorerst keine Brotmarken mehr auszugeben.176 So war die Bevölkerung in gewisser Weise doppelt von der Kartoffelknappheit getroffen. Die Verzweiflung sei Davis zufolge »from the bottom, up to and including circles of the Mittelstand« zu beobachten gewesen.177 Bereits im Februar 1915 befürchtete die Berliner Polizei, dass die drückende Not unter den Berlinern dazu führen könnte, dass die Geschäfte gestürmt würden. Kurz darauf berichtete ein Kriminalschutzmann an den Berliner Polizeipräsidenten von einem städtischen Kartoffelverkauf, der außer Kontrolle geraten war: »Als der Verkauf eröffnet wurde, stürmte alles mit Gewalt auf die Verkaufsstände los. Die Schutzleute, die den Verkehr an den Zugängen zu den Verkaufsständen regeln wollten, wurden einfach überrannt und waren gegen den Ansturm machtlos. An den Verkaufsstellen entstand infolgedessen ein lebensgefährliches Gedränge; jeder versuchte zuerst nach vorn zu kommen, wobei sich die Frauen das Zeug vom Leibe rissen und die Kinder rücksichtslos zu Boden getreten wurden, die dann jämmerlich um Hilfe schrien […].«178 Der Kartoffelknappheit stand wiederum eine Zunahme der Schweinebestände gegenüber, die zugleich eine der Ursachen für die fehlenden Erdäpfel darstellte. Da die Fütterung der Tiere mit Getreide nicht mehr erlaubt und die Futtermittelpreise enorm gestiegen waren, griffen die Produzenten zunehmend zur Kartoffel. Für die Beseitigung der Kartoffelnot und die Sicherstellung der Ernährung musste aus Sicht der Verantwortlichen das Vieh als Nahrungsmittelkonkurrent des Menschen in seinen Beständen reduziert werden.179 Was folgte, war der »Schweinemord« vom Frühjahr 1915 – die »Bartholo-
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Siehe oben Kapitel iii, Anm. 160. Vgl. Schreiben des NFD an den Berliner Magistrat vom 8. Februar 1915. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1933. Davis, Home Fires, S. 57. »Bericht der Abteilung VII, Exekutive, 3. Kommissariat an den Polizeipräsidenten Berlin, 17. Februar 1915«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 43f. Vgl. Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 323.
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mäusnacht der Borstentiere«180 , in welcher der Schweinebestand um ein Drittel gesenkt wurde. »Nach der Aktion«, so Baudis, »kamen im späten Frühjahr 1915 wieder ausreichend Kartoffeln auf den Berliner Markt.«181 Dies bestätigt auch die Übersicht zu den Bedarfsanmeldungen für Kartoffelmarken durch die Hilfskommissionen des NFD. Im Juni erhöhte sich die Anzahl gemeldeter Marken und erreichte fast den gleichen Bedarfsstand wie zur Zeit vor der Krise (Abb. 5).182 Es blieben jedoch Zweifel, wie Baudis weiter erklärt, »ob das die Folge der Massenabschlachtungen war oder nicht vielmehr darauf zurückging, daß die Spekulanten mit fortschreitender Jahreszeit gezwungen waren, ihre Lager zu leeren«.183
Abbildung 5: Wöchentliche Bedarfsanmeldungen für Kartoffelmarken durch den NFD (Jan. 1915 bis Dez. 1916)
Quelle: Die einzelnen Angaben wurden nach den wöchentlich vom NFD erstellten Listen an den Berliner Magistrat zusammengetragen. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931–1935.
180 Baudis, Schweinemord, S. 136. 181 Ebd. 182 Ab Juli/August stürzten die Anmeldungen jedoch weit unter das Niveau der Krise im Frühjahr ab und nahmen erst mit der Spätkartoffelernte im Oktober wieder zu. Die rasch einsetzende Kartoffelteuerung im Sommer 1915 kann eine Erklärung dafür sein. Fast zeitgleich mit den sinkenden Bedarfsanmeldungen für Kartoffeln stieg der Bedarf an Gemüse, auf das ein Teil der von den Hilfskommissionen unterstützten Konsumenten möglicherweise auswich. Vgl. hierzu die wöchentlichen Bedarfsanmeldungen für Gemüsemarken nach den Listen des NFD an den Berliner Magistrat. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931–1935. Ein anderer Teil könnte sich auch anderweitig mit Kartoffeln versorgt haben, zum Beispiel durch den direkten und günstigeren Kauf beim Produzenten im Berliner Umland. Ebenso ist es möglich, dass sich infolge der Krisenerfahrung einige der Konsumenten – sofern sie es sich leisten konnten – bei Einsetzen des Überangebots mit größeren Mengen Kartoffeln eingedeckt hatten und der Bedarf infolgedessen zurückgegangen war. Realistisch betrachtet, reichen all diese Erklärungsansätze noch immer nicht aus, um einen derartigen Bedarfsrückgang zu begründen. Es muss demnach noch weitere Ursachen gegeben haben, die an dieser Stelle nicht festzustellen waren. 183 Baudis, Schweinemord, S. 136f.
III. Metropolen im Krieg
Anmerkungen zu Abbildung 5 Die Angaben entsprechen jeweils einer ausgewählten Woche des jeweiligen Monats. Die zeitlichen Abstände zwischen den gewählten Wochen umfassen zwei bis vier Wochen. Bis Januar 1915 erfolgte keine Ausgabe von Kartoffelmarken. Im Februar 1915 wurde mit rund 13.900 gemeldeten Marken der Höchststand erreicht. Ab Ende Februar 1915 halbierte sich die Anzahl der Meldungen (zeitgleich erste Kartoffelkrise). Anschließend kontinuierlicher Anstieg bis im Juni ein weiterer Höchststand erreicht wurde (zeitgleich verstärkte Freigabe der Kartoffelvorräte durch Produzenten; Frühkartoffelernte; Schweinemord). Nach Juni 1915 sank die Anzahl der Meldungen rapide bis zum Tiefstand im August mit nur 160 gemeldeten Marken. Erst ab Ende September wurden wieder über 1.000 Marken pro Woche gemeldet. Weitere Steigerungen auf über 4.000 Marken im November 1915 (Spätkartoffelernte mit Rekordergebnis) und auf über 5.000 Marken zwischen April und Juli 1916. Nach August 1916 wurden keine Kartoffeln mehr gemeldet. Vermutlich stand dies im Zusammenhang mit den zeitgleich eingeführten Volksspeisemarken.
Letztendlich waren sehr viel mehr Kartoffelvorräte vorhanden als angenommen. Die im April 1915 gegründete Reichskartoffelstelle, welche als Vermittlungszentrale zwischen den Bedarfs- und Überschussverbänden dienen sollte, blieb auf ihren Beständen sitzen, weil sich viele Kommunen durch das Überangebot wieder veranlasst sahen, die Versorgung über den freien Handel zu organisieren. Die Reichsregierung sah die Versorgung über den freien Markt gesichert und war weiterhin überzeugt, dass konkrete Bestimmungen zur Kartoffelrationierung sowie gleichzeitige Verfügungsbeschränkungen überflüssig seien.184 Dem Druck der Gemeinden zu weiteren staatlichen Eingriffen wurde nicht nachgegeben, wie Roerkohl darlegt: »[… D]ie vorausgegangenen Fehlberechnungen steigerten das Vertrauen in die deutsche Kartoffelproduktion. Dieser Optimismus, verbunden mit der Aussicht auf eine überdurchschnittliche Ernte ließ die öffentliche Bewirtschaftung als unnötig erscheinen.«185 Die Kartoffelernte fiel tatsächlich sehr gut aus. Doch durch die Aufrechterhaltung liberaler Marktstrukturen standen die Kommunalverbände bald wieder vor den gleichen Problemen. Sie waren angewiesen, die Kartoffelversorgung für den kommenden Winter zu sichern, was sich durch die Zurückhaltung der Ware durch die Produzenten und die einsetzende Teuerung, die sich auch aus der Konkurrenz der Kommunen untereinander ergab, schwierig gestaltete.186 Schließlich entschloss sich die Reichsregierung zu
184 Vgl. Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 327. 185 Ebd. 186 Die Anweisung zur Sicherstellung der Kartoffelversorgung erfolgte durch die Bundesratsverordnung vom 9. Oktober 1915. Hierzu und zu den damit verbundenen Problemen ausführlich ebd., S. 329ff.
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Beginn des Jahres 1916 zu neuen Maßnahmen. Die Regelung der gesamten Kartoffelversorgung wurde der Reichsstelle übertragen. Darüber hinaus wurden die Kommunalverbände zur Enteignung bestimmter Mengen bei den Produzenten ihres Bezirks berechtigt. »Diese Neuregelung«, so Roerkohl, »leitete auf dem Gebiet der Kartoffelversorgung die zentrale Bewirtschaftung ein, die durch zusätzliche Maßnahmen im Laufe des nächsten Wirtschaftsjahres weiter ausgebaut werden sollte.«187 Neben den anhaltenden Schwierigkeiten bei der Kartoffelversorgung bis zur zweiten Kriegshälfte hatte Berlin wie viele andere deutsche Kommunen immer wieder Probleme bei der Fleischversorgung, die ebenfalls weiter über den freien Handel zu gewährleisten war. Infolge des »Schweinemordes« stiegen die Preise dauerhaft an und das Fleisch wurde mehr und mehr zum Luxusartikel. Die Versuche, der minderbemittelten Bevölkerung wenigstens »minder wertvolles« Fleisch zu sichern, liefen ins Leere.188 Die Befürchtung einer allgemeinen Fleischnot im Winter 1915/16 veranlasste die Kommunen Ende Oktober beim Innenministerium die Einführung von zwei fleischfreien Tagen einzufordern, um den Verbrauch einzuschränken. Der Bundesrat erklärte daraufhin den Dienstag und Freitag für »fleischfrei«. Wie schon in Wien zu beobachten war, wurde den Minderbemittelten dadurch wenig geholfen. So beklagte der Berliner Sozialdemokrat Emanuel Wurm (1857–1920): »Mit dieser Einführung fleischloser Tage ist der ärmeren Bevölkerung gar nicht geholfen, denn sie hat – leider zum Schaden ihrer Gesundheit! – schon seit langer Zeit nicht nur zwei, sondern oft sieben fleischlose Tage in der Woche!«189 Doch nicht nur das Fleisch fehlte. Seit dem Sommer stieg auch der Preis für Butter, der in Berlin gegenüber weiten Teilen des Reiches schon immer etwas höher war. Im Oktober 1915 zahlte die Bevölkerung für das Pfund Butter 3,30 Mark und damit doppelt soviel wie noch im Herbst des Vorjahres. Die Verärgerung vor allem der ärmeren Schichten bekam die Stadt durch »Krawalle« zu spüren. Mitte Oktober kam es im Osten und Nordosten der Stadt mehr als vierzig Mal zu Unruhen, die mit der Butterteuerung in Verbindung standen.190 »Tagelang«, so Kellerhoff, »kam es immer wieder zu kleineren Protesten, flogen Steine in Schaufenster. Doch die Schutzmacht griff hart durch, und der Bundesrat beschloss, Höchstpreise für Butter, Kartoffeln und Fleisch einzuführen.«191 Die Berliner Bevölkerung verlor jedoch zunehmend das Vertrauen in die Wirksamkeit der Regierungsmaßnahmen. Dabei bekam zunächst vor allem die Berliner Kommunalverwaltung den Unmut und die Kritik der Menschen an der Versorgungssituation zu spüren. 187
Ebd., S. 331. Hieran anschließend verdeutlicht Roerkohl zugleich die Beweggründe der Reichsleitung, mit der Ergreifung weitergehender Maßnahmen abzuwarten. Die Ursachen für die Zurückhaltung lagen in der geringen Lagerfähigkeit der Kartoffel (eine Beschlagnahme aller Bestände durch die Reichsstelle kam daher nicht in Frage), in fehlenden statistischen Grundlagen über die tatsächlichen Ernteerträge und nicht zuletzt in der Unkenntnis der verantwortlichen Regierungsstellen über den Kartoffelmarkt. Vgl. ebd., S. 331f. 188 Hierzu ausführlich ebd. 189 Glatzer/Glatzer, Berliner Leben, S. 210. 190 Zu den Butterunruhen ausführlich ebd., S. 80ff. Sowie Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 89ff. 191 Kellerhoff, Heimatfront, S. 187.
III. Metropolen im Krieg
Kaum anders entwickelten sich die Verhältnisse in der Habsburgermetropole, wo die Stimmung in der Bevölkerung ebenfalls allmählich umschlug. Mitte Mai 1916 führte die Frustration über den Organisationsmangel zu einer Serie von Hungerkrawallen. Um gegen die Inflation und Lebensmittelknappheit zu demonstrieren, versammelten sich zahlreiche »verbitterte Menschenmassen« auf den Straßen der Wiener Außenbezirke. Die Unzufriedenheit und Wut der Wiener war inzwischen so groß, dass diese Ansammlungen zwischen dem 11. und 16. Mai in einer Reihe von Sachbeschädigungen, Diebstählen und Angriffen auf die städtischen Sicherheitskräfte mündeten.192 Der Ärger und die Verbitterung richtete sich wie in Berlin gegen die Verwaltung und dabei vor allem gegen Weiskirchner, der von den Wienern für die Versorgungsmisere verantwortlich gemacht wurde. Der Bürgermeister erhielt in Anlehnung an das ungeliebte und unbekömmliche Maisbrot den Spitznamen »Maiskirchner« und war inzwischen der »meistgeschmähte Politiker« Wiens.193 Dabei setzte das Stadtoberhaupt alle Hebel in Bewegung, um eine Verbesserung der Versorgungsituation herbeizuführen. Bei der zentralen Bewirtschaftung, die mit großem bürokratischen Aufwand voranschritt, nahm Wien in der k.k. Monarchie die Vorreiterrolle ein. Nach der Brotkarte kam im April 1916 die Zuckerkarte, im Mai die Milchkarte, im Juli die Kaffeekarte und im September 1916 die Fettund Butterkarte. Angesichts der instabilen Lebensmittelzufuhr konnten die Behörden aber lediglich steuern wie viel dem Einzelnen theoretisch zustand. Die Karten allein garantierten keine Ware. Darüber hinaus gab es Verteilungsprobleme, sodass sich die Obmännerkonferenz mit Klagen schlecht versorgter Bezirke auseinanderzusetzen hatte.
Abbildung 6: Gelieferte Kartoffel- und Gemüsemengen in Wien (Nov. 1914 bis Feb. 1917)
Quelle: Zusammengestellt nach den Mitteilungen der Wiener Verwaltung im Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Sonder-Abdruck, 1. Dezember 1914 bis 20. März 1917.
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Hierzu ausführlich WBD, Stimmungsbericht vom 18. Mai 1916, S. 1–7. Sowie Healy, Maureen: »Eine Stadt, in der sich täglich Hunderttausende anstellen«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 150–161, hier S. 155f. Vgl. auch Proctor, Civilians, S. 88. Vgl. hierzu und für die weiteren Ausführungen Pfoser, Chronologie, S. 627ff.
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Anmerkungen zu Abbildung 6 Da die Angaben im Amtsblatt teilweise voneinander abwichen, sollten die Daten lediglich als Richtungswerte betrachtet werden. Ermittelt wurden die Unstimmigkeiten durch die Gegenüberstellung der jeweils aktuellen Monatsmengen und der Liefermengen des gleichen Monats im vergangenen Jahr. So entsprachen die Angaben über die Liefermengen von Juli bis November 1916 nicht den Vorjahresangaben vom Juli bis November 1917. Gewählt wurden i.d.R. die geringeren Mengenangaben. Die davon abweichenden höheren Werte könnten auf etwaige doppelt gezählte Zulieferungen zurückgeführt werden. Für die Monate März und April 1917 liegt lediglich ein Wert für beide Monate vor. Dieser wurde in der Abbildung zur vereinfachten Darstellung halbiert. Für den Monat Dezember 1917 liegen keine Angaben vor.
Die Vorräte der Habsburgermetropole reichten stets nur für wenige Tage, sodass eine sichere Versorgung nicht möglich war. Ein Blick auf die gelieferten Kartoffel-, Gemüseund Buttermengen veranschaulicht wie rapide der Umfang vorhandener Lebensmittel in Wien seit dem Herbst 1915 schrumpfte (Abb. 6, Abb. 7). Die Wiener Bevölkerung habe Pfoser zufolge von der Hand in den Mund gelebt.194 In Anbetracht dieser Verhältnisse lief auch der von Weiskirchner zur Schaffung von Lebensmittelvorräten vorangetriebene Ausbau der städtischen Lagerhäuser und Speicher sowie die Einrichtung eines Kühllagerhauses ins Leere. Wie seine Stadtbewohner reagierte auch der Bürgermeister, der die Schuld für die Versorgungskrise von sich wies und die Kritik an seiner Amtsführung nicht nachvollziehen konnte, zunehmend gereizt auf die chaotischen Verhältnisse.195 Die Fülle an Verordnungen, die Konflikte um die Höchstpreise und die für Wien so verhängnisvolle Abhängigkeit von den halbstaatlichen Zentralen verleiteten den Kriegsbürgermeister regelmäßig dazu, das Gesamtsystem infrage zu stellen.196 Für die Anliegen seiner Stadt hielt sich Weiskirchner mit Kritik an der Staatsregierung nicht zurück. Wie in einer Rede vom 5. Oktober 1916 klagte er sie regelmäßig offen an: »Was nützt es, Höchstpreise zu besitzen, wenn man nicht die Verfügung über die nötige Warenquantität besitzt? Es ist die Pflicht der Regierung, durch ihre Verfügungen […] der Stadt Wien jene Mengen Kartoffeln zu sichern, die die Bevölkerung braucht.«197 Bis über das Kriegsende hinaus ließ der christlichsoziale Politiker kaum eine Gelegenheit aus, auf die Not und die Sorgen seiner Stadt aufmerksam zu machen. So machte er sich seit Ende Mai 1917 auch im Herrenhaus des Reichsrates für die Belange der hungernden Donaumetropole stark.
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Vgl. ebd., S. 630. Vgl. Healy, Vienna, S. 58ff. Vgl. Mertens, Weiskirchner, S. 154. Pfoser, Chronologie, S. 633.
III. Metropolen im Krieg
Abbildung 7: Gelieferte Buttermengen in Wien (Nov. 1914 bis Feb. 1917)
Da die Angaben im Amtsblatt teilweise voneinander abwichen, sollten die Daten lediglich als Richtungswerte betrachtet werden. Zur Zusammenstellung der Daten vgl. die Anmerkungen zu Abb. 6. Quelle: Zusammengestellt nach den Mitteilungen der Wiener Verwaltung im Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Sonder-Abdruck, 1. Dezember 1914 bis 20. März 1917.
Nach den Aufständen im Mai 1916 nahm im Herbst 1916 die gereizte Stimmung in der Wiener Bevölkerung weiter zu. Die wachsende Ungeduld der Menschen führte zu einer zunehmenden Nervosität bei der Wiener Polizei, die täglich über 1.000 Sicherheitskräfte auf den Straßen Wiens einsetzte. Einen Gesamteindruck der angespannten Lage, die täglich Hunderttausende Wiener zum »Anstellen« zwang, liefert Pfoser: »Die Sicherheitswache ist mit Streit und gegenseitigen Beschimpfungen konfrontiert. ›Exzessive Frauen‹ halten aufreizende Reden, beleidigen und bespucken die Wachorgane. Diese müssen sich Schmähungen […] gefallen lassen und stillhalten, damit die Situation nicht eskaliert. Anordnungen wird nicht mehr Folge geleistet. […] Im Oktober 1916 droht die Arbeiterschaft mehrerer großer Unternehmen mit Arbeitseinstellung, falls sie nicht mit Lebensmitteln versorgt werden. Geschäfte müssen vorsichtshalber geschlossen werden. Argwohn und Aggression gegen die Flüchtlinge steigen, sie werden als unlautere Konkurrenz erlebt. […] In den nächtlichen Straßen Wiens tobt ein Kampf ums Überleben. Frauen drohen, ihre Kinder zu ertränken oder zu erhängen. […] Hunderte verrichten ihre Notdurft in den Hauseingängen. Menschen fallen in der Menge in Ohnmacht. Hysterie und Panik kommen auf, tausend Gerüchte machen die Runde […]. Die Menschen erzählen einander, dass nächstens die Lebensmittelversorgung überhaupt komplett versiegt und Wien verhungern muss.«198 Wie aus den Stimmungsberichten der Wiener Polizeidirektion seit Mitte Oktober 1916 hervorgeht, musste die Wiener Bevölkerung in den Wochen vor Beginn des grausigen Hungerwinters 1916/17 bereits für nahezu jedes Lebensmittel anstehen.199 Schon längst 198 Ebd., S. 634. Siehe auch WBD, Stimmungsbericht vom 16. November 1916, S. 1. 199 Aus der Beilage zum Stimmungsbericht vom 19. Oktober 1916 geht hervor, für wie viele Waren sich inzwischen lange Warteschlangen bildeten: »Ansammlungen finden gegenwärtig bei folgenden Artikeln statt (nach der Grösse der Ansammlungen geordnet): Mehl, Kartoffeln, Milch, Brot, Fett,
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standen nicht mehr nur die Erwachsenen in den nicht enden wollenden Menschenschlangen, die seit 1915 ein vertrautes Bild des Wiener Stadtlebens waren. Immer mehr Kinder fanden sich in den Reihen der Anstehenden wieder. »Children standing outside all night in lines«, betont Healy, »became a symbol of the breakdown of social order in Vienna.«200 Wie in der deutschen Hauptstadt wuchsen die Frustration und der Vertrauensverlust hinsichtlich der ausbleibenden oder zögerlichen Maßnahmen der Regierung. In Österreich aber trat noch ein weiterer – wenn auch nicht maßgeblicher – Aspekt hinzu, der die Unzufriedenheit und den Pessimismus in der Bevölkerung zusätzlich nährte. So blickten die Menschen hier wiederholt »beschämt« auf die sehr viel positiver wahrgenommenen Versorgungsverhältnisse des Bündnispartners. Aus ihrer Sicht hinkten die österreichischen Approvisionierungsmaßnahmen denen der deutschen deutlich hinterher. »[Zwar] ist man […] auch im Deutschen Reich der Lage nicht [ganz gewachsen]«, so der Westungarische Grenzbote im November 1916, »aber gegenüber unserer Hilflosigkeit […] erscheint uns dort alles bewunderungswürdig.«201 Doch spätestens im Winter 1916/17 sollte sich zeigen, dass sich die Verhältnisse – insbesondere in den beiden Hauptstädten – doch sehr viel ähnlicher waren als von den Österreichern angenommen wurde.
1.3.2 Berlin laviert und Wien stirbt: Die Kriegsernährungswirtschaft 1916–1918 Sowohl in Deutschland als auch in Österreich wurde es durch die Fülle der Verordnungen, die zugleich ständigen Änderungen unterzogen wurden, immer schwerer das Versorgungssystem zu überblicken.202 Die Maßnahmen, die häufig nicht mehr als »Papierlösungen« waren, beschränkten sich zumeist nur darauf die akuten Nahrungsmittelmängel für den Moment ihres Auftretens zu beheben. Die städtischen Verwaltungen wurden damit weitgehend allein gelassen und waren derart überfordert, dass sie ihre Reichsregierungen frühzeitig, aber lange Zeit vergeblich zur Ergreifung vorbeugender Maßnahmen sowie langfristiger Planungen drängten. Sowohl die Berliner als auch die Wiener wünschten sich eine übergeordnete Instanz, eine, wie Belinda Davis schreibt, »total centralized control of food supplies that would guarantee the ›fair‹ and ›equitable‹ distribution of food«203 . Erst im Mai 1916 kam die deutsche Reichsleitung dieser Forderung endlich nach und gründete das Kriegsernährungsamt (KEA) als einheitliche Verwaltungsstelle zur Nahrungsmittelbeschaffung. Es sollte die ungeordneten Versorgungsverhältnisse in den Griff bekommen und die Funktion eines »Lebensmitteldiktators« übernehmen. Doch es zeigte sich schnell, dass das Amt, nach dem sich die Bevölkerung so lange Zeit
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Butter, Zucker, Kaffee, Salz, Petroleum, Spiritus, Seife, Eier, serbisches Rindfleisch, Zwetschken, Tabak, Pferdefleisch, Knochen, Reis, Gries, Margarine, Innereien, Hülsenfrüchte, Cichorie, Fleisch, Marmelade, Zwieback, diätische Bäckerei.« WBD, Generalübersicht Kundenansammlungen beim Lebensmitteleinkaufe vom 16. Oktober 1916, S. 1. Vgl. u.a. auch die Stimmungsberichte vom 19. Oktober und 2. November 1916. Healy, Vienna, S. 75. Westungarischer Grenzbote, 21. November 1916, zitiert bei Pfoser, Chronologie, S. 629. Vgl. Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 335. Sowie Healy, Vienna, S. 63f. Davis, Home Fires, S. 114.
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gesehnt hatte, längst nicht die Befugnisse und Kompetenzen besaß, die es zur Lösung der Versorgungsprobleme benötigte. So verdeutlicht Ute Daniel: »Die bisherigen Bundesratsregelungen der Nahrungsmittelbewirtschaftung blieben in Kraft und dem Bundesrat unterstellt, nur die von ihm bislang nicht geregelten Materien unterstanden dem KEA. Das KEA erhielt keine Exekutivbefugnisse eigenen Rechts, sondern blieb auf die verschiedenen einzelstaatlichen Unterbehörden angewiesen; die Organisation der Heeresverpflegung wurde ihm nicht unterstellt, sondern weiterhin parallel und in Konkurrenz zur Versorgung der Zivilbevölkerung betrieben.«204 Mit der Errichtung des KEA war der Ausbau des Systems der zentralen Bewirtschaftung verbunden, das auf den Zentralstellen für die einzelnen Nahrungsmittel basierte. Den Reichsstellen für Getreide und Kartoffeln folgten weitere, sodass bis Dezember 1917 vierzig Reichsstellen und Kriegsgesellschaften nebeneinander existierten, die den Warenverkehr zentralisierten und den freien Güteraustausch über den Handel unterbanden.205 Die Verschlechterung der Versorgungslage ließ sich aber trotz dieses Planwirtschaftssystems nicht aufhalten.206 Nach den Ermittlungen des Kriegsausschusses für Konsumenteninteressen verbrauchte der Großteil der deutschen Stadtbewohner im Sommer 1916 nur noch vierzig Prozent des Vorkriegsverbrauchs.207 Die Rationen für die Grundnahrungsmittel umfassten für die Berliner Bevölkerung täglich 200 Gramm Mehl und 500 Gramm Kartoffeln sowie wöchentlich im Durchschnitt 330 Gramm Fleisch pro Kopf. Bei diesen gewährten Mengen blieb es jedoch nicht. Bereits im August mussten die Berliner Kürzungen bei der Fleischzuteilung hinnehmen. Die Fleischverbrauchsregelung lag bisher in den Händen der Gemeinden, was zu starken regionalen Differenzierungen bei den abgegebenen Höchstmengen führte. Um eine einheitliche Verteilung im Reich auf den Weg zu bringen, führte die im März gegründete Reichsfleischstelle die Fleischkarte mit einer Ration von 250 Gramm pro Kopf und Woche ein. Während die bisher in der Fleischversorgung zu kurz gekommenen Regionen mit der Reichsfleischkarte auf eine – wenn auch minimale – Verbesserung ihrer Versorgungslage hoffen konnten, verschlechterte sich das Versorgungsniveau und damit auch die Stimmung unter den Berlinern.208 Seit dem Sommer 1916 erschien kaum ein Stimmungsbericht der Polizei noch ohne die Betonung der allgemein zunehmenden Unzufriedenheit in der Berliner Bevölkerung. Mit der Kartoffelernte im Herbst, die weit hinter den Erwartungen zurückblieb, zeichneten sich die nächsten Versorgungsschwierigkeiten ab. Wegen schlechter Witterungsverhältnisse und nicht ausreichender Feldarbeitskräfte lag der Ernteertrag mit 204 205 206 207 208
Daniel, Arbeiterfrauen, S. 192. Vgl. Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 336. Vgl. ebd., S. 369. Vgl. Davis, Home Fires, S. 117. Vgl. Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 340. Für einige süddeutsche Staaten fiel die Rationsfestsetzung umfangreicher aus. Hier lagen die Wochenkopfmengen zum Teil noch bei 600 bis 700 Gramm. Demgegenüber hatten die norddeutschen, sächsischen und westdeutschen Regionen – sofern Fleisch vorhanden war – mit winzigen Mengen auszukommen. Vgl. ebd. Zur zunehmenden Verschlechterung der Stimmungslage in Berlin vgl. die Stimmungsberichte seit Juli 1916 in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 140ff.
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rund 25 Millionen Tonnen fast fünfzig Prozent unter dem Durchschnitt.209 Der Präsident des Kriegsernährungsamtes Adolf von Batocki (1868–1944) verdeutlichte den Ernst der Lage: »Wochenlang kein Fett, absolute Fleischlosigkeit, auch Mangel an Brot und Streckungsmitteln habe die Bevölkerung geduldig ertragen. Aber sobald die Kartoffelversorgung stockte, sei die Stimmung völlig umgeschlagen.«210 Über den bestehenden Mangel hinaus verschärfte sich die Situation zusätzlich, denn infolge des Hindenburg-Programms kam es »überraschend« zu Transportproblemen im Eisenbahnverkehr, die den Winter über andauerten und die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Waren behinderten.211 Kartoffeln und Kohlen erreichten die Reichshauptstadt längst nicht in dem Umfang wie sie gebraucht wurden. Die Berliner erlebten einen strengen und langen Winter mit Tiefsttemperaturen bis zu minus dreißig Grad. Neben der Kälte breitete sich der Hunger aus. Theodor Wolff, der Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts schilderte die Lage Ende Februar 1917 in seinem Tagebuch: »Mit den Nahrungsmitteln wird es immer übler. Die Brotration ist unzureichend, Kartoffeln fehlen ganz, man ißt, außer den Dingen, die man im blühenden ›Schleichhandel‹ erwirbt, fortwährend Kohlrüben[.]«212 Die Kohlrübe war mittlerweile das Hauptnahrungsmittel. Es gab Kohlrüben-Marmelade zum Frühstück, Kohlrübensuppe oder Kohlrüben-Koteletts zum Mittag und abends diente die Wrucke als Brotaufstrich.213 Auch das Brot, das noch stärker ausgemahlen wurde, bestand aus Kohlrüben. Fast alles konnte mit oder aus Kohlrüben hergestellt werden, wie Dieter Baudis bemerkt. Zudem konnten die niedrigen Rationen anderer wichtiger Lebensmittel »nicht in voller Höhe ausgeliefert werden, so daß der Hunger für die große Masse der Berliner Bevölkerung nicht mehr ein drohendes Gespenst, sondern tägliche Realität war«214 . Wie in den Monaten zuvor schon in Wien zeigte sich spätestens in diesem Hungerwinter auch in Berlin, dass die ausgeteilten Rationskarten noch lange keine Lebensmittel garantierten. Für die Mehrzahl der Stadtbewohner waren die Lebensmittelscheine oftmals nicht mehr als ein »Schnipsel Papier«.215 Eine Bedeutung erhielten sie für die Menschen erst, wenn sie sich das jeweilige Nahrungsmittel auch leisten konnten. »Poorer consumers complained in late 1916«, hebt Davis mit Blick auf die Verhältnisse in Berlin hervor, »that it was equally artificial and unnatural that the richest and best-connected Berliners had privileged access to food merely on account of money and social status.«216 209 210 211 212 213 214 215 216
Vgl. Herwig, First World War, S. 291. Baudis, Schweinemord, S. 147. Vgl. ebd. Zitiert bei Flemming/Ulrich, Heimatfront, S. 163. Vgl. Baudis, Schweinemord, S. 148. Ferner Kellerhoff Heimatfront, S. 223f. Baudis, Schweinemord, S. 148. Hierzu vgl. auch Herwig, First World War, S. 289. Vgl. Davis, Home Fires, S. 186. Ferner Offer, First World War, S. 27. Davis, Home Fires, S. 125. Anders als die inländischen Produkte waren die aus dem Ausland eingeführten Lebensmittel lange Zeit nicht von den Höchstpreisfestlegungen betroffen. Auch wenn sie nur eine kleine Minderheit darstellten, konnten die wohlhabenden Kreise bei Zahlung eines
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Ähnliche Beschwerden gab es auch in Wien. »Die Leute, die Geld haben,« klagten die Wiener, »die kriegen alles, nur der arme Teufel, der muss leiden, der kri[e]gt nichts.«217 Während die hungrige Bevölkerung unter dem Motto »Gleicher Hunger für alle« eine angemessene und gerechte Verteilung der Lebensmittel forderte, konnten sich die privilegierten Bevölkerungskreise auf dem Schwarzmarkt »mit nahezu allem versorgen, was sie zu einem ›normalen‹ Leben, jenseits von Hungerrationen und Ersatzstoffen brauchten«218 . Doch diese wahrgenommene Ungleichheit habe es nicht nur zwischen »oben« und »unten« gegeben, wie Christoph Nübel verdeutlicht, sondern auch innerhalb von Mittelstand und Arbeiterklasse, die sich u.a. aus der Sonderversorgung der Rüstungsarbeiterschaft ergab.219 Die unterschiedlichen Rationen für Schwer(st)arbeiter, Kinder und Normalverbraucher führte schließlich dazu, dass viele Familien auch innerhalb der eigenen vier Wände um eine gerechte Verteilung der Lebensmittel kämpften. Während bereits im Herbst 1916 deutlich wurde, dass das Kriegsernährungsamt keine Verbesserung der Versorgungslage in den deutschen Großstädten herbeiführen würde, begannen kurz vor Beginn des verheerenden Steckrübenwinters auch in Österreich alle Vorbereitungen zur Errichtung einer vergleichbaren Einrichtung. Im November 1916 erfolgte der Beschluss zur Gründung des österreichischen Amtes für Volksernährung, in dem alle Zuständigkeiten rund um die Lebensmittelversorgung gebündelt werden sollten.220 Es hatte die Nahrungsmittelvorräte zu erfassen, eine einheitliche Verteilung zu lenken und moderate Lebensmittelpreise zu gewährleisten. Die mit dem Amt verbundenen Hoffnungen auf eine Besserung der Lage gingen Hand in Hand mit den hohen Erwartungen an den jungen Kaiser Karl i. (1887–1922), der die Nachfolge des am 21. November verstorbenen Kaisers Franz Joseph i. antrat und sich ambitioniert dem Krisenmanagement hingab.221 Doch weder der neue Monarch in der Hofburg noch das Amt für Volksernährung waren imstande ein Ende der Not
höheren Preises noch immer Waren kaufen, die »angeblich überhaupt nicht vorhanden waren«. Hierzu ausführlich Baudis, Schweinemord, S. 144. Ferner Teuteberg, Food Provisioning, S. 69f. 217 WBD, Stimmungsbericht vom 1. Februar 1917, S. 3. Vgl. Auch Healy, Vienna, S. 61. Hautmann, Hunger, S. 679. 218 Flemming/Ulrich, Heimatfront, S. 179. 219 Vgl. Nübel, Die Mobilisierung, S. 154. Siehe auch Schmidt-Klingenberg, Michael: »Der Kampf in den Küchen. Wie die Mangelwirtschaft die Deutschen zur Revolution trieb«, in: Burgdorff, Stephan (Hg.) und Klaus Wiegrefe, Der Erste Weltkrieg. Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, München 2004, S. 134–146, hier S. 136. Über das Zulagenwesen für die Rüstungsarbeiterschaft hinaus geht Ute Daniel auch auf dessen unterschiedliche Handhabung und das damit verbundene Missfallen der Bevölkerung ein. Ebenso nimmt sie Bezug auf die Bevorzugung des Heeres bei der Nahrungsmittelversorgung, die in der Zivilbevölkerung immer mehr Unzufriedenheit hervorrief. Hierzu dies., Arbeiterfrauen, S. 194ff. Daniels Ausführungen treffen in gleicher Weise auf die Verhältnisse in der österreichischen Reichshälfte zu. 220 Die zuvor unternommenen Bemühungen des k.u.k. Kriegsministers Alexander von Krobatin (1849–1933) zur Errichtung eines gemeinsamen österreich-ungarischen Ernährungsamtes scheiterten am Widerstand der Regierungen beider Reichshälften. Hierzu ausführlich Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 683f. 221 Die Einrichtung des Amtes für Volksernährung wurde noch von Kaiser Franz Joseph i. in die Wege geleitet, der wenige Tage vor seinem Tod am 13. November 1916 die entsprechende Verordnung erließ. Hierzu vgl. Ackerl, Österreichs Ernährungslage, S. XV.
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in der Bevölkerung herbeizuführen. Während der schlecht vorbereitete Karl i. seine Möglichkeiten als Herrscher vollkommen überschätzte, entpuppte sich das zentrale Ernährungsamt schnell »als komplizierter Behördenapparat, in dem sich Landes-, Bezirks- und Gemeindewirtschaftsämter, Ernährungsinspektoren und Ernährungsrat nicht selten gegenseitig behinderten«222 . Nicht zuletzt erfolgte die Errichtung des Amtes für Volksernährung inmitten einer tiefgreifenden Versorgungsnot, der selbst mit »entschlossensten Maßnahmen« kaum noch Einhalt geboten werden konnte.223 Nach Hautmann konnte dem Amt für Volksernährung im Ergebnis nicht mehr gelingen als eine gleichmäßige Verteilung des Mangels auf die arbeitende Bevölkerung.224 Das grundsätzliche Problem der österreichischen Versorgungspolitik blieb die unzureichende Beschaffung der Lebensmittel. Ungarn sträubte sich noch immer gegen jegliche Bemühungen Österreichs um ein gemeinsames Vorgehen beider Reichshälften in Ernährungsfragen.225 Hinsichtlich dieses Widerstands brachte die Krönung des neuen Monarchen zum ungarischen König Karl iv. zumindest eine kleine, aber dennoch belanglose Wende. Nun willigte der ungarische Ministerpräsident István Tisza (1861–1918) in die Einrichtung eines »Gemeinsamen Ernährungsausschusses« ein, dem Vertreter des österreichischen und ungarischen Ernährungsamtes, des Armeeoberkommandos und des Kriegsministeriums angehörten.226 Doch dieses im Februar 1917 konstituierte Organ war »von vorneherein jeder Exekutive entkleidet und lediglich eine beratende, vermittelnde und informative Stelle«227 , die der ungarischen Selbstständigkeit nicht gefährlich werden konnte. Dieser »kleinste gemeinsame Nenner« war weit davon entfernt, eine geeinte Ernährungspolitik beider Reichshälften zu bewirken oder gar verbesserte Versorgungsverhältnisse in der Habsburgermetropole herbeizuführen.228 Abseits dieser administrativen Unternehmungen wuchs der Kreis der dauernd Hungrigen in der Millionenmetropole während des Winters 1916/17 weiter. Zum Hunger gesellte sich die Kälte, die bereits im Oktober über die Stadt hereinbrach:
222 Brenner, Andrea: »Das Maisgespenst im Stacheldraht. Improvisation und Ersatz in der Wiener Lebensmittelversorgung des Ersten Weltkriegs«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 140–149, hier S. 143. Darüber hinaus sei die Effizienz des Amtes und der Spielraum der Beamten stark eingeschränkt gewesen, da es dem Ministerpräsidenten unterstand und damit vom jeweiligen Amtsinhaber abhängig war. Ferner Ackerl, Österreichs Ernährungslage, S. XVf. 223 Vgl. Augeneder, Arbeiterinnen, S. 130. 224 Vgl. Hautmann, Hunger, S. 666. Vgl. auch Augeneder, Arbeiterinnen, S. 130. 225 Um ein noch schärferes Vorgehen der ungarischen Reichshälfte gegenüber Cisleithanien zu vermeiden, wurden die innerstaatlichen Streitigkeiten offiziell nicht thematisiert. Da der Presse untersagt war, über das Verhalten Ungarns zu berichten, glaubte die nur unzureichend informierte Wiener Bevölkerung, dass die Blockadepolitik der Feindstaaten die Hauptursache für die Versorgungsschwierigkeiten war. Hierzu vgl. Breiter, Hinter der Front, S. 239. 226 Vgl. Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, S. 691. 227 Ackerl, Österreichs Ernährungslage, S. XVI. 228 Der Ernährungsausschuss sollte Rauchensteiner zufolge allein die nötigen Daten vorhandener Nahrungsmittelmengen erheben, miteinander vergleichen und »notfalls in Einklang« bringen. Hierzu vgl. ders., Der Erste Weltkrieg, S. 691. Zur fortwährenden Uneinigkeit Österreichs und Ungarns vgl. die Schilderungen des damaligen Chefs des Ausschusses General Ottokar Landwehr von Pragenau (1868–1944). Ders., Hunger, S. 103ff.
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»Die Leute haben […] unter der herrschenden Kälte viel zu leiden; in den äusseren Bezirken sieht man vor den Geschäften sowohl Erwachsenen [sic!] in zerlumpten Kleidern und defekten Schuhen, vielfach (besonders Kinder) auch Barfuss [sic!] halb erstarrt anstehen. Viele Frauen werden infolge des stundenlangen Wartens in der Kälte von Unwohlsein befallen. Die Ansammlungen vor den Lebensmittelgeschäften nehmen allem Anscheine nach weiter zu, da die Bevölkerung durch die Angst vor dem Winter getrieben wird, sich Vorräte anzusammeln und sich anstellt, solange dies die Witterungsverhältnisse überhaupt noch gestatten.«229 Im Winter setzten sich die Kundenansammlungen für beinahe jedes Lebensmittel fort. Zwar erreichten die Stadt hin und wieder bedarfsdeckende Zufuhren von Fett, Fleisch, Obst und Gemüse sowie Brot, doch an der allgemein tristen Versorgungslage, die sich durch den Mangel an Heizmaterialien weiter verschärfte, änderten sie nichts. Die wenigen Kartoffelzufuhren waren stets unzureichend und die Qualität des Brotes wurde immer schlechter. Die Kohlrübe bildete wie in Berlin vielfach den Hauptbestandteil der Speisen.230 Die Stimmung der Wiener wurde zunehmend verbitterter und rebellischer. Lebensmittelrevolten, Krawalle, Demonstrationsumzüge und Streikandrohungen gehörten seit den Unruhen im Mai 1916 zum Wiener Kriegsalltag. Über die anhaltend schlechte Ernährungssituation hinaus schufen Schleichhandel und Preistreiberei eine »Atmosphäre des allgemeinen Misstrauens«231 . Aus einem Polizeibericht vom 10. Dezember 1916 geht hervor, dass nahezu jedes Lebensmittel vom Preiswucher betroffen war. Zugleich dokumentiert der Bericht, wie machtlos die Sicherheitskräfte den Wuchergeschäften gegenüberstanden: »Trotz der intensiven Betätigung der Sicherheitswache zur Bekämpfung der Preistreibereien steigen die Preise für sämtliche Artikel des täglichen Bedarfes unaufhörlich weiter und haben im allgemeinen zum mindesten die dreifache Höhe der Sätze vor dem Kriege erlangt […]. Seit August 1915 bis inkl. November 1916 wurden durch die Sicherheitswache wegen Uebertretungen auf dem Gebiete der Approvisionierung, namentlich wegen Preistreiberei, Nichtersichtlichmachung der Preise, Verkaufsverweigerung etz. im Sinne der kaiserlichen Verordnung vom 7./8. 1915 […] und vom 21./8. 1916 […] 16.565 Anzeigen erstattet.«232 Die Wiener Bevölkerung verlor zusehends den Glauben an eine gerechte Verteilung der Lebensmittel und ließ sich von der Regierung und den von ihr ergriffenen Maßnahmen nichts mehr vormachen wie zahlreiche Klagen aufgebrachter und verzweifelter Wiener im Stimmungsbericht der Polizei vom 1. Februar 1917 belegen:
229 WBD, Stimmungsbericht vom 26. Oktober 1916, S. 3. 230 Hierzu vgl. Brenner, Das Maisgespenst, S. 143. 231 Rebhan-Glück, Ines: »Schleichhandel, Preistreiberei und Selbstversorgung«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/schl eichhandel-preistreiberei-und-selbstversorgung (18.02.2018). 232 WBD, Stimmungsberichte Band 1916/2, Tätigkeitsbericht der k.k. Polizei-Direktion in Wien vom 10. Dezember 1916, S. 1f.
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»›Sie sollen aufhören vom Kriegführen, wenn’s nichts mehr haben und uns nicht hungern lassen.‹ […] ›Man soll uns gleich erschiessen oder sonst umbringen, aber doch nicht so langsam dahin sterben [sic!] lassen.‹ […] ›Wir werden stehlen, was wir brauchen, wenn andere Millionen unterschlagen. Die Minister, Heereslieferanten und Wucherer soll man […] aufhängen und solange hängen lassen, bis sie die Bevölkerung gesehen hat […]‹.«233 Während des harten Winters 1916/17 verschwanden allmählich die Einigkeit und Solidarität in der Wiener und der Berliner Bevölkerung. Sowohl der Krieg als auch der Staat wurden von den Menschen an der Heimatfront immer mehr in Frage gestellt. Da die Behörden nicht fähig waren, die Versorgungsprobleme gerecht zu lösen und der »Hierarchie der Privilegien« freien Lauf ließen, fühlte sich die Bevölkerung im Stich gelassen.234 Mit Blick auf die Lage in Wien kommt Maureen Healy zu dem Ergebnis: »It was clear that local, regional and state authorities did not have control over the supply and distribution of food in the capital city. The government’s failed food management, a self-described ›sack with a hundred holes‹, eroded civilians’ commitment to, and practice of, the two key tenets of the home front: ›holding out‹ and the ›willingness to sacrifice‹.«235 Kaum anders entwickelten sich die Verhältnisse in der deutschen Reichshauptstadt. Der während des Krieges in Berlin arbeitende amerikanische Journalist Stephen Miles Bouton (1876–1963) beschrieb die Verhältnisse im Winter 1916/17: »Mit Ausnahme der sehr wohlhabenden Klassen war jeder Deutsche dauernd hungrig, er war hungrig nach dem Essen und ging hungrig ins Bett. Die Nahrung war nicht nur ungenügend an Quantität und von schlechter Qualität, sondern die tödliche Eintönigkeit der täglichen Mahlzeiten trug dazu bei, daß nicht nur die Stärke, sondern auch die Moral des Volkes schließlich zusammenbrach.«236 Nachdem in beiden Hauptstädten lange auf Arbeitskämpfe verzichtet wurde, führte die im Zuge der nicht enden wollenden Lebensmittelnot zunehmende Kriegsmüdigkeit im Frühjahr 1917 schließlich zu Protesten und Streiks. Die Missstimmung unter den Berliner Arbeitern mündete nach zahlreich angedrohten Arbeitsniederlegungen im April 1917 in einem Massenausstand, der jedoch wenig bewirkte. Die Versorgungsverhältnisse verschärften sich stattdessen weiter. Kaum war der »Kohlrübenwinter« überstanden, folgte im Sommer 1917 eine erneute Verschlechterung der Versorgungslage. Im Juli sei nach Roerkohl in der Zuteilung der wichtigsten Nahrungsmittel das größte Defizit zu verzeichnen gewesen.237 Die Brotrationen wurden gekürzt und auch die Kartoffelzufuhren
233 WBD, Stimmungsbericht vom 1. Februar 1917, S. 3f. 234 Vgl. Nübel, Die Mobilisierung, S. 155. Vgl. auch Hautmann, Hunger, S. 679. Ferner Unfried, Arbeiterschaft, S. 133. 235 Healy, Vienna, S. 72. Sowie dies.: »Am Pranger. Auf der Suche nach dem Schuldigen«, in: Pfoser/ Weigl, Epizentrum, S. 190–197, hier S. 197. Vgl. auch Unfried, Arbeiterschaft, S. 138. 236 Glatzer/Glatzer, Berliner Leben, S. 293. 237 Vgl. Roerkohl, Lebensmittelversorgung, S. 361. In einer Gegenüberstellung der wöchentlichen Rationen der Grundnahrungsmittel Brot, Kartoffeln, Fleisch, Fett und Zucker im Juli 1917 mit dem
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kamen erneut zum Erliegen. Darüber hinaus stockte die Versorgung mit weiterem Gemüse und Obst. Die tiefe Erbitterung in der Bevölkerung und die zu befürchtenden Folgen dokumentierte der Berliner Polizeipräsident Heinrich von Oppen (1869–1925) in einem seiner Stimmungsberichte: »Mutlosigkeit und Angst vor der Zukunft machen sich namentlich unter den Frauen mehr und mehr bemerkbar. […] Es grollt und wetterleuchtet, und wenn nicht bald eine Besserung in der Versorgungsregelung eintritt, so ist eine Entladung nicht außer dem Bereich der Möglichkeit. Schon jetzt sind Ansätze zu Tumulten auf den Lebensmittelmärkten Großberlins und Versuche zu Zusammenrottungen gemacht worden. Bis jetzt haben sie noch immer im Keime erstickt werden können. Aber wie lange noch wird der immer größer werdende Auflehnungsdrang zurückgedämmt werden können! Die Not und das Hungergefühl unterdrückt jede bessere Einsicht und macht unzugänglich gegen jede Vertröstung auf bald bessere Zeiten […].«238 Kaum einen Monat nach dem Berliner Massenstreik schlug die rebellische Stimmung auch in der Habsburgermetropole in Streiks und Arbeiterunruhen um. Im Mai 1917 legten die Arbeiter verschiedener Wiener Kriegsindustriebetriebe nach und nach die Arbeit nieder. Dabei führte nicht nur die schlechte Lebensmittelversorgung zu den Arbeitsniederlegungen, sondern auch die unzureichenden Löhne vieler weiblicher Arbeitskräfte, die während der Ereignisse die führende Rolle einnahmen. Mit dem Ausstand von 42.000 Beschäftigten erreichte der Massenstreik am 24. Mai seinen Höhepunkt.239 Die Gewerkschaftsführung, die wie die Sozialdemokratische Partei trotz der schon lange schwelenden Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft von den Streikvorfällen unvorbereitet getroffen wurde, stellte sich Margarete Grandner zufolge »notgedrungen« an die Spitze des Massenausstands. Das Ergebnis sei mit beachtlichen Lohnabschlüssen und der Rückkehr zur Normalarbeitszeit der Vorkriegszeit (53 12 Stunden pro Woche) außergewöhnlich gewesen.240 Wie in Berlin bewirkten die Vorgänge jedoch keine Verbesserung der Versorgungsbedingungen. Im Oktober 1917 wurde in Wien schließlich auch die Kartoffelkarte eingeführt, die eine Wochenration von 1.500 Gramm gewährleisten sollte. Doch binnen neun Monaten
Vorkriegsverbrauch verdeutlicht die Autorin das Ausmaß der schwierigen Verhältnisse. Danach erhielten die Großstädter mit 1.530 Gramm Brot lediglich 50,1 Prozent des Vorkriegskonsums. Der Umfang der Kartoffelration lag bei durchschnittlich 550 Gramm (16,7 Prozent des Vorkriegsverbrauchs). Die Fleischration betrug rund 477 Gramm (45,7 Prozent) und die Speisefettration siebzig Gramm (30,2 Prozent). Zucker wurde für diesen Monat gar nicht aufgeführt. Siehe hierzu die Aufstellung nach ebd., S. 363. 238 »87. Stimmungsbericht vom 21. Juli 1917, 1. Fassung«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 214f. Die vorliegende Fassung des Berichts wurde in umfangreichem Maß gekürzt und in völlig überarbeiteter Form abgesandt. Die geäußerten Befürchtungen wurden in der zweiten und offiziellen Fassung dieses Berichts gestrichen. Auf die Lebensmittelkrawalle im Juli 1917 geht auch Proctor ein. Vgl. dies., Civilians, S. 90. 239 Vgl. Grandner, Margarete: »Hungerstreiks, Rebellion, Revolutionsbereitschaft«, in: Pfoser/ Weigl, Epizentrum, S. 558–565, S. 562. Herwig, First World War, S. 283. 240 Vgl. Grandner, Hungerstreiks, S. 563.
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sanken die Kartoffelquoten auf ein halbes Kilogramm pro Woche. Darüber hinaus existierten seit dem Juli 1917 amtliche Einkaufsscheine für nicht-rationierte Lebensmittel wie Eier, Käse, Reis, Dörrgemüse und bis zur Einführung der Fleischkarte im September 1918 auch für Fleisch.241 Damit die Naturalien zur Verteilung gelangen konnten, mussten diese aber erst einmal vorhanden sein. Da dies schon lange nicht mehr der Fall war, nahm die Wiener Versorgungslage allmählich katastrophale Ausmaße an. Der erste Massenstreik im Mai 1917 war somit nur der Auftakt für weitere Massenausstände, die Wien im Januar und Juni des folgenden Jahres zum Stillstand brachten.242 Ausgelöst wurden beide Massenstreiks durch die Halbierung der Mehl- bzw. Brotrationen. Während des am 14. Januar 1918 ausgebrochenen Jännerstreiks gingen bis zu 113.000 Wiener Arbeiter in den Ausstand. Von den Arbeitsniederlegungen waren dieses Mal nicht nur die Großbetriebe der Kriegs- und Metallindustrie betroffen, sondern auch die Zeitungsredaktionen, Modebetriebe sowie staatliche Einrichtungen.243 Zwischen Mitte und Ende Juni streikten abermals mehr als 48.000 Beschäftigte in ganz Wien, doch »[a]nders als im Mai 1917 und auch im Jännerstreik kam es diesmal«, so Grandner, »von Anfang an zu beträchtlichen Ausschreitungen«244 . Die Ergebnisse der beiden größten Massenausstände des Krieges, die in erster Linie von Friedensforderungen beherrscht wurden, blieben im Verhältnis zum Ausmaß der Ereignisse jedoch überschaubar. In beiden Fällen stellte sich die sozialdemokratische Parteiführung an die Spitze der Streikbewegungen und brachte diese unter Kontrolle, indem sie der Regierung Zugeständnisse für die Streikenden abrang, die schließlich zum Einlenken der nach russischem Vorbild neu entstandenen Arbeiterräte führten. Unmittelbar nach dem Streikende in der Donaumonarchie legten infolge eines Streikaufrufs des Spartakusbundes245 und der Metallarbeiterschaft Ende Januar 1918 auch in Berlin über 400.000 Arbeiter die Arbeit nieder. Ausschlaggebend für den Massenstreik, dem sich die Arbeiterschaft der bedeutendsten Großbetriebe Berlins (darunter AEG, Siemens & Halske, Borsig) anschlossen, waren auch hier der Wunsch nach Frieden, die umwälzenden Entwicklungen in Russland infolge der Oktoberrevolution von 1917 und die nicht enden wollende Hungersnot. Wie in Wien konstituierte sich zu Beginn der Streikvorgänge am 28. Januar ein Groß-Berliner Arbeiterrat.246 Für die Leitung des Streiks bildete dieser einen Aktionsausschuss, dem mehrheitlich Betriebsvertreter sowie einzelne Vertreter der USPD und der den Streik ablehnenden
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Vgl. Hautmann, Hunger, S. 667. Sowie Pfoser, Chronologie, S. 655. Hierzu ausführlich bei Unfried, Arbeiterschaft, S. 142ff. Vgl. Grandner, Hungerstreiks, S. 563. Ebd., S. 564. Der Spartakusbund war eine Gruppe von Kriegsgegnern und marxistischen Sozialisten innerhalb der SPD. Die im Umfeld von Rosa Luxemburg (1871–1919) und Karl Liebknecht (1871–1919) entstandene linkrevolutionäre Vereinigung formierte sich Anfang 1915 und schloss sich im Jahr 1917 der USPD an. Hierzu siehe auch oben Kapitel iii, Anm. 16. 246 Vgl. u.a. Baudis, Auswirkungen, S. 18f. Flemming/Ulrich, Heimatfront, S. 197ff. Ausführlich zu den Vorgängen des Januarstreiks in Berlin siehe Boebel, Chaja und Lothar Wentzel (Hg.): Streiken gegen den Krieg! Die Bedeutung des Massenstreiks in der Metallindustrie vom Januar 1918, Hamburg 2008.
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Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) angehörten. Doch ohne, dass eine der Streikforderungen erfüllt wurde, konnten die Militär- und Sicherheitskräfte die Demonstrationen und Kundgebungen des Massenausstands, der sich sehr schnell auf große Teile des Deutschen Reiches ausgedehnt hatte, unter Kontrolle bringen. Nachdem die Oberste Heeresleitung Anfang Februar ein Einlenken der Streikführung erwirkte, reagierte sie anschließend mit Massenverhaftungen und Einberufungen zum Kriegsdienst. Auf diese Weise fand zwar der Streik sein Ende, doch die Unzufriedenheit und Verbitterung der Menschen in der Hauptstadt nahmen weiter zu. Der Hunger zwang nicht wenige Berliner, sich jenseits der Legalität Lebensmittel zu besorgen. »Hamsterfahrten« und direkte Einkäufe beim Erzeuger waren nicht unüblich. Die Behörden wussten sich nur durch Strafandrohungen und Kontrollen zu helfen, die in erster Linie die Einzelkonsumenten trafen. Demgegenüber standen die Schleichhändler, Schieber und Spekulanten, die im großen Stil persönlichen Nutzen aus dem Mangel an Nahrungsmitteln zogen. Die »Profiteure des Elends« waren durch die Behörden auch in Berlin nicht zu bremsen und erlebten bereits im Hungerwinter ihre Hochkonjunktur.247 Vor allem die Ersatzmittelproduktion verschaffte ihnen enorme Gewinne. Während des Krieges wurden im Deutschen Reich mehr als 8.000 Ersatzmittel zugelassen.248 In Österreich hatten im März 1918 etwa 300 Surrogate eine Zulassung, doch existierten noch unzählige weitere unzulässige Ersatzmittel, die in vielen Fällen wertlos, ungenießbar und mitunter gesundheitsschädigend waren.249 Das »Surrogatunwesen« florierte: »So skeptisch die Hausfrauen früher […] Neuerungen gegenüberstanden, so schwer sie sich entschließen konnten, ein neues Nahrungsmittel zu versuchen, so leicht gewöhnen sie sich jetzt daran, jedes Surrogat, welches man ihnen anbietet, in größeren Quantitäten zu kaufen […]. Nur auf diese Weise ist es zu erklären, daß die teuersten und schlechtesten Lebensmittelsurrogate rasenden Absatz finden.«250 An der allgemeinen Notlage der Großstädter änderten die »Ersätze« jedoch nichts. In Wien verschärfte sich die Versorgungskrise immer weiter. Wie die Ersatzmittelproduktion entwickelte sich auch hier das »Hamstern« bis zur Mitte des Jahres 1918 zu einem Massenphänomen. Der Mangel an Gemüse, Obst, Fleisch und Kartoffeln, die unerhört hohen Schwarzmarktpreise und schließlich die Halbierung der Brotrationen im Juni führten trotz ihres Verbots zu einem explosionsartigen Anstieg der Hamsterfahrten von
247 Vgl. Baudis, Schweinemord, S. 148. Siehe auch Ullrich, Volker: »Kriegsalltag. Zur inneren Revolutionierung der Wilhelminischen Gesellschaft«, in: Michalka, Wolfgang (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1997, S. 603–621, hier S. 609. 248 Vgl. Spiekermann, Uwe: Historischer Wandel der Ernährungsziele in Deutschland. Ein Überblick. Vortrag im Rahmen der 22. Wissenschaftlichen Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Ernährungsverhalten e.V. (AGEV) vom 11.-13. Oktober 2000. Im Internet unter: www.ernaehrungsden kwerkstatt.de/fileadmin/user_upload/EDWText/TextElemente/Ernaehrungsgeschichte/Spieker mann_Ernaehrungspolitik_Zeitgeschichte__BONNAGEV_2000.pdf (28.02.2018), S. 7. Möglicherweise lag die Zahl noch höher. Thomas Schindler spricht von etwa 10.500 Ersatzlebensmitteln. Hierzu ders., Ernährung, S. 236. 249 Vgl. Brenner, Das Maisgespenst, S. 148. Siehe hierzu auch Breiter, Hinter der Front, S. 245f. 250 Das Blatt der Hausfrau, 3. Dezember 1916, zitiert bei Brenner, Das Maisgespenst, S. 145.
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Wien aufs Land. In der festen Überzeugung, dass die ländlichen Erzeuger Nahrungsmittel zurückhielten, um von den dadurch herbeigeführten Preiserhöhungen zu profitieren, rückten tagtäglich Tausende kartoffelhungrige Frauen, Kinder und Militärangehörige in die umliegenden Dörfer und zuweilen bis nach Ungarn aus. Dabei begaben sie sich auf illegale Touren, ernteten in eigener Regie und zogen Kartoffeln aus der Erde, die noch nicht ausgereift waren.251 In diesem sogenannten »Kartoffelkrieg«, der das Wiener Umland bis in den Juli hinein in Atem hielt, erreichte der Ärger der Wiener Bevölkerung über die ländliche Gewinnsucht ihrer »Unterdrücker« seinen Höhepunkt. Durch ihre Not wurden die Wiener, die sich innerlich vom Krieg längst verabschiedet hatten, dazu getrieben mit physischer Gewalt gegen ihre vermeintlichen »Peiniger« vorzugehen.252 In seiner Chronologie des Zusammenbruchs Wiens hält Pfoser fest: »Die prekäre Situation der Lebensmittelversorgung spitzt sich zu, die angespannte Versorgungslage nimmt eine neue Dimension an. Es wird in aller Härte und Brutalität ums Überleben gekämpft. Das merkt man auch daran, dass die Masse der Hungernden, allen voran Frauen und Kinder, mehr und mehr zu gewalttätigen Aktionen neigt, in denen gestohlen und geraubt wird, was sich an Lebensmitteln anbietet.«253 Die Landes- und Ortsbehörden sahen sich veranlasst, verschärft gegen den »Rucksackverkehr« vorzugehen. Demgegenüber verteidigten Weiskirchner und die Wiener Stadtregierung die aus der Not geborenen Gefühlsausbrüche und befürworteten die Hamsterfahrten.254 Aus ihrer Sicht war das Hamstern für unzählige Wiener zu einer Überlebensnotwendigkeit geworden, weshalb sie gegenüber der niederösterreichischen Regierung auf die Zulassung des Rucksacktourismus drängten. Nach Langthaler versuchten sich die Funktionäre auf diese Weise als Vertreter der Interessen des »kleinen Mannes« gegenüber der gewinnsüchtigen Landbewohnerschaft und den rücksichtslosen Polizeikräften zu inszenieren, um damit ihre abnehmende Legitimität zu stabilisieren.255 Die Versorgungsnöte trieben die Wiener jedoch nicht nur zu Hamsterfahrten aufs Land. Als eine weitere Überlebensstrategie holten sie sich das Land in die Stadt. Bereits seit dem Frühjahr 1915 entstanden zunehmend (städtische) Kriegsgemüse- und Schrebergärten, die vor allem in den Parks und auf freien Flächen der Wiener Außenbezirke entstanden. Etwa 34.000 Kleingärtner versorgten sich im Jahr 1917 selbst. Im letzten Kriegsjahr wuchs die Zahl der Wiener, die selbstständig Gemüse, Kartoffeln und Hül-
251 Vgl. Pfoser, Chronologie, S. 682. Ferner Proctor, Civilians, S. 95. 252 Vgl. Healy, Maureen: »Vom Ende des Durchhaltens«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 132–139, hier S. 138. Der Abschied vom Krieg kam auch im Desinteresse für die Heimkehrer zum Ausdruck. Für Willkommensgrüße, Dank und Anerkennung hatten die Wiener nichts mehr übrig. Hierzu vgl. Pfoser, Chronologie, S. 669. 253 Ebd., S. 681. Ähnliche Vorfälle gab es auch in Berlin. Hierzu siehe Scriba, Arnulf: »Berlin in the 1914–1918 War«, in: Cities at War, 1914–1918, hg. Vom Archives de la Ville de Bruxelles, Brüssel 2014, S. 173–188, hier S. 181. 254 Vgl. Healy, Vom Ende, S. 138f. Sowie Pfoser, Chronologie, S. 683. 255 Vgl Langthaler, Vom transnationalen, S. 316.
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senfrüchte anbauten, auf 157.300 Klein- und Schrebergärtner.256 Im Jahr 1918 betrug die Erntemenge über 11.000 Waggonladungen Gemüse und Kartoffeln. »Ohne die Schrebergartenbewegung«, so Hautmann, »wäre es in den beiden letzten Kriegsjahren [in Wien] sicherlich zu einer noch tieferen Versorgungskrise gekommen.«257 Eine nähere Betrachtung der zur Verfügung stehenden Nahrungsmittelmengen für Wiener Normalverbraucher verdeutlicht wie stark der Kaloriengehalt der täglichen Mahlzeiten zwischen 1914 und 1918 in der Donaumetropole gesunken war. Standen einem großen Teil der Wiener Bevölkerung vor dem Krieg durchschnittlich noch rund 2.845 Kalorien zur Verfügung, sank die tägliche Kalorienmenge zum Zeitpunkt der Einführung der Lebensmittelkarten auf etwa 1.300 (Tab. 7).258
Tabelle 7: Zusammensetzung und Kaloriengehalt der täglichen Mahlzeiten eines Wiener Nichtselbstversorgers Zeitpunkt der Karteneinführung
Mengen zu Beginn der Karteneinführung
Mengen gegen Kriegsende
Tagesmenge in Gramm
Kalorien
Tagesmenge in Gramm
Kalorien
Mehl
April 1915
100,0
300,0
35,7
107,1
Brot
April 1915
140,0
350,0
180,0
450,0
Zucker
März 1916
41,6
166,4
25,0
100,0
Milch
Mai 1916
1/8 l
82,5
Kaffee
Juni 1916
8,9
--
8,9
--
Fett
September 1916
17,1
153,9
5,7
51,3
Kartoffeln
Oktober 1917
214,0
171,2
71,4
57,1
Marmelade
Herbst 1917
23,8
47,6
23,8
47,6
Fleisch
September 1918
28,5
28,5
17,8
17,8
Kaloriensumme
1.300,1
gab es nicht mehr
830,9
Quellen: Breiter, Hinter der Front, S. 247. Hautmann, Hunger, S. 666ff.
256 Vgl. ebd. Sowie Pfoser, Chronologie, S. 607f. Hierzu siehe ausführlich auch Mattl, Siegfried: »Lob des Gärtners. Der Krieg und die Krise der Urbanität«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 470–475. Auch in Berlin erlangte die Kleingartenbewegung während des Ersten Weltkrieges für viele Familien eine existenzsichernde Bedeutung. Vgl. Kellerhoff, Heimatfront, S. 224f. Ob das Wachstum der Berliner Gemüseparzellen im Krieg ein ähnliches Ausmaß wie in Wien erreichte, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Hinsichtlich des Vergleichs der Wiener und Berliner Lebensmittelversorgung erscheint eine weitergehende Erforschung der Kriegsgemüsegärtenbewegung lohnenswert. Zur Selbstversorgung in deutschen Städten vgl. Teuteberg, Food Provisioning, S. 67f. 257 Hautmann, Hunger, S. 670. 258 Vgl. auch Langthaler, Vom transnationalen, S. 314. Ferner Breiter, Hinter der Front, S. 247. Sowie Hautmann, Hunger, S. 666f.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Zu Kriegsende umfasste die Tagesmenge nur noch 831 Kalorien. Mit Ausnahme der gewährten Tagesbrotmengen sanken im Verlauf des Krieges die Mengen aller anderen Nahrungsmittel.259 Am stärksten sanken die Mehl-, Kartoffel- und Fettrationen, deren Umfang gegen Kriegsende nur noch etwa ein Drittel der zu Beginn der Karteneinführung gewährten Mengen umfasste. Es muss in Hinblick auf die Versorgungsengpässe jedoch bezweifelt werden, dass der Wiener Bevölkerung diese Mengen tatsächlich zur Verfügung standen. Waren die Lebensmittelwaren verfügbar, dann konnte sie sich die Mehrheit der Wiener wegen der horrenden Lebensmittelpreise nicht mehr leisten. Wie drastisch die Preise zwischen 1914 und 1918 zunahmen, verdeutlicht ein Blick auf die Entwicklung ausgewählter Nahrungsmittelpreise (Tab. 8). Während die Wiener 1914 für ein Kilogramm Fleisch vier Kronen zahlten, lag der Höchstpreis Ende 1918 bei achtzehn Kronen. Tatsächlich aber lag der (Schleichhandels-)Preis für Fleisch zum gleichen Zeitpunkt bei 24 Kronen. Das war eine Preissteigerung von 500 Prozent. Noch stärker stiegen die Preise für Eier (1914: acht Heller/Stück) und Butter (1914: vier Kronen/Kilogramm). Zu Kriegsende lagen die Preise im Schleichhandel bei 1,20 Kronen für ein Ei und siebzig bis 140 Kronen für ein Kilogramm Butter, d.h. die Preise stiegen um 1.400 Prozent bzw. 1.650 bis 3.400 Prozent. »Die Nahrungsmittelausgaben einer durchschnittlichen Wiener Arbeiterfamilie, die vor dem Krieg […] 56 Prozent des Gesamtaufwands ausmachten, stiegen bis Jahresbeginn 1918 auf mehr als das Achtfache des Wertes von Anfang 1914«260 , so Ernst Langthaler. Auch die Wiener Mittelstandsfamilien, die am Vorabend des Krieges etwa vierzig Prozent ihrer Konsumausgaben für Nahrungsmittel aufwenden mussten, gerieten durch den Anstieg der Nahrungsmittelausgaben in Bedrängnis. Infolge der rasanten Preissteigerungen bis Oktober 1918 stiegen die Nahrungsmittelkosten noch einmal um 1.200 bis 2.000 Prozent.261
259 Demnach umfasste die tägliche Brotmenge im April 1915 140 Gramm und Ende 1918 etwa 180 Gramm. Unter Berücksichtigung der Halbierung der zugeteilten Brotmengen im Juni 1918 umfasste die zugeteilte Menge zwischenzeitlich nur 630 Gramm wöchentlich bzw. neunzig Gramm pro Tag. Bis zum Sommer 1918 waren die wöchentlichen Rationen für Kartoffeln auf 500 Gramm, Fleisch auf 200 Gramm bzw. 160 Gramm ohne Zuwaage, Fett auf vierzig Gramm und Zucker auf etwa 185 Gramm gesunken. Im direkten Vergleich mit den Berliner Rationsmengen während des Versorgungstiefpunktes im Juli 1917 (oben Kapitel iii, Anm. 237) waren die Rationsmengen in Wien geradezu unterirdisch. Zu den Zahlen vgl. u.a. Breiter, Hinter der Front, S. 247. Mertens, Christian: »Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Ernährung Wiens«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 162–171, hier S. 163f. 260 Langthaler, Vom transnationalen, S. 314. Hierzu ausführlicher Hautmann, Hunger, S. 674. 261 Vgl. ebd., S. 674.
III. Metropolen im Krieg
Tabelle 8: Preissteigerung ausgewählter Lebensmittel in Wien und Berlin (1914–1918) 1914
Schleichhandelspreisa)
Preissteigerung in Prozent
Butter (kg)b) Wien
in Kronen
4,00
70,00-140,00
1.650-3.400
Berlin
in Mark
2,80
48,00
1.614
Wien
in Kronen
0,08
1,20
1.400
Berlin
in Mark
0,07
1,50
2.043
Wien
in Kronen
4,00
24,00
500
Berlin
in Mark
1,80
15,00-28,00
733–1.456
Ei (Stück)
Fleisch (kg)
b)
a) Preise zum Zeitpunkt Ende Oktober 1918 mit Ausnahme des Fleischpreises für Berlin (hier gilt der Preis vom September 1918). b) Im Fall von Wien konnten der Literatur keine konkreten Angaben zur Einheit der jeweiligen Lebensmittel entnommen werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich bei den Fleisch- und Butterpreisen um Kilogrammangaben handelt. Quellen: Zusammengestellt nach Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 540. Breiter, Hinter der Front, S. 243. Liszt, Der Einfluß, S. 21. Abweichend auch Hautmann, Hunger, S. 672.
Während in Wien das katastrophale Ausmaß der Ernährungsversorgung bis zum Ende des Krieges kontinuierlich zunahm, hatte Berlin im Sommer 1917 den Höhepunkt der Versorgungsschwierigkeiten erreicht. Doch auch danach wandelten sich die Versorgungsprobleme nur geringfügig. Eine Aufstellung von Jürgen Kocka veranschaulicht die Veränderungen der Rationsverhältnisse im letzten Kriegsjahr gegenüber dem Wirtschaftsjahr 1916/17 gemessen am Vorkriegskonsum (Tab. 9). Danach verbesserte sich zwar die Kartoffelversorgung, aber der Fleisch- und Fettverbrauch ging zurück. Der durchschnittliche Gehalt der täglichen Mahlzeiten sank zwischen 1914 und 1918 von 3.400 auf 1.000 Kalorien.262 Ob diese offiziellen geringen Lebensmittelrationen dem tatsächlichen Verbrauch der Bevölkerung, vor allem dem der Minderbemittelten entsprach, muss in Anbetracht der hohen Nahrungsmittelpreise in Frage gestellt werden. Auch hier lohnt ein Blick auf die Steigerung ausgewählter Lebensmittelpreise zwischen 1914 und Ende 1918 (Tab. 8).263 Danach stiegen die Fleischpreise in Berlin dreimal so stark wie in Wien von 1,80 Mark/Kilogramm auf bis zu 28 Mark/Kilogramm auf dem Schwarzmarkt (Preisanstieg bis zu 1.456 Prozent). Wie in der Donaumetropole zogen die Preise für Eier und Butter noch stärker an. Für ein Ei zahlten die Berliner vor dem Krieg noch sieben Pfennig. Zum Ende des Krieges kostete das Stück im Schleichhandel 1,50 Mark (Preisanstieg um bis 2.043 Prozent). Die Butterpreise erhöhten sich von 2,80
262 Diese Angaben beziehen sich auf die durchschnittliche Entwicklung im Deutschen Reich. Vgl. Herwig, First World War, S. 295. Ferner Scriba, Berlin, S. 180. 263 Vgl. auch Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 540.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Mark/Kilogramm auf 48 Mark/Kilogramm (Preisanstieg von 1.614 Prozent). Insgesamt betrachtet verlief die Preisentwicklung in beiden Hauptstädten sehr ähnlich. Die Kosten der Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs stiegen so stark, dass sich das Gros der Stadtbewohner die Produkte nicht mehr leisten konnte.
Tabelle 9: Das Gewicht der offiziellen Lebensmittelrationen in Prozent des Gewichts des Friedensverbrauchs nach Kocka (1916/17-1917/18) Lebensmittel
1916/17
1917/18
Fleisch
31,2
19,8
11,8
Eier
18,3
12,5
13,3
Schmalz
13,9
10,5
6,7
Butter
22
21,3
28,1
Zucker
48,5
55,7-66,7
82,2
Kartoffeln
70,8
94,2
94,3
39
40,5
16,6
Pflanzliche Fette
01.07. bis 28.12.1918
Quelle: Kocka, Klassengesellschaft, S. 20.
Der monate- und teilweise jahrelang anhaltende Lebensmittelmangel kennzeichnete den Grad der städtischen Unterversorgung. Sowohl in der Donaumetropole als auch in der deutschen Reichshauptstadt nahmen die gesundheitlichen Schäden infolge der Mangelernährung in der Bevölkerung zu. Seit dem Sommer 1916 breitete sich die Unterernährung aus.264 Enormen Gewichtsverlusten folgten erhebliche Leistungseinschränkungen und die Abnahme der Konzentrationsfähigkeit.265 Im Frühjahr 1917 traten sowohl in Berlin als auch in Wien die ersten Fälle der Ödemkrankheit auf, die sich durch das Anschwellen der Arme und Beine bemerkbar machte. Seit 1915 griff die Tuberkulose in Berlin um sich. In Wien war die Lungenkrankheit bereits vor dem Krieg allgegenwärtig. Im Verlauf des Krieges schnellte die Tuberkulosesterberate dann in die Höhe.266 Im
264 Eine ausführliche Darstellung der gesundheitlichen Auswirkungen der Mangelernährung in Deutschland findet sich bei Roerkohl, Hungerblockade und Heimatfront, S. 297–315, hier S. 297. Für die Entwicklungen in Österreich vgl. Augeneder, Arbeiterinnen, S. 149ff. Ferner liefert Jay Winter eine Berlin, London und Paris vergleichende Analyse zu den Auswirkungen des Krieges auf die Demographie der drei europäischen Hauptstädte. Ders., »Surviving the war: life expectation, illness, and mortality rates in Paris, London, and Berlin, 1914–1919«, in: ders./Robert, Capital Cities, 1997, S. 487–523. Ausführlicher zu Wien vgl. Weigl, Andreas: »Eine Stadt stirbt nicht so schnell. Demographische Fieberkurven am Rande des Abgrunds«, in: Pfoser/ders., Epizentrum, S. 62–71. 265 Nach Baudis stand diese Entwicklung den gleichzeitig erhöhten Leistungsanforderungen insbesondere der Werktätigen in den Rüstungsbetrieben gegenüber. So verschlechterte sich nicht nur die wirtschaftliche Lage der Menschen. Auch ihre Rechte waren zunehmenden Beschränkungen unterworfen. Hierzu vgl. Baudis, Schweinemord, S. 151. 266 Hierzu siehe Hautmann, Hunger, S. 675. Ferner Pfoser/Weigl, Die Pflicht, S. 18.
III. Metropolen im Krieg
Jahr 1917 starben über 27.000 Menschen an der »Wiener Krankheit«. Daneben breiteten sich in beiden Hauptstädten die Infektionskrankheiten Cholera, Ruhr, Typhus und Fleckfieber aus. Darüber hinaus fielen in den letzten Kriegsmonaten Tausende Wiener und Berliner der Spanischen Grippe zum Opfer.267 Alles in allem forderte der Erste Weltkrieg im Hinterland Österreich-Ungarns etwa 400.000 Todesopfer. An der deutschen Heimatfront ließen zwischen 700.000 und 800.000 Menschen ihr Leben. Die große Mehrheit der Zivilisten starb an Unterernährung. In der Habsburgermetropole stieg die Zivilsterblichkeit von 1913 bis 1918 um etwa 57 Prozent. Demgegenüber lag die Zahl der Sterbefälle in der deutschen Hauptstadt bereits 1915 um 45 Prozent höher als 1913.268 In Anbetracht der Entwicklungen während des Hungerwinters 1916/17 und der Grippeepidemie 1918 ist anzunehmen, dass die Berliner Mortalitätsrate bis zum Ende des Krieges ein mit Wien vergleichbares Ausmaß annahm. Dass die Bilanz der zivilen Verluste sowohl in Wien als auch in Berlin nicht noch katastrophaler ausfiel, lässt sich u.a. durch die Existenz öffentlicher Massenverpflegungseinrichtungen erklären. Das im Verlauf des Krieges an Bedeutung gewinnende Kriegsküchenwesen leistete einen entscheidenden Beitrag zur Regeneration Berlins und zum Überleben Wiens während der zweiten Kriegshälfte und in der frühen Nachkriegszeit.
2| Die Berliner Kriegsnot- und Volksspeisung 2.1 Ein Mittagessen für die Notleidenden: Die Berliner Notstandsspeisung 1914–1916 Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde in der Reichshauptstadt rasch deutlich, dass vor allem die Fürsorgeempfänger sowie viele weitere in Not geratene Berliner über eine finanzielle Unterstützung hinaus weiterer Hilfsangebote bedurften. Seit den ersten Kriegswochen wurde die Großstadt, die ihre Bewohner zu freiwilligen Gaben aufrief, von der freien Wohlfahrtspflege unterstützt.269 Zahlreiche kirchliche und private Wohltätigkeitsvereine nahmen Sammeltätigkeiten auf und leiteten verschiedenste Hilfsaktionen für Bedürftige in die Wege. »Seinem Ruf, eine der wohltätigsten Städte 267 Vgl. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 533. Sowie Weigl, Eine Stadt, S. 65ff. Allein in Europa starben 2,3 Millionen Menschen an der Spanischen Influenza. Weltweit fielen den höchsten Schätzungen zufolge zwanzig bis dreißig Millionen Menschen der Jahrhundertpandemie zum Opfer. Hierzu vgl. u.a. Cabanes, Bruno: »Jahrhundertpandemie Spanische Grippe«, in: ders. Und Anne Duménil (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe, Stuttgart 2013, S. 357–362. Nach Weigl starben vom dritten Quartal 1918 bis zum dritten Quartal 1919 offiziell rund 4.500 Wiener an der Spanischen Grippe. Mit den zeitgleich zunehmenden Lungenentzündungserkrankungen könne davon ausgegangen werden, dass die Sterberate sogar doppelt so hoch ausfiel. Hierzu vgl. ders., Eine Stadt, S. 65. Vergleichbare Zahlen für Berlin waren nicht zu ermitteln. 268 Vgl. Mertens, Die Auswirkungen, S. 164. Sowie Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 533f. 269 Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die außerordentliche Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 6. August 1914«, Nr. 22, in: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, Ausgabe 41 (1914), hg. Vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1915, S. 259–260, hier S. 260. Sowie »Hilfe in der Not«, in: Vorwärts, 16. August 1914.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
der Welt zu sein,« bekundete das Berliner Tageblatt Ende September 1914, »ist Berlin auch in dieser schweren Kriegszeit treugeblieben.«270 Eine bedeutende Unterstützung für die in Not Geratenen war vor allem die vom NFD organisierte Lebensmittelausgabe. Sie umfasste zum einen die Anweisungen für Nahrungsmittel wie zum Beispiel Brot, Kartoffeln und Gemüse und zum anderen die Verteilung von Speisemarken für öffentliche Speiseeinrichtungen. »Der leitende Gedanke der Lebensmittelfürsorge war«, so eine rückblickende Erklärung des NFD, »durch eine Gutscheinausgabe ein Mindestmaß an Lebensmitteln zu gewähren und dadurch wesentliche Veränderungen im Ernährungszustand zu vermeiden.«271 Hierfür wurde für alle Hilfskommissionen des NFD jede Woche ein (Bedarfs-)Plan aufgestellt. Dabei richtete sich die Verteilung der Lebensmittelanweisungen auf die jeweiligen Kommissionen nach der Höhe der Besucherzahl und die »besondere Eigenart der Gegend«.272 Finanziert wurde die Lebensmittelanweisung zunächst durch städtische Sammelmittel und ab Dezember 1915 überwiegend mithilfe laufender Mittel der Stadt. Nach dem Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom November 1914 hatte die Kommune dem NFD wöchentlich bis zu 20.000 Mark zur Verfügung zu stellen.273 Eine weitere Aufgabe, die dem NFD im September 1914 vom Berliner Magistrat zugewiesen wurde und in Ergänzung zur Lebensmittelausgabe umgesetzt werden sollte, war die Einrichtung und Organisation einer Versorgung durch Großküchen. Dem vorausgegangen war ein Erlass des preußischen Innenministers Friedrich Wilhelm von Loebell (1855–1931) vom 28. August 1914, in dem darauf hingewiesen wurde, »daß erfahrungsgemäß die einheitlich organisierte Verpflegung grösserer Menschenmassen weit billiger durchzuführen ist als dies im Einzelhaushalt möglich ist«274 . Den Kommunen wurde angeraten, mit den Vereinen der »freiwilligen Liebestätigkeit« in Verbindung zu treten und die Einrichtung von Speisehallen in die Wege zu leiten. Im Auftrag der Stadtverwaltung hatte der NFD die bereits vorhandenen Berliner Vereine, die eine oder mehrere
»Berliner Kriegsküchen«, in: Berliner Tageblatt, 30. September 1914. Nationaler Frauendienst 1914–1917, Berlin 1917, S. 17. Vgl. Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 19. Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 12. November 1914«, Nr. 32, in: Stenographische Berichte 41/1914, S. 313–317, hier S. 315f. Dem Briefwechsel zwischen der Geschäftsstelle des NFD und dem Berliner Magistrat nach wurden ab der ersten Dezemberwoche zunächst 15.000 Mark wöchentlich bewilligt. Mit Zuschüssen aus der Hauptkasse des NFD und Beiträgen anderer wohltätiger Vereine wurden die Kosten für die Lebensmittelanweisung weitgehend gedeckt. Hierzu vgl. u.a. Schreiben des NFD an den Oberbürgermeister Wermuth vom 4. Dezember 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932. Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 19f. Im Verlauf des Krieges erhöhte der Magistrat auf Anfrage des NFD mehrfach die laufenden Mittel. Ab Mitte November erhielten die Kommissionen 16.000 Mark, ab Mitte Januar 1916 18.000 Mark und erst Ende April 1916 genehmigte der Magistrat die vollen 20.000 Mark. Mit wenigen Ausnahmen änderte sich der Betrag in den letzten beiden Kriegsjahren nicht mehr. Siehe hierzu die wöchentlichen Forderungen in diversen Schreiben des NFD an den Berliner Magistrat. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931–1935. Vgl. auch Boyd, Nationaler Frauendienst, S. 64. Zu den Spenden siehe Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 24f. 274 Erlass des preußischen Innenministers an die sämtlichen Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Oberpräsidenten in Potsdam vom 14. April 1916. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164, Bl. 2–3, hier Bl. 2.
270 271 272 273
III. Metropolen im Krieg
Speiseeinrichtungen betrieben oder belieferten, zu recherchieren und kontaktieren. Des Weiteren galt es, entsprechende Räumlichkeiten zu finden, die der Verpflegung größerer Gruppen dienen konnten.275 Auch Vereine, die bisher keine Speiseanstalt betrieben, wurden angefragt, ob diese zur Errichtung einer oder mehrerer Notstandsküchen bereit seien. Dabei sollten vor allem auch Gegenden berücksichtigt werden, in denen keine Speisegelegenheiten zur Verfügung standen. Dort, wo die Errichtung einer Küche unnötig erschien, bemühte sich der NFD um die Einrichtung von Essenausgabestellen, welche das fertige Essen geliefert bekamen.276 Im Verlauf des ersten Kriegsjahres entstand aus der Zusammenarbeit der Stadtverwaltung mit dem NFD und einer Fülle von privatwohltätigen Vereinen schließlich ein über weite Teile der Stadt zerstreutes Netz an Notspeiseanstalten und Essensausgabestellen, die sich in ihrer Organisation und Ausrichtung unterschieden. Eine Vielzahl der Speisegelegenheiten richtete sich an alle Bedürftigen Berlins. Doch wie bereits in der Vorkriegszeit gab es neben diesen für alle offenen Bürger- und Volksspeisehallen sowie Volksküchen noch weitere Speiseanstalten wie die Mittelstands-, Kantinen- und Kinderküchen, die sich an einen bestimmten Kreis der Bedürftigen in der Hauptstadt richteten.
2.1.1 »Nur gegen Quittung«: Das Speisemarkensystem und seine Handhabung Um zu gewährleisten, dass die verschiedenen Speiseanstalten in erster Linie von Bedürftigen in Anspruch genommen wurden, legte der Berliner Magistrat frühzeitig eine Verfahrensweise für die Verteilung der Speisemarken und der Ausgabe der Speisen fest. Die Speisemarken, die für konkrete Speiseeinrichtungen ausgestellt wurden und auch nur in diesen Gültigkeit besaßen, erhielten »[f]ür die Dauer des durch den Krieg hervorgerufenen Notstandes«: »a. Arbeitslose der Stadt, b. Arbeitslose der Gewerkschaften, c. Arbeitslose der Landesversicherungsanstalt, d. von der Armendirektion Unterstützte, e. andere Bedürftige, auch Angehörige der Kriegsteilnehmer, die seit 1. Juni 1914 in Berlin ununterbrochen ihren Aufenthalt haben, […].«277 Zur Gruppe der »anderen Bedürftigen« zählten vor allem auch Frauen, die keine staatliche Unterstützung erhielten und trotz ihrer Erwerbstätigkeit nicht ausreichend Mittel zur Selbstversorgung aufbringen konnten.278 So sprach die für die Stadtverordnetenversammlung vom 7. November 1914 vorgesehene Beschlussfassungsvorlage zur Bewilligung laufender städtischer Mittel für die Lebensmittelanweisungen des NFD von:
275 Dies geht aus verschiedenen Schreiben Hedwig Heyls an den zweiten Bürgermeister Georg Reicke vom September 1914 hervor. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. 276 Vgl. Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 20. Ferner Nationaler Frauendienst 1914–1917, S. 17. 277 »Regelung der Speisemarken in 12 Punkten«, jedoch ohne Angabe eines Titels im Bestand »Hilfefonds- und Zuwendungen für Volksküchen und Speiseanstalten«. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932, Bl. 33–34, hier Bl. 33. 278 Vgl. Schreiben von Gertrud Bäumer im Namen des NFD an den Magistrat Berlin vom 27. November 1914, ebd.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
»[…] Personen, die auf keine der beiden Unterstützungen Anspruch haben, deren Verhältnisse aber durch den Krieg sich so verschlechtert haben, daß sie nicht in der Lage sind, sich selbst zu erhalten, die aber auf der anderen Seite durch die Hingabe von Speisemarken usw. davor bewahrt werden, die öffentliche Armenpflege in Anspruch zu nehmen.«279 Als Markenausgabestellen dienten nach den Richtlinien des Magistrats nicht nur die Kommissionen des NFD, die in enger Verbindung mit den Kommissionen für Arbeitslosen- und Kriegsfürsorge arbeiteten, sondern auch die Abgabestellen der Landesversicherungsanstalt und der Gewerkschaften. Den Richtlinien zufolge hatte der Magistrat zunächst auch vor, die Kommissionen der städtischen Armenfürsorge mit heranzuziehen. Doch in der gleichen Bestimmung der Stadtverwaltung wurde die Einbeziehung der städtischen Armen-Speisungs-Anstalten durch die gleichzeitige Empfehlung der Abstandnahme wieder aufgehoben. Begründet wurde dies zum einen mit den fehlenden technischen Einrichtungen in den Armenküchen, die notwendig gewesen wären, um über das Suppengericht hinaus Speisen zubereiten zu können, und zum anderen wiesen die Küchen der Armen-Speisungs-Anstalt nicht die benötigten Räumlichkeiten zur Speisung auf.280 Diese Gründe mochten zutreffen, doch wird dahinter sicherlich auch ein grundsätzlicher Gedanke gesteckt haben: in gleicher Weise wie die Kriegsfürsorgeunterstützung getrennt von der Armenfürsorge gehandhabt wurde, legte die Berliner Stadtverwaltung Wert darauf, dass die Notspeiseanstalten nicht den Anschein der verschmähten Armenspeisung erweckten. Die allgemeine Trennung der Armenfürsorge von den anderen Fürsorgebereichen galt damit auch bei der Vergabe von Speisemarken für die öffentlichen Speiseanstalten.281 Alle Speisemarken wurden für die jeweiligen Vereine bzw. Unternehmen und die dazugehörigen Speiseeinrichtungen ausgestellt. Sie galten jedoch auch in allen Speiseanstalten und Ausgabestellen anderer Vereine, die lediglich die Räumlichkeiten zur Verfügung stellten und das Essen von Vereinen bzw. Unternehmen mit Speisezubereitung bezogen. Das heißt eine Speisemarke, die z.B. auf die Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft ausgestellt war, galt in den Speisehallen derselbigen und in allen Speiseeinrichtungen, die das Essen von der Gesellschaft zuliefern ließen. Für die Mittagsportion veranschlagte die Stadtverwaltung 25 Pfennig, die überwiegend von der Gemeinde und einigen der beteiligten Vereine getragen wurden. Nach den Festlegungen des Magistrats gelangten dementsprechend weiße 25-Pfennig- und graue 15-Pfennig-Marken zur Ver-
279 »778. Beschlussfassungsvorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 7. November 1914«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 45 (1914), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1915, S. 872–873, hier S. 872. 280 Vgl. »Regelung der Speisemarken in 12 Punkten«. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932, Bl. 33. 281 In der Beschlussfassungsvorlage für die Stadtverordnetenversammlung vom 7. November 1914 heißt es wörtlich: »Personen, die aus öffentlichen Armenmitteln Unterstützung erhalten, sind vom Bezug der hier in Frage kommenden Unterstützungen ausgeschlossen.« Siehe hierzu 778. Beschlussfassungsvorlage, S. 872. Die Empfänger der Armenfürsorge hatten wie in der Vorkriegszeit weiterhin die Einrichtungen der Armen-Speisungs-Anstalt in Anspruch zu nehmen. Hierzu ausführlicher in Kapitel iii, Abschnitt 2.1.4.
III. Metropolen im Krieg
teilung. Während die weißen Marken an die Mittellosen unentgeltlich abgegeben wurden, mussten die Empfänger der grauen Marken jeweils zehn Pfennig zuzahlen: »Die von den Vereinen zum Preise von 15 Pf[ennig] bezogenen Marken berechtigen den Inhaber zur Entnahme derselben vollen Mittagsportion wie die Marken zu 25 Pf[ennig], jedoch nur gegen die von ihm selbst an die Speiseanstalt zu leistende Zuzahlung von 10 Pf[ennig].«282 Die »recherchierenden Mitglieder« der Hilfskommissionen entschieden nach Maßgabe des jeweiligen Unterstützungsumfangs der Bedürftigen darüber, ob die Speisemarkenempfänger eine Zuzahlung zu leisten hatten. In der Regel handelte es sich um alleinstehende Personen, »die vorzugsweise bei der Bewilligung von Speisemarken«283 berücksichtigt werden sollten. Nach den Vereinbarungen des NFD mit den Vereinen und Unternehmen sollten die Bedürftigen für jede Marke einen halben Liter »dickes Gemüse und Kartoffeln und 50 bis 70 [… Gramm] Fleisch im Rohgewicht«284 erhalten. Hinsichtlich der Organisation der Speisezubereitung und des Speisebetriebs genossen die Betreiber der Speiseanstalten jedoch weitgehende Autonomie. In der Praxis variierten sowohl der Umfang als auch Speisekomponenten je nach Verein bzw. Speiseanstalt.285 Ebenso unterschiedlich gestalteten sich die Portionspreise in den verschiedenen Einrichtungen, die sich nicht immer an alle Bedürftigen gleichermaßen richteten. Die Speisepreise orientierten sich aber nicht nur am jeweiligen Besucherkreis, sondern erhöhten sich nach und nach auch mit Zunahme der Versorgungsschwierigkeiten. Inwiefern die Vorgaben des Magistrats zur Speisemarkenregelung den veränderten Verhältnissen im Zuge der Lebensmittelengpässe und -teuerung Rechnung trugen, konnte nicht ermittelt werden. Es ist aber davon auszugehen, dass die administrativen Portionskalkulationen angepasst wurden und das Speisemarkensystem entsprechend erweitert wurde.286 Um dem Missbrauch der Marken vorzubeugen, sollten die ausgeteilten Speisemarken mit dem Namen des Unterstützten versehen und »nur gegen Quittung ausgehändigt« werden.287 Der Magistrat verlangte darüber hinaus, dass alle Bewilligungen in einer Liste zusammengetragen und dem Bezirksvorsteher wöchentlich übergeben werden sollten. Letztere Regelung wurde seitens des NFD abgelehnt, nachdem mehrere Hilfskommissionen die Erstellung der Listen für »vollkommen undurchführbar« hielten und
282 »Regelung der Speisemarken in 12 Punkten«, Bl. 33. 283 »Regelung des Speisemarkenverkehrs für den Nationalen Frauendienst«, jedoch ohne Angabe eines Titels im Bestand »Hilfefonds- und Zuwendungen für Volksküchen und Speiseanstalten«. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932, Bl. 30. 284 Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 20. 285 Vgl. Berichte des Städtischen Untersuchungsamtes für hygienische und gewerbliche Zwecke über die Untersuchung der verabreichten Speisen in den Berliner Notstandsküchen und anderen gemeinnützigen Speiseanstalten vom 26. Oktober 1914, 6. November 1914 und 16. Dezember 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932. 286 Diesen Schluss lassen später erstellte statistische Übersichten zur Verteilung der Lebensmittelmarken des NFD zu. Vgl. Nationaler Frauendienst 1914–1917, S. 43ff. 287 Vgl. »Regelung des Speisemarkenverkehrs für den Nationalen Frauendienst«, Bl. 30.
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diese als »überflüssige Schreibarbeit« kritisierten.288 Die Hilfskommission IVA des NFD bezweifelte auch, dass die Beschriftung der Marken mit den Namen der Unterstützten von Nutzen sein würde: »[… Wir würden] die grosse Mehrarbeit vielleicht auf uns nehmen, wenn wir uns von ihrer Zweckmässigkeit überzeugen und einsehen könnten, dass damit einer missbräuchlichen Verwendung der Marken entgegengewirkt würde. Es ist aber klar, dass jemand, der die Marken verkaufen will, sich nicht dadurch zurückhalten lässt, dass sein Name darauf steht; schliesslich ist es für den, der sie kauft, eine Kleinigkeit, sich den Namen beizulegen, der darauf vermerkt ist.«289 Die Mehrheit der Hilfskommissionen kam dem Wunsch des Magistrats nach und stellte die Speisemarken auf Namen der Bedürftigen aus. Die übrigen Kommissionen setzten diese Regelung aufgrund der zusätzlichen Arbeitsbelastung nicht um.290 Nach Erhalt der Speisemarken erfolgte bei der Ausgabe der Speisen in der Regel keine weitere Prüfung der Bedürftigkeit. Nur in wenigen Fällen nahmen die Vereine die Bedürftigkeitsprüfung selbst bzw. ein weiteres Mal vor. So hatten die Besucher der Bürgerspeisehallen des Roten Kreuzes, ihre Bedürftigkeit gegen Vorlage eines Ausweises nachzuweisen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Speiseanstaltsbetreibern gehörte das Rote Kreuz zu den wenigen Vereinen, die in ihren Verkaufsbüros Speisemarken aushändigten.291 In einem Schreiben an den Berliner Magistrat bat das Rote Kreuz darum, dass auch »Heimarbeiterinnen, stellungslose kaufmännische Angestellte, Agenten, kleine selbst Gewerbetreibende, Wäscherinnen und dergleichen« wie die Empfänger der Kriegsfürsorgeunterstützung mit einem Ausweis versehen werden sollten, um die Bedürftigkeitsprüfung effizient vornehmen zu können.292 Die fertigen Speisen verausgabten die Speiseeinrichtungen zunächst auf eigene Kosten, wobei die Lebensmitteleinkäufe von den Notspeisungsbetreibern überwiegend selbstständig besorgt wurden. Im Zuge der zunehmenden Versorgungsprobleme erhielten sie hierbei auch Unterstützung durch die Gemeinde. Die von den Besuchern eingelösten Speisemarken hatten die betreibenden Vereine wöchentlich dem Zentralbüro des NFD zurückzuführen.293 Hierbei wurden die im Voraus geleisteten Kosten für die Speisezubereitung durch den NFD beglichen. Dieser wiederum forderte daraufhin im Rahmen der Bedarfsanmeldungen die städtischen Mittel ein.
288 Vgl. Schreiben des NFD an den Magistrat vom 27. November 1914. Sowie die Schreiben der Hilfskommissionen IVA und VIIIB an die Zentrale des NFD vom 19. und 21. November 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932. 289 Schreiben der Hilfskommissionen IVA an die Zentrale des NFD vom 19. November 1914, ebd. 290 Vgl. Schreiben der Hilfskommissionen XIIB an die Zentrale des NFD vom 20. November 1914, ebd. 291 Vgl. »Die Eröffnung der Bürgerspeisehallen«, in: Berliner Tageblatt, 18. August 1914. »Bürgerspeisehallen des ›Roten Kreuzes‹ von Berlin«, in: Vorwärts, 14. August 1914. 292 Vgl. Schreiben des Roten Kreuzes an den Berliner Magistrat vom 26. August 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. 293 Hierzu vgl. Schreiben des NFD an den Berliner Magistrat vom 7. September 1914, ebd. Ferner vgl. »Regelung des Speisemarkenverkehrs für den Nationalen Frauendienst«, Bl. 30.
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2.1.2 Vielfältige Küchen mit beachtlichen Kapazitäten: Das Notspeisestellennetz Ein beträchtlicher Teil der Notspeiseeinrichtungen in Berlin (ohne Vororte) konnte unter Zuhilfenahme einzelner für den Magistrat erstellter Listen und Mitteilungen des NFD sowie Publikationen der Zentrale für private Fürsorge, die einen umfassenden Überblick über die Berliner Speiseeinrichtungen boten, ermittelt werden.294 Danach waren bis zum Frühjahr 1916 mindestens 175 privatwohltätige Speiseeinrichtungen aktiv an der Versorgung der Berliner Bevölkerung beteiligt.295 Die ermittelten Küchen und Speisegelegenheiten wurden überwiegend von verschiedenen privatwohltätigen Vereinen, aber auch kirchlichen Vereinen, Unternehmen sowie städtischen Einrichtungen und Privatpersonen zur Verfügung gestellt. Die Mehrheit der Einrichtungen befand sich im Norden (54) und Osten (24) Berlins und somit vor allem in den Arbeitervierteln. Die nächstgrößere Anzahl an Speisegelegenheiten wurde im Westen (23) geboten, wobei es sich hier vielfach um private Mittagstische wohlhabender Bürger handelte, die kleinere Kreise von Bedürftigen speisten. Nach dem Südwesten (16), Zentrum und Südosten (jeweils 15), Nordwesten (14) und dem Nordosten (11) gab es im Süden (3) die wenigsten Speisemöglichkeiten, aber mit den Kaiserhallen am Moritzplatz zugleich auch die größte Speisehalle der Stadt. Die vom Verein des Roten Kreuzes unterhaltene Speiseeinrichtung wurde bereits am 19. August 1914 eröffnet. Dem Berliner Tageblatt zufolge wurden am Tag der Eröffnung rund 6.000 Personen in der Speisehalle und dem anliegenden großen Stadtgarten verköstigt (Abb. 8).296 In den darauffolgenden Wochen lag der tägliche Andrang bei 4.000 bis 5.000 Besuchern. Das Rote Kreuz unterhielt auch die zweitgrößte Notspeiseanstalt Berlins, die sich im Landesausstellungspark Moabit am Lehrter Bahnhof im Nordwesten befand. Die Bürgerspeisehalle versorgte seit dem 20. August zwischen 2.000 und 4.500 Personen täglich mit einem Mittagessen.297 Eine weitere Speisehalle mit einer Kapazität bis zu 2.000 Portionen täglich betrieb das Rote Kreuz in der Bötzow Brauerei am Friedrichshain. Im Gegensatz zu vielen anderen Speiseanstalten der Stadt wurden die Bürgerspeisehallen von Anfang an nicht nur von Angehörigen der Kriegerfamilien und Arbeiterschaft in Anspruch genommen, sondern auch vom Mittelstand: »Arbeiter, Geschäftsfräulein, Lehrerinnen, junge Män[n]er aus den Bureaus, verhärmte Frauen in schlechten Kleidern, ihre kleinen auf dem Arm oder neben sich, so sitzt man hier beieinander, hier in Berlin, wo sonst jede Klasse, jedes Grüppchen sich so gern absondert.«298
294 Vgl. hierzu Abb. i mit Ausführungen im Anhang. 295 Nach einer offiziellen Übersicht der Zentrale für private Fürsorge existierten in Berlin (ohne Vororte) im Frühjahr 1915 etwa 107 Speiseeinrichtungen, die sich der Verpflegung der bedürftigen Bevölkerung annahmen. Vgl. Kriegsfürsorge in Groß-Berlin, S. 164ff. Weitere 68 Einrichtungen, von denen einige bis zum Frühjahr 1915 ihren Betrieb einstellten bzw. nach dem Frühjahr 1915 ihren Betrieb aufnahmen, konnten darüber hinaus ermittelt werden. 296 Vgl. »Die Massenspeisung«, in: Berliner Tageblatt, 20. August 1914. »Berliner Kriegsküchen«, in: Berliner Tageblatt, 30. September 1914. Vgl. auch »Bürgerspeisehallen«, in: Vorwärts, 20. August 1914. 297 Vgl. »Beim Mittagessen für 10 Pf.«, in: Lokal-Anzeiger, 1. September 1914. 298 Ebd.
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Die Zubereitung der Speisen übernahm die Aschinger-Gesellschaft, die für jede Portion 25 Pfennig berechnete. Finanziert wurde die Essenausgabe in Speisehallen mit dem Vermögen des Vereins, städtischen Subventionen und Zuschüssen der Landesversicherungsanstalt. Zehn Pfennig der Portionskosten trugen nach Angaben des Vereins die Speisehallenbesucher.299 Tatsächlich aber übernahm die Stadt in den meisten Fällen die Kosten der Gäste, da die Vorlage der vom NFD ausgegebenen 25-Pfennig-Marke eine Zuzahlung ausschloss. Insofern war die Stadt der eigentliche Träger der Speisefinanzierung in den Bürgerspeisehallen.300
Abbildung 8: Bürgerspeisehalle des Roten Kreuzes (1914)
Foto: Ullstein.
Während der Verein vom Roten Kreuz die größten Speisehallen betrieb, stellte Herrmann Abrahams Verein für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte die größte Anzahl der 299 Vgl. Schreiben des Roten Kreuzes an den Oberbürgermeister Wermuth vom 18. August 1914 und vom 31. Oktober 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931 und 1932. Nach dem Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom 19. November 1914 war es dem Magistrat erlaubt, den Verein des Roten Kreuz mit bis zu 12.000 Mark monatlich zu unterstützen. Hierzu »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 19. November 1914«, Nr. 33, in: Stenographische Berichte 41/1914, S. 319–328, hier S. 320. 300 Dies kam auch indirekt in einem Beitrag des Sozialdemokraten Emanuel Wurms in der Stadtverordnetenversammlung vom 12. November 1917 zur Sprache. Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 12. November 1914«, Nr. 32, in: Stenographische Berichte 41/1914, S. 313–317, hier S. 315f.
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Notstandsküchen. Zu Kriegsbeginn ergriff der Verein, der sich zuvor überwiegend auf die Speisung bedürftiger Schulkinder beschränkt hatte, frühzeitig Maßnahmen, um dem erhöhten Bedarf sowohl der Kinder als auch der Erwachsenen gerecht werden zu können. Für die Umsetzung nutzte der Verein das gesamte Vereinsvermögen, das sich aus Bürgerspenden und Beiträgen städtischer Behörden zusammensetzte. So kamen zu den zwanzig Küchenstandorten, die im März 1914 eingerichtet waren, bis zum Frühjahr 1915 über dreißig Speiseanstalten für Kinder hinzu.301 Die Kinderküchen, von denen einige auch Ausgabestellen für Erwachsene besaßen, versorgten bereits Anfang August 1914 täglich fast 8.000 Schul- und Kleinkinder mit einem Mittagessen (Abb. 9). Bis Ende September stieg die Zahl der täglich verköstigten Kinder auf 26.700.302
Abbildung 9: Speisung von Reservisten-Kindern durch den Verein für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (August 1914)
Postkarte: Verlag Gustav Mandel, Privatbesitz.
Während die Speisung der Schulkinder weiterhin weitgehend von der Stadt finanziert wurde, bestritt der Verein die Kleinkinderspeisung allein. Der jüdische Wohltäter Abraham, der auch die rituelle Küche des Israelitischen Heimathauses im Stadtzentrum unterhielt, eröffnete neben seinen Kinderküchen während der ersten Kriegswochen auch Bürger- und Mittelstandsküchen. In einem Schreiben an den Magistrat erklärte Abrahams Verein Anfang Oktober 1914:
301 Vgl. Übersicht zu den Kinder-Volksküchen des Vereins für Kinder-Volksküchen und Volks-Kinderhorte Berlin. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. Vgl. auch Unsere Ernährungs-Fürsorge, S. 12f. 302 Vgl. »Die Schulspeisung und der Krieg«, in: Vorwärts, 6. November 1914. Sowie »Berliner Kriegsküchen«, in: Berliner Tageblatt, 30. September 1914.
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»[…] Wir waren genötigt […], unsere Anstalten ganz bedeutend zu erweitern und auch unseren Betrieb zu verstärken, um einer fast 5fachen Vergrösserung der Speisung gerecht werden zu können. […] Wir haben […] auf Anregung des Nationalen Frauendienstes überall da, wo es an Speise-Gelegenheit für die Arbeitslosen fehlte, solche geschaffen und uns bereit erklärt, in allen Gegenden, wo dieselben nötig sind, Neu-Einrichtungen zu gründen.«303 Die Errichtung von Speiseeinrichtungen für Erwachsene erfolgte dem Kindervolksküchenverein zufolge auch auf Initiative des österreich-ungarischen General-Konsuls in Berlin Friedrich Szarvasy (*1867): »Den äußerlichen Anstoß, uns mit Beginn des Krieges auch der Speisung von Erwachsenen zu widmen, gab eine Anregung des Öster[r]eichisch-Ungarischen Konsuls dahingehend, durch Einrichtung einer Bürgerküche die wirtschaftliche Notlage seiner Landsleute zu lindern. Diese erste Küche wurde in der Kaiserin-Augustastr. 57 eröffnet, in welcher alle uns vom Konsulat überwiesenen Personen unentgeltlich Mahlzeiten erhielten.«304 Nach der Inbetriebnahme der Küche für österreichische Landsleute eröffnete Abrahams Verein noch im September 1914 die erste Bürgerküche für Berliner in der Neuen Königstraße nahe dem Alexanderplatz. Während des ersten Kriegsjahres entstand ein Netz von mindestens siebzehn Bürger- und Mittelstandsküchen, von denen jede täglich mehrere Hundert Portionen ausgab.305 »Von Monat zu Monat«, so Abraham, »wurden immer wieder in neuen Gegenden Gemeinschaftsküchen eingerichtet, deren Zweckmäßigkeit und soziale Notwendigkeit sich immer deutlicher zeigte.«306 Durch den regen Zuspruch, den die Küchen erhielten, erweiterte Abrahams Verein die Zahl der Einrichtungen bis zum Frühjahr 1916 um nochmals mindestens zehn Bürger- bzw. Mittelstandsküchen sowie eine Künstlerküche (Abb. 10).307 Die Leistungen des Vereins auf dem Gebiet der Mittelstandsverpflegung wurden über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus wahrgenommen. Das Wiener Wochenblatt Der Morgen berichtete vollen Lobes von den Berliner »Restaurants der Bedürftigen« und ihren Besonderheiten: »Besondere Geschicklichkeit und guten psychologischen Scharfblick bewies er [der Kindervolksküchenverein] damit, daß er diesen Küchen je nach der örtlichen Lage ein besonderes Gepräge verlieh. Dem oberflächlich Denkenden gilt vielleicht jeder
303 Schreiben des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte an den Berliner Magistrat vom 3. Oktober 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. 304 Denkschrift des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte über seine Tätigkeit und Organisation [Ende 1916/Anfang 1917]. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 315, Bl. 25–41, hier Bl. 33. Vgl. auch Abraham, Herrmann: Drei Kriegsjahre. Erlebtes und Geschaffenes, Berlin 1917, S. 6. Sowie »Speisung der hungernden Oesterreicher in Berlin«, in: Arbeiter-Zeitung, 3. November 1914. 305 Vgl. Unsere Ernährungs-Fürsorge, S. 13. 306 Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 6. 307 Vgl. Schreiben des Vereins für Kinder-Volksküchen und Volks-Kinderhorte an den Berliner Magistrat vom 25. Mai 1916. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1934. Vgl. auch »Verzeichnis der Mittelstands- und Bürgerküchen des Vereins für Volkskinderküchen und Volkskinderhorte Berlin e.V.«, in: Vorwärts, 23. April 1916.
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Bedürftige gleich. Daß es dem nicht so ist, hatten dem weniger Einsichtigen die bereits gemachten trüben Erfahrungen bewiesen. Galt es doch jetzt die Hungrigen in sauberen hellen Räumen zu speisen und nicht sie mit der Tatsache der Existenz einer billigen Eßgelegenheit überhaupt abzuspeisen. So wurden die ›Küchen‹ je nach dem Wohnviertel und der sozialen Stellung ihrer Bewohner verschieden gestaltet. Die stellungslosen Kaufleute, Lehrer, Studenten und Künstler des Berliner Westens erhielten Speisehallen, die den Vergleich mit einem einfachen bürgerlichen Wiener Restaurant nicht zu scheuen brauchen, die kleinen Agenten, Zwischenhändler, Rollkutscher, Weichensteller und Möbelträger des Ostens weitaus schlichtere Säle […]. Auch der Tatsache, daß ein verschiedenes Publikum auch einen verschiedenen Geschmack besitzt, wurde in der Wahl und der Zubereitung der Speisen, je nach der Lage der Bürgerküche Rechnung getragen.«308 Ein Großteil der Besucher der Abrahamschen Küchen, allen voran die Kinder, wurden von den städtischen Behörden und Wohltätigkeitsvereinen zugeführt. Da für den Besuch der Küchen des Kindervolksküchenvereins kein Bedürftigkeitsnachweis erforderlich war, konnten die Einrichtungen von allen Berlinern zum Selbstkostenpreis besucht werden. Die Portionspreise lagen hier höher als in den Bürgerspeisehallen des Roten Kreuzes. Dies könnte sich durch den erhöhten Aufwand der Speisezubereitung erklären lassen, da die Mittagsportionen zum Beispiel in den Bürgerküchen des Vereins aus zwei Gängen, einem halben Liter Suppe und einem halben Liter Hauptgericht mit Fleischbeilage, bestanden. Erwachsene zahlten zunächst fünfzehn bis zwanzig Pfennig. Im Zuge der Lebensmittelteuerung stiegen die Preise im Juni 1915 auf 25, ab Frühjahr 1916 auf 35 bis sechzig Pfennig pro Portion in den Bürgerküchen bzw. achtzig Pfennig in den Mittelstandsküchen.309 An der Seite des Roten Kreuzes und dem Kindervolksküchenverein hatten auch zwei bekannte Speiseanbieter der Vorkriegszeit einen großen Anteil an der Versorgung der Bedürftigen. So betrieben der Verein der Berliner Volksküchen von 1866 weiterhin acht und die Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft sechs Speiseanstalten. Darüber hinaus belieferten beide Küchenbetreiber eine Vielzahl anderer Einrichtungen. Ab dem Frühjahr 1916 boten die Berliner Volksküchen ihre Speisen auch mit den neu eingeführten Gulaschkanonen an, die täglich um die Mittagszeit durch die Straßen der Stadt rollten.310 Ein Speiselieferant war auch der Verein zur Errichtung von Arbeiterinnenheimen, der mit seinen vier Heimen täglich zwischen 1.500 und 1.800 Portionen zur Verfügung stellte.311 Einen ähnlichen Portionsumfang produzierten auch die neun Haushaltungsschulen des Vaterländi308 »Die billige Küche des Berliners«, in: Der Morgen, 24. Januar 1916. 309 Vgl. Schreiben des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte an den Berliner Magistrat vom 3. Oktober 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. Sowie das Schreiben des NFD an Stadtrat und Vorsitzenden der Armendirektion Karl Doflein vom 7. März 1916. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1934. Vgl. auch Wronsky/Friedeberg, Handbuch der Kriegsfürsorge, S. 267. Die Portionskosten für Kinder beliefen sich auf zehn Pfennig. Dies galt gleichfalls für die ab Oktober 1914 eingeführten Abendsuppen für Arbeitslose. 310 Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 59. Näheres hierzu in Kapitel iii, Abschnitt 2.2. 311 Vgl. Schreiben des Vereins zur Errichtung von Arbeiterinnenheimen an den Berliner Magistrat vom 8. September 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. Vgl. auch »Der Verein zur Errichtung von Arbeiterinnenheimen«, in: Vorwärts, 18. August 1914.
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schen Frauenvereins, die in ihren Räumlichkeiten Volksküchen einrichteten und täglich bis zu 190 Portionen pro Einrichtung abzugeben in der Lage waren.312 Beachtliche Kapazitäten wiesen auch die an der Notspeisung beteiligten städtischen Festsäle auf, die bis zum Ausbruch des Krieges u.a. für Feierlichkeiten, Theatervorstellungen und oftmals auch als Versammlungsort der Sozialdemokraten genutzt wurden.313 So konnten die Schönhauser Festsäle täglich bis zu 5.000 Portionen abgeben. Die benachbarten Mila-Säle und die im Berliner Osten gelegenen Keller’s Festsäle und Concordia-Festsäle wiesen jeweils eine Portionsausgabezahl von 1.000 Mahlzeiten täglich auf.314 Auch Gasthäuser stellten ihre Räumlichkeiten in den Dienst der Berliner Notspeisung, darunter auch die RestaurantKette Zur Bierglocke, die in ihrem Lokal in der Brunnenstraße täglich 600 Portionen zur Verfügung stellte. Nicht alle Küchen und Einrichtungen kochten in dieser Größenordnung. Für einen Großteil der Speiseanstalten liegen oftmals nicht mehr als der Nachweis über ihr – zum Teil auch nur zeitweiliges – Bestehen vor.
Abbildung 10: Entwicklung der Zahl der Speiseeinrichtungen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (1915 bis 1917)
Quellen: Verzeichnisse der Mittelstands-, Beamten- und Kriegsküchen des Vereins Kindervolksküchen. GStAPK, I. HA Rep. 89, Nr. 12728, Bl. 90f. Zuschriften von Reichs-, Staatsbehörden u. Kriegsgesellschaften an den Verein für Kinder-Volksküchen u. Volkskinderhorte Berlin e.V., Berlin 1917. BA, R 3101–6040, Bl. 65. Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 21f. Kriegsfürsorge in Groß-Berlin, S. 164ff. Unsere Ernährungs-Fürsorge, S. 12f. Wronsky/Friedeberg, Handbuch der Kriegsfürsorge, S. 266ff. »Verzeichnis der Mittelstands- und Bürgerküchen des Vereins für Volkskinderküchen und Volkskinderhorte Berlin e.V.«, in: Vorwärts, 23. April 1916.
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Vgl. »Essen für zehn Pfennig« in: Vorwärts, 28. August 1914. Vgl. u.a. »Concordia-Festsäle«, in: Gedenktafeln in Berlin, hg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Im Internet unter: https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/gedenktafeln/detail/con cordia-festsaele/752 (13.12.2022). Dies geht aus verschiedenen Schreiben Hedwig Heyls an Georg Reicke vom September 1914 hervor. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931.
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Anmerkungen zu Abbildung 10 Für die Jahre 1915 und 1916 beziehen sich die Angaben auf den Stand im Frühjahr. Die Angaben für 1917 gaben den Stand zum Ende des Jahres wieder. Mit der Übernahme der Schulkinderspeisung durch die Stadt wurden die Kinderküchen des Vereins ab Oktober 1916 als Suppenküchen für Kleinkinder betrieben. Von den Beamtenküchen waren sieben offen für die gesamte Berliner Beamtenschaft und 31 weitere befanden sich in Staatsämtern.
Das Berliner Notspeisestellennetz war mit Blick auf das Speisepublikum breit aufgestellt. Von den 175 ermittelten Speiseeinrichtungen, die zwischen August 1914 und dem Frühjahr 1916 in Betrieb waren, sprachen über siebzig Einrichtungen (Volksküchen, Volksspeisehallen und Mittagstische) alle Berliner an. Weitere rund sechzig Speisestellen waren Kinderküchen und bei über vierzig Speisegelegenheiten handelte es sich um Bürger- und/oder Mittelstandsküchen bzw. Speiseeinrichtungen für »gebildete Stände« und Künstler. Darüber hinaus gab es rituelle Küchen, eine Krankenküche und mindestens eine Speisestelle richtete sich an Flüchtlinge aus Ostpreußen.
2.1.3 Ein anspruchsvolles Küchenpublikum: Die Inanspruchnahme der Küchen Wie viele Berliner während der ersten Kriegshälfte täglich durch das Notspeisestellennetz versorgt wurden, lässt sich auf Grundlage der vorhandenen Quellen nicht konkret belegen, da eine vollständige Übersicht über die verteilten Portionen in den Berliner Speiseanstalten zur Kriegszeit nicht vorliegt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass täglich mehrere Zehntausend Bedürftige mit einem Mittagsessen versorgt wurden. »[…N]ach den Stichproben, die bei einem Gange durch eine Reihe von Kriegsküchen gemacht worden sind,« berichtete die ungarische Tageszeitung Pester Lloyd im Mai 1915, »darf man die Zahl der Mittagsgäste auf rund 50.000 täglich schätzen.«315 Um ein ungefähres Bild von der allgemeinen Entwicklung der Inanspruchnahme der Küchen zu erhalten, lohnt es sich, einen Blick auf die Portionsausgabezahlen der Bürgerspeisehallen des Roten Kreuzes für die Zeit von November 1914 bis März 1915 zu werfen.316 Damit lässt sich zumindest die tendenzielle Entwicklung der Inanspruchnahme im ersten Kriegshalbjahr genauer nachzeichnen. Auch liefert Herrmann Abrahams Bericht über die Kriegsarbeit seines Kindervolksküchenvereins während der ersten drei Kriegsjahre umfassende Zahlen zu den monatlich ausgegebenen Portionen in den Kinder-, Bürger- und Mittelstandsküchen.317 Darüber hinaus liegen die Bedarfsanmeldungen für Speisemarken durch den NFD vor, mit denen sich die generelle Entwicklung der Fre-
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»Berliner Kriegsküchen«, in: Pester Lloyd, 21. Mai 1915. Liste über die täglich verabreichten Portionen in den drei Bürgerspeisehallen zwischen November 1914 und Dezember 1915 in einem Schreiben des Roten Kreuzes an den Berliner Magistrat vom 29. April 1915. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1933. Hierzu siehe Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 16ff.
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quentierung der Notspeiseeinrichtungen bis zum Sommer 1916 partiell nachverfolgen lässt.318 Die früh einsetzenden Bemühungen des Magistrats und des NFD, einen großflächigen und koordinierten Speisebetrieb für weite Teile der Stadt in Gang zu setzen, sprechen dafür, dass es seit Kriegsbeginn einen erhöhten Bedarf nach öffentlichen Speiseanstalten gab. Die geräumigen Speisehallen vom Roten Kreuz beispielsweise erfuhren in den Tagen ihrer Eröffnung einen so großen Andrang, dass ein Teil der Besucher sogar abgewiesen werden musste.319 Zwischen 2.000 bis 6.000 Personen fanden sich in den ersten Tagen ihres Bestehens täglich in den Hallen zur Mittagsspeisung ein. Nach der Beschlussfassungsvorlage zur Stadtverordnetenversammlung vom 7. November 1914 wurden zeitweise sogar bis zu 12.000 Portionen in den drei großen Speisehallen ausgegeben.320 Im November lag die tägliche Abgabezahl der Einrichtungen bei rund 6.000 Portionen (Abb. 11). In der Zwischenzeit war auch die Bürgerspeisehalle im Landesausstellungspark, in der eine Vielzahl der Gäste im Freien speisten, in den benachbarten Patzenhofer Ausschank verlegt worden.321 Hier wurde dem Roten Kreuz ein großer Saal zur Verfügung gestellt, der jedoch über eine geringere Kapazität verfügte als der Landesausstellungspark. Ab Dezember gingen die Ausgabezahlen weiter zurück. Im März 1915 wurden alle drei Speisehallen zusammen nur noch von rund 2.600 Personen täglich frequentiert. Zwischen November und März hatte sich die Teilnahmezahl in den Bürgerspeisehallen demnach mehr als halbiert. Diese Entwicklung setzte trotz der Brotknappheit und der beginnenden Kartoffelkrise ein. Zugleich war dies aber auch der Zeitraum, in dem die Arbeitslosigkeit weitgehend abgenommen hatte und somit ein großer Anteil des Besucherkreises wegfiel. Nachdem das Rote Kreuz bereits im Februar 1915 an die Schließung der Einrichtungen dachte, wurde der Betrieb in den Speisehallen im April schließlich eingestellt.322
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Die Bedarfsanmeldungen können mit den wöchentlich vom NFD erstellten Bedarfslisten an den Berliner Magistrat zurückverfolgt werden. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931–1936. 319 Vgl. »Massenbesuch in den Bürgerspeisehallen«, in: Berliner Morgenpost, 21. August 1914. Vgl. auch »Beim Mittagessen für 10 Pf.«, in: Lokal-Anzeiger, 1. September 1914. Sowie »Die Massenspeisung«, in: Berliner Tageblatt, 20. August 1914. 320 Vgl. 778. Beschlussfassungsvorlage, S. 873. 321 Vgl. »Verlegung einer Bürgerspeisehalle«, in: Vorwärts, 13. Oktober 1914. 322 Vgl. Schreiben des Roten Kreuzes an den Berliner Magistrat vom 5. Februar 1915. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1933. Vgl. auch »Schließung der Bürgerspeisehallen«, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 20. April 1915.
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Abbildung 11: Ausgegebene Portionen in den Bürgerspeisehallen des Roten Kreuzes (Nov. 1914 bis März 1915)
Quelle: Übernommen aus der Liste der täglich verabreichten Portionen in den drei Bürgerspeisehallen zwischen November 1914 und März 1915 im Schreiben des Roten Kreuzes an den Berliner Magistrat vom 29. April 1915. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1933.
Eine ähnliche Entwicklung nahm auch die Inanspruchnahme der Kinderküchen des Kindervolksküchenvereins. Nachdem die Kinderspeisung in den ersten Kriegsmonaten regen Zulauf erfahren und im Oktober ihren Höhepunkt erreicht hatte, ging die Teilnahmezahl in den Küchen bis zum Sommer 1915 allmählich zurück. Dem Vorwärts zufolge halbierte sich die Zahl der monatlich ausgegebenen Mittagessen zwischen Oktober 1914 und Mai/Juni 1915 von über 1,2 Millionen auf etwas mehr als 570.000 Portionen.323 Auch hier wurde die abnehmende Inanspruchnahme auf die »bessere Beschäftigung der Eltern der Kinder« zurückgeführt. »Es zeigte sich,« schlussfolgerte das sozialdemokratische Parteiorgan, »daß zahlreiche Eltern ihre Kinder die Schulspeisung nicht mehr in Anspruch nehmen lasse, sobald sie ihrer nicht mehr bedürfen.«324 Die deutliche Abnahme der Inanspruchnahme der Kindervolksküchen belegen auch die von Abraham veröffentlichten Speisemarkenausgabezahlen (Abb. 12). Zu keinem Zeitpunkt während des Krieges wurden mehr Speisemarken für die Kindervolksküchen ausgegeben als im dritten Kriegsmonat. Im Oktober 1914 wurden durchschnittlich 26.000 Speisemarken für die Kinderküchen verteilt. Im Juli des darauffolgenden Jahres erreichten die Ausgabezahlen mit täglich rund 15.600 ausgegebenen Marken einen – mit Blick auf die gesamte Kriegsdauer – ersten Tiefstand. Bis zum Sommer 1916 schließlich schwankten die Ausgabezahlen zwischen 17.000 und 21.000 Speisemarken pro Tag. Trotz der Abnahme der Inanspruchnahme im ersten Kriegshalbjahr belegen diese Zahlen, dass das Mittagessen 323 Vgl. »Der Verein für Kindervolksküchen«, in: Vorwärts, 12. November 1914 und 17. Juni 1915. 324 »Rückgang der Kinderspeisung«, in: Vorwärts, 12. Januar 1915.
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in Abrahams Kinderspeisestellen nun mehr denn je zum Alltag Tausender Berliner Kinder gehörte.
Abbildung 12: Entwicklung der monatlich ausgegebenen Speisemarken in den Kinder- und Suppenküchen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (1914 bis 1917)
Quelle: Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 16f.
Anmerkungen zu Abbildung 12 Die Grafik beinhaltet sowohl die verteilten Speisemarken für die Berliner Schulspeisung als auch die vom NFD ausgegebenen und die vom Kindervolksküchenverein verkauften Marken. Aufgrund der bestehenden Ausgabestellen für Erwachsene muss davon ausgegangen werden, dass ein Teil der Speisemarken auch an Erwachsene abgegeben wurde. Mit der Übernahme der Schulkinderspeisung durch die Stadt wurden die Kinderküchen des Vereins ab Oktober 1916 als Suppenküchen für Kleinkinder betrieben. Die Anzahl der ausgegebenen Marken für die Kinderküchen umfasste bis einschließlich September 1916 insgesamt 15.222.055 Speisemarken. Für die Suppenküchen wurden zwischen Oktober 1916 und August 1917 insgesamt 4.078.644 Marken ausgegeben. Eine andere Entwicklung nahm wiederum die Inanspruchnahme der Mittelstands- und Bürgerküchen des Kindervolksküchenvereins. Während die Portionsausgabezahlen in den Speisehallen des Roten Kreuzes und in den Kinderküchen des Vereins im ersten Halbjahr des Krieges zurückgingen, nahm die Zahl ausgegebener Mittags- und Abendportionen in den Mittelstandsküchen während des gesamten ersten Kriegsjahres kontinuierlich zu (Abb. 13). Zwischen September 1914 und September 1915 hatte sich die Menge verabreichter Portionen von monatlich 35.250 auf über 319.400 mehr als verneunfacht. Die kontinuierliche Zunahme der Inanspruchnahme hielt auch im zweiten Kriegsjahr an. Seit Beginn des Jahres 1916 schnellten die Portionsausgabezahlen in den über zwanzig
III. Metropolen im Krieg
Mittelstands- und Bürgerküchen über die Wintermonate hinaus in die Höhe. Gaben die Küchen im Januar/Februar noch etwa 400.000 Speiseportionen pro Monat aus, waren es im Juni/Juli 1916 bereits über 880.000 Portionen. Damit wurden pro Tag im Durchschnitt 28.700 Mittelstands- und Bürgerküchenessen verabreicht.325 In jeder einzelnen dieser Küchen herrschte täglich »[e]in unaufhörliches Kommen und Gehen«. Weit über die Mittelstandskreise hinaus zog es mehrere Tausend Berliner aus allen Stadtteilen in die Kriegsküchen des Kindervolksküchenvereins: »Viele Frauen des Arbeiterstandes, die sonst zu Mittag vielleicht nur eine ›Stulle‹ hätten, manche mit ihren Kindern, daneben auch ältere Männer, Angestellte, Arbeiter. […] Ein fast beängstigendes Gedränge herrscht in der Mittelstandsküche [des Westens II] an der Potsdamer Straße […] Kopf an Kopf sitzen da die Gäste über ihre Teller gebeugt und hinter jedem Stuhle steht ein Wartender, während im Hofe an die 200 Frauen und Kinder, mit Taschen, Körben, Töpfen versehen, eine lange Reihe bilden, um das Essen nach Hause zu holen.«326 Dass der wachsende Andrang in Abrahams Mittelstands- und Bürgerküchen, die von vielen Berlinern oftmals ohne Bedürftigkeitsprüfung auf eigene Kosten frequentiert wurden, nicht auf das gesamte Notspeisenetz Berlins zu übertragen ist, belegen die Bedarfsanmeldungen für Speisemarken durch die Hilfskommissionen des NFD (Abb. 14).327 Hier hatte sich der wöchentliche Bedarf schon zwischen November und Dezember 1914 um mehr als die Hälfte reduziert. Mit über 30.000 Bedarfsanmeldungen pro Woche wurde im November – zumindest seit Beginn der Aufzeichnungen – der höchste Bedarf während des gesamten Krieges gemeldet. Dies war auch der Monat, in dem eine Welle neuer Unterstützungsfälle einsetzte. Vor allem alleinstehende arbeitslose Frauen, die bis dahin von ihren Ersparnissen gelebt hatten, beantragten nun bei den Hilfsstellen Arbeitslosenunterstützung und zählten damit vermehrt zum Besucherkreis öffentlicher Speiseanstalten.328 Seit Ende November wurden im Durchschnitt mehr Kriegsunterstützte als Arbeitslose und »andere Bedürftige« mit Speisemarken versorgt.329 Im Januar stieg der Bedarf nochmal auf rund 18.000 Meldungen pro Woche. Auch diese Zahl wurde im Verlauf des Krieges nicht nochmal erreicht. Die Bedarfsanmeldungen liefern keinen Hinweis darauf, dass die Kartoffelkrise im Frühjahr eine verstärkte Inanspruchnahme der Notküchen herbeiführte. Zwar stieg die Anzahl der wöchentlichen Meldungen ab März/April noch einmal leicht an, doch schien dies eher eine Folge der vermehrten
325 Die Nachgaben, die noch einmal mehr als 8.000 Portionen pro Tag umfassten, wurden nicht einberechnet. Vgl. hierzu Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 18f. 326 »Berliner Kriegsküchen«, in: Pester Lloyd, 21. Mai 1915. 327 Da neben den Hilfskommissionen noch weitere Markenausgabestellen bestanden, gilt es zu berücksichtigen, dass sich die Bedarfsanmeldungen des NFD nicht auf alle Bedürftigen der Stadt bezogen. Allein das Verhältnis zwischen den verausgabten Portionen durch das Rote Kreuz und den angemeldeten Speisemarken lässt erahnen, dass außerhalb der Kommissionen ein beträchtlicher Anteil an Speisemarken bewilligt worden sein muss. 328 Vgl. Schreiben der Hilfskommission IVA an die Zentrale des NFD vom 19. November 1914. Sowie Schreiben des NFD an den Berliner Magistrat vom 27. November 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932. 329 Siehe hierzu Tab. v im Anhang. Zur Gruppe der »anderen Bedürftigen« siehe auch oben in Kapitel iii die Ausführungen zur Anm. 278.
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Einberufung des Landsturms zu sein. Der NFD berichtete dem Magistrat, dass infolgedessen nicht nur die Anzahl zu versorgender Kriegerfamilien stieg, sondern auch die Kopfzahl der Familien. Wurden zu Kriegsbeginn noch vorwiegend junge Männer einberufen, die häufig »Ernährer ihrer Mutter oder kinderlose[n] Ehefrau« waren, galt dies nun auch für ältere Männer, deren Familien »naturgemäss viel kinderreicher«330 waren. Ab Juni aber gingen die Bedarfsmeldungen Monat für Monat weiter zurück und sanken im August 1915 sogar unter 10.000 Anmeldungen. Dabei blieb es bis zum Sommer 1916.
Abbildung 13: Entwicklung der monatlich ausgegebenen Portionen in den Mittelstands- und Beamtenküchen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (1914 bis 1917)
Quelle: Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 18f.
Anmerkungen zu Abbildung 13 Für die Darstellung wurden die ausgegebenen Mittags- und Abendportionen addiert. Die Gesamtzahl aller verabreichten Portionen betrug 22.271.027. Die Mehrzahl der Portionen wurden zur Mittagszeit ausgegeben (16.029.767). Nicht berücksichtigt wurden die Nachgaben bzw. Mehrausgaben an die Küchenteilnehmer. Die Gesamtzahl nachgegebener Portionen umfasste im gleichen Zeitraum nochmals 6.195.632. Die ersten Beamtenküchen eröffnete der Kindervolksküchenverein im Sommer 1916.
330 Schreiben des NFD an den Berliner Magistrat vom 13. und 22. April 1915. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1933.
III. Metropolen im Krieg
Ob diese Entwicklung mit den Speisen in den Notstandsküchen zusammenhing, lässt sich schwer einschätzen. Zumindest in den ersten vier Kriegsmonaten schien die Kost in vielen Speiseanstalten noch weitgehend abwechslungsreich gewesen zu sein, wie aus einer Zusammenstellung der verausgabten Speisen in den Einrichtungen mit Speisezubereitung hervorgeht, welche im Rahmen einer Untersuchung des Städtischen Untersuchungsamtes für hygienische und gewerbliche Zwecke im Oktober und November 1914 erfolgte.331 Die untersuchten Speisen bestanden in der Regel aus zwei bis drei Komponenten. Meistens handelte es sich dabei um Kartoffeln mit regelmäßig variierenden Fleisch- und Wurstbeilagen. Dazu gab es häufig verschiedenes Gemüse und in wenigen Fällen auch Hülsenfrüchte. Wie lange dieses Speiseangebot aufrechterhalten werden konnte, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden, da keine weiteren Speisezettel vorliegen. Neben der Vielfalt der Speisen zählte aber auch ihr Gehalt. Die Mittagsmahlzeiten in den Speiseeinrichtungen sollten mindestens vierzig Prozent des täglichen Nahrungsbedarfs decken, der sich auf die Erkenntnisse des Ernährungsphysiologen Max Rubner stützte.332 Danach hatten die Portionen mindestens 800 Kalorien, dreißig Gramm Eiweiß, achtzehn Gramm Fett und 130 Gramm Kohlenhydrate zu enthalten.333 Die Prüfung des städtischen Untersuchungsamtes kam zu dem Ergebnis, dass die Portionen der Berliner Notstandsküchen diesem Mindestbedarf nicht entsprachen.334 Die einzige Ausnahme bildeten die Speisen des Israelitischen Heimathauses, die im Durchschnitt über den Mindestwerten lagen. Bei den großen Speiseeinrichtungen, welche die Mehrheit der Bedürftigen versorgten, schnitten die Berliner Volksküchen von 1866 – wenn auch unterhalb des verlangten Nahrungsbedarfs – am besten und die Essensausgabestellen für Erwachsene des Kindervolksküchenvereins am schlechtesten ab. Auch die Speisen in den Kinderküchen des Vereins, die seitens der städtischen Schulspeisungsdeputation besonders in den Blick genommen wurden, lieferten nicht das geforderte Maß an Qualität und Quantität.335
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Vgl. Berichte des Städtischen Untersuchungsamtes über die Untersuchung der verabreichten Speisen in den Berliner Notstandsküchen und anderen gemeinnützigen Speiseanstalten vom 26. Oktober 1914, 6. November 1914 und 16. Dezember 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932. 332 Der tägliche Nahrungsbedarf nach Rubner lag für einen leicht arbeitenden Erwachsenen mit siebzig Kilo Körpergewicht bei 2140 Kalorien, achtzig Gramm Eiweiß (= 107 Gramm Roheiweiß), 46 Gramm Fett und 343 Gramm Kohlenhydrate. Es wurde bei der Festlegung des Mindestbedarfs für die Mittagsspeisung angenommen, dass die bedürftigen Männer und Frauen »im Mittel eher etwas weniger bedürfen«. Siehe 3. Bericht des Städtischen Untersuchungsamtes über die Untersuchung verabreichter Speisen in den Berliner Notstandsküchen und anderen gemeinnützigen Speiseanstalten vom 16. Dezember 1914, Abschnitt Notspeisungen für Erwachsene, ebd. 333 Vgl. ebd. 334 Hierzu siehe Tab. vi im Anhang. 335 Dies war das Ergebnis einer von der Schulspeisungsdeputation in Auftrag gegebenen Untersuchung der Kinderküchenspeisung im Winter 1910/11, 1913/14 und Herbst 1914. Hierzu vgl. ausführlich »Die Berliner Schulspeisung«, in: Vorwärts, 4. Januar 1916. Ferner »Die Schulspeisung und der Krieg«, in: Vorwärts, 6. November 1914.
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Abbildung 14: Wöchentliche Bedarfsanmeldungen für Speisemarken durch den NFD (1914–1919)
Die Angaben entsprechen jeweils einer ausgewählten Woche des jeweiligen Monats. Die zeitlichen Abstände zwischen den gewählten Wochen umfassen von November 1914 bis einschließlich September 1917 drei bis vier Wochen und ab Oktober 1917 ein bis vier Wochen. Quelle: Die einzelnen Angaben wurden nach den wöchentlich vom NFD erstellten Bedarfslisten an den Berliner Magistrat zusammengetragen. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931–1936.
Unabhängig von den Ergebnissen städtischer Speisekontrollen zählte aber vor allem die Meinung der Empfänger der Notstandskost. Das Ausmaß der Inanspruchnahme kann auch als ein Indikator für die (Un-)Zufriedenheit des Speisepublikums mit der Qualität des Essens gesehen werden. So wurden z.B. die Bürgerspeisehallen des Roten Kreuzes in den ersten Wochen ihres Bestehens nicht nur sehr gut besucht, sondern auch die Speisen für zufriedenstellend befunden.336 Als der Andrang einige Wochen später allmählich nachließ, wurden auch zunehmend Klagen über die abgegebenen Speisen laut. Nach einem Bericht des Vorwärts wurden von den Bürgerspeisehallenbesuchern sowohl die fehlende Qualität als auch die unzureichende Quantität des Essens der Aschinger-Gesellschaft bemängelt: »Wohl weiß jede Hausfrau, daß Rüben einmal holzig ausfallen. Wenn aber ein Quantum Rüben, wie es zur Herstellung von 12 000 Portionen Essen notwendig ist, durchweg holzig ist, so ist wohl anzunehmen, daß minderwertige Ware gekauft wurde. […] Die Klage der sich dort Verpflegenden richtet sich aber ganz allgemein gegen die Quantität. […S]o muß doch die Möglichkeit bestehen, die Portionen so zu bemessen, daß ein normaler Esser auch satt wird. Bei einer Herstellung von 12 000 Portionen täglich […] ist das sehr wohl möglich. […] Dringend müßte aber davor gewarnt werden, etwa die Qualität der Speisen mit Rücksicht auf die zu erhöhende Quantität herabzusetzen. Das Volk hat ein Recht zu verlangen, daß in dieser schweren Zeit die ihm im Wege der Massenherstellung zu billigen Preisen verabfolgten Speisen von solcher Beschaffenheit sind, daß durch diese Ernährung die Erhaltung seiner Arbeitskraft gesichert ist.«337 336 Vgl. »Die Bürgerspeisehallen«, in: Vorwärts, 2. Oktober 1914. 337 Ebd.
III. Metropolen im Krieg
Die Unzufriedenheit mit den Speisen war jedoch nicht der alleinige Grund für den Rückgang der Inanspruchnahme der Küchen. Die Notstandsspeisung wurde anfänglich als eine vorübergehende Einrichtung angesehen. Ende 1914 zeichnete sich jedoch schon ab, dass der Krieg länger andauern würde als erwartet. Obwohl sich die Versorgungslage zunehmend schwieriger gestaltete, drängten vor allem mittelständische Frauen im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer familiären Alltagspflichten und aus Angst vor einem »hauswirtschaftlichen Kompetenzverlust«338 auf die heimische Zubereitung des Mittagessens. Ein Blick auf das Verhältnis der beim NFD gemeldeten Speisemarken zu den gleichzeitig angemeldeten Lebensmittelscheinen sowie Kartoffel- und Gemüsemarken veranschaulicht, dass der Bedarf an Speisemarken lediglich bis Dezember 1914 größer ausfiel als für die anderen Marken. In der Umkehrung dieses Verhältnisses habe sich, wie der NFD erklärte, der Wunsch der Frauen, selbst kochen zu wollen, bemerkbar gemacht (Abb. 15).339 Wie ausgeprägt das Verlangen nach einer Rückkehr zu halbwegs gewohnten Verhältnissen und die damit einhergehende Ablehnung der Frauen gegenüber den öffentlichen Küchen war, hob die bürgerliche Vertreterin des Berliner NFD Agnes Zahn-Harnack (1884–1950) Ende 1914 in einem Vortrag hervor: »[D]ie Frauen wollten zum Teil nicht in den öffentlichen Speiseanstalten essen. Sie wollten ihren bescheidenen Stolz wahren, der sie von der alleruntersten Schicht der Bevölkerung trennte, sie wollten lieber in ihren vier Wänden hungern, als vor aller Augen in die Volksküche gehen: ›Das würde auch mein Mann nicht gerne sehen!‹ war ausgesprochen oder unausgesprochen oft der letzte Grund ihres Widerstandes; ›der Mann ist fort, Arbeit haben wir auch nicht, nun sollen wir nicht mal mehr für uns selber kochen?‹ war die Klage, die uns immer wieder entgegen klang.«340 Das Widerstreben der Mittelstandsfrauen (und -männer) richtete sich in erster Linie gegen jene Speiseeinrichtungen, die allen Berlinern gleichermaßen zur Verfügung standen. Das Blatt Der Morgen, das in Österreich über den Erfolg der Berliner Mittelstandsküchen des Herrmann Abraham berichtete, lieferte weitere Anhaltspunkte für den raschen Rückgang der Besucherfrequenz in den Bürgerspeisehallen des Roten Kreuzes: »[…J]eder, der sich dort an den Tisch setzte, hatte den Eindruck ein Kostgänger der öffentlichen Wohltätigkeit zu sein. Das bedrückte ihn so, daß er es vorzog zu hungern als sich dieser Beschämung noch einmal auszusetzen. Auch entstanden, wo so viele Menschen der verschiedensten Stände zusammentrafen, allerlei Unstimmigkeiten; sie zu vermeiden, mußte man Vorschriften erlassen, die man an die Wand nagelte, wo sie allen sichtbar wurden.«341
338 Daniel, Arbeiterfrauen, S. 204. 339 Vgl. Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 24. Vgl. auch Davis, Konsumgesellschaft, S. 244f. 340 Harnack, Agnes von: Der Krieg und die Frauen, Berlin 1915, S. 8f. Vgl. auch Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 47. 341 »Die billige Küche des Berliners«, in: Der Morgen, 24. Januar 1916.
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Dem Morgen zufolge fand dies weder Anklang bei der Berliner Arbeiterschaft, die sich in ihren Freiheiten nicht einschränken lassen wollte, noch beim Mittelstand, der sich seine Würde nicht nehmen lassen wollte. Letztendlich frequentierten all jene die öffentlichen Kriegsküchen, die keine andere Wahl hatten. Wie der Werdegang der Abrahamschen Mittelstandsküchen zeigt, standen den »besseren« Kreisen Alternativen zur Verfügung, die von den kleinbürgerlichen Berlinern auch in Anspruch genommen wurden. Wer es sich leisten konnte, der speiste in »feierliche[r] Stille und Gemessenheit eines Hotelspeisesaales«342 wie in der Mittelstandsküche am Prager Platz. Doch nicht nur der Kindervolksküchenverein bot dem Berliner Mittelstand ein gehobenes Speiseambiente. Unter anderen betrieb die Philanthropin und Vorsitzende des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft Hedwig Heyl (1850–1934) eine gutbürgerliche Kriegsküche in einem geräumigen Ecklokal am Lützowplatz, in der einem Speisepublikum von rund 700 Personen an »weißgedeckten, blumengeschmückten Tischen wie im eigenen Hause«343 möglichst alle Wünsche erfüllt werden sollten.
Abbildung 15: Das Verhältnis der wöchentlich gemeldeten Speisemarken und Lebensmittelscheine inklusive Kartoffel- und Gemüsemarken (Nov. 1914 bis Dez. 1918)
Quelle: Die einzelnen Angaben wurden nach den wöchentlich vom NFD erstellten Bedarfslisten an den Berliner Magistrat zusammengetragen. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931–1936.
342 »Berliner Kriegsküchen«, in: Pester Lloyd, 21. Mai 1915. 343 Ebd. Vgl. auch Frobenius, Else: »Kriegsarbeit des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft 1914–1919«, in: Hopffgarten, Elise von (Hg.), Hedwig Heyl. Ein Gedenkblatt zu ihrem 70. Geburtstage von ihren Mitarbeitern und Freunden, Berlin 1920, S. 120–124, hier S. 121.
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Anmerkungen zu Abbildung 15 Die Angaben entsprechen jeweils einer ausgewählten Woche des jeweiligen Monats. Die zeitlichen Abstände zwischen den gewählten Wochen umfassen von November 1914 bis einschließlich September 1917 drei bis vier Wochen und ab Oktober 1917 ein bis vier Wochen. Die Angaben zu den Speisemarken umfassen alle ab November 1914 bis einschließlich August 1916 gemeldeten Speisemarken sowie die ab September 1916 hinzugetretenen Volksspeisemarken. Die Angaben zu den Lebensmittelscheinen beinhalten auch die Gemüsemarken (ab Dezember 1914 bis einschließlich November 1916) und die Kartoffelmarken (ab Januar 1915 bis August 1916). Bis einschließlich November 1916 wurden Lebensmittelscheine für 50 Pfennig gemeldet. Ab Dezember 1916 traten bis April 1917 25-Pfennig-Scheine hinzu. Ab April wurden 50-Pfennig- und 1-Mark-Scheine verabreicht. Für die Angaben im Diagramm wurden alle gemeldeten Scheine addiert.
Bis zum Beginn der zweiten Kriegshälfte konnten es sich die Besucher der verschiedenen Notstandsküchen oftmals noch aussuchen, ob sie die städtische Speisung in Anspruch nehmen wollten oder das Mittagessen in der eigenen Küche zubereiteten. Während die Bedürftigen Berlins in den Hilfskommissionen die entsprechenden Marken wählten, hatten alle anderen, die sich der städtischen Bedürftigkeitsprüfung nicht unterziehen wollten und über entsprechende Mittel verfügten, die freie Wahl zwischen dem Gang ins Lebensmittelgeschäft oder dem Besuch der öffentlichen Speiseanstalt. Am untersten Ende der Gesellschaft gab es aber noch eine weitere Gruppe von Berlinern, die weder zum Empfängerkreis der Notstandsfürsorge noch zum Kreis derer, die ihren Lebensunterhalt gerade noch selbst bestreiten konnten, gehörten. Für die Mehrheit der Empfänger der städtischen Armenfürsorge galten andere Regeln. Die für sie einzig greifbare Nahrungsquelle war das eintönige Suppengericht der Armenspeisung.
2.1.4 Keine kriegsbedingte Not: Die Berliner Armenspeisung im Krieg Über das Berliner Notspeisesystem hinaus gab es mit der im Verlauf des 19. Jahrhunderts etablierten städtischen Armen-Speisungs-Anstalt während der ersten Kriegshälfte eine weitere Institution, die sich der Versorgung bedürftiger Berliner im Krieg annahm. Sie war wesentlicher Bestandteil der Berliner Armenfürsorge, die nach dem Kriegsausbruch versuchte, ihre herkömmlichen Fürsorgepraktiken aufrechtzuerhalten. Nach dem August 1914 zeigte sich jedoch schnell, dass die Trennung der konventionellen Armenfürsorge von der neu entstandenen Kriegsfürsorge in der Praxis nicht leicht zu handhaben war. Es sei Landwehr zufolge immer schwieriger geworden »irgendeinen Notstand noch als nicht kriegsbedingt und damit der Armenpflege zugehörig zu definieren«344 . Im Verlauf der ersten Kriegshälfte reduzierte sich die Armutsklientel in Berlin um dreißig Prozent und damit auch das Aufgabenspektrum der Armenpflege. »In dem Maße,
344 Landwehr, Funktionswandel der Fürsorge, S. 89.
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wie sich gesonderte Fürsorgezweige für die als Kriegsfolgen auftretenden sozialen Probleme herausbildeten,« so der Sozialhistoriker, »blieb der Armenpflege der Rest derjenigen, die durch das Netz der Kriegsfürsorge hindurchfielen.«345 Hinzu kamen all jene, die schon vor dem Krieg Armenhilfe in Anspruch nahmen und infolge des Krieges ihren sozialen Status nicht verändern konnten. Nach einem Bericht des Vorsitzenden der Berliner Armendirektion Karl Doflein (1874–1930) gliederte sich der Personenkreis, der von der Armenpflege mit dem Notwendigsten unterstützt wurde, in zwei Gruppen: »Die, die zu wenig produzieren […und] die, die zu viel konsumieren.«346 Alle diese Bedürftigen gehörten nicht zum Empfängerkreis der städtischen Notspeiseversorgung und waren wie bereits während der Vorkriegszeit auf die Küchen der Armen-Speisungs-Anstalt angewiesen. Im Vorfeld wurden sowohl die Einkommens- und Lebensverhältnisse der Nutznießer als auch die ihrer Familienmitglieder und Nachbarn von der Armenpflege geprüft, um den Missbrauch der Einrichtung zu verhindern.347 Das Essen, das vor Ort in den Küchen zu verzehren war, erhielten die Kostgänger gegen Coupons, die sie zuvor beim örtlichen Armenpfleger persönlich zu beantragen hatten. Die insgesamt sechzehn Küchenbetriebe verteilten sich auf die ärmeren Stadtviertel und öffneten zwischen zwölf und 13.30 Uhr.348 Ein Artikel der Zeit am Montag veranschaulichte die Szenerie: »Die Küchen liegen sämtlich in Höfen von Mietshäusern, und schon lange vor 12 Uhr mittags wird es vor den Türen jener Häuser lebendig. Ein Schutzmann verhindert jede ›Ansammlung‹. […] In einem kleinen Napf erhalten sie den heißen Brei […], den sie, in irgend einer Ecke des Hofes stehend, verzehren.«349 Während jedoch die Organisation der öffentlichen Notküchen für die Bedürftigen der Kriegs- und Arbeitslosenfürsorge fast zeitgleich mit dem Kriegsausbruch in Angriff genommen wurde, nahm die Inbetriebnahme der Armenküchen mehr Zeit in Anspruch.
345 Ebd. Die Kriegsfürsorgearbeit war im Verlauf des Krieges nicht die einzige Ursache für den Rückgang der Armenfürsorgebedürftigen. Die zunehmend einsetzende günstige Arbeitsmarktsituation vor allem für Frauen und beschränkt Erwerbsfähige trug ihren Teil dazu bei. Hierzu vgl. ebd. 346 Doflein, Karl: »Die öffentliche Armenpflege in ihren Beziehungen zur Kriegsfürsorge«, in: Berliner Fürsorge-Arbeit während des Krieges, hg. von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1916, S. 38–45, hier S. 38. Zur ersten Gruppe gehörten die Hilfsbedürftigen, die wegen körperlicher Beeinträchtigungen oder wegen ihres Alters nicht arbeiten konnten sowie alle, die nicht arbeiten wollten oder keine Arbeit fanden. Die zweite Gruppe bezog sich auf Familien, die durch einen schwerwiegenden Krankheitsfall verarmten; auf Familien, deren Oberhaupt die Bedürftigkeit durch Trink- oder Spielsucht und ähnliches herbeiführte; und auf Familien, deren hohe Kinderzahl nicht annähernd im Verhältnis zum Familieneinkommen stand. Vgl. ebd., S. 41. 347 Die Überprüfung wurde regelmäßig wiederholt. Vgl. hierzu Allen, Hungrige Metropole, S. 29. Siehe auch ders., Von der Volksküche, S. 9. 348 Zur Verteilung der Armenküchen auf die Stadtteile siehe Abb. I im Anhang. 349 »Bei den Kostgängern der Armenküchen«, in: Zeit am Montag vom 26. Januar 1914. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 21.
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Abbildung 16: Entwicklung der ausgegebenen Portionen in den Küchen der Berliner Armen-Speisungs-Anstalt (1908/1909-1919/1920)
Quelle: Zusammengestellt nach den Berichten über die Tätigkeit der Armen-Speisungs-Anstalt 1908/1909 sowie 1911/12 bis 1919/1920. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 21, 22 und 52.
Anmerkungen zu Abbildung 16 Die täglichen Ausgabezahlen 1914/15 lagen im Durchschnitt bei rund 5.700 und im Jahr 1915/16 bei etwa 7.500 Portionen. Am stärksten wurden die Armenküchen im Kriegsjahr 1916/17 mit durchschnittlich rund 9.100 Portionen täglich genutzt. Im letzten Kriegsjahr sank die tägliche Portionsanzahl auf rund 6.800 und halbierte sich im ersten Nachkriegsjahr auf 3.100 Portionen. Es ist davon auszugehen, dass die Armenküchen im Winter/ Frühjahr stärker genutzt wurden als während der anderen Jahreszeiten, sodass die hier genannten Zahlen zeitweise durchaus höher ausfielen.
Die Einrichtungen der Berliner Armen-Speisungs-Anstalt öffneten gewöhnlich nur in den Wintermonaten und der Vorstand des »Wohlfahrtsvereins«350 war weder organisatorisch noch finanziell auf eine vorzeitige Eröffnung der Küchen eingestellt. Die kommunalen Zuschüsse für die Armenspeisung gab es in der Regel erst in den Wintermonaten. In dieser Situation kam das Angebot des Vereins der Berliner Volksküchen von 1866, die Organisation des Küchenbetriebs der Armenspeisung zu übernehmen, gerade gelegen. In einer schriftlichen Anfrage bat der Verein um die Überlassung der Speiseanstalten
350 Die von der Armen-Speisungs-Anstalt betriebenen Küchen waren nach eigenen Angaben kein Eigentum der Stadt und gehörten dem gleichnamigen Verein. Die 23-köpfige Direktion des Vereins wurde dennoch von Mitgliedern des Magistrats übernommen. Hierzu vgl. Schriftliche Reaktion der Direktion der Armen-Speisungs-Anstalt auf den Artikel der Zeit am Montag vom 26. Januar 1914, ebd.
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»zwecks Errichtung von Notstandsküchen in denselben«351 . Der Vorstand der Armenspeisung beschloss einstimmig, den Berliner Volksküchen die Speiseanstalten ab dem 15. September 1914 bis zu Beginn der alljährlichen Indienstnahme, dem 1. Dezember, zur Verfügung zu stellen.352 Es war nicht die erste Zusammenarbeit der Armenspeisung mit dem Verein. Bereits während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 wurden die Armenküchen dem Berliner Volksküchenverein überlassen. Die Finanzierung des Küchenbetriebes hatte die Armen-Speisungs-Anstalt dennoch weitgehend selbst zu tragen. Die zur Mitfinanzierung der Armenküchen benötigten Spendengelder reichten jedoch nicht aus und die Anfragen beim Magistrat, die erforderlichen Mittel zu bewilligen, wurden abgelehnt. Wie aus einem Schreiben Albert Levys (1862–1922) im Namen der Zentrale für private Fürsorge hervorgeht, sollte das Geld jedoch keine Rolle spielen. »Wir sind eben im Kriegszustand,« so der Bürgerdeputierte der städtischen Armendirektion, »und da dürfen meines Erachtens formale Hindernisse nicht im Wege stehen, wenn es notwendige Dinge zu tun gilt.«353 Schließlich finanzierte die Armenspeisung den Küchenbetrieb aus dem Etat der Armen-Direktion.354 Mit der Übernahme der Küchen ab Dezember 1914 erhielt die Armen-Speisungs-Anstalt wieder ihre regulären Zuschüsse durch den Magistrat. Nach Ablauf der Winterperiode Ende März 1915 wurden die Armenküchen wieder geschlossen. Da davon auszugehen ist, dass die Bedürftigen auch über den Winter hinaus die Küchen in Anspruch genommen hätten, hing dies vermutlich mit der erschwerten Finanzierung zusammen.355 Demnach standen den Bedürftigen der Armenfürsorge bis zu Beginn der nächsten Winterperiode keine eigens für sie eingerichteten Speiseanstalten zur Verfügung. Erst ab Dezember 1915 waren die Armenküchen das ganze Jahr über geöffnet.356 Schreiben des Vereins Berliner Volksküchen von 1866 an den Vorsitzenden der Armen-Speisungs-Anstalt Stadtrat Mielenz (vermutlich Gustav Mielenz, 1847–1927) vom 13. August 1914. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 22. 352 Vgl. Protokoll der Direktionssitzung der Armen-Speisungs-Anstalt vom 19. August 1914, ebd. 353 Schreiben Albert Levys an die Direktion der Armen-Speisungs-Anstalt vom 19. August 1914, ebd. 354 Als der Etat in Höhe von 55.000 Mark Anfang November ausgeschöpft war, erhielt die Armen-Speisungs-Anstalt einen weiteren kommunalen Zuschuss von 60.000 Mark. Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 3. Dezember 1914«, Nr. 34, in: Stenographische Berichte 41/1914, S. 329–338, hier S. 338. Ferner »Die Armenküchen«, in: Vorwärts, 20. November 1914. 355 In den Quellenbeständen konnten keine eindeutigen Hinweise gefunden werden, welche die Schließung der Küchen trotz des Kriegszustandes begründeten. Dass die Küchen geschlossen wurden, ergibt sich aus dem Bericht über die Tätigkeit der Armen-Speisungs-Anstalt im Winter 1914/15. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 22. 356 Auch hier wurde zunächst nur für die Winterperiode geplant. Hierzu vgl. Schreiben des Kassenwartes der Armen-Speisungs-Anstalt Herr Thüm (nähere Informationen zur Person sind nicht bekannt) an die Armenküchen vom 24. November 1915. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 47. Über die vorläufige Verlängerung des Küchenbetriebs wurde die Stadtverordnetenversammlung am 27. April 1916 in Kenntnis gesetzt. Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 27. April 1916«, Nr. 11, in: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, Ausgabe 43 (1916), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1917, S. 119–123, hier S. 122f. Inwiefern und auf welche Weise die Stadt und die Armenkommissionen die Versorgung der Bedürftigen in der Zeit vom April bis Dezember 1915 organisierten und ob die Unterstützten der Armenfürsorge mög351
III. Metropolen im Krieg
Tabelle 10: Jährlich ausgegebene Portionen in den Küchen der Berliner Armen-Speisungs-Anstalt (1914–1920) Küche
Stadtteil
1914/15
1915/16
1916/17
1917/18
1918/19
I
Nordosten
55.625
195.703
180.603
138.851
61.313
II
Zentrum
34.192
143.483
188.282
150.700
82.957
III
Norden
68.469
249.348
282.334
230.051
95.533
IV
Norden
38.179
150.902
172.809
--
--
V
Osten
72.606
296.692
302.834
219.714
96.618
VI
Norden
43.791
197.609
236.836
226.383
--
VII
Süden
39.860
171.311
230.257
170.874
69.920
VIII
Südwesten
30.881
118.338
158.899
141.555
97.877
IX
Norden
27.302
108.575
154.828
142.202
92.150
X
Norden
21.459
134.475
154.131
125.135
59.353
XI
Nordwesten
44.833
147.734
195.274
142.406
84.663
XII
Südosten
67.734
281.243
374.948
249.691
98.697
XIII
Norden
26.160
100.570
144.735
136.250
133.340
XIV
Osten
56.696
206.262
226.629
159.462
59.846
XV
Norden
36.905
134.508
200.302
159.660
72.221
XVI
Nordwesten
50.256
159.185
197.893
137.468
63.072
714.948
2.795.938
3.401.594
2.530.402
1.168.346
Gesamt
Quelle: Zusammengestellt und errechnet nach den Berichten über die Tätigkeit der Armen-SpeisungsAnstalt 1914/15 bis 1918/1919. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 22.
Mithilfe der jährlichen Berichte über die Tätigkeit der Armen-Speisungs-Anstalt ist es möglich Erkenntnisse über die Inanspruchnahme der Armenküchen zu gewinnen.357 Anders als bei den städtischen Notküchen liegen für die Armen-Speisungs-Anstalt die Gesamtzahlen der ausgegebenen Portionen für jede Kochperiode und ab Dezember 1915 für jedes Kriegsjahr vor. Die Tätigkeitsberichte liefern jedoch keine Aufschlüsselungen der Portionsausgaben nach Monaten. Demzufolge können keine Rückschlüsse auf eingetretene Krisenzeiten, die eine verstärkte Inanspruchnahme der Armenküchen herbeiführten, gezogen werden. Um wenigstens feststellen zu können, ob es überhaupt eine Steigerung der Anzahl verausgabter Portionen während des Krieges gab, reichen bereits die jährlichen Gesamtausgabezahlen (Abb. 16, Abb. 17, Tab. 10). Diese
357
licherweise doch – zumindest zeitweise – von den anderen städtischen Speiseanstalten Gebrauch machen konnten, war nicht zu ermitteln. Hierzu vgl. Berichte über die Tätigkeit der Armen-Speisungs-Anstalt 1910/1911 sowie 1913/1914 bis 1915/1916. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 21 und 22.
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192
Kriegsküchen in Wien und Berlin
verdeutlichen, dass die Inanspruchnahme der Armenküchen im Winter des ersten Kriegsjahres nicht so groß war wie im Winter des letzten Vorkriegsjahres. Wurden 1913/14 innerhalb von vier Monaten noch rund 819.000 Portionen ausgegeben, so waren es im darauffolgenden Jahr rund 705.000 Portionen. Das war ein Besucherrückgang von etwa vierzehn Prozent. Erklären lässt sich dies durch die Kriegsfürsorge und die allmählich abnehmende Arbeitslosigkeit. Von beidem profitierte auch ein Anteil der »Vorkriegsarmen«.
Abbildung 17: Durchschnittlich im Monat ausgegebene Portionen in den einzelnen Küchen der Berliner Armen-Speisungs-Anstalt (1914–1919)
Quelle: Zusammengestellt und errechnet nach den Berichten über die Tätigkeit der Armen-SpeisungsAnstalt 1914/15 bis 1918/1919. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 22.
Der Vorstand der Armen-Speisungs-Anstalt vermutete bereits bei der Erstellung des Kostenplans für die Winterperiode im Oktober 1914, dass die Anzahl der Suppenportionen unter dem Vorjahresniveau liegen würde.358 Es ist möglich, dass der Besucherrückgang dazu beitrug, dass die Öffnung der Küchen über den Winter hinaus nicht anvisiert wurde. Im Herbst 1915 rechneten die Verantwortlichen jedoch mit einem »lebhaften Andrang«, der schließlich so groß war, dass die Küchen gar nicht mehr geschlossen wurden.359 Ab Dezember 1915 bis einschließlich November 1916 wurden pro Monat rund 233.000 Portionen ausgegeben. Dies waren gegenüber dem Winter im ersten Kriegsjahr täglich rund 1.700 Portionen (23 Prozent) mehr. Auch gegenüber dem höchsten Vorkriegswert (rund 213.000 Portionen monatlich im Jahr 1908/09) erhöhte sich die Zahl der ausgegebenen Portionen um acht Prozent. Mit der zugleich ganzjährigen Öffnung der Küchen fällt die Mehrausgabe von acht Prozent nochmal stärker ins Gewicht. Die Inanspruchnahme der Armenküchen hatte demzufolge ab dem zweiten Kriegsjahr stark zugenommen. Während der ersten beiden Kriegsjahre, d.h. von Dezember 1914 bis März 358 Vgl. Schreiben des Vorsitzenden Mielenz an den Armendirektionsvorsitzenden Doflein vom 12. Oktober 1914. LAB, A Rep. 003–06, Nr. 22. 359 »Aus den Armenküchen«, in: Vorwärts, 26. Juni 1916.
III. Metropolen im Krieg
1915 und Dezember 1915 bis November 1916, wurden in den Armenküchen rund 3,5 Millionen Mittagessen ausgegeben. Davon wurde die Mehrheit, rund 38 Prozent, in den Armenspeisungen des Berliner Nordens verabreicht.360
2.1.5 Forderungen von oben und unten: Der Druck auf die Stadtverwaltung wächst Im Verlauf der ersten beiden Kriegsjahre stellten die städtischen Armenküchen und vor allem das von der Berliner Philanthropie getragene Notspeisesystem unter Beweis, dass die tägliche Versorgung von mehreren Tausend Hauptstädtern mit einem warmen Mittagessen möglich war. Doch mit dem anhaltenden Kriegszustand stiegen auch die Anforderungen an das Notküchensystem. War es zunächst vor allem die Teuerung der Lebensmittel, die der breiten (bedürftigen) Masse der Bevölkerung Schwierigkeiten bei der ausreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln bereitete, kam mit der verstärkten Zunahme der Frauenerwerbsarbeit in den Fabriken noch ein Problemfaktor hinzu, der es einem weiteren Teil der Bevölkerung erschwerte, sich die notwendigen Lebensmittel zu beschaffen. Die Ursachen waren hier – wie unter 1.2.2. im iii. Kapitel dargelegt – weniger finanzieller als vielmehr organisatorischer Natur. Inzwischen war eine Vielzahl von Frauen in der Kriegsproduktion tätig. Ihnen fehlte die Zeit, sich in die unzähligen und endlosen Polonaisen vor den Lebensmittelgeschäften der Stadt einzureihen. Die wachsende Not und Unzufriedenheit in der Bevölkerung veranlassten die Verantwortlichen rund um den Berliner Oberbürgermeister nach geeigneten Mitteln und Methoden zur Streckung und Einsparung von Lebensmitteln zu suchen. Zahlreichen Berlinern konnte durch eine breite öffentliche Gemeinschaftsversorgung geholfen werden. Doch das bestehende Notspeisesystem war nicht nur in Hinblick auf seine Kapazitäten unzureichend. Auch die forcierte Lebensmitteleinsparung war mit den dezentral organisierten Notspeisungen nicht zu erreichen. Die Küchen der Vereine erhielten zwar Anweisungen, wie es sich sparsamer kochen ließ, doch war damit nicht die Sicherheit gegeben, dass sie diesen auch folgten. Hiermit verknüpft war auch ein weiteres Manko des Berliner Küchensystems, das in der unüberschaubaren Vielzahl unterschiedlicher Speiseeinrichtungen zutage trat. Der Vorwärts kritisierte bereits zu Kriegsbeginn die »große Zerrissenheit« auf dem Gebiet der Massenverpflegung, »die darauf zurückzuführen ist, daß verschiedene auf der freien Liebestätigkeit aufgebaute Vereine auf eigene Faust vorgehen«361 . Eine umfassende behördliche Kontrolle des Lebensmittelverbrauchs der zahlreichen verschiedenen Speisebetriebe war kaum möglich. Doch nicht nur die Organisation des Küchensystems entpuppte sich als Problem. Durch ihre Ausrichtung auf den Teil der Bevölkerung, der durch den Krieg in Not geraten war und die mit den Notküchen verbundene Bedürftigkeitsprüfung der Teilnehmer wurde der Großteil der Notspeisungen von den Berlinern als neue Armenspeisungen wahrgenommen, mit denen sie ebenso wenig in Verbindung gebracht werden wollten wie mit den Einrichtungen der Armen-SpeisungsAnstalt. Diese Wahrnehmung bestätigten auch die öffentlichen Klagen über das Essen 360 Hier befanden sich mit insgesamt sieben Küchen fast die Hälfte aller Berliner Armenküchen. 361 »Oeffentliche Speisungen«, in: Vorwärts, 4. Oktober 1914. Vgl. auch »Hilfe in der Not«, in: Vorwärts, 16. August 1914.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
vieler Notküchen durch diejenigen, die auf diese Küchen angewiesen waren. Die Beschaffenheit der verabreichten Speisen war im Grunde genommen die einzige Form der Werbung, die den Notspeisungen zur Verfügung stand. Für den Ruf der öffentlichen Kriegsküchen, die sich von den städtischen Armenküchen abheben wollten, war jede Form von öffentlicher Kritik alles andere als unterstützend. Wenn im Frühjahr 1916 von öffentlicher Gemeinschaftsverpflegung die Rede war, dominierte in den Köpfen der Berliner vor allem das Bild von der »Armenküche«.362 Die organisatorischen Nachteile des dezentralen Küchensystems sowie die weitverbreitete Ablehnung der philanthropischen Küchen im Blick hielt der Vorwärts bei aller Zweckmäßigkeit der bestehenden Notspeiseeinrichtungen »ein einheitliches Vorgehen auf diesem Gebiete viel wirksamer«. Dies konnte aus Sicht der Berliner Sozialdemokratie aber nur gelingen, wenn die Stadt die öffentliche Massenverpflegung selbst in die Hand nimmt.363 Im Frühjahr 1916 kam der bisweilen sehr zurückhaltende Magistrat schließlich nicht mehr umhin, sich seiner Verantwortung zu stellen. Die zunehmenden Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung sowie das Auftreten erster gesundheitlicher Probleme in der Bevölkerung infolge der schlechten Ernährung führten inzwischen auch auf Reichsebene allmählich zu einem Umdenken im Bereich der Massenspeisung. »Von der Verlagerung zumindest eines Teils des Nahrungsmittelkonsums in Massenküchen«, hebt Ute Daniel hervor, »erhofften sich Militär- und Zivilbehörden eine sparsamere Verwendung und intensivere Verwertung insbesondere der Grundnahrungsmittel […].«364 Das im Mai 1916 errichtete KEA betrachtete die öffentliche Gemeinschaftsverpflegung im Hinblick auf die Not und die zunehmende weibliche Lohnarbeit fortan als tragende Säule der städtischen Lebensmittelversorgung und festen Bestandteil des Kriegsernährungssystems.365 In der deutschen Hauptstadt sah das Amt das ideale Labor für einen Großversuch kommunal betriebener Massenküchen. Die mit dem Massenspeisungsprojekt verbundene Euphorie der Reichsleitung teilten der Berliner Oberbürgermeister und seine Stadtverwaltung jedoch nicht. In seinen Erinnerungen hielt Wermuth im Jahr 1922 rückblickend fest: »Seit Herbst 1914 hatte die Kriegskommission sich vergebens den Kopf um die Einrichtung von Volksküchen zerbrochen. 1 21 Jahre später wurden die Massenspeisungen durch eine Welle der Volkstümlichkeit emporgehoben, bis man in ihnen das Allheilmittel erblickte. [… I]m Frühjahr 1916 […] erhielt ich zu meiner Überraschung ein Schreiben des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg, worin dieser mich um die Errichtung von Volksküchen als Vorbild für das Reich bat. Wir waren überzeugt, daß das Ding so nicht gehe […]. Jetzt glaubten wir, mit allem Ernste in den Versuch hineinsteigen zu müssen.«366
362 Vgl. Teuteberg, Food Provisioning, S. 67. 363 Vgl. u.a. »Speisegemeinschaften«, in: Vorwärts, 14. Mai 1916; und »Der ›Lebensmittel-Diktator‹ und die Massenspeisung«, in: Vorwärts, 18. Mai 1916. 364 Daniel, Arbeiterfrauen, S. 202. 365 Vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 234. 366 Wermuth, Beamtenleben, S. 380.
III. Metropolen im Krieg
Auch der preußische Innenminister Loebell richtete bereits am 14. April 1916 einen Erlass an die Regierungspräsidenten und den Oberpräsidenten in Potsdam, in dem er die Gemeinden aufforderte, verstärkt öffentliche Massenspeisungen zu organisieren.367 Bezugnehmend auf seinen Erlass vom 28. August 1914 betonte er die Zweckmäßigkeit der Massenverpflegung und lobte das bisherige Engagement der preußischen Gemeinden auf diesem Gebiet der Kriegswohlfahrtspflege. Fortan sollte die Massenspeisung nun überall dort, wo dies noch nicht der Fall war, nicht nur den Mittellosen, sondern allen Einwohnern der Gemeinden zur Verfügung stehen. Auch hinsichtlich der Umsetzung des Ausbaus öffentlicher Verpflegungsangebote äußerte Loebell konkrete Vorstellungen: »Es darf anerkannt werden, daß die Gemeinden meinen Anregungen in vollem Umfange gerecht geworden sind. Die Tatsache rechtfertigt die Erwartung, daß die Gemeinden auf dem eingeschlagenen Wege fortschreiten und ihre Maßnahmen ausdehnen werden, soweit das Bedürfnis mit Rücksicht auf die ständige Steigerung der Lebensmittelpreise dieses erfordert. […] Auf Grund der mir vorliegenden Mitteilungen möchte ich den Gemeinden insbesondere zu Versuchen mit der Einführung fahrbarer Küchen raten. Diese Küchen ermöglichen es, ein nahrhaftes und dabei durchaus billiges Mittagessen für die minderbemittelte Bevölkerung bis an ihre Wohnungen zu bringen. Sie verdienen meines Dafürhaltens den Vorzug vor den Speisehallen insofern, als bei ihrer Verwendung die an sich erwünschte Geschlossenheit des Familienlebens voll erhalten bleibt.«368 Trotz der vorherrschenden Reserviertheit gegenüber der Gemeinschaftsverpflegung traf der preußische Innenminister mit seinem Erlass und der Empfehlung für die Einführung von kommunalen Fahrküchen den Nerv vieler Hauptstädter. Denn unter bestimmten Voraussetzungen waren viele Berliner der Idee der öffentlichen Großküche nicht gänzlich abgeneigt. So verbanden viele Notleidende mit einer kommunal organisierten »Massenspeisung für alle« die Hoffnung, dass sie die von den Verbrauchern lang ersehnte strenge, behördliche Kontrolle der gerechten Nahrungsmittelverteilung in die Wege leitet.369 Im Vorwärts, der für die Berliner Arbeiterschaft und damit auch für einen beträchtlichen Teil der Hauptstadtbevölkerung sprach, kündigten die Berliner Sozialdemokraten an, dass bei schmackhaftem, nahrhaftem und preiswertem Essen Tausende von Frauen die Speisegemeinschaft »freudig begrüßen« würden.370 Anders als Wermuth und der Magistrat befürworteten die Sozialdemokraten den Gedanken der zentralisierten Massenspeisung. Bereits August Bebel (1840–1913) verwies in seiner Schrift »Die Frau und der Sozialismus« auf die ernährungswissenschaftliche Effizienz der Großküche und die mit ihr verbundene Entlastung der (Arbeiter-)Frau 367 Vgl. Erlass des preußischen Innenministers an die sämtlichen Herren Regierungspräsidenten und den Herrn Oberpräsidenten in Potsdam vom 14. April 1916. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164, Bl. 2–3, hier Bl. 2. 368 Ebd. Siehe hierzu auch »Einheitliche Kriegsverpflegung«, in: Vossische Zeitung, 22. April 1916. Sowie »Fahrbare Küchen und Massenverpflegung«, in: Vorwärts, 23. April 1916. »Massenverpflegung und fahrbare Küchen«, in: Frankfurter Zeitung, 25. April 1916. 369 Vgl. Davis, Home Fires, S. 138. 370 Vgl. »Speisegemeinschaften«, in: Vorwärts, 14. Mai 1916.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
im Privathaushalt. Der Krieg bot aus Sicht der Sozialdemokratie die Gelegenheit, mit einer auf alle Stadtbewohner ausgerichteten Massenverpflegung die allmähliche Auflösung der Privatküche voranzutreiben.371 Ein entscheidender Faktor für den Erfolg der öffentlichen Gemeinschaftsverpflegung, der untrennbar mit der Qualität der Speisen verbunden war, sei aus Sicht der Sozialisten die eindeutige Abgrenzung der Küchen von den bisherigen Wohltätigkeits- und Armenspeisungseinrichtungen: »Es darf nicht einmal der Schatten von ›Wohltätigkeit‹ aufkommen, die Konsumenten dürfen niemals den Eindruck erhalten, daß sie zu Almosenempfängern degradiert werden, wenn sie sich ihre Mahlzeit aus diesen Speiseanstalten holen, sondern sie müssen das Bewußtsein haben, daß ihnen ein Recht zusteht, in diesen Anstalten für ihr gutes Geld gute Nahrung zu verlangen.«372 Arbeiterinnen wollten sich neben den Frauen des Mittelstandes und höheren Kreisen der Gesellschaft speisen sehen. Die dafür einzurichtenden Verpflegungsanstalten ähnelten nach ihren Vorstellungen den militärischen Speisehallen und Loebells empfohlenen Feldküchen, die im Gegensatz zu den wohltätigen Suppenanstalten durch ihre Modernität und Qualität positiv wahrgenommen wurden. »Working-class consumers demanded«, so Davis, »the widespread dispersion of these state-run facilities around the city, which would communicate an anticipated clientele of all Berliners, not just poor Berliners.«373 Die Erwartungshaltung der Berliner Arbeiterschaft ergab sich vor allem aus den Vorstellungen und Ideen sozialdemokratischer Befürworter der zentralisierten und gleichfalls obligatorischen Massenspeisung: »Warum soll der, der das größere Portemonnaie hat, sich anders und besonders ernähren können, als die große Menge der Bevölkerung das kann. Wenn rationell gewirtschaftet werden soll, warum dann bestimmte Bevölkerungskreise von dieser rationellen Wirtschaft ausschließen und es ihnen überlassen, nach freiem Ermessen über die Rohprodukte zu verfügen? Es geht doch nicht an, daß der eine über größere Quanten Lebensmittel verfügen kann, bloß weil er mehr Geld hat. Erweist sich eine geregelte Verteilung der Lebensmittel für notwendig […], so muß eine Gleichmäßigkeit für alle eintreten.«374 Die Sozialisten waren überzeugt, dass die zwangsweise kommunale Gemeinschaftsverpflegung der ganzen Stadtbevölkerung nicht nur die Einsparung von Lebensmitteln ermögliche und die Inanspruchnahme der öffentlichen Küche steigere, sondern mit ihr auch eine soziale Gleichstellung der städtischen Verbraucher erreicht werden konnte. Erst wenn der reiche Mann mit Frau und Kind darauf angewiesen sei, seine Mahlzeiten in derselben öffentlichen Speiseeinrichtung einzunehmen wie weniger bemittelte Personen, würden die öffentlichen Küchen nicht mehr gemieden und der Zwang sie zu
371
Vgl. hierzu auch oben Kapitel iii, Anm. 15. Zur Effizienz der Großküche vgl. Bebel, August: Die Frau und der Sozialismus, Altenmünster 2012 (Zürich 1879), S. 1129ff. 372 »Der ›Lebensmittel-Diktator‹ und die Massenspeisung«, in: Vorwärts, 18. Mai 1916. 373 Davis, Home Fires, S. 140. 374 Zitat zu finden bei Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 44.
III. Metropolen im Krieg
benutzen, würde nicht als eine »gewaltsame Brandmarkung« der Mittellosen empfunden werden.375 Demzufolge appellierte der Vorwärts indirekt an die Berliner Stadtverwaltung: »Die entscheidende Frage ist, ob man sich diese Massenspeisung als allgemeingültig denkt, so daß sich alle ohne Ausnahme aus den kommunalen Küchen beköstigen, oder nur als Ergänzung der Einzelwirtschaft. Im letzten Falle bliebe es Flickwerk, das zu keinem Resultat führen kann. [… Mit der allgemeingültigen Massenspeisung] würde freilich für die einzelnen Haushalte die Möglichkeit fortfallen, Mahlzeiten im Hause zu bereiten. Daß ein solches System den Unwillen der Wohlhabenden, die auch in dieser Zeit der Not bisher sich nicht gerade viel abgehen ließen, hervorrufen würde, ist anzunehmen, aber nicht zu ändern und vielleicht wäre es gut, wenn mancher Amandus Großmaul und manche Trude Fettwanst, die für den Krieg schwärmen, am eigenen Bäuchlein spürten, daß Krieg ist.«376 Die Berliner Sozialdemokraten trugen die innerhalb der Arbeiterschaft verbreiteten Erwartungen nicht nur über die parteinahe Presse in die Hauptstadtverwaltung. Auch durch ihre 45 Stadtverordneten im Kommunalparlament machte die Berliner SPD die Verwaltung auf die mit der Gemeinschaftsverpflegung verbundenen Schwierigkeiten und Ansprüche innerhalb der Arbeiterschaft aufmerksam.377 Hierbei traten neben dem Stadtverordneten Hermann Weyl (1866–1925) vor allem der Kaufmann August Hintze (1857–1929) und der Arbeitersekretär Adolf Ritter (1871–1924) in Erscheinung. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Gewerkschaftskommission Alwin Körsten (1856–1924) vertraten beide auch die sozialdemokratischen Interessen und Ansichten zur Massenverpflegung in einem neugebildeten städtischen Ausschuss zur Planung des künftigen Vorgehens auf dem Gebiet der Massenspeisung.
2.2 Ein städtisches Großunternehmen: Die Berliner Volksspeisung 1916–1918 Infolge des Erlasses des preußischen Innenministeriums und des nachdrücklichen Betreibens der Reichsregierung, aus deren Sicht Berlin mit gutem Beispiel voranzugehen hatte, sahen sich Wermuth und seine Stadtverwaltung gezwungen, den Anweisungen von oben Folge zu leisten und eine Reorganisation der Gemeinschaftsverpflegung in Berlin in die Wege zu leiten. Trotz der allgemein vorherrschenden Skepsis im Berliner Magistrat gegenüber einem städtischen Massenversorgungsunternehmen versammelte der Oberbürgermeister am 29. Mai 1916 eine Reihe von Magistratsmitgliedern, Stadtverordneten und Vertretern der Bürgerschaft im Rathaus, um über die künftige Organisation einer kommunalen Massenspeisung zu beraten.378 375 Vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 234. 376 »Der ›Lebensmittel-Diktator‹ und die Massenspeisung«, in: Vorwärts, 18. Mai 1916. 377 Vgl. »Fraktionen der Stadtverordneten-Versammlung«, in: Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin 1916, Berlin 1916, S. 56. 378 Vgl. u.a. »Die Berliner Massenspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 29. Mai 1916. Sowie »Die beabsichtigten Massenspeisungen in Berlin«, in: Vorwärts, 30. Mai 1916. Vgl. auch Käber, Berlin, S. 151. Zu den Teilnehmenden gehörten neben Vertreterinnen des NFD auch einige Betreiber der verschiedenen Berliner Notspeisungen, darunter auch die Hauswirtschaftsexpertin Heyl. Der überwie-
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Aus diesem Expertengremium konstituierte sich im Rahmen der Sitzung ein dauernder »Wirtschaftsausschuss für Volksspeisung« bzw. »Beirat für Volksspeisung«, der in den darauffolgenden Tagen noch mehrmals zusammentrat. Der vom Stadtrat und Armendirektionsvorsitzenden Doflein geleitete Ausschuss setzte sich zum Ziel, ein Massenspeisungssystem einzurichten, das alle Schichten der Berliner Bevölkerung ansprach. »Ohne alle Rücksicht auf soziale Klassen und die Unterschiede des Einkommens«, so der Berliner Archivar Käber rückblickend, »wollte [… die Stadt] jedem ein Mittagessen bieten, das für bescheidene Ansprüche, wie sie der Krieg verlangte, ausreichte und schmackhaft, kräftig und billig war.«379 Die Empfehlung des preußischen Innenministeriums, wonach die Fahrküche als Prototyp der neuen öffentlichen Küchen dienen sollte, wurde von Wermuth und der Mehrheit der Experten abgelehnt. Zwar stellte der Verein Berliner Volksküchen von 1866 seit Ende März 1916 in der Vorortgemeinde Lichtenberg und seit wenigen Tagen auch in der Hauptstadt unter Beweis, dass die fahrbaren Gulaschkanonen von der Bevölkerung gerne in Anspruch genommen wurden, doch aus Sicht der Berliner Administration war die mobile Küche in zweifacher Hinsicht ungeeignet: Zum einen wurde sie aufgrund der mit ihr verbundenen Warteschlangen in den Straßen Berlins als »Unruheherd« betrachtet und zum anderen wurde ihre Leistungsfähigkeit als zu gering eingeschätzt (Abb. 18).380 Gegenüber dem Publizisten und Chefredakteur des Berliner Tageblatts Theodor Wolff (1868–1943) machte das Berliner Stadtoberhaupt deutlich, dass eine Massenversorgung mit Gulaschkanonen »sinnlos« sei. Wolff zufolge werde die Stadtverwaltung »entweder mit Speiseanstalten für mindestens 500 000 Personen anfangen, oder garnicht [sic!]«381 . Mit einem Ausbau der Massenverpflegung im großen Stil beabsichtigte Wermuth jedoch nicht die von Teilen der Sozialdemokratie gewünschte Ausschaltung des Einzelhaushaltes. Der Oberbürgermeister, der das Massenspeisungsunternehmen
gende Teil der hier im Kapitel 2.2. (einschließlich der Unterkapitel) präsentierten Ausführungen zur Entwicklung der Berliner Volksspeisung wurden von der Autorin in einem Aufsatz veröffentlicht. Vgl. Sprenger-Seyffarth, Jenny: »›Es ist doch geradezu ein Skandal‹ – Die Berliner Volksspeisung im Ersten Weltkrieg zwischen Qualität und sozialem Stigma«, in: Steinberg, Swen und Frank Jacob (Hg.), Semmeln aus Sägemehl. Lebensmittelskandale und Wissensordnungen, Marburg 2020, S. 111–145. 379 Käber, Berlin, S. 146. 380 Vgl. hierzu Wermuths Ausführungen in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916«, Nr. 16, in: Stenographische Berichte 43/1916, S. 194–200, hier S. 194. Ausführlicher Wermuth, Beamtenleben, S. 380. Vgl. auch Wolff, Theodor: Tagebücher 1914–1919. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen des Chefredakteurs am »Berliner Tageblatt« und Mitbegründers der »Deutschen Demokratischen Partei«, Vol. 1, hg. von Bernd Sösemann, Boppard am Rhein 1984, S. 377. Davis, Home Fires, S. 141. Zu den fahrbaren Küchen in Lichtenberg vgl. u.a. »Gulaschkanonen«, in: Berliner Tageblatt, 29. März 1916. Sowie »Die Volksküche auf der Straße«, in: Die Neue Zeitung, 26. April 1916. Seit Ende Mai 1916 »dampften« auch in der Berliner Holzmarktstraße nahe des Bahnhofs Jannowitzbrücke insgesamt zehn Gulaschkanonen des Berliner Volksküchenvereins. Vgl. »Gulaschkanonen für Berlin«, in: Tägliche Rundschau, 26. Mai 1916. »Die Gulaschkanone dampft«, in: Vossische Zeitung, 10. Juni 1916. 381 Wolff, Tagebücher, S. 377.
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an sich für ein »fürchterliches Experiment«382 hielt, betonte mehrfach, dass es nicht im Interesse der Stadtverwaltung liege, »alle Familien dem häuslichen Herd zu entfremden«383 . Die Adressaten dieser Mitteilung waren vor allem die Frauen des Berliner Mittelstandes, die den Gedanken der öffentlichen Großküchenspeisung mehrheitlich abwiesen.
Abbildung 18: Das Mittagessen aus der Berliner Gulaschkanone in Lichtenberg (1916)
Abbildung aus Das interessante Blatt 15, 13. April 1916, S. 13. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, ANNO Austrian Newspapers Online.
Der von Wermuth und der Stadtverwaltung anvisierte »Großversuch der Massenspeisung« sollte in der Gestalt eines Zentralküchensystems auf den Weg gebracht werden, das die Reichshauptstadt für die schwierigsten Zeiten im bevorstehenden Winter wappnete und im Notfall eine Erleichterung für alle Berliner bot, denen das Kochen im eigenen Haushalt infolge der Versorgungsengpässe erschwert wurde.384 Der Beirat für 382 Ebd. 383 Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 194. Siehe auch »Städtische Massenspeisungen«, in: Berliner Tageblatt, 7. Juli 1916. 384 Vgl. die Ausführungen in der Vorlage des Magistrats betreffend die Einrichtung einer städtischen Volksspeisung, zitiert in »Die Magistratsvorlage über die Massenspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 3. Juli 1916. Vgl. auch »Die erste Küche für Massenspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 8. Juli 1916. Vgl. hierzu auch die Ausführungen Dofleins im Rahmen einer Tagung zur Organisation von Massenspeisungen in: Praktische Durchführung von Massenspeisungen. Außerordentliche Tagung der Zentralstelle für Volkswohlfahrt in Gemeinschaft mit dem Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen im Reichstagssitzungssaal am 3. und 4. Juli 1916, hg. von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, Berlin 1916, S. 32–34, hier S. 34.
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Volksspeisung legte das Hauptaugenmerk auf die Vereinigung der Massenspeisung mit dem »Prinzip der Familienspeisung«. Denn die »Speise sollte innerhalb der eigenen vier Wände verzehrt werden, einerseits, um das häusliche Familienleben zu schützen und andererseits, um Massenaufläufe und mögliche Unruhen zu vermeiden.«385 Aufgrund des verbreitet negativen Rufs der Küchen des bisherigen dezentralen Notspeisesystems waren sich die Verantwortlichen im Volkspeisungsbeirat von vornherein einig, dass das neu einzurichtende Massenspeisungssystem nicht den Charakter der Wohltätigkeit tragen sollte, weshalb die Abgabe der städtischen Speisen zum Selbstkostenpreis beschlossen und eine engere Zusammenarbeit mit der auf dem Gebiet erfahrenen Berliner Philanthropie nicht weiter in Erwägung gezogen wurde.386 Hinsichtlich der Ausgestaltung des Großversorgungsprojekts, das den Namen »Volksspeisung«387 erhielt und innerhalb weniger Wochen aus der Taufe gehoben werden sollte, berief der städtische Beirat eine Kommission, die mit dem KEA Verhandlungen zur Sicherstellung der erforderlichen Lebensmittelvorräte aufzunehmen und darüber hinaus eine Regelung zur Einbindung der öffentlichen Speiseversorgung in das bestehende Bezugskartensystem festzulegen hatte. Des Weiteren bildete der Volksspeisungsbeirat einen Sonderausschuss, der in Zusammenarbeit mit der städtischen Bauverwaltung für die Ermittlung von geeigneten Räumlichkeiten und deren Versorgung mit Kocheinrichtungen zuständig war.388 In verheißungsvollen Tönen kündigte die Berliner Presse die administrativen Bemühungen, die Ernährung der Bevölkerung durch Großküchen sicherzustellen, an: »In nicht sehr vielen Tagen wird also in städtischen Töpfen städtisches Essen über städtischem Feuer gekocht werden. Die Maßnahme bedeutet eine Revolution des Ernährungswesens überhaupt […]. Mit der Zentralernährung einer Millionenstadt […] veranlaßt der Krieg, der Schöpfer neuer Größenverhältnisse, ein organisatorisches Riesenwerk, dem die Vergangenheit nichts Aehnliches an die Seite zu stellen hat.«389 Gerade einmal sechs Wochen vergingen zwischen der Begründung des Volksspeisungsbeirats und der Eröffnung der ersten Berliner Zentralküche. Nach Ansicht von Allen 385 Allen, Hungrige Metropole, S. 71. Doflein zufolge bot der Verzehr des städtischen Mittagessens im eigenen Haushalt den Familien auch die Gelegenheit, die Speisen nach ihrem persönlichen Geschmack mit zusätzlichen Zutaten »etwas wohlschmeckender und auf die Dauer erträglicher [zu] gestalten«. Hierzu siehe Praktische Durchführung von Massenspeisungen, S. 33. 386 Vgl. »Die Massenspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 24. Juni 1916. Das Unterstützungsangebot von Seiten des Kindervolksküchenvereins wurde z.B. ausgeschlagen. Vgl. hierzu »Speisegemeinschaften«, in: Vorwärts, 14. Mai 1916. Sowie Allen, Hungrige Metropole, S. 77. 387 Mit dem Begriff der »Massenspeisung« verband die Mehrheit der Bevölkerung die Speisung Bedürftiger. Davis zufolge erhofften sich die Verantwortlichen von dem Begriff »Volksspeisung«, dass sich alle Kreise der Bevölkerung würden angesprochen fühlen. Sie kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die begriffliche Änderung keinen erhöhten Zuspruch für die Küchenspeisung herbeiführte. Anstatt einen größeren Zusammenhalt unter den Berlinern herzustellen, sei genau das Gegenteil erreicht worden. Vgl. dies., Home Fires, S. 141f. 388 Zu beiden Sonderausschüssen vgl. u.a. »Die beabsichtigten Massenspeisungen in Berlin«, in: Vorwärts, 30. Mai 1916. »Ein Wirtschaftsausschuß für Volksspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 30. Mai 1916. »Die städtischen Massenküchen«, in: Vossische Zeitung, 30. Mai 1916. Sowie »Zur Massenspeisung«, in: Vorwärts, 6. Juni 1916. 389 »Die städtischen Massenküchen«, in: Vossische Zeitung, 30. Mai 1916.
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sei damit das reichsweit größte Experiment öffentlicher Verpflegung in Gang gesetzt worden, welches fortan der Schlüssel kommunaler Verpflegungsbemühungen für die gesamte Berliner Bevölkerung war und nach den Plänen der Reichsführung nicht auf die Hauptstadt begrenzt bleiben sollte.390
2.2.1 »Ein Triumph städtischer Organisation«: Die Ausgestaltung des Zentralküchensystems Nach den Plänen des Beirats für Volksspeisung bestand das neueinzurichtende Massenspeisungssystem aus einer Reihe von Zentralküchen, die im gesamten Stadtgebiet kranzartig von einer größeren Zahl von Essensausgabestellen umgeben waren. Für die Umsetzung griff die Stadt auf ihre zahlreichen Markthallen zurück, die sich »mit [ihren] massiven Fußböden, Kanalisation, Be- und Entwässerung, Vorratskellern und mit Antriebskraft für die Maschinen«391 hervorragend für die Errichtung der Riesenküchen eigneten. Die dort in großen Kesseln zubereiteten Speisen sollten anschließend vor Ort ausgegeben sowie zu den umliegenden Ausgabestellen transportiert werden. Die erste von insgesamt zehn Kriegsküchen, für deren Um- und Aufbau der Architekt und Stadtbaurat Ludwig Hoffmann (1852–1932) beauftragt wurde, war innerhalb von siebzehn Tagen fertiggestellt und eröffnete am 10. Juli 1916 in der Markthalle XIII an der Wörtherstraße nahe des heutigen Kollwitzplatzes in Prenzlauer Berg. Angeschlossen an die sogenannte »Zentralküche I« waren zunächst zehn Essensausgabestellen, für deren Errichtung vorwiegend städtische Schulturnhallen in Anspruch genommen wurden. Aus Sicht des Volksspeisungsbeirats waren die Gemeindeturnhallen für einen stundenweisen Betrieb der schnell auf- und abbaubaren Speiseausgabeeinrichtungen besonders zweckmäßig.392 »Wir haben diese Räumlichkeiten in Anspruch genommen,« so der Vorsitzende der neugegründeten Magistratsabteilung für Volksspeisung Doflein, »weil wir in den städtischen Räumen selbst Herr sind, und weil sie uns große, luftige Räume zur Verfügung stellen, in denen auch größere Massen leicht und schnell abgefertigt werden können, und weil sie nicht direkt an der Straße liegen, so daß, selbst wenn ein größerer Andrang an den Küchen stattfindet, vermieden wird, daß Ansammlungen auf den Straßen entstehen.«393 Mit den Essensausgabestellen glaubte die Stadtverwaltung, alle Vorteile der beliebten Gulaschkanone in das neue Volksspeisesystem zu übernehmen.394 Von der Eröffnung der ersten Berliner Massenküche, die täglich für bis zu 30.000 Stadtbewohnern ein wohlschmeckendes Eintopfgericht zur Verfügung stellen konnte, berichteten lokale und überregionale Tageszeitungen. Als ein »denkwürdiges Ereignis«395 beschrieb die liberale Vossische Zeitung den Eröffnungstag der Volksspeisung. Die Tägliche Rundschau 390 Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 70. 391 Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 41f. Vgl. auch Die städtische Volksspeisung in Berlin [im Kriegsjahr 1916], hg. vom Magistrat von Berlin, Berlin 1916, S. 4. 392 Vgl. »Die Massenspeisungen in Berlin«, in: Tägliche Rundschau, 30. Juni 1916. 393 Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 197. Vgl. auch Die städtische Volksspeisung, S. 5. 394 Vgl. Davis, Home Fires, S. 140. 395 »Die Küche der Sechstausend«, in: Vossische Zeitung, 10. Juli 1916.
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bezeichnete die Inbetriebnahme der ersten Stadtküche als einen »Triumph städtischer Organisation« und bot ihrer Leserschaft einen Einblick in den Massenspeisungsbetrieb: »Ein Gewimmel fleißiger Frauen und Mädchen um die riesigen Kochkessel herum, in den Vorratskammern – wo sich märchenhafte Blicke auf ganze Reihen hängender Speckseiten, auf wohlgenährte Säcke mit Hülsenfrüchten und auf sonstige Kostbarkeiten öffnen – an den Kartoffel- und Gemüse-, Wasch- und Putzmaschinen, an Fleischblöcken mit Zentnern vortrefflichen Fleisches! Dazwischen einfahrende Wagen, schwer mit Gemüse aller Art beladen. […] In 65 mächtigen, mit Kohlen und Gas geheizten Kochkesseln brodelt das Essen; Fleisch, Gemüse, Kartoffeln, schmackhaft zusammengekocht, wird dann in je 50 Liter fassende Transportkessel geschöpft, die die Speisen stundenlang heiß zu halten vermögen, und darin zu den einzelnen in einem großen Bezirk verteilten Ausgabestellen geschafft zu werden. Auch in dieser Markthallenküche selbst ist eine solche Ausgabestelle, und 500 Sitzplätze an langen, blumengeschmückten Tischreihen erlauben denen, die zu Haus nicht essen können oder mögen, ihre Mittagsmahlzeit an Ort und Stelle einzunehmen, so daß in den festgesetzten Speisestunden etwa 3000 Personen gleich hier verköstigt werden können.«396 Das Berliner Tageblatt berichtete von der »Mittagsbrotpolonäse«, die sich am Eröffnungstag musterhaft geordnet auf dem Hof der Markthalle gebildet hatte. Geduldig warteten »fast ausschließlich Frauen, kleine Kinder an der Hand oder im Kinderwagen neben sich, mit Körben und Handtaschen, mit Töpfen und Kannen und Tiegeln jeglichen Kalibers ausgerüstet«397 auf den Beginn der Speiseausgabe. Gleichfalls anwesend waren auch »zahlreiche Herren der städtischen Verwaltung«, allen voran der Berliner Oberbürgermeister Wermuth und der Volksspeisungschef Doflein, die den Küchen- und Speiseausgabebetrieb in Augenschein nahmen (Abb. 19).398
396 »Die erste Küche für Massenspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 8. Juli 1916. Hierbei handelte es sich um einen Bericht über die »Generalprobe« der Zentralküche. Ähnliche Berichte veröffentlichten am Tag der Eröffnung der Küche auch das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung. Vgl. ebenso »Die Massenspeisungen«, in: Berliner Tageblatt, 13. Juli 1916. Überregional wurden vergleichbare Zeitungsberichte publiziert u.a. in der Kölnischen Zeitung (»Die Berliner Massenspeisung, wie sie arbeitet«, 10. Juli 1916) und Frankfurter Zeitung (»Massenverpflegung und fahrbare Küchen«, 11. Juli 1916). Auch österreichische Blätter berichteten von der ersten Berliner Großküche, darunter die Linzer Tages-Post (»Massenspeisungen in Wien und Berlin«, 10. Juli 1916) und die Arbeiter-Zeitung (»Massenspeisungen in Berlin«, 2. Juli 1916; »Die Massenküchen in Deutschland«, 15. Juli 1916). 397 »Massenspeisung«, in: Berliner Tageblatt, 10. Juli 1916. 398 Vgl. »Die Küche der Sechstausend«, in: Vossische Zeitung, 10. Juli 1916.
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Abbildung 19: Die Eröffnung der Berliner Volksspeisung (Juli 1916)
Berlins Oberbürgermeister Wermuth (rechts im Bild) begleitete die Eröffnung der ersten Zentralküche in der Markthalle XIII an der Wörtherstraße/Treskowstraße am 10. Juli 1916. Foto: Ullstein.
In den darauffolgenden zehn Wochen nahm die Stadt weitere acht Zentralküchen und 62 Verteilungsstellen in Betrieb.399 Die Hauptküche der Berliner Volksspeisung wurde am 14. August in der ehemaligen Fleischgroßhalle der städtischen Zentralmarkthalle am Alexanderplatz eröffnet. Mit 88 Kesseln und einer Leistungsfähigkeit von bis zu 40.700 Speiselitern war sie die größte der Berliner Stadtküchen (Abb. 20).400 Sie versorgte zeitweise bis zu fünfzehn Ausgabestellen, die über das Zentrum hinaus in verschiedenen Stadtteilen lagen. Ein gänzlich und gleichmäßig über die ganze Stadt verteiltes Großküchennetz, das tatsächlich allen Berlinern gleichermaßen zur Verfügung stehen sollte, besaß die Stadt nach der Eröffnung der neunten Zentralküche Mitte September 1916 jedoch nicht. Die Planungen für das künftige Massenspeisungssystem orientierten sich weitgehend an einer Bedarfsumfrage, die der Magistrat im Juni 1916 startete.401 Die Berliner Bevölkerung wurde über Hauslisten nach ihren Absichten zur Nutzung einer städtischen Großküche befragt. Das Ergebnis der Umfrage, an der sich nur wenige
399 Zwei weitere Zentralküchen waren betriebsfertig, von denen jedoch nur eine in Betrieb genommen wurde. Ihre Eröffnung erfolgte im Januar 1917. Die Zahl der Ausgabestellen nahm im Verlauf der zweiten Kriegshälfte zu. Nach Käber existierten zeitweise bis zu 77 Speiseausgabestandorte. Vgl. ders., Berlin, S. 145. Ermittelt werden konnten jedoch nur 65 Ausgabestellen. Siehe hierzu Tab. vii sowie Abb. i m Anhang. 400 Vgl. »Eröffnung der städtischen Hauptküche«, in: Tägliche Rundschau, 14. August 1916. 401 Vgl. »Die Massenspeisung in Berlin«, in: Vorwärts, 9. Juni 1916. Vgl. auch Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 194.
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Hauptstadtbewohner beteiligten, führte zu der Schlussfolgerung, dass die Küchen und Verteilzentren überall dort eingerichtet werden müssten, wo die stärkste Teilnahme zu erwarten sei. Demzufolge wurden nicht nur vier der Großküchen, sondern auch mehr als die Hälfte der Ausgabestellen im Norden und Osten der Stadt und damit in den großen Arbeitervierteln eingerichtet. Während im wohlhabenden Westen Berlins nur eine kleine Ausgabestellenzahl vorzufinden war, befand sich die Mehrheit der übrigen Küchenund Speiseausgabestandorte ebenfalls in einwohnerstarken Stadtgebieten mit großen Arbeiteranteilen. Insgesamt aber seien die Ausgabestellen so angeordnet gewesen, dass kein Teilnehmer länger als zehn bis zwölf Minuten zur nächsten Ausgabestelle benötigte, wie aus einer zeitgenössischen Publikation der Stadt zur Berliner Volksspeisung hervorgeht.402
Abbildung 20: Die Hauptküche der Berliner Volksspeisung am Alexanderplatz
Am 14. August 1916 wurde die fünfte Zentralküche der Volksspeisung in der Zentralmarkthalle am Alexanderplatz/Neue Friedrichstraße eröffnet. Abbildung aus Das interessante Blatt 35, 31. August 1916, S. 12. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, ANNO Austrian Newspapers Online.
Nach Inbetriebnahme aller Küchen war das System in der Lage, täglich bis zu 250.000 Liter Suppe zu produzieren, womit zwölf bis vierzehn Prozent der Berliner Bevölkerung versorgt werden konnten.403 Zugleich plante die Stadtverwaltung die Mög402 Vgl. Die städtische Volksspeisung, S. 4. Vgl. auch Käber, Berlin, S. 145. Sowie »Berlins Massenspeisung beginnt«, in: Vossische Zeitung, 8. Juli 1916. 403 Die Grundlage bilden die Einwohnerzahlen von 2.071.907 nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und die zwischenzeitlich gesunkene Bevölkerungszahl von rund 1.763.000 Einwohnern nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1916. Vgl. »Vorläufige Übersicht über die gesamte Einwohnerzahl nach dem Geschlecht, über die Zahl der aktiven Militärpersonen und über die Zahl der Kriegs-
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lichkeit eines Tag- und Nachtbetriebes der Küchen ein, der in den größten Notzeiten zum Einsatz kommen sollte. Mit einem Doppelbetrieb meinte die Berliner Administration schließlich rund ein Viertel der Bevölkerung versorgen zu können.404 Die Erwartungen der Berliner Stadtverwaltung an das Zentralküchensystem waren dementsprechend hoch. Die Entscheidung, wer die Leitung und Aufsicht der Großküchen übernehmen sollte, wurde wohlüberlegt getroffen und fiel auf die erfahrene Philanthropin Hedwig Heyl. Sie setzte sich stets für die »Hebung des heimischen Kochens« ein, verstand etwas von Ernährungswissenschaft und brachte den notwendigen Bekanntheitsgrad mit, der in keiner Verbindung zur Armenpflege stand.405 Allen zufolge war die 66-jährige Heyl zudem eine »kluge, charmante und selbstsichere Frau«, die »über großes Improvisationstalent und reiche Erfahrungen im Umgang mit Behörden verfügte«406 . Für Wermuth war die wohltätige Unternehmerin »Deutschlands Idealhausfrau«407 . Ohne Zögern und auf die eigenen Fähigkeiten vertrauend, erinnerte sich Berlins zweiter Bürgermeister Georg Reicke, nahm sich Heyl der neuen Aufgabe als Berliner Chefköchin an (Abb. 21).408 Rückblickend hielt er fest: »In der ersten Küche übernahm sie anfangs selbst die Leitung des Kochbetriebes, später beaufsichtigte sie den Betrieb sämtlicher Küchen, indem sie ihnen regelmäßige Besuche abstattete. Das war keine leichte Sache. [… Es galt] dafür zu sorgen, daß für alle Küchen geeignete Leiterinnen ausgebildet wurden. Sodann die von diesen gesammelten Erfahrungen durch gleichmäßige Ausnutzung der Allgemeinheit wieder dienstbar zu machen. Dies wurde auf dem Weg wöchentlicher Konferenzen erreicht, die alle Leiterinnen unter Heyls Vorsitz vereinigten und in denen auch die von ihr persönlich aufgestellten Küchenzettel durchgesprochen wurden.«409
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gefangenen im Deutschen Reich: Volkszählung vom 1. Dezember 1916«, digitalisierte Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin. Im Internet unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/wer kansicht?PPN=PPN68315981X&PHYSID=PHYS_0001&view=picture-double (13.12.2022). Die letzte Zentralküche wurde im Januar 1917 eröffnet. Neun der zehn Küchen waren in der Lage, zwischen 15.000 und 40.700 Liter Suppe täglich herzustellen. Die kleinste Zentralküche, die versuchsweise in einer günstig gelegenen Gemeindeschulturnhalle fest eingerichtet wurde, verfügte über eine tägliche Maximalleistung von etwa 2.700 Literportionen. Vgl. Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 197. Ferner »Die Massenspeisung in Berlin«, in: Vorwärts, 1. Juli 1917. Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917«, Nr. 21, in: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, Ausgabe 44 (1917), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1918, S. 359–367, hier S. 360. Vgl. auch Wermuth, Beamtenleben, S. 381. Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 72f. Ebd., S. 73. Wermuth, Beamtenleben, S. 380. Vgl. Reicke, Georg: »Die Massenspeisung in Berlin während des Krieges«, in: Hopffgarten, Elise von (Hg.), Hedwig Heyl. Ein Gedenkblatt zu ihrem 70. Geburtstage von ihren Mitarbeitern und Freunden, Berlin 1920, S. 125–129, hier S. 127. Ebd., S. 128.
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Heyl hatte darüber hinaus dafür zu sorgen, dass die Volksspeisung über genügend Personal verfügte. Unter ihrer Führung arbeiteten zeitweise bis zu 400 ehrenamtliche und etwa 3.000 besoldete Kräfte in den Küchen und Ausgabestellen. Dabei sei es nicht immer leicht gewesen, dem Stab der Mitarbeitenden das notwendige Pflichtgefühl mitzugeben. »Immer wieder«, betonte Heyl in einem Vortrag, »muss ihm [dem Personal] die Arbeit im Schützengraben als Antrieb vorgeführt werden, wenn es ihm bei der Kälte in den frühen Morgenstunden zu schwer erscheint, an der Arbeit zu sein.«410 Sie selbst lebte die von ihr verlangte Disziplin und Zuverlässigkeit vor. Die Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Anna Plothow (1853–1924) erinnerte sich: »Von morgens acht Uhr an konnte man Tag für Tag die Rastlose hinter den Riesenkesseln der Massenküche in einer der Markthallen sehen, immer aufs Neue ringend mit dem Problem, für Fehlendes Ersatz zu schaffen, und aus unzureichenden Zutaten das Höchstmögliche an Nährwerten zu gewinnen.«411 Die Sicherstellung der benötigten Lebensmittel und die Organisation des Küchenbetriebes verlangten Augenmaß und Weitblick. Nach den Plänen der Stadtverwaltung sollten die Einrichtungen der Volksspeisung in der Lage sein, täglich für mindestens eine Viertelmillion Menschen Eintopfgerichte bereitzuhalten.412 Das Kochen in einer solchen Größenordnung verlangte die rechtzeitige Anschaffung großer Lebensmittelvorräte. Für die Berechnung des Bedarfs erstellten Heyl und ihre Küchenleiterinnen umfassende Wirtschaftspläne für längere Zeiträume, mit denen die benötigten Lebensmittelmengen bei den zuständigen Abteilungen des Magistrats angemeldet wurden.413 Die von der Rationierung erfassten Lebensmittel, d.h. Kartoffeln und Fleisch, stellte die Stadt den Großküchen – wenn möglich – im angeforderten Umfang zur Verfügung. Sofern kommunale Vorräte vorhanden waren, wurden der Volksspeisung auch Teigwaren und Graupen o.Ä. geliefert. Alle weiteren Lebensmittel wie Fisch, Gewürze, frisches Gemüse oder Dörrgemüse mussten »im freien Verkehr« beschafft werden.414 Die Kochvorbereitungen selbst wurden in der Regel am Vortag der Speiseausgabe getroffen. Nachdem die angeforderten Lebensmittel in den Morgenstunden angeliefert worden waren, begannen die Vorarbeiten der Speisezubereitung. Bis in den späten Nachmittag wurden die rohen Lebensmittel geputzt, geschält und geschnitten oder verlesen und eingeweicht. Das Kochen der vollen Kessel begann am frühen Morgen des darauffolgenden Tages. Gegen zehn Uhr waren die Fördergefäße gefüllt und mit Pferdefuhrwerken und Kraftwagen auf dem Weg zu den Speiseausgabestellen.
410 Niederschrift über die Sitzung des Frauenbeirats am 8. November 1916. BA, R 3601/30, Bl. 9–28, hier Bl. 15. 411 Plothow, Anna: »Hedwig Heyl als soziale Arbeiterin«, in: Hopffgarten, Elise von (Hg.), Hedwig Heyl. Ein Gedenkblatt zu ihrem 70. Geburtstage von ihren Mitarbeitern und Freunden, Berlin 1920, S. 143–148, hier S. 148. 412 Mit der Zubereitung von Eintopfspeisen (zusammengekochtes Essen) wurden die Speisezubereitungskosten gering gehalten. Hierzu ausführlicher bei Lindemann, Stadtgemeinde, S. 93. 413 Vgl. Die städtische Volksspeisung, S. 9. 414 Vgl. ebd.
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Abbildung 21: Berlins Chefköchin Hedwig Heyl bei einem ihrer Kontrollgänge (1916)
Foto: Ullstein.
Auch hinsichtlich des Speiseausgabebetriebes bedurfte es einiger Vorbereitungen, deren Organisation jedoch in erster Linie von behördlicher Seite übernommen wurde. Informationen zum Ausgabestellennetz und Ablauf des Volksspeisungsbetriebs sowie Hinweise zu etwaigen Änderungen im Speiseausgabeverfahren erhielten die Berliner überwiegend durch die amtlichen »Bekanntmachungen« in Zeitungen und auf Anschlagsäulen. Bevor die Teilnehmer in den Speiseausgabestellen das Essen in Empfang nehmen konnten, mussten sie sich vor Beginn der Woche in der für sie zuständigen örtlichen Brotkommission dafür anmelden. Wer sich für die Küchenspeisung entschied, verzichtete auf die Essenzubereitung am eignen Herd. Die Stadtverwaltung betrachtete die Volksspeisung als wesentlichen Bestandteil der allgemeinen kommunalen Nahrungsmittelverteilung: »Ein Mehr an Nahrungsmitteln etwa gegenüber denjenigen, die an der Volksspeisung nicht teilnehmen, soll und kann die Speisung nicht gewähren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die hauptsächlichsten zugemessenen Nahrungsmittel den Teilnehmern auf die ihnen nach den Lebensmittelkarten zustehende Wochenmenge anzurechnen. Die Anrechnung erfolgt in mäßigen Grenzen durch Abtrennung von Abschnitten von den Lebensmittelkarten […].«415
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Die städtische Volksspeisung, S. 12. Vgl. auch Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 194. Ferner »Städtische Massenspeisungen«, in: Berliner Tageblatt, 7. Juli 1916.
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Die Volksspeisungsgäste hatten etwa zwei Drittel ihrer wöchentlichen Bezugsscheine für Fleisch und Kartoffeln in den Brotkommissionen abzugeben und erhielten dafür eine Wochenspeisungskarte für die nächst gelegene Abgabestelle, in der sie täglich zwischen 11.30 und 13.30 Uhr ihr Mittagessen erhielten (Abb. 22).416 Auch das Speiseausgabeverfahren war minutiös geplant. »Endlich ist die Mittagstunde herangekommen«, so das Berliner Tageblatt über den Essensausgabebetrieb in der Treskowstraße: »Eine große Glocke wird geläutet. Und jetzt öffnen sich den im Hofe Harrenden zwei Türen. In einer Reihe marschieren die Frauen herein. Jede hält eine blaue Ausweiskarte in der Hand, jede muß zuerst an die Kasse und den Preis für die gewünschte Anzahl Portionen begleichen, wofür sie eine entsprechende Anzahl Marken erhält, ein rundes Stückchen Blech, dem das Wappen der Stadt Berlin eingeprägt ist. Mit den Marken und dem Gefäß für das Essen heißt es nun zur Ausgabestelle gehen, an der in gemessenen Abständen vier Kessel voll fertigen Essens stehen. […] Die Marke wird abgegeben, die Kelle schöpft eine Portion oder mehrere der trefflichen Speise heraus – die Nächste kommt an die Reihe. Ruhig und ohne Störung, ohne Drängen und Schieben vollzieht sich das Geschäft, während an den Tischen sich bereits die ersten Hungrigen niederlassen, die ihre Mahlzeit gleich hier, in der Halle selbst, verzehren wollen. Die überwiegende Mehrheit der städtischen Gäste nimmt jedoch das Mittagessen mit nach Hause.«417 Beim Vorzeigen der Wochenkarten wurden entsprechend der Wahl der Portionsgröße ein halber oder ganzer Tagesabschnitt entfernt. Die halbe Portion umfasste einen halben Liter Eintopf und kostete zunächst zwanzig Pfennig, die ganze Portion umfasste demnach den doppelten Umfang und Preis.418 Mit der entgeltlichen Ausgabe des Essens, so glaubten die Stadtverwaltung und ihr Volksspeisungsbeirat, würden sich die neuen Kriegsküchen vom Stigma der Armenspeisung absetzen. Doch das Stadtessen war nicht für jeden erschwinglich. Den Empfängern der Kriegsfürsorgeunterstützung aber griff die Stadt weiterhin unter die Arme und ermöglichte ihre Teilnahme an der öffentlichen Speisung. Wie in den beiden Kriegsjahren zuvor erhielten die Bedürftigen ab September 1916 neben den herkömmlichen Speisemarken auch die so genannten Volksspeisemarken zu zwanzig und vierzig Pfennig in den Hilfsstellen des NFD. Im Sommer 1916 entstand in der Hauptstadt in Windeseile ein Speisesystem, das mit Ausnahme der sozialdemokratischen Stadtverordneten in Gänze den bürgerlich-liberalen Vorstellungen der Berliner Administration entsprach: Dem Herd im Einzelhaushalt wurde Vorrang gegeben und die städtische Gemeinschaftsverpflegung, die Wermuth zufolge »beileibe nicht als eine Speiseanstalt minderen Grades betrachtet wer-
416 Vgl. »Zur Massenspeisung«, in: Vorwärts, 6. Juni 1916. Da die Brotkommissionen mit der Zunahme der Lebensmittelkarten bald überlastet waren, wurden ab Ende Oktober 1916 die Essensausgabestellen mit der Ausgabe der Bezugskarten betraut. Vgl. Käber, Berlin, S. 147. 417 »Massenspeisung«, in: Berliner Tageblatt, 10. Juli 1916. 418 Die Essenspreise entsprachen den Selbstkosten der Volksspeisung, wobei die Einrichtungskosten für die Küchen und Abgabestellen nicht einbezogen wurden. Hierzu vgl. Käber, Berlin, S. 149.
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den«419 sollte, öffnete wie der überwiegende Teil der bisherigen wohltätigen Speiseanstalten ihre Pforten dort, wo die größte Nachfrage vermutet wurde.
Abbildung 22: Wochenkarte der Berliner Volksspeisung
Speisen erhielten die Besucher der Volksspeisung gegen Vorlage der Wochenkarte und gegen Abgabe der anzurechnenden Abschnitte der Fleisch- und Kartoffelkarten. Quelle: Die städtische Volksspeisung in Berlin, fotografierte Beilage.
Es ist anzunehmen, dass die Herangehensweise des Volksspeisungsbeirats bei der Umsetzung des Großküchenprojekts maßgeblich von der generell tiefsitzenden Aversion der unteren und oberen Mittelschicht gegenüber der öffentlichen Gemeinschaftsverpflegung bestimmt wurde. Der Oberbürgermeister selbst schien davon betroffen zu sein, wie Davis mit Blick auf sein Verhalten während der Kücheneröffnungsphase feststellte: »Yet his very aversion to encouraging use of the kitchens over retail outlets bespoke his own prejudices.«420 Dennoch entschied sich die Hauptstadtverwaltung bei der Ausgestaltung des Großküchensystems für schichtenübergreifende Einrichtungen. Es sei nicht Aufgabe der Gemeinde, wie Doflein im Rahmen einer Sitzung des Reichsausschusses für Massenspeisungen darlegte, bei der Einrichtung von Notstandseinrichtungen trennende Klassenunterschiede zu schaffen.421 Er rechtfertigte das administrative Vorgehen damit, dass die Hauptstadt über ausreichende Speiseangebote privater Unternehmungen für die mittelständischen und kleinbürgerlichen Bevölkerungskreise verfüge. Der vermeintlich gewichtigere Grund, weshalb Berlin sich für eine einheitliche Speiseanstalt für alle Berliner entschied, wird ein finanzieller gewesen sein. Mit den am 6. Juli 1916 von der Stadtverordnetenversammlung bewilligten zwei Millionen Mark zum 419 »Städtische Massenspeisungen«, in: Berliner Tageblatt, 7. Juli 1916. 420 Davis, Home Fires, S. 141. 421 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Massenspeisungen am 9. Dezember 1916. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164, Bl. 147–155, hier Bl. 150.
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Zwecke der Errichtung einer städtischen Massenspeisung, die den Minderverbrauch der kommunalen Lebensmittelvorräte förderte, wollte die Stadtverwaltung möglichst umfassende Kapazitäten zur Versorgung weiter Teile der Bevölkerung schaffen.422 Eine Entscheidung für die Einrichtung getrennter Speisegemeinschaften mit vergleichbaren Kapazitäten wäre nicht nur kostspieliger gewesen, sie hätte auch – noch vor ihrer Umsetzung – den Unmut der Berliner Arbeiterschaft heraufbeschworen. Mit der »Massenspeisung für alle« war der Stadtverwaltung die Unterstützung der Berliner Sozialdemokraten für die städtischen Großküchen sicher und diese war für einen weitreichenden Zuspruch in der Stadtbevölkerung essentiell. Doch ganz und gar zufrieden waren die sozialdemokratischen Mitglieder des Volksspeisungsbeirats sowie der Stadtverordnetenversammlung mit der Ausgestaltung des Volksspeisungsunternehmens nicht. Bereits vor der Eröffnungsphase wiesen die Vertreter der Berliner Arbeiterschaft den Magistrat auf die Schwächen des geplanten Großküchensystems hin. Gemeinsam mit der Berliner Gewerkschaftskommission kritisierten Adolf Ritter und seine Parteigenossen die Begrenzung des Teilnehmerkreises auf die Berliner Einwohner und die »kommunale Zerrissenheit Groß-Berlins«423 , die ein einheitliches Vorgehen der Gemeinden in Sachen Gemeinschaftsverpflegung verhinderte. Die Durchführung der Volksspeisung biete Ritter zufolge nur dann einen praktischen Nutzen, wenn diese einheitlich im Wirtschaftsgebiet Groß-Berlin verwirklicht wird. Von Seiten der Gewerkschaftskommission wurde in einer Resolution betont, »daß diese Maßnahme nur auf den Stadtkreis beschränkt, eine halbe Maßnahme bleiben muß, weil unter den obwaltenden [k]ommunalen [sic!] Verhältnissen die Arbeiterschaft, die in Berlin arbeitet, aber in einem Vorort von Berlin wohnt, von dieser Massenspeisung ausgeschlossen sein würde«424 . In der Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916 verlieh August Hintze der Forderung nach einem einheitlichen Vorgehen noch einmal Nachdruck: »Die Arbeiter, die von den Vororten jetzt zu uns nach Berlin hereinkommen und hier ihre Arbeit verrichten, können sich an der Speisung nicht beteiligen, weil ihre Kartoffel- und ihre Fleischkarte in Berlin keine Gültigkeit haben und hier nicht angerechnet werden können, und umgekehrt geht es natürlich unseren Berliner Arbeitern, die in den Vororten arbeiten. Das ist ein ganz haltloser Zustand, und ich richte von dieser Stelle an den Herrn Oberbürgermeister das Ersuchen, sich doch mit den Vororten in Verbindung zu setzen, damit eine Freizügigkeit der Fleisch- und der Kartoffelkarte innerhalb der Berlin umgebenden Vororte eingeführt wird, so daß sowohl die dortigen Arbeiter als auch unsere hiesigen Arbeiter Gelegenheit haben, sich an dieser Speisung zu beteiligen.«425 Darüber hinaus hielten die Sozialdemokraten eine Kooperation der städtischen Küchen mit den großen ansässigen Betrieben und Fabriken für unerlässlich. Eine Belieferung der Fabrikkantinen mit dem Stadtessen sei eine weitere Erleichterung für die arbeitende
422 Vgl. Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 194. 423 »Zur Massenspeisung«, in: Vorwärts, 6. Juni 1916. 424 »Die Berliner Gewerkschaften und die Massenspeisung«, in: Vorwärts, 10. Juni 1916. Vgl. auch »Massenspeisung – Lebensmitteleinkauf«, in: Vorwärts, 23. Juni 1916. 425 Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 195.
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Bevölkerung.426 Sich der Notwendigkeit der Lebensmittelkartenanrechnung bewusst, beanstandeten die sozialdemokratischen Stadtverordneten aber auch den Umfang der abzugebenden Kartoffel- und Fleischkarten für das Mittagessen. Für die weitere Versorgung in der Woche blieben den Teilnehmern neben den unzureichenden Brotrationen nur zwei Pfund Kartoffeln und 75 Gramm Fleisch.427 Da ein Auskommen mit den geringen Rationen nicht möglich sei, hatte der Magistrat aus Sicht Hintzes zu prüfen, inwieweit die Kartenanrechnung herabgesetzt werden konnte. Eine Reaktion des Magistrats auf die von der sozialdemokratischen Fraktion hervorgebrachten Forderungen folgte unmittelbar. Mit den Berliner Vorortgemeinden, stellte Doflein klar, stünde die Stadtverwaltung bereits in Verhandlungen.428 Eine Freizügigkeit der Massenspeisung konnte nicht ohne weiteres gewährleistet werden. Vielmehr galt es zunächst einen »gegenseitigen Anrechnungsverkehr« herbeizuführen: »Da die Lebensmittel […] nach der Bevölkerungszahl verteilt werden, erscheint eine Speisung von Vorortbewohnern schlechthin aus den für die Berliner Bevölkerung überwiesenen Lebensmitteln nicht angängig. Sie könnte vielmehr nur dann erfolgen, wenn die Lebensmittel, die Berlin aus den ihm überwiesenen Vorräten für Vorortbewohner verwendet, erstattet würden.«429 Eine Einigung mit den Vororten Berlins erzielte der Magistrat jedoch erst gegen Ende des Jahres 1916, sodass mit Beginn des Jahres 1917 auch die in Berlin arbeitenden Vorortbewohner zur Volkspeisung zugelassen wurden.430 Darüber hinaus ließ Doflein die Sozialdemokraten wissen, dass die Stadtverwaltung ebenso daran arbeite, mit einer ganzen Reihe großer Betriebe und Fabriken Einigungen zur Speisebelieferung der Kantinen zu erzielen. Dieser Wunsch wurde auch vom Kriegsministerium und der Feldzeugmeisterei an die Stadtverwaltung herangetragen und zeitgleich mit der Inbetriebnahme der Großküchen weitgehend umgesetzt. »[…U]m den Arbeitern rechtzeitig die Einnahme einer kräftigen, warmen Mahlzeit zu ermöglichen«, hieß es von amtlicher Seite im Oktober 1916, wurden die Speisen »von den Fabriken in den nächstgelegenen Küchen abgeholt.«431 In seinem Redebeitrag ging der Volksspeisungschef auch auf die sozialdemokratische Kritik am Umfang der Lebensmittelkartenanrechnung ein. Diesbezüglich bestand der Magistrat auf die Richtigkeit seines Vorgehens. »Daß Einschränkungen in der Lebenshaltung heute nötig sind, wissen wir alle,« so Doflein, »und die Kontingentierung der Lebensmittel, die Regelung, daß nur auf Lebensmittelkarten bestimmte Quantitäten eines Lebensmittels abgegeben werden, reden die deutlichste Sprache für die Notwendig-
426 427 428 429 430 431
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd, S. 197. Ferner »Die Massenspeisungen in Berlin«, in: Tägliche Rundschau, 30. Juni 1916. Die städtische Volksspeisung, S. 13. Vgl. »Volksspeisung«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 13, 10. Dezember 1916. Die städtische Volksspeisung, S. 14. Siehe hierzu auch die Ausführungen Dofleins in der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 197. Die Anmeldungen und die Kartenanrechnungen wurden in den jeweiligen Fabriken vorgenommen.
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keit der Einschränkung.«432 Der vom Stadtverordneten Hintze vorgebrachte Einwand über eine zu hohe Kartenanrechnung sei Doflein zufolge nicht gerechtfertigt: »Nehmen Sie die Mengen, die angerechnet werden, und rechnen Sie nach, wieviel Fleisch, wieviel Kartoffeln auf die einzelne Mittagsmahlzeit entfällt! Wenn Sie dem gegenüberstellen das durchaus berechtigte Verlangen desjenigen, der an der Massenspeisung teilnehmen will, ein Mittagessen zu bekommen, das gut ist und ihn sättigt, dann werden Sie zugeben: bei den Quantitäten, die heute zur Verfügung stehen, können wir geringere Beträge nicht anrechnen; sonst können wir nicht das Mittagessen liefern, das den Ansprüchen, die gestellt werden müssen, genügt.«433 Während sich die Stadtverordneten der bürgerlichen Fraktion, die anders als ihre sozialdemokratischen Kollegen keine verbreitete Not in der Berliner Bevölkerung feststellen konnten, mit den Ausführungen des Stadtrats zufrieden gaben, betonten die Sozialdemokraten gegenüber dem Magistrat mit Nachdruck, dass die Volksspeisung als alleinige Maßnahme gegen den vorherrschenden Lebensmittelmangel nicht ausreiche. Noch mehr als zuvor müsse die Stadt ihrer Pflicht nachkommen und gegenüber den entscheidenden staatlichen Stellen unablässig für ein Ende der ungleichmäßigen Verteilung der Lebensmittel in Berlin und anderen deutschen Großstädten eintreten. »[D]a wir draußen weder in der Presse noch in Versammlungen Gelegenheit haben,« so der Stadtverordnete Weyl, »uns an diejenigen Kreise zu wenden, an die Sie […] bisher vergeblich appelliert haben, besonders an den Präsidenten des Kriegsernährungsamtes und an die Zentraleinkaufsgesellschaft, so glauben wir, daß es im Interesse der Stadt Berlin und […] der gesamten Bevölkerung ist, wenn den maßgebenden Persönlichkeiten deutlich gesagt wird, wie die Verhältnisse hier liegen […].«434 Solange aber die Stadtverwaltung und mit ihr die Vertreter der bürgerlich-liberalen Fraktionen den Ernst der vorherrschenden Ernährungsverhältnisse in Berlin nicht anerkannten, waren sich die Sozialdemokraten sicher, sähen sich die staatlichen Behörden auch nicht zum durchgreifenden Handeln veranlasst. Diese Einschätzung dürfte die Mehrheit der bürgerlichen Stadtverordneten und auch den Oberbürgermeister wenig beeindruckt haben. Der Vorwurf an die Stadtverwaltung und die bürgerlich-liberalen Fraktionen, die tatsächlich vorhandenen Notlagen in weiten Teilen der Berliner Bevölkerung zu verkennen, traf durchaus auf einige der anwesenden Stadtparlamentarier zu, nicht jedoch auf Wermuth, der seit nunmehr zwei Jahren mit den Reichs- und Staatsbehörden »in fortwährender Fehde«435 stand. Wenn jemand um die problematischen Versorgungsverhältnisse Berlins wusste, dann der Oberbürgermeister. Rückblickend hielt dieser fest: »[… I]ch stand am Rande meines Könnens. […] Jahrelang war ich jeden Morgen der Angst unterworfen, ob die riesige Menge von 100 000 Zentnern Kartoffeln, deren allein Alt-Berlin in der Woche bedurfte, kam oder mindestens in sicherer Aussicht stand […]. Eine beklemmende, herzabdrückende Angst. Es ist nichts Geringes, Leben und Gesundheit von zwei oder, je nachdem, vier Millionen Menschen auf dem Gewissen zu 432 433 434 435
Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 196. Ebd., S. 196f. Ebd., S. 200. Wermuth, Beamtenleben, S. 374.
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tragen in der nie aussetzenden Qual, daß man haarscharf am Abgrunde einherwandelt.«436 Wermuth war rundum bemüht, die vom Krieg gebeutelte Ernährungswirtschaft Berlins und anderer Städte des Reiches zu verbessern und sah sich wiederholt mit dem ausbleibenden Handeln der obersten Behörden konfrontiert. Seiner Meinung nach beschränkte die Regierung ihre »Unterstützung« auf das Erlassen von Vorschriften und Verordnungen, die von den vielfach überlasteten Kommunalverwaltungen umgesetzt werden mussten. »Hatten die Reichs- und Staatsbehörden [… eine] Zauberformel glücklich in eine neue Verordnung hineingesetzt,« so Wermuth, »dann zogen sie sich hochbefriedigt […] auf den Sitz der Kritik zurück.«437 Bei der Umsetzung der staatlichen Vorgaben habe die Regierung nur zugeschaut und wurden diese nicht zufriedenstellend befolgt, erhielten die Gemeinden »bitteren Tadel«. Vor allem aber kritisierte Wermuth den nicht funktionierenden Güteraustausch zwischen Überschuss- und Bedarfsgebieten, von dem die großen Städte des Reichs am stärksten betroffen waren.438 Für das Funktionieren des staatlich aufoktroyierten städtischen Massenspeisungsunternehmens war Berlin mehr denn je auf die Lebensmittelzuweisungen der staatlichen Behörden angewiesen. Angesichts der Bedeutsamkeit, die die obersten Behörden dem Großküchenprojekt beimaßen, hoffte das Stadtoberhaupt möglicherweise, dass die »obwaltenden Ungleichmäßigkeiten« künftig durch ein verlässliches Regierungshandeln ein Ende finden. Dass er aber nicht wirklich damit rechnete, signalisierte Wermuth kurz vor dem Start der Volksspeisung in der Stadtverordnetensitzung vom 6. Juli 1916: »Gespannt blicken wir auf die nächsten Maßregeln des Reiches, die eine neue schöne Ernte nach vollständiger Gleichmäßigkeit zu verteilen berufen sind. Berlin […] wird weiterhin bemüht sein, sein Kriegswerk in unermüdeter Hand zu halten und auch die Massenspeisung durch unvermeidliche Anfangsschwierigkeiten hindurch auf eine Höhe zu führen, auf der sie neben anderen Leistungen der Selbstverwaltung im Weltkriege dasteht.«439 Wie alle zuvor eingeführten Rationierungsmaßnahmen hing das Gelingen der städtischen Volksspeisung aus der Sicht des Oberbürgermeisters primär von dem Geschick der auf sich allein gestellten Stadtverwaltung und ihrer Abteilung für Volksspeisung ab.
2.2.2 »Kein Tag ohne Beschwerde«: Die Inanspruchnahme der Stadtküchen Kurz vor der Eröffnung der ersten Berliner Großküche rührte Wermuth die Werbetrommel und verkündete die mit dem städtischen Massenspeisungsprogramm verbundenen Ziele. Danach verfolgte die Volksspeisung den Zweck, sowohl die Qualität des Essens in der Großküche als auch die bisher geringe Akzeptanz der öffentlichen 436 Ebd., S. 375f. Wermuth nimmt hierbei Bezug auf die gesamte Bevölkerung Groß-Berlins, für die er nicht nur als Oberbürgermeister Berlins, der mit den Stadtverwaltungen der Berliner Vororte zusammenarbeitete, sondern auch als Vorsitzender des Deutschen Städtetages die Verantwortung trug. 437 Ebd., S. 374. 438 Vgl. ebd. Sowie Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 6. Juli 1916, S. 194. 439 Ebd., S. 194f.
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Massenverpflegung zu steigern.440 Doch die mit dem Verpflegungssystem verbundenen Hoffnungen, die Versorgungslage in den Griff zu bekommen, zerschlugen sich genauso schnell, wie es eingerichtet wurde. Mit Stolz und Unverständnis zugleich resümierte Wermuth in seinen Erinnerungen: »Solch ein gemeinsames Hindurchwinden durch Staub und Widerstand, bis pünktlich zur festgesetzten Stunde alle Räder sich regen, ist höchste innere Befriedigung. Hier wurde sie unserer Arbeitsgemeinschaft ungekürzt zuteil. Natürlich nur für den flüchtigen Augenblick. Nachher regte sich die Anfechtung um so gründlicher. Kein Zweig der städtischen Ernährung hat derart herbe tägliche Kritik erfahren wie die Volksspeisung.«441 Der erwartete Andrang in den neuen Küchen und ihren Ausgabestellen stellte sich nicht ein. Zurückgeführt wurde dies zum einen auf die verhältnismäßig gute Berliner Versorgungslage im Spätsommer 1916. Eine weitere Erklärung für die geringe Teilnahme am Stadtessen fanden die Verantwortlichen in dem Umstand, dass die Kücheneröffnungsphase mit der Ferienzeit und der damit verbundenen Abwesenheit zahlreicher Kinder, die einen großen Teil des potentiellen Küchenpublikums ausmachten, zusammenfiel.442 Oftmals hing die Zurückhaltung der Berliner aber auch mit dem insgesamt recht komplexen Anmeldeverfahren zusammen, dem viele zunächst nicht folgen konnten. Erschwert wurde dies zusätzlich durch verschiedene administrative Änderungen bzw. Anpassungen der Kartenanrechnungen, die während der Startphase der Volksspeisung vermehrt und nicht immer klar nachvollziehbar über Aushänge und in der Presse bekannt gegeben wurden.443 Auch der Besuch der Küchen schien vielfach mit Problemen für die Teilnehmenden verbunden gewesen zu sein. Der Berliner Volkszeitung und dem Vorwärts zufolge mussten sich innerhalb der ersten vier Wochen seit der Einführung der Volksspeisung erste Besucher über die Volksspeisung beschwert haben.444 Bereits Ende Juli forderte der Vorwärts »die Einrichtung einer Beschwerdemöglichkeit durch Anbringung eines Beschwerdekastens«445 , der zugleich auch Wünsche des Küchenpublikums aufnehmen sollte. Diesem Vorschlag folgend ließ der Magistrat über die Presse mitteilen, dass die einzelnen Volksspeisungseinrichtungen die geforderten Beschwerdekästen erhalten sollen. Doflein und sein Beirat für Volksspeisung waren daran interessiert, »die Ansichten der Bezieher der Speisen, ihre Kla-
440 Vgl. Davis, Home Fires, S. 140f. 441 Wermuth, Beamtenleben, S. 381. 442 Vgl. »Berlins Volksspeisungen«, in: Vossische Zeitung, 13. August 1918. Zur geringen Teilnahme an der Volksspeisung während der Anfangsphase allgemein vgl. »Die Groß-Berliner Massenspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 8. August 1916. Sowie »Rückgang der Massenspeisung«, in: Vossische Zeitung, 8. August 1916. 443 Vgl. »Die Anmeldungen zur Massenspeisung«, in: Vorwärts, 31. August 1916. Vgl. auch die verschiedenen »Bekanntmachungen« zur städtischen Volksspeisung im Vorwärts, 27. August 1916. Zur Komplexität des Anmeldeverfahrens siehe auch »Für Teilnehmer an der Massenspeisung«, in: Vorwärts, 2. Juli 1916. »Der Massenspeisung erster Tag«, in: Vorwärts, 11. Juli 1916. 444 Vgl. »Wie steht’s mit der Massenspeisung?«, in: Berliner Volkszeitung, 13. August 1916. Vgl. auch »72. Stimmungsbericht vom 19. August 1916«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 157. 445 »Die Massenspeisung«, in: Vorwärts, 27. Juli 1916.
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gen und Wünsche kennen zu lernen«446 . Vermutlich gingen die Verantwortlichen davon aus, dass die unmittelbar einsetzenden Beschwerden lösbare Probleme thematisierten. Doch nachdem Ende September 1916 neun Küchen des Massenspeisungsnetzes, die zusammen bereits rund 210.000 Portionen täglich produzieren konnten, ihren Betrieb aufgenommen hatten, erhielten die Erwartungen der Berliner Administration bereits ihren nächsten Dämpfer. Anfang Oktober nahmen lediglich etwas mehr als 53.000 Berliner das städtischen Küchenangebot in Anspruch (Abb. 23).447 Nahezu die Hälfte aller Teilnehmenden waren Schulkinder, deren Versorgung seit dem 1. Oktober 1916 nicht mehr in den Händen des Kindervolksküchenvereins lag und zur Aufgabe der Stadtverwaltung erklärt wurde.448 Dabei erfuhren die Küchen und Ausgabestellen im Norden und Osten der Stadt mit rund 10.000 Besuchern die größte Inanspruchnahme. Indessen wurden die südwestlich gelegenen Einrichtungen von 2.500 bis 3.500 Teilnehmer besucht.449
Abbildung 23: Entwicklung der täglichen Besucherzahlen der Berliner Volksspeisung (1916–1920)
Quelle: Zusammengestellt nach »Zwei Jahre Berliner Volksspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 12. Juli 1918 und Käber, Berlin, S. 150. Vgl. auch Allen, Hungrige Metropole, S. 75. Davis, Home Fires, S. 148. Döhling, Das Problem der Massenspeisung, S. 58.
Doch nicht nur die Teilnahmezahlen lagen weit hinter den Prognosen, sondern auch die Presse griff vermehrt Volksspeisungsbeschwerden auf und publizierte erste kritische Bemerkungen zu den städtischen Großküchen. Die Besucher der bis dahin in den Tageszeitungen durchweg positiv dargestellten neuen und modernen Einrichtungen mach446 »Zur Volksspeisung«, in: Vorwärts, 13. August 1916. Sowie »Berlins Volksspeisungen«, in: Vossische Zeitung, 13. August 1918. 447 Vgl. auch »Von den Berliner Volksspeisungen«, in: Vorwärts, 4. Oktober 1916. Sowie »Zwei Jahre Berliner Volksspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 12. Juli 1918. 448 Näheres hierzu in Kapitel iii, Abschnitt 2.4. 449 Vgl. »Von den Berliner Volksspeisungen«, in: Vorwärts, 4. Oktober 1916. Vgl. auch »Volksspeisung«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 13, 10. Dezember 1916.
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ten insbesondere über Leserbriefe auf die Verhältnisse in den Küchen und Ausgabestellen aufmerksam.450 Einige Redakteure und Journalisten, deren vorausgegangene Artikel sich offenbar auf Pressemitteilungen der Verwaltung stützten, gingen den negativen Erfahrungen der Volksspeisungsbesucher nach und überzeugten sich selbst vor Ort von den Vorwürfen.451 Einer der ersten umfassenden Zeitungsartikel, der aus der Berliner Massenküche berichtete, erschien am 20. Oktober 1916 im gewerkschaftlichen Textil-Arbeiter.452 Darin schilderte der Autor seine Eindrücke, die er mit seiner Frau innerhalb einer Woche in der Volksspeisung gesammelt hatte. Er berichtete unter anderem von verabreichtem »Leimkleister« aus Graupen und Pflaumen, von Rindfleisch, das »nur in Fasern markiert« war, nicht weich gekochten Erbsen, versandetem Gemüse und angebranntem Essen. Seiner Meinung nach habe nicht einmal mehr der Hunger das »skandalöse« Essen hinuntergetrieben: »Von Schmackhaftigkeit war […] nicht die geringste Spur vorhanden. […] Es war ganz unmöglich, dieses Futter zu essen. […] Ich übertreibe nicht; es ist mir nicht darum zu tun, herunterzureißen, sondern die Tatsachen reden zu lassen, um Besserung herbeizuführen. […] Mehr wie ein dutzendmal habe ich mich gefragt: ›Aber wie ist so etwas nur möglich, wie kann man solches Essen nur hinausgeben, ohne sich klar zu werden, daß dies doch einen unerhörten Angriff auf die Geduld des Volkes darstellt![‹] Wenn auch keine große Auswahl in den Zutaten besteht, wenn auch der Koch kein Fleisch ins Essen geben kann, wenn er keins erhält, aber die Möglichkeit ist doch vorhanden, das Essen weich zu kochen und schmackhaft zuzubereiten. […] Die Stadt Berlin sollte schleunigst dafür sorgen, daß so mangelhaft zubereitetes Essen […] nicht mehr zur Ausgabe gelangt.«453 Mit seinem Bericht präsentierte der Verfasser ein Potpourri von Kritikpunkten, wie sie in den darauffolgenden Monaten des »Hungerwinters« 1916/17 mehrfach in der Tages-
450 Die Artikel der Lokalpresse sind die einzigen verfügbaren Belege, die die Beschwerden aus der Bevölkerung umfangreich dokumentieren. Die meisten Presseartikel, die sich den Volksspeisungsklagen widmeten, verwiesen auf Zuschriften, vgl. u.a. »Die Massenspeisungen«, in: Berliner Volkszeitung, 24. August 1917; »Klagen über die Berliner Volksspeisung«, in: Vorwärts, 27. März 1917; »Volksspeisungsklagen«, in: Vorwärts, 4. April 1917. Gleichwohl muss hervorgehoben werden, dass sich nicht bzw. kaum nachprüfen lässt, inwiefern die abgedruckten Beschwerden und die Kritik auch tatsächlich von Volksspeisungsteilnehmern geäußert wurden. In den meisten Fällen blieben die Beschwerden anonym. Mit der häufig erfolgten Benennung der einzelnen Einrichtungen weisen die Berichte dennoch eine recht hohe Authentizität auf. 451 Die Ähnlichkeit der Artikel verschiedener Tageszeitungen lassen, wie auch Davis annimmt, diesen Schluss zu, vgl. u.a. »Berlins Massenspeisung beginnt«, in: Vossische Zeitung, 8. Juli 1916. »Die erste Küche für Massenspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 8. Juli 1916. »Die Eröffnung der Massenspeiseanstalt«, in: Vorwärts, 9. Juli 1916. »Massenspeisung«, in: Berliner Tageblatt, 10. Juli 1916. Ferner Davis, Home Fires, S. 145. Zu den Autoren vor Ort vgl. u.a. »Speisenknappheit bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 20. Januar 1917; »Die Abfertigung bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 17. März 1917. Wie in Anm. 450 hervorgehoben, müssen auch die Erfahrungsberichte der Journalisten kritisch hinterfragt werden. Auch hier kann nicht ausgeschlossen werden, dass die geschilderten Volksspeisungsbesuche nicht doch nur auf Hörensagen oder Gerüchten beruhten. 452 Vgl. »Aus der Berliner Massenküche«, in: Der Textil-Arbeiter 42, 20. Oktober 1916, S. 161–162. 453 Ebd.
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presse erscheinen sollten. Auf dem Höhepunkt der Kartoffelkrise, im Februar 1917, stieg die Besucherzahl der öffentlichen Küchen auf rund 153.000 Teilnehmende täglich. Die (Kohle-)Not und der Hunger trieben die an sich zurückhaltenden Berliner regelrecht in die Volksspeisung. In der Presse nahmen der »Notbehelf« und die Klagen ihrer Kritiker einen hohen Stellenwert ein. Die Artikel erschienen fast ausschließlich ganz oben und mit auffälligen Überschriften in den Berliner Lokalnachrichten. Die meisten kritischen Artikel, die auf Zuschriften der Speiseteilnehmer Bezug nahmen, erschienen im Vorwärts. Das deutet darauf hin, dass eine Vielzahl der »neuen« Küchenbesucher der Arbeiterschaft angehört haben mussten (Abb. 24). Im Mittelpunkt stand, wie auch der Auszug aus dem Artikel des Textil-Arbeiters veranschaulicht, die Qualität des Essens, die aus Sicht der Konsumenten auf sehr unterschiedliche Weise auf der Strecke blieb. Als Maßstab zur Beurteilung der Speisequalität diente nicht ernährungswissenschaftliches Wissen, sondern ein hohes Maß an Erfahrungswissen, das sich auf die Ernährungsgewohnheiten der Vorkriegszeit sowie der ersten beiden Kriegsjahre stützte. Bei der nach individuellen Gesichtspunkten bewerteten Qualität spielten nicht nur der Geschmack, die Art und/oder der Zustand der Speisen eine Rolle, sondern auch die Speisemenge – sowohl in den Schüsseln der Einzelnen als auch in den großen Küchenkesseln. Damit zusammenhängend wirkten sich ebenso das »Ambiente« und die Funktionsweise der Volksspeisung auf die Qualitätseinschätzung seitens ihrer Besucher aus. Eine Vielzahl der Klagen richtete sich beispielsweise gegen das stundenlange Anstehen »auf dem Hofe in der Kälte«454 und Warten im Gedränge innerhalb der Einrichtungen infolge von Verzögerungen der Speisenanlieferungen und der langsamen Abfertigung der Teilnehmer: »Mit Mühe gelangt man endlich bis nach vorn, mit manchmal noch größerer Mühe muß man sich nach hinten wieder hindurcharbeiten. Dabei entscheiden oft die Ellenbogen des Stärkeren gegen das Recht des Schwächeren. So kann es einem vor dem Kassentisch ergehen, so kann sich’s auch an der Speisenausgabe wiederholen. Und aus dem Gewühl soll man dann sein Essen glücklich herausbringen!«455 Besonders bitter war das Schlange stehen für diejenigen, deren Geduld sich am Ende nicht auszahlte. In nicht wenigen Fällen reichte die gelieferte Essensmenge in den Ausgabestellen nicht aus: »Kein Tag ohne Beschwerde über die Berliner Volksspeisung! Da schreibt z.B. wieder eine Leserin unseres Blattes, daß sie bei ihrer Speisungsausgabenstelle oft übermäßig lange zu warten hatte, manchmal nach stundenlanger Geduld[s]probe noch an eine andere Ausgabestelle verwiesen wurde und gelegentlich sogar ohne Essen nach Hause gehen mußte.«456 Während die einen ihre leeren Schüsseln hungrig wieder nach Hause trugen, gingen andere mit leerem Magen zurück an die Arbeit. Die Möglichkeit, sich das Essen an anderer
454 »Speisenknappheit bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 20. Januar 1917. 455 »Die Abfertigung bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 17. März 1917. 456 »Volksspeisungsklagen«, in: Vorwärts, 4. April 1917. Vgl. auch »Volksspeisung ohne Speisen«, in: Vorwärts, 13. Januar 1917.
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Stelle zu besorgen, blieb ihnen aufgrund der Abgabe der Fleisch- und Kartoffelbezugsscheine verwehrt: »Es läßt sich verstehen, daß sie über diese Unzulänglichkeit der Volksspeisung in große Erregung gerieten. Da das Essen für eine ganze Woche vorausbestellt werden muß und voraus auch die Fleisch- und die Kartoffelkarten gekürzt werden, so kann Speisenknappheit diejenigen, die leer ausgehen, in die unangenehmste Lage bringen. Essen ist für sie nicht mehr da, aber auch ihre Kartenabschnitte sind sie los – nun mögen sie sehen, womit sie ihren Hunger stillen.«457 Diese im Vorwärts veröffentlichte Kritik am Markensystem der Volksspeisung teilten auch die Leser der Berliner Volkszeitung, die auf die grenzenlose Verlegenheit der betroffenen Küchenbesucher aufmerksam machte.458 Manche Familien seien dem Blatt zufolge durch diese Bestimmungen zum Hungern verurteilt gewesen. Die Abgabe der wertvollen Fleisch- und Kartoffelrationskarten weckte bei den Besuchern Erwartungen gegenüber dem Küchenessen, die oftmals enttäuscht wurden. Vielfach sei geklagt worden, so war in der Berliner Volkszeitung weiter zu lesen, dass die Menge des Fleisches und der Kartoffeln nicht im Verhältnis zu den zuvor abgegebenen Fleisch- und Kartoffelmarken stünden.459 Viele Volksspeisungsgäste fühlten sich benachteiligt und beschwerten sich: »Wo bleibt das Fleisch in dem Essen? Wenn man die Schnipsel, die man ab und zu in dem Essen findet, auf die Woche zusammenrechnet, fehlt wenigstens die Hälfte von dem, was man nach den Abtrennungen der Fleischkarte zu beanspruchen hätte. Wo bleibt es? […] Kommt überhaupt soviel Fleisch in die Kessel wie hineingehört?«460 Die Unzufriedenheit der Beschwerdeführenden mit den »Hungerküchen«461 mündete oftmals in den Vorwurf des Dilettantismus. Viele der Mängel seien, so behaupteten die Kritiker, bei fachgerechter Sorgfalt vermeidbar gewesen. Ein Leser des Vorwärts nahm die an ihn abgegebenen »mißhandelten grauen Erbsen« zum Anlass, seinem Ärger über die fehlende Sachkenntnis in den Küchen Luft zu machen: »Wer beschreibt mir […] mein Entsetzen, als man mir in den Topf eine schwärzliche Brühe schöpfte, in der sich eine Anzahl steinharter grau-brauner – Murmeln tummelte! Ein Blick belehrte mich, den geborenen Ostpreußen, über das, was hier geschehen war: Die Kochkünstler der Massenspeisung hatten aus unseren braven ›grauen Erbsen‹, die sie offenbar nicht kannten, ausgerechnet eine Suppe herstellen wollen, anstatt sie,
457 »Speisenknappheit bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 20. Januar 1917. Vgl. auch die Schilderungen des Stadtverordneten Ritter in der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 364. 458 Vgl. »Die Massenspeisungen«, in: Berliner Volkszeitung, 24. Februar 1917. 459 Vgl. ebd. 460 »Mängel in Berlin«, in: Der Textil-Arbeiter 9, 2. März 1917, S. 35. Ähnliche Ausführungen finden sich auch im Artikel »Die betrübten Feinschmecker«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 19, 5. August 1917. 461 »Speisenknappheit bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 20. Januar 1917.
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wie es sich geziemt, mit saurer und süßer Sauce zuzubereiten! So war unsere hochgeschätzte provinzielle Delikatesse in schnöder Weise verhunzt und eine Menge wertvoller Nahrungsmittel hoffnungslos verdorben worden.«462 Die Köchinnen und Mitarbeiterinnen des NFD, die in den Küchen versuchten, das Beste aus den zur Verfügung stehenden Lebensmitteln herauszuholen, wurden wiederholt für die fehlende Qualität und Quantität des Essens verantwortlich gemacht: »Die Erfinderinnen dieser Rezepte, es sollen Damen aus der Gesellschaft sein, die auf diese Weise sich sozial betätigen, haben sicher noch nicht gekostet, wie die Produkte ihrer Kochkunst schmecken. Warum läßt der Magistrat nicht im Kochen für Massen erfahrene Männer und […] kundige Frauen in den Küchen der Massenspeisung sich betätigen?«463 Für die Volksspeisungskritiker stand fest, dass die Köchinnen und Organisatoren der öffentlichen Küchen nicht nur Amateure, sondern als Teil der gehobenen Gesellschaftskreise, die auf bessere Versorgungsoptionen zurückgreifen konnten464 , auch für die Ungerechtigkeiten in der Nahrungsmittelverteilung verantwortlich waren. Die Auffassung, dass die Hausfrauen unter den Küchengästen mit den in der Volksspeisung »verschwendeten« Nahrungsmitteln besseres Essen hätten zubereiten können, war allgemein verbreitet: »Was hätten unsere Hausfrauen, die zum größten Teil das Kochen verstehen, aus den [Lebens]mitteln, die infolge mangelhafter Organisation und gewiß auch infolge dilettantischer Kochrezepte und unfachgemäßer Zubereitung verdorben sind, zuzubereiten gewußt, wenn man sie ihnen für ihre Küche zur Verfügung gestellt hätte.«465 Viele Nutzer der öffentlichen Küchen verkannten lange die schwierigen Bedingungen, unter denen Heyl und die Frauen des NFD in den Küchen der Volksspeisung seit dem »Kohlrübenwinter« kochten. Auch wenn die Volksspeisung bevorzugt mit Lebensmitteln beliefert wurde, so mussten diese dennoch aus dem allgemeinen Kontingent der Stadt abgezweigt werden.466 Bis in den Sommer 1917 hinein gestaltete sich die Berliner Versorgungslage durchweg schwierig. Ein Jahr nach der Eröffnung der Stadtküchen erreichte die Frequentierung der Volksspeisung im Juli 1917 mit rund 172.000 Teilnehmenden ihren Höchststand. Daniel zufolge war die bevorzugte Belieferung der Massenküchen der maßgebliche Grund für den gestiegenen Zulauf in den Küchen.467 Die in den Stadtküchen verausgabten Lebensmittel fehlten auf dem freien Markt und mit dem anhaltenden
462 »Die mißhandelten ›grauen Erbsen‹, in: Vorwärts, 26. April 1917. Zur Kritik an den Rezepten vgl. auch »Volksspeisung«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 13, 10. Dezember 1916. 463 »Grieß mit Kriegsmus«, in: Berliner Volkszeitung, 14. Mai 1917. 464 Vgl. »Die Klagen über die Berliner Volksspeisung«, in: Vorwärts, 4. November 1917. 465 Ebd. Vgl. auch »Die Massenspeisungen«, in: Berliner Volkszeitung, 24. Februar 1917. Davis zufolge kamen solche Bemerkungen vornehmlich aus den Kreisen des Mittelstandes. Vgl. dies., Home Fires, S. 143. 466 Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 202. 467 Vgl. ebd., S. 204.
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Mangel sank die Möglichkeit des selbständigen Wirtschaftens in den privaten Haushaltungen.
Abbildung 24: Arbeiterinnen in einer Speisehalle der Berliner Volksspeisung (1916)
Foto: Ullstein.
Erst zum Ende des Jahres 1917 war in den Beschwerden häufiger zu lesen, dass die Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung anerkannt wurden.468 Das sparsame, rationelle und einfache Kochen war aufgrund ausbleibender Nahrungsmittel, hoher Lebensmittelpreise und abnehmender Qualität der Grundstoffe für die erforderlichen Speisemengen unvermeidlich.469 Bis in den »Steckrübenwinter« hinein bestanden die Eintopfgerichte der Volksspeisung vornehmlich aus Gemüse, Kartoffeln und Nährmitteln. Gelegentlich gab es auch Hülsenfrüchte und Fisch. Fleisch und Fett waren immer seltener Bestandteile der Suppen. Im Gegensatz zu den Privathaushalten konnte der Großküchenbetrieb noch etwas länger mit Kartoffeln versorgt werden. Doch auch hier wurde die Kohlrübe bald zum Hauptbestandteil der Eintopfgerichte. War die Speisezubereitung in der Großküche ohnehin schon mit dem Verlust wichtiger Nahrungselemente wie Vitamine und Mineralstoffe verbunden, musste die städtische Küche nun auch noch vermehrt auf nährstoffarme Ersatzmittel zurückgreifen.470 Dass die Speisen der Volksspeisung den Mindestbedarf an Nährstoffen deckten, wie er von 468 Vgl. »Volksspeisungsbeschwerden«, in: Vorwärts, 14. November 1917. 469 Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 76. Davis, Home Fires, S. 155. 470 Vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 252. Vgl. auch die Bekanntmachung der Abteilung für Volksspeisung vom 29. Juni 1917, in: Sonntag. Beilage zum Vorwärts, 1. Juli 1917. Sowie »Die schwierigsten Wochen der Volksernährung«, in: Vorwärts, 2. Juli 1917.
III. Metropolen im Krieg
den philanthropischen Küchen der ersten beiden Kriegsjahre verlangt wurde, ist mehr als unwahrscheinlich. Im letzten Kriegsjahr, als längst nicht mehr alle Volksspeisungseinrichtungen in Betrieb waren, thematisierten die Klagebriefe und die aus ihnen hervorgegangenen Zeitungsberichte vorrangig die im Volksspeisungsessen verarbeiteten Streckungsmittel. Die Verzweiflung und Resignation über das öffentliche Essen war inzwischen so stark, dass von den »Volksspeisungsgenüssen« nicht mehr ohne ironischen Unterton berichtet wurde: »Wer seit 1 12 Jahren täglich die Freuden und Leiden der Berliner Massenspeisung durchgekostet hat, dessen Ansprüche sind allmählich auf ein Minimum herabgesunken. […] In der letzten Woche ließ nun das Essen nicht weniger als alles zu wünschen übrig. Am Dienstag gab es reichlich Sand mit Dörrgemüse. Das scheint nicht alle geworden zu sein, denn am Mittwoch erschien der Rest davon mit vereinzelt neu hinzugefügten Mohrrüben. Am Donnerstag standen Fischkartoffeln auf der Speisekarte. Den Gräten nach mochte dies wohl stimmen, Fisch habe ich nicht entdecken können.«471 Den Beschwerden der Volksspeisungsteilnehmer zufolge war der Sand nicht die einzige »unappetitliche Zutat«. Aus dem Essen seien Strohhalme, Bindfäden, Kornähren, Streichhölzer, Haarnadeln und andere »schöne, aber leider ungenießbare Sachen« herausgefischt worden.472 Im April 1918 überzeugte sich ein weiteres Mal ein Journalist von den Behauptungen der Volksspeisungsgäste und pflichtete ihnen in seinem Artikel im Vorwärts bei: »Ich fand Holz, Kohlen, Stroh, Papier, Baumblätter, Frauenhaare, Kautschuk (meine Frau behauptet, es sei Klippfisch!) und noch manches andere.«473 Dem Autor nach schien es keine Portionen ohne Fremdkörper mehr gegeben zu haben. Doch anstatt – wie bis dahin üblich – an das Handeln des Berliner Magistrats zu appellieren, mutmaßte er sarkastisch: »Es liege doch klar zutage, daß der Magistrat durch die Kohlen-, Holz- und Strohbeigaben beabsichtige, die von der Reichskohlenstelle der Einwohnerschaft in viel zu geringem Maße zugeteilten Brennmaterialien zu vermehren. Ich habe schon erkleckliche Häufchen dieser kostbaren Stoffe zu Heizzwecken angesammelt.«474 Die nicht enden wollenden Probleme der Volksspeisung und der Umgang der Stadtverwaltung mit der Kritik ließen das Interesse der Tagespresse, durch die Veröffentlichung der Beschwerden eine »Besserung herbeizuführen«, allmählich schwinden. Es ist anzunehmen, dass nahezu jeder Volksspeisungsbesucher mindestens eines der geschilderten Erlebnisse selbst erfahren hat. Die Beschwerdeführenden waren jedoch nicht die einzigen, die der Volksspeisung kritisch gegenüberstanden. Es gab noch einen anderen und sehr viel größeren Teil der Bevölkerung, der den Besuch der Einrichtung nicht in Erwägung zog. Während der größten Versorgungskrisen im Februar
471 472 473 474
»Von der Massenspeisung«, in: Vorwärts, 23. Februar 1918. Vgl. ebd. Vgl. auch »Volksspeisungsgenüsse«, in: Vorwärts, 2. März 1918. »Vom Gegen der Massenspeisung«, in: Vorwärts, 16. April 1918. Ebd.
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und Juli 1917 besuchten gerade einmal rund neun Prozent der Berliner die Volksspeisung.475 Sowohl vor als auch nach diesen Krisenzeiten lagen die Teilnahmezahlen weit unter 100.000 Personen und somit bei circa drei bis fünf Prozent der Stadtbevölkerung. Diese Entwicklung wurde jedoch nicht nur in der Hauptstadt beobachtet. In Hinblick auf die Verhältnisse im ganzen Reich konstatierte der Volkswirt und Referent im KEA August Skalweit (1879–1960) rückblickend, dass der Zulauf in den deutschen Kriegsküchen in den ersten Monaten des Jahres 1917 am stärksten gewesen sei.476 Und selbst in diesen »schrecklichen« Kohlrübenmonaten sei es stets nur ein kleiner Teil der städtischen Bevölkerung gewesen, der die öffentlichen Küchen in Anspruch genommen habe. Die Sozialdemokratin und Leiterin einer Frankfurter Kriegsküche Henriette Fürth (1861–1938) wertete dies positiv. »Wenn das aber in Kriegszeiten und angesichts einer ungeheuren Teuerung der wichtigsten Lebensmittel sich so verhält«, meinte die in gutbürgerlichen Verhältnissen lebende Frauenrechtlerin im Jahr 1916, »so ist damit der Beweis erbracht, daß mindestens in unserer Zeit die Liebe zum Kochtopf alle noch so großen Annehmlichkeiten anderer Art überwiegt.«477 Die Berliner Sozialdemokraten wiesen unterdessen mehrfach darauf hin, dass die geringe Teilnahme an der städtischen Massenspeisung kein Beweis für ausreichend vorhandene Lebensmittel sei: »Und wenn es noch so knapp zugeht, so weiß sie [die Hausfrau] doch, was in dem von ihr selber gekochten Essen ist und es schmeckt ihr das selbst zubereitete Essen immer besser, als die gekauften fertigen Speisen, es sei denn, daß sie sich etwas besonderes leisten könnte. Dazu gehört aber ein großes Portemonnaie: Und das fehlt, reicht doch das Kostgeld nicht hin und nicht her […].«478 Diejenigen, die auf die städtische Küchenspeisung zurückgriffen, waren größtenteils Kriegerfamilien mit Kindern sowie ledige Arbeiter und Arbeiterinnen, für die sich das Kochen am eigenen Herd oftmals nicht lohnte.479 Doch die mit dem Besuch der Volksspeisung verbundenen Unannehmlichkeiten waren vielen potentiellen Besuchern zweifellos zu groß. Die vorgebrachten Kritik- und Anklagepunkte seitens des Küchenpublikums zeigen, dass die Berliner Stadtküchen in ihrem Dasein im Widerspruch zu den von Wermuth postulierten Zielen standen. Die Volksspeisung zeichnete sich weder durch die Qualität ihrer Speisen aus noch steigerte sie die Akzeptanz der öffentlichen Küchen
475 Bei einer Bevölkerungszahl von rund 1.763.000 Einwohnern nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1916. Siehe hierzu oben Kapitel iii, Anm. 403. 476 Vgl. Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 48. 477 Fürth, Henriette: »Die Zentralküche als Kriegseinrichtung«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 41 (1916), S. 466–474, hier S. 470. 478 »Volksspeisung«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 13, 10. Dezember 1916. »Lebensmittelfragen«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 26, 11. März 1917. 479 Vgl. die Ausführungen des Stadtverordneten Hintze in der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 360. Obwohl die Volksspeisung für jedermann gedacht war, so schienen die Armenfürsorgeempfänger davon ausgeschlossen zu sein, denn diese nutzten weiterhin und in noch stärkerem Maße die Armenküchen. Der Vergleich des Kriegsjahres 1915/16 mit dem Jahr 1916/17 zeigt, dass durchschnittlich pro Tag 1.600 Portionen mehr – insgesamt 9.100 Portionen – abgegeben wurden. Siehe Abb. 16.
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unter den Berlinern. Der ungeschickte Umgang der Stadtverwaltung mit den nicht enden wollenden Problemen und Klagen hatte einen maßgeblichen Anteil an diesem Ergebnis.
2.2.3 »Man kann wohl zufrieden sein«: Berlins Stadtverwaltung zwischen Verteidigung und Resignation Die Anbringung der Beschwerdekästen signalisierte, dass seitens der Verantwortlichen Interesse an den Meinungen der Volksspeisungsteilnehmer vorhanden war. Auch während der Sitzungen des Beirats für Volksspeisung und der Stadtverordnetenversammlung wurden die Beschwerden thematisiert. Dabei waren es in erster Linie die Stadtverordneten der SPD und seit April 1917 auch der USPD, die die Klagen der Volksspeisungsgäste vortrugen und sich in aller Deutlichkeit für eine Verbesserung der Verhältnisse in den Küchen einsetzten. Dabei nahmen sie stets zur Kenntnis, unter welch schwierigen Versorgungsbedingungen das städtische Großküchenunternehmen geführt wurde. Man könne aus dem Kessel, wie der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion Hugo Heimann (1859–1950) im März 1917 erklärte, nicht mehr herausholen, als man hineintue.480 Dennoch gab es aus Sicht der Sozialdemokraten allerlei organisatorische Missstände, die von der Verwaltung in Angriff genommen und abgestellt werden sollten. So betonte Heimann in der Stadtverordnetenversammlung: »[…W]as unter keinen Umständen vorkommen dürfte, ist, daß Männer und Frauen, und zwar nicht nur vereinzelt, sondern Dutzende und Hunderte, nicht einmal, sondern wiederholt stundenlang an den Ausgabestellen auf das vorbestellte und vorbezahlte Essen warten und dann den Bescheid bekommen, Essen sei nicht mehr vorhanden […]. Meine Herren, das ist nicht einmal, das ist sehr oft vorgekommen. In unserer Presse sind diese Vorkommnisse wiederholt gerügt worden, ohne daß die Verwaltung augenscheinlich Anlaß genommen hat, sie abzustellen.«481 Der Abteilung für Volksspeisung schien nicht bewusst zu sein, meinten die Sozialdemokraten, welchen Unmut solche Vorkommnisse unter den Küchengästen auslösten. Im Beirat für Volksspeisung machten die sozialdemokratischen Vertreter darüber hinaus deutlich, dass das Betragen und Taktgefühl der Ehrendamen gegenüber den Gästen vielfach zu wünschen übrig ließe. Während des ersten Jahres des Bestehens der Volksspeisung wurden derlei Klagen von den Verantwortlichen noch weitgehend als berechtigt anerkannt.482 Gleichwohl versuchte Doflein die Probleme kleinzureden. In der Stadtverordnetenversammlung gab er zu verstehen, dass die geschilderten Vorfälle im Verhältnis zu dem, was die Volksspeisung täglich leiste, nicht ins Gewicht fallen würden. Es sei natürlich bedauerlich für die Betroffenen, wenn in einer Woche bis zu 500 Menschen kein Essen erhielten, rechtfertigte sich der Berliner Volksspeisungschef, aber in Anbetracht
480 Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 15. März 1917«, Nr. 6, in: Stenographische Berichte 44/1917, S. 105–124, hier S. 115. 481 Ebd. 482 Vgl. »Aus dem Beirat für Massenspeisung«, in: Vorwärts, 8. März 1917. »Die Massenspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 10. März 1917. »Dritter Berliner Kriegsetat«, in: Vorwärts, 16. März 1917.
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der Tatsache, dass in dem hiesigen Unternehmen in der gleichen Woche über eine Millionen Portionen zur Ausgabe gelangen, könne so etwas einmal vorkommen.483 Den Vorwurf, die Stadtverwaltung kümmere sich nicht um die Behebung der Missstände, wies er vehement zurück. Oftmals aber beließen es Doflein und der Magistrat bei der notgedrungenen Anerkennung der vorgebrachten Klagen. Hinsichtlich der vielfach geäußerten Beschwerden über die Qualität der Speisen reagierten die Verantwortlichen stets mit der Redensart, dass die Geschmäcker verschieden seien.484 Dass daran anschließend selten Vorkehrungen zur Abstellung der Mängel getroffen werden konnten und wurden, war größtenteils auf die Handlungsunfähigkeit der Verwaltung als Folge der erschwerten Lebensmittelversorgung zurückzuführen. Seitens der Verantwortlichen wurde wiederholt die ungleichmäßige Verteilung der Ressourcen zwischen Stadt und Land als Ursache für die Missstände in der Hauptstadt und in deren Küchen vorgebracht.485 »Der Magistrat sagt«, schrieb das Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, »er müsse nehmen, was ihm zugewiesen wird und muss davon ein Mittagessen herstellen lassen. Seine Schuld wäre es nicht, wenn das Essen nicht anders wäre.«486 In den wenigen Fällen, in denen Maßnahmen ergriffen wurden, waren diese zum einen vorrangig im Interesse der Verwaltung und zum anderen nur möglich, weil sie von den kommunalen Versorgungsengpässen nicht berührt wurden. So erklärte sich der Magistrat im Februar 1917 bereit, die Bindung der Volksspeisungsteilnehmer an bestimmte Essensausgabestellen aufzuheben. Im Interesse der Arbeiter und Angestellten, die es während der Öffnungszeiten nicht zu ihrer Ausgabestelle schafften, führte die Stadt gesonderte Speisebezugsscheine ein, die eine Freizügigkeit in der Wahl der Einrichtungen zuließen.487 An anderer Stelle versuchte der Volksspeisungsbeirat, im Rahmen einer Versammlung mit den in der Volksspeisung ehrenamtlich tätigen Frauen das Problem der Speiseknappheit in den Ausgabestellen in Angriff zu nehmen. Damit angemeldete Teilnehmer künftig nicht mehr hungrig weggeschickt werden mussten, mahnte Doflein zur gewissenhaften Durchführung der Vorschriften: Die zu verabreichenden Speisemengen seien genau zu bemessen und unangemeldete Personen unerbittlich abzuweisen.488 Dass einige Personen ohne Anmeldung die Küchen aufsuchten, hing nach wie vor mit dem recht komplizierten Karten- und Markensystem zusammen, mit dem zahlreiche der im Winter 1916/17 neu hinzugestoßenen Teilnehmer noch nicht vertraut waren. Auf den vermehrten Zudrang Anfang des Jahres 1917, der vermehrt zu Klagen über lang-
483 Vgl. Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 15. März 1917, S. 122. 484 Vgl. »Klagen über die Berliner Volksspeisung«, in: Vorwärts, 27. März 1917. Vgl. auch Dofleins Beitrag in der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 362. 485 Vgl. »Städtische Massenspeisungen«, in: Berliner Tageblatt, 7. Juli 1916. »Die Massenspeisung für Berlin«, in: Vorwärts, 7. Juli 1916. »Wie steht’s mit der Massenspeisung?«, in: Berliner Volkszeitung, 13. August 1916. »Berlins Volksspeisungen«, in: Vossische Zeitung, 13. August 1916. Vgl. auch Davis, Home Fires, S. 153. 486 »Die betrübten Feinschmecker«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 19, 5. August 1917. 487 Vgl. »Das muß endlich anders werden«, in: Vorwärts, 6. Februar 1917. 488 Vgl. »Die Schwierigkeiten der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 5. Februar 1917.
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andauernde Abfertigungen in den Ausgabestellen führte, reagierte der Magistrat außerdem mit einer Vermehrung der Abholorte und des Personals.489 Das viel kritisierte Missverhältnis zwischen der Abgabe der Lebensmittelkarten und der tatsächlich verabreichten Speisemengen stand, mit Ausnahme der anfänglich von den sozialdemokratischen Stadtverordneten geforderten Verringerung der anzurechnenden Fleisch- und Kartoffelkarten, zu keinem Zeitpunkt zur Debatte.490 Durch die zunehmende Lebensmittelknappheit wurde vielmehr in Erwägung gezogen, noch weitere Nahrungsmittel mit der Abgabe von Karten auf die Volksspeisung anzurechnen. Die Vertreter des Magistrats und die Mitglieder des Beirats für Volksspeisung wandten sich aber, wie der Vorwärts verkündete, mit Entschiedenheit gegen eine solche Maßnahme, da ein erheblicher Rückgang der Teilnahmezahl befürchtet wurde.491 Doch umgekehrt wurde auch nicht in Betracht gezogen, einen separaten Bezugsschein für das Volksspeisungsessen einzuführen. Damit lieferte das Volksspeisungssystem nicht nur eine weitere Hürde, sondern auch den wohl größten Hinderungsgrund für die Berliner, auf die öffentliche Küche zurückzugreifen: »Die kostbaren Rationierungskarten für Wochenrationen von Fleisch und Kartoffeln gegen einen Bezugsschein für Eintopf einzutauschen«, so Allen, »bedeutete für viele Menschen ein Risiko, das sie nicht eingehen wollten.«492 Nicht nur die Zweifel der Sozialdemokraten wurden bestätigt – auch ein Schöneberger Stadtrat warnte die Organisatoren der Volksspeisung bereits vor der Eröffnung der Küchen, dass das Wochenabonnement eher ein Abschreckungsmittel als ein Mittel der Erleichterung sei.493 Nach einem Jahr der praktischen Durchführung der Massenspeisung musste die Berliner Verwaltung ihrem weiteren Handeln nach zu urteilen zu der Einsicht gekommen sein, dass die Probleme der Volksspeisung unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht lösbar waren. Die Versorgungsschwierigkeiten der Hauptstadt riefen Maßnahmen auf den Plan, die Doflein, seine Magistratsabteilung und die Volksspeisung noch schlechter dastehen ließen. So erfolgten unter anderem das Verbot des sogenannten Nachverkaufs der in den Ausgabestellen übrig gebliebenen Speisen und
489 Vgl. »558. Beschlussfassungsvorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 20. Oktober 1917«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 33 (1917), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1918, S. 536–538, hier S. 537. Um die unzureichende personelle Ausstattung zu verbessern, wandte sich die Abteilung für Volksspeisung u.a. an die Vermittlungsstelle für Einstellung von Hilfsdienstpflichtigen im Militärbüro des Magistrats. Hierzu vgl. die Schreiben Dofleins an das Generalbüro zwischen Januar und März 1917. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1054, Bl. 28–31. Auch in der Presse erschienen Aufrufe zur ehrenamtlichen Mitarbeit in der Volksspeisung. Vgl. »Bekanntmachung. Städtische Volksspeisung«, in: Vorwärts, 31. Januar 1917. 490 Vgl. »Die Massenspeisung für Berlin«, in: Vorwärts, 7. Juli 1916. 491 Vgl. »Von der Massenspeisung«, in: Vorwärts, 23. September 1917. »Die Schwierigkeiten der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 5. Februar 1917. 492 Allen, Hungrige Metropole, S. 76. 493 Vgl. die Ausführungen des Schöneberger Stadtrats Stein (nähere Informationen zur Person sind nicht bekannt) im Rahmen der Tagung der Zentralstelle für Volkswohlfahrt in Gemeinschaft mit dem Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen am 3. und 4. Juli 1916, in: Praktische Durchführung von Massenspeisungen. S. 112–113, hier S. 113. Sowie »Die Durchführung der Massenspeisung«, in: Vorwärts, 5. Juli 1916. Vgl. auch Allen, Hungrige Metropole, S. 76.
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die Erhöhung der Portionspreise auf 25 bzw. fünfzig Pfennig.494 Letztere versuchten vor allem die Stadtverordneten der USPD495 zu verhindern. Sowohl im Volksspeisungsbeirat als auch in der Stadtverordnetenversammlung brachte der Stadtverordnete Hintze seine Bedenken zum Ausdruck. Weite Kreise der Bevölkerung seien ihm zufolge der Ansicht, dass das in der Volksspeisung verabreichte Essen nicht mehr wert sei als vierzig Pfennig.496 Die Preiserhöhung, die vom Magistrat aufgrund der gestiegenen Mehrausgaben anvisiert wurde, werde eine noch »größere Flucht« der Kostgänger und demzufolge weiter steigende Nebenkosten zur Folge haben. Hintze appellierte an den Magistrat, die zunehmenden Mehrkosten der Volksspeisung nicht auf die arme und arbeitende Bevölkerung abzuwälzen. Kriegsmaßnahmen wie die Massenspeisung erforderten Opfer und diese müssten nach Ansicht der USPD von der Stadt erbracht werden. Unterstützung erhielt Hintze aus den Reihen der MSPD, die sich mehrheitlich gegen eine Erhöhung der Mittagessenspreise aussprach. Der Genosse Ritter, der sich im Volksspeisungsbeirat noch für eine Preiserhöhung aussprach und diese damit nach Meinung der Unabhängigen Sozialdemokraten erst möglich gemacht habe,497 sprang Hintze in der Stadtverordnetenversammlung bei und stellte im Namen seiner Fraktion klar: »[… Die] Maßnahme der Massenspeisung geht ja, wie wir alle wissen, nicht aus der Initiative des Magistratskollegiums, sondern von der Reichsregierung aus, und wenn der Magistrat und wir als Stadtverordnete erklären, nicht in der Lage zu sein, diese Kosten 494 Vgl. »Die ›sparsame‹ Volksspeisung«, in: Vorwärts, 7. Mai 1917. »Die Massenspeisung wird teurer«, in: Tägliche Rundschau, 25. September 1917. Vgl. auch Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 359–367. 495 Entgegen der allgemeinen Entwicklung innerhalb der Berliner Sozialdemokratie, in der die Mehrheit der Mitglieder zur USPD wechselte, verblieb der überwiegende Teil der sozialdemokratischen Stadtverordneten in der auf 24 Mitglieder geschrumpften (M)SPD-Fraktion um Heimann, darunter auch der Stadtverordnete Ritter. Zur neuen 21-köpfigen Unabhängigen Sozialdemokratischen Fraktion gehörte neben Weyl u.a. auch der Stadtverordnete Hintze. Vgl. Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin 1918, Berlin 1918, S. 60. Hierzu siehe auch Kapitel iii, Anm. 16. 496 Vgl. Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 360f. 497 Bevor die Stadtverordnetenversammlung über die vom Magistrat beabsichtigte Preiserhöhung in Kenntnis gesetzt wurde, wurde diese im Beirat für Volksspeisung beschlossen. Während Hintze als Entsandter der USPD gegen die Erhöhung der Speisepreise stimmte und der Gewerkschafter Körsten sich der Stimme enthielt, stimmten der Mehrheitssozialdemokrat Ritter sowie alle anderen Beiratsmitglieder für die Verteuerung des Volksspeisungsessens. Ritter, so ein USPD-nahes Blatt, »stellte sich auf den Standpunkt, daß es ungerecht sei, die über die Selbstkosten hinausgehenden Beträge auf allgemeines Konto zu nehmen; aus ›Gerechtigkeit‹ müsse er für die Preiserhöhung stimmen.« Hierzu »Verteuerung der Volksspeisung«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 32, Beilage, 4. November 1917. Die Mehrheit der MSPD-Stadtverordneten teilte Ritters Ansicht jedoch nicht und beschloss, sich in der Stadtverordnetenversammlung gegen eine Erhöhung der Preise auszusprechen. Vgl. die Ausführungen Ritters in der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 363. Die Empörung der USPD über das Abstimmungsverhalten Ritters wurde vom MitteilungsBlatt wiederholt aufgegriffen. Vgl. u.a. »Groß-Berliner Chronik«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 27, 30. September 1917. »Berliner Stadtverordneten-Wahlen«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 4, Beilage, 28. April 1918.
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mehr tragen zu können, andererseits aber auch der Auffassung sind, die wirtschaftlich schwachen Kreise nicht zu belasten, dann wäre es nur ein Akt der Gerechtigkeit, daß das Reich diesen Ausfall zahlt; denn durch das Reich selbst sind wir alle in diese schweren Verlegenheiten, in denen wir uns wirtschaftlich befinden, gekommen.«498 Die Vertreter der bürgerlichen Fraktionen, die das Vorhaben des Magistrats unterstützten, waren jedoch der Auffassung, dass die Aufrechterhaltung der bisherigen Portionspreise der Volksspeisung »den Stempel der Wohltat« aufdrücke.499 Entgegen der Meinung der sozialdemokratischen Fraktionen waren die Bürgerlichen überzeugt, dass es vor allem der Mittelstand sei, der die Volksspeisung aufsuche. Auch verdiene die Arbeiterschaft inzwischen so gut, dass sie sich eine Erhöhung der Portionskosten leisten könne.500 Eine Steigerung der Besucherzahlen konnte durch solche Maßnahmen und die zugleich waltenden Missstände in den Verpflegungseinrichtungen nicht erreicht werden. Das wusste auch die Leitung der Volksspeisung. Erneut spielte Doflein die Vorwürfe gegen die städtischen Küchen herunter. Eine geringe Inanspruchnahme der Volksspeisung sei ein gutes Zeichen für die Lage auf dem Lebensmittelmarkt. Und mit den Leistungen der Volksspeisung könne man, wie der Stadtrat wiederholt erklärte, wohl zufrieden sein. Er bestritt, dass die Speisen der Volksspeisung unappetitlich aussähen und betonte, dass die Küchen »mit absoluter Reinlichkeit« arbeiteten.501 Es sei keine Kleinigkeit innerhalb eines Jahres mehr als 33 Millionen Portionen herzustellen und zur Verteilung zu bringen. Hierbei würdigte Doflein die Leistungen der Ehrendamen und freiwilligen Arbeitskräfte, die das Riesenunternehmen täglich pflichtbewusst und unermüdlich unterstützten. Während die bürgerlichen Fraktionen den Ausführungen des Volksspeisungschefs beipflichteten, verwies Ritter erneut auf die zahlreichen »unliebsamen Erfahrungen«, die die Berliner Bevölkerung und auch Teile des Personals jüngst mit den Ehrendamen in den Küchen gemacht habe. »Namens meiner Freunde muß ich erklären«, so der Mehrheitssozialdemokrat, »daß wir uns diesem Dank an die Ehrendamen leider nicht vollinhaltlich anschließen können.«502 Schon länger beanstandeten die Sozialdemokraten den geringen Einfluss des »Arbeiterelements« in den Küchen. »[…E]s sind uns Fälle bekannt, wo Genossinnen, die sich opferwillig zur Speiseausgabe zur Verfügung gestellt hatten, so nach und nach herausgedrängelt worden sind«503 , kritisierte das MitteilungsBlatt bereits im Dezember 1916. Zugleich bekräftigte Ritter erneut die Vorwürfe der Lebensmittelverschwendung und zu hohen Kartenanrechnung in der Volksspeisung, denen Doflein und die Volksspeisungsorganisatoren wiederholt mit ihrem Mantra, dass keine Hausfrau für fünfzig Pfennig einen Liter schmackhaftes Essen herstellen könne,
498 Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 363. 499 Vgl. »Die städtische Volksspeisung«, in: Vossische Zeitung, 26. Oktober 1917. 500 Vgl. die Ausführungen der bürgerlichen Stadtverordneten Karl Thieme (1856–1932) und Richard Unger (1866–1947) in der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 364ff. 501 Vgl. ebd., S. 365. Vgl. u.a. auch »Die Verteuerung des Volksküchenessens«, in: Vorwärts, 26. Oktober 1917. »Speisenknappheit bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 30. Oktober 1917. 502 Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 364. 503 »Volksspeisung«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 13, 10. Dezember 1916.
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begegneten.504 Entgegen den Behauptungen vieler Hausfrauen, mit den Lebensmitteln ungekocht etwas Besseres anfangen zu können, waren einige Massenspeisungsexperten davon überzeugt, dass die Frauen nicht genug von der Ernährung verstünden, um unter den gegebenen schwierigen Bedingungen zu kochen.505 Das Verharmlosen der Vorwürfe führte dazu, dass auch die Presse allmählich das Interesse verlor, sich für die Berliner Volksspeisung und ihre Verantwortlichen stark zu machen. Bis zum Frühjahr 1917 verbanden viele Autoren die Kritik der Küchenbesucher mit dem Ziel, auf die Mängel aufmerksam zu machen, um somit eine Verbesserung der Verhältnisse herbeizuführen. Der Kritik an der Volksspeisung wurden oft auch die Bedingungen gegenübergestellt, unter denen die städtischen Küchen arbeiteten.506 Am Ende des Jahres 1917 aber waren in der Presse kaum noch verteidigende Worte zu finden. Der Vorwärts veröffentlichte einige Artikel, die Doflein und den Magistrat in aller Deutlichkeit maßregelten: »Warum diejenigen, die diese Einrichtung in Anspruch nehmen müssen, nicht mit ihr zufrieden sind, ist im ›Vorwärts‹ oft und immer wieder gezeigt worden. Bei manchen dieser Mängel weiß man wirklich nicht, was man dazu sagen soll, daß die beklagten Mißstände immer noch nicht ganz beseitigt sind. Soll es unmöglich sein, zu verhüten, daß Speisungsteilnehmer trotz vorheriger Anmeldung und Bezahlung mit leeren Töpfen heimgehen müssen, weil das für die Speisenausgabestellen gelieferte Essen nicht reicht? Es ist doch geradezu ein Skandal, daß solche Vorkommnisse, die nur aus Mangel an Umsicht zu erklären sind, sich immer noch wiederholen.«507 Im Einklang mit den Klagen seiner Leserschaft und Küchenbesucher rügte das Blatt den amtlichen Leiter der Volksspeisung: »Es ist sehr bequem, die immer wiederkehrenden Klagen über Mängel der Berliner Volksspeisung abzutun mit der Antwort, daß man von ihr in Anbetracht des Portionenpreises und der Betriebsschwierigkeiten doch auch nichts Uebertriebenes fordern dürfe. […] In der Stadtverordnetenversammlung erklärte Stadtrat Doflein, die Volksspeisung gebe in ihren Speisen den vollen Betrag der entnommenen Kartenabschnitte und womöglich noch mehr. Ach nein, da kennt er die von ihm geleitete Volksspeisung schlecht.«508
504 Vgl. ebd., S. 365. Sowie »Die Massenspeisungen«, in: Berliner Tageblatt, 13. Juli 1916. »Die Berliner Ernährung«, in: Vorwärts, 13. Januar 1918. 505 Ein bedeutender Vertreter dieser Ansicht war auch der Gewerkschaftsvertreter und Befürworter der obligatorischen Großküche Theodor Thomas (1876–1955) aus Frankfurt a.M., vgl. Davis, Home Fires, S. 150f. 506 Vgl. »Die Massenspeisung«, in: Vorwärts, 27. Juli 1916. »Wie steht’s mit der Massenspeisung?«, in: Berliner Volkszeitung, 13. August 1916. »Die Massenspeisungen«, in: Berliner Volkszeitung, 24. Februar 1917. »Aus dem Beirat für Massenspeisung«, in: Vorwärts, 8. März 1917. »Klagen über die Berliner Volksspeisung«, in: Vorwärts, 27. März 1917. 507 »Speisenknappheit bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 30. Oktober 1917. Vgl. u.a. auch »Die Klagen über die Berliner Volksspeisung«, in: Vorwärts, 4. November 1917. »Noch länger hätte sie warten sollen?«, in: Vorwärts, 17. November 1917. »Volksspeisungszugaben«, in: Vorwärts, 28. Mai 1917. 508 »Volksspeisungsbeschwerden«, in: Vorwärts, 14. November 1917.
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Der Volksspeisungschef und die Berliner Verwaltung zogen es inzwischen jedoch vor, sich nicht mehr zu den Vorwürfen zu äußern. Da die Verantwortlichen der Volksspeisung die Missstände in den Küchen stets mit der städtischen Notlage entschuldigten und dafür mehr Verständnis von den Küchenbesuchern erwarteten, mussten sie sich umgekehrt den Vorwurf gefallen lassen, nicht zu wissen, was es bedeutete, ein hungernder Volksspeisungsteilnehmer zu sein. Während im Laufe des letzten Kriegsjahres der Betrieb in den ersten Zentralküchen aufgrund der gesunkenen Teilnahmezahl eingestellt wurde, waren die Verantwortlichen immer seltener bereit, die anhaltenden Klagen als berechtigt anzuerkennen. Die sozialdemokratischen Fraktionen im Stadtparlament machten sich kaum noch die Mühe auf eine Veränderung der Verhältnisse in den Speisebetrieben zu drängen. Die Unabhängigen Sozialdemokraten um Weyl hielten das Essen der Volksspeisung inzwischen für schlichtweg unzumutbar.509 Demgegenüber gaben die bürgerlichen Stadtverordneten zu erkennen, dass sie es besser wüssten. Den Magistrat unterstützend lieferte der liberale Stadtverordnete der Freien Fraktion Karl Mommsen (1861–1922) ein ganz anderes Bild von den städtischen Massenküchen. Er bedauerte die Haltung der USPD und konstatierte, dass es nicht die unzufriedene Arbeiterbevölkerung war, die auf die Volksspeisung angewiesen sei: »Daß eine solche Einrichtung natürlich noch einzelne Mängel hat, ist ganz klar. Aber ich kann Ihnen aus meiner Kenntnis sagen, daß sehr viele Leute aus den gebildeten Schichten in der Massenspeisung, seit sie besteht, dauernd essen, und daß sie an sich durchaus zufrieden sind. Freilich ist es nicht so, wie sie es im Frieden gewohnt waren […]. Aber mir ist es gerade aufgefallen, daß diejenigen Leute, die dauernd die Massenspeisung benutzt haben, sehr viel besser aussehen als wir anderen. […E]s ist nicht möglich, in der Massenküche es jedem Geschmack recht zu machen; aber das dürfen wir doch wohl feststellen, daß, soweit es menschenmöglich ist, das Essen aus der Massenspeisung an sich nahrhaft und gut ist […].«510 Während die Verordneten der sozialdemokratischen Fraktionen Mommsens Ausführungen mit Heiterkeit zur Kenntnis nahmen, pflichteten ihm die Linksliberalen bei. Auch ihrer Ansicht nach sei das Essen gut, wohlschmeckend und sättigend.511 Sarkastisch berichtete der Vorwärts im Anschluss an die Stadtverordnetenversammlung: »Merkt’s euch, ihr Unzufriedenen! Ihr dürft das Essen der Berliner Volksspeisung nicht mehr tadeln! Ihr wollt behaupten, daß es nicht besonders schmeckt und nicht viel wert ist? Gegen solche Verunglimpfungen der Volksspeisungsgenüsse hat […] der Bankdirektor Mommsen sehr entschieden Einspruch erhoben. Er selber hat wohl noch nicht versucht, sich aus der Volksspeisung zu beköstigen. Wenigstens sagte er davon nichts, und er hat es auch gewiß nicht nötig […]. Der Stadtverordnete Rechtsanwalt Roßbach 509 Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 21. März 1918«, Nr. 7, in: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, Ausgabe 45 (1918), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1919, S. 113–134, hier S. 129f. 510 Ebd., S. 130. 511 Vgl. ebd., S. 131.
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[…] versicherte, er esse bei der Berliner Volksspeisung schon seit ihrem Bestehen bis auf den heutigen Tag mit. Man erfuhr allerdings nicht, ob er Tag für Tag zu Mittag weiter nichts als seine Portion aus der Volksspeisung zu sich nimmt. Und wie ist es ihm bekommen? Er könne die Speisen als nahrhaft und schmackhaft empfehlen […]. Nun wißt ihr’s genau, ihr Unzufriedenen! Nehmt euch ein Beispiel an diesem Unerschrockenen und schluckt, was man euch vorsetzt!«512 Den bürgerlichen Fraktionen, die es vorzogen, die Verhältnisse in den Küchen schön zu reden, gelang es ganz offensichtlich nicht, sich mit den Nöten der verzweifelten Berliner zu identifizieren. Letztere trugen ihre Frustration immer häufiger offen zur Schau. Hedwig Heyl, die anders als die resignierende Stadtverwaltung noch immer tagtäglich »angestrengt« versuchte, das Beste aus den wenigen vorhandenen Lebensmitteln herauszuholen, bekam die Wut der aufgebrachten Massen deutlich zu spüren, als während ihrer Großküchenbesuche Steine in ihr Auto flogen.513 Seit dem Frühjahr 1917 hatte der Ärger mit der Volksspeisung einen wesentlichen Anteil an der allgemein vorherrschenden Unzufriedenheit der Stadtbevölkerung mit der Versorgungssituation. Die uneinsichtige und zum Teil unbekümmerte Haltung der bürgerlichen Stadtparlamentarier sowie die passive Umgangsweise der Stadtverwaltung mit den fortwährenden Missständen in den Stadtküchen trugen dazu bei und waren schließlich auch ein maßgeblicher Grund für das Scheitern des Berliner Verpflegungsprojektes. Gleichfalls gilt es nochmals hervorzuheben, dass der Handlungsspielraum des Magistrats von Anfang an begrenzt war. Wie Wermuth im Sommer 1916 zu Recht befürchtete, erhielt die Berliner Administration von den staatlichen Behörden nicht die Unterstützung, die sie für ein erfolgreiches Gelingen der Massenverpflegung benötigte. Die erforderlichen Lebensmittellieferungen der zuständigen Oberbehörden erhielt Berlin oftmals in unzureichendem Umfang. Zugleich sah sich die Stadtverwaltung seit Ende 1916 immer häufiger staatlichen Einmischungsversuchen ausgesetzt, die den Bemühungen der Kommune, eine gerechte und gleichmäßige Verteilung der Lebensmittel zu gewährleisten, zuwiderliefen.
2.3 Staatliche Intervention: Die Sicherung der Rüstungsproduktion und Berlins Selbstverwaltungsansprüche Während die Berliner Verwaltung im Sommer 1916 daranging, das von der Reichsregierung gewünschte Massenspeisungsprojekt umzusetzen, mussten die Militär- und Reichsbehörden allmählich erkennen, dass es um die Nahrungsmittelversorgungslage im kommenden Winter weitaus schlechter stand als erhofft. Erste Agrarstatistiken wiesen darauf hin, dass sowohl die Kartoffel- als auch die Getreideernte weit hinter den Erwartungen zurückblieben.514 Zur gleichen Zeit hatte das Reich die Konsequenzen aus den immensen Verlusten des deutschen Heeres infolge der großen Materialschlachten an der Westfront zu ziehen. Die wachsende materielle Überlegenheit der Entente verlangte nach einer effizienteren Rüstungsproduktion, welche mit dem Hindenburg-Programm eingeleitet wurde. Infolge der vermehrten Rüstungsanstrengungen wuchs das 512 513 514
»Ein zufriedener Volksspeisungsgast«, in: Vorwärts, 23. März 1918. Vgl. Heyl, Hedwig: Aus meinem Leben, Berlin 1925, S. 156. Vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 238.
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Interesse der Militärbehörden an einer umfassenden Massenversorgung.515 Die Oberste Heeresleitung war sich darüber im Klaren, dass sich die Frage der Arbeiterernährung bei den anhaltenden und sich gar verschlechternden Versorgungsbedingungen langfristig zu einem drängenden Problem entwickeln würde, dessen Lösung zeitnah gefunden werden musste. Im Zuge dessen erhielten die Befürworter einer obligatorischen Massenspeisung, zu denen längst nicht mehr nur Vertreter der deutschen Sozialdemokratie gehörten, im Laufe des Herbstes 1916 neuen Auftrieb.
2.3.1 »Der obligatorische Massenkochtopf«: Die Zwangsspeisungsdebatte Angesichts der drohenden Versorgungsnot waren inzwischen auch die Führung der Dritten OHL, einige Vertreter des KEA sowie der Unterstaatssekretär und Vorsitzende der Reichsgetreidestelle Georg Michaelis (1857–1936) zu der Überzeugung gelangt, dass die zwangsweise Versorgung aus dem Einheitstopf eine gangbare Lösung im Umgang mit den Lebensmittelengpässen darstellte.516 »Die Argumente für eine solche vollständige Ersetzung der privaten durch eine vergesellschaftete Nahrungsmittelkonsumtion«, erklärt Daniel, »waren vor allem der Fettmangel, der den Einzelhaushalten die Zubereitung der Speisen immer mehr erschwerte, die Probleme der Einzelhaushalte bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, die notorische Ungleichheit der Verteilung infolge des Schwarzmarktes sowie der von einer Zentralisierung erhoffte sparsame Verbrauch.«517 Zahlreiche Befürworter verbanden mit einer »Zentralisation der städtischen Haushaltungen«518 in erster Linie ökonomische Vorteile. Michaelis war überzeugt, dass die Nötigung sämtlicher Einwohner zur Teilnahme an der Massenspeisung ein Ausreichen der vorhandenen Vorräte sichere.519 Vereinzelte Fürsprecher der Zwangsmassenspeisung sahen in der obligatorischen Großküche aber nicht nur die Möglichkeit, den Gesamtvorrat an Nahrungsmitteln zu strecken. Nach Ansicht des Nationalökonomen Richard Calwer (1868–1927) konnte mit der obligatorischen Massenspeisung die bestehende Zwangsbewirtschaftung überwunden werden. Die Ursachen der Ernährungsprobleme lagen seiner Einschätzung zufolge in der Unterbindung der freien Preisbildung und in den Fehlern der bisherigen Verteilungspolitik, die vor allem durch eine »mechanische Zuteilung« der Nahrungsmittel gekennzeichnet war.520 »Die Massenspeisung ist die letzte Konsequenz der bisherigen verkehrten Wirtschaftspolitik, aber zugleich auch das einzig mögliche Mittel,« meinte Calwer, »um ohne Gefahr
515 516
Hierzu oben Kapitel iii, Abschnitt 1.2.2. Vgl. auch Roerkohl, Hungerblockade, S. 238f. Vgl. Davis, Home Fires, S. 146f. Vgl. auch Roerkohl, Hungerblockade, S. 239. Yaney, The World, S. 117. Sowohl Davis als auch Roerkohl haben die Debatte um die Zwangsmassenspeisung in ihren Forschungsarbeiten umfassend aufgearbeitet. Mit Ausnahme stellenweiser Ergänzungen sind die folgenden Ausführungen eine weitgehende Zusammenfassung der Ergebnisse beider Autorinnen. 517 Daniel, Arbeiterfrauen, S. 202. 518 Nach Engelhardt, Elisabeth: Die Zentralisation der städtischen Haushaltungen. Das Problem der Massenspeisung der Städte, München 1916. 519 Vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 239. 520 Vgl. ebd., S. 235. Vgl. auch Calwer, Richard: Die Ernährung der städtischen Bevölkerung im Winter 1916/17, Berlin 1917, S. 5. Ferner Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 44.
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für die Ernährung der städtischen Bevölkerung wieder aus der Sackgasse herauszukommen, in die wir durch eine falsche Wirtschaftspolitik hineingeraten sind.«521 Hinsichtlich der Umsetzung der Zwangsspeisung plädierte Calwer mit Blick auf die »physiologische Verschiedenheit der Verbraucherschichten« für die Einführung eines Dreiklassensystems wie es sich z.B. in militärischen Kreisen bereits bewährt hatte. Hierzu hebt Davis hervor: »In army mess halls the differentiation of quantity and especially quality of food by status was carefully preserved; in the navy, this was all the more the case. The system of specifically lower middle-class and functionary kitchens, both private and public, made great efforts to offer material acknowledgement of the relation between status and food.«522 Mit der Forderung nach einer Klassifizierung der Verbrauchergruppen nach Einkommen unterschieden sich Calwer und andere Befürworter einer mehrklassigen Zwangsspeisung wiederum von all jenen, die die obligatorische Massenspeisung primär aus sozialpolitischen Gesichtspunkten forderten. Den sozialdemokratischen Befürwortern der zwangsweisen Massenverpflegung ging es – wie an anderer Stelle bereits gezeigt wurde – vorrangig um die gerechte und gleichmäßige Verteilung der Nahrungsmittel. »In dem Augenblick, wo jeder an der Massenspeisung teilnehmen muß, kann sich niemand durch die Teilnahme entwürdigt fühlen.«523 , wiederholte der Vorwärts die Position der SPD zur Zwangsmassenspeisung im Dezember 1916. Nach wie vor war man sich in den Reihen der Sozialdemokratie sicher: »[… W]enn die Besitzenden an der Speisung teilnehmen müssen, wird das Essen überall gut werden!«524 Seit der Einführung der Volksspeisung im Sommer 1916 hatten die Klagen und die Unzufriedenheit über die anhaltenden Ungleichheiten in der Lebensmittelverteilung in den Berliner Arbeiterkreisen weiter zugenommen. Häufiger als zuvor kam es in Berlin zu Hungerkrawallen. Die beunruhigenden Berichte über die aufrührerischen Zustände in der Hauptstadt waren letztendlich ein bedeutender Antrieb der Militärbehörden, die Zwangsmassenspeisung zu forcieren. »Spurning the disorder on the homefront,« so Davis, »the new military authorities sought means to exercise their control on civilians.«525 Auf militärischer Ebene wurde erkannt, stellt Davis mit Blick auf die gegen Ende des Jahres 1916 aufgezeichneten Tagebucheinträge des Generalleutnants Groener fest, wie sehr ein erfolgreicher Ausgang des Krieges inzwischen von der Lösung der »Arbeiterfrage«, der äußerst schlechten Stimmung in der Bevölkerung und der Entscheidung über weitreichende ernährungswirtschaftliche Interventionsmaßnahmen abhängig war.526 Schließlich war es der Druck der Militärbehörden, der das KEA im Herbst 1916 veranlasste, sich der Frage der Massenspeisung und ihrer künftigen Ausgestaltung im Deutschen Reich eingehend anzunehmen. Der Chef des KEA Batocki wusste, dass
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Calwer, Die Ernährung, S. 30. Davis, Home Fires, S. 152. Vgl. auch Calwer, Die Ernährung, S. 45ff. »Kommt die Zwangsmassenspeisung?«, in: Vorwärts, 12. Dezember 1916. Ebd. Davis, Home Fires, S. 147. Vgl. auch ebd., S. 148f. Vgl. ebd., S. 149.
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er auf die Kooperation mit den deutschen Kommunen angewiesen war, wenn er einen »schnellen und effektiven Ausbau der öffentlichen Gemeinschaftsverpflegung«527 zu Wege bringen wollte. Von vornherein setzte er auf die Zusammenarbeit und Beratungsbereitschaft der Städte, die sich wiederum klar gegen die Zwangsküche positionierten. Die Ablehnung eines »Reichsmittagessens« seitens der Kommunen rührte, wie Roerkohl darlegt, vor allem aus der Unzuverlässigkeit regelmäßiger Lebensmittellieferungen für die Küchen und das Fehlen einer bevorzugten Zuteilung der Lebensmittel durch die Zentralstellen.528 Die Städte lehnten Zwangsmaßregeln, die lokale Besonderheiten außer Acht ließen, ab und befürchteten darüber hinaus eine weitere finanzielle Belastung, da die anfallenden Kosten bei der Umsetzung der Massenverpflegung nur teilweise von staatlichen Zuschüssen gedeckt wurden.529 Weder die volkswirtschaftlichen noch die sozialpolitischen Gründe für die Zwangsmassenspeisung überzeugten die deutschen Kommunen. Um die Bereitschaft der Gemeinden zur Zusammenarbeit mit dem KEA zu erhöhen, signalisierte Batocki gegenüber dem Deutschen Städtetag, dessen Vorsitzender seit 1912 Wermuth war, dass er die obligatorische Massenspeisung als letztes Mittel betrachtete. Zugleich machte er deutlich, dass dem KEA dennoch daran gelegen war, die Gemeinschaftsverpflegung in Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern und Gemeinden mit starker Munitions- und Rüstungsindustrie durchzusetzen.530 Im Rahmen seiner Beratungen mit den Sachverständigen der deutschen Kommunen verwarf das KEA schließlich sämtliche Pläne zur Einführung der Zwangsküche, da sie eine viel zu gravierende Umstellung der städtischen Ernährungsverhältnisse bedeutete.531 Die Versorgung im städtischen Haushalt hätte vollständig durch die öffentliche Küchenspeisung ersetzt werden müssen. Die technischen Bedingungen ließen dies jedoch nicht zu. Kein Speisesystem in den deutschen (Groß-)Städten war darauf ausgerichtet, jeweils die gesamte städtische Bevölkerung zu versorgen. Wäre die Zwangsmassenspeisung in den Kommunen durchführbar gewesen, hätte sie wiederum den Gegensatz zwischen der städtischen und der ländlichen Ernährungsweise weiter verschärft.532 »Doch nicht nur zwischen Stadt und Land, auch zwischen Arm und Reich wäre«, so Skalweit, »die soziale Verbitterung vertieft worden.«533 Entgegen der Hoffnungen der sozialdemokratischen Befürworter der Zwangsspeisung, mit der öffentlichen Massenküche mehr Gleichheit in der Ernährung der Großstädter zu erreichen, hätte sie, wie Skalweit darlegt, eine »krasse Ungleichheit« herbeigeführt: »Wäre doch mit der Auflösung der Einzelhaushaltungen der Anreiz zu illegaler Versorgung mit zusätzlichen Nahrungsmitteln aufs stärkste angestachelt worden. Allzu scharf macht schartig! Der Schleichhandel hätte Mittel und Wege gefunden, den
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Roerkohl, Hungerblockade, S. 240. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 240f. Die Einbeziehung der Selbstversorger und Verbraucher auf dem Lande wurde in der Debatte um die Zwangsküche nicht in Erwägung gezogen. Vgl. Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 45f. Sowie Roerkohl, Hungerblockade, S. 236 und S. 240. Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 46.
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Wohlhabenden eine bessere Ernährung zu gewährleisten als den Minderbemittelten.«534 Da sich nicht alle Lebensmittel bewirtschaften ließen und demzufolge nicht rationierte Waren im Umlauf geblieben wären, konnte der »Einheitstopf für alle« als Zwangsmaßnahme nicht funktionieren. Doch nicht nur das sozialpolitische Argument für die obligatorische Massenküche wurde infrage gestellt. Gleichfalls wurde die ökonomische Zweckdienlichkeit der Massenspeisung angezweifelt. Selbst anerkannte und vom KEA zu Rate gezogene Großküchenexperten wie Hedwig Heyl gaben zu erkennen, dass der »obligatorische Massenkochtopf« nicht den gewünschten Segen brächte.535 Der erfahrenen Berliner Volksspeisungsleiterin zufolge wirtschaftete die öffentliche Küche nicht sparsamer als der Einzelhaushalt. Eine umfassende Reste- und Abfallverwertung, die zu einer Erhöhung des verfügbaren Gesamtvorrats der Lebensmittel beitragen sollte, konnte ihrer Meinung nach in der Großküche nicht annährend so gut gelingen wie am Familienherd. Im Hervorheben des letzteren deutete die langjährige gutbürgerliche Förderin der hauswirtschaftlichen Bildung jene Bedenken an, die eine Reihe weiterer Zwangsküchenkritiker hinsichtlich der Geschlossenheit des Familienlebens hatten.536 Schlussendlich war auch die Ansicht verbreitet, dass sich die Bevölkerung nicht ohne Widerstand der Zwangsspeisung unterworfen hätte. Zwar wurde sie u.a. in Teilen der Berliner Arbeiterschaft gefordert, doch in Anbetracht der allgegenwärtigen Lebensmittelpolonaisen gab es Befürchtungen, dass sich auch die Kriegsküche bei unerwartet stockenden Lebensmittelzufuhren zu einer Krawall- und Unruhequelle entwickeln könnte.537 Im Zuge der Beratungen mit dem Deutschen Städtetag stellte Batocki schließlich die »Grundsätze des Kriegsernährungsamtes über Massenspeisungen« auf, mit denen das KEA Ende November 1916 den Kommunen den Ausbau der Gemeinschaftsverpflegung nach den jeweiligen Bedürfnissen überließ.538 Gleichfalls wies Batocki die Landeszentralbehörden an, dafür Sorge zu tragen, dass die Gemeinden mit Blick auf den anstehenden Winter entsprechende Vorkehrungen trafen, damit die etwaige Nachfrage nach öffentlicher Speisung befriedigt werden konnte.539 Ende Dezember wurden die preußischen Gemeinden durch einen Erlass Loebells über die Grundsätze der Ausgestaltung der vom KEA geforderten Kriegsspeisehäuser in Kenntnis gesetzt. Auf Berlin
534 Ebd. 535 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Frauenbeirats am 8. November 1916. BA, R 3601/30, Bl. 9–28, hier Bl. 16. Vgl. auch Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 46. 536 Hierzu vgl. auch Roerkohl, Hungerblockade, S. 241. 537 Vgl. ebd. Zur Forderung der Zwangsspeisung innerhalb der Berliner Arbeiterschaft vgl. den »Bericht der Kriminalpolizei an den Polizeipräsidenten von Berlin vom 15. April 1917«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 189. Vgl. auch Davis, Home Fires, S. 152. 538 Vgl. Schreiben des Präsidenten des KEA betreffend Massenspeisungen an sämtliche Bundesregierungen vom 26. November 1916. LAB, B Rep. 142–02, STK 1056. Vgl. auch »Der Ausbau der Massenspeisung«, in: Vossische Zeitung, 7. Dezember 1916. 539 Vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 241. Anfang Dezember setzte Loebell die preußischen Regierungspräsidenten in Kenntnis, dass den Gemeinden für die verstärkte Einrichtung von Massenspeisungen »im weiteren Umfange als bisher Reichs- und Staatsbeihilfen aus den Kriegswohlfahrtspflegefonds« bewilligt werden sollten. Hierzu vgl. Schreiben des Ministers des Innern vom 2. Dezember 1916. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164, Bl. 124–125.
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hatte der neue Ministerialerlass keine Auswirkungen, da die Hauptstadt mit ihrer Volksspeisung bereits allen Grundsätzen nachkam.540 Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Erfahrungen Berlins in den verschiedenen Gremiensitzungen des KEA maßgeblich herangezogen wurden. Zahlreiche beratende Mitglieder des Anfang Dezember 1916 vom KEA gegründeten »Ausschuss für Massenspeisungen« kamen aus der Reichshauptstadt und stellten hier ihre Sachkenntnis und Praxiserfahrungen u.a. zur Kartenanrechnung und zum Speiseausgabeverfahren zur Verfügung.541
2.3.2 Sonderversorgung und Fabrikspeisungen: Berlin und die Kriegsindustrieverpflegung Die zurückhaltende Vorgehensweise des KEA entsprach keineswegs den Vorstellungen der Militärbehörden, denen es mit Blick auf das Hindenburg-Programm in erster Linie um die Aufrechterhaltung der Arbeitswilligkeit in den kriegswichtigen Industrien, den Gewinn neuer Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrien und allgemein gesehen um die Zufriedenstellung und Beschwichtigung der Arbeitermassen in den Großstädten ging. Da die obligatorische Massenspeisung nun nicht mehr in Frage kam, galt es für die OHL andere Versorgungsmöglichkeiten für die Arbeiterschaft in Betracht zu ziehen, die eine Steigerung der Rüstungsproduktion sicherstellten. Spätestens Anfang des Jahres 1917 richtete die Militärverwaltung ihren Fokus auf die Sonderversorgung der Arbeiter in den kriegswichtigen Industrien. Seit Kriegsbeginn und insbesondere während des vorangegangenen Jahres waren schon zahlreiche (Berliner) Kriegsindustriebetriebe dazu übergegangen, ihrer Arbeiterschaft eine Sonderversorgung mit Nahrungsmitteln anzubieten. »Die Firmen versuchten,« so Roerkohl, »durch bestimmte Nahrungsmittelvergünstigungen Motivation und Einsatzbereitschaft ihrer Belegschaften zu steigern und ein Abwandern in andere Betriebe zu verhindern.«542 Gleichfalls wurde auch seitens der Arbeiter, welche die Abgabe bestimmter Naturalien sehr bald als selbstverständlich voraussetzten, »das dringende Verlangen nach einer Mehrbelieferung mit Nahrungsmitteln an die Werkleitungen gestellt und bereits im April 1916 zum Gegenstande unablässiger Forderungen gemacht«543 . 540 Den Grundsätzen nach durfte die Teilnahme an den Massenspeisungen nicht an den Nachweis der Bedürftigkeit geknüpft sein. Die Entnahme der Speisen durfte darüber hinaus nur gegen Abgabe der Lebensmittelkarten erfolgen. Des Weiteren stand den Gemeinden die Entscheidung über die Art der einzurichtenden Kriegsküchen frei. Festgelegt wurde auch, dass die Versorgung der Speiseeinrichtungen mit Lebensmitteln durch die Gemeinden zu erfolgen hatte. Vgl. Erlass des Ministers des Innern betreffend Massenspeisungen vom 26. Dezember 1916. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164, Bl. 140–141. Vgl. hierzu auch »Ein Ministererlaß über die Massenspeisungen«, in: Tägliche Rundschau, 12. Januar 1917. »Winterkälte und Massenspeisung«, in: Berliner Volkszeitung, 5. Februar 1917. 541 Hierzu gehörten neben Doflein und Heyl u.a. der Berliner Gewerkschaftsfunktionär und Beirat im KEA Paul Umbreit (1868–1932) sowie der Warenhausbesitzer Oscar Tietz (1858–1923), der den von ihm gegründeten Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser vertrat und über die Versorgung größerer Geschäftsbetriebe berichtete. Siehe hierzu Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Massenspeisungen am 9. Dezember 1916. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164, Bl. 147–155. 542 Roerkohl, Hungerblockade, S. 134. 543 Wiernik, Arbeiterernährung, S. 44. Vgl. ferner »Bericht des Oberkommandos in den Marken an das Kriegsministerium vom 3. August 1916«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 151–154,
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Im Februar 1917 verfügten die Groß-Berliner Rüstungsindustrien inzwischen über einen umfangreichen Beschaffungs- und Verteilungsapparat für Lebensmittel.544 Mit der Einteilung in Schwer-, Schwerst- und Rüstungsarbeiter existierten zudem verschiedene Arbeitskräftekategorien, mit denen entsprechend der Arbeitsleistung unterschiedliche Zusatzrationen festgelegt wurden. Ermöglicht wurde die Gewährung der Sonderzulagen durch die »Reduzierung der für die Zivilbevölkerung insgesamt zur Verfügung stehenden Nahrungsmittelmenge«, was allgemeinhin eine Schlechterstellung der »normalversorgungsberechtigten« Bevölkerung herbeiführte, die ihrerseits mit wachsendem Unmut auf die Bevorzugung der »Zulageberechtigten« reagierte.545 Die Sonderversorgung der Schwer(st)- und Rüstungsarbeiter erfolgte in der Regel auf drei Wegen, die von vielen Betrieben zum Teil parallel beschritten wurden: durch die Verteilung von Zusatzkarten v.a. für Brot und Kartoffeln, die Ausgabe sowie den Verkauf von Lebensmitteln und schließlich die Mahlzeitversorgung in Fabrik- und Werkskantinen. Letztere war jedoch nicht so stark verbreitet wie die betriebliche Karten- und Lebensmittelausgabe, wie aus einem zeitgenössischen Bericht zur Arbeiterernährung in der Kriegsindustrie von Lucian Wiernik (*1890) hervorgeht.546 Von 600 Groß-Berliner Rüstungswerken, die insgesamt rund 400.000 Arbeiter beschäftigten, unterhielten etwa 150 größere Küchenanlagen, die der Zubereitung warmer Speisen dienten.547 Vielfach fehlten in den Fabriken die entsprechenden Räumlichkeiten zur Einrichtung einer Werkspeisung. Ebenso wurde es im Verlauf des Krieges und des zunehmenden Materialmangels immer schwieriger, die erforderlichen Einrichtungsgegenstände zur Errichtung von Werksküchen und -kantinen herbeizuschaffen. Im Vergleich zur Vorkriegszeit hat die Fabrikspeisung dennoch einen deutlichen Aufschwung erfahren. Mehr Fabriken und Werke denn je boten ihren Belegschaften warme Speisen zum Verzehr am bzw. in direkter Nähe des Arbeitsplatzes an. Und aus Sicht der Militärbehörden sollten es noch mehr werden.548 Die Aufgabe der Förderung der Arbeiterversorgung durch Fabrikkantinen fiel im Zuge des Hilfsdienstgesetzes in die Hände des kürzlich gegründeten Kriegsamtes unter Groener, das die Fabrikbesitzer und Werksleitungen anhielt, ihre Aktivitä-
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hier S. 154. Zur Erwartungshaltung der Arbeiterschaft bzgl. der Naturalabgabe in den Betrieben vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 135. Davis, Home Fires, S. 173. Ferner Stegerwald, Adam: »Zur Schwer- und Schwerstarbeiter-Versorgung mit Zusatzlebensmitteln«, in: Die Schwerarbeiterfrage. Beiträge zur Kriegswirtschaft, Heft 26/27, hg. von der Volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegsernährungsamts, Berlin 1917, S. 1–10, hier S. 9. Vgl. Wiernik, Arbeiterernährung, S. 45. Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 194ff. Sowie Käber, Berlin, S. 115. Roerkohl, Hungerblockade, S. 148. Wiernik war Geschäftsführer des Ernährungsausschusses für die Rüstungsarbeiter Groß-Berlins, der in den folgenden Ausführungen noch nähere Betrachtung finden wird. Sein Bericht, der die allgemeinen Werksverpflegungsverhältnisse im Deutschen Reich in den Blick nimmt, ist eine der wenigen verfügbaren Quellen, die detaillierte Hinweise zur Versorgungssituation in den Werken und Fabriken der Kriegsindustrien im Berliner Raum liefern. Die folgenden Ausführungen stützen sich daher maßgeblich auf Wierniks Darstellung. Vgl. Wiernik, Arbeiterernährung, S. 45. Zum Gebiet Groß-Berlin vgl. Abschnitt 1.2. in Kapitel ii. Vgl. »Die Frage der Massenspeisungen«, in: Berliner Tageblatt, 12. Dezember 1916. »Keine zwangsmäßige Massenspeisung«, in: Vorwärts, 12. Dezember 1916. Vgl. auch Davis, Home Fires, S. 156.
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ten auf dem Gebiet der Kantinenverpflegung zu verstärken. Gleichzeitig erhielten viele Unternehmen weitreichende Unterstützung aus ihrer Belegschaft: »Fast überall sind aus der Mitte der Arbeiterschaft bzw. aus den bestehenden Arbeiterausschüssen heraus sogenannte Ernährungskommissionen gebildet worden, die an der Bewirtschaftung beteiligt sind und insbesondere bei der Verteilung der Nahrungsmittel gehört werden, den Betrieb der Werkküchen und die Verteilung der Lebensmittel in den Verkaufsstellen überwachen. Die Einschaltung derartiger Ernährungskommissionen zwischen Arbeiter und Werkleitung hat sehr gut Früchte gezeitigt, da die Arbeiterschaft naturgemäß zu ihren eigenen Vertretern ein größeres Vertrauen hat.«549 Während einige Fabrikbesitzer auf die Zusammenarbeit mit der Belegschaft setzten, übernahmen die meisten Fabrikführungen die Verwaltung des Verpflegungswesens selbst. Es gab jedoch auch Fabriken, in denen die Werkleitungen lediglich die erforderlichen Geldmittel zur Verfügung stellten und die Bewirtschaftung der Verpflegungseinrichtungen gänzlich auf die Arbeiterschaft übertrugen, die ihrerseits Konsumgenossenschaften gründeten oder sich bestehenden Konsumanstalten anschlossen.550 Sowohl große als auch kleine Werke und Fabriken kamen den Anweisungen der Militärbehörden auf unterschiedliche Weise nach. Sie versuchten entweder selbst oder in Kooperation mit anderen Betrieben Einrichtungen zur Herstellung warmer Mahlzeiten zu schaffen. Andernfalls trafen viele Werkleitungen Vereinbarungen zur Belieferung der Arbeitsstätte mit gekochten Speisen aus anderen Fabrikküchen oder den Stadtküchen. Während die Belegschaften einiger Betriebe, in denen keine Kantinen- bzw. Speiseräume zur Verfügung standen, benachbarte Einrichtungen aufsuchten, wurde anderen die Mahlzeit direkt zum Arbeitsplatz geliefert.551 Die Werke, die auf eine Zulieferung der warmen Speisen angewiesen waren, konnten ihrer Belegschaft in der Regel nur Einheitsgerichte anbieten. Demgegenüber konnten jene Werke und Fabriken mit eigenen Küchenbetrieben den Speiseteilnehmern mehrere Gerichte zur Wahl stellen.552 Auf zusammengekochtes Essen wurde in diesen Werksküchen weitgehend verzichtet. Sofern es möglich war, bestanden die Speisen aus mindestens zwei Komponenten, d.h. Fleisch mit Gemüse und/oder Kartoffeln. Wie in den öffentlichen Speiseeinrichtungen wurden die Speisen zum Selbstkostenpreis verabreicht, der in der Regel zwischen vierzig und sechzig Pfennig pro Literportion betrug. Nach Wiernik betrug die Leistungsfähigkeit aller Werksküchen in Groß-Berlin im Herbst 1917 etwa 250.000 Portionen täglich.553 Doch das betriebliche Mahlzeitenangebot sei nicht von allen Arbeitern, die eine Werkspeisung in Anspruch nehmen konnten,
549 Wiernik, Arbeiterernährung, S. 47f. Zum Bestehen und zur Arbeit eines Ernährungsausschusses siehe beispielhaft »Amtsniederlegung des Ernährungsausschusses bei der Firma Siemens u. Halske«, in: Vorwärts, 23. September 1917. 550 Vgl. Wiernik, Arbeiterernährung, S. 49 und S. 69. Ferner Schilling-Voß, Fritz-Adolf: Die Sonderernährung der Rüstungsarbeiter im Rahmen der Kriegswirtschaft 1914–1918. Ein Beitrag zur deutschen Arbeiterfrage. Dissertation, Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Berlin 1935, S. 39. 551 Vgl. Wiernik, Arbeiterernährung, S. 73ff. 552 Vgl. ebd., S. 72. 553 Vgl. ebd., S. 69ff.
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wahrgenommen worden. Trotz der Lebensmittelknappheit beteiligten sich Wiernik zufolge im Durchschnitt nicht mehr als sechzig bis siebzig Prozent der Belegschaften an der betrieblichen Speisung.554 Die Gründe dafür waren vielfältig. Nach den Bestimmungen des KEA vom November 1916 waren alle privaten Speisebetriebe den kommunalen Kriegsküchen formal gleichgestellt.555 Wie in den Einrichtungen der Berliner Volksspeisung war die Teilnahme an der Werksspeisung an die Abgabe der Bezugskartenabschnitte für staatlich bewirtschaftete Nahrungsmittel gebunden. Die Ablehnung der Kartenabgabe war auch unter den Teilnehmenden der Werkspeisungen allgemein verbreitet, fiel jedoch nicht überall gleich stark aus. Am stärksten war der Widerstand in jenen Werken, die auf eine im Voraus zu planende Zulieferung der Speisen setzten.556 Hier hatten sich die Belegschaften nicht nur wenigstens für eine Woche zur Teilnahme an der Werkspeisung zu verpflichten, sondern häufig auch mit den unbeliebten Speisen der kommunalen Küchen vorlieb zu nehmen. Im Sommer 1917 nutzten mehr als 100 Berliner Fabrik- und Werkbetriebe, darunter auch die AEG und die Maschinenfabrik Ludwig Loewe & Co., das Kooperationsangebot der Volksspeisung und bezogen die Speisen aus den städtischen Riesenkesseln.557 Dem überwiegenden Teil der Arbeiterschaft aber waren die Eintopfgerichte »nicht schmackhaft genug«, sodass oftmals kaum die Hälfte der Belegschaft das angelieferte Speiseangebot in Anspruch nahm. Das Essen in Fabriken, die wie im Falle von Borsig und Siemens & Halske die Speisezubereitung in die eigene Hand nahmen, scheint dagegen zufriedenstellender gewesen zu sein.558 Doch auch hier rangierte die Werksküchenverpflegung hinsichtlich der Präferenzen der Kriegsarbeiterschaft deutlich hinter den alternativen Versorgungsangeboten. So stellt George Yaney fest: »In early 1918 […] about 500,000 people in the breadcard association’s territory were designated as war workers, but no more than 100,000 of them were eating their extra food when it was served to them in factory canteens.«559 Der größere Teil der Schwer(st)- und Rüstungsarbeiter bevorzugte die Sonderversorgung durch Lebensmittelpakete, die sie mit nach Hause nehmen, mit Familienmitgliedern teilen oder in einigen Fällen (auf dem Schwarzmarkt) weiterverkaufen bzw. gegen andere Waren eintauschen konnten. Auch die Schaffung zusätzlicher Anreize bei der Inanspruchnahme der Fabrikküchenverpflegung konnte den allgemeinen Vorzug unverarbeiteter Lebensmittel nicht mindern: 554 Vgl. ebd., S. 72. 555 Vgl. Schreiben des Präsidenten des KEA betreffend Massenspeisungen an sämtliche Bundesregierungen vom 26. November 1916. LAB, B Rep. 142–02, STK 1056. Vgl. auch Roerkohl, Hungerblockade, S. 257. 556 Vgl. Wiernik, Arbeiterernährung, S. 50. Sowie Davis, Home Fires, S. 157. 557 Vgl. »Ein Jahr Berliner Volksspeisung«, in: Vorwärts, 10. Juli 1917. Ferner »Die Küche der Sechstausend«, in: Vossische Zeitung, 10. Juli 1916. »Fabrikspeisung«, in: Vorwärts, 17. August 1916. Schreiben des Gewerbeaufsichtsamts Berlin-Tiergarten an den Polizeipräsidenten von Berlin vom 7. Februar 1923. LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1418, Bl. 187. 558 Vgl. »77. Stimmungsbericht vom 28. Oktober 1916«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 163–164, hier S. 164. Sowie Davis, Home Fires, S. 157. Zu den Eigeninitiativen der Firmen Siemens & Halske und Borsig vgl. »Amtsniederlegung des Ernährungsausschusses bei der Firma Siemens u. Halske«, in: Vorwärts, 23. September 1917. Sowie Yaney, The World, S. 127f. 559 Yaney, The World, S. 151. Zur Zusammensetzung der Brotkartengemeinschaft siehe Kapitel iii, Anm. 159.
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»In April 1918, war workers in the [breadcard] association’s territory who ate their extra food in canteens were being allotted two kilograms of Nährmittel per month, whereas those who received packages only got two thirds of a kilogram (that is, one third of the portion being served in the canteens). Rationed foods were also dispensed more generously in the canteens. Customers were permitted to hand in coupons for only 100 grams of meat in exchange for 250 grams of the real article, and they ate five pounds of potatoes in exchange for only three pounds worth of coupons. All in vain. Workers continued to avoid the canteens.«560 Im direkten Vergleich mit den öffentlichen Einrichtungen der Berliner Volksspeisung aber genossen die Werksspeisungen und Fabrikküchen unter den Berlinern eine größere Akzeptanz. Davis kommt zu dem Ergebnis, dass Fabrikkantinen während der zweiten Kriegshälfte sehr viel beliebter waren als die kommunalen Speiseeinrichtungen.561 Davon abgesehen, dass die Kantinenspeisung im Gegensatz zur öffentlichen Küchenverpflegung so gut wie keine stigmatisierenden bzw. negativen Assoziationen hervorrief, war dies nach Ansicht von Davis vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: »In the factory canteen setting, workers felt they were being compensated for their much needed contributions to the war effort – whatever they felt about the war itself. The fact that the OHL had directly arranged for privileged access and special rations for these canteens, and the fact that workers sat beside soldiers who had been called back from the front for the high purpose of munitions production, reinforced this idea. Thus, workers themselves considered the cafeterias a project discrete from that of public kitchens.«562 Die Lebensmittelversorgung in den Kriegsindustriebetrieben war in der Regel besser als in der Hauptstadt. Die Belieferung der kriegswichtigen Fabriken und Betriebe mit Lebensmitteln erfolgte auf mehreren Wegen. Sie erhielten zum einen amtliche Zuweisungen in Form von Lebensmittelkarten oder Lebensmitteln, die entweder direkt an die Arbeiterschaft oder zum Verbrauch in den Küchen weiterzugeben waren. Zum anderen beschafften sich die Betriebe die Lebensmittel im freien Verkehr.563 Die behördlichen Zuweisungen beschränkten sich weitgehend auf die Lebensmittel, die öffentlich bewirtschaftet wurden. »Während ursprünglich unter gewissen Voraussetzungen nur Brotzulagen seitens der Wohnsitzgemeinden zur Verteilung kamen,« erklärte Wiernik, »wurde nach und nach mit der Ausdehnung der Sonderernährung und der aus Sparsamkeitsgründen erforderlich werdenden feineren Auslese der Bezugskartenberechtigten die Zahl der verschiedenen Dienststellen immer zahlreicher, die sich mit der Zuteilung oder Lieferung zu befassen haben.«564 Ihre Lebensmittelzuweisungen
560 Ebd., S. 151f. 561 Vgl. Davis, Home Fires, S. 157. 562 Ebd. Den Effekt der Zusatzrationen betont auch Thoms. Ihr zufolge waren sie ausschlaggebend für eine konstante und hohe Beteiligung an der Kantinenspeisung. Vgl. dies., Physical Reproduction, S. 143. 563 Auch die Selbsterzeugung der Lebensmittel war eine Möglichkeit der Lebensmittelbeschaffung. Diese spielte in Berlin jedoch eine geringere Rolle. 564 Wiernik, Arbeiterernährung, S. 51.
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erhielten die Industriebetriebe demzufolge sowohl von kommunaler Seite als auch von unterschiedlichen staatlichen Versorgungsstellen, zu denen ab Ende 1916 auch und vor allem das Kriegsamt gehörte. Die Militärbehörden beschränkten sich nicht nur darauf, die Sonderversorgung der Kriegsarbeiterschaft energisch zu fordern, sondern versorgten die Betriebe – sofern diese als kriegswichtig anerkannt waren – direkt mit Lebensmittellieferungen aus dem Heeresbestand und das nicht erst seit Inkrafttreten des Hilfsdienstgesetzes. »The military had been making them since early in the war,« so Yaney, »not only delivering from its own stocks but also ordering the central food directorates to divert supplies.«565 Im Zuge der zunehmenden Versorgungsschwierigkeiten wandten sich die Verantwortlichen in den Kriegsbetrieben ab der zweiten Kriegshälfte vermehrt mit Sonderzuweisungsanliegen an Groeners Kriegsamt, das in Anbetracht der allgemeinen Lage und der notwendigen Aufrechterhaltung der Kriegsproduktion häufig gewillt war, dem Ersuchen der Industriebetriebe nachzukommen.566 Auch über die Sonderzuweisungen hinaus konnten die Industriebetriebe hinsichtlich der selbstständigen Beschaffung von Lebensmitteln lange auf den mehr oder weniger stillen Beistand der Militär- und Staatsbehörden zählen. Infolge der staatlichen Rationierungspolitik wurde es auch für die Fabrik- und Werkleitungen zunehmend schwieriger, die benötigten Lebensmittel auf dem freien Markt zu erhalten. Obendrein waren jene Lebensmittel, die seitens der Arbeiterschaft bevorzugt wurden (insbesondere Nährmittel), im freien Verkehr nicht mehr erhältlich.567 Das Bestreben, Unruhen in der Arbeiterschaft zu vermeiden und die fortlaufende Produktion sicherzustellen, trieben nicht wenige Kriegsindustriebetriebe zum Einkauf auf dem Schwarzmarkt. Vor allem große Betriebe konnten es sich leisten, für die (il)legale Besorgung der Lebensmittel eine Reihe von Einkäufern im In- und Ausland zu beschäftigen. Die Bewirtschaftung der Werksund Fabrikküchen erfolgte nach den Ausführungen Yaneys vor allem durch die sogenannte Verwertungsstelle GmbH, ein halbprivates, halbstaatliches Großhandelsunternehmen, das Ende des Jahres 1916 vom Hauptmann Hans von Binzer (*1862) gegründet wurde und im großen Umfang illegal Lebensmittel aus den neutralen Niederlanden und besetzten Gebieten in Belgien und Westrussland akquirierte.568 Die »stille« Unterstützung der Militärverwaltung und der staatlichen Ämter zeichnete sich vor allem darin aus, dass diese die Schleichhandels- und Schwarzmarktaktivitäten im Interesse ihrer Rüstungsbestrebungen nicht unterbanden, sich wie im Falle von Binzers Verwertungsstelle sogar selbst daran beteiligten und sie als notwendiges Übel akzeptierten – sehr zum Leidwesen des Berliner Magistrats und der Stadtverwaltungen der Berliner Vorortgemeinden.569 565 Yaney, The World, S. 113. 566 Vgl. Ebd. Vgl. auch Roerkohl, Hungerblockade, S. 153. Ferner »Erlass des Ministers des Innern an den Polizeipräsidenten von Berlin vom 30. März 1917«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 181–182, hier S. 182. 567 Vgl. Wiernik, Arbeiterernährung, S. 59. 568 Vgl. Yaney, The World, S. 188f. und S. 250. Ausführlich zu Binzer, der ab Ende 1916 auch als Kommissar im Kriegsamt tätig war, und seinen Schleichhandelsaktivitäten siehe ebd., S. 250ff. 569 Vgl. u.a. »Denkschrift des Magistrats von Neukölln zur Kriegswirtschaft und zum Schleichhandel vom 3. Dezember 1917«, in: Roerkohl, Hungerblockade, S. 372–376, hier insb. S. 372. Vgl. auch ebd., S. 153 und 162. Sowie »Erlass des Ministers des Innern an den Polizeipräsidenten von Berlin vom 30. März 1917« und »Bericht des Polizeipräsidenten von Berlin an den Minister des Innern vom 4.
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Die Berliner Stadtverwaltung befürwortete die Förderung der Werkskantinenverpflegung und erachtete diese als unentbehrliche Ergänzung der städtischen Volksspeisung. Doch die von der Militärverwaltung forcierte Sonderversorgungspolitik und die damit einhergehende staatliche Einmischung in die lokale Versorgungspolitik war nicht die Art der Unterstützung, die sich der Berliner Magistrat von den Staatsbehörden wünschte.570 Wie bereits angemerkt wurde, verfolgte die Berliner Ernährungspolitik in erster Linie das Ziel, eine gerechte und gleichmäßige Verteilung der Lebensmittel zu gewährleisten. Diese beinhaltete einerseits die Auffassung, dass das Ausmaß der Zusatzrationen der Schwer(st)- und Rüstungsarbeiter nach Möglichkeit geringgehalten, und andererseits, ein möglichst großer Teil der Bevölkerung an der Sonderversorgung beteiligt werden sollte – eine Ansicht, die auch seitens der Gewerkschaftsvertreter in der seit April 1917 bestehenden »Arbeiterkommission« vertreten wurde.571 Dem Gleichheitsgrundsatz folgten weitgehend alle Mitglieder der Groß-Berliner Brotkartengemeinschaft, deren Zusammenhalt im Zuge der staatlichen Rationierungspolitik immer mehr an Bedeutung gewann. Wiederholt versuchten sich die Groß-Berliner Gemeinden gemeinsam den staatlichen Sonderversorgungsvorgaben zu widersetzen und Eingriffe in die lokalen Verteilungsmechanismen zu verhindern. Erste Unstimmigkeiten bei der Frage der Sonderversorgung der schwer arbeitenden Bevölkerung wurden bereits seit Mitte des Jahres 1915 deutlich, als der Berliner Oberbürgermeister und seine Verwaltung sich weigerten, die vom Leiter der Reichsgetreidestelle Michaelis erhöhten Mehlrationen für Schwerarbeiter nach dessen Vorgaben zur Verteilung zu bringen. In der Überzeugung, dass den staatlichen Behörden im Gegensatz zu den Kommunen das notwendige Wissen über die lokalen Verhältnisse und das örtliche Rationierungssystem fehle, zog Wermuth es vor, die Rationserhöhung nach dem Prinzip der gerechten Verteilung möglichst weiten Teilen der arbeitenden Berliner Stadtbevölkerung zugutekommen zu lassen.572 Anstatt die Mehlzusatzrationen der Schwerarbeiter zu erhöhen und den Kreis der zulageberechtigten Berliner in Grenzen zu halten, entschlossen sich die Vertreter Berlins und seiner Vororte gemäß ihrer Maxime der sozialen Gerechtigkeit die Zahl der Schwerarbeiter zu steigern. Die Zusatzbrotkarte wurde allen Stadtbewohnern zugänglich gemacht, »die aus wirtschaftlichen, gesundheitlichen oder beruflichen Gründen brotbedürftig waren«573 .
April 1917«, in: Dokumente aus geheimen Archiven 4, S. 181–184, hier S. 182 und 183f. Sowie Daniel, Arbeiterfrauen, S. 198. Yaney, The World, S. 134 und S. 250ff. 570 Vgl. Triebel, Armin: »Gesellschaftsverfassung und Mangelwirtschaft in Staat und Gemeinde. 30 Jahre neues Denken in Weltkriegszeiten?«, in: Thoß, Bruno und Hans Volkmann, Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 411–436, hier S. 425. 571 Vgl. Yaney, The World, S. 129f. Sowie Roerkohl, Hungerblockade, S. 162. Ferner Davis, Home Fires, S. 188. Zur »Arbeiterkommission« siehe Kapitel iii, Anm. 24. 572 Vgl. Yaney, The World, S. 107ff. Wer zur Gruppe der Schwerarbeiter gehörte, wurde von den jeweiligen Kommunalverbänden festgelegt. 573 Käber, Berlin, S. 164. Vgl. auch Triebel, Gesellschaftsverfassung, S. 424. Wurden die Brotzusatzkarten zum Zeitpunkt ihrer Einführung im Sommer 1915 nur auf Antrag gewährt, erhielten sie im Oktober 1915 alle Angehörigen einer Krankenkasse. Dies hatte eine Verzehnfachung der gewährten Zusatzkarten auf 600.000 Empfangsberechtigte zur Folge. Vgl. Käber, Berlin, S. 114.
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Das eigenwillige Vorgehen der Brotkartengemeinschaft beobachteten die staatlichen Behörden mit Argwohn. »Die stattliche Menge der Zusatzkarten erweckte den Anschein, als ob Berlin die allgemeinen Einschränkungen nicht mit vollem Ernste durchführe«574 , resümierte der Stadtarchivar Käber rückblickend. Darüber hinaus gab es hinsichtlich der kommunalen Belieferung der Kriegsindustriebetriebe fortwährend Differenzen zwischen den Mitgliedern der Brotkartengemeinschaft und den Oberbehörden wie Yaney darlegt: »The war minister complained in July 1916 that the cities of the breadcard association were not cooperating in the effort to supply food to war workers. Their food organizations frequently refused to supply factory canteens, and the supplies they did send were tangled in irksome regulations.«575 Für die Berliner Stadtverwaltung aber, die durchaus gewillt war, ihre Schwer(st)- und Rüstungsarbeiterschaft mit Lebensmitteln zu versorgen, war mit Blick auf die zunehmende Fülle unterschiedlicher Versorgungsquellen der einzelnen Betriebe oftmals kaum ersichtlich, in welchem Umfang den jeweiligen Fabriken Lebensmittel zustanden. »The rapid extension of food privileges to more and more plants […] was throwing local rationing systems into confusions«576 , so Yaney. Dabei trugen die Berliner Ernährungsbehörden, denen es an einer funktionierenden einheitlichen Regelung zur Kontrolle der Sonderversorgung in den Kriegsindustrien fehlte, selbst zu diesem Problem bei. Insgesamt waren die Groß-Berliner Lebensmittelversorgungsregelungen im Frühjahr 1917 unübersichtlich und undurchschaubar. Da die Ausweitung der Brotkartengemeinschaft auf weitere Lebensmittel aufgrund der Selbstbestimmungsansprüche ihrer Mitglieder nicht gelang, existierten für die einzelnen Nahrungsmittel unterschiedliche Zweckgemeinschaften und Versorgungsstellen mit variierenden Verbrauchs- und Ver-
574 Ebd., S. 115. Da die Getreidevorräte ab Mitte Januar 1916 eine derart umfangreiche Sonderversorgung nicht mehr zuließen, sah sich Berlin schließlich gezwungen, den Kreis der Zulageberechtigten zu reduzieren. Die Zahl der Zusatzbrotkarten wurde um ein Drittel auf 400.000 Empfangsberechtigte gesenkt. Aus Sicht der staatlichen Ernährungsbehörden besaßen Berlin und seine Vororte noch immer zu viele Brotzusatzkarten. Vgl. auch Yaney, The World, S. 107. 575 Yaney, The World, S. 115f. 576 Ebd., S. 129. Vgl. auch Roerkohl, Hungerblockade, S. 135. Anders als bei der Gruppe der Schwerarbeiter, die von den Kommunen ermittelt wurde, erfolgte die Festlegung der Schwerstarbeiterliste nach Grundsätzen, die vom KEA Ende Oktober 1916 für das Deutsche Reich aufgestellt wurden. Die Anerkennung des Schwerstarbeiterstatus nahmen Gewerbeaufsichtsbeamte in Zusammenarbeit mit den Arbeiterausschüssen vor. Vgl. Roerkohl, Hungerblockade, S. 146. Sowie Wiernik, Arbeiterernährung, S. 53. Im Januar 1917 erließen das KEA und das Kriegsamt neue Richtlinien, wonach nicht mehr einzelne Arbeiter, sondern Rüstungsbetriebe zu Empfängern der Zusatzrationen erklärt wurden. Jeder Rüstungsbetrieb, der mindestens einen Schwerstarbeiter beschäftigte, galt als zulageberechtigt. Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 195. Da im Verlauf des Krieges nahezu die gesamte Industrie Kriegsmaterial herstellte, wurde es für die Kommunen zunehmend schwieriger, den Überblick zu behalten. Ein weiteres zur Unübersichtlichkeit der Zulieferungszuständigkeiten beitragendes Problem war der Umstand, dass Berlin Teil eines größeren Wirtschaftsgebietes war, in dem mehrere Kommunalverbände für die Belieferung eines Betriebes zuständig waren. Vgl. Wiernik, Arbeiterernährung, S. 53ff.
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fahrensregelungen.577 Jede Gemeinde bzw. Zweckgemeinschaft forderte die Einhaltung ihrer Versorgungsgrundsätze, was jedoch in den Industriebetrieben kaum umsetzbar war. Die meisten Berliner Kriegsindustrien beschäftigten oftmals auch Vorortbewohner und umgekehrt waren viele Berliner Arbeiter in den Industriebetrieben der Vorortgemeinden tätig. Dies erschwerte es den Fabrik- und Werkleitungen, den häufig variierenden kommunalen Vorgaben zur Einforderung der Rationskarten für die städtischen Lebensmittellieferungen nachzukommen. Weil dieser Zustand aus Sicht vieler Groß-Berliner Gemeinden nicht haltbar war und diese zudem keinen Überblick über die zusätzlichen Lieferungen der verschiedenen Betriebe hatten, setzten sich die Mitglieder der Brotkartengemeinschaft zum Ziel, die erforderlichen Maßnahmen zur kommunalen Überwachung aller Lebensmittellieferungen im Berliner Raum und somit auch in den Industriebetrieben Groß-Berlins in die Wege zu leiten.578 Darüber hinaus war sich Wermuth, wie Yaney erklärt, mit den Vertretern des Deutschen Städtetages einig darüber, dass sämtliche Entscheidungen, welche die Zulagenregelung und Sonderlieferungen für Kriegsindustrien betrafen, den Städten überlassen bleiben sollten.579 Gleichzeitig führten die unklar geregelten Groß-Berliner Versorgungsverhältnisse und die reservierte Haltung der Brotkartengemeinschaft gegenüber der bevorzugten Belieferung der Rüstungsindustriearbeiterschaft auf Seiten der Staatsbehörden und dabei namentlich bei Michaelis, der seit Februar 1917 das Amt des preußischen Staatskommissars für Volksernährung bekleidete, zu der Ansicht, dass der Chaos stiftenden kommunalen Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung durch die Einrichtung einer neuen übergeordneten staatlichen Instanz Einhalt geboten werden müsse. Während die Groß-Berliner Gemeinden im Verlauf des Jahres 1917 untereinander nach einer praktikablen Übereinkunft zur gemeinsamen Regelung der Groß-Berliner Lebensmittelversorgung suchten, sahen sie sich unentwegt gezwungen, ihre Autonomie gegenüber den Staatsbehörden zu verteidigen. Da der Brotkartengemeinschaft nicht zugetraut wurde, die gesamte Lebensmittelversorgung im Berliner Raum unter Kontrolle zu bringen, richtete Michaelis im Mai 1917 eine seinem preußischen Ernährungskommissariat untergeordnete Behörde ein, die fortan eine gleichmäßige Lebensmittelversorgung in Berlin und Umgebung einschließlich der Gemeinden, die nicht der Brotkartengemeinschaft angehörten, gewährleisten sollte.580 Wurden bis dahin die Waren von den verschiedenen preußischen Landesstellen für die einzelnen Lebensmittel direkt an die Gemeinden überwiesen, erhielt fortan die sogenannte Staatliche Verteilungsstelle für Groß-Berlin alle Lebensmittel, die sie dann nach einheitlichen Gesichtspunkten auf die Groß-Berliner Gemeinden zu verteilen hatte.581 Darüber hinaus wurde der Staatlichen Verteilungsstelle, deren Leitung dem Verwaltungsjuristen Fred Hagedorn (1875–1940) übertragen wurde, die 577 Hierzu vgl. ausführlich Käber, Berlin, S. 95ff. und 113. 578 Vgl. Yaney, The World, S. 116. 579 Vgl. ebd., S. 149. Auch Armin Triebel weist darauf hin, dass die Gemeinde stets darauf aus gewesen sei, die Ausgabemodalitäten der Lebensmittelkarten direkt zu kontrollieren. Vgl. ders., Gesellschaftsverfassung, S. 425. 580 Vgl. Käber, Berlin, S. 93. Yaney, The World, S. 145f. Zu den Zuständigkeiten und Kompetenzen des Staatskommissars für Volksernährung vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 193f. 581 Vgl. Käber, Berlin, S. 178.
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Ausübung der Aufsichtsrechte des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg und des Regierungspräsidenten von Potsdam hinsichtlich der Lebensmittelversorgung GroßBerlins übertragen, die im Februar 1917 auf den Staatskommissar für Volksernährung übergegangen waren. »Damit war nicht nur die Verteilung der vom Staat den Großberliner Gemeinden überwiesenen Lebensmittel, sondern auch die Aufsicht über die ihnen innerhalb ihres Gebietes zustehende Versorgungsregelung vereinigt – eine für die Selbständigkeit und dem Einfluß Berlins allerdings keineswegs unbedenkliche Machtfülle! Die Gefahr drohte, daß die gesamte Lebensmittelversorgung Großberlins aus der Hand der unter Sorgen und Mühen zustande gekommenen Großberliner Organisationen in die der Staatlichen Verteilungsstelle übergehen würde.«582 Berlins Sorgen um den Verlust der Autonomie wurden dadurch genährt, dass sich der zur Staatlichen Verteilungsstelle zugehörige fünfzehnköpfige Beirat, der sich lediglich aus drei Vertretern der Groß-Berliner Gemeinden und vor allem aus Staatsbeamten sowie Arbeitgebern der Rüstungsindustrie und einigen Arbeiterführern zusammensetzte, mehrheitlich gegen die Interessen Berlins und seiner Vorortgemeinden stellte.583 Wie sehr die Groß-Berliner Brotkartengemeinschaft nun gezwungen war, ein Mittel zur Begrenzung der Verfügungsgewalt der neuen staatlichen Verteilungsbehörde zu finden, verdeutlichte z.B. die nun deutlich erstarkte Position der Groß-Berliner Fabrikbesitzer. Diese lehnten eine kommunale Einmischung in ihre fabrikinternen Versorgungsangelegenheiten ab. Bereits Anfang des Frühjahrs 1917 schlossen sie sich zusammen und gründeten auf Initiative des Berliner Großindustriellen Ernst von Borsig (1869–1933) den Ernährungsausschuss für die Rüstungsarbeiter Groß-Berlins. Gegenüber dem Kriegsamtschef Groener machte Borsig deutlich, dass der Ausschuss beabsichtigte, mit den Militärbehörden zusammenzuarbeiten. »He claimed«, so Yaney, »that his committee represented most of the larger war plants in greater Berlin, both owners and workers, and he suggested that it might establish an independent agency for channelling food to individual war enterprises.«584 Borsig und seine Mitstreiter wünschten sich geordnete Verhältnisse bei der Belieferung ihrer Betriebe und zielten mit ihrer Initiative auf die Kooperation mit der Militärverwaltung, welche jegliche Verbindungen zu den kommunalen Verteilungsmechanismen ausschloss. Mit seinem Anliegen stieß Borsigs Ausschuss nicht nur beim Kriegsamt auf Gegenliebe.585 Durch ihre drei Mitglieder im Beirat der Staatlichen Verteilungsstelle (einer davon war Borsig) konnte der Ernährungsausschuss schließlich auch die zuständige Behörde für sich gewinnen. Im Spätsommer 1917 war der von Borsig und seinem Ausschuss ins Leben gerufene Verein Werkspeisung Groß-Berlin ohne jedwede administrative Kontrolle für die
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Ebd., S. 93. Vgl. Yaney, The World, S. 157 und 161f. Ebd., S. 128. Triebel zufolge zielte die von der Militärverwaltung forcierte Politik der »Konzentration aller Kräfte« nicht nur darauf ab, innerhalb der Arbeiterschaft Abstufungen bei der Entlohnung und Versorgung einzuführen, sondern auch die Versorgung der Industriebetriebe aus der kommunalen Zuständigkeit herauszulösen. Vgl. ders., Gesellschaftsverfassung, S. 425.
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Verteilung der von Binzers Verwertungsstelle akquirierten Lebensmittel in den GroßBerliner Fabrikkantinen zuständig.586 Solange die zur Brotkartengemeinschaft gehörigen Gemeinden und Landkreise sich nicht auf die Einrichtung einer gemeinsamen Organisation einigen konnten, die einheitliche Verteilungsgrundsätze für sämtliche Lebensmittel im Groß-Berliner Raum zu Wege brachte, blieb dem Berliner Oberbürgermeister und seinen Mitstreitern der Vorortgemeinden zunächst kaum mehr übrig als das Vorgehen der staatlichen Verteilungsbehörde protestierend hinzunehmen. Gegen Ende des Jahres 1917 gelang es ihnen schlussendlich doch noch den preußischen Staatsbehörden einen größeren kommunalen Zusammenschluss entgegenzusetzen, der im November in Gestalt des Lebensmittelverbandes Groß-Berlin in Erscheinung trat. Dabei handelte es sich jedoch mehr um eine Notlösung, da aufgrund des »Vorortspartikularismus« eine umfassende Einigung über gemeinsame Verbrauchs- und Verteilungsreglungen für die einzelnen Lebensmittel nicht möglich war.587 Letztlich wurde über die gemeinsame Brotversorgung hinaus eine übereinstimmende Regelung für die in den Industriebetrieben so begehrten Nährmittel gefunden und ein einheitliches Verteilungsverfahren bei der Versorgung der Rüstungsarbeiterschaft entwickelt.588 Sogleich nach seiner Gründung verlangte der Lebensmittelverband von Hagedorn, die Lieferungen der Verwertungsstelle für die Groß-Berliner Kriegsfabriken anzuhalten und die Beaufsichtigung dieser durch den Lebensmittelverband zu gewährleisten: »With policy and regulations in being, Berlin’s demand to control Binzer’s shipments to factory canteens had become realistic […]. In late February 1918, Hagedorn formally agreed to let the Federation supervise Binzer’s deliveries. Thenceforth, all shipments coming to factory canteens in war industries in the Federation’s territory would go to a central warehouse, there to be repacked for distribution to the factories in accordance with the Federation’s policies.«589 Mit der Gründung des Lebensmittelverbandes konnten Berlin und seine Nachbargemeinden ihre Selbstverwaltungsansprüche behaupten. Gleichwohl waren Wermuth und seine Stadtverwaltung noch immer weit davon entfernt, der Berliner Stadtbevölkerung eine möglichst gleichmäßige und gerechte Lebensmittelversorgung zuzusichern. Davon abgesehen, dass Hagedorns Verteilungsstelle weiterhin vereinzelte Sonderlieferungen in die Kriegsindustrien zuließ ohne den Lebensmittelverband darüber in Kenntnis zu setzen590 , hatte Berlin nach wie vor für den nicht funktionierenden innerstaatlichen Güteraustausch zwischen Überschuss- und Bedarfsgebieten einzustehen. Während der zweiten Kriegshälfte war die Hauptstadt dauerhaft unterversorgt, was
586 Vgl. Yaney, The World, S. 146 und 190. Vgl. auch Käber, Berlin, S. 116. 587 Vgl. ebd., S. 98. 588 Vgl. Satzung des Lebensmittelverbandes Groß-Berlin. A Rep. 001–02, Nr. 1806. Vgl. auch Käber, Berlin, S. 98. Sowie Schilling-Voß, Die Sonderernährung, S. 37f. 589 Yaney., The World, S. 196. Vgl. ebenso Käber, Berlin, S. 116. Im April übernahm der Lebensmittelverband auch den Verein Werkspeisung Groß-Berlin. 590 Vgl. Yaney, The World, S. 196f.
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dazu führte, dass die Berliner Administration unentwegt versuchte, gegen jedwede Form der Bevorteilung bestimmter Bevölkerungskreise vorzugehen. Die Sonderversorgung der Schwerst- und Rüstungsarbeiter, die aus Sicht des Berliner Magistrats vorrangig auf die Mahlzeitversorgung in den Fabrikspeisungen beschränkt bleiben sollte, war nur eine »Front«, an der sich die Stadtverwaltung für eine möglichst gleichmäßige Verteilung des vorherrschenden Mangels einsetzte. Eine andere war die privatwohltätige Konkurrenz der Volksspeisung und hierbei in erster Linie die Mittelstands- und Beamtenverpflegung, die in Berlin seit dem Sommer 1916 regelrecht florierte.
2.4 Die Großküchenkonkurrenz: Berliner Mittelstands- und Beamtenverpflegung Über die Volksspeisung und die Arbeiterverpflegung in Fabrikkantinen hinaus gab es in der Reichshauptstadt eine Reihe weiterer privatwohltätiger und privatwirtschaftlicher Speisegelegenheiten. Eine Vielzahl dieser Speiseeinrichtungen gehörte bereits zum Berliner Notspeisesystem der ersten beiden Kriegsjahre. Einige von ihnen, darunter die Einrichtungen des Vereins der Berliner Volksküchen von 1866 und der Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft, hielten ihren Betrieb auch im dritten und vierten Kriegsjahr aufrecht und betrachteten ihre Tätigkeit »als eine Ergänzung der städtischen Massenspeisung und als Entlastung der städtischen Kriegsfürsorge«591 . Mit ihren zumeist alternativen Speiseangeboten und häufig auch ansprechenderen Einrichtungen stellten sie für das städtische Volksspeisungsunternehmen zwangsläufig auch eine Konkurrenz dar, die von der Stadtverwaltung vor allem dann missbilligt wurde, wenn die alternativen Speiseeinrichtungen und -initiativen zu einer Bevorteilung bestimmter Bevölkerungskreise beitrugen. Der wohl bedeutendste Konkurrent der Volksspeisung, der ins Visier der Berliner Kommunalbeamten geriet, war Herrmann Abraham mit seinem Kindervolksküchenverein. Wie schon in der ersten Kriegshälfte war der Verein auch 1917 noch »der größte philanthropische Träger der Berliner Ernährungsfürsorge«592 – und das obwohl die Einführung der Stadtküchen nicht ohne Auswirkungen auf die Vereinstätigkeit blieb. So musste Abraham die von ihm ins Leben gerufene und seit mehr als zwanzig Jahren betriebene Schulkinderspeisung zu Anfang Oktober 1916 an die Stadtverwaltung und deren Volksspeisung abgeben.593 Nach dem Wegfall der Schulkinderspeisung nutzte Abrahams Verein seine frei gewordenen Kräfte für andere Zwecke. Der Küchenbetrieb in den Kinder-Volksküchen wurde aufrechterhalten und fortan auf die Verpflegung von zwei- bis sechsjährigen Kindern ausgerichtet. Diese bis zu 36 Abschrift des Schreibens des Vereins für Kinder-Volksküchen und Volks-Kinderhorte Berlin an den Berliner Magistrat vom 5. Februar 1917. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 315, Bl. 72–73, hier Bl. 73. 592 Allen, Hungrige Metropole, S. 67. 593 Vgl. Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 7f. Vgl. auch Denkschrift des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte über seine Tätigkeit und Organisation [Ende 1916/Anfang 1917]. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 315, Bl. 25–41, hier Bl. 28. Vgl. auch »Schulkinderspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 6. August 1916. Der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung zur Übernahme der Berliner Schulkinderspeisung durch die Stadt, für den sich vor allem die Sozialdemokraten seit der Vorkriegszeit einsetzten, erfolgte bereits im Februar 1916. Vgl. hierzu »Die Speisung bedürftiger Schulkinder«, 591
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»Suppenküchen für Kleinkinder« gaben um die Jahreswende 1916/17 rund 14.000 Portionen täglich aus und versorgten neben den städtischen Säuglingsfürsorgestellen und Kleinkinderbewahranstalten auch unzählige Kleinkinderfürsorgevereine.594 Doch einen beträchtlichen Teil seiner Kapazitäten widmete der Kindervolksküchenverein dem Ausbau seiner Mittelstandsküchen, deren Zahl bis zum Ende des Jahres 1917 auf dreißig Einrichtungen anwuchs. Darüber hinaus eröffnete Abrahams Verein im Juli 1916 seine ersten drei Kriegsküchen, die sich ausschließlich an Beamte und Privatangestellte richteten. Hier orientierte sich der Speisebetrieb vor allem an den Arbeitszeiten des Zielpublikums, das oftmals erst in den Nachmittagsstunden Gelegenheit zur Mittagspause fand.595 Die Beamtenküchen nahmen ihren Betrieb auf, wenn die Stadtküchen und Mittelstandsspeisungen ihre Speiseausgabe gegen dreizehn Uhr beendeten. Bis in die Abendstunden versorgte jeder der Beamtenspeisebetriebe täglich über 1.000 Besucher, die zunächst achtzig Pfennig und später eine Mark und mehr für ihre Mittagsportion zahlten. Mit seinen Mittelstands- und Beamtenküchen, in denen die Speisen anders als in den Stadtküchen direkt am Tisch serviert wurden, wollte der Verein »›den Wünschen desjenigen Teils des Publikums entgegen kommen [sic!], das der… Einförmigkeit der [städtischen] Massenspeisung keine Sympathie‹ entgegenbrachte. Hier aß man an gedeckten Tischen und konnte sich die ganze Kriegszeit hindurch darauf verlassen, daß ›an einer täglichen Speisefolge von mehreren Gerichten‹ festgehalten wurde.«596 Wie sehr Abraham den Nerv seines Zielpublikums traf, belegt die weitere Entwicklung seiner Beamtenspeisungen (Abb. 10). Gegen Ende 1917 betrieb der Verein neben sieben offenen Beamtenküchen insgesamt 31 Kriegsküchen in Staats- und Reichsämtern. Zur langen Liste der vom Kindervolksküchenverein versorgten Ministerien und Behörden gehörten u.a. das KEA, das Kriegsamt sowie weitere Stellen des Kriegsministeriums, das Kriegspresseamt, das Ministerium für Handel und Gewerbe, das Landwirtschaftsministerium, das stellvertretende Generalkommando und weitere Militärbehörden, die Kriegsamtsstelle in den Marken, die Zentral-Einkaufsgesellschaft (ZEG) und die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte.597 Darüber hinaus gehörten die Angestellten des Abgeordnetenhauses und der Landesversicherungsanstalt Berlin zum Kundenkreis des Kindervolksküchenvereins.
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in: Vorwärts, 5. Februar 1916. Sowie »Schulspeisung in städtischer Regie«, in: Vorwärts, 8. August 1916. Mit der Einführung der Volksspeisung stellte Abraham auch den Verkauf von »Topfportionen« für Erwachsene ein, der bis dahin im Rahmen der Schulkinderspeisung in einigen Kinderküchen angeboten wurde und mit dem Bestehen der Stadtküchen nicht mehr notwendig war. Vgl. »Der Verein für Kindervolksküchen«, in: Vorwärts, 15. Juli 1916. Vgl. Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 9 und S. 22. Vgl. hierzu auch Abb. 12. Vgl. »Die erste Beamtenküche in Berlin«, in: Die Zeit, 16. Juli 1916. »Kriegsküche für Beamte«, in: Vorwärts, 26. Juli 1916. Vgl. auch »Eine Küche für Beamte«, in: Vossische Zeitung, 8. Juli 1916. Allen, Hungrige Metropole, S. 67. Eine vollständige Übersicht der versorgten Behörden und Ämter enthält die vom Kindervolksküchenverein im November 1917 herausgegebene Publikation Zuschriften von Reichs-, Staatsbehörden u[nd] Kriegsgesellschaften an den Verein für Kinder-Volksküchen u[nd] Volkskinderhorte Berlin e.V. BA, R 3101–6040, Bl. 64–82.
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Abbildung 25: Mittelstandsküche des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (Juli 1916)
Foto: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (03) Nr. II8913/Foto: k. A.
Nicht nur die Zahl der Einrichtungen nahm zu, auch die Anteilnahme in den Küchen war beachtlich. Zwischen Anfang Juli 1916 und Ende August 1917 gaben die Mittelstandsund Beamtenküchen von Abraham fast fünfzehn Millionen Portionen aus (Abb. 13).598 Im März 1917, dem Höhepunkt der Versorgungskrise des Hungerwinters 1916/17, verkauften die Einrichtungen täglich mehr als 46.000 Portionen. Und auch außerhalb der Krisenzeiten der letzten beiden Kriegsjahre verfügten die Mittelstands- und Beamtenspeisungen mit rund 34.000 bis 44.000 täglich versorgten Personen über einen beachtlichen Kundenstamm.599 Der unaufhörliche Zuspruch und die umfangreiche Inanspruchnahme der Küchen des Vereins machten die Berliner Stadtverwaltung misstrauisch. Auf den ersten Blick wirtschafteten Abrahams Einrichtungen seit der Einführung der Volksspeisung im Sommer 1916 unter den gleichen Umständen wie die städtischen Küchen. So bekam der Kindervolksküchenverein seit Mai 1916 einen beträchtlichen Teil seiner Lebensmittel nicht mehr von den Reichsversorgungsstellen, sondern von den städtischen Behörden zugewiesen. Gleichfalls hatte der Verein der Einführung der Kartenabgabe für bewirtschaftete Lebensmittel nachzukommen, wodurch auch die Einführung eines Wochenabonnements unausweichlich war.600 Doch diese administrativen Einschränkungen, die für viele Volksspeisungsgäste einen Hinderungsgrund zur Teilnahme darstellten, 598 Siehe hierzu auch Döhling, Friedrich: Das Problem der Massenspeisung und die Massenspeisungsbewegung in Deutschland, im Speziellen in München, München 1918, S. 58. 599 Vgl. Yaney, The World, S. 204. Sowie Denkschrift des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte über seine Tätigkeit und Organisation [Ende 1916/Anfang 1917]. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 315, Bl. 25–41, hier Bl. 34. 600 Vgl. auch Roerkohl, Hungerblockade, S. 257. Yaney, The World, S. 210.
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taten der Nachfrage in den Abrahamschen Küchen keinen Abbruch. Im Gegensatz zu den Stadtküchen wussten die Beamten- und Mittelstandsküchen mit einer konstanten Speisevielfalt und gutem Service zu überzeugen, was seitens der Stadtverwaltung zu der Annahme führte, dass Abraham seine Einrichtungen auf nicht zulässige Weise mit Lebensmitteln versorgte. Ende des Jahres 1916 wurde er beschuldigt auf dem Schwarzmarkt zu handeln.601 Darüber hinaus waren der Volksspeisungschef Doflein und der Magistrat davon überzeugt, dass Abrahams Küchen vom Einfluss ihres Kundenkreises profitierten und damit eine Bevorteilung der Beamten und Privatangestellten gegeben gewesen sei.602 Sowohl der Schwarzmarkthandel als auch die Vorteilnahme konnten Abraham jedoch nicht nachgewiesen werden. Nach den Ausführungen Yaneys verfügte der Berliner Philanthrop, der sich mit seiner langjährigen Wohltätigkeitsarbeit über die Stadtgrenzen hinaus einen Namen gemacht hatte, aber durchaus über zahlreiche Handelsbeziehungen im In- und Ausland: »As a buyer, he enjoyed the advantage of long-established personal connections in the import-export trade. He bought animal innards in Austro-Hungary until April 1918, and his acquaintances in the government’s importing monopoly (ZEG) sent him more or less regular deliveries of food throughout the war. Some of the imperial food directorates sent him shipments until 1916, when, apparently, the breadcard association began putting obstacles in the way.«603 Abrahams Handelskontakte wussten, dass der Kindervolksküchenverein, dessen Tätigkeit zu einem großen Teil auf ehrenamtlicher Arbeit beruhte, nicht auf Profit aus war und waren, wie Yaney darlegt, oftmals bereit, die Lebensmittellieferungsbestimmungen zu Abrahams Gunsten auszulegen.604 Darüber hinaus verfügte der Wohltäter über verschiedene lange haltbare Lebensmittelvorräte (z.B. Reis), die er für seinen Verein in umfassenden Mengen bereits zu Kriegsbeginn akquiriert hatte und von denen bis nach Kriegsende noch Bestände vorhanden waren. Der entscheidende Grund für Abrahams Erfolg waren jedoch sein Einfallsreichtum und der raffinierte Einsatz unkonventioneller Lebensmittel.605 Der Kindervolksküchenverein griff bei der Zubereitung der Speisen vor allem auf Lebensmittel zurück, die von anderen Küchenbetrieben nicht beansprucht wurden. So verarbeitete er vor allem tierische Innereien zu Wurst und war zugleich der einzige Abnehmer für die großen Mengen an Hefe, die trotz der vorherrschenden Lebensmittelknappheit von den Berlinern und der Volksspeisung abgelehnt wurde. »Abraham’s ingenuity obviously reinforced his shady reputation for profiteering and getting food illegally, but it was something of an achievement to turn the garbage piles of other distributors into dinner entrees«606 , so Yaneys Resümee. Der Wohltäter war im Gegensatz zu den Verantwortlichen in den städtischen Küchenbetrieben in der Lage 601 Vgl. ebd., S. 204. Ferner Triebel, Gesellschaftsverfassung, S. 427. 602 Vgl. Yaney, The World, S. 207. Yaney hat die Auseinandersetzungen zwischen der Berliner Stadtverwaltung und Abrahams Kindervolksküchenverein in seiner Studie bereits umfassend aufgearbeitet. Die folgenden Ausführungen stützen sich daher weitgehend auf seine Arbeit. 603 Ebd. 604 Vgl. ebd. 605 Vgl. ebd. 606 Ebd., S. 208.
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seine Speiseeinrichtungen geschickt mit ansprechenden Nahrungsmitteln zu versorgen und war durch den vermehrten Rückgriff auf nicht-rationierte Lebensmittel auch in der Lage bei vielen seiner Speisen auf die Einforderung der Lebensmittelkarten zu verzichten.607 Ohne die Verhältnisse in Abrahams Küchen näher in den Blick zu nehmen, agierte die Berliner Stadtverwaltung gegenüber ihrem Mitbewerber mit einer »befremdlichen Feindseligkeit«608 . »Im Januar 1917«, so Armin Triebel, »halbierte die Stadt dem Verein die Zuteilungen an Nährmitteln zugunsten der städtischen Speisehallen.«609 Der Magistrat begründete seine Entscheidung mit der allgemein schlechten Versorgungslage und der fehlenden Einsichtnahme in die Geschäfte des Vereins. Da dieser zu diesem Zeitpunkt zahlreiche neue (Beamten-)Küchen in Betrieb nahm und für den erweiterten Besucherkreis auch höhere Mengen Lebensmittel beanspruchte, sah sich der Berliner Magistrat dazu veranlasst, der Bevorteilung der besser situierten Kreise in den Mittelstands- und Beamtenküchen entgegen zu wirken: »[… E]s bleibt unsere Pflicht, neben Interessen des Vereins auch die der übriger [sic!] Berliner Bevölkerung und der städtischen Massenspeisung zu berücksichtigen und Vorräte zur Gewährung von Zuschüssen an die Bevölkerung und zur Verwendung in der städtischen Massenspeisung bereit zu stellen, zwei Punkte, die wegen der bevorstehenden Ernährungsschwierigkeiten unsere ernste Sorge beanspruchen. Wir haben deshalb in einer Sitzung unserer Kriegskommission den allgemeinen Grundsatz aufgestellt, daß Küchen, die bisher keine städtischen Lebensmittel empfangen haben, diese auch künftig nicht erhalten und daß bei Küchen, die bisher solche bekommen haben, eine Kürzung der Bezüge eintreten muß. […] Es wäre in keiner Weise gerechtfertigt, alle die fortgesetzten Neugründungen des Vereins für Kindervolksküchen auf Kosten der Allgemeinheit und der sicheren Durchführung der städtischen Volksspeisung mit Vorräten zu beliefern.«610 Dem Oberbürgermeister zufolge sei bekannt gewesen, dass Abrahams Küchen auch zahlreiche Vorortbewohner versorgten, für deren Verbrauch die Stadt Berlin keinen Ersatz erhielt. »Eine Schädigung der Berliner Bevölkerung«, so Wermuth, »[…] würde durch die Belieferung der Mittelstandsküchen auch namentlich der Beamtenküchen unbedingt eintreten.«611 Zwar verfügte Abraham über alternative Lebensmittelquellen, doch waren seine Küchen im umfassenden Maß auf die städtischen Zuteilungen angewiesen. Im Zuge der Nährmittelkürzungen fürchtete der Philanthrop um das Fortbestehen seiner Speiseeinrichtungen und wandte sich u.a. an das Preußische Innenministerium und das KEA, um »behördlicherseits« eine Sicherung der Versorgung
607 Die ausgebliebene Abgabe der Lebensmittelkarten wurde Abraham und dem Kindervolksküchenverein wiederholt zu Unrecht angelastet. Vgl. ebd., S. 204. 608 Triebel, Gesellschaftsverfassung, S. 426. 609 Ebd., S. 427. 610 Schreiben des Oberbürgermeisters Wermuth an den Präsidenten des KEA und den Oberpräsidenten von Berlin vom 20. Januar 1917. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 315, Bl. 43–44, hier Bl. 43. 611 Ebd., Bl. 43f.
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der Staats- und Reichsbeamten in die Wege zu leiten.612 Darüber hinaus erhielt er aus den Reihen der von ihm versorgten Ministerien und Behörden Unterstützung. So richteten sich z.B. das Kriegsministerium, die ZEG und die Reichsstelle für Speisefette an die zuständigen preußischen Staatsbehörden und drängten auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung ihrer Kriegsküchen.613 Die daraufhin vom preußischen Staatskommissar für Volksernährung Michaelis unternommenen Vermittlungsversuche zwischen dem Verein und der Berliner Administration blieben jedoch erfolglos. Die Stadtverwaltung, die auf die Gleichbehandlung aller Berliner bestand, sah in den nicht kontrollierbaren Mittelstands- und Beamtenküchen eine Quelle von Ungerechtigkeit und hielt an ihrem Kurs gegenüber Abraham fest.614 Damit drängte der Berliner Magistrat seinen Konkurrenten regelrecht dazu, sich der städtischen Kontrolle zu entziehen. Dieser sah sich nun gezwungen, seine Kontakte in der ZEG und der von seinem Verein versorgten Kriegsamtsstelle in den Marken in Anspruch zu nehmen. Auf deren Hinwirken erhielt Abraham zwar nicht regelmäßig, aber in äußerst dringenden Fällen Nährmittelzuteilungen von der Staatlichen Verteilungsstelle.615 Während der Dauer des Krieges war Herrmann Abraham stets von seinem Wohltätigkeitswerk und der Notwendigkeit seiner Mittelstands- und Beamten- sowie Kinderküchen überzeugt. Die Besucher dieser Einrichtungen hatten Bedürfnisse, die seitens der städtischen Küchen nicht erfüllt wurden. Abraham sah sich selbst nicht als Konkurrent der Berliner Volksspeisung. Er hielt die städtischen Großküchen für eine erforderliche Versorgungsmaßnahme, doch nach Ansicht des Philanthropen entsprachen die Stadtküchen einem »abstract ideal of equitable distribution«616 . Auf die eigentlichen Bedürfnisse der Bevölkerung habe die Volksspeisung ihm zufolge nicht reagiert. Solange es Beamte und Angestellte gab, die dazu bereit und finanziell imstande waren, sich für etwas mehr Geld von den Küchen des Kindervolksküchenvereins versorgen zu lassen, so Abrahams Auffassung, sei es zwecklos, sie in die Warteschlangen der Volksspeisung zu drängen. »In his restaurants, as in his prewar child care facilities«, erklärt Yaney, »Abraham was interested primarily in helping individuals to preserve a sense of personal identity against the pressures of urban sprawl and modern war.«617 Dass der Berliner Fürsorgepionier mit seinem Anliegen in weiten Teilen der Berliner Bevölkerung Anklang fand, belegt die starke Frequentierung seiner Küchen. Diese standen – solange sie nicht konkreten Staats- und Reichsbehörden zugeordnet waren – allen Berlinern offen und wur-
Vgl. Schreiben des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte Berlin an den Geheimen Regierungsrat Hans von Eynern (1874–1957) im preußischen Innenministerium vom 15. Februar 1917. Ebd., Bl. 52–53. Sowie Abschrift des Schreibens vom Verein für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte Berlin an den Berliner Magistrat vom 5. Februar 1917. Ebd., Bl. 72–73. 613 Vgl. Schreiben des Kriegsministeriums an den Geheimen Regierungsrat von Eynern im Innenministerium vom 21. Februar 1917. Ebd., Bl. 51. Schreiben der ZEG an den Minister des Innern vom 21. März 1917. Ebd., Bl. 79–80. Sowie Schreiben der Geschäftsabteilung der Reichsstelle für Speisefette an den Preußischen Staatskommissar für Volksernährung vom 27. März 1917. Ebd., Bl. 99–102. 614 Vgl. Triebel, Gesellschaftsverfassung, S. 427. 615 Vgl. Yaney, The World, S. 212. 616 Ebd., S. 224. 617 Ebd. 612
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den schichtenübergreifend in Anspruch genommen.618 Nach Angaben des Vereins betrug die tägliche Portionsausgabezahl in den Beamten-, Mittelstands- und den Suppenküchen für Kleinkinder gegen Ende des Jahres 1917 zwischen 70.000 und 80.000 Mahlzeiten, womit das Abrahamsche Mahlzeitenangebot zeitweise stärker in Anspruch genommen worden zu sein schien als das der städtischen Volksspeisung.619 Da es neben Abrahams Küchen noch zahlreiche Alternativen zur Volksspeisung gab, für die jedoch keine vergleichbaren Informationen vorliegen, ist es schwer einzuschätzen wie stark die Inanspruchnahme der alternativen (privatwohltätigen) Berliner Speisebetriebe in der zweiten Hälfte des Krieges ausfiel. Die Entwicklung der Inanspruchnahme in den Küchen des Kindervolksküchenvereins liefert jedoch Anhaltspukte für die allgemeine Frequentierung der Volksspeisungsalternativen. Käber zufolge existierten während der Kriegszeit neben den Küchen und Ausgabestellen der Volksspeisung etwa 220 philanthropische Speiseeinrichtungen.620 Zwischen 1916 und 1918 waren noch etwas mehr als Hundert dieser Küchen in Betrieb, wobei der überwiegende Teil (etwa siebzig bis achtzig Speisebetriebe) vom Kindervolksküchenverein unterhalten wurde.621 Gegen Ende des Jahres 1916 und damit noch vor den großen Versorgungskrisen der darauffolgenden Monate wurden die alternativen öffentlichen Speisebetriebe, so geht aus einem Bericht der Berliner Volkszeitung hervor, mit rund 80.000 Kostgängern genauso stark in Anspruch genommen wie die stadteigenen Küchen.622 Unter Hinzuziehung der
618 Vgl. »Die billige Küche des Berliners«, in: Der Morgen, 24. Januar 1916. Sowie »Berliner Kriegsküchen«, in: Pester Lloyd, 21. Mai 1915. Auch Yaney verdeutlicht, dass die Küchen des Kindervolksküchenvereins nicht ausschließlich für die »Privilegierten« vorgesehen waren. »Factory workers were allowed to eat in ›middle-class‹ restaurants, and in the fall of 1917 a visitor to one of them reported that he saw common laborers among the customers. However, most of Abraham’s eateries were not located in the vicinity of factories; hence, they were not easily available for workers.« Ders., The World, S. 210. Auch die Beamtenküchen der verschiedenen Staats- und Reichsbehörden standen prinzipiell allen Beschäftigten – vom Reinigungspersonal bis zum Staatsminister – zur Verfügung. Vgl. ebd. 619 Vgl. Zuschriften von Reichs-, Staatsbehörden u[nd] Kriegsgesellschaften an den Verein für Kinder-Volksküchen u[nd] Volkskinderhorte Berlin e.V. BA, R 3101–6040, Bl. 64–82, hier Bl. 65. Vgl. hierzu auch Abb. 23. Es ist jedoch fraglich, ob der Verein tatsächlich eine derart hohe Portionsausgabezahl zu verzeichnen hatte. Diese Angaben entsprechen vielmehr den täglichen Portionsausgabezahlen des Vereines während der Versorgungskrise im Februar/März 1917 (einschließlich Portionsnachgaben). Vgl. Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 17 und S. 19. Yaney nimmt an, dass Abraham den Behörden gegenüber stets einen größeren Leistungsumfang seiner Küchen angab, um die Notwendigkeit weiterer Lebensmittellieferungen zu bekräftigen. Mit Blick auf die regelmäßigen Angaben der Vereinszeitschrift Die Kinderfürsorge über die monatlichen Besucherzahlen muss davon ausgegangen werden, dass die Zahl der durchschnittlich pro Tag ausgegebenen Portionen in den Jahren 1917 und 1918 (mit Ausnahme der Versorgungskrisen) nicht mehr als 40.000 Mahlzeiten umfasste. Vgl. hierzu Yaney, The World, S. 356, Anm. 76. Sowie Allen, Hungrige Metropole, S. 67. 620 Vgl. Käber, Berlin, S. 563. Davon konnten 211 Speisebetriebsstandorte ermittelt werden. 621 Vgl. Wronsky/Friedeberg, Handbuch der Kriegsfürsorge, S. 266ff. Die Angabe zur Küchenzahl des Kindervolksküchenvereins bezieht sich auf die Gesamtzahl, der zwischen 1916 und 1918 betriebenen Küchen ohne die Speiseeinrichtungen in den Staats- und Reichsinstitutionen. 622 Vgl. »400.000 Teilnehmer an den Massenspeisungen in Groß-Berlin«, in: Berliner Volkszeitung, 12. Dezember 1916.
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zahlreichen Kantinen verschiedener Unternehmen, Fabriken, Anstalten und Institute usw., die ebenfalls Alternativen zur Volksspeisung darstellten und zur gleichen Zeit von rund 100.000 Berlinern frequentiert wurden, sind im Dezember 1916 insgesamt etwas mehr als eine Viertelmillion Menschen in der Hauptstadt mit einem Mittagessen in einer Großküche versorgt worden.623 Ausgehend von diesen Zahlen und unter Berücksichtigung der Entwicklung der Besucherzahlen der Volksspeisung sowie der Küchen des Kindervolksküchenvereins kann davon ausgegangen werden, dass die Inanspruchnahme der alternativen Berliner Speisebetriebe während der letzten beiden Kriegsjahre tendenziell höher ausfiel als die der Volksspeisung.624 Auch wenn die Mehrheit der Berliner in Gänze der öffentlichen Mittagsversorgung fernblieb, gab es einen nicht unbeträchtlichen Teil der Berliner Bevölkerung, der nicht nur aus der Versorgungsnot heraus, sondern auch aufgrund der Arbeitsbedingungen bereit war, sein Mittagessen in einer Großküche einzunehmen. Diesen aber konnte das gescheiterte stadteigene Großküchenunternehmen nicht für sich gewinnen. Da eine gleichmäßige und gerechte Verteilung der Lebensmittel in der Reichshauptstadt zu keinem Zeitpunkt in Aussicht stand, waren die betroffenen Berliner vornehmlich gewillt, ihren Stolz zu wahren, der sie von den untersten Schichten der Bevölkerung trennte.625 Diesem Bedürfnis trugen die individuellen Volksspeisungsalternativen Rechnung. Dass der Großküchenbesuch bis zum Ende des Krieges einen Platz im Alltag Hunderttausender Hauptstädter einnahm und damit über die Notzeiten hinweghalf, war schlussendlich ein Verdienst aller Speisebetriebe.
3| Die Wiener Kriegsküchenversorgung 3.1 »Ergreifende Bilder des Großstadtelends«: Die Wiener Ausspeisungsaktion 1914–1916 Mit dem Ziel allen in Not geratenen Wienern wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zu sichern, leitete die Kriegsfürsorgezentrale des Rathauses bereits wenige Tage nach der eigenen Konstituierung die Einrichtung der öffentlichen Wiener Ausspeisungsaktion ein. Am 18. August 1914 richtete die Zentralstelle der Fürsorge einen Aufruf an die aktiven Vereine der Stadt, die sich wie die Erste Wiener Suppen- und Teeanstalt und das Kuratorium zur Speisung hungernder Schulkinder schon zu Friedenszeiten der Beköstigung ärmerer Bevölkerungsschichten und Kindern annahmen.626 Innerhalb von drei Tagen sollten sich die karitativen Vereine und Institutionen entscheiden, ob sie sich in den Dienst
623 Vgl. ebd. 624 Die Grundlage hierfür bildet die Annahme, dass die Berliner Speisebetriebe auch nach den Versorgungskrisen des Jahres 1917 von mindestens einer Viertelmillion Personen täglich in Anspruch genommen worden sind. Damit nutzten rund vierzehn Prozent der Bevölkerung die öffentlichen Mittagsangebote. Etwa drei bis fünf Prozent davon waren Besucher der Volksspeisung. Siehe oben Kapitel iii, die Ausführungen zu den Anm. 403 und 475. 625 Vgl. Harnack, Der Krieg, S. 8f. Sowie Daniel, Arbeiterfrauen, S. 203. 626 Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 159. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 68.
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der städtischen Ausspeisung stellen wollten. Von dem Aufruf ausgeschlossen waren zunächst die Wiener Volksküchen, »deren Leistungsfähigkeit für die Minderbemittelten ungeschmälert erhalten bleiben sollte«627 , wobei sich diese wie andere Volksspeisehäuser mit günstigen Mahlzeitangeboten freiwillig zu dieser Mehrleistung entscheiden und dienstbar machen konnten. Darüber hinaus wurden in nahezu allen Bezirken der Habsburgermetropole eine ganze Reihe neuer »Speisekomitees« geschaffen, für deren Organisation sich zahlreiche freiwillige Frauen der Wiener Frauenhilfsaktion verpflichteten. Da die Mehrheit der Hilfswilligen kaum Erfahrungen auf dem Gebiet der Ausspeisung besaß, stand die Präsidentin des Kuratoriums zur Speisung hungernder Schulkinder Betty Kolm »mit ihrem Wissen und Können der Ausspeisungsaktion«628 beratend zur Seite. »Wo nicht eigene Küchen bereits vorhanden waren«, so die Bürgermeistergattin Berta Weiskirchner, »mußten passende Lokale gesucht, Küchen errichtet, Vorratskammern beschafft werden.« Mit der Unterstützung der Sozialarbeiterin Kolm erhielten die Frauen das dringend erforderliche Handwerkzeug zur Errichtung, Leitung und Verwaltung der Großküchen. Untrennbar mit der Ausspeisungsaktion verbunden war eine weitere Kriegsfürsorgeorganisation, die sich zum Ziel setzte, mit Sammlungsaktionen einen beträchtlichen Teil der Finanzierung der Wiener Massenverpflegung für die Dauer des Krieges zu bewerkstelligen. Auf Anregung der Journalistin Alice Schalek (1874–1956) gründete die Gemahlin des Statthalters Baronin Anka von Bienerth-Schmerling (1869–1937) als Zweigstelle der Fürsorgezentrale das Schwarz-Gelbe Kreuz, dessen Hilfskomitee am 1. September 1914 seine Arbeit aufnahm.629 Die Sammlungen der Hilfsorganisation erfolgten im Rahmen von Wohltätigkeitsveranstaltungen und Spendenaktionen. Der Großteil der finanziellen Mittel wurde jedoch durch den Verkauf des »Schwarz-Gelben Kreuzes« erzielt, einem Emailabzeichen, das u.a. in Form von Halsketten, Uhrenbändern, Ringen und Ohranhängern angeboten wurde (Abb. 26).630 So berichtete die Neue Freie Presse am 11. Oktober 1914: »Für die außerordentliche Popularität, welche sich das Schwarz-Gelbe Kreuz erworben hat, spricht am beredtesten die Tatsache, daß heute, sechs Wochen nach Beginn des Verkaufes dieses Abzeichens, bereits das zweitausendste Stück abgesetzt wurde. Es ist eine besonders erfreuliche Erscheinung, daß das Schwarz-gelbe Kreuz nicht allein das Lieblingszeichen der aristokratischen und bürgerlichen Kreise, sondern auch der breiten Volksschichten geworden ist […]. Mit der bescheidenen Ausgabe von zwei Kronen wird nicht allein ein geschmackvoller, dauernden Wert besitzender Gegenstand
627 Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 27. 628 Weiskirchner, Frauen-Hilfsaktion, S. 24. 629 Die Leitung dieses Sonderkomitees übernahmen Schalek und der österreichische Schriftsteller Siegfried Loewy (1857–1931). Mit dem Presseaufruf »Wiener, schützt die Darbenden!« machte das Komitee die Bevölkerung auf sein Vorhaben aufmerksam. Siehe hierzu »Die Ausspeisungsaktion«, in: Fremdenblatt, 30. August 1914. 630 Nach den Ausführungen der Stadtverwaltung fand das Abzeichen Verwendung für mindestens siebzig verschiedene Artikel, darunter auch Leder-, Papier- und Textilwaren, die allesamt zum Verkauf angeboten wurden. Hierzu vgl. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 88.
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erworben, sondern damit gleichzeitig zehn Bedürftigen ein warmes Mittagsessen verschafft.«631 In weniger als einem Monat sammelte die Hilfsorganisation, deren Ehrenpräsidentinnen Anka Bienerth und Berta Weiskirchner waren, für die öffentliche Ausspeisung 280.000 Kronen. Darüber hinaus plante das Schwarz-Gelbe Kreuz für die fortfolgende Massenverpflegung während der Kriegszeit eine monatliche Abgabe von 80.000 Kronen an die Zentralstelle der Fürsorge.632 Mit diesen und weiteren Einnahmen, die sich vorrangig aus staatlichen Zuschüssen, aber auch aus weiteren Spenden an die Fürsorgezentrale zusammensetzten, waren die Kosten für die Durchführung und den breiten Ausbau der Ausspeisungsaktion weitgehend gedeckt.633 Nach den Blättern für das Armenwesen der Stadt Wien umfasste das Speisestellennetz im Oktober 1914 zunächst achtzehn Ausspeisungsstellen.634 Diese Zahl sollte im Zuge der vielen Speisestellenneugründungen und der anhaltenden Angliederung zahlreicher weiterer Vereine sowie Gasthäuser an die Zentralstelle in den darauffolgenden zwei Jahren um mehr als das Sechsfache steigen.
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Denscher, Bernhard und Franz Patzer: Das Schwarz-Gelbe Kreuz. Wiener Alltagsleben im Ersten Weltkrieg, Wien 1988, S. 11. 632 Bis zum Ende des Jahres sammelte das Schwarz-Gelbe Kreuz insgesamt 600.000 Kronen, die der Zentralstelle übergeben wurden. Vgl. Die Gemeinde Wien während der ersten Kriegswochen, S. 21. Sowie »Die Ausspeisungsaktion«, in: Neue Freie Presse, 27. Dezember 1914. 633 Vgl. Mertens, Weiskirchner, S. 162. Vgl. auch »Die öffentliche Ausspeisung«, in: Reichspost, 10. September 1914. Im Rathaus wurde eine Empfangsstelle für Spenden für die Arbeit der Fürsorgezentrale eingerichtet. Für die Spendeneinnahmen, die gezielt der Ausspeisungsaktion zugutekommen sollten, gab die Zentralstelle Spendenblöcke aus, die jeweils dreißig Blätter à zwanzig Hellerspenden enthielten. Vgl. ebd. Sowie Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 88. 634 Alle achtzehn Einrichtungen verfügten über eine tägliche Gesamtkapazität von 15.050 Portionen. Vgl. Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien 154 (Oktober 1914), S. 195. Anderen Berichten zufolge startete die Wiener Ausspeisungsaktion mit 22 Speisestellen. Vgl. hierzu u.a. »Oeffentliche Ausspeisung in Wien«, in: Neues Wiener Tagblatt, 23. Juni 1915. Sowie Tätigkeits-Bericht der Ausspeisungs-Aktion vom 20. Juli 1915. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/73. In den Protokollen des Wiener Gemeinderates umfasste die Liste der errichteten Ausspeisungsstellen Mitte Oktober bereits 31 Standorte, die sich auf zehn der Wiener Bezirke verteilten. Vgl. »Verzeichnis der bis einschließlich 10. Oktober 1914 errichteten Speisestellen der Zentrale I., Neues Rathaus«. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/73.
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Abbildung 26: Plakat mit dem Emblem des SchwarzGelben Kreuzes
Quelle: J. Weiner, Wien 1914. Katalog der Wienbibliothek im Rathaus, Public Domain (CC-PD). Im Internet unter: https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/co ntent/titleinfo/473355 (10.07.2018).
3.1.1 Die Planung eines reibungslosen Ablaufs: Richtlinien für die Ausspeisungen Für die Durchführung der Beköstigung der Wiener Bedürftigen in den städtischen Ausspeisungsstellen legte die Stadtverwaltung von vornherein klare Richtlinien fest, aus denen hervorgeht, dass die Umsetzung der Massenverpflegungsaktion bis in das kleinste Detail durchdacht wurde. Bereits der Aufruf an die Vereine enthielt eine Beilage mit den »Grundzügen für die Durchführung der einheitlichen Speisung«. Gemeinsam mit den im Oktober 1914 erlassenen »Zehn Geboten für die Bezirks-(Frauenarbeits-)Komitees und die Wiener Speisestellen« sowie »Verrechnungsvorschriften« bildeten sie ein umfassendes Regelwerk, das die Aufgaben und Verpflichtungen aller beteiligten Institutionen, Einrichtungen und Personen für die Durchführung der Ausspeisungsaktion klar festlegte.635 Zu den Beteiligten gehörten:
635 Richtunggebend war hierbei auch ein Erlass des k.k. Ministeriums des Innern, der am 27. August 1914 an die k.k. Statthalter bzw. Landeschefs ging und eine Reihe von Grundsätzen für eine um-
III. Metropolen im Krieg 1. 2. 3. 4.
Die Zentralstelle der Fürsorge als oberstes Organ der öffentlichen Ausspeisung, die Speiseeinrichtungen und -stellen636 , die örtlichen Bezirks- und Frauenarbeitskomitees, sowie das Ausspeisungspublikum.
Als leitende Institution kontrollierte die Zentralstelle der Fürsorge die Durchführung der Ausspeisung. Sie bestellte und überwachte die Speisestellen, schloss Vereinbarungen mit Gastwirtschaften und den Volksküchenvereinen, bestimmte die Menge und Art der Kost sowie die Verwendung der verfügbaren Geldmittel.637 Des Weiteren bestimmte sie auch die Vorgehensweise bei der Feststellung, wer zum Empfängerkreis der Ausspeisungsaktion gehörte, und gab Handlungsanweisungen, die zur Einheitlichkeit der registrierten und tatsächlichen Kostgänger beitrugen. In Abstimmung mit den Speiseeinrichtungen legte die Fürsorgezentrale die Höchstzahlen und den Höchstpreis für die Speiseportionen fest. Die Zentralstelle und ihr Leiter Obermagistratsrat Dont besorgten die Lebensmitteleinkäufe, die anschließend zum Selbstkostenpreis an die Speisestellen abgegeben wurden. Für die Lagerung der Lebensmittel richtete die Stadtverwaltung ein eigenes Magazin im Bezirk Favoriten ein, im dem in den folgenden Kriegsjahren mehrere Millionen Kilogramm verschiedener Lebensmittel für die Ausspeisung gelagert wurden. Die Kosten bekamen die Speiseeinrichtungen von der Zentralstelle erstattet.638 Sie betrugen zunächst pro Portion zwanzig, später bis zu 25 Heller. Die Form der Rechnungslegung gab die Zentralstelle vor: »Die Zentralstelle liefert den Speisestellen die Lebensmittel, gewährt Vorschüsse und Kredite, bestimmt Ausmaß und Anrechnungspreis der einzelnen Mahlzeiten, bezahlt diese den Speisestellen und erhält dafür den Preis der gelieferten Lebensmittel. Fehlbeträge sind aufzuklären, Überschüsse der Zentralstelle abzuführen.«639 Die Speiseeinrichtungen verpflichteten sich, für die Dauer des Krieges ihre Küchen und Speiseräume in den Dienst der Ausspeisungsaktion zu stellen, sich durch freiwilliges Hilfspersonal zu verstärken, ihr ehrenamtliches und ausgebildetes Küchenpersonal zu berufen und die Anschaffung der (bzw. weiterer) Küchenmaterialien zu übernehmen.640 Die Richtlinien zur Durchführung der Ausspeisung gaben zudem Anweisungen über die Ausstattung der Speiseeinrichtungen. Danach sollten die Speisestellen vorzugsweise im
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fassende Ausspeisungsaktion enthielt. Hierzu ausführlich Frieberger, Kurt: Die österreichischen Ernährungsvorschriften, hg. im Auftrage des k.k. Amtes für Volksernährung, Wien 1917, S. 119f. In den Vorschriften gemeinhin als »Speisekommissionen« bezeichnet. Zu diesen und den folgenden Ausführungen vgl. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 68ff. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 159ff. Vgl. Tätigkeits-Bericht der Ausspeisungs-Aktion vom 20. Juli 1915. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/73. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 160. Vgl. auch Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 27. Im Falle der Neugründung einer Speiseeinrichtung hatten die jeweils verantwortlichen Vereine bzw. Organisatoren die Kosten der Herstellung sowie die Einrichtung der Küchen und Speiseräume aus eigenen Mitteln (Sammlungen, Spenden etc.) zu tragen. Die laufenden Betriebskosten der Speiseeinrichtungen trug hingegen die Zentralstelle im Rathaus. Vgl. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 71.
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Erdgeschoss liegen, über getrennte Ein- und Ausgänge sowie einen Warteraum verfügen. Die Küchen mussten eine Vorratskammer vorweisen und sich in unmittelbarer Nähe zu den Speiseräumen befinden. Besaßen die Speiseeinrichtungen Transportmittel und -gefäße, waren ihre Küchen berechtigt, die Speisen für mehrere Speisestellen zuzubereiten und zu liefern. War mit den Kochutensilien das mehrmalige Kochen am Tag möglich, sollte hinsichtlich der Zeitersparnis vorgekocht und auf Kochkisten zurückgegriffen werden. Für die Herstellung der Speisen wurden den Küchen bereits bewährte Kochrezepte für die Massenverpflegung zur Verfügung gestellt. Ihre Wochenspeisezettel legten die Speisestellen der Zentralstelle periodisch vor. Darüber hinaus gehörte es zu den Verpflichtungen der Speisestellen, für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in ihren Speiseräumen zu sorgen641 und bei der Verteilung der Kost, die vereinbarte Höchstzahl von Personen und den festgelegten Umfang der Speisen zu befolgen: »[… J]edes Kind, jede erwachsene Person, die vom Erhebungsorgan zugewiesen wird, muß ausgespeist werden; […] aus wichtigen Gründen kann die Speisung auch Selbstzahlern zum vollen oder ermäßigten Preise gewährt werden; […] der Organisation verbleibt die freie Verfügung über ihre eigenen Geldmittel, sie kann damit die Speisung ergänzen oder erweitern, soweit dadurch ihre Verpflichtungen gegenüber der Zentralstelle nicht beeinträchtigt werden.«642 In Speisestellen, die in Gastwirtschaften, Volksküchen oder Volksspeisehäusern eingerichtet waren, überwachten ehrenamtliche Speisekommissionen der Zentralstelle die Küchenverwaltung und Einhaltung der Vertragsbestimmungen. Nahezu alle formalen Angelegenheiten, die in Verbindung mit den Ausspeisungsbesuchern standen, übernahmen die örtlich zuständigen Bezirks- und Frauenarbeitskomitees. Um eine Berechtigung zur Teilnahme an der Ausspeisung zu erhalten, prüften die Komitees zunächst die Bedürftigkeit der Bewerber sowie deren ununterbrochenen mindestens vierwöchigen Aufenthalt in Wien: »Die Bedürftigkeit wird mit Hilfe des Armeninstituts (Armenkatasters), der Krankenkassenkontrollore, der Vertrauensmänner der Gewerkschaften und durch persönliche Erhebungen festgestellt. Zur Feststellung der Dauer des Aufenthaltes dient in der Regel der Meldezettel.«643 Im Falle einer offenkundigen Notsituation der Bewerber, die dennoch eine Erhebung verlangte, waren die Frauenarbeitskomitees berechtigt, sofortige Hilfe zu leisten, indem sie für wenige Tage gültige Speisemarken für eine bestimmte Speisestelle ausgaben. Die 641 Hierfür konnten neben ehrenamtlichen Personen auch die Speisestellenbesucher herangezogen werden. Das Gelingen solcher Versuche zur Herstellung einer weitgehenden Selbstverwaltung sei den Richtlinien zufolge von den sorgfältig zu prüfenden Verhältnissen des Einzelfalles abhängig gewesen. Vgl. hierzu ebd. 642 Zitiert aus den »Grundzügen für die Durchführung einer einheitlichen Speisung«, in: GemeindeVerwaltung 1914–1919, S. 159. Vgl. ferner Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 72. 643 Ebd., S. 69. Von einer Erhebung konnten die Komitees absehen, wenn der Armenkataster umfassend Auskunft über die sich bewerbende Person gab oder sich die Interessenten mit entsprechenden Empfehlungen des örtlichen Bezirksvorstehers bzw. einem Nachweis über die Arbeitslosigkeit und das Bemühen um die Wiederaufnahme einer Tätigkeit meldeten.
III. Metropolen im Krieg
»Zehn Gebote für die Bezirks-(Frauenarbeits-)Komitees« legten sodann fest, wer nicht für die Beköstigung in den Ausspeisungen in Frage kam. Das städtische Ausspeisungsunternehmen richtete sich den Richtlinien zufolge in erster Linie an erwerbslose Arbeiter und Kinder.644 Nur in Ausnahmefällen sollten auch Armenfürsorgeempfänger und Familienangehörige der Einberufenen, die den gesetzlichen Unterhaltsbeitrag bezogen, Speiseberechtigungen erhalten. Alle Personen, die zur Ausspeisung zugelassen wurden, erhielten von den Frauenkomitees zwei Speiseausweise, eine zum Verbleib in der Speisestelle und eine für den Teilnehmer.645 Unter Berücksichtigung des Wohnortes und der Kapazitäten bekamen alle Teilnehmer eine bestimmte Speisestelle zugewiesen: »Frauen und Kinder werden in der Regel den Speisestellen in eigener Verwaltung, Männer in der Regel den Volksküchen und Gastwirtschaften zugewiesen. Ausnahmen können bewilligt werden, um die Gemeinsamkeit der Familienmahlzeit zu ermöglichen.«646 Die endgültige Anmeldung zur Speiseteilnahme erfolgte schließlich mit Abgabe der Ausweiskarte in den Speisestellen. Hier erhielten die Teilnehmer zugleich eine feste Speisestunde. Wer diese Stunde nicht einhielt, so lautete das zehnte Gebot für die Frauenarbeitskomitees und Speisestellen, sei als Letzter zu beköstigen.647 Alle Speisestellen führten ein Namenskataster, mit dem täglich die Überprüfung der Teilnehmenden vorgenommen wurde: »Jedesmal [sic!] bei Betreten des Speiseraumes ist zunächst die Speiseanweisung vorzuzeigen; diese wird mit der im Kataster befindlichen verglichen; auf beiden Karten wird der Tagesstempel aufgedrückt. Die weiße Karte wird an ihren Platz zurückgelegt, gegen Vorzeigung der gestempelten farbigen Karte dem Inhaber die Kost verabreicht […].«648 Bis zur Einführung der Brotkarte im April 1915 bestand eine Portion aus 0,4 Liter warmer Speisen und 250 Gramm Brot. Anschließend umfasste die Portion 0,6 Liter warme Speisen und 140 Gramm Brot. Die Brotmenge wurde auf siebzig Gramm reduziert, wenn zusätzlich zur warmen Speise auch Suppe ausgegeben wurde. Stillende Mütter waren 644 Vgl. Denkschrift über die von der k.k. Regierung aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen. Bis Ende Juni 1915, Wien 1915, S. 277. 645 Gültig waren die Speiseberechtigungen nur mit eigenhändiger Unterschrift der Empfänger. Auch für die Fälle, bei denen die Speiseempfänger des Schreibens unkundig waren, fand die Zentralstelle eine Regelung zur Feststellung der Identität. Hier vermerkten die Frauenkomitees zur Identitätsfeststellung entsprechende Kennzeichen wie Geburts- und Adressangaben oder den Mädchennamen der Ausspeisenden. Kinder unter sechs Jahren erhielten keinen Speiseausweis und wurden auf dem der Mutter namentlich vermerkt. Vgl. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 73. Die Speiseausweise galten zunächst für die Dauer eines Monats. Nach drei Wochen erhoben die Frauenkomitees die Verhältnisse der Speiseberechtigten erneut. Im Falle der Verlängerung der Speiseberechtigung wurde den Bezugsberechtigten nach Ablauf der Gültigkeit der Speiseausweiskarte eine Ergänzungskarte ausgestellt, die dauerhaft zur Ausspeisungsteilnahme legitimierte. 646 Ebd., S. 70. 647 Vgl. ebd., S. 74. 648 Ebd., S. 70. Die Führung des Katasters oblag den Speisestellen, die dafür ehrenamtliche Verantwortliche einsetzten.
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berechtigt, die doppelte Menge Speisen zu erhalten. Darüber hinaus war eine Verweigerung der Speiseausgabe möglich, wenn Speiseteilnehmer wegen »Trunkenheit« oder »groben Unfugs« auffielen oder »sonstige triftige Gründe«649 vorlagen. Die Richtlinien für die Durchführung der Ausspeisung enthielten darüber hinaus konkrete Handlungsanweisungen für alle Beteiligten bei Umzug der Teilnehmer innerhalb des Stadtgebietes sowie bei Verlust der Speiseausweiskarten. Auch für den Fall des Fernbleibens der Speiseteilnehmer sorgten die Verantwortlichen im Sinne eines reibungslosen Ablaufs der Ausspeisungsaktion vor.650 Die Ausgabestelle für Speiseausweise führte über jede Speiseeinrichtung eine Liste, die die Nummern der ausgegebenen und abgerufenen Speiseberechtigungen enthielt. Hiermit sollte gewährleistet werden, dass alle Wiener Ausspeisungsstellen die festgelegte Höchstzahl der Speiseempfänger versorgen konnten.
3.1.2 Kein Bezirk ohne Ausspeisung: Das Speisestellennetz Zur Ermittlung der Speisestellenstandorte sowie deren Verteilung im Wiener Stadtgebiet konnte auf einige zeitgenössische Publikationen zurückgegriffen werden. So enthielten vereinzelte Berichterstattungen der Zentralstelle der Fürsorge im Rathaus bis zum Ende des Jahres 1916 umfassende Standortlisten, die alle zum Berichtszeitpunkt aktiven Speisestellen der Ausspeisungsaktion zusammenfassten.651 Eine Vielzahl dieser Einrichtungen konnten u.a. mithilfe der Adressenverzeichnisse der k.k. Polizeidirektion in Wien, der Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien, der Rechenschaftsberichte verschiedener Vereine sowie dem von Adolph Lehmann (1828–1904) gegründeten Allgemeinen Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichs-Haupt und Residenzstadt Wien ermittelt werden. Darüber hinaus wurden während des Krieges weitere Küchenspeisungen betrieben, die ihre Speisen nicht im Rahmen der städtischen Ausspeisungsaktion anboten.652 Insgesamt konnten 235 Speiseeinrichtungen ermittelt werden, die in der Zeit zwischen dem Ausbruch des Krieges und Ende des Jahres 1916 aktiv wurden bzw. waren.653 649 Ebd. 650 Erschienen Teilnehmer mehrere Tage nacheinander nicht in der Speisestelle, wurden die Frauenkomitees verständigt, damit diese den Grund des Fernbleibens ermitteln konnten. Vgl. ebd., S. 74. 651 Die umfassendsten Standortlisten sind zu finden in: Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 77ff. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 35ff. Sowie »Verzeichnis der Speisestellen der Zentrale I., Neues Rathaus«, in: Rechnungs-Abschluß über die Einnahmen und Ausgaben der Zentralstelle der Fürsorge für die Angehörigen der Einberufenen und der durch den Krieg in Not Geratenen für Wien und Niederösterreich für die Zeit vom 30. Juli bis 31. Dezember 1914, o.S. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/73. 652 K.k. Polizei-Direktion in Wien. Kriegszustand, Instruktion für Polizeiorgane. Adressenverzeichnis vom 12. Dezember 1914, S. 2ff. Im Internet unter: https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/p eriodical/titleinfo/483659 (09.07.2018). K.k. Polizei-Direktion in Wien. Kriegszustand, Instruktion für Polizeiorgane. Adressenverzeichnis vom 22. Mai 1915, S. 2ff, S. 9f., S. 29ff. Im Internet unter: ebd. Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien 153 (September 1914), S. 176. Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien 154 (Oktober 1914), S. 195. Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handelsund Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien. 59. Jahrgang, Erster Band, Wien 1917, S. 362. 653 Hierzu siehe Abb. ii im Anhang. In zwölf Fällen wurde das Bestehen der Speiseeinrichtungen erstmals im Jahr 1917 dokumentiert. Es ist jedoch anzunehmen, dass diese Speisestellen, die allesamt
III. Metropolen im Krieg
Davon wurden etwa 121 und somit über die Hälfte der Einrichtungen von karitativen (Frauen-)Vereinen oder kirchlichen Organisationen betrieben. Mindestens 63 Speisestellen waren neu gegründeten Bezirksspeisekomitees zugehörig, die sich neben den Damen der Wiener Frauenhilfsaktion vielfach aus einer Reihe von Gaststätten, Unternehmen und Privatpersonen sowie kommunalen Einrichtungen (z.B. Schulen) zusammensetzten. Weitere dreißig Speisestellen standen unabhängig von den Bezirksspeisekomitees in Verbindung zu karitativen und/oder kommunalen Institutionen und etwa siebzehn Speisegelegenheiten wurden eigenständig von Privatpersonen oder Unternehmen angeboten.654 Ein beträchtlicher Teil aller Speisestellen richtete sich gezielt an Kinder, standen aber auch vielfach Erwachsenen zur Verfügung. Mehr als dreißig Prozent der Einrichtungen gaben ihre Speisen ausschließlich an Kinder und Jugendliche aus. Mindestens sechs Prozent der Speisestellen trugen dem immensen Flüchtlingszustrom in Wien Rechnung und richteten sich in erster Linie an Flüchtlinge und/oder gaben vorwiegend rituelle Kost aus.655 Von den 235 ermittelten Speiseeinrichtungen organisierten 78 Lokale und Speisegelegenheiten ihre Fürsorge und den Speisebetrieb in Eigenregie, d.h. unabhängig von der Zentralstelle im Rathaus.656 In diesen Einrichtungen konnte das Speisepublikum auf eigene Kosten und ohne Bedürftigkeitsprüfung ein günstiges Mittagsmahl zu sich nehmen. Alle anderen 157 Speisestellen gehörten nachweislich zu jenen Einrichtungen, die im Rahmen der unentgeltlichen Ausspeisungsaktion der Fürsorgezentralstelle eröffnet wurden bzw. sich dieser angeschlossen haben. Nicht jede dieser Speisegelegenheiten konnte (oder wollte) ihren Betrieb oder die Zusammenarbeit mit der Zentralstelle dauerhaft aufrechterhalten. Betroffen waren davon vor allem, aber nicht ausschließlich kleine Einrichtungen mit geringen Kapazitäten. Hierzu gehörten zum Beispiel die lediglich während des Winters geöffneten Lokale des Wiener Wärmestuben- und Wohltätigkeitsvereines. Dennoch wuchs die Zahl der unentgeltlichen Speisestellen der Wiener Ausspeisungsaktion zwischen Dezember 1914 und Dezember 1915 von 93 auf 113.657 Bis Dezember
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nicht in Verbindung mit der Ausspeisungsaktion der Zentralstelle standen, bereits im Jahr 1916 in Betrieb waren. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass über die ermittelten Speisestellen noch weitere Küchenstandorte existierten. Hierzu ausführlich die Anmerkungen zu Abb. ii. In weiteren vier Fällen war die Zugehörigkeit der Speisestellen nicht ermittelbar. Hier lag lediglich ein Nachweis über ihr Bestehen unter Angabe der Adresse vor. Von den mehr als 200.000 überwiegend jüdischen Flüchtlingen aus den Ostfrontgebieten, die während des Krieges in der Habsburgermetropole eintrafen, kehrte ein beträchtlicher Teil bald darauf wieder in ihre Heimat zurück. Bis zu 30.000 Zwangsmigrierte verblieben über das Kriegsende hinaus in Wien. Hierzu ausführlich u.a. Weigl, Andreas: »Demographic Transitions Accelerated. Abortion, Body politics, and the End of Supra-Regional Labor Immigration in Post-War Austria«, in: Bischof, Günter, Fritz Plasser und Peter Berger (Hg.), From Empire to Republic: Post-World War I Austria, Louisiana 2010, S. 142–170, hier S. 145. Vgl. auch Beckermann, Ruth: »Die Mazzesinsel«, in: dies. (Hg.), Die Mazzesinsel-Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918–38, Wien 1984, S. 9–23, hier S. 16f. Die Speiseeinrichtungen finanzierten ihren Betrieb in erster Linie durch Spenden und Einnahmen aus dem Verkauf der angebotenen Mahlzeiten. Eine zusätzliche (finanzielle) Unterstützung seitens der Kommune war dennoch nicht ausgeschlossen. Vgl. Pfoser, Chronologie, S. 662f. Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 160.
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1916 waren 131 Speiseeinrichtungen dauerhaft für die Ausspeisungsaktion der Zentralstelle im Einsatz, die das städtische Mittagessen in den Räumlichkeiten von Privatpersonen (vierzehn Prozent), Gasthäusern (22 Prozent), städtischen Gebäuden (23 Prozent) und den Räumen von Speiseanstalten (41 Prozent) ausgaben.658 Aus mehreren Gründen lohnt es sich, diese 131 Ausspeisungen näher in den Blick zu nehmen. Zum einen hatten alle diese Einrichtungen gemeinsam, dass sie nachweislich zum gleichen Zeitpunkt und damit während einer Zeit aktiv waren, in der die Versorgungsnot bereits weite Teile Wiens erfasst hatte. Darüber hinaus waren sie als Teil der städtischen Ausspeisungsaktion alle den gleichen Versorgungsbedingungen und Verwaltungsvorgaben unterworfen. Zum anderen ist das Quellenmaterial hinsichtlich ihres Bestehens am umfassendsten und aussagekräftigsten. So liefert der Tätigkeitsbericht der Fürsorgezentrale allerhand Informationen zur Verteilung der Speisestellen im Stadtgebiet sowie zum Umfang ihrer Kapazitäten und schließlich auch zu ihrem tatsächlichen Leistungsumfang.659 Mithilfe von Verwaltungsberichten aus den Jahren 1914/15 ist es außerdem möglich, die Entwicklung der städtischen Ausspeisungsaktion in den Wiener Bezirken während der ersten Kriegshälfte darzustellen.660
Abbildung 27: Zahl der Ausspeisungsstellen nach Wiener Bezirken (1914–1919)
Quellen: Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 28. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 161. Weiskirchner, Frauen-Hilfsaktion, Statistischer Anhang, [S. 79].
658 Vgl. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 28. 659 Vgl. ebd., S. 27ff. 660 Hierzu Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 68ff. Sowie Die Gemeinde Wien während der ersten Kriegswochen, S. 20f. Ferner Weiskirchner, Frauen-Hilfsaktion, S. 20ff.
III. Metropolen im Krieg
Anmerkungen zu Abbildung 27 Neben dem Bezirksnamen wurden den Wiener Gemeindebezirken feste Nummern zugeordnet: I. Innere Stadt; II. Leopoldstadt; III. Landstraße; IV. Wieden; V. Margareten; VI. Mariahilf; VII. Neubau; VIII. Josefstadt; IX. Alsergrund; X. Favoriten; XI. Simmering; XII. Meidling; XIII. Hietzing; XIV. Rudolfsheim; XVI. Ottakring; XVII. Hernals; XVIII. Währing; XIX. Döbling; XX. Brigittenau und XXI. Floridsdorf. Die Angaben der Speisestellenzahlen beziehen sich jeweils auf den Stand zum Jahresende. Im Anschluss an die Verortung im Stadtgebiet wurde eine Korrektur falsch zugeordneter Speisestellen im 14. und 15. Bezirk vorgenommen. Siehe hierzu ausführlich die Anmerkungen zu Tabelle 11.
Nach der Auswertung der amtlichen Standortverzeichnisse der Speisestellen waren die meisten Speiseeinrichtungen den Erwartungen gemäß in den bevölkerungsreichen äußeren Wiener Arbeitervierteln vorzufinden (Abb. 27). Bereits Ende 1914 wies der Bezirk Meidling mit neunzehn Einrichtungen die größte Anzahl der Speisestellen auf. Bis Ende des Jahres 1916 stieg die Zahl der Meidlinger Speisungen auf 21, womit der 12. Bezirk rund sechzehn Prozent der städtischen Ausspeisungen stellte. Mit zunächst neun und später zwölf Speisestellen war im Bezirk Ottakring die zweitgrößte Anzahl der Ausspeisungen vorzufinden (1916: 9,2 Prozent). Ihm folgte Floridsdorf, in dem die Zahl der Einrichtungen von sieben auf zehn stieg (1916: 7,6 Prozent). Auch in nahezu allen anderen achtzehn Wiener Stadtvierteln nahm die Anzahl der städtischen Speisestellen zwischen 1914 und 1916 zu. Mit neun Speisestellen wies auch der große jüdische Bezirk Leopoldstadt Ende 1916 eine recht hohe Zahl an kommunalen Speisegelegenheiten auf. Ebenso viele fanden sich auch in den Stadtteilen Brigittenau und Favoriten, wobei im letzteren die Zahl der Einrichtungen während der ersten beiden Kriegsjahre besonders stark zunahm. Mit Blick auf das gesamte Stadtgebiet gab es nur zwei weitere Bezirke, in denen das Wachstum noch stärker war. Zählten der ebenfalls arbeiterreiche Stadtteil Rudolfsheim und der kleinbürgerliche Bezirk Landstraße Ende 1914 noch zwei Einrichtungen, waren es Ende 1916 bereits sechs. Hierbei zeigt sich, dass die starke Zunahme der Ausspeisungen nicht allein auf die Arbeiterquartiere der Außenbezirke beschränkt blieb. Gleichfalls war auch nicht in allen äußeren Arbeiterbezirken eine hohe Zahl an Ausspeisungen vorzufinden. Gegenüber den anderen größeren Arbeitervierteln wurde im bevölkerungsärmeren Simmering mit fünf Einrichtungen Ende 1916 eine vergleichsweise kleine Zahl an Speisestellen betrieben. Dennoch wiesen im Dezember 1916 vor allem die inneren Stadtbezirke die geringste Speisestellenanzahl auf.661 661 Hierzu gehörten die Bezirke Wieden und Alsergrund mit jeweils einer Speiseeinrichtung (< ein Prozent), gefolgt von den Stadtteilen Innere Stadt, Neubau sowie dem äußeren Bezirk Hernals mit jeweils zwei Speiseeinrichtungen. Wieden und Alsergrund gehörten zusammen mit Fünfhaus zu jenen Wiener Stadtteilen, die zwischen 1914 und 1916 entweder keine Zunahme oder eine Abnahme der Speisegelegenheiten verzeichneten.
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Bei der Betrachtung der Speisestellenverteilung im Stadtbild gilt es jedoch nicht nur die Anzahl der Einrichtungen in den Bezirken zu berücksichtigen, sondern auch die Maximalleistung der täglich abzugebenden Portionen im Verhältnis zu den Bezirksbevölkerungszahlen. Hierbei zeigt sich ein sehr ähnliches Bild (Tab. 11/Abb. 28). Mit Ausnahme Floridsdorfs verfügten jene Bezirke mit den meisten Speiseeinrichtungen auch über die größten Kapazitäten. Zugleich gehörten alle fünf leistungsstärksten Stadtbezirke zu den sieben bevölkerungsreichsten Wiener Stadtteilen.662 Mit 12.260 Portionen stellte Favoriten den Bezirk mit dem größten Umfang an täglich maximal auszugebenden Portionen. Der 10. Bezirk verfügte über bis zu sieben Einrichtungen, die in der Lage waren, jeweils eine tägliche Gesamtportionenanzahl im vierstelligen Bereich zuzubereiten. Ihm folgten Leopoldstadt mit einer Gesamtkapazität von 10.120 Portionen und mindestens sechs Küchenspeisungen mit einer Maximalleistung von jeweils 1.000 bis 3.000 Portionen und die Brigittenau mit 9.820 Portionen und mindestens fünf Einrichtungen mit einer Maximalportionenausgabe von 1.000 bis 4.500. Als Bezirk mit der größten Küchenanzahl verfügte Meidling über eine Gesamtkapazität von 8.790 Portionen, wobei der Großteil der Portionen von kleineren Einrichtungen mit einer Leistung im unteren bzw. mittleren dreistelligen Bereich zubereitet werden konnte. Während die kleinste Meidlinger Speisestelle über eine Kapazität von dreißig Portionen verfügte, war die größte Speisestelle des 12. Bezirks in der Lage, bis zu 1.850 Portionen zur Verfügung zu stellen. An fünfter Stelle verfügte schließlich der bevölkerungsreichste 16. Bezirk Ottakring über eine Maximalleistung von 7.340 Portionen, die auch hier von mindestens fünf Speiseeinrichtungen mit Tageskapazitäten im vierstelligen Bereich erbracht werden konnten. Demgegenüber wiesen die bevölkerungsärmeren Innenstadtteile mit einer kleinen Speisestellenanzahl die geringsten Kapazitäten auf. So kamen die häufig auch kleineren Einrichtungen in der Inneren Stadt auf 130, auf der Wieden auf 180 und in Josefstadt auf 225 Tagesportionen. Eine Ausnahme bildete hierbei jedoch der bürgerliche Bezirk Alsergrund mit nur einer städtischen Speisestelle, die jedoch über eine Gesamtkapazität von 3.300 Tagesportionen verfügte. Hinsichtlich der durchschnittlichen Maximalleistung pro Speisestelle, die sich aus dem Verhältnis von Speisestellenanzahl der Bezirke und deren Gesamtkapazität ergibt, lag der 9. Bezirk damit an erster Stelle. Damit wird abermals deutlich, dass über die Wiener Arbeiterbezirke hinaus große Versorgungseinrichtungen existierten, die der
662 Da für das Jahr 1916 keine statistischen Daten zum Bevölkerungsstand in den Wiener Bezirken vorliegen, werden hier die Angaben für das Jahr 1914 herangezogen. Da auch keine verlässlichen Hinweise darüber vorliegen, inwieweit die Zahl der Sterbefälle und der einberufenen Bevölkerung durch den ebenfalls zu versorgenden Flüchtlingszustrom ausgeglichen wurde, muss davon ausgegangen werden, dass die Bevölkerungszahlen in den Bezirken bis 1916 insgesamt abgenommen haben. Sie sind daher nur als Richtwerte zu betrachten. Nach dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien waren im Jahr 1914 die Bezirke Ottakring mit 190.627, Leopoldstadt mit 180.580, Favoriten mit 172.193, Landstraße mit 164.301, Hietzing mit 129.308, Meidling mit 125.448 und die Brigittenau mit 120.297 Einwohnern die bevölkerungsstärksten Stadtteile der Donaumetropole. Demgegenüber gehörten die Stadteile Innere Stadt mit 47.318, Simmering mit 52.909, Josefstadt mit 54.280 und Döbling mit 57.672 Einwohnern zu den Bezirken mit der geringsten Bevölkerung. Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1914, 32. Jahrgang, bearb. von der MagistratsAbteilung xxi für Statistik, Wien 1918, S. 45.
III. Metropolen im Krieg
Not in der Bevölkerung Rechnung tragen sollten. Mit Blick auf den Anteil der Bevölkerung, der mit der täglichen Maximalleistung der städtischen Ausspeisung versorgt werden konnte, lag Alsergrund mit 3,1 Prozent im Wiener Durchschnitt.
Tabelle 11: Gesamtkapazität der städtischen Ausspeisungen in den Wiener Bezirken (Dez. 1916) Bezirk
Anzahl der Speisestellen
Tägliche Gesamtkapazität der Speisestellen (in Portionen)
Durchschnittliche Tageskapazität nach Anzahl der Speisestellen (in Portionen)
Verhältnis Gesamtkapazität und Bevölkerung (in Prozent)a)
I. Innere Stadt
2
130
65
0,3
II. Leopoldstadt
9
10.120
1.124
5,6
III. Landstraße
6
4.680
780
2,8
IV. Wieden
1
180
180
0,3
V. Margareten
4
950
238
0,9
VI. Mariahilf
3
575
192
0,9
VII. Neubau
2
550
275
0,8
VIII. Josefstadt
3
225
75
0,4
IX. Alsergrund
1
3.300
3.300
3,1
X. Favoriten
9
12.260
1.362
7,1
XI. Simmering
5
1.175
235
2,2
XII. Meidling
21
8.790
419
7,0
XIII. Hietzing
8
3.320
415
2,6
XIV. Rudolfsheim
6
7.115
1.186
7,4
XV. Fünfhaus
7
1.450
207
2,3
XVI. Ottakring
12
7.340
612
3,9
XVII. Hernals
2
1.725
863
1,6
XVIII. Währing
3
2.085
695
2,2
XIX. Döbling
8
1.930
241
3,3
XX. Brigittenau
9
9.820
1.091
8,2
XXI. Floridsdorf
10
2.870
287
2,9
131
80.590
615
3,7
a) Berechnet wurde hier unter Berücksichtigung des Bezirksbevölkerungsumfangs der Anteil der Bevölkerung, der mit der täglichen Maximalleistung aller städtischen Ausspeisungen versorgt werden konnte. Quelle: Zusammengestellt und berechnet nach Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 35ff. Statistisches Jahrbuch 1914, S. 45.
265
266
Kriegsküchen in Wien und Berlin
Anmerkungen zu Tabelle 11 Berücksichtigt wurden hier nur jene Speisestellen, die im Tätigkeitsbericht der Zentralstelle aufgeführt wurden. Diesem zufolge waren in Rudolfsheim fünf und in Fünfhaus acht Speisestellen vorzufinden. Nach der Verortung der jeweiligen Speisestellen wurde die Speisestellenanzahl und die tägliche Gesamtkapazität der beiden Bezirke den Verortungsergebnissen angepasst.
Alle 131 Einrichtungen wiesen eine Gesamtkapazität von 80.590 Tagesportionen auf, womit etwa 3,7 Prozent der Bevölkerung in der Habsburgermetropole versorgt werden konnten.663 Überdurchschnittlich »hoch« fielen aber auch hier wieder die Zahlen für die Leopoldstadt (5,6 Prozent) und die Arbeiterquartiere Meidling (6,8 Prozent), Favoriten (7,1 Prozent) und Brigittenau (8,2 Prozent) aus. Bemerkenswert war auch der Leistungsumfang des innenstädtischen Bezirks Rudolfsheim, der mit seinen sechs Einrichtungen etwa 7,4 Prozent der Bezirksbevölkerung versorgen konnte.
Abbildung 28: Tägliche Gesamtkapazität der Wiener Ausspeisungen in den Bezirken (Dez. 1916)
Zu berücksichtigen sind die Anmerkungen in Tabelle 11. Quelle: Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 35ff.
Sowohl nach der Anzahl der Einrichtungen in den Bezirken als auch nach deren Kapazitätsumfang sowie der Durchschnittsleistung pro Speisestelle bestätigen die Zahlen
663 Vgl. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 41.
III. Metropolen im Krieg
der Speisestellenstandortverzeichnisse, dass die Mehrheit der städtischen Ausspeisungen allgemein in jenen Bezirken eingerichtet wurde, in denen der Bedarf am größten war. Seit Kriegsbeginn waren dies vor allem die äußeren sowie ärmeren Arbeiterviertel mit großer Bevölkerungszahl. Die Zahlen für die Bezirke Leopoldstadt, Landstraße und Alsergrund verdeutlichen aber auch, dass der im Verlauf der ersten beiden Kriegsjahre zunehmende Bedarf auch in den klein- und großbürgerlich dominierten Stadtquartieren kein unbeträchtlicher war. Auch hier entstanden vermehrt städtische Speisestellen mit teilweise enormen Kapazitäten. Bestätigt wird dies auch unter Einbezug der eigenbetrieblichen Speisestellen, die außerhalb der städtischen Ausspeisungsaktion standen.664 Die meisten Einrichtungen waren vorwiegend in den bevölkerungsreichsten und flächenmäßig größten Wiener Bezirken vorzufinden. Hierbei belegen die Zahlen für Hietzing und Döbling, dass dies auch auf die großbürgerlichen Außenbezirke zutraf. Damit wird zugleich deutlich, dass auch die Bezirksspeisenetze in einigen Stadtvierteln, die über eine kleinere Anzahl kommunaler Speisestellen verfügten, durch eine Reihe weiterer eigenständig bzw. privat organisierter Speiseeinrichtungen ergänzt wurden.
3.1.3 Pflichtgefühl und Nächstenliebe: Die bedeutendsten Träger der Speisestellen Wie der Umfang der einzelnen Bezirksspeisestellennetze variierte auch die Zusammensetzung der zur Verfügung stehenden Speisegelegenheiten in den einzelnen Stadtteilen. Obwohl sich der Kreis der Speisestellenanbieter bzw. Küchenbetreiber in jedem Bezirk unterschiedlich gestaltete, sind dennoch einige kleinere Auffälligkeiten und Besonderheiten festzustellen. So erfolgte nicht in allen Bezirken der Zusammenschluss verschiedener Speisestellenanbieter (insbesondere Privatpersonen und Gastwirtschaften) zu den sogenannten Bezirksspeisekomitees, die sich in den Dienst der kommunalen Ausspeisungsaktion stellten. Das größte Speisekomitee stellte Ende 1916 der Bezirk Meidling mit achtzehn Speiseanbietern. In einigen Fällen bestand das Bezirksspeisekomitee auch nur aus einer Speiseeinrichtung. In den meisten kleineren kleinbürgerlich und mittelständisch dominierten Innenstadtbezirken gab es keine Zusammenschlüsse dieser Art. Sowohl hier als auch in den äußeren großbürgerlichen Stadtteilen waren darüber hinaus nicht selten Speisegelegenheiten vorzufinden, die unabhängig von der städtischen Aktion von gut situierten Privatpersonen sowie Gaststätteninhabern unterhalten wurden. Hierzu müssen auch die vielen nicht ermittelbaren Speisegelegenheiten für Kinder gezählt werden, die von Wiener Privatleuten im Rahmen der »Freitischablösung« des Schwarz-Gelben Kreuzes bereitgestellt wurden. »Bald nach Kriegsbeginn«, so hielt die Wiener Stadtverwaltung in ihrem Bericht über die Kriegsfürsorge im ersten Kriegsjahr fest, »meldeten viele Familien der wohlhabenden Bevölkerungskreise ihre Bereitwilligkeit, einem oder mehreren darbenden Kindern bei sich täglich freien Mittagstisch zu gewähren.«665
664 Vgl. hierzu die Standorte der privaten Speisestellen in Abb. ii im Anhang. 665 Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 88. Die vor allem in den ersten Kriegsmonaten umfassend betriebene Freitischablösung kann als Vorläuferin der städtischen Ausspeisungsaktion angesehen werden. Da die Organisation der Freitische mit zahlreichen Schwierigkeiten und »Unzulänglichkeiten« ver-
267
268
Kriegsküchen in Wien und Berlin
In nahezu allen Wiener Bezirken gab es Speiseeinrichtungen, die sich gezielt um die Versorgung der kleinsten Stadtbewohner bemühten. Das Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder stellte von allen aktiv mitwirkenden Vereinen mit 23 ermittelten Speisegelegenheiten, von denen Ende des Jahres 1916 noch 21 in Betrieb waren, die größte Anzahl an Speisestellen. Dabei unterhielt Betty Kolms Verein, der bereits vor dem Krieg an mehreren Schulen Kinderausspeisungen organisierte, den überwiegenden Teil seiner Kinderküchen in den Arbeitervierteln der Stadt. Bis auf wenige Ausnahmen waren alle Einrichtungen des Vereins, die zusammen über einen täglichen Leistungsumfang von 60.000 Speiseportionen verfügten, für die städtische Ausspeisungsaktion im Einsatz.666 Daneben gab es eine Reihe weiterer Vereine, die sich der Kinder- und Jugendfürsorge widmeten und im Rahmen ihrer karitativen Arbeit eine kleinere Zahl an Kinderausspeisungen betrieben. Hierzu gehörten neben vielen Kinderkrippen und -bewahranstalten der von Aktivistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung ins Leben gerufene Verein Wiener Settlement. Seit seiner Gründung im Jahr 1901 bemühte sich der Verein um eine intensivere Beziehung zwischen den ärmeren und wohlhabenderen Schichten und nahm sich hierbei vor allem der Versorgung von Straßenkindern und Kindern verarmter Familien an.667 Ein Verpflegungsangebot für Kinder schuf auch der 1903 gegründete Pestalozzi-Verein zur Förderung des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge in Wien. Seine Entstehung geht auf die bürgerliche Sozialreformerin und Kinderschutzaktivistin Lydia von Wolfring (1867–1927) zurück, die mit dem Verein mehrere private Fürsorgeanstalten für misshandelte und verlassene Kinder unterhielt.668 Ebenso beteiligt an den Ausspeisungsaktionen für Kinder war der sozialdemokratische Arbeiterverein Kinderfreunde, der in Wien seit 1910 verschiedene Fürsorge- und Betreuungsangebote für notleidende Kinder schuf und deren sozialistische Erziehung in den Fokus rückte.669 Darüber hinaus unterhielt auch der kurz vor dem Krieg von Freimaurern gegründete Verein für soziales Bildungswesen Die Bereitschaft einige Kinderküchen. Als »Verein für soziale Arbeit und zur Verbreitung sozialer Kenntnisse« sollte er Vorschläge sozial- und kulturpolitischen Inhalts an Staat und Gemeinde unterbreiten und in der Bevölkerung Aufklärungsarbeit über soziale Ungleichheit als Resultat politischer Ungerechtigkeit leisten.670 Anders als
666 667
668 669 670
bunden war, richteten sich das Engagement des Schwarz-Gelben Kreuzes und das Augenmerk der Stadtverwaltung recht schnell auf die praktikablere Ausspeisungsaktion, der die Freitischablösung angegliedert wurde. Vgl. ebd. Sowie Weiskirchner, Frauen-Hilfsaktion, S. 27. »Die öffentlichen Ausspeisungen«, in: Die Zeit, 27. April 1916. Vgl. »Kuratorium zur Speisung bedürftiger Kinder«, in: Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischer Frauenvereine, 12. Jahrgang, Nr. 7 (1917), S. 14. Vgl. »Verein Wiener Settlement«, in: »Frauen in Bewegung 1848–1938«, Ariadne-Webportal der Österreichischen Nationalbibliothek. Im Internet unter: https://fraueninbewegung.onb.ac.at/no de/579 (06.08.2020). Vgl. »Lydia Wolfring«, in: ebd. Im Internet unter: https://fraueninbewegung.onb.ac.at/node/3253 (06.08.2020). Vgl. »Österreichische Kinderfreunde«, in: Das Rote Wien. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie. Im Internet unter: www.dasrotewien.at/seite/kinderfreunde-oesterreichische (06.08.2020). Vgl. hierzu ausführlich Olechowski, Thomas, Tamara Ehs und Kamila Staudigl-Ciechowicz: Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938, Wien 2014, S. 733f.
III. Metropolen im Krieg
die bisher genannten Vereine war die Arbeit der Bereitschaft nicht von vornherein auf die Kinderfürsorge ausgerichtet: »Die ›Fachgruppe für Kinderfürsorge‹ verdankt ihre Entstehung […] dem Kriege. Es war ursprünglich nicht die Absicht der Bereitschaft, charitative Arbeit zu leisten. Aber die Not der Zeit ließ es allen Menschen von Pflichtgefühl und gutem Herzen als dringendstes Bedürfnis erscheinen, nach Kräften zur Linderung des Elends beizutragen. So tauchte denn der Gedanke auf, Tagesheimstätten für Kinder zu gründen, Heime, die nicht bloß nach Grundsätzen der Wohltätigkeit, sondern auch nach sozialen Gesichtspunkten geleitet werden sollten, vor allem wollten wir den Müttern der Kinder Gelegenheit geben, einem Erwerbe nachzugehen.«671 Nachdem das erste Kinderheim im September 1914 im Bezirk Favoriten in Betrieb genommen wurde, eröffnete die Bereitschaft kurz darauf weitere zehn Tagesheimstätten, die mehrheitlich in den Wiener Arbeiterquartieren zu verorten waren und am städtischen Ausspeisungsprogramm teilnahmen. Seit Kriegsbeginn versorgten die Heime des Vereins, von denen bis Ende 1916 noch acht in Betrieb waren, täglich etwa 1.000 Kinder mit einem warmen Mittagsmahl.672 Neben den Kinderküchen wurde der Wiener Nachwuchs auch in zahlreichen Speiseeinrichtungen versorgt, die gleichermaßen den Erwachsenen zur Verfügung standen. Die größte Anzahl an Küchen bzw. Speisestellen stellten hier ebenfalls zwei Vereine, die bereits in der Vorkriegszeit rege Arbeit leisteten. Mit fünfzehn Einrichtungen in vierzehn Bezirken war der Verein zur Errichtung und Erhaltung der Ersten Wiener Suppen- und TeeAnstalt am Ende des Jahres 1916 in weiten Teilen der Habsburgermetropole aktiv. Setzte sich das Speisepublikum vor dem Krieg noch vornehmlich aus den Mittellosen der Stadt zusammen, standen nun zehn der Suppen- und Teeanstalten im Dienst der städtischen Ausspeisungsaktion, wodurch sich mit den zahlreichen durch den Krieg in Not geratenen Wienern der Kreis der Teilnehmer um ein Vielfaches vergrößerte. Mit den anderen fünf Anstalten, die der Verein aus eigenen Mitteln unterhielt, setzte der Verein zugleich die Versorgung der Ärmsten in den wohlhabenderen Wiener Bezirken fort. Insgesamt gaben alle Einrichtungen der Suppen- und Teeanstalt im Jahr 1916 täglich über 66.000 Portionen aus, womit sie einen beträchtlichen Beitrag zur Versorgung der Wiener Stadtbevölkerung leisteten.673
671 Bericht über die Tätigkeit des Vereines »Die Bereitschaft«, Wien 1916, S. 4. 672 Vgl. »Der Verein ›Die Bereitschaft‹«, in: Fremdenblatt, 22. Dezember 1916. Die Schließung eines Teils der Tagesheimstätten war nicht auf den fehlenden Bedarf zurückzuführen. Vielmehr waren es äußere Einflüsse wie z.B. Mietkündigungen oder fehlende geeignete Räumlichkeiten, die zu den Betriebseinstellungen führten. Vgl. hierzu Bericht über die Tätigkeit des Vereines »Die Bereitschaft«, Wien 1916, S. 6. 673 Nach dem Rechenschaftsbericht des Vereins gaben die Suppen- und Teeanstalten im Jahr 1916 insgesamt 24.187.956 Portionen (einschließlich Kaffee- und Teeportionen) aus. Vgl. General-Versammlung und Rechenschafts-Bericht des Vereines zur Errichtung und Erhaltung der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt für die Zeit vom 1. Jänner bis zum 31. Dezember 1917, hg. vom Zentralverein für Volksernährung, Wien 1918, S. 21. Ferner »Die öffentliche Ausspeisung«, in: Reichspost, 9. Mai 1917.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Wie die Erste Wiener Suppen- und Tee-Anstalt setzte auch der Erste Wiener VolksküchenVerein, der Ende des 19. Jahrhunderts über zehn Speiseeinrichtungen verfügte, seine Arbeit nach dem Kriegsausbruch fort. Im Jahr 1916 unterhielt der Verein fünfzehn Volksküchen, von denen nur zwei für das kommunale Ausspeisungsprogramm aktiv und nachweislich mindestens sieben bereits vor dem Krieg in Betrieb waren.674 Zusammen mit dem Meidlinger und dem Sechshauser Volksküchenvereinen, die jeweils eine Küche im 12. und 15. Bezirk betrieben, waren die Volksküchen in nahezu allen innenstädtischen und ebenso in den bevölkerungsreichsten Wiener Gemeindebezirken vertreten. Zwischen 1914 und 1916 gaben die Einrichtungen des Wiener Volksküchen-Vereins über fünfzig Millionen Portionen aus.675 Davon fielen rund 21 Millionen Portionen auf das Jahr 1916. Gab der Verein 1914 im Durchschnitt täglich noch 38.000 Portionen aus, waren es zwei Jahre später bereits über 57.000 Portionen pro Tag. Nach den Ausführungen Marion Breiters sind während des Ersten Weltkrieges insgesamt rund 30.000 Menschen täglich von den Wiener Volksküchen verköstigt worden.676 In enger Verbindung zum Wiener Volksküchen-Verein unterhielt auch der Verein zur Errichtung von Volksküchen nach israelitischem Ritus seine beiden Speiseeinrichtungen. Er war einer von mehreren Vereinigungen und Einrichtungen, die ihre Ausspeisungsaktivitäten auf eine bestimmte Zielgruppe ausrichteten. Der Großteil dieser Speiseanstalten arbeitete in Eigenregie und unabhängig von der städtischen Ausspeisungsaktion. So gab es u.a. Speisegelegenheiten mit ritueller Kost für die jüdische Bevölkerung und Speisestellen für die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, wobei ein paar dieser Einrichtungen auch beides miteinander in Einklang brachten. Hierzu gehörten z.B. die drei Leopoldstädter Tee- und Suppenanstalten der Philanthropin und Sozialarbeiterin Anitta Müller677 (1890–1962), in denen Flüchtlinge für zehn Heller eine Suppe und/oder für zwei Heller ein Brot erhielten, sowie die bereits im Jahr 1906 ebenfalls im 2. Bezirk eingerichtete Volksspeisehalle des Vereins »Einheit«.678 Eine weitere Zielgruppe bildeten auch die notleidenden Wiener Künstler, denen vor allem in den innenstädtischen Bezirken privat organisierte Mittagstische zur Verfügung 674 Bei weiteren sieben Volksküchen handelte es sich vornehmlich um neu gegründete Einrichtungen, wobei in mindestens drei Fällen nicht auszuschließen ist, dass die Küchenstandorte infolge eines Umzuges innerhalb eines Bezirks wechselten. Da die neuen Standorte erstmals im Adressenverzeichnis von 1917 benannt wurden und für die unmittelbare Vorkriegszeit keine Belege vorliegen, konnte nicht festgestellt werden, inwiefern die Neueinrichtungen bzw. Umzüge bereits vor dem Krieg erfolgten. In einem Fall war der Kriegsküchenstandort nicht ermittelbar. Nach der Tageszeitung Fremdenblatt habe der Volksküchen-Verein im Sommer 1916 insgesamt fünfzehn Küchen unterhalten. Vgl. »Die Verpflegsfragen. Steigender Zuspruch in den Volksküchen«, in: Fremdenblatt, 18. August 1916. 675 Vgl. »Der Volksküchenverein im Kriege«, in: Österreichische Volkszeitung, 31. Mai 1917. 676 Vgl. Breiter, Hinter der Front, S. 248. 677 Ab 1921 Anitta Müller-Cohen. 678 Vgl. Zweiter Tätigkeits- und Rechenschafts-Bericht der Wohlfahrtsinstitution der Frau der Anitta Müller 1915–1916, Wien 1917, S. 36. »Volksspeisehalle des Vereines ›Einheit‹«, in: Neues Wiener Tagblatt, 15. Juni 1917. In der Leopoldstadt befanden sich vergleichsweise viele Speiseeinrichtungen, die sich an (jüdische) Flüchtlinge richteten. Die Mehrheit der jüdischen Geflüchteten, die nicht in ihre Heimat zurückkehrten und in Wien blieben, zog es in den 2. Bezirk, in dem das jüdische Leben bereits zu Vorkriegszeiten stark ausgeprägt war. Hierzu vgl. Beckermann, Die Mazzesinsel, S. 17.
III. Metropolen im Krieg
gestellt wurden. Einem Teil der Künstlerschaft kam darüber hinaus von kommunaler Seite Unterstützung zu, die nach Angaben der Stadtverwaltung eine »Ergänzung zur allgemeinen Ausspeisungsaktion« bildete. So erhielten u.a. der Österreichische Bühnenverein und der Österreichische Musikerbund von der Wiener Magistratsabteilung XI einige Speisemarken, die unter den verarmten Bühnenangehörigen und Künstlern kostenfrei zur Verteilung gelangten und in den Wiener Volksküchen und Suppen- und Teeanstalten eingelöst werden konnten.679 Eine im Verlauf des Krieges zunehmende und im Rahmen der städtischen Ausspeisungsaktion sowie den eigenständigen Speiseunternehmungen kaum berücksichtigte Zielgruppe waren die vielen erwerbstätigen Wiener, die mit dem anhaltenden Kriegszustand weder die Zeit für das stundenlange Anstehen vor den Lebensmittelgeschäften noch das Geld für die horrend steigenden Lebensmittelpreise aufbringen konnten. Zwar stand es den erwerbstätigen Angestellten und Arbeitern frei u.a. in den Volksküchen und Suppenanstalten auf eigene Kosten zu speisen, doch gab es während der ersten zwei Kriegsjahre neben den herkömmlichen Gastwirtschaften kaum eine karitative Einrichtung, die sich gezielt an die Erwerbstätigen richtete. Neben dem im Jahr 1914 vom Österreichischen Frauenstimmrechtskomitee im Stadtteil Mariahilf eingerichteten »Bürgerlichen Kriegsmittagstisch« für Angehörige der bürgerlichen Berufe bildete der »Kriegshilfs-Mittagstisch für Handelsangestellte« im Repräsentationsbezirk Innere Stadt eine der wenigen Ausnahmen.680 »Ganz bescheiden, fast unbemerkt von der großen Oeffentlichkeit«, berichtete die österreichische Journalistin Clara Patek-Hochenadl (*1880) im Januar 1916 im Fremdenblatt, »hält der Kriegshilfstisch für Angestellte am Franz JosephsKai 47 seine Pforten geöffnet.«681 Die Speiseeinrichtung, die vom Verein zur Errichtung von Volksküchen nach israelitischem Ritus geleitet wurde und damit auch indirekt mit dem Ersten Wiener Volksküchen-Verein in Verbindung stand, befand sich in einem Geschäftshaus in bester Lage und ermöglichte den Angestellten Wiens, ihre Mittagspause an »blendend weiß gedeckt[en]« Tischen »in warmen, schönen, hellen, freundlichen Räumen« zu verbringen.682 Für den auf Spenden angewiesenen Mittagstisch werbend betonte die Autorin: »Das Wort ›Ausspeisung‹ führt meist irre, Ausspeisung, darunter versteht man jetzt fast immer nur das kommunale Unternehmen, das arme Arbeitslose nicht hungern läßt. Ganz anders ist diese Unternehmung am Franz Josephs-Kai gedacht, die den Zweck verfolgt, all den arbeitenden Menschen, die durch die Kriegszeit und die dadurch entstandene Teuerung nicht in der Lage wären, ihr gewöhntes kräftiges Mittagsbrot teuer
679 Hierzu ausführlich Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 77. Dabei handelt es sich um die gleiche Art von Speisemarken, die – wie unter 3.1.1. in Kapitel iii dargelegt – jene in Not geratenen Wiener ausgehändigt bekamen, die auf ihre Berechtigung zur Teilnahme an der städtischen Ausspeisung warten mussten. 680 »Bürgerlicher Kriegsmittagstisch«, in: Österreichische Volkszeitung, 20. November 1917. Beide Einrichtungen betrieben ihre Speiseeinrichtungen demzufolge unabhängig von der städtischen Ausspeisungsaktion. 681 »Ein Besuch in der ›Ausspeisung‹«, in: Fremdenblatt, 1. Januar 1916. 682 Vgl. ebd.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
zu bezahlen, weil der Verdienst ja kein größerer ist, dasselbe Essen, das sie früher gewohnt waren, heute noch um eine Krone zu bieten. Aber dazu gehört Geld, denn es ist alles enorm teuer und dennoch sollen gerade diese Menschen nicht die gute Kost entbehren, die sie allein in dieser schweren Zeit erhält.«683 Mit täglich etwa 400 bis 500 Besuchern, die bei weitem nicht nur Angestellte oder erwerbstätige Arbeiter waren, sondern auch Pensionäre, Studierende, Künstler und Flüchtlinge, die den Preis von einer Krone aufbringen konnten, bildete der »KriegshilfsMittagstisch« eine Alternative zur städtischen Ausspeisungsaktion, die mit Blick auf die großflächige Versorgung der Wiener Stadtbevölkerung im Frühsommer 1916 in ähnlicher Form auch von der Wiener Gemeindeverwaltung auf den Weg gebracht werden sollte.
3.1.4 »Da strömt’s daher von allen Seiten«: Die Inanspruchnahme der Speisestellen Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es der Wiener Stadtverwaltung sowie zahlreichen Wiener Vereinen und Organisationen während der ersten beiden Kriegsjahre gelungen ist, der Bevölkerung ein umfangreiches Speisestellennetz zur Verfügung zu stellen, mit dem täglich mindestens 80.000 bis 90.000 Portionen zubereitet werden konnten.684 Aus der ansteigenden Küchenanzahl und den zunehmenden Kapazitäten zwischen 1914 und 1916 ist zu schließen, dass sich das Wachstum der Küchenspeisung am wachsenden Bedarf in der Bevölkerung orientierte. Inwieweit das kommunale Versorgungsangebot tatsächlich in Anspruch genommen wurde, wird im Folgenden mithilfe der von der Zentralstelle veröffentlichten Portionsausgabezahlen der Wiener Speisestellen betrachtet. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass sich die Untersuchung in erster Linie auf Zahlen der unentgeltlich ausgegebenen Speiseportionen in den Wiener Ausspeisungsstellen beschränkt. Da die darüber hinaus verkauften Portionen in den kommunalen Publikationen nicht berücksichtigt wurden und auch für viele der von der Zentralstelle unabhängig tätigen Speiseeinrichtungen keine Angaben zu ihren Besucherzahlen u.ä. vorliegen, können die Ergebnisse lediglich als Tendenz der Gesamtentwicklung während der ersten Kriegshälfte betrachtet werden. Dennoch wird die Inanspruchnahme der großen Mehrheit aller ermittelten Speisestellen eruiert, womit ein nicht unbeträchtlicher Teil des Wiener Speisepublikums in den Blick genommen wird.
683 Ebd. 684 Möglicherweise fiel die Gesamtkapazität der verfügbaren Tagesportionen aller ermittelten Speisestellen noch höher aus. Zum einen liegen keine Kapazitätsangaben für die von der städtischen Ausspeiseaktion getrennten bzw. unabhängig tätigen Speiseeinrichtungen vor. Zum anderen boten einige kommunale Ausspeisungsstellen neben den unentgeltlich abzugebenden 80.590 Tagesportionen eine nicht zu unterschätzende Zahl zusätzlicher Speiseportionen gegen Entgelt an. So ist z.B. einem Rechenschaftsbericht der Ersten Wiener Suppen- und Teeanstalt zu entnehmen, dass die Einrichtungen des Vereins über die Portionen für die städtische unentgeltliche Ausspeisung hinaus mehrere weitere Millionen Portionen zum kleinen Preis an die Besucher der Suppen- und Teeanstalten verkauften. Vgl. General-Versammlung der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt 1917, S. 21. Vgl. auch »Wiener Suppen- und Teeanstalt«, in: Österreichische Volkszeitung, 2. Mai 1916.
III. Metropolen im Krieg
Das kommunal organisierte Speisenetz verfügte bereits zum Zeitpunkt seiner Einführung im Oktober 1914 über eine Gesamtkapazität von 15.050 Tagesportionen.685 Mit etwa 10.450 täglich ausgegebenen Mittagessen wurde die städtische Ausspeisungsaktion in den ersten Wochen ihres Bestehens nicht so umfassend in Anspruch genommen wie es seitens ihrer Initiatoren erwartet wurde. Die Ursachen dafür benennend berichtete das sozialdemokratische Gemeinderatsmitglied Jakob Reumann (1853–1925) in einem Artikel der Arbeiter-Zeitung: »Der Andrang zu der Ausspeisung ist nicht so gewaltig, als man erwartete, was wohl darauf zurückzuführen ist, daß die Bedürfnisse des Krieges zahlreichen Arbeitslosen Beschäftigung geben und Arbeiter, die dennoch arbeitslos sind, sich scheuen, ihr Elend zu Markte zu tragen und an der öffentlichen Ausspeisung teilzunehmen. Auch die Förmlichkeiten mag mancher nicht auf sich nehmen.«686 Reumann zufolge hielt die Bedürftigkeitsprüfung viele potentielle Teilnehmer von der öffentlichen Ausspeisung zurück. »Es wird Umschau gehalten in der Wohnung des Bewerbers, er muß über alle seine Verhältnisse genaue Auskunft erteilen, es wird nachgefragt beim Hausbesorger, manchmal auch bei den Nachbarsleuten«687 , so der Gemeinderat. Der umfangreiche Nachweis der Bedürftigkeit wird durchaus einen nicht unerheblichen Teil der erwerbslosen Arbeiterinnen und Arbeiter von der Ausspeisungsteilnahme abgeschreckt haben. In Anbetracht der Verdreifachung der Portionsausgabezahlen in den darauffolgenden beiden Monaten auf nahezu 31.500 Tagesportionen, kann gleichfalls angenommen werden, dass die Anlaufschwierigkeiten der hiesigen Ausspeisungsaktion während der ersten Wochen ebenso auf Probleme bei der praktischen Umsetzung der formalen Vorgaben zurückgeführt werden konnten (Abb. 29).688 In den ersten Monaten des Jahres 1915, in denen sich die Versorgungssituation in der Donaumetropole deutlich verschlechterte, stieg die Zahl der täglich ausgegebenen Portionen in den Speisestellen weiter an. Ihren ersten Höchststand erreichte die Ausspeisungsaktion mit täglich 37.230 ausgegebenen Mittagessen im April 1915. Während im Mai und Juni des Jahres einige Hundert Portionen weniger zur Verteilung gelangten, nahm die Inanspruchnahme im Hochsommer und Herbst 1915 wieder zu. Wurden im August noch täglich 37.200 Essen ausgegeben, waren es im Oktober 1915 bereits 40.500 Portionen. Je schwieriger sich die Versorgungslage in Wien gestaltete, desto größer wurde die Inanspruchnahme der bevorzugt mit Lebensmitteln belieferten Ausspeisungsstellen.689 In den darauffolgenden Monaten wuchs die Ausgabezahl ohne Unterbrechung monatlich um Tausende Tagesportionen. Zwischen Januar und Dezember 1916 stieg die Zahl der täglich ausgegebenen Portionen in den städtischen Speisestellen um 35 Prozent von
Vgl. Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien 154 (Oktober 1914), S. 195. »Klostersuppe oder soziale Fürsorge?«, in: Arbeiter-Zeitung, 28. Oktober 1914. Ebd. Die Angabe der Tagesportionenzahl entspricht der Zahl aller ausgegebenen Portionen an einem beliebigen Tag am Anfang des Monats Dezember. 689 Vgl. Neuber, Berta: Die Ernährungslage in Wien während des Ersten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren. Diplomarbeit, Universität Wien, Wien 1985, S. 90.
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etwa 46.400 auf 71.400. Bei einer Gesamtkapazität von 80.590 Tagesportionen wurden damit in den 131 Speisestellen Ende des Jahres 1916 etwa 89 Prozent aller verfügbaren unentgeltlichen Portionen abgerufen.
Abbildung 29: Durchschnittlich täglich ausgegebene Speiseportionen in den Wiener Ausspeisungen (Okt. 1914-Dez. 1916)
Insgesamt wurden in der Zeit von Oktober 1914 bis Dezember 1915 rund 15,4 Millionen Portionen ausgegeben. Im Jahr 1916 wurden insgesamt 22,9 Millionen Portionen zur Verteilung gebracht. Bei den erfassten Angaben handelt es sich um die Anzahl der ausgegebenen Portionen eines einzelnen (beliebigen) Tages des jeweiligen Monats. Quellen: Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 29ff. Weiskirchner, Frauen-Hilfsaktion, Statistischer Anhang, [S. 79]. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 80b.
Während der ersten zweieinhalb Kriegsjahre konnten die Speiseeinrichtungen stets mehr Essen anbieten als tatsächlich in Anspruch genommen wurde. Die Auslastung von fast neunzig Prozent verdeutlicht dennoch, dass ein außerordentlich hoher Bedarf nach den Stadtküchen vorhanden war. In der Zeit zwischen Oktober 1914 und Dezember 1916 verabreichten die öffentlichen Wiener Ausspeisungen insgesamt über 38 Millionen Por-
III. Metropolen im Krieg
tionen (Abb. 30).690 Die Zahl der täglich Verköstigten stieg von zunächst 20.500 im Jahr 1914 auf 38.000 Ausspeisungsteilnehmer im Jahr darauf. Im Kriegsjahr 1916 wurden die städtischen Speisestellen täglich von etwa 56.000 Wienern frequentiert.691
Abbildung 30: Entwicklung der Wiener Ausspeisungsaktion (1914–1919)
Gesamtzahl aller ausgegebenen Portionen in der Zeit von 1914 bis 1919: 143,7 Millionen. Quellen: Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 160. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 32.
Entsprechend der allgemeinen Entwicklung konnte mit der Ausnahme des Bezirks Innere Stadt, in dem die Zahl ausgegebener Tagesportionen ohne nennenswerte Zunahmen sehr klein ausfiel, für alle Wiener Stadtteile eine kontinuierliche Zunahme der Inanspruchnahme der Bezirksspeisestellen ermittelt werden. Dabei gehörten jene Stadtteile,
690 Nach dem Wiener Amtsblatt wurden in der Zeit von Oktober 1914 bis Dezember 1915 insgesamt 15.396.313 Portionen ausgegeben. Im Jahr 1916 wurden in Summe 22.857.502 Portionen in Anspruch genommen. Vgl. Sonder-Abdruck, 6. Februar 1917, S. 3. Vgl. auch Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 32. 691 Hierbei handelt es sich um offizielle Angaben eines 1923 publizierten Kriegsverwaltungsberichts der Wiener Stadtverwaltung. Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 160. Die Zahl der Speisestellenbesucher könnte im Jahr 1916 noch höher ausgefallen sein. Bei einer Gesamtportionenausgabezahl von 22,9 Millionen ergibt die Berechnung der durchschnittlichen Tagesportionenzahl einen Wert in Höhe von 62.620 Portionen. Auch wenn fehlerhafte Angaben nicht ausgeschlossen werden können, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese mehr als 6.000 Portionen auf Mehrportionenausgaben an einzelne Küchenbesucher, insbesondere Kinder, zurückzuführen sind. Mehreren Zeitungsberichten zur Ausspeisungsaktion zufolge war die Ausgabe zusätzlicher Portionen durchaus möglich. Vgl. u.a. »Die Ausspeisungsaktion«, in: Neue Freie Presse, 27. Dezember 1914. »Ausspeisung der Kleinen«, in: Reichspost, 19. November 1914. Mit Abweichungen vgl. auch Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 29.
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in denen die Gesamtzahl der täglich ausgegebenen Portionen in den ersten Wochen nach der Einführung der öffentlichen Ausspeisungsaktion besonders stark anstieg, bis Ende des Jahres 1916 zugleich auch zu den Bezirken mit der höchsten Inanspruchnahme. Gemäß der Küchen- und Gesamtkapazitätszahlen bildeten hinsichtlich der tatsächlichen Leistung der Bezirksküchen auch hier vorrangig die großen Arbeiterbezirke mit hoher Bevölkerungszahl die Gruppe der Spitzenreiter. Im November 1914 gaben die Speisestellen in der Brigittenau (mit 2.924 Tagesportionen), in Favoriten (2.632), in der Leopoldstadt (2.828), in Ottakring (1.892) und Meidling (1.300) die meisten Essen aus (Abb. 31). Mit einer Steigerung von 350 bis über 420 Prozent nahmen im Laufe der ersten Kriegshälfte auch die Ausgabezahlen in Rudolfsheim und Landstraße signifikant zu. Im Dezember 1916 wiesen die Stadtteile Favoriten (mit 12.283 Tagesportionen), Meidling (9.600), Brigittenau (7.379), Rudolfsheim (6.820) und Leopoldstadt (6.653) die höchsten Tagesportionszahlen auf. Auffallend ist die Entwicklung der Portionszahlen in Ottakring, die bis Februar 1915 stark anstiegen und bis zum Winter 1915/16 deutlich abnahmen. Es deutet einiges darauf hin, dass der Bezirk mit Speisestellenschließungen rang (Abb. 32). Bis zum Frühjahr und Sommer 1915 verlor Ottakring bis zu sechs Speisestellen. In kaum einem anderen Stadtteil fielen während des ersten Kriegsjahres mehr Ausspeisungsstationen weg als im 16. Bezirk. Mit der Einrichtung neuer Speisestellen im Verlauf des Jahres 1916 nahmen die Portionsausgabezahlen in Ottakring schließlich wieder zu. Eine Gegenüberstellung der maximalen Leistungsfähigkeit aller zwölf Speisestellen und ihrer tatsächlichen Leistung lässt darüber hinaus erkennen, dass die Ottakringer Ausspeisungen längst nicht so stark frequentiert wurden wie es möglich gewesen wäre (Abb. 33).692 Der Bezirk gab im Dezember 1916 nur etwa 78 Prozent seiner verfügbaren Tagesportionen aus. Auch in den Bezirken Brigittenau und Leopoldstadt war die Diskrepanz zwischen Kapazität und tatsächlicher Leistung auffällig stark. Wurden im 20. Bezirk noch ca. 75 Prozent der möglichen Speiseportionen pro Tag ausgegeben, waren es im 2. Bezirk sogar nur etwa 66 Prozent. Hieraus ist zu schließen, dass in Bezirken mit großer Speisestellenanzahl und hohen Portionskapazitäten nicht zwangsläufig auch eine hohe Inanspruchnahme vorhanden war. Voll ausgeschöpft wurden hingegen die Ausspeisungskapazitäten allen voran in Meidling sowie in Favoriten, Simmering, Hernals und in den überwiegend bürgerlichen Stadtteilen Alsergrund und Hietzing. Da die tatsächliche Leistung in diesen Bezirken über dem eigentlich leistbaren Umfang zur Verfügung stehender Portionen lag, kann davon ausgegangen werden, dass der Bedarf in diesen Gemeindebezirken nicht nur besonders stark war, sondern auch nicht gedeckt werden konnte.
692 Die Auswertung erfolgte auf Basis der Portionsausgabezahl eines einzelnen Tages am Anfang des Monats Dezember 1916. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Zahl ausgegebener Portionen an einem anderen Tag des Monats höher ausfiel. Diese dürfte mit Blick auf die Entwicklung der Portionsausgabezahlen in den vorherigen Monaten jedoch nicht signifikant über dem erfassten Wert gelegen haben.
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Abbildung 31: Gegenüberstellung der täglichen Portionsausgabezahlen in den Wiener Ausspeisungen nach Bezirken im Dezember eines Jahres (1914–1916)
Die erfassten Angaben beziehen sich jeweils auf die Anzahl der im Bezirk ausgegebenen Portionen an einem beliebigen Tag am Monatsanfang. Quelle: Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 30f.
Von allen an der Ausspeisungsaktion mitwirkenden Vereinen und Organisationen leistete während der ersten zwei Kriegsjahre das Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder mit nahezu vierzehn Millionen ausgegebenen Portionen den größten Beitrag zur öffentlichen Verpflegung der Wiener Bevölkerung (Abb. 34). Als Verein mit der größten Speisestellenanzahl stellte er damit in der Zeit zwischen Oktober 1914 und Dezember 1916 etwa 36 Prozent der rund 38 Millionen Ausspeisungsessen zur Verfügung. Ihm folgten das größte Wiener Speisekomitee in Meidling und die Wiener Suppen- und Teeanstalten, die in der Zeit zusammen etwa 22,5 Prozent aller Portionen zur Verteilung brachten.
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Abbildung 32: Entwicklung der Tagesportionenausgabezahl nach Wiener Bezirken (1914–1916)
Bei den erfassten Angaben handelt es sich um die Anzahl der im Bezirk ausgegebenen Portionen an einem beliebigen Tag zu Beginn des jeweiligen Monats (November 1914 bis Dezember 1916). Quelle: Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 30.
Gemäß den Vorstellungen der Verantwortlichen in der Kriegsfürsorgezentrale wurde die große Mehrheit der Speiseportionen an die jüngsten Stadtbewohner ausgegeben. »Es sind mitunter ergreifende Bilder des Großstadtelends, die sich an den Ausspeisestätten darbieten«693 , so Die Zeit über die Ausspeisung der Armen. Im Durchschnitt waren etwa drei Viertel der Ausspeisungsteilnehmer Kinder.694 Einige von ihnen waren bereits durch die Schulkinderspeisung der Vorkriegszeit mit der öffentlichen Großverpflegung vertraut, andere wiederum nahmen das für sie neue Alltagserlebnis dankbar an. Für eine Reihe von Kindern aus ärmsten Verhältnissen bedeutete das städtische Mittagessen auch eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. So berichtete die Mitarbeiterin des Vereins zur Speisung hungernder Schulkinder Else Popper (1880–1942) in ihrem Beitrag für den Almanach der patriotischen Frauen Österreichs von der beherzten Äußerung eines kleinen Mädchens im Simmeringer Kinderhort: »Hoffentlich dauert der Krieg noch recht, recht lang. [… U]ns ist es noch nie so gut gegangen.«695
693 »Die Kriegsausspeisung«, in: Die Zeit, 11. Oktober 1914. 694 Vgl. u.a. »Die Fortsetzung der öffentlichen Ausspeisung in Gefahr«, in: Neue Freie Presse, 1. Oktober 1915. Sonder-Abdruck, 26. Oktober 1915, S. 2. 695 Popper, Else: »Kriegsandenken«, in: Almanach des Kriegsjahres 1914–15 der patriotischen Frauen Österreichs. Hg. zu Gunsten des Witwen- und Waisenhilfsfonds für die gesamte bewaffnete Macht, Wien o.J., S. 108–109, hier S. 109.
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Auch aus anderen Berichten über die Ausspeisung der Hauptstadtkinder ist zu entnehmen, dass unter den jungen Kostgängern zumindest während der ersten Kriegsmonate eine spürbare Zufriedenheit mit dem städtischen Mittagessen vorhanden war: »Das Tor zur Ausspeisehalle ist weit geöffnet. Da strömt’s daher von allen Seiten – Große und Kleine, Buben und Mädeln, den Schulranzen am Rücken, den Korb oder die Tasche am Arm –, alle haben nur ein Ziel: sie wollen satt werden und sich tüchtig wärmen. Verschüchtert und blaß die einen, mit roten Backen und roten Nasen die anderen, so drängen sie herein, dünne Röckchen, dünnes, ungenügendes Schuhwerk – aber wie lachen die Gesichter, wenn Löffel und Brot glücklich ergattert sind und sie zum vollen Teller laufen können.«696 Es ist anzunehmen, dass die kindliche Begeisterung für das städtische Mittagessen im Verlauf des Krieges abnahm und auch von der überwiegenden Mehrheit der mittellosen Ausspeisungsteilnehmer im Erwachsenenalter nicht geteilt wurde. Entgegen den ursprünglichen Vorstellungen der Ausspeisungsorganisatoren waren Letztere nicht nur erwerbslose Arbeiterinnen und Arbeiter. Mit dem anhaltenden Kriegszustand sah sich ebenso eine beträchtliche Zahl von vor allem weiblichen Familienangehörigen der Einberufenen gezwungen, auf das kommunale unentgeltliche Mittagsangebot zurückzugreifen.697
Abbildung 33: Gegenüberstellung der Kapazitäten und der tatsächlich ausgegebenen Portionen in den Wiener Ausspeisungen nach Bezirken (Dez. 1916)
Quelle: Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 31 und S. 35ff.
696 Postelberg, Anna: »Die Trommel schlug zum Streite…«, in: ebd., S. 110–113, hier S. 110. Siehe hierzu auch ähnliche Berichte über die Kinder in der Pestalozzi-Ausspeisung und im Wiener Settlement. »Ausspeisung der Kleinen«, in: Reichspost, 19. November 1914. »Die Kriegsausspeisung«, in: Die Zeit, 11. Oktober 1914. 697 Vgl. »Die Fortsetzung der öffentlichen Ausspeisung in Gefahr«, in: Neue Freie Presse, 1. Oktober 1915.
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Die Auswirkungen der zunehmenden Verschlechterung der Wiener Versorgungslage trafen relativ bald nach den Lebensmittelgeschäften und -märkten auch die bevorzugt belieferten Ausspeisungseinrichtungen. Standen Ende 1914 noch Mehlspeisen, Nudelgerichte, Würstchen, Gulasch, Beuschel (Innereien) oder die Polenta (Maisgrießbrei) sowie die beliebte Kartoffelgrießsuppe auf den vielgestaltigen Speiseplänen der Ausspeisungen, waren die angebotenen Speisen eineinhalb Jahre später nicht mehr allzu abwechslungsreich.698 Die Ausspeisungsorganisatoren und -leiter betonten seit der Einführung der städtischen Küchen, dass für den Betrag von zwanzig Hellern nicht viel geboten werden könne. Die Leiterin des Sonderkomitees des Schwarz-Gelben Kreuzes Schalek zitierend berichtete die Neue Freie Presse: »Das reicht natürlich nicht aus, einen erwachsenen Mann, der 2400 Kalorien braucht, für den ganzen Tag zu sättigen, aber sie bietet immerhin 400 Kalorien an Suppe und 600 an Brot, also für Frauen und Kinder – und meist sind es ja solche, die den Freitisch besuchen – nicht allzuwenig.«699 Im Zuge der stark gestiegenen Lebensmittelpreise und zunehmender Frequentierung der Küchen bestritt die Stadtverwaltung für die Aufrechterhaltung des Ausspeisungsbetriebes immer höhere Kosten. Musste die Zentralstelle zu Beginn der Ausspeisungsaktion noch etwa 100.000 Kronen monatlich aufbringen, hatte sich diese Zahl im Herbst 1915 bereits verdreifacht.700 Zwischen Oktober 1914 und Dezember 1916 beliefen sich die Gesamtkosten des Ausspeisungsunternehmens auf rund 8,7 Millionen Kronen, womit die tatsächlichen Kosten pro ausgegebener Mahlzeit etwa 22,8 Heller betrugen.701 Trotz der umfangreichen und größtenteils erfolgreichen Spendenaktionen kämpfte die Zentralstelle wiederholt mit finanziellen Engpässen. Regelmäßig ließen die Verantwortlichen über die Presse mitteilen, wie bedeutsam die Ausspeisungsaktion für die in Not geratenen Bedürftigen der Stadt ist und appellierten an die Wiener, die Stadtküchen finanziell zu unterstützen.702 Darüber hinaus versuchten das Stadtoberhaupt Weiskirchner und die Zentralstelle neue Einnahmequellen zu akquirieren: »Einem Ersuchen des Bürgermeisters willfahrend, haben sich Kriegshilfsbureau, Kriegsfürsorgeamt und die Oesterreichische Gesellschaft vom Roten Kreuz bereit erklärt, die Einnahmen aus den Rechnungszetteln in den Gastwirtschaften und Hotels der Zentrale Neues Rathaus vom Januar [… 1916] an für die Zwecke der öffentlichen 698 Vgl. »Die Ausspeisungsaktion«, in: Neue Freie Presse, 27. Dezember 1914. Im Jahr 1916 waren vor allem Kohl- und Krautspeisen, Hülsenkonserven sowie Innereien u.ä. auf den Speiseplänen zu finden. Vgl. hierzu »Die öffentlichen Ausspeisungen«, in: Die Zeit, 27. April 1916. 699 »Die Ausspeisungsaktion«, in: Neue Freie Presse, 27. Dezember 1914. 700 Vgl. ebd. Sowie »Die Fortsetzung der öffentlichen Ausspeisung in Gefahr«, in: Neue Freie Presse, 1. Oktober 1915. Bis Januar 1916 stiegen die monatlichen Kosten für die Ausspeisung auf rund 350.000 Kronen. Vgl. »Rechnungszettel für die öffentliche Ausspeisung«, in: Neue Freie Presse, 11. Januar 1916. 701 Vgl. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 32. Siehe hierzu auch ebd., S. 27. 702 Besonders schwierig gestaltete sich die Lage im Herbst 1915. Eine Reihe von Zeitungsartikeln wurden veröffentlicht, die darauf aufmerksam machten, dass die Fortführung der Ausspeisungsaktion in Gefahr sei. Hierzu vgl. u.a. »Die Fortsetzung der öffentlichen Ausspeisung in Gefahr«, in: Fremdenblatt, 30. September 1915 und Neue Freie Presse, 1. Oktober 1915. Sowie »Die Ausspeisungsaktion und das Schwarz-gelbe Kreuz«, in: Neue Freie Presse, 13. Oktober 1915.
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Ausspeisung zu überlassen. […] Alle […] erklärten sich bereit, sich in den Dienst dieser sozialen Aufgabe zu stellen und den Vertrieb der von der Gemeinde Wien herausgegebenen und unter der öffentlichen Kontrolle der Gemeinde Wien stehenden Rechnungszettel zu übernehmen. […] Möge jeder, dem nach einer Mahlzeit vom Zahlkellner die Rechnung auf dem Rechnungszettel überreicht wird, den kleinen Betrag von 2 H[eller] gewähren und dadurch seine Bereitwilligkeit bekunden, auch sein Schärflein zur Lösung einer wichtigen sozialen Frage gern und aus freien Stücken beizutragen.«703 Mit derlei Maßnahmen zur Erhöhung der Spendeneinnahmen gelang es der Zentralstelle, den Ausspeisungsbetrieb aufrechtzuerhalten. Den schwierigen Bedingungen in den Küchen konnte jedoch nicht entgegengewirkt werden. So beklagten die Ausspeisungsleitungen im April 1916, dass die Qualität der Mahlzeiten »schlechter ist als vor Monaten oder gar zu Beginn des Krieges«704 . Ohne dass in den zeitgenössischen Presseartikeln vergleichbare Äußerungen von Seiten der in Not geratenen Auszuspeisenden zu finden sind, gilt als sicher, dass diese die Stadtküchen nicht aufgrund der Speisequalität aufsuchten und mit dem Essen allgemeinhin unzufrieden waren. Doch nicht nur die schlechte Qualität der Mahlzeiten wurde beanstandet. »Social democratic leaders complained early on«, so Healy, »that the public kitchens were too large – dishing up massfeedings for 1,500 people at a time – and that their constituents were humiliated by the dining halls, which had the ›character of charity‹.«705 Healy zufolge habe sich die Kritik nicht gegen die ›Öffentlichkeit‹ der Ausspeisungen gerichtet, sondern gegen die Atmosphäre einer ›Massenabfertigung‹. Die kontinuierliche Zunahme der Teilnehmerzahlen und die über die mittellosen Bevölkerungskreise hinaus drückende Not in der Wiener Bevölkerung veranlasste die Stadtverwaltung im Laufe des Frühjahrs 1916 zum Umdenken. Fast zwei Jahre nach ihrer Einführung konnte die öffentliche unentgeltliche Ausspeisung nicht mehr als zeitgemäße Antwort auf den Notstand der Menschen in der Habsburgermetropole betrachtet werden. Inzwischen lebten weite Teile des Mittelstandes und Kleinbürgertums sowie viele erwerbstätige Arbeiter am Rande des Existenzminimums. Da vielen von ihnen die Zeit und/oder finanziellen Mittel fehlten, um ihren privaten (familiären) Mittagstisch zu organisieren, sah sich die Gemeindeverwaltung veranlasst, auf die Bedürfnisse der Betroffenen zu reagieren. So wurde das Konzept der öffentlichen Küchenversorgung ab dem Sommer 1916 nicht nur quantitativ erweitert, sondern auch den neuen potentiellen Besucherkreisen angepasst.
703 »Rechnungszettel für die öffentliche Ausspeisung«, in: Neue Freie Presse, 11. Januar 1916. 704 »Die öffentlichen Ausspeisungen«, in: Die Zeit, 27. April 1916. 705 Healy, Vienna S. 72. Vgl. auch dies., Am Pranger, S. 196.
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Abbildung 34: Anzahl der ausgegebenen Portionen nach ausgewählten Wiener Speisestellen (1914–1916)
Quelle: Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 33.
3.2 Ein wachsendes Speisepublikum: Die Wiener Küchenverpflegung 1916–1918 Während in der deutschen Hauptstadt die ersten Vorkehrungen zur Reorganisation der öffentlichen Großversorgung getroffen wurden, begannen auch die Wiener Fürsorgezentrale in Zusammenarbeit mit dem Frauenbeirat der Frauen-Hilfsaktion und Bevollmächtigten des k.k. Ministeriums des Innern sowie der niederösterreichischen Statthalterei zu sondieren, wie die öffentliche Küchenversorgung der Donaumetropole dem wachsenden Bedarf in der Bevölkerung und den Bedürfnissen der neuen potentiellen Besucherkreise gerecht werden konnte. Die zeitgleich im Deutschen Reich stattfindenden Debatten über die künftige Ausgestaltung der großstädtischen Massenspeisung konnten und wollten die Funktionäre in Wien und Niederösterreich nicht ignorieren. Auch die bis dahin mustergültigen Vorgänge auf dem Gebiet der Großküchenversorgung in Berlin und anderen deutschen Großstädten wurden in Wien registriert und in der Lokalund Großpresse nicht nur in den höchsten Tönen gelobt, sondern auch als richtungsweisend für das weitere Vorgehen der Wiener Stadtverwaltung angesehen.706 706 Vgl. hierzu u.a. »Die Wiener Fahrküchen«, in: Die Zeit, 17. Mai 1916. »Speisegemeinschaft«, in: Arbeiter-Zeitung, 31. Mai 1916. »Was leisten Kriegsküchen?«, in: Arbeiter-Zeitung, 14. Juni 1916. Sowie
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Eine nicht näher genannte Wiener Persönlichkeit berichtete der Österreichischen Volkszeitung nach einem längeren Aufenthalt in Berlin: »In Deutschland nehmen die Dinge in gewisser Beziehung einen vorbildlichen Verlauf«707 . Als besonders herausragend wurden vor allem zwei Errungenschaften der Berliner Notstandsversorgung betrachtet, die sowohl in der Presse als auch von den Gemeindeverantwortlichen diskutiert wurden: »Zwei solche Neueinrichtungen, die weit über Berlin hinaus die Aufmerksamkeit und das Interesse der Oeffentlichkeit erregten, und in vielen deutschen Städten für gleiche Einrichtungen vorbildlich waren, sind die fahrbare Straßenküche und die Mittelstandsküche. [… Die Fahrküche] hat sich mit einem Schlage die Sympathie aller jener Tausende, zu deren Gunsten sie geschaffen wurde, errungen, und wo immer die ›Jollaschkanone‹ auftaucht, ist sie im Nu von Männern, Frauen und Kindern dicht umringt, die die größten Gefäße des Haushaltes herbeischleppen – in der Hoffnung auf eine besondere (aber fast niemals vorhandene) Protektion der Austeiler. [… Die Mittelstandsküche] war während des Krieges die erste der Massenspeisung dienende Einrichtung, und ihr Ursystem ist mit ganz geringen verbessernden Abweichungen bis heute unverändert geblieben […]. Sie ist ein Mittelding zwischen Stadtrestaurant und Volksküche und ist, worauf ja schon ihr Name hinweist, für den Mittelstand berechnet, also für jene Volksklasse, die sich zur Intelligenz zählt, aber durch die Härten des Krieges und die Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse eine gewisse materielle Deklassierung erfahren hat […]. Ein Blick über die rund tausend Besucher, die sich Tag um Tag, Abend um Abend zu einer Mahlzeit in dem Speisesaal der Mittelstandsküche zusammenfinden, lehrt denn auch, daß wirklich der Mittelstand […] vertreten ist.«708 Im Verlauf der Beratungen über die künftige Wiener Massenspeisungsversorgung entwickelte die Wiener Stadtverwaltung Pläne für die etwaige Einführung einer der beiden Modelle. Im Mai 1916 berichtete das linksliberale Blatt Die Zeit, dass das Rathaus in fortgeschrittenen Verhandlungen mit der »Miles« (Ministerium des Innern legitimierte Einkaufsstelle709 ) stünde und konkrete Vorkehrungen zur Einleitung einer Fahrküchen»Speisegemeinschaften«, in: Arbeiterinnen-Zeitung 14, 25. Jg. (4. Juli 1916), S. 1–2. Die deutschsprachige österreichische respektive Wiener Tagespresse verfolgte die Aktivitäten der Gemeinde auf dem Gebiet der Massenverpflegung sehr umfassend. Die Menge und der Informationsgehalt der Zeitungsartikel lassen zum einen ein großes öffentliches Interesse an den Verpflegungsaktivitäten der Gemeinde erkennen und veranschaulichen zum anderen eine umfangreiche Mitwirkung des Mediums Zeitung bei der Bekanntmachung des kommunalen Versorgungsangebots. Da der Informationsgehalt der Presseartikel weit über den der spärlich vorhandenen Verwaltungsschriften hinausgeht, sind sie für die Darstellung der Entwicklung des Wiener Kriegsküchenwesens während der zweiten Kriegshälfte von hohem Wert. Die weiteren Ausführungen stützen sich daher vornehmlich auf Lokal- und Großpresseartikel verschiedener Tageszeitungen, wobei das Problem ihrer Authentizität berücksichtigt wird. 707 »Volks- und Mittelstandsküchen für Wien«, in: Österreichische Volkszeitung, 14. Juni 1916. 708 »Die Wiener Fahrküchen«, in: Die Zeit, 17. Mai 1916. 709 Neben der »Kriegs-Getreideanstalt« war die »Miles« eine von vielen Kriegszentralen für die Verwaltung und Verteilung der Lebensmittel. Sie entstand 1915 und war für die Regelung des Warenbezugs aus dem neutralen Ausland und die gerechte Verteilung der Waren an die Verbraucher zuständig. 1916 wurde sie in die »Oezeg« (Österreichische Zentrale Einkaufsgesellschaft) umgewan-
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Aktion in Wien getroffen habe.710 Nachdem alle Vorkehrungen zur Beschaffung der ersten Gulaschkanonen getroffen, eine Fahrküchen-Probefahrt vorbereitet und die Fahrpläne für die vorrangig zu versorgenden äußeren Stadtbezirke weit fortgeschritten waren, wurde das Fahrküchenprojekt von Bürgermeister Weiskirchner schließlich aus mehreren Gründen Ende Mai wieder verworfen. »Tatsächlich herrschen in den für diese Einführung maßgebenden Kreisen«, so Die Zeit, »mehrfache Bedenken gegen die Verabreichung von Speisen auf den Straßen.«711 Sowohl die Frage der Witterungsbedingungen als auch das Problem der Hygiene machten die Verantwortlichen skeptisch. Aus Deutschland war darüber hinaus bekannt, dass die rollenden Straßenküchen während ihres Einsatzes häufig von Menschenmassen dicht umdrängt wurden und sich ein geordneter Betrieb schwierig gestaltete. Die Entscheidungsträger befürchteten, dass die Fahrküchen bei einem derartigen Menschenandrang nicht in der Lage seien, die vorgeschriebenen Bezirksrouten abzufahren, »da sie möglicherweise gleich an der ersten Straßenecke die 500 Portionen, über die sie verfüg[en], verkauft ha[ben]«712 . Doch auch mit Blick auf das Speisepublikum erschien die Fahrküche als ungeeignetes Versorgungsmodell. Um weite Kreise der Not leidenden Bevölkerung von der Teilnahme an der städtischen Großverpflegung zu überzeugen, erschien das Straßenküchen-Projekt nicht sehr zielführend: »Wer mit seinem Topfe oder sonstigem Gefäß bei diesem Küchenwagen erschiene, würde von dieser oder jener Nachbarin, die sich’s noch ›leisten‹ kann, gewiß mit einer gewissen Verachtung angesehen werden. Man weiß ja, wie das geht. Auch müßten die Küchenwagen beim Erscheinen auf den Straßen sich irgendwie deutlich ankündigen; aber dennoch würde mancher wahrscheinlich kein Essen bekommen.«713 Die Entscheidungsträger der Gemeinde und der Statthalterei betrachteten die fahrbare Straßenküche als nicht praktikabel und entschieden sich stattdessen Anfang Juni für die Einrichtung stabiler Speisestellen, in denen die Speisen gegen ein geringes Entgelt angeboten werden sollten. Auf Wunsch der Frau des Statthalters Baronin Gabriele von Bleyleben714 (1869–1952) wurde ein Komitee gegründet, das unter ihrem Vorsitz ein Konzept zur Durchführung der Stadtküchen-Aktion erarbeiten sollte. Zum gleichen Zeitpunkt erhielten die neu einzurichtenden Küchen auf Vorschlag Bleylebens den Namen »Kriegsküchen«. Bevor für diese ein angemessener Programm-Entwurf entwickelt werden sollte, schlug das Komitee vor, zunächst den Bedarf festzustellen.
delt. Vgl. Jagschitz Florian, Siegfried Rom und Jan Wiedey: »Die österreichischen Konsumgenossenschaften im Ersten Weltkrieg«, in: 125 Jahre Genossenschaftsgesetz, 100 Jahre Erster Weltkrieg. Beiträge zur 9. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte am 7.-8. November 2014 im Hamburger Gewerkschaftshaus, Norderstedt 2015, S. 120–128, hier S. 121. 710 Vgl. »Fahrküchen für Wien«, in: Die Zeit, 9. Mai 1916. »Die Wiener Fahrküchen«, in: Die Zeit, 17. Mai 1916. Siehe auch »Fahrküchen für die Ausspeisung«, in: Die Neue Zeitung, 12. Mai 1916. 711 »Die Fahrküchen in Wien«, in: Die Zeit, 19. Mai 1916. 712 Ebd. Ferner »Errichtung von Kriegsspeisestellen«, in: Die Zeit, 4. Juni 1916. 713 »Was leisten Kriegsküchen?«, in: Arbeiter-Zeitung, 14. Juni 1916. 714 Im Jahr 1915 übernahm Oktavian Regner von Bleyleben (1866–1945) das Amt des niederösterreichischen Statthalters und löste Richard Graf von Bienerth-Schmerling (1863–1918) ab, der das Amt von 1911 bis 1915 innehatte.
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In Zusammenarbeit mit den Brotkommissionen ließ das Komitee, dem auch der Leiter der Zentralstelle Ober-Magistratsrat Dont angehörte, im Rahmen der Brotkartenausgabe am 10. Juni eine »Unverbindliche Anfrage betreffend die Errichtung von Kriegsküchen« an die Wiener Haushaltsvorstände verteilen. Mit einer kurzen Darlegung der ökonomischen Vorteile der Kriegsküche und einer geplanten Speisepreisübersicht bat das Komitee in ihrem – auch von mehreren Tageszeitungen veröffentlichten – Ansuchen um die Mithilfe der Wiener Bevölkerung: »Jeder, der für sich und seine Familienangehörigen aus einer solchen Kriegsküche regelmäßig Speisen beziehen möchte, hat nichts anderes zu tun, als eine bei seiner Brotkommission aufliegende Postkarte während der Amtsstunden abzuholen, sie auszufüllen und mit einer Marke versehen nach den Pfingstfeiertagen, bis längstens 17. Juni, in den Postkasten zu werfen. Aus der Zahl der eingehenden Anmeldungen wird nunmehr ziemlich verläßlich und leicht festzustellen sein, in welchem Umfang die Errichtung von solchen Kriegsküchen in Wien tatsächlich ein Bedürfnis und in welchen Bezirken und Bezirksteilen ihre Errichtung am dringendsten notwendig ist.«715 Zeitgleich richtete das Kriegsküchen-Komitee eine zweite Anfrage an die bestehenden Wiener Speiseeinrichtungen und -anstalten, mit der ermittelt werden sollte, inwiefern diese über (weitere) Kapazitäten zur Speisezubereitung für die Kriegsküchen verfügten. Insgesamt teilten siebzehn der angefragten Einrichtungen der Zentralstelle mit, dass sie für die Kriegsküchen-Aktion zur Verfügung stünden.716 Die geringe Rückmeldequote signalisierte dem Komitee, dass die Errichtung neuer Küchen erforderlich war. Die Verantwortlichen gingen von vornherein davon aus, dass die Zahl der interessierten Kriegsküchenteilnehmer sehr hoch ausfallen werde. Nach einem Bericht der Zeit beliefen sich die Schätzungen auf rund 20.000 Anmeldungen.717 Tatsächlich aber blieben die Kriegsküchenanmeldungen weit hinter den Erwartungen zurück. »[V]on rund 540.000 Haushaltungen in Wien haben sich nur wenig mehr als 5000 Haushaltungen angemeldet, die meisten Anmeldungen fielen auf den XVI. Bezirk.«718 Dies hielt das Kriegsküchen-Komitee nicht davon ab, die Aktion weiterhin im großen Stil zu planen.
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»Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 8. Juni 1916. Vgl. auch »Wer Ausspeisung haben will, soll sich melden!«, in: Arbeiter-Zeitung, 8. Juni 1916. »Kriegsküchen in Wien«, in: Arbeiter-Zeitung, 13. Juni 1916. Sowie »Bericht über die 49. Sitzung der Zentrale der Frauen-Hilfsaktion im Kriege vom 2. Juni 1916«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 25 (1916), Nr. 78, 29. September 1916, S. 2101–2103, hier S. 2101f. Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 161. Vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 9. Juni 1916. Zur Rückmeldequote der bestehenden Einrichtungen vgl. auch »Bericht über die 50. Sitzung der Zentrale der Frauen-Hilfsaktion im Kriege vom 15. Juni 1916«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 25 (1916), Nr. 80, 6. Oktober 1916, S. 2136–2139, hier S. 2138. »Bericht über die 51. Sitzung der Zentrale der Frauen-Hilfsaktion im Kriege vom 28. Juni 1916«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 25 (1916), Nr. 84, 20. Oktober 1916, S. 2257–2259, hier S. 2258. Ferner vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 23. Juni 1916. »Die Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 11. Juli 1916. »Kriegsküchen in Wien«, in: Reichspost, 9. Juli 1916.
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Die Verantwortlichen rechneten damit, dass die Anmeldequote rasant zunehmen werde, wenn die ersten Kriegsküchen ihren Betrieb aufgenommen hatten. So erklärte Dont in einem Interview mit der Neuen Freien Presse: »Der Wiener ist mißtrauisch und hat vor der Massenausspeisung Angst wie vor einer Volksküchenausspeisung. Wir betrachten aber die Kriegsküchen keineswegs als Wohltätigkeitsunternehmen. Sie werden sich selbst erhalten […]. [E]s steht zu erwarten, daß, wenn die Wiener erst sehen werden, daß die Speisen wohlschmeckend zubereitet sind, daß sich ein Massenandrang einstellen wird, dem wir wohl mit [… ausreichenden] Mitteln gerüstet werden entgegentreten müssen.«719 Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Interviews wurden Mitte Juli die ersten Wiener Kriegsküchen eröffnet. Als Ergänzung zur unentgeltlichen Wiener Ausspeisung richteten sie sich ohne jedwede Bedürftigkeitsprüfung vornehmlich an ein Speisepublikum aus den mittelständischen und kleinbürgerlichen Bevölkerungskreisen, standen aber grundsätzlich allen Wienern zur Verfügung.
3.2.1 Kücheneröffnungen im »Versuchsstadium«: Die Wiener Kriegsküchenaktion In Anwesenheit des Bürgermeisters Weiskirchner und dem Obermagistratsrat Dont nahm am 17. Juli 1916 zur Mittagszeit die erste Wiener Kriegsküche in einem Schulgebäude in der Meidlinger Tivoligasse ihren Betrieb auf. Gemeinsam mit den zwei dazugehörigen Filialen in der Kobingergasse und der Dunklergasse produzierte Wiens erste Kriegsküche fortan bis zu 1.000 Portionen täglich. Doch der Startschuss für die Wiener Kriegsküchen fiel an jenem Tag nicht nur im 12. Bezirk. Nahezu zeitgleich öffneten auch zwei weitere kleinere Kriegsküchen ihre Pforten in den Bezirken Favoriten und Alsergrund. Bereits mehrere Tage zuvor wurde die Einleitung der größtenteils von der Gemeinde und dem Kriegshilfsbüro des k.k. Ministeriums des Innern finanzierten Kriegsküchenaktion in zahlreichen Berichten der Wiener Tageszeitungen detailliert angekündigt (Abb. 35).720 Anders als die vorausgegangenen Interessensbekundungen zur Teilnahme an der Kriegsküchenspeisung vermuten ließen, war der Andrang teilnahmewilliger Kriegsküchenbesucher am Eröffnungstag außerordentlich hoch. Einem Bericht der Zeit zufolge wollten bis zu 2.000 Wiener ihre Mittagskost in der Tivoligasse einnehmen, sodass die Hälfte der Speisewilligen abgewiesen werden musste.721 Auch am zweiten Tag sei der
»Die Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 11. Juli 1916. Vgl. auch »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 23. Juni 1916. Bereits eine Woche zuvor erschien in der Zeit ein Kommentar zu den Wiener Kriegsküchenplanungen. Die Autorin bezweifelte, dass alle potentiellen Kriegsküchenbesucher an der Umfrage zur Kriegsküchenteilnahme teilnähmen. Vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 14. Juni 1916. 720 Nach einem Bericht der Zeit, stellten die staatlichen Behörden darüber hinaus auch die Förderung der Kriegsküchenaktion durch die Sicherstellung der erforderlichen Lebensmittel in Aussicht. Vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 1. August 1916. Sowie »Der Weihnachtsbasar für die Kriegsküchenaktion«, in: Neue Freie Presse, 8. Dezember 1917. 721 Vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 18. Juli 1916. Auch in den anderen beiden Kriegsküchen war der Andrang Speisewilliger höher als die zur Verfügung stehende Anzahl zubereiteter Portionen. Vgl. u.a. »Die Eröffnung der Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 18. Juli 1916.
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Zudrang derart groß gewesen, dass Wachmänner der Polizei für einen störungsfreien Speisebetrieb sorgen mussten.
Abbildung 35: Die Eröffnung der Kriegsküchen in der Wiener Presse
Über die Eröffnung der ersten Wiener Kriegsküchen am 17. Juli 1916 berichteten nahezu alle großen österreichischen Tageszeitungen. Die Illustrierte Kronen-Zeitung und das Neuigkeits-Welt-Blatt u.a. widmeten ihr Titelblatt am 18. Juli 1916 den Kriegskücheneröffnungen. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, ANNO Austrian Newspapers Online.
Zahlreiche anwesende Kostgänger glaubten irrtümlich zur Kriegsküchenteilnahme berechtigt zu sein. Dies war zum einen auf die mangelhafte Kommunikation der Organisatoren, die das Projekt noch im »Versuchsstadium«722 sahen, und zum anderen auf daraus resultierende fehlerhafte Presseberichte zurückzuführen. So suggerierte die im Juni 1916 vorgenommene unverbindliche Anfrage des Kriegsküchen-Komitees vielen der teilgenommenen Interessenten, dass es sich dabei zugleich um eine offizielle Anmeldung zur Kriegsküchenspeisung gehandelt habe.723 Darüber hinaus verkündete u.a. die Österreichische Volkszeitung, dass »[j]edermann, auch wenn er noch nicht angemeldet ist«724 in den neuen Stadtküchen verköstigt werde. Tatsächlich aber hatten sich alle Speisewilligen vorab direkt in den Kriegsküchen zu melden und sich ihre Teilnahme bestätigen
722 »Die Kriegsküchen in Wien«, in: Reichspost, 13. Juli 1916. 723 Vgl. »Die Eröffnung der Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 18. Juli 1916. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 21. Juli 1916. 724 »Die Lebensmittelversorgung«, in: Österreichische Volkszeitung, 10. Juli 1916.
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zu lassen. Doch im Gegensatz zur Ausstellung der Speiseberechtigungen für die unentgeltliche Ausspeisung wurden hierbei keine persönlichen Daten der Kriegsküchengäste aufgenommen oder vermerkt. »Von dem Standpunkte ausgehend, daß die Kriegsküchen nicht als Wohltätigkeitsinstitution aufgefaßt werden sollen, [… wird] mit selbstverständlichem Takte vermieden, irgendeinen Vermerk auf den Zetteln anzubringen, der die Bewerber verletzen könnte. [… E]s steht auf dem Zettel nur: »Angemeldet am« und »Anzahl der Portionen« […].«725 Trotz der Startschwierigkeiten blickten die Verantwortlichen der Kriegsküchenaktion, die den enormen Zulauf der Speisewilligen in erster Linie positiv werteten, auf eine erfolgreiche erste »Kriegsküchenwoche«: »Die Bilanz der ersten Woche der Kriegsküchenbetätigung ist glänzend zu nennen. Die Kriegsküchen haben sich mit dem Eröffnungstage eingeführt und wie ein Lauffeuer hat es sich herumgesprochen, daß die Kost gut, nahrhaft und preiswert sei. Der Zuspruch wächst von Tag zu Tag […] Es wird uns vom Obermagistratsrat Dr. Dont, dem Leiter der Kriegsküchenaktion, versichert, daß jeder, der in der Kriegsküche angemeldet ist, die von ihm zu beziehende Anzahl von Portionen bekommt, ganz gleich, ob er um 12 oder um 34 2 Uhr erscheint. Denn die Arbeit der Kriegsküchen ist so geregelt, daß jeder Anmelder bis 2 Uhr ein absolutes Recht auf seine Portion hat, dessen er durch Spätererscheinen nicht verlustig geht, da die Kriegsküchen eine Anzahl von Portionen über die Anmeldungen herstellen […].«726 In seinem Vorgehen bestärkt war der Kriegsküchenchef Dont zuversichtlich, dass auch die weiteren Kücheneröffnungen erfolgreich sein würden. Noch bevor die ersten Kriegsküchen in Betrieb genommen wurden, standen bereits zahlreiche weitere Standorte fest. Bei der Auswahl geeigneter Einrichtungen bevorzugte die Gemeindeverwaltung kleinere Küchen in städtischen und öffentlichen Gebäuden.727 Die Gründe hierfür waren u.a die »Fuhrwerksersparung« und die »Möglichkeit der Individualisierung« der Einrichtungen. In weiser Voraussicht, dass die Stadtküchen kein Provisorium der Kriegszeit sein, sondern über den Krieg hinaus Bestand haben werden, mussten die in Frage kommenden Einrichtungen einige Kriterien erfüllen. Dem Kriegsverwaltungsbericht zufolge legten die Verantwortlichen der Kriegsküchenaktion großen Wert auf ausreichende Räume, große Wartebereiche, die über eigene Ein- und Ausgänge verfügten, und auf die Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit durch zusätzliche Kochgeräte zu steigern. Des Weiteren sollten die Einrichtungen über genügend Platz für eine kleinere Anzahl von Sitzgelegenheiten verfügen. Doch für die Organisatoren waren nicht nur die Standorteigenschaften, sondern auch die Leitung der Küchen durch geeignetes ehrenamtliches Personal, wie es sich in den unentgeltlichen Ausspeisungsstellen bereits bewährt hatte, von großer Bedeutung. Diesbezüglich galt Wiens erste Kriegsküche, so geht aus einem Artikel der Neuen Freien Presse hervor, als mustergültiges Beispiel:
725 »Die Eröffnung der Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 16. Juli 1916. 726 »Das Ergebnis der ersten Kriegsküchenwoche«, in: Neue Freie Presse, 23. Juli 1916. 727 Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 161f.
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»Das Ideal der Kriegsküchenführung für die Gemeinde ist in der Tivoligasse verwirklicht, wo man zwar infolge des kleinen Lokals und wegen der Vorliebe der Vorstädter für die 12-Uhr-Mittagsmahlzeit sich zwischen 12 und halb 1 Uhr redlich drängen muß, wo man aber für das Geld ein Mittagmahl bekommt, wie es im richtigen Wiener Bürgerhaushalt gekocht und liebreich abgewirtet wird. Eine tüchtige Hausfrau aus dem Mittelstande leitet es und überwacht die Zubereitung der Speisen, wie sie es in ihrer eigenen Küche gewohnt ist, so daß die gute Küche der Tivoligasse schon bekannt ist. Wenn die Möglichkeit geboten wäre, in allen Kriegsküchen die Speisen so zuzubereiten, wie sie in den Privathaushalten des Mittelstandes beliebt sind, wenn sich in allen Bezirken Helferinnen aus diesen Kreisen finden würden, die sich der Kriegsküchen annehmen wollten, dann könnte die Wiener Kochkunst hier Triumphe feiern, die ihr größere Lorbeeren als die elegantesten Hochzeits- und Taufdiners bescheren würden.«728 Bis Ende August 1916 umfasste das Wiener Kriegsküchennetz insgesamt sechzehn Einrichtungen, die nicht nur überwiegend in den bevölkerungsreichsten Bezirken ins Leben gerufen wurden, sondern auch in jenen Stadteilen, wo nach dem Ergebnis der unverbindlichen Anfrage der größte Bedarf vorhanden war.729 Sechs der Kriegsküchen (Nr. 4 bis 9) mit einem Gesamtleistungsumfang von 1.700 Tagesportionen eröffnete der Erste Wiener Volksküchen-Verein in den bevölkerungsreichen Stadtteilen Leopoldstadt und Ottakring sowie in den Innenstadtbezirken Wieden, Margareten, Mariahilf und Fünfhaus. Der Verein versuchte mittels getrennter Speiseausgabezeiten und durch Untersagen des Speiseverzehrs vor Ort seine Volksküchenaktivitäten parallel aufrechtzuerhalten.730 Ähnlich verfuhren auch die Leitungen der zehnten und elften Kriegsküche, die über ihren Betrieb hinaus auch Ausspeisungsstellen bedienten. Zwar waren die Verantwortlichen der Kriegsküchenaktion bestrebt, die neuen Stadtküchen getrennt von der unentgeltlichen Ausspeisungsaktion einzurichten, doch in Anbetracht des Mangels geeigneter Lokalitäten war dies nicht immer in die Praxis umzusetzen.731 So beteiligten sich das Ottakringer Lehrerhilfskomitee in einer Schule des 16. Bezirks und der Katholische Wohltätigkeitsverband für Niederösterreich im Neubauer »Charitas-Haus« parallel an jeweils einem Standort an beiden städtischen Massenspeisungsaktionen.732 Das im Rahmen der Ausspeisungsaktion besonders aktive Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder eröffnete und leitete ebenfalls eine Kriegsküche (Nr. 12) in einer ihrer ehemaligen Ausspeisungs-
728 »Das Ergebnis der ersten Kriegsküchenwoche«, in: Neue Freie Presse, 23. Juli 1916. 729 Neben dem Bezirk Ottakring (mit 1.500 Portionsanmeldungen) gehörten hierzu die Bezirke Leopoldstadt, Favoriten, Hietzing, Landstraße und Hernals, in denen die Anmeldezahl zwischen 800 und 1.300 Portionen lag. Hierzu vgl. die ausführlichen Zahlen im Zeitungsbericht »Kriegsküchen in Wien«, in: Reichspost, 9. Juli 1916. Zu den Bevölkerungszahlen vgl. Statistisches Jahrbuch 1914, S. 45. Zu den weiteren Ausführungen vgl. Tab. viii im Anhang. 730 Vgl. »Eröffnung von sechs neuen Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 21. Juli 1916. »Eröffnung sechs neuer Kriegsküchen«, in: Reichspost, 2. August 1916. 731 Zur Abgrenzung der Kriegsküchen von den öffentlichen Ausspeisungen vgl. Breiter, Hinter der Front, S. 248f. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Anforderung wurden von Breiter jedoch nicht thematisiert. 732 Vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 1. August 1916. »Eröffnung der Kriegsküche Elf«, in: Reichspost, 17. August 1916.
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stellen in Alsergrund. In direkter Nachbarschaft zu einer Ausspeisungsstelle entstand auch die im Hause des Hietzinger Armenrates eingerichtete 13. Wiener Kriegsküche.733
Abbildung 36: Vor der 25. Kriegsküche in der Billrothstraße 67 im 19. Wiener Gemeindebezirk
Abbildung: Agentur Welt Preß Photo, in: Das interessante Blatt 22, 31. Mai 1917, S. 10. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, ANNO Austrian Newspapers Online.
Neueingerichtet wurden hingegen die Kriegsküchen Nr. 14 und Nr. 15, deren Ausgabestellen in den Straßenbahnhöfen Breitensee und Favoriten eröffneten. Die Leitung der ersteren übernahm der Leiter der Kriegsküchenaktion Dont höchstpersönlich, der die rund 1.000 täglich auszugebenen Portionen seiner Hietzinger Kriegsküche aus dem Kaiser-Jubiläumspital bezog. Die Leitung der Kriegsküche Nr. 15, die ebenfalls eine Ausgabezahl von 1.000 Portionen vorwies, übernahm die Vorsitzende des Favoritener Frauenarbeitskomitees. Die Speisen wurden im Lainzer Versorgungshaus gekocht und »mittelst Sonderwagen der elektrischen Straßenbahn zugeführt«734 . Zusammen mit der 16. Kriegsküche, welche bereits der dritte Kriegsküchenstandort in Ottakring war, verfügte das Kriegsküchennetz bis Mitte September über eine tägliche Gesamtleistungsfähigkeit von mindestens 6.700 Portionen.735 Die tatsächliche Zahl der im Zeitraum vom 17. JuVgl. hierzu und den weiteren Ausführungen »Eröffnung der Kriegsküchen 13 bis 15«, in: Reichspost, 19. August 1916. 734 Ebd. Zu den in den Wiener Straßenbahnhöfen eingerichteten Kriegsküchen siehe ausführlicher »Das Ergebnis der ersten Kriegsküchenwoche«, in: Neue Freie Presse, 23. Juli 1916. 735 Vgl. Anlage »Kriegsküchen« im Protokoll über die 53. Sitzung der Obmänner-Konferenz vom 12. September 1916. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/74. 733
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li bis 16. September 1916 ausgegebenen Mahlzeiten umfasste 447.905 Portionen, woraus zu schließen ist, dass sich die tatsächliche durchschnittliche Tagesleistung aller Küchen während der ersten Betriebswochen auf über 7.200 Portionen erhöhte.736 Jede Kriegsküche öffnete täglich zwischen elf und vierzehn Uhr. Je nach Einrichtung umfasste die Betriebszeit der Speisenausgabe von dreißig Minuten bis zu zwei Stunden. Im Hinblick auf die allgemein verbreitete Skepsis der Wiener gegenüber der Großküchenversorgung war der Kriegsküchenbesuch anders als bei der stark reglementierten öffentlichen Ausspeisungsaktion nicht mit größeren und auf potentielle Teilnehmer hemmend wirkenden Hürden (z.B. Bedürftigkeitsprüfung, Bezugskartenabgabe) verbunden. Im Interesse des Aufrechterhaltens der privaten Familienmahlzeit empfahlen die Kriegsküchenorganisatoren, die Abholung der Speisen einer Vor-Ort-Speisung vorzuziehen. Letztere war aufgrund der geringen Platzkapazitäten in der Regel nur in einem überschaubaren Umfange möglich und richtete sich darüber hinaus vornehmlich an alleinstehende Personen. Die Speisepreise waren in allen Einrichtungen identisch: Suppen im Umfang von 300 Milliliter kosteten zunächst zehn Heller, ein halber Liter Gemüse zwischen zwanzig und 25 Heller, die Mehlspeise im Umfang von zwanzig bis dreißig Dekagramm (= 200 bis 300 Gramm) zwischen dreißig und 35 Heller.737 Die angemeldeten Kriegsküchengäste konnten in der Regel zwischen zwei Speisen wählen, die täglich abwechselnd aus Suppe und Gemüse oder Suppe und Mehlspeise bestanden: »Die Speisenfolge ist mit außerordentlichem Verständnis und liebevollem Eingehen auf den Geschmack der Wiener zusammengestellt. Auffallend oft gibt es Reis, der immer mit anderen nahrhaften Ingredienzien, wie Milch (im Milchreis), Eiern und Butter oder irgendeinem anderen Fett (wie im Reisauflauf), [… sowie] nahrhaften Seefischen zusammen gekocht wurde und so ein ebenso nahrhaftes wie wohlschmeckendes Mittagmahl verbürgt.«738 Bis Ende des Jahres 1916 wurden in Wien insgesamt 28 Kriegsküchen in Betrieb genommen. Während der ersten fünfeinhalb Monate ihres Bestehens gaben die neuen Stadtküchen etwa 2,53 Millionen Portionen aus (Abb. 37). Im Dezember verabreichten alle Einrichtungen des Kriegsküchennetzes täglich zwischen 17.300 und 25.800 Portionen, wo736 Vgl. »Neue Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 4. Oktober 1916. 737 Vgl. u.a. »Kriegsküchen in Wien«, in: Arbeiter-Zeitung, 13. Juni 1916. »Die Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 11. Juli 1916. »Die Eröffnung der Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 16. Juli 1916. Sowie »Die Kriegsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 1. August 1916. 738 »Die Eröffnung der Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 16. Juli 1916. Vgl. hierzu auch Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 163. Zumindest während der Kriegskücheneinführungsphase war die Speisefolge noch sehr vielfältig. Es gab u.a. Gemüse-, Erbsen-, Bohnen- sowie Konservensuppen. Die Gemüsespeisen beinhalteten Spinat, Paradeissauce, Kochsalat u.ä. Zu den angebotenen Mehlspeisen gehörten u.a. Milchnudeln, Kaiserschmarrn und Topfenfleckerl. Vgl. Breiter, Hinter der Front, S. 249. Fleischspeisen standen nicht auf den Menüplänen, wurden aber – sofern Fleisch verfügbar war – hin und wieder den Speisen zugegeben. Vgl. u.a. Sonder-Abdruck, 17. August 1917, S. 3. Die Speisepläne einzelner Kriegsküchen wurden in zahlreichen Presseberichten veröffentlicht. Siehe hierzu u.a. »Die Eröffnung der Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 16. Juli 1916. »Die Eröffnung der Wiener Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 18. Juli 1916. »Die neuen Kriegsküchen in Wien«, in: Österreichische Volkszeitung, 31. Juli. »Die Kriegsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 1. August 1916. »Eröffnung der Kriegsküche Elf«, in: Reichspost, 17. August 1916.
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bei jedoch die Zahl der Besucher durch den ermöglichten Mehrportionenbezug der Teilnehmer niedriger ausfiel. Damit schien das vom Leiter der Kriegsküchenaktion erklärte Ziel, zunächst täglich bis zu 20.000 Menschen mit einem Mittagessen zu versorgen, weitgehend erreicht.739 In Anbetracht der zeitlichen Zielsetzung, wonach diese Zahl der zu versorgenden Wiener bereits Ende August 1916 erreicht und die Gesamtleistungsfähigkeit bis Ende des Jahres kontinuierlich gesteigert werden sollte, lagen die Organisatoren des Kriegsküchenwesens weit hinter ihren Prognosen zurück. Die vor allem auf den Mittelstand ausgerichteten Stadtküchen erhielten während der ersten Monate ihres Bestehens noch nicht den Zuspruch, der seitens der Stadtverwaltung erwartet wurde. Bereits nach wenigen Wochen der Einführung der Kriegsküchen wurden erste kritische Stimmen laut. So ist vereinzelten Stimmungsberichten der Wiener Polizeidirektion zu entnehmen, dass die Qualität der Mahlzeiten in einigen Kriegsküchen nachließ und die Speisen aus Sicht der Kostgänger alles andere als genießbar gewesen seien.740 Besonders intensiv aber wurden die Probleme der Wiener Kriegsküchen von den sozialdemokratischen Presseorganen thematisiert. Grundsätzlich begrüßten die Sozialdemokraten die städtische Großküchenversorgung und das Bestreben, eine »Küche für alle« zu schaffen, doch kritisierten sie die »zaghafte« und »langsame« Durchführung der Aktion.741 Die Küchen seien insgesamt viel zu klein und verfügten über einen viel zu geringen Portionenumfang. Auch entstünden die Einrichtungen nicht dort, »wo sie am dringendsten notwendig sind, nämlich in der Nähe der großen Fabriken, sondern meist da, wo man ein kostenloses Lokal findet und wo die Kocheinrichtung schon vorhanden ist«742 . Darüber hinaus seien die Kriegsküchenspeisen nicht nur für viele Familien viel zu teuer gewesen, sondern glichen auch zu sehr der berüchtigten Armenkost: »Wir sind für die Kriegsküchen, aber wir möchten sie anders haben, als sie sind. Sollten sie sich die Sympathien aller erobern, dann dürfen sie keinen Armenleute-Charakter tragen. Sie dürfen nicht so sein, daß die, die hingehen, das Gefühl haben, daß die Kriegsküche eine Einrichtung ist, die nur für jene Individuen ist, die sich nichts anderes leisten können.«743
739 Vgl. »Das Ergebnis der ersten Kriegsküchenwoche«, in: Neue Freie Presse, 23. Juli 1916. Im Zeitraum vom 17. September bis 18. November 1916 umfasste die tatsächliche Leistung der Kriegsküchen 1.127.214 Portionen. Vgl. hierzu »Kriegsküchen«, in: Reichspost, 3. Dezember 1916. 740 Vgl. u.a. WBD, Stimmungsbericht vom 19. Oktober 1916, S. 10. Unter Berücksichtigung des Zeitpunktes vgl. ferner den Stimmungsbericht vom 8. Februar 1917, S. 12. Bei letzterem fielen die Klagen über das Kriegsküchenessen in die Zeit der schwierigen Wintermonate 1916/17, in der die Wiener Versorgungsengpässe besonders groß waren. 741 Vgl. Arbeiterinnen-Zeitung 20, 25. Jg. (3. Oktober 1916), S. 1–3, hier S. 3. Ferner »Speisegemeinschaften«, in: Arbeiterinnen-Zeitung 14, 25. Jg. (4. Juli 1916), S. 1. »Was leisten Kriegsküchen?«, in: ArbeiterZeitung, 14. Juni 1916. 742 Arbeiterinnen-Zeitung 20, 25. Jg. (3. Oktober 1916), S. 3. Vgl. ebenso Augeneder, Arbeiterinnen, S. 144. 743 Arbeiterinnen-Zeitung 21, 25. Jg. (17. Oktober 1916), S. 1–2, hier S. 1. Vgl. auch »Massenausspeisung oder Kriegsküche«, in: Arbeiter-Zeitung, 10. Oktober 1916. »Massenspeisung und Hauskost«, in: Arbeiter-Zeitung, 11. November 1916.
III. Metropolen im Krieg
Aus Sicht der Sozialdemokraten war es der Wiener Gemeindeverwaltung nicht gelungen, die mittelständischen und kleinbürgerlichen Bevölkerungskreise für die allen offenstehende Kriegsküchenaktion zu gewinnen. Zugleich beklagten sie die »Mittelstandsretterei des Rathauses«, die dazu geführt habe, dass die Stadtküchen auch den Wiener Arbeiterinnen und Arbeitern nicht das bieten konnten, was sie sollten: »Nicht Armesünderkost und Klostersuppe, sondern ein sparsamer, von allen Nebenrücksichten freier, würdiger und möglichst dem Frieden angepaßter Ersatz der häuslichen Küche«744 .
Abbildung 37: Portionsausgabeentwicklung in den offenen Kriegsküchen in Wien (1916–1919)
Quelle: Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 162f.
Anmerkungen zu Abbildung 37 Die Zeiträume umfassen im Jahr 1916 die Zeit zwischen 17. Juli und 31. Dezember 1916 (= 168 Tage) und ab 1917 jeweils die Zeit zwischen 1. Januar bis 30. Juni (= 181 Tage) bzw. 1. Juli bis 31. Dezember (= 184 Tage). 1916 wurden insgesamt 2,53 Millionen Portionen ausgegeben (durchschnittlich rund 15.000 Portionen täglich). Im ersten Halbjahr 1917 umfasste die Gesamtzahl 11,16 Millionen Portionen (≈ 62.000), 21,6 Millionen Portionen im zweiten Halbjahr 1917 (≈ 117.000), 32,9 Millionen Portionen im ersten Halbjahr 1918 (≈ 182.000), 45,21 Millionen Portionen im zweiten Halbjahr 1918 (≈ 245.700) und 35,1 Millionen Portionen im ersten Halbjahr 1919 (≈ 194.000).
Nach einigen Wochen des Kriegsküchenbetriebs und den zeitgleich zunehmenden Versorgungsengpässen trat über die in erster Linie in der sozialdemokratischen Presse geäußerten Schwierigkeiten des Kriegsküchenwesens hinaus ein weiteres Problem zu Tage, das die Gemeindeverwaltung lange als gegeben hinnahm – die Möglichkeit der
744 »Massenausspeisung oder Kriegsküche«, in: Arbeiter-Zeitung, 10. Oktober 1916.
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Doppelversorgung der Kriegsküchenteilnehmer. Von den Besuchern der Kriegsküchen (sowie anderer Gastwirtschaften) wurde zunächst keine Abgabe von Brot- bzw. Mehloder Fettkarten verlangt. In Anbetracht der anhaltenden Versorgungsschwierigkeiten erkannten die Verantwortlichen sowohl auf kommunaler als auch auf Reichsebene, dass eine Einsparung der Lebensmittel, zu der die Kriegsküchen ebenfalls beitragen sollten, ohne die Regelung der Abgabe von Lebensmittelkarten nicht zu erreichen war. Auch hier waren es vor allem Sozialdemokratinnen, die sich lange vor der Kriegskücheneinführung intensiv mit der Frage der Ausgestaltung allgemeiner Speisegemeinschaften auseinandersetzten. Sie gaben bereits vor der Eröffnung der ersten Wiener Kriegsküche zu bedenken, dass eine ausbleibende Bezugskartenabgabe zu einem Missbrauch der Küchen führen könnte.745 In einer Sitzung der Döblinger Bezirksvertretung im Oktober 1916 äußerte schließlich auch der christlichsoziale Bezirksvorsteher Wenzel Kuhn (1854–1933) seine Befürchtungen, dass die Möglichkeit der Doppelversorgung bei andauerndem Lebensmittelmangel langfristig Auswirkungen auf das Durchhalten der Bevölkerung haben könnte.746 Parallel dazu begannen im Approvisionierungsbeirat des Innenministeriums die Diskussion zur künftigen Organisation des Kriegsküchenwesens in Österreich, in der sich der Deutsch-Nationale Reichstagsabgeordnete Robert Freißler (1877–1950) für die Sozialisierung der Küchenwirtschaft stark machte und die allgemeine Einführung der Bezugskartenabgabe in den Kriegsküchen für dringend erforderlich erklärte.747 Gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Renner (1870–1950) wurde Freißler die Aufgabe übertragen, im Rahmen eines überparteilich zusammengesetzten Direktoriums748 , das dem frisch aus der Taufe gehobenen Amt für Volksernährung beigestellt war, einen Maßnahmenplan für die künftige Organisation des österreichischen Kriegsküchenwesens zu erarbeiten.
745 So regten z.B. Emmy Freundlich und Anna Grünwald (1880–1931, in den folgenden Quellen mit dem Namen Anna Kaff geführt) in den Sitzungen der Zentrale der Wiener Frauenhilfsaktion an, für die Kriegsküchenteilnehmer eigene Bestimmungen zur Verabfolgung von Bezugskarten zu treffen. Vgl. »Bericht über die 49. Sitzung der Zentrale der Frauen-Hilfsaktion im Kriege vom 2. Juni 1916«, S. 2102. Sowie »Bericht über die 50. Sitzung der Zentrale der Frauen-Hilfsaktion im Kriege vom 15. Juni 1916«, S. 2138. 746 Vgl. »Bericht über die öffentliche Sitzung der Bezirksvertretung Döbling vom 26. Oktober 1916«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 25 (1916), Nr. 95, 28. November 1916, S. 2491–2492, hier S. 2492. 747 Vgl. »Sozialisierung der Küchenwirtschaft«, in: Österreichische Volkszeitung, 14. Oktober 1916 und 28. Oktober 1916. Ferner »Organisationsvorschläge für die Errichtung von Kriegsküchen. Zusammengestellt im Sinne des dem Arbeitsausschusse des Approvisionierungsbeirates am 11. Oktober 1916 erstatteten Berichtes vom Reichsratsabgeordneten Dr. Robert Freißler«, in: Erlaß des k.k. Amtes für Volksernährung an sämtliche Landesbehörden, betreffend die Errichtung von Kriegsküchen, Beilage II, Wien 1917, S. 33–36, hier S. 33. 748 Neben Vertretern des Militärs, der Großindustrie und Großgrundbesitzer gehörten dem Direktorium jeweils ein Reichstagsabgeordneter der im Parlament vertretenen Parteien an. Mit der Berufung Karl Renners übernahm erstmals in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie ein Mitglied der Partei eine regierungsamtliche Position. Vgl. Hautmann, Hans: Die Herrschenden: Auf der Suche nach Auswegen aus der Systemkrise. Österreich im Epochenjahr 1917, Teil 2«, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft Nr. 2 (Juni 2007), S. 6–11, hier S. 7. Vgl. auch »Das Ernährungsamt«, in: Arbeiter-Zeitung, 1. Dezember 1916.
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3.2.2 Staatliche Intervention: Der Kriegsküchenerlass und seine Auswirkungen Mit dem Ziel einer umfassenden Regelung der Ausgestaltung der bestehenden Kriegsküchen und der Propagierung von Kriegsküchenneugründungen veröffentlichte das k.k. Amt für Volksernährung am 23. Januar 1917 einen an sämtliche politische Landesbehörden gerichteten »Erlass betreffend die Errichtung von Kriegsküchen«: »Da es die Lage der Lebensmittelmärkte immer schwieriger erscheinen läßt, die einzelnen Nährstoffe, insbesondere die staatlich bewirtschafteten Artikel, rechtzeitig und gleichmäßig in den als zulässig erklärten Kopfquoten dem einzelnen Verbraucher zuzuführen, und da es im Falle einer längeren Dauer des Krieges überhaupt notwendig sein wird, den Grundsätzen weitgehender Sparsamkeit beim Verbrauche von Lebensmitteln erhöhtes Augenmerk zuzuwenden, hat sich das k.k. Amt für Volksernährung entschlossen, öffentlich organisierten, im Rahmen der Verbrauchsregelung eingerichteten Ausspeiseaktionen ein möglichst großes Anwendungsgebiet zu sichern. Hierdurch werden sich nicht nur die bestehenden Verteilungsschwierigkeiten ausschalten oder wesentlich mindern lassen, sondern es werden auch die Bürgschaften für eine denkbar sparsame Verwendung der vorhandenen Nährstoffe gegeben sein.«749 Der Erlass forderte die Statthaltereien bzw. Landesregierungen auf, die Durchführung der Kriegsküchenaktion unverzüglich in die Wege zu leiten. Hierbei hatten sich die Landesbehörden an einigen vom Ernährungsamt festgelegten Organisationsmerkmalen zu orientieren. So sollten erstens die für die Aktion in Frage kommenden bzw. einzurichtenden Speiseanstalten ausschließlich »Vollkostküchen« sein, die mindestens eine Hauptmahlzeit am Tag ausgaben. Im Gegensatz zu den öffentlichen unentgeltlichen Ausspeisungen waren die zu errichtenden Kriegsküchen zweitens »keine Wohltätigkeitsanstalten, sondern kaufmännisch geführte Unternehmungen, die ihre Ausgaben mit den für die Abgabe der Mahlzeiten erzielten Einnahmen in Einklang zu bringen hatten«750 . Drittens sollten die Kriegsküchen in die amtliche Verbrauchsregelung respektive das Bezugskartensystem integriert werden, was für die Kriegsküchenteilnehmer eine Kürzung ihrer für die Speisen erforderlichen Lebensmittelkarten bedeutete und eine etwaige Doppelversorgung ausschloss. Schließlich wurde den Kriegsküchen viertens eine Vorzugsstellung bei der Zuweisung von Lebensmitteln zugesichert »und zwar derart, daß von den vorhandenen Mengen zunächst der amtlich festgestellte Bedarf der Kriegsküchen, dann aber erst die für die Deckung des Privatkonsums bestimmten Verteilungsstellen und die sogenannten freien gewerblichen Kontingente […] berücksichtigt werden«751 . Hieran anschließend enthielt die Verordnung eine Reihe von Vorschriften, die für die Organisation der einzurichtenden bzw. in die Aktion aufzunehmenden Kriegsküchen maßgebend waren. In erster Linie galt es, die Verwaltung des regionalen Kriegsküchenwesens einzurichten. Alle Statthaltereien und Landesregierungen sollten eine Kriegsküchen-Landeskommission berufen, die der Kriegsküchenabteilung des
749 Erlaß des k.k. Amtes für Volksernährung an sämtliche politische Landesbehörden, betreffend die Errichtung von Kriegsküchen, S. 1. Siehe auch »Die Ausgestaltung der Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 6. Januar 1917. »Einführung von Kriegsküchen«, in: Neues Wiener Tagblatt, 23. Januar 1917. 750 Löwenfeld-Russ, Die Regelung, S. 353. Vgl. auch Erlaß betreffend Kriegsküchen, S. 1. 751 Ebd., S. 2.
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k.k. Amtes für Volksernährung als oberster Zentrale unterstand.752 Darüber hinaus hatten die Landesbehörden alle untergeordneten Bezirksbehörden anzuweisen, einen »Kriegsküchenkommissär« zu ernennen, »dem die unmittelbare Organisation und Beaufsichtigung der im Bezirke zu errichtenden Kriegsküchen obliegt und dem es freisteht, sich selbst einen geeigneten Bezirksbeirat […] zusammenzustellen«753 . In einem weiteren Punkt des Erlasses wurden die Möglichkeiten der Ausgestaltung des lokalen Kriegsküchensystems festgelegt: »Das Ziel, die Speisenbereitung im kleinen Haushalte zurückzudrängen und in der Folge in einem bestimmten Umfange vielleicht sogar auszuschalten, wird sich nicht durch eine einheitliche Form von Kriegsküchen erreichen lassen, sondern die Ausbildung verschiedener Arten (Typen) erfordern. Als solche kommen in Betracht: 1. Gesellschaftsküchen für berufliche oder für Zwecke des Küchenbetriebes besonders geschaffene Personen- und Familiengemeinschaften. 2. Betriebs- und Anstaltsküchen für die Angestellten und Arbeiter größerer Betriebe, für Behörden und Ämter. Den Familienangehörigen dieser Personengruppen ist, sofern sie es beanspruchen, das Recht der Teilnahme an den Betriebsküchen zu gewähren. 3. Offene Küchen, die grundsätzlich jedermann, selbstverständlich immer im Rahmen der oben dargestellten allgemeinen Organisationsmerkmale, zugänglich sind.«754 Die Vorgaben zur Einteilung der Kriegsküchen nach Teilnehmerkreisen bedeuteten jedoch nicht das Ende bereits bestehender Küchensysteme. Vielmehr sollten die neuen Kriegsküchen, die entsprechend diesen Vorgaben und im Einklang mit den örtlichen Verhältnissen einzurichten waren, an das bestehende Küchensystem anknüpfen und dieses ergänzen.755 Den Bezirksbehörden wurde auch nicht vorgeschrieben, wie viele Kriegsküchen sie einzurichten und welchen Küchentyp sie vorzuziehen hatten. Wie im Falle Wiens waren die meisten Kommunalverwaltungen bei der Organisation des Kriegsküchensystems auf die Mitarbeit von Vereinen, Initiativen und Freiwilligen angewiesen, die oftmals den Anstoß zur Errichtung einer neuen Küche gaben und als ihre Träger fungierten. Nach den Vorgaben des Erlasses sollten sich die Küchen über ihren Typ hinaus auch in der Form ihrer Organisation zu unterscheiden. Es oblag den Küchenbegründern zu entscheiden, ob die Einrichtung in eigener Regie oder gewerbsmäßig gegründet und geleitet wurde:
752 Bei der Zusammenstellung dieses mehrköpfigen Gremiums sollte Rücksicht auf die soziale Schichtung der Bevölkerung genommen werden. Die Kriegsküchen-Landeskommissionen bestanden aus mindestens einem Vertreter des bürgerlichen Mittelstandes und der Arbeiterschaft sowie einem industriellen Unternehmer und einer im sozialen Hilfsdienst erfahrenen Frau. Vgl. ebd. 753 Ebd. 754 Ebd. Siehe auch Frieberger, Ernährungsvorschriften, S. 122. 755 Dem Erlass zufolge schloss die Einrichtung der empfohlenen Kriegsküchen den Weiterbestand der bereits in Betrieb genommenen Volksküchen, Massenausspeisungen sowie Suppen- und Teeanstalten usw. nicht aus. Eine Überprüfung dieser Einrichtungen, ob diese Verpflegungseinrichtungen in das vom Erlass vorgegebene Kriegsküchenreglement sowie in die Verbrauchsregelung eingebunden werden konnten, wurde jedoch empfohlen. Vgl. Erlaß betreffend Kriegsküchen, S. 8.
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»Die Regieküchen sind jene Kriegsküchen, die von irgendeiner Assoziation in eigener Regie betrieben werden, also ihre Auslagen durch ihre Einnahmen werden decken müssen. Erwerbsküchen sind jene, die von den auf Erwerb abzielenden Unternehmungen, also von Gast- und Schankgewerbetreibenden errichtet werden und bei ihrer Gebarung einen Gewinn abwerfen müssen. Die Regieküchen haben natürlich den Vorzug, daß sie billiger sein können. Dagegen fällt bei den Erwerbsküchen ins Gewicht, daß in den Gast- und Schankgewerbebetrieben eine fertige Einrichtung und ein fertiger Betrieb bereits vorhanden ist. Also dort größere Billigkeit, hier größere Einfachheit und Bequemlichkeit.«756 Unabhängig davon ob es sich um eine Regie- oder Erwerbsküche handelte, sollte für jede Einrichtung ein Kriegsküchenausschuss gebildet werden, der als Bindeglied zum Kriegsküchenkommissar zur Verfügung stand und dessen Weisungen unterworfen war.757 Die Aufgaben des Ausschusses umfassten u.a. die Herstellung und Überwachung der Eingliederung der Kriegsküche in das Bezugskartensystem, die Ausarbeitung von Speiseplänen, die Überwachung der Preisbildung, die Überprüfung der technischen und sanitären Anlagen sowie der Betriebsführung und die Entgegennahme von Besucherbeschwerden. Darüber hinaus enthielt der Erlass Vorgaben zur Finanzierung der Kriegsküchen. Als kaufmännisch geführte Unternehmungen sollten die Kriegsküchen die Kosten des laufenden Betriebes aus den Zahlungen der Kriegsküchenbesucher bestreiten, wobei der Kriegsküchenkommissar auf eine möglichst einheitliche Preisbildung in den Einrichtungen zu dringen hatte. Dem Erlass zufolge beschränkte sich die »Hauptaufgabe der Finanzierung auf die Bestreitung der Anlage- und Einrichtungskosten«758 , die im Falle der Regieküchen je nach Küchentyp von den jeweiligen Organisatoren, d.h. dem veranstaltenden Verein, Betriebsinhaber oder der Gemeinde, aufzubringen waren. Hinsichtlich der Einrichtung und Ausstattung der Küchen enthielt der Erlass keine verbindlichen Richtlinien. Dennoch verwies die Verordnung auf die zu berücksichtigende Lage der Speiseteilnehmer. Einerseits sicherten die Kriegsküchen den Teilnehmern eine billige Nahrung und boten eine Entlastung bei der Beschaffung der Lebensmittel, andererseits bedeutete dies im Interesse der allgemeinen Nahrungsmitteleinsparung auch einen »Verzicht auf den eigenen Herd und somit auf eine im Leben des Volkes seit uralten Zeiten her fest verankerte Funktion des Familien- und Hausstandes«759 . Aus diesem Grund galt es darauf zu achten, dass die Küchen »zwar einfach, aber würdig, anständig und hygienisch richtig ausgestattet werden und daß ihre Einrichtung und Führung insbesondere den Grundsätzen peinlicher Reinlichkeit entsprechen«760 . In ihren Ausführungen wies die Verordnung unmissverständlich darauf hin, dass seitens des Staates keine Subventionen für die Kriegsküchen vorgesehen waren. Die Unterstützung der Kriegsküchenaktion durch den Staat sollte hingegen in anderer Form erfolgen. Eine wichtige Form der staatlichen Förderung des Kriegsküchenwesens war 756 757 758 759 760
»Mitteilungen über Approvisionierungsfragen«, in: Neue Freie Presse, 6. Januar 1917. Vgl. hierzu und im Folgenden Erlaß betreffend Kriegsküchen, S. 4. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd.
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nach Ansicht Freißlers, einer der führenden Autoren des Erlasses, die Vorrangstellung der Küchen beim Warenbezug.761 Hierzu enthielt der Erlass eine Reihe von Bedingungen, die seitens der Kriegsküchenleitung erfüllt sein mussten. Um die zu verbrauchende Menge von staatlich bewirtschafteten Artikeln festzustellen und die damit verbundene Kartenkürzung festzulegen, musste jede Kriegsküche mindestens vier Wochen im Voraus einen Speiseplan aufstellen.762 Ebenso musste Klarheit über die Zahl der Speiseteilnehmer herrschen, um einerseits sparsam und andererseits ausreichende Mengen kochen zu können. Aus der Zahl der Teilnehmer, den Speiseplänen und der Anzahl der täglich angebotenen Mahlzeiten ergab sich für jede Kriegsküche ein Bedarfsplan, der für die Festlegung der Lebensmittelzuweisungen über die Kriegsküchenkommissare an die Landes-Kriegsküchenkommission weitergeleitet wurde. Darüber hinaus benannte Freißler weitere staatliche Fördermöglichkeiten für die Kriegsküchen: »[… Die] Einflußnahme auf die Gemeinden, je nach Lage des Falles, unter Umständen Übernahme ihrer Funktionen bei der Einrichtung und Führung des Betriebes […]; Einschaltung eines allenfalls durch die Gemeinde, die politische Behörde erster Instanz oder ähnliche Garantien geschützten Kredits beim Warenbezuge; Umschaltung sämtlicher mit oder ohne Förderung des Staates bisher entstandener Ausspeiseaktionen auf die […] Organisationsgrundsätze, rücksichtslose Einbeziehung sämtlicher dieser Ausspeisungen in das Bezugskartensystem, möglichste Ausdehnung des Organisationsgedankens auf [… das Gastgewerbe]; Beseitigung aller irgendwie vielleicht zu entdeckender gewerberechtlicher Schwierigkeiten, wenn nötig im gesetzlichen Wege […].«763 Eine Zuwendung von staatlichen Geldern sollte es nur in Ausnahmefällen geben, wenn das Vermögen der Gemeinde, etwaige Spendensammlungen oder Unternehmenszuschüsse für die Umsetzung der Verordnungsrichtlinien nicht ausreichten. Über die Bestimmungen des Kriegsküchenerlasses berichteten alle großen Tageszeitungen. Zahlreiche Presseartikel, die teilweise schon vor der Veröffentlichung der Verordnung des Volksernährungsamtes über deren Inhalt informierten, klärten die Bevölkerung über die künftige Ausgestaltung des Kriegsküchenwesens auf.764 Darüber hinaus 761
Vgl. »Organisationsvorschläge für die Errichtung von Kriegsküchen«, in: Erlaß betreffend Kriegsküchen, S. 36. Für die weiteren Ausführungen vgl. ebd., S. 5ff. 762 Die Kürzung der Bezugskarten konnte nicht, wie Freißler in einem Bericht des Neuen Wiener Tagblatts erklärte, auf einzelne Mahlzeiten bezogen werden. Die Menge der in einer einzelnen Mahlzeit verabreichten staatlich bewirtschafteten Artikel, wie z.B. Mehl und Fett, fiel geringer aus als die ausgewiesene Menge des kleinsten Abschnitts der betreffenden Bezugskarte. Die Erstellung eines Speiseplans für einen längeren Zeitraum mit genauen Berechnungen der verbrauchten Speisemengen begünstigte nach Einschätzung Freißlers eine zweckmäßige und gerechte Kürzung der Bezugskarten. Vgl. »Die Kriegsküche«, in: Neues Wiener Tagblatt, 28. Januar 1917. 763 »Organisationsvorschläge für die Errichtung von Kriegsküchen«, in: Erlaß betreffend Kriegsküchen, S. 36. 764 Hierzu gehörten u.a. »Mitteilungen über Approvisionierungsfragen«, in: Neue Freie Presse, 6. Januar 1917. »Die Ausgestaltung der Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 6. Januar 1917. »Die Errichtung der Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 23. Januar 1917. »Die Kriegsküchen im Ernährungsplan«, in: Arbeiter-Zeitung, 21. Januar 1917. »Der Kriegsküchenerlaß und die Arbeiterschaft«, in: Arbeiter-Zeitung, 25. Januar 1917. »Die Ausgestaltung des Kriegsküchenwesens«, in: Fremdenblatt, 23. Januar 1917. »Zwangswirt-
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gaben einige Blätter mehr oder weniger bekannten Wiener Persönlichkeiten, aber auch dem Lesepublikum die Möglichkeit, ihre Meinung zum Kriegsküchenerlass zu äußern. In den meisten der veröffentlichten Stellungnahmen war die Resonanz positiv. Mehrfach wurde hervorgehoben, dass eine derartige Regelung der Gemeinschaftsverpflegung in Anbetracht der Versorgungsverhältnisse lange überfällig gewesen sei. Zu den Vertretern dieser Auffassung gehörte auch die Mitbegründerin der ROHÖ Fanny Freund-Markus (1872–1942), die schon längere Zeit für die Sozialisierung des Küchenprozesses warb.765 Aus ihrer Sicht enthielt die Verordnung allerhand wichtige Punkte, die die Organisation des Kriegsküchenwesens erleichterten. Nach Freund-Markus waren nun die richtige Umsetzung der Aktion und die dafür verantwortlichen Personen entscheidend.766 Allgemeinhin positiv äußerten sich auch die Genossenschaft der Gastwirte Wiens und vereinzelte Wiener Restaurantinhaber. Die Umwandlung von Gastwirtschaften in Kriegsküchen wurde grundsätzlich begrüßt, wobei die Stellungnahmen gleichfalls signalisierten, dass das Vertrauen in die Sicherstellung der dafür notwendigen Lebensmittel gering war. Auch betrachteten die Gastwirte eine Vergünstigung der Speisen nur dann als realisierbar, wenn von der Gemeinde eine bestimmte Teilnehmerzahl zugesichert würde. Bevor die mehr als 4.000 Wiener Gastwirtschaftsbetreiber und Hoteliers »darangehen können, ihre Betriebe in Kriegsküchen umzuwandeln«, erklärte der Vorsteher der Wiener Gastwirts-Genossenschaft und Gemeinderat Othmar Penz (1868–1919), »müssen sie vor allem die Gewähr dafür haben, daß eine bestimmte Anzahl von Gästen einem Gasthaus zugewiesen wird und dieser Betrieb auch die für diese Anzahl von Gästen nötige Lebensmittelmenge erhält.«767 Auch von der sozialdemokratischen Presse wurde der Erlass begrüßt und dessen Richtlinien detailliert an die Leserschaft weitergegeben. Aus Sicht der Sozialdemokraten enthielt die Verordnung dennoch eine Reihe kritischer Punkte, die in den verschiedenen Presseartikeln deutlich hervorgehoben wurden. So befürworteten die Sozialdemokraten die Einbeziehung der Kriegsküchen in die amtliche Verbrauchsregelung, betrachteten den damit verbundenen »Kartenzwang« aber auch als »Klippe der Einrichtung«768 . Haltbar sei diese Regelung nur, wenn sie auch in den Gastwirtschaften eingeführt und angewandt werde. Darüber hinaus seien auch nicht alle der drei Küchentypen für die Arbeiterschaft geeignet. So gab Emmy Freundlich zu bedenken: »Die [… offene Kriegsküche] dürfte für die Arbeiterschaft die untunlichste sein, vor der wir direkt warnen möchten. Bei dem elenden Gemeindewahlrecht haben die Arbeitervertreter meist einen sehr geringen Einfluß auf die Kriegsküchenleitung und es ent-
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schaften«, in: Fremdenblatt, 4. Februar 1917. »Einführung von Kriegsküchen«, in: Neues Wiener Tagblatt, 23. Januar 1917. Ferner »Die Kriegsküchen«, in: Reichspost, 25. Januar 1917. »Die Errichtung der Kriegsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 27. Januar 1917. Neben Freund-Markus vertraten diese Auffassung u.a. auch der Generaldirektor des Wiener Hotels Imperial Oskar Lehner (1868–1937) und der Wiener Professor für Genossenschaftswesen Karl Hoffmeister (1872–1929). Vgl. hierzu »Die Kriegsküche«, in: Neues Wiener Tagblatt, 28. Januar 1917. »Kriegsküchen«, in: Neues Wiener Tagblatt, 31. Januar 1917. Vgl. »Die Kriegs- und Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 24. Januar 1917. Ebd. Vgl. auch »Die Gemeinschaftsküchen«, in: Fremdenblatt, 2. Februar 1917. »Die Kriegsküchen im Ernährungsplan«, in: Arbeiter-Zeitung, 21. Januar 1917.
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stehen wieder jene Bettelsuppenausspeisungen, wie die der Gemeinde Wien, wo man für wenig Geld dünne Suppen und geschmacklose[s] Gemüse erhält […]. Die natürliche Voreingenommenheit der Arbeiterschaft gegen diese Küchen kommt ja zum großen Teil von der mangelhaften Betriebsführung der Gemeindeausspeisungen, die nicht bei den Kriegsküchen neuerlich einreißen darf.«769 Am geeignetsten hielten die Sozialdemokraten die genossenschaftliche Gemeinschaftsküche, die von den Arbeitern selbst organisiert und geführt wurde. Andererseits war ihnen bewusst, dass der Großteil der Arbeiterschaft nicht über die notwendige Zeit verfügte, um sich der Gründung von Gemeinschaftsküchen anzunehmen. So blieben nach Ansicht der Sozialdemokraten nur die Betriebsküchen, bei deren Gründung und Organisation die Behörden alle Vorkehrungen zu treffen hatten, die die Arbeiter vor Übervorteilung, Unterdrückung u.ä. seitens der Unternehmer schützten. »Es darf nicht vergessen werden«, betonte die Arbeiter-Zeitung, »daß die Betriebsküche nicht des Unternehmers halber da ist, sondern für den Arbeiter, daß der Arbeiter der Endzweck der Kriegsküchenorganisation ist und daß er deshalb als Teilnehmer an der Betriebsküche einen geordneten Einfluß auf die Betriebsführung besitzt.«770 Verlangten die sozialdemokratischen Vertreter wenige Monate zuvor noch die »Gemeinschaftsküche, an der alle teilnehmen«771 , erschienen ihnen mit Blick auf die Bestimmungen des Kriegsküchenerlasses nur noch jene Einrichtungen angemessen, die auf einen geschlossenen Teilnehmerkreis ausgerichtet waren und eine Selbst- bzw. Mitverwaltung der Speiseteilnehmer ermöglichten. Dennoch wurde an der Forderung nach der Kriegsküche für alle festgehalten. Auch weiterhin vertraten die Sozialdemokraten die Ansicht, dass alle in Wien und Österreich lebenden Menschen, ganz gleich ob arm oder reich, von der Kriegsküche versorgt werden sollten.772 Es überrascht daher nicht, dass ein Großteil der Sozialisten in der im Anschluss an die Veröffentlichung des Kriegsküchenerlasses entstandenen Debatte um die obligatorische Massenspeisung zu den Befürwortern der »Zwangsspeisung« gehörten. Die Möglichkeit der obligatorischen Massenspeisung wurde infolge des Kriegsküchenerlasses in der Presse eingehend diskutiert. Für den Fall, dass die Versorgungslage ein nicht beherrschbares Ausmaß anzunehmen drohe und ein Ende des Krieges nicht absehbar sei, schlossen die Verfasser der Kriegsküchenverordnung ein künftiges Verbot der Privatküche nicht aus: »Es kann der Gedanke nicht von der Hand gewiesen werden, dass im Falle einer längeren Dauer des Krieges zur Förderung dieser Aktion unter Umständen auch gesetzliche Zwangsmittel, ja sogar die Erlassung eines Verbotes der Speisenherstellung im kleinen
769 Freundlich, Emmy: »Kriegsküchen zur Massenspeisung«, in: Der Konsumverein 4 (14. Februar 1917), S. 38–41, hier S. 38. Vgl. dies., »Kriegsküchen«, in: Arbeiterinnen-Zeitung 5, 26. Jg. (27. Februar 1917), S. 3–4, hier S. 3. Mit einem ähnlichen Tenor erschien auch ein Artikel in der Arbeiter-Zeitung. Vgl. »Die offene Kriegsküche«, in: Arbeiter-Zeitung, 27. Januar 1917. 770 »Die Betriebsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 26. Januar 1917. 771 Arbeiterinnen-Zeitung 21, 25. Jg. (17. Oktober 1916), S. 1–2, hier S. 1. Siehe hierzu auch oben Kapitel iii, Anm. 743. 772 Vgl. Arbeiterinnen-Zeitung 20, 25. Jg. (3. Oktober 1916), S. 3.
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Privathaushalte notwendig werden können. Jedenfalls sind schon jetzt gründliche Organisationsarbeiten notwendig, um, soweit es die lokalen Verhältnisse in Städten und Industriezentren verlangen, [… sich den] Vorteile[n] des Großbetriebes bei der Speisenherstellung der Bevölkerung möglichst bald zuzuwenden und um für alle Fälle den Rahmen zu schaffen, in dem Zwangsorganisationen […] erforderlichenfalls später einmal Platz finden könnten.«773 Während sich der Großteil der Beteiligten in der Debatte gegen die für alle verpflichtende Massenspeisung aussprach, gab es auch viele Fürsprecher, die von der Zweckmäßigkeit der obligatorischen Massenversorgung überzeugt waren und für die Einführung derselben warben.774 Der Leopoldstädter Bezirksvorsteher und Sozialdemokrat Leopold Blasel (1866–1931) benannte in der Neuen Freien Presse die Vorteile der Zwangsküche: »Durch die Einführung der obligatorischen Kriegsküche hätten mit einem Schlage all die Leiden der Hausfrauen ein Ende, zum Beispiel das stundenlange Anstellen, ferner die Sorgen, die Lebensmittel überhaupt zu erhalten. Ein Verkauf von Lebensmitteln würde ja dann nicht stattfinden, aber auch die verehrten Hamster beiderlei Geschlechts kämen nicht mehr in die Lage, zum Schaden der Allgemeinheit übermäßig viel Lebensmittel anzuhäufen […]. Der Betrieb [der Kriegsküchen] könnte sehr vereinfacht werden, da jede Ausspeisestelle Hunderte, oftmals Tausende von Portionen kochen würde, was ganz besondere Ersparnisse mit sich brächte.«775 Hinsichtlich der Umsetzung der »Zwangsgemeinschaftsküche« hatten ihre Befürworter keine Bedenken. So wurde in einem Artikel der pazifistischen Wiener Wochenschrift Der Friede erklärt, dass die Errichtung der ›Kriegsküche für alle‹ in Anbetracht der organisatorischen Leistungen, die während des Krieges bereits vollbracht worden seien, ein wahres Kinderspiel sei.776 Dass die Einführung der obligatorischen Küchenspeisung einen gewaltigen Eingriff in die Privatverhältnisse der Familien und einzelnen Individuen bedeutete, konnten auch die Fürsprecher der Zwangsspeisung nicht von der Hand weisen. »[…A]ber der ganze Krieg ist ja schließlich solch ein tiefer Eingriff […]«777 , so Blasel. Nach Ansicht des Sozialdemokraten und seiner Mitstreiter konnten die Menschen im Hinterland genauso versorgt werden wie diejenigen, die die Hauptlast des Krieges trugen – die Männer an der Front. Hier habe sich die Gemeinschaftsküche, die von allen Ständen und Berufen in Anspruch genommen wurde, »in tadellosester Weise« bewährt.778 »Wenn in den Schützengräben die Angehörigen aller Bevölkerungs773 Erlaß betreffend Kriegsküchen, S. 1. 774 Hierzu gehörten neben den zahlreichen sozialdemokratischen Vertretern u.a. auch der Verein Die Bereitschaft. Vgl. »Volksernährung im Kriege«, in: Die Zeit, 14. Oktober 1916. 775 »Die obligatorische Kriegsküche«, in: Neue Freie Presse, 24. Januar 1917. 776 Vgl. »Obligatorische Gemeinschaftsküchen« in: Österreichische Volkszeitung, 11. Mai 1918. Ähnlich argumentierte auch Blasel. Vgl. hierzu »Die obligatorische Kriegsküche«, in: Neue Freie Presse, 24. Januar 1917. 777 Ebd. 778 Blasels pathetische Darstellung der Fahrküchen an der Front, in der der »verwöhnte Gourmand« und der »verwöhnte Haustyrann« die heranziehende Gulaschkanone begeisternd empfingen, gab keinen Einblick in die realen (Über-)Lebensverhältnisse der Frontsoldaten und diente in erster Linie der Untermauerung seiner Argumente für die obligatorische Kriegsküche. Vgl. ebd.
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klassen aus der gleichen Gulaschkanone ihre Eßnäpfe gefüllt bekommen«, resümierte auch die Arbeiter-Zeitung, »dann sollte man meinen, daß auch die Daheimgebliebenen diesen guten Brauch üben könnten.«779 Die Forderung nach der obligatorischen Massenspeisung richtete sich in erster Linie gegen die im Überfluss lebenden wohlhabenden Bevölkerungskreise und die »Bequemlichkeit der Satten«780 . Die Ungleichheiten in der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung kritisierten auch die Gegner der Zwangsspeisung. Doch aus ihrer Sicht war die obligatorische Kriegsküche nicht das geeignete Mittel, um den waltenden Ungerechtigkeiten angemessen zu begegnen. Davon abgesehen, dass die Zwangsspeisung z.B. im Hinblick auf die besondere Versorgung von Kindern und Kranken nicht den Bedürfnissen der verschiedenen Teilnehmer gerecht werden könne, treffe die Zwangsmaßnahme auch all jene, die »von Gastereien und Schlemmereien nichts wissen«, die keine »fabelhaften Bridgejausen« und »Protzencafés« besuchten und trotzdem nicht auf die Kriegsküche angewiesen seien.781 Es gebe immer noch viele Familien, die ihre Erholung in der Mittags- oder Abendstunde am heimischen Küchentisch mit selbstgekochten Speisen suchten. »Muß man solchen Menschen nun zumuten,« fragte die Journalistin Claire Patek-Hochenadl, »auch diese kurze Rast in dem Hasten und Jagen des Lebens durch eine ganz neue Ernährungseinrichtung zu einer Unannehmlichkeit umzugestalten?«782 Die Auswirkungen der obligatorischen Kriegsküchenspeisung auf die Lebensverhältnisse der kleinen und notleidenden Leute nahm auch die politisch konservative und der Christlichsozialen Partei nahestehende Reichspost kritisch in den Blick. Im Kampf gegen den äußeren Feind sei die vorübergehende Nötigung, auf den häuslichen Herd zu verzichten und den Familientisch gegen die »Generalabfütterung« in den Kriegsküchen einzutauschen, nur hinnehmbar, wenn die Kriegsküchenversorgung zu einer Erleichterung des Durchhaltens aller beitrage.783 Es komme besonders darauf an, dass die Nötigung zur Kriegsküchenteilnahme nicht auch zu einer Nötigung zu Mehrausgaben der Wiener führe: »Die Sparkünste unserer Mütter und Frauen haben unter dem Zwang der Teuerung sich geradezu wunderbar entwickelt und die Kriegsküchen werden sich schon sehr zusammennehmen müssen, wenn sie eine mehrköpfige Familie mit Mahlzeiten zu dem gleichen Kostenbetrage versehen wollen, wie es derzeit die Eigenküche dieser Familien zu vollbringen weiß. […] Die Vorzüge und Vorteile der Kriegsküchen insbesondere für den Geldbeutel müssen handgreiflich sein, wenn ihre Berechtigung zur Volksüberzeugung werden soll.«784
779 »Was leisten Kriegsküchen?«, in: Arbeiter-Zeitung, 14. Juni 1916. 780 »Obligatorische Gemeinschaftsküchen« in: Österreichische Volkszeitung, 11. Mai 1918. 781 Vgl. »Noch einmal die Zwangsgemeinschaftsküche«, in: Österreichische Volkszeitung, 25. Mai 1918. Sowie die Ausführungen Claire Patek-Hochenadls im Artikel »Zwangswirtschaften«, in: Fremdenblatt, 4. Februar 1917. 782 Ebd. 783 Vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Reichspost, 25. Januar 1917. 784 Ebd. Vgl. hierzu auch eine Reaktion aus dem Lesepublikum der Reichspost, die dem zustimmte. »Zum Kriegsküchenerlaß«, in: Reichspost, 27. Januar 1917.
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Die Kriegsküchen als solche lehnten die Gegner der obligatorischen Massenspeisung nicht ab. Dort, wo sie gebraucht wurden, sollten sie eingerichtet werden.785 Alle, die daran teilnehmen wollten, sollten die Möglichkeit zur Teilnahme erhalten. Diese Ansicht dürfte auch ein beträchtlicher Teil der Wiener Bevölkerung geteilt haben. Den Stimmungsberichten der Polizei zufolge wurde die obligatorische Großküche von der Bevölkerung abfällig diskutiert. Vor allem Familien mit Kindern sprachen sich mit aller Entschiedenheit gegen die Zwangsspeisung aus.786 Schließlich sahen sich auch die Verfasser der Kriegsküchenverordnung veranlasst, sich in die Debatte einzuschalten und zu dem heiß diskutierten Passus der Verordnung zu äußern. Aus der Sicht Freißlers ging die Diskussion in eine verkehrte Richtung, weshalb er gegenüber dem Neuen Wiener Tagblatt klarstellte: »Entgegen vielfach verbreiteten Irrtümern muß ausdrücklich festgestellt werden, daß der Kriegsküchenerlaß einen Zwang betreffend das Aufgeben der Einzelwirtschaft und die Teilnahme an den Kriegsküchen nicht vorsieht. Er verfügt lediglich, daß die Kriegsküchen eine Vorzugsstellung beim Bezug der von ihnen benötigten staatlich bewirtschafteten Lebensmittel erhalten werden. Dadurch wird es allerdings in vielen Fällen für die Bevölkerung vorteilhafter sein, wenigstens die Hauptmahlzeit in der Kriegsküche einzunehmen oder dort abholen zu lassen.«787 Während in der Öffentlichkeit die obligatorische Küchenspeisung kontrovers diskutiert wurde, setzten sich die Verantwortlichen im Wiener Rathaus bereits eingehend mit der Umsetzung des Erlasses auseinander.
3.2.3 Die Gemeinde handelt: Die Umsetzung der staatlichen Kriegsküchenrichtlinien Der Kriegsküchenerlass des Ernährungsamtes und die damit verbundene Aufforderung zum Handeln erreichte die Wiener Stadtverwaltung inmitten der schwierigen Monate des Winters 1916/17. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Administration der Donaumetropole bereits alle Hände voll zu tun, einer Verschärfung der Besorgnis erregenden Lebensmittelversorgungslage entgegenzusteuern und den lauter werdenden Klagen in der Bevölkerung Einhalt zu gebieten. Inzwischen trafen die Versorgungsschwierigkeiten auch die städtischen Kriegsküchen, die vermehrt zu spät angelieferte oder ausgebliebene Lebensmittelzufuhren beklagten. Während einige Kriegsküchen ihre Speisen nicht pünktlich
785 Vgl. die Zuschrift einer Leserin der Österreichischen Volkszeitung zum Thema »Zwangsspeisung«. »Noch einmal die Zwangsgemeinschaftsküche«, in: Österreichische Volkszeitung, 25. Mai 1918. Ferner vgl. die Ansicht der Wiener Philanthropin Anitta Müller im Zeitungsartikel »Zwangswirtschaften«, in: Fremdenblatt, 4. Februar 1917. 786 Vgl. WBD, Stimmungsberichte vom 11. Januar 1917, S. 18; und 1. Februar 1917, S. 11. 787 »Die Kriegsküche«, in: Neues Wiener Tagblatt, 28. Januar 1917. Eine ähnlich klarstellende Formulierung ist auch in einem von der Präsidentin der ROHÖ verfassten Artikel zu finden: »Es soll nicht eine gewaltsame Änderung der Lebensverhältnisse von Regierungswegen angeordnet werden, wohl aber müssen Einrichtungen getroffen werden, die der durch den Krieg verursachten Notwendigkeit einer schrittweisen Kriegsanpassung der Hauswirtschaft entsprechen.« Granitsch, Helene: »Die Sozialisierung der Küche«, in: Der Morgen, 5. Februar 1917.
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zubereiten konnten, mussten andere ihren Betrieb teilweise einstellen.788 Die ArbeiterZeitung berichtete Anfang Februar 1917 über eine Kriegsküche in Floridsdorf: »Als gestern die ständigen Abnehmer dieser Kriegsküche kamen, fanden sie die Küche geschlossen und die von dem Vorfall unterrichtet gewesene Sicherheitswache, die zur Stelle war, hatte die größte Mühe, die begreiflicherweise sehr erregten Menschen zu beruhigen. Auch heute ist die Küche wieder geschlossen und von neuem wird sich um die Mittagsstunde dieser Jammer wiederholt haben.«789 In Anbetracht der bereits vorhandenen Probleme mit den bestehenden Speiseeinrichtungen betrachtete die Stadtverwaltung die nun vom Amt für Volksernährung ersuchte Erweiterung des Kriegsküchensystems als eine kaum zu bewältigende Herausforderung. »Wie wir aus Rathauskreisen erfahren«, schrieb das sozialdemokratische Blatt weiter, »wird die Durchführung des Projekts vorläufig sehr skeptisch beurteilt. Die Schwierigkeiten liegen hauptsächlich in der Einrichtung und Inbetriebsetzung so zahlreicher Kriegsküchen und in der Beschaffung der für einen Massenbetrieb von Kriegsküchen im allergrößten Stil notwendigen Lebensmittel.«790 Für ganz und gar unausführbar hielt die Administration die viel diskutierte obligatorische Massenspeisung. »Die Gemeinde kann nicht, wie es im Rathause heißt, die Verantwortung für die klaglose Ernährung von zwei Millionen Menschen übernehmen, wenn sie weder über die Lebensmittel noch über die Bahnen, die sie zuführen sollen, verfügt, sondern nach jeder Richtung von den Zentralstellen abhängig ist.«791 Selbst im Falle der Erteilung entsprechender Machtbefugnisse hinsichtlich der Lebensmittelbeschaffung wurde die Zwangsspeisung für nicht umsetzbar erklärt. Wie schwierig sich eine Erweiterung der Großküchenversorgung in Wien gestaltete, wurde auch im Rahmen der Obmänner-Konferenz vom 6. März 1917 besprochen. Die Einrichtung weiterer Kriegsküchen wurde von den Gemeinde- und Magistratsvertretern begrüßt, doch waren sich die Anwesenden weitgehend einig, dass der Gemeinde die erforderlichen Räumlichkeiten für eine umfassende Kriegsküchenerweiterung fehlten. So standen der Stadt zwischen 800 und 900 gesperrte Gast- und Schankgewerbebetriebe zur Verfügung, doch diese Einrichtungen seien größtenteils auf den Kleinbetrieb ausgerichtet und für die Massenspeisung ungeeignet.792 Der Vize-Bürgermeister Josef Rain (1867–1951) hielt die Umgestaltung der bestehenden Gastgewerbebetriebe zu Massenspeisungseinrichtungen während der Kriegszeit für nicht durchführbar.793 Es sei Rain zufolge schon schwierig genug, die bestehenden Kriegsküchen mit Lebensmitteln zu versorgen. Nach den Auskünften des Ober-Magistratsrats Dont verfügte die Stadt 788 Vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 4. Februar 1917. »Aufgelassene Kriegsküchen«, in: ArbeiterZeitung, 9. Februar 1917. Ferner »Bericht über die 59. Sitzung der Zentrale der Frauen-Hilfsaktion im Kriege vom 8. Februar 1917«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 26 (1917), Nr. 63, 7. August 1917, S. 1580. Vgl. auch »Neue Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 4. Oktober 1916. 789 »Eine Kriegsküche geschlossen«, in: Arbeiter-Zeitung, 8. Februar 1917. 790 Ebd. 791 Ebd. 792 Vgl. »Bericht über die 69. Sitzung der Obmänner-Konferenz vom 6. März 1917«, S. 29ff. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/75. Ferner Healy, Vienna, S. 72. 793 Vgl. Obmänner-Konferenz vom 6. März 1917, S. 31f.
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bislang über rund 200 verschiedene Speiseeinrichtungen, darunter Ausspeisungen sowie Kriegs- und Volksküchen, die etwa 150.000 Menschen mit einer Mahlzeit versorgen konnten. Würde die Gemeinde sich zum Ziel setzen, auch nur die Hälfte der Bevölkerung durch Kriegsküchen zu versorgen, so die Darlegung Donts, müsste diese ihre Kapazitäten verzehnfachen.794 Darüber hinaus betonte der Leiter der Kriegsfürsorgezentrale nochmals in aller Deutlichkeit, dass sich die Beschaffung der Lebensmittel und die ausreichende Versorgung der Kriegsküchen außerordentlich mühsam gestalteten. Die Bevorratung einer Küche auf längere Zeit sei bereits bei einem Zeitraum von vierzehn Tagen ein »Ding der Unmöglichkeit«. Aufgrund des wachsenden Bedarfs in der Bevölkerung kam die Stadtverwaltung trotz aller Bedenken und Vorbehalte schließlich nicht umhin, das Wiener Kriegsküchennetz unter Berücksichtigung der Vorgaben der Kriegsküchenverordnung zu erweitern. Im ersten Halbjahr 1917 erhöhte sich die Zahl der städtischen Einrichtungen von 28 auf 46 (offene) Kriegsküchen. Darüber hinaus wurden strukturelle Veränderungen in der Wiener Kriegsküchenorganisation vorgenommen. Im März 1917 wurde die Geschäftsführung aller Hilfsaktionen in der Kriegsfürsorgezentrale offiziell mit dem Organisationskomitee der Kriegsküchenaktion in einem Zentralamt zusammengelegt und dessen Leitung dem Ober-Magistratsrat Dont übertragen.795 Das neue Amt mit dem Namen »Kriegsfürsorgezentrale und Kriegsküchenkommissariat« erhielt überdies eine »Abteilung für Ausspeiseaktionen«, der »die Beschaffung der für die Zentralstelle erforderlichen Lebensmittel, ihre Verteilung an die Ausspeisestellen, Vereine und Anstalten sowie die Verrechnung hierüber oblag«796 . Im Hinblick auf die künftige Vermeidung der Doppelversorgung wurden die Kriegsküchen im Juni 1917 auch damit beauftragt, die Abgabe von Mehl an die Kriegsküchenbesucher vorzunehmen.797 Ab Juli mussten alle Teilnehmer zudem die neu eingeführten amtlichen Einkaufsscheine für nicht-rationierte Lebensmittel in den Kriegsküchen vorzeigen. Hierzu erklärte Der Abend: »Um die gleichzeitige Teilnahme an mehreren Kriegsküchen zu verhüten, müssen alle Teilnehmer ihre Einkaufsscheine vorweisen, und auf diesen wird der Bezug des Essens
794 Vgl. ebd., S. 33f. 795 Den Zusammenschluss nahm Weiskirchner infolge zweier Verordnungen des Magistratsdirektors August Nüchtern (1861–1929) vom 12. und 17. März 1917 vor. Die bis dahin von der Kriegsfürsorgezentrale verwalteten Unterstützungsangelegenheiten, die aus den Mitteln der Zentralstelle finanziert wurden, verblieben in der dafür zuständigen Magistratsabteilung XI. Vgl. hierzu Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 43. 796 Ebd. Vgl. auch »Kriegsküchenkommissariat Wien«, in: Reichspost, 1. April 1917. 797 Vgl. »Ein schwerer Schlag für die Kriegsküchenteilnehmer«, in: Der Abend, 20. Juni 1917. Die Umsetzung dieser vom Ernährungsamt vorgegebenen Regelung führte seitens der Kriegsküchenteilnehmer zu einer Reihe von Beschwerden. Infolge dieser Neuerung weigerten sich die Mehlabgabestellen, Konsumvereine und Konsumentenorganisationen zunächst, an die Kriegsküchenbesucher Lebensmittel abzugeben, die an das Vorweisen der Mehlbezugskarte geknüpft waren. Vgl. ebd. Durch eine amtliche Kundmachung, die jene Einrichtungen zur gleichmäßigen Warenabgabe an sämtliche Kunden verpflichtete, wurde die Benachteiligung der Küchengäste behoben. Vgl. hierzu u.a. »Verpflichtung zur gleichmäßigen Warenabgabe an sämtliche Kunden«, in: Neue Freie Presse, 22. Juni 1917. »Ein empörendes Unrecht«, in: Der Abend, 22. Juni 1917.
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unter Angabe der Anzahl der Portionen vorgemerkt […]. Die Ausgabe getrennter Bezugszettel findet nicht mehr statt. Man wird also nicht mehr die Wahl haben, eines oder beide der vorhandenen Gerichte zu nehmen, sondern wird beide, sowohl Suppe als auch Gemüse, beziehungsweise Mehlspeise, nehmen müssen.«798 Über die von der Gemeinde errichteten offenen Kriegsküchen hinaus wurden bis Ende Juni 1917 weitere 47 Betriebs-, Anstalts-, Erwerbs- und Gemeinschaftsküchen eröffnet, die von verschiedenen Vereinen, Unternehmen und Behörden begründet und nach Maßgabe des Kriegsküchenerlasses vom Wiener Kriegsküchenkommissariat genehmigt wurden. Anders als die offenen Gemeindekriegsküchen wurden diese Küchen nicht von der Stadtverwaltung bzw. der Kriegsfürsorgezentrale mit Lebensmitteln beliefert. Für die Aufnahme dieser Speisegemeinschaften in die allgemeine Verbrauchsregelung legte die im Juni 1917 gegründete »Landeskriegsküchenkommission für Wien und Niederösterreich« die Zusammenfassung aller nicht-kommunal organisierten Kriegsküchen in einem Zentralverband fest, »der von den Kriegswirtschaftszentralen mit den staatlich bewirtschafteten Lebensmitteln und durch die Österreichische Zentral-Einkaufs-Gesellschaft A.G. mit sämtlichen von ihr in Verkehr gebrachten Waren direkt beliefert wird«799 . Der sogenannte Zentralverband der Gemeinschafts- und Kriegsküchen in Wien und Niederösterreich nahm am 1. Juli 1917 seine Arbeit auf und begründete kurz darauf in Kooperation mit dem Zentralverband der gewerblichen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften Niederösterreichs eine Einkaufsstelle, die als Zwischenglied zwischen den einzelnen Zentralen und den Speiseeinrichtungen fungierte.800 Dem Zentralverband der Gemeinschafts- und Kriegsküchen kam nach dem Beschluss der Landeskriegsküchenkommission der »Charakter eines Zwangsverbandes«801 zu. Künftig sollten neue Küchen nur genehmigt und bewilligte Speisegemeinschaften nur dann bevorzugt mit Lebensmitteln beliefert werden, wenn diese Mitglied im Zentralverband waren.802 Der Verband verteilte »die gesamten Lebensmittel nach der stets in Evidenz gehaltenen Kopfzahl der Kriegsküchenteilnehmer an die einzelnen [Speise-]Betriebe und besorgt[e] gleichzeitig die Kontrolle über die im Kriegsküchenerlasse vorgeschriebene Markenkürzung«803 . Von der verpflichtenden Mitgliedschaft im Zentralverband ausgeschlossen waren alle von Unternehmen geführten Betriebs- und Unternehmensküchen, die dem Ende des Jahres 1916 gegründeten Lebensmittelverband der Kriegsleistungsbetriebe Wiens angehörten.
798 »Die Kriegsküchen der Gemeinde«, in: Der Abend, 27. Juli 1917. 799 Denkschrift über die von der k.k. Regierung aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen. Vierter Teil, Juli 1916 bis Juni 1917, Wien 1918, S. 273. Vgl. auch Löwenfeld-Russ, Die Regelung, S. 354. Zur Landeskriegsküchenkommission vgl. »Gemeinschafts-, Gesellschafts- und Anstalts-Kriegsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 17. Juni 1917. 800 Vgl. »Die Einkaufsstelle der Kriegsküchen Wiens und Niederösterreichs«, in: Reichspost, 30. September 1917. Sowie »Gemeinschafts-, Gesellschafts- und Anstalts-Kriegsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 17. Juni 1917. 801 Ebd. 802 Vgl. ebd. Sowie »Die Gemeinschafts-, Gesellschafts- und Anstaltsküchen«, in: Reichspost, 23. Juni 1917. 803 Denkschrift, Vierter Teil, S. 273.
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Letzterer belieferte die Wiener Konsumvereine und besorgte bis Ende Juni 1917 die Verpflegung von 29 Betriebsküchen. Der Lebensmittelverband wurde wie der Zentralverband der Gemeinschafts- und Kriegsküchen, dem bis zum Sommer 1917 insgesamt achtzehn nichtkommunal organisierte Speisegemeinschaften angehörten, von den Wirtschaftsstellen bevorzugt mit rationierten Lebensmitteln beliefert.804 Im Anschluss an die Umsetzung der Instruktionen des Kriegsküchenerlasses zur Ausgestaltung des Kriegsküchenwesens schoss die Zahl der Wiener Speiseeinrichtungen schlagartig in die Höhe. Ein Jahr nach der Eröffnung der ersten städtischen Kriegsküchen zählte das Wiener Küchennetz im Juli 1917 rund neunzig Kriegs-, Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen. Ende des Jahres 1917 waren es bereits über 200 Einrichtungen (Abb. 38).
Abbildung 38: Entwicklung der Wiener Speiseeinrichtungen (1917–1919)
Quellen: »Bericht des Bürgermeisters vom 16. August 1917«, S. 1633. »Bericht des Bürgermeisters vom 8. Februar 1918«, S. 229. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 162f.
Anmerkungen zu Abbildung 38 Ohne die Einrichtungen der unentgeltlichen Ausspeisungsaktion sowie den zahlreichen in Eigenregie (bzw. nicht-kommunal) betriebenen Speisestellen der Wiener Volksküchen, Suppenanstalten usw.
804 Vgl. »Bericht des Bürgermeisters an den Stadtrat über die Gemeindeverwaltung bis Ende Juni 1917 in der Sitzung des Wiener Stadtrates vom 16. August 1917«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 26 (1917), Nr. 66, 17. August 1917, S. 1631–1644, hier S. 1633. Sowie Augeneder, Arbeiterinnen, S. 97. Nichtrationierte Lebensmittel und zusätzliche Rationen beschafften sich die privaten und staatlichen Unternehmen auf dem freien Markt. Vgl. hierzu ausführlich ebd. Für die Versorgung der Betriebsspeisungen außerhalb der Hauptstadt war die Vita, Gesellschaft zur Lebensmittelverteilung an die Kriegsindustrien in Niederösterreich mit Ausnahme Wiens zuständig.
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Ende Juni 1917 umfasste die Gesamtzahl der Speiseeinrichtungen 93 Küchen, davon waren 46 offene Kriegsküchen der Gemeinde. Ende des Jahres 1917 bestanden insgesamt 203 Speiseeinrichtungen, davon waren 52 offene Gemeindekriegsküchen. Bis Juni 1918 wuchs die Zahl der Wiener Küchenspeisungen auf insgesamt 291 Einrichtungen. Konkrete Zahlen für die Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen, deren Gesamtzahl zwischen Dezember 1917 und Juni 1918 um 76 Einrichtungen zunahm, liegen nicht vor. Die Zahl der offenen Gemeindekriegsküchen erreichte im Dezember 1918 mit 68 Einrichtungen ihren Höchststand. Im Juni 1919 umfasste das Wiener Küchenversorgungsnetz 318 Küchen. Die Zahl der Gemeindekriegsküchen war zu diesem Zeitpunkt bereits auf 50 Einrichtungen gesunken. Des Weiteren umfasste das Küchenversorgungsnetz im Juni 1919 über die dargestellten Einrichtungen hinaus zwölf weitere Küchen, die jedoch den abgebildeten Kriegsküchenarten nicht zuzuordnen waren.
3.2.4 Geschlossene und offene Speisegemeinschaften: Das Wiener Kriegsküchennetz Im Dezember 1917 bildeten 42 Gemeinschafts-, 39 Anstalts- und 68 Betriebsküchen sowie 52 kommunal betriebene (offene) Kriegsküchen das Wiener Kriegsküchennetz. Seit dem Sommer 1917 nahmen vor allem jene Speiseeinrichtungen in ihrer Zahl zu, die sich auf bestimmte Bevölkerungs- oder Berufsgruppen ausrichteten. Die Herausbildung dieser geschlossenen Speisegemeinschaften war keine Entwicklung, die durch die Kriegsküchenverordnung herbeigeführt wurde. Der Erlass förderte vielmehr eine Intensivierung der Bemühungen und Aktivitäten verschiedener Vereine und Institutionen, die sich für die Gemeinschaftsverpflegung engagierten. Während die Gemeinde Wien im Sommer 1916 die Kriegsküchenaktion in die Wege leitete, begannen parallel auch einige staatliche und private Institutionen mit der Einrichtung geschlossener Gemeinschafts- und Anstaltsküchen für ihre Bediensteten und Angestellten.805 Bereits zu Beginn des Krieges eröffnete die Anglo-Österreichische Bank eine Gemeinschaftsküche. Die Bankdirektion übernahm eine Gasthauskonzession und errichtete aus dem Wirtschaftsfonds der Bankangestellten das sogenannte »AnglobankRestaurant«, in dem eine Zeit lang täglich bis zu 150 Angestellte ihr Mittagessen einnahmen.806 Auf Eigeninitiative der Angestellten richteten im Sommer 1916 darüber hinaus auch die Österreichische Länderbank, der Wiener Bankenverein und die Niederösterreichische Eskomptegesellschaft ihre »Beamtenmessen« ein.807 Zur gleichen Zeit entstanden u.a. im k.k. Handelsministerium und in der k.k. Österreichische Tabak-Regie Hausküchen, die von der Beamtenschaft gegründet und in Eigenregie geführt wurden.808 Auf Anregung des Deutschösterreichischen Eisenbahnbeamtenvereins entstand im September 1916 zu-
805 Siehe hierzu und den weiteren Ausführungen Tab. ix im Anhang. 806 Vgl. »Die Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 16. September 1916. Vgl. auch Czeike, Felix: Historisches Lexikon Wien, Band 1, Wien 2004, S. 34. 807 Vgl. »Beamtenmessen«, in: Die Zeit, 16. August 1916. »Die Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 16. September 1916. 808 Vgl. ebd. Sowie »Errichtung einer Hausküche im Handelsministerium«, in: Die Zeit, 10. August 1916.
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dem eine Gemeinschaftsküche für die Eisenbahnbeamtenschaft und ihre Familien.809 Die Planung und Führung der Speiseanstalt im Gebäude der Staatsbahndirektion am Westbahnhof übernahm der eigens zu diesem Zweck gegründete Verein Gemeinschaftsküchen österreichischer Eisenbahnbeamtenfrauen, der in der »Eisenbahnerküche« zunächst rund 400 und im weiteren Kriegsverlauf bis zu 1.100 Personen täglich mit einem Mittagessen versorgte. Während die staatlichen Institutionen für den Zweck der Selbstversorgung Subventionen erhielten, finanzierten die Privatunternehmen ihre Speiseeinrichtungen größtenteils auf eigene Kosten, wobei in vereinzelten Fällen auch kommunale Unterstützung gewährt wurde.810 Da die Errichtung eigener Speiseeinrichtungen für viele Unternehmen einen enormen Aufwand darstellte, ergriff das Gremium der Wiener Kaufmannschaft in Zusammenarbeit mit dem Bund österreichischer Industrieller, der Allgemeinen Pensionsanstalt für Angestellte, der Niederösterreichische Gewerbeverein und der Wiener Industriellenverein die Initiative zur Errichtung von Speisehallen für die Privatangestellten der verschiedenen Firmen.811 Nachdem alle in Betracht kommenden Unternehmen ein Rundschreiben erhielten, in dem das Vorhaben bekundet und Interesse der Angestellten an der Aktion abgefragt wurden, richtete die Kooperation unter Führung des Gremiums der Wiener Kaufmannschaft, das seit dem Frühjahr 1916 auch eine »Gemeinschaftsküche für Handelsangestellte« leitete, Anfang Dezember 1916 einen »Kriegsmittagstisch für Privatangestellte« in der Wiener Konzerthausrestauration ein. Täglich erhielten etwa 2.000 bis 3.000 gewerbliche, industrielle und kaufmännische Angestellte für den Preis von zunächst 1,55 Kronen »ein reichliches und bekömmliches Mittagsmahl«812 . Viele der Wiener Beamtenmessen und Speiseanstalten für Angestellte wurden vor dem Inkrafttreten der Kriegsküchenverordnung errichtet und zum gegebenen Zeitpunkt den Richtlinien des Erlasses angepasst. Dennoch beförderte die Verordnung des Volksernährungsamtes auch Küchenneugründungen für die Angehörigen des Wiener Mittelstandes. So wurde u.a. im März 1917 in Meidling eine Kriegsgesellschaftsküche für Staats- und Kommunalbeamte eröffnet. Hierbei handelte es sich um eine bezirksübergreifende Gemeinschaftsküchenaktion der Behörden, die auf Betreiben eines Meidlinger Bezirksrichters ins Leben gerufen wurde. Die Speiseanstalt stand einem Bericht der Zeit zufolge den Bediensteten verschiedenster Ämter zur Verfügung: »Die Kriegsgesellschaftsküche […] wird sowohl die Beamten und die Diener und übrigen Angestellten der nachfolgenden Amtsstellen versorgen: der Bezirksgerichte 809 Vgl. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 20. Juli 1916. »Neue Mittelstandsküche im 6. Bezirk«, in: Die Zeit, 1. November 1916. »Gemeinschaftsküchen österreichischer Eisenbahnbeamtensfrauen«, in: Österreichische Volkszeitung, 30. August 1916. »Die Lebensmittelversorgung«, in: Österreichische Volkszeitung, 4. September 1916. »Die Gemeinschaftsküchen der Eisenbahner«, in: Österreichische Volkszeitung«, 30. September 1916. Sowie »Gemeinschaftsküchen österreichischer Eisenbahnbeamtenfrauen in der k.k. Staatsbahndirektion Wien«, in: Neues Wiener Tagblatt, 23. Dezember 1917. 810 Vgl. »Beamtenmessen«, in: Die Zeit, 16. August 1916. »Die Verpflegsfragen«, in: Fremdenblatt, 26. August 1916. 811 Vgl. ebd. Vgl. auch »Eröffnung des Kriegsmittagstischs für Privatangestellte«, in: Reichspost, 5. Dezember 1916. »Kriegsmittagstisch für Privatangestellte«, in: Österreichische Volkszeitung, 5. November 1916. »Der Kriegsmittagstisch für Privatangestellte«, in: Die Zeit, 25. Februar 1917. 812 »Kriegsmittagstisch für Privatangestellte«, in: Neues Wiener Tagblatt, 15. Januar 1917.
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Meidling und Rudolfsheim, der Polizeikommissariate Meidling und Rudolfsheim, der Steueradministrationen für den 12., 13., 14. und 15. Bezirk, der Finanzkasse für den 12. und 14. Bezirk, der Post- und Telephonzentrale Meidling, des Gymnasiums und der Realschulen in Meidling, des magistratischen Bezirksamtes Meidling und der ihm angeschlossenen städtischen Amtsstellen des 12. Bezirkes, sowie endlich der beiden in Meidling amtierenden Notariate. Sämtliche Interessenten sind in einer Genossenschaft mit beschränkter Haftung vereinigt.«813 Neben den zahlreichen geschlossenen Speisegemeinschaften und Messen für die Berufsgruppen des Kleinbürgertums und Mittelstandes gab es zudem eine Reihe von Vereinen, die sich verstärkt der Versorgung der zahlreichen (höheren) Beamten, Offiziere, Schriftsteller, Künstler sowie Angehörigen der medizinischen und juristischen Berufe einschließlich ihrer Familien annahmen. Zwar richteten sich auch die kommunal organisierten offenen Kriegsküchen in erster Linie an den Wiener Mittelstand, doch konnten die bestehenden Gemeindekriegsküchen den Bedarf nicht decken. Immer mehr Mittelstandsfamilien waren aufgrund der unzureichenden Lebensmittelversorgung und der fortdauernden Kohlennot auf die Außer-Haus-Speisung angewiesen. Nach Ansicht der Präsidentin der ROHÖ Helene Granitsch (1876–1956) entsprachen die städtischen Einrichtungen aber auch nicht den Bedürfnissen der Zielgruppe und mussten »aus Standesrücksichten von vielen Angehörigen des gebildeten Mittelstandes gemieden werden«814 . Da der regelmäßige Gasthausbesuch für zahlreiche Beamte und Angestellte längst nicht mehr erschwinglich war, drängten die ROHÖ und zahlreiche weitere Fürsprecher einer standesgemäßen Verpflegung auf die Errichtung von Gemeinschaftsküchen für den »gebildeten Mittelstand«. Mitte März 1917 eröffnete schließlich der Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen die ersten beiden Wiener Gemeinschaftsküchen, die sich an den Mittelstand und jene Personen richteten, die aus Berufsgründen auf die Speisung außer Haus angewiesen waren.815 Gegründet wurde der Gemeinschaftsküchenverein im Dezember 1916 auf Anregung der ROHÖ und der Vereinigung österreichischer Richter. »Diesen beiden Mittelstandsorganisationen schlossen sich«, so Granitsch, »rasch der Niederösterreichische Gewerbeverein, nationale und konfessionelle Frauenorganisationen, Aerzte, und Advokatenvereine, Lehrer- und Künstlerklubs an.«816 Darüber hinaus wurde der Verein von großen Unternehmen, die zahlreiche Beamte versorgen mussten, mit Geldspenden gefördert, darunter u.a. Versicherungsgesellschaften und die Schifffahrtsgesellschaft Österreichische Lloyd.
813 »Die Gründung der ersten Kriegsgesellschaftsküche in Wien«, in: Die Zeit, 10. Februar 1917. 814 »Die Gemeinschaftsküche des gebildeten Mittelstandes«, in: Neue Freie Presse, 18. Januar 1917. 815 Vgl. »Gemeinschaftsküchen in Wien«, in: Neue Freie Presse, 21. Dezember 1916. Ferner »Neue Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 13. März 1917. Die Idee der Gemeinschaftsverpflegung wurde bereits während der ersten Kriegswochen diskutiert, wobei nicht genügend Fürsprecher für die Gemeinschaftsküche gewonnen werden konnten. Erst die Hungersnot habe ihrem Gedanken zum Durchbruch verholfen, schrieb die Wiener Zeitung rückblickend. Vgl. »Die Schwarzwaldküchen«, in: Wiener Zeitung, 6. November 1926. 816 »Gemeinschaftsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 13. Januar 1917.
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Der Gemeinschaftsküchenverein legte großen Wert auf eine geschmackvolle äußere Aufmachung der Küchen und besetzte die Küchenleitungspositionen durch »erprobte Hausfrauen«. Es sei, wie Granitsch darlegte, für den nervös überreizten, geistig Arbeitenden nicht gleichgültig, ob er in dumpfer Stube, die erfüllt ist von übelriechender Küchenluft, auf schlecht gedeckten Tischen ein wenig appetitliches Essen vorgesetzt erhält oder ob ihm bei gleichem Geldaufwand in einem mit modernem Geschmack eingerichteten, hellen und luftigen Raum auf weiß gedeckten Tischen von Hausfrauenhänden liebevoll zubereitete Speisen nett und sauber serviert werden.817 Die erste der beiden Mittelstandsküchen richtete der Verein in den Gastwirtschaftsräumen »Zur Deutschen Wacht« im deutschen Schulvereinshaus in Josefstadt ein. Die zweite Gemeinschaftsküche »Akazienhof« wurde in den vom österreichischen Architekten Adolf Loos (1870–1933) ausgestatteten Lokalitäten des früheren Restaurants »Newaldhof« im Bezirk Alsergrund eröffnet.818 Über den Akazienhof, in dem täglich bis zu 600 Personen versorgt werden konnten, berichtete die Redakteurin Patek-Hochenadl: »Dieses kleinere Kriegsrestaurant macht ganz den Eindruck, als ob man in einer eleganten, gut geführten Pension speisen würde. Elegante Damen, Herren in Uniform, die Schauspieler der Neuen Wiener Bühne und der Volksbühne speisen hier an kleinen, weißgedeckten, blumengeschmückten Tischchen, freundlich von der Hausfrau […] begrüßt, die alle ihre Mitglieder kennt, die bedienenden Mädchen überwacht (Trinkgeldgabe ist untersagt) und somit sorgt, daß alles pünktlich, sauber und in ruhiger Weise abgewickelt wird.«819 Die grüßende und leitende Frau des Hauses war die mit vielen bekannten Wiener Persönlichkeiten vernetzte Sozialreformerin und Frauenrechtsaktivistin Eugenie Schwarzwald (1872–1940). Mit ihren umfassenden Erfahrungen als ehemalige Leiterin einer großen Züricher Gemeinschaftsspeisung sollte die Mitinitiatorin des Gemeinschaftsküchenvereins bis zum Ende des Krieges die Verantwortung für eine Reihe weiterer Wiener Gemeinschaftsküchen übernehmen. Die gesamte Organisation der Gemeinschaftsküchen war Granitsch zufolge auf dem Grundsatz der Selbsthilfe aufgebaut: »Jeder, der dem [Gemeinschaftsküchen-]Verein beitritt und zwei Kronen Jahresbeitrag sowie fünf Kronen einmaligen Regiebeitrag erlegt, wird Anteilbesitzer an den vom Verein erhaltenen Küchen und Speisestellen und speist dort sozusagen ›bei sich zu Hause‹. Es soll weder der Schein von Wohltätigkeit noch das Gefühl des Gasthausbesuches hervorgerufen werden. Der Preis eines Mittagessens wurde vorderhand mit 2 Kronen per Kopf bestimmt. Dafür erhält das Mitglied Suppe, Fleisch, Gemüse und Mehlspeise, an fleischlosen Tagen die entsprechende Ersatzspeise. Um Familien den Besuch der gemeinschaftlichen Speisehäuser zu erleichtern, wurde bestimmt, daß für Kinder kein ganzes Essen, sondern nur eine oder zwei Zusatzspeisen bezogen werden können. Diejenigen Familien, die in der Nähe der Gemeinschaftsküchen wohnen, können sich zu 817 Vgl. »Die Gemeinschaftsküche des gebildeten Mittelstandes«, in: Neue Freie Presse, 18. Januar 1917. 818 Bis zur Eröffnung der Gemeinschaftsküche »Akazienhof« wurde an selber Stelle das AnglobankRestaurant betrieben. Vgl. Czeike, Historisches Lexikon 1, S. 34. 819 »Kriegsrestaurants«, in: Fremdenblatt, 22. April 1917.
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gleichen Preisen das Essen abholen lassen, wofür eine entsprechende Zahl von Kochkisten und Kochbeuteln angeschafft wurde.«820 Die Gemeinschaftsküchenbesucher erhielten sogenannte »Wochenblocks« zu vierzehn Kronen für sieben Mahlzeiten, die sie durch das Vorweisen ihrer Mitgliedskarten sowie der Mehl- und Fettkarten im Voraus bezahlten. Im Zuge der gestiegenen Lebensmittelpreise und ausgebliebener Lebensmittelzuweisungen des Zentralverbandes der Gemeinschafts- und Kriegsküchen, die die Küchen häufig zum Einkauf im Kleinen nötigten, musste der Mahlzeitenpreis von zwei Kronen bereits im September 1917 um eine halbe Krone erhöht werden.821 Im Sommer 1918 betrieb der Verein insgesamt sechs Gemeinschaftsküchen, darunter den im April 1917 eröffneten »Emilienhof« im Bezirk Landstraße und die im Dezember 1917 in Betrieb genommene Einrichtung »Zur Tabakspfeife« in der Inneren Stadt. Darüber hinaus unterhielt der Verein die Gemeinschaftsküche »Elisabethhof«. Diese ebenfalls im April 1917 im Opernkeller des 1. Bezirks eröffnete Mittelstandsküche war mit 1.250 täglich versorgten Kostgängern die größte Speiseeinrichtung des Vereins. Im Juli 1918 verpflegte der Verein insgesamt etwa 5.000 Personen des Wiener Mittelstands.822 Der Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen war nicht der einzige Verband, der die Gründung von Mittelstands- und Gemeinschaftsküchen vorantrieb. So eröffnete die Katholische Reichsfrauenorganisation für Niederösterreich im August 1917 die Gemeinschaftsküche »Isabellaheim« auf der Wieden. Die nach ihrer Protektorin Erzherzogin Isabella von Österreich-Teschen (1856–1931) benannte Mittelstandsküche versorgte in ihren zwei Filialen täglich bis zu 600 Personen.823 Nahezu zeitgleich richtete die Geselligkeitsvereinigung Westend im großbürgerlichen Bezirk Hietzing für rund 1.800 Speiseteilnehmer drei Mittelstandsgemeinschaftsküchen ein. Eine davon befand sich im »Ober St. Veiter Casino« des gleichnamigen und für seine Wirthauskultur bekannten Bezirksteils Ober St. Veit.824
820 »Gemeinschaftsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 13. Januar 1917. Vgl. auch die Ausführungen Schwarzwalds in ihrem Artikel »Mittagsruhe«, in: Neues Wiener Tagblatt, 21. Januar 1917. Ferner Granitsch, Die Sozialisierung, S. 13. »Frau Weiskirchner in der Gemeinschaftsküche im Akazienhof«, in: Neues Wiener Tagblatt, 4. April 1917. »Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 15. April 1917. 821 Ab April 1918 zahlten die Vereinsmitglieder drei Kronen für die Mittagsmahlzeit. Vgl. »In der Wiener Gemeinschaftsküche«, in: Fremdenblatt, 17. Februar 1918. »Erhöhung der Preise in den Gemeinschaftsküchen, in: Fremdenblatt, 16. April 1918. 822 Zudem plante der Gemeinschaftsküchenverein die Eröffnung einer siebten Gemeinschaftsküche. Nähere Informationen zum Standort dieser sowie der sechsten Einrichtung waren nicht zu ermitteln. Vgl. »Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen«, in: Neue Freie Presse, 1. Juli 1918. Vgl. auch »Die Gemeinschaftsküchen in Wien«, in: Neues Wiener Tagblatt, 27. Juni 1918. 823 Vgl. »Eröffnung der Gemeinschaftsküchen ›Isabellahalle[‹] der Katholischen Frauenorganisation«, in: Reichspost, 22. August 1917. Überdies setzte die von Gräfin Gerta Walterskirchen (1865–1952) geführte Frauenorganisation bis Ende 1917 zwei weitere Gemeinschaftsküchen in den Bezirken Innere Stadt und Währing in Betrieb. Hierzu vgl. ebd. Sowie »Die Gemeinschaftsküche ›St. Stanislaus‹«, in: Reichspost, 29. Dezember 1917. »Die Gemeinschaftsküche St. Stanislaus«, in: Reichspost, 10. Januar 1918. 824 Vgl. »Eine Gemeinschaftsküche für den Mittelstand in Hietzing«, in: Neues Wiener Tagblatt, 6. August 1917. »Westend-Gemeinschaftsküchen in Hietzing«, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. Oktober 1917.
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Auch für bis dahin kaum berücksichtigte Gruppen des Mittelstandes verstärkte sich nach Inkrafttreten des Kriegsküchenerlasses das Engagement für die Errichtung von geschlossenen Speisegemeinschaften. Vor allem den zahlreichen Wiener Akademikern und Künstlern fehlte es an entsprechenden Einrichtungen. So begannen im Verlauf des Jahres 1917 auf Initiative der Schriftstellerin Valerie Grey (1845–1934) die Vorbereitungen für eine Künstlergemeinschaftsküche. Unterstützt durch die Statthalterei und die Gemeinde sowie die Direktionen des Hofburgtheaters und der Hofoper konnten Grey und ihre Mitstreiter viele Förderer gewinnen und im Oktober 1917 im ehemaligen »Spatenbräu« in der Schleifmühlgasse auf der Wieden die »Erste Wiener Künstlergesellschafts-Kriegsküche« eröffnen.825 Die Einrichtung, die sich u.a. an Sänger, Schauspieler, Maler, Bildhauer, Bühnenangestellte und Angehörige der Presse richtete, versorgte täglich bis zu 1.000 Personen. Für die Journalisten und Schriftsteller und deren Angehörige entstand zudem auf Betreiben des Wiener Schriftstellervereins Die Scholle eine Gemeinschaftsküche im Leopoldstädter Dianabad, die jedoch erst im April 1918 eröffnet wurde.826 Des Weiteren wurden die öffentlichen Verpflegungsangebote für die Studierenden ausgebaut. Mitte Oktober 1917 richtete der Verein Studienfürsorge mithilfe von Spenden und »beträchtliche[n] Subventionen seitens der Behörden, öffentlichen Anstalten, privaten Unternehmungen und Wohltäter«827 im 1. Bezirk eine Gesellschaftsküche für die Studierenden und Lehrkräfte der Wiener Mittel- und Hochschulen ein. In der Küche der Studienfürsorge, die neben vielen weiteren Speiseeinrichtungen unter dem Protektorat der Kaiserin Zita von Bourbon-Parma (1892–1989) stand, wurden täglich etwa 2.000 Personen versorgt. Die Zahl zu versorgender Nachwuchsakademiker war jedoch weitaus größer, sodass bereits unmittelbar nach der Eröffnung eine Erweiterung der Gesellschaftsküche in Erwägung gezogen wurde. Den Studierenden der Universität Wien stand u.a. noch die seit 1892 betriebene »Mensa Academica« zur Verfügung, in der ab Oktober 1916 auch das sogenannte »Professorenstüberl« eröffnet und damit ein Mittagstisch für die Mitglieder des »Professorenkollegiums« und deren Familien angeboten wurde.828 Zudem wurde in direkter Nähe zur Wiener Universität in den Räumen der früheren Gastwirtschaft »Zum Magistrat« eine »Akademikerküche« eingerichtet, die vom Wirtschaftsverein der Akademiker in öffentlichen Diensten betrieben wurde.829 825 Vgl. »Erste Künstlergesellschafts-Kriegsküche«, in: Neues Wiener Tagblatt, 6. September 1917 und 9. Oktober 1917. »Eine Kriegsküche für Künstler«, in: Reichspost, 2. September 1917. »Eröffnung der Künstler-Gesellschafts-Kriegsküche«, in: Reichspost, 14. Oktober 1917. Ferner »Zur Eröffnung der beiden neuen großen Gesellschaftskriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 14. Oktober 1917. 826 Vgl. »Eine Gemeinschaftsküche im Dianabad«, in: Neues Wiener Tagblatt, 18. April 1918. Siehe auch unter gleichem Titel Fremdenblatt, 18. April 1918. 827 »Gesellschaftsküche der Studienfürsorge«, in: Neues Wiener Tagblatt, 4. Oktober 1917. Vgl. auch »Gesellschaftskriegsküche der ›Studienfürsorge‹«, in: Reichspost, 27. September 1917. »Zur Eröffnung der beiden neuen großen Gesellschaftskriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 14. Oktober 1917. 828 Vgl. »Ein Professorenstüberl in der Mensa Academica«, in: Die Zeit, 5. Oktober 1916. Die Gründung der »Mensa Academica« erfolgte unter Mitwirkung des Begründers des Ersten Wiener VolksküchenVereines Josef von Kühn. Vgl. »Dr. Josef Edler v. Kühn«, in: Neue Freie Presse, 12. April 1913. Siehe auch oben Kapitel ii, Anm. 271. 829 Die Küche richtete sich jedoch vorrangig an so genannte »Konzeptsbeamte« sowie deren Familien. Vgl. »Speisegemeinschaft ›Akademikerküche‹«, in: Neues Wiener Tagblatt, 26. November 1917. Der Begriff »Konzeptsbeamte«, der bis heute in Österreich gebräuchlich ist, meint Beamte mit einem
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In allen Wiener Gemeindebezirken wurden während der zweiten Kriegshälfte Gemeinschafts- und Anstaltsküchen eingerichtet.830 Da das größtenteils aus Zeitungsberichten bestehende Quellenmaterial nur für einen Bruchteil der Küchen Hinweise zu den Standorten und jeweils leitenden Organisationen, Institutionen bzw. Vereinen liefert, kann die Verteilung der Gemeinschaftsküchen im Wiener Stadtgebiet nur auf Basis einer kleinen Zahl der Einrichtungen betrachtet werden. Insgesamt wurden 32 der in der zweiten Kriegshälfte eingerichteten Gemeinschaftsspeisungen ermittelt.831 Entsprechend ihrer Ausrichtung auf den Mittelstand entstand der Großteil der Einrichtungen in den bürgerlichen Bezirken Alsergrund und Hietzing sowie den kleinbürgerlichmittelständischen Innenstadtbezirken. Dabei war fast die Hälfte aller ermittelten Einrichtungen (insgesamt dreizehn) aufgrund der Lage vieler staatlicher und kommunaler Institutionen im Repräsentationsbezirk Innere Stadt zu verorten. Die meisten der von Vereinen betriebenen Gemeinschaftsküchen entstanden hingegen in den umliegenden Innenstadtteilen. Auch in den großen Wiener Außenbezirken wurden zahlreiche geschlossene Speiseeinrichtungen ins Leben gerufen. Hierbei handelte es sich vorrangig um die für die Arbeiterschaft eingerichteten Betriebsküchen der ansässigen Fabriken und Unternehmen. Die Betriebsspeisungen, die in den Berichten der k.k. Gewerbeinspektoren von 1914 und 1915 noch kaum Erwähnung fanden, wurden seit 1916 nicht nur verstärkt in Anspruch genommen, sondern auch in weiten Teilen der Stadt ausgebaut und um neue Fabrik- und Betriebsküchen erweitert.832 Wie im Falle der Gemeinschafts- und Anstaltsspeisungen wurden viele der Betriebs- und Fabrikküchen bereits vor dem Inkrafttreten des Kriegsküchenerlasses gegründet. In Anbetracht der anwachsenden Versorgungsnöte und der von der Arbeiterschaft immer lauter geforderten Errichtung von Kriegsküchen in den Betrieben ist davon auszugehen, dass sich nahezu jedes kleinere und größere Wiener Unternehmen im Verlauf des Krieges mit der Frage der Gemeinschaftsversorgung der Betriebsangehörigen auseinandersetzte.833 Die Wiener Industrie stand nach den Ausführungen Augeneders unter Zugzwang. »[D]ie Ausgabe von verbilligten Lebensmitteln in der Fabrik stellte für die Arbeiterinnen und Arbeiter einen höheren Anreiz dar als eine Sonderzulage zum Lohn.«834 Die Versorgungsfrage der eigenen Belegschaft handhabten die Unternehmen in unterschiedlicher Weise. Oftmals war die organisierte Arbeiterschaft die treibende Kraft, die in Kooperation mit den Arbeiterkonsumvereinen und der Unternehmensleitung die
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abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaft, die für die Aktenbearbeitungen in öffentlichen Ämtern angestellt waren bzw. sind. Da Frauen in Österreich erst ab 1919 Zutritt zur juristischen Fakultät erhielten, umfasste die Gruppe der »Konzeptsbeamten« während des Ersten Weltkrieges in erster Linie männliche Beamte. Vgl. »Eine Gemeinschaftsküche für den Mittelstand in Hietzing«, in: Neues Wiener Tagblatt, 6. August 1917. Die Zahl der Gemeinschafts- und Gesellschaftsküchen stieg zwischen Dezember 1917 und Juni 1919 von 42 auf 112. Vgl. Tab. ix und Abb. ii im Anhang. Vgl. Bericht Gewerbeinspektoren 1916, S. XCIII. Zur Forderung nach der Einrichtung von Betriebsküchen vgl. WBD, Stimmungsbericht vom 24. Mai 1917, S. 2. Augeneder, Arbeiterinnen, S. 96.
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Eröffnung einer Speiseanstalt im eigenen Betrieb herbeiführte.835 Infolge der Kriegsküchenverordnung erhielten alle Beteiligten Unterstützung durch den Lebensmittelverband der Kriegsleistungsbetriebe Wiens, der für die Errichtung neuer und zur Umgestaltung bestehender Betriebsküchen ein Kriegsküchenkomitee berief, das sich aus Vertretern der Konsumvereine, Gewerkschaften und Unternehmen zusammensetzte. »Dieses Komitee wird bemüht sein, den Betrieben […] bei der Ausarbeitung des im Erlaß vorgeschriebenen Organisations- und Betriebsplanes, bei der Zusammenstellung der Speisepläne und Warenbeschaffungspläne, bei der Beschaffung des sachlichen Bedarfes für den Küchenbetrieb und schließlich auch bei der Anlegung einer dem Küchenbetrieb angepaßten übersichtlichen Buchführung – eine gewisse Einheitlichkeit wäre wünschenswert – mit Rat und Tat zur Seite stehen.«836 Neben der Begründung unternehmenseigener Betriebsküchen, die entsprechende Räumlichkeiten innerhalb der Fabriken und Werksanlagen voraussetzten, gab es auch einige Firmen, die miteinander kooperierten und gemeinsam eine Speiseanstalt gründeten. Näheres hierzu erläutert Augeneder: »Zur Herstellung von Mittagsmahlzeiten schlossen sich beispielsweise 13 Wiener Fabriken zusammen und errichteten eine gemeinsame Kriegsküche mit einer Tageskapazität von 2.000 Portionen. Ein Teil der Unternehmen transportierte das fertige Essen in Kochkisten zur Fabrik, die Arbeiter der anderen Firmen, die über keinen geeigneten Raum verfügten, aßen in einem der Küche angeschlossenen Speisehaus. Auch an Familienangehörige der Beschäftigten wurden Mittagsmahlzeiten abgegeben, was für Arbeiterinnen, die Kinder zu versorgen hatten, sicher eine bedeutende Erleichterung war.«837 Anders als für die Gemeinschaftsküchen liefert das Quellenmaterial vergleichsweise wenig detaillierte Informationen zu den einzelnen Unternehmensküchen und der Entwicklung des Betriebsküchennetzes im Wiener Stadtgebiet.838 Zu den überwiegend kriegswichtigen Firmen, die ihren Beschäftigten während des Ersten Weltkrieges nachweislich Werks- bzw. Fabrikküchen zur Verfügung stellten, gehörten u.a. die Phönix Flugzeugwerke A.G., Semperit Österreichisch-Amerikanische Gummiwerke, das Stahlbauunternehmen Hutter & Schrantz A.G., die Industriewerke Warchalowski, Eißler & Co. sowie die Siemens & Halske Kabelwerke.839 Aus einem Verwaltungsbericht der Gemeinde über die unmittelbare Nachkriegszeit geht überdies hervor, dass in nahezu allen städtischen Unternehmen während 835 Vgl. Granitsch, Die Sozialisierung, S. 12. Zur Übernahme von Approvisionierungsfunktionen durch Arbeiterausschüsse vgl. Unfried, Arbeiterschaft, S. 136. 836 Bestimmungen über die Errichtung von Betriebs- (Anstalts-)Kriegsküchen im Sinne des Erlasses des k.k. Amtes für Volksernährung, Wien 1917, S. 2. Vgl. auch Freundlich, Kriegsküchen, S. 3. 837 Augeneder, Arbeiterinnen, S. 96. Vgl. auch Bericht Gewerbeinspektoren 1917, S. XLV. 838 Zu den wenigen verfügbaren Quellen gehören die Berichte der k.k. Gewerbeinspektoren über die Amtstätigkeit in den Jahren 1914 bis 1918 (oben Kapitel i, Anm. 61), die ein paar, aber dennoch kaum detaillierte Hinweise zu den Wiener Betriebsküchen enthalten. 839 Das Bestehen dieser Werkskantinen lässt sich in der Mehrheit der Fälle durch vereinzelte Zeitungsinserate belegen. Hierzu vgl. u.a. Neues Wiener Tagblatt, 6. Mai 1917, S. 41; und 29. Juni 1917, S. 22. Illustrierte Kronen-Zeitung, 10. Juli 1917, S. 12. Arbeiter-Zeitung, 15. Oktober 1918, S. 8.
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des Krieges Betriebsküchen bestanden.840 Auch die beiden Tabakfabriken der k.k. Österreichische Tabak-Regie verfügten über Fabrikkantinen. Den Berichten der Gewerbeinspektoren ist zu entnehmen, dass die Kantine der Ottakringer Tabakfabrik bereits in der Vorkriegszeit eingerichtet wurde. In der Zeit von 1914 bis 1918 versorgte die Werksspeisung der Tabakfabrik, die im Schnitt 1.100 Arbeiter (davon mehr als 85 Prozent weibliche Erwerbstätige) beschäftigte, täglich zwischen 200 und 800 Personen.841 Im Jahr 1917 eröffnete die k.k. Österreichische Tabak-Regie auch in ihrer Fabrik im Bezirk Landstraße eine Küche, die bis zu 900 Beschäftigte versorgen konnte.842 Der Preis für die Mittagsportion, bestehend aus 0,3 Liter Suppe, 100 Gramm Fleisch mit 0,3 Liter Gemüse und 150 Gramm Brot, umfasste zunächst vierzig Heller und stieg bis 1918 auf 1,10 Kronen. In Anbetracht der enormen Preissteigerung waren die Mittagsspeisen in den Tabakwerken noch vergleichsweise günstig. Die Begründerin der proletarischen Frauenbewegung in Österreich Adelheid Popp (1869–1939) machte in verschiedenen Zeitungsberichten zur Lage der weiblichen Erwerbsarbeit darauf aufmerksam, dass viele Arbeiterinnen, die häufig nicht mehr als 26 bis 48 Heller Stundenlohn erhielten, in den Betriebsküchen bis zu vierzehn Kronen Kostgeld pro Woche zahlen mussten.843 Damit unterschieden sich die Speisepreise der Betriebskantinen kaum von denen vieler Gemeinschafts- und Anstaltsküchen. Es gab jedoch auch einige Unternehmen, die keine Betriebsküche einrichteten oder nur über Räumlichkeiten verfügten, die das Erwärmen mitgebrachter Speisen ermöglichten. Viele Wiener Arbeiter nahmen daher ihr Mittagessen in den benachbarten Volksküchen und -kaffeehäusern in Anspruch. Nicht wenige von ihnen verbrachten ihre Mittagspause auch in den Warteschlangen der offenen Gemeindekriegsküchen, die wiederum einen Teil der Wiener Unternehmen, die über Betriebskantinen verfügten, mit Essen belieferten.844 Seit November 1917 waren die offenen kommunalen Kriegsküchen in jedem der Wiener Bezirke mit mindestens einer Küche vertreten. Wie bereits vor dem Inkrafttreten des Kriegsküchenerlasses wurde das Netz der Kriegsküchenaktion bis Ende des Jahres etappenweise erweitert. Zu Beginn des Jahres 1917 verfügten sechzehn der 21 Gemeindebezirke über eine bis drei Einrichtungen. In den darauffolgenden beiden Jahren nahm die Zahl der offenen Kriegsküchen um weitere vierzig Standorte zu. Die insgesamt 68 Kriegsküchen, deren Standorte allesamt ermittelt werden konnten845 , verteilten sich über das 840 Vgl. Die Gemeindeverwaltung der Bundeshauptstadt Wien in der Zeit vom 1. Juli 1919 bis 31. Dezember 1922 unter dem Bürgermeister Jakob Reumann, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1927, S. 754. 841 Vgl. Bericht Gewerbeinspektoren 1914, S. 605. Bericht Gewerbeinspektoren 1915, S. 572. Bericht Gewerbeinspektoren 1916, S. 486. Bericht Gewerbeinspektoren 1917, S. 206. Bericht Gewerbeinspektoren 1918, S. 200. 842 Vgl. Bericht Gewerbeinspektoren 1917, S. 204. 843 Popp, Adelheid: »Die Leistungen der österreichischen Arbeiterinnen für den Krieg«, in: ArbeiterZeitung, 23. März 1917. Dies. »Frauenarbeit und Arbeiterinnenschutz«, in: Arbeiter-Zeitung, 12. April 1917. 844 Vgl. Augeneder, Arbeiterinnen, S. 96f. »Eröffnung der Kriegsküche Nr. 24«, in: Reichspost, 19. Oktober 1916. 845 Siehe hierzu Tab. viii und Abb. ii im Anhang. Vgl. auch Anlage »Kriegsküchen« im Protokoll über die 53. Sitzung der Obmänner-Konferenz vom 12. September 1916. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/74.
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gesamte Stadtgebiet, wobei die bevölkerungsreichsten Bezirke in der Regel eine größere Anzahl von Kriegsküchen vorwiesen als die bevölkerungsärmeren.846 Zugleich waren die meisten Einrichtungen in den großen Wiener Außenbezirken vorzufinden. Die Errichtung und Eröffnung jeder einzelnen Kriegsküche war für die Stadtverwaltung mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden. In seiner Ansprache zur feierlichen Eröffnung der 50. Kriegsküche im Oktober 1917 brachte Bürgermeister Weiskirchner zum Ausdruck, dass das Ausmaß der städtischen Kriegsküchenaktion und das damit verbundene Engagement der Frauenhilfsaktion sowie der vielen tatkräftigen Vereine jegliche Erwartungen der Wiener Fürsorgezentrale übertroffen hatten.847 Nicht nur die wachsende Zahl der Kriegsküchen spiegelte die zunehmenden Anforderungen an die Stadt wider. Zugleich wurden auch vermehrt größere Einrichtungen mit einer höheren Leistungsfähigkeit in Stand gesetzt. So wurde die im Oktober 1916 eröffnete Kriegsküche Nr. 21 im Bezirk Landstraße in der Zeit als eine der schönsten und bis dahin größten Kriegsküchen hervorgehoben (Abb. 39).848 Die Einrichtung erstreckte sich auf drei Gassenläden und versorgte bis zu 2.000 Personen täglich. Wie stark die Leistungsfähigkeit der Kriegsküchen gesteigert wurde, veranschaulicht die ein Jahr später in Betrieb genommene Kriegsküche Nr. 52. Die in der Ottakringer Gablenzgasse gegenüber der Radetzkykaserne errichtete Großküche war auf die tägliche Versorgung von 8.000 Wienern ausgerichtet und damit die größte der Stadtküchen.849
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Sowie »Verzeichnis Kriegsküchen« im Protokoll über die 61. Sitzung der Obmänner-Konferenz vom 1. Dezember 1916, ebd. »Bericht des Bürgermeisters an den Stadtrat über die Gemeindeverwaltung bis Ende Dezember 1917 in der Sitzung des Wiener Stadtrates vom 8. Februar 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 12, 8. Februar 1918, S. 227–241, hier S. 229. »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 11. Dezember 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 101, 18. Dezember 1918, S. 2421–2457, hier S. 2421. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 44ff. K.k. Polizei-Direktion, Adressenverzeichnis vom 15. Mai 1917, S. 6. Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1917, Wien 1917, S. 888ff. Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1918, Wien 1918, S. 612ff. Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1919, Wien 1919, S. 491ff. »Die erste Kriegsküche im Prater«, in: Neues Wiener Tagblatt, 14. September 1918. »Neue Kriegsküchen«, in: Reichspost, 6. Dezember 1916. So waren in Favoriten insgesamt sieben, in Alsergrund sechs und in den Bezirken Leopoldstadt, Hietzing und Ottakring jeweils fünf Kriegsküchen zu verorten. Auch die Brigittenau verfügte über vier Kriegsküchen. Demgegenüber wiesen neben Simmering mit einer Kriegsküche die Bezirke Innere Stadt, Margareten, Josefstadt, Meidling, Rudolfsheim, Fünfhaus und Döbling jeweils zwei Kriegsküchenstandorte vor. Vgl. »Eröffnung der 50. Kriegsküche«, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. Oktober 1917. Vgl. »Neue Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 4. Oktober 1916. Vgl. »Die Kaiserin-Zita-Kriegsküche«, in: Reichspost, 8. November 1917.
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Abbildung 39: Schlange von Wartenden vor der Kriegsküche Nr. 21, Sophienbrückengasse 32 im 3. Wiener Gemeindebezirk
Foto: Ullstein.
Neben der Masse des zu versorgenden Speisepublikums setzten die Stadtverwaltung und Vereine ähnlich wie die Initiatoren der Gemeinschaftsküchen vermehrt auf die Ausrichtung einzelner Kriegsküchen auf ein bestimmtes Publikum. Fünf der Wiener Kriegsküchen wurden vornehmlich für die Versorgung der Straßenbahnangestellten eingerichtet.850 Über die »Straßenbahnhofskriegsküchen« hinaus entstand im Februar 1917 auf Betreiben des Vereines der Beamten der Stadt Wien in direkter Nachbarschaft zum Rathaus eine »Beamtenkriegsküche«: »Vor einigen Tagen wurde die von der Gemeinde errichtete Kriegsküche für die Landesund Gemeindeangestellten sowie für eine Reihe von Staatsbeamten, die in der Nähe des Rathauses ihren Amtssitz haben, im neuen Amtshause in der Felderstraße eröffnet. Die Küche ist eine der größten ihrer Art, es können dort gleichzeitig 2500 Mahlzeiten, das sind 7500 Portionen, hergestellt werden. Die Anlage besteht aus einem großen Speiseraum für Beamte und einem für Diener. Die Kochküche enthält einen
850 Die Kriegsküchen Nr. 14, 15, 26, 62 und 63 befanden sich in Wiener Straßenbahnhöfen. Von diesen ausgehend wurde das Personal der Wiener Straßenbahn versorgt. Vgl. hierzu »Kriegsküchen bei den städtischen Straßenbahnen«, in: Die Zeit, 1. Mai 1918.
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Riesengasherd, 7 Kochkessel und 2 große Back- und Bratschränke, in welch letzteren gleichzeitig 1600 Portionen gebacken oder gebraten werden können.«851 In dieser vom Wiener Beamtenverein geleiteten Küche und der dazugehörigen Filiale im Nachbarbezirk Josefstadt, erhielten alle legitimierten Teilnehmer für den Preis von rund zwei Kronen »ein reichlicheres Mittagessen« als in den anderen offenen Gemeindekriegsküchen.852 Ein weiterer Personenkreis, der im Zuge der Küchenneugründungen besondere Berücksichtigung erfuhr, waren die Reserveoffiziere. Der Verein der Reserveoffiziere, der die Familien der Reservisten und der invalid zurückgekehrten Offiziere unterstützte, eröffnete im November 1917 die Kriegsküche Nr. 51 in der Gastwirtschaft »Hamerlinghof« in Josefstadt, dem bis dahin letzten Bezirk ohne Gemeindekriegsküche.853 Ein Jahr später erfolgte die Inbetriebnahme einer weiteren Offizierskriegsküche (Nr. 67) durch den Verein der Reserveoffiziere. Bei der Errichtung der vielen Wiener Kriegsküchen, die oftmals in Anwesenheit zahlreicher und hoher Vertreter des Staates, der Statthalterei und der Gemeinde feierlich eröffnet wurden, erhielt die Gemeinde auch von Seiten des Kaiserhauses tatkräftige Unterstützung. Mit anhaltender Kriegsdauer und insbesondere seit der Thronbesteigung Karls i. wuchsen die kaiserlichen Anstrengungen für den Ausbau der Kriegsküchenaktion. Das Engagement des Herrscherhauses ergab sich nicht nur aus dem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein und der vielfach unter Beweis gestellten Nächstenliebe des Kaiserpaares, sondern war auch Ausdruck der Sorge um den Zustand der Habsburgermonarchie, deren Bevölkerung immer stärker von Unzufriedenheit und Desillusion erfasst wurde. Zur Förderung des Kriegsküchenwesens beauftragte der Kaiser die sozial engagierte Erzherzogin Isabella, sich diesem Zweig der Fürsorge verstärkt zuzuwenden.854 Diese suchte stets den Kontakt zur Bevölkerung und war nicht nur bei mehreren Kriegskücheneröffnungen zugegen. Ohne eine Benachrichtigung der Öffentlichkeit organisierte sie im Frühjahr 1917 eine Sammelaktion und stellte mit den Spenden des Wiener Hochadels die Kosten für mindestens fünfzehn Kriegs- und zwei Krankenküchen sicher. Zwischen November 1917 und August 1918 wurden zudem drei »KaiserinZita-Kriegsküchen« eröffnet, die auf Initiative der Kaisergemahlin entstanden.855 So lei-
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»Errichtung einer Kriegsküche für Beamte«, in: Der Bautechniker – Zentralorgan für das österreichische Bauwesen. Zeitschrift für Bau- und Verkehrswesen, Technik und Gewerbe, 37. Jahrgang, Wien 1917, S. 84. Vgl. auch »Eine Kriegsküche im Rathaus«, in: Reichspost, 10. Januar 1917. Vgl. »Bisher 33 Wiener Kriegsküchen«, in: Reichspost, 23. Februar 1917. Vgl. auch »Die erste Kriegsküche für den Mittelstand«, in: Neues Wiener Tagblatt, 27. Februar 1917. Vgl. »Die Kriegsküche der Reserve-Offiziere«, in: Fremdenblatt, 5. November 1917. »Eröffnung der Kriegsküche des Vereines der Reserveoffiziere in Wien«, in: Neue Freie Presse, 13. November 1917. Vgl. »Die Kriegsküchensorge«, in: Neues Wiener Tagblatt, 18. November 1917. Vgl. auch »Der Kaiser für die Errichtung von Kriegsküchen«, in: Neue Freie Presse, 12. Oktober 1917. »Eröffnung der Kriegsküche Nr. 38«, in: Reichspost, 24. April 1917. »Humanitäres Kriegsküchenwesen«, in: Österreichische Volkszeitung, 20. Oktober 1917. Vgl. u.a. »Die Kriegsküche der Kaiserin Zita«, in: Reichspost, 12. Oktober 1917. »Die Kaiserin-ZitaKriegsküche«, in: Reichspost, 8. November 1917. »Die Einweihung der Kaiserin-Zita-Kriegsküche in der Brigittenau«, in: Reichspost, 16. August 1918. Ferner »Kriegsküche für 8000 Personen«, in: Neues Wiener Tagblatt, 6. November 1917. »Die Eröffnung der Kaiserin Zita-Kriegsküche in der Brigittenau«, in: Neue Freie Presse, 20. August 1918.
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tete sie die Errichtung der oben genannten 52. offenen Kriegsküche in Ottakring in die Wege und begründete die Kriegsküchen Nr. 61 und Nr. 65, die sich in erster Linie an den Mittelstand richteten und täglich jeweils bis zu 3.000 Personen versorgten. »Bei der Eröffnung der neuen Kriegsküche in Wien-Währing […] spielten sich eine Reihe von Szenen ab, die zeigten, welche glückliche Gabe Kaiserin Zita in ihrem herzlichen, ungezwungenen Verkehr mit der Bevölkerung besitzt. Schon als die Kaiserin […] heranfuhr, brausten ihr aus der dichtgedrängten Menge stürmische Hochrufe entgegen, die sich bei ihrer Abfahrt wiederholten. Während ihrer Anwesenheit weilte die Kaiserin mitten unter den Gästen, die ihr Essen holten, und war stets im Gespräche mit jungen und alten Leuten, die sich um sie drängten und mit denen sie sich in trostreichen Worten über die Sorgen des täglichen Lebens unterhielt. Man sah und empfand, daß die Kaiserin mit ihrem ganzen Gefühl bei der Sache war, wie sie ja auch die Hilfe für die Kriegsküchen stets als eine ihrer Pflichten betrachtet und sich von den leitenden Komitees fortlaufend Berichte erstatten läßt.«856 Die kaiserliche Unterstützung für das wiederholt mit finanziellen Schwierigkeiten kämpfende Wiener Kriegsküchenwesen ergänzten zahlreiche Damen des Wiener Hochadels. Um die Schließung eines Teils der Kriegsküchen zu verhindern, organisierte die Wiener Aristokratie im Dezember 1917 einen Weihnachtsbasar in den Sälen des Prinz Eugen-Palais. Mit dem Verkauf von Modeartikeln, Spielzeug, Schokoladenpaketen, Tabakerzeugnissen und »kunst-gewerblichen Gegenständen« erzielten die Damen einen hohen Gewinn, der dem Fortbestand der Wiener Kriegsküchen zugutekam.857 Bis über das Ende des Krieges hinaus nahm die Zahl der Wiener Stadtküchen zu. Von den insgesamt 68 Kriegsküchen wurden sechzehn im letzten Kriegsjahr eröffnet. Davon nahmen zwei ihren Betrieb nach dem Waffenstillstand von Villa Giusti858 auf. Zusammen mit den zwei städtischen Krankenküchen, die im Dezember 1917 in Betrieb genommen wurden, und den zahlreichen Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen umfasste das Wiener Kriegsküchennetz gegen Kriegsende rund 300 Speiseeinrichtungen. Unter Berücksichtigung der unentgeltlichen Wiener Ausspeisestellen und der vielen vom Kriegsküchenerlass unberührt gebliebenen Speisebetriebe, die seit der ersten Kriegshälfte aktiv waren, lag die Gesamtzahl aller Wiener Speisegelegenheiten bei mehr als 500 Einrichtungen.859
856 »Die Kaiserin in der Währinger Kriegsküche«, in: Fremdenblatt, 27. April 1918. 857 Vgl. »Der Weihnachtsbasar für die Kriegsküchenaktion«, in: Neue Freie Presse, 8. Dezember 1917. »Der Weihnachtsbasar im Prinz Eugen-Palais«, in: Neue Freie Presse, 16. Dezember 1917. Siehe auch »Weihnachtsbasar zugunsten der Kriegsküchenaktion«, in: Reichspost, 13. Dezember 1917. 858 Das am 3. November 1918 geschlossene Waffenstillstandsabkommen von Villa Giusti zwischen Österreich-Ungarn und Italien sowie der Triple Entente beendete die Kampfhandlungen mit österreich-ungarischer Beteiligung. 859 Hierbei handelt es sich um eine Minimalschätzung. Nach einem Bericht der Österreichischen Volkszeitung zum Stand der Wiener Massenausspeisungen im Dezember 1917 musste der Umfang der Küchen humanitärer Vereine, Volksküchen, Suppen- und Teeanstalten sowie weiterer privater Ausspeisebetriebe beträchtlich gewesen sein. Vgl. »400.000 Kriegsküchenteilnehmer«, in: Österreichische Volkszeitung, 14. Dezember 1917.
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3.2.5 »Das Bedürfnis wächst täglich«: Die Inanspruchnahme der neuen Speisebetriebe Die kontinuierliche und starke Zunahme der Zahl der Wiener Speisebetriebe deutet daraufhin, dass der Bedarf nach dem öffentlichen Essen in der Bevölkerung unentwegt zunahm. Eine nähere Betrachtung der Entwicklung der Inanspruchnahme des öffentlichen Speiseangebots bestätigt diese Annahme. Anhand der städtischen Kriegsküchenaktion, für die allerhand Daten und Informationen zum Verlauf der Frequentierung der Küchen vorliegen, lässt sich dies sehr deutlich veranschaulichen.860 Die im Juli 1916 eingeführten Wiener Kriegsküchen verbuchten in den ersten Wochen ihres Bestehens einen »lebhaften Andrang« und wachsende Teilnehmerzahlen.861 Gegen Ende August/Anfang September aber stagnierten der Zulauf und die Neuanmeldungen. In Anbetracht der hohen Erwartungen der Kriegskücheninitiatoren nahm ein Teil der Presse den ausbleibenden Ansturm auf das städtische Essen zum Anlass, um erste Einschätzungen zur Kriegsküchenaktion zu veröffentlichen. Die Wiener seien, so urteilte Die Zeit, hinsichtlich ihrer »Gaumengenüsse« seit jeher wählerisch und dies habe sich auch während der Kriegszeit nicht geändert: »[… E]s ist [….] bedauerlich, daß Einrichtungen, die zur Speisung der minderbemittelten Bevölkerung Wiens geschaffen wurden, und in denen wenn auch nicht opulente, so doch billige Speisen geboten werden, nicht in dem Maße von der Bevölkerung in Anspruch genommen werden, wie es in der Berechnung der Gründer dieser Institution lag. Es kann freilich heute, nach kaum acht Wochen Funktion der Kriegsküchen, ein abschließendes Urteil über das Maß der Beteiligung der Bewohner Wiens an den Kriegsküchenausspeisungen nicht gefällt werden. Acht Wochen sind eine kurze Zeit. Das Publikum braucht länger, um sich an eine Neuheit zu gewöhnen, ›auf den richtigen Geschmack zu kommen‹ und Freund einer solchen Einrichtung zu werden.«862 Im selben Bericht ließ das Blatt auch den leitenden Verantwortlichen der Wiener Kriegsküchenaktion Dont zu Wort kommen, der das Ausbleiben der Neuanmeldungen als ein günstiges Zeichen für die Verhältnisse in der Bevölkerung wertete.863 Der Kriegsküchenkommissar betonte, dass die Kriegsküchen mit Blick auf spätere Zeiten eingerichtet worden seien, und benannte allerlei Gründe für das Stagnieren der Teilnehmerzahlen. Er war der Ansicht, dass die Wiener auch in ernsten Zeiten Feinschmecker seien, die hin und wieder Lust verspürten, woanders zu speisen. Während der Sommerwochen genüge vielen auch das kalte Mittagsmahl. Darüber hinaus schloss er nicht aus, dass sich die Familienverhältnisse zeitweise änderten. Hierbei verwies der Obermagistratsrat auf Familien, deren Familienoberhäupter auf Fronturlaub in Wien zugegen waren und in diesen Fällen oftmals die heimische Zubereitung der Speisen bevorzugt wurde. Dont zufol-
860 Hilfreiche Quellen waren u.a. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 47f. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 162f. 861 Vgl. WBD, Stimmungsberichte vom 3. August 1916, S. 9; und vom 10. August 1916, S. 2. Ferner »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 21. Juli 1916. 862 »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 15. September 1916. Ferner vgl. »Die Ausspeisungen in Wien«, in: Arbeiter-Zeitung, 20. September 1916. 863 Vgl. hierzu und zu den weiteren Ausführungen »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 15. September 1916.
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ge hielten sich während dieser Wochen auch noch viele Wiener auf dem Land auf. Er war zuversichtlich und rechnete fest mit einer zunehmenden Inanspruchnahme der Küchen während der folgenden Wintermonate.
Abbildung 40: Wöchentlich ausgegebene Portionen in den Wiener Kriegsküchen (Juli 1916-Feb. 1917)
Für die ersten drei Wochen nach der Eröffnung der Kriegsküchen liegen keine genauen Wochenangaben vor. Die Gesamtportionenzahl zwischen dem 17. Juli und dem 5. August 1916 wurde für die Abbildung gleichmäßig auf alle drei Wochen verteilt. Quellen: Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 47f. Vgl. auch mit leichten Abweichungen »Bericht des Bürgermeisters vom 16. August 1917«, S. 1633. »Bericht des Bürgermeisters vom 8. Februar 1918«, S. 229. »Bericht des Bürgermeisters vom 1. August 1918«, S. 1559.
Der Kriegsküchenchef sollte Recht behalten. Mit Beginn des Herbstes schossen die Anmeldungen, wie die Wienerin Marion Breiter bildhaft darlegt, »förmlich wie die Schwammerl aus dem Boden«864 . Zwar enthält das Quellenmaterial keine nennenswerten Daten über den Verlauf des Anmeldungsstandes in den Kriegsküchen, aber es liefert umfangreiche Informationen zur Entwicklung der Portionszahlen bis Februar 1917 (Abb. 40).865 Zwischen Mitte September und Dezember 1916 verdoppelte sich die Zahl der wöchentlich ausgegebenen Portionen von etwa 74.000 auf über 180.000. Während dieser Zeit verabreichten die Kriegsküchen demnach zwischen 10.500 und 25.700 Portionen täglich. In der zweiten Dezemberhälfte sanken die Ausgabezahlen zeitweilig auf etwa 120.000 Portionen pro Woche, was sich zum einen mit der Weihnachtszeit und zum anderen mit einer kurzweiligen Verbesserung der Lebensmittelversorgung erklären lässt.866 Unmittelbar danach nahm die Portionsausgabezahl rapide zu und
864 Breiter, Hinter der Front, S. 249. Ferner WBD, Stimmungsbericht vom 16. November 1916, S. 11. 865 Vgl. u.a. auch Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 47f. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass die Kriegsküchen in der Regel bis zu zwei Speisen anboten und die Speisegäste berechtigt waren, mehr als eine Portion pro Kriegsküchenbesuch zu erwerben. Die Zahl der ausgegebenen Portionen kann demzufolge nicht mit der Gesamtzahl der Küchenbesucher gleichgesetzt werden. Letztere wird stets niedriger ausgefallen sein. 866 Vgl. WBD, Stimmungsbericht vom 28. Dezember 1916, S. 1.
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stieg im Verlauf der schwierigen Winterwochen bis Mitte Februar 1917 auf über 315.000 Portionen pro Woche. Im Februar gelangten somit täglich rund 45.000 Portionen zur Ausgabe und damit war der Höhepunkt noch lange nicht erreicht. Von den angebotenen Speisen (Suppe, Gemüse- und Mehlspeise) wurde bis Februar 1917 das täglich angebotene und zugleich günstigste Suppengericht am häufigsten verkauft.867 Seltener gelangten hingegen die mit den Gemüsegerichten abwechselnden Mehlspeisen zur Ausgabe, was jedoch weniger auf die Vorlieben der Kriegsküchengäste als vielmehr auf die stets wiederkehrende Mehlknappheit zurückzuführen ist. Obwohl das Quellenmaterial für die Zeit nach Februar 1917 keine detaillierten Portionszahlen enthält, so lassen die Halbjahresangaben zur Zahl der ausgegebenen Portionen zwischen Januar 1917 und Dezember 1918 erkennen, dass die Kriegsküchen kontinuierlich steigenden Zulauf erfuhren.868 Danach verkauften die Wiener Kriegsküchen im ersten Halbjahr 1917 täglich durchschnittlich rund 62.000 Portionen und im zweiten Halbjahr 1917 rund 117.000 Portionen. Die starke Zunahme der verabreichten Portionen lässt sich nicht allein auf eine vermehrte Inanspruchnahme der Kriegsküchen zurückführen. Seit der Einführung der amtlichen Einkaufsscheine für nicht-rationierte Lebensmittel ab Juli 1917 waren die Küchenbesucher verpflichtet, stets beide angebotenen Speisen zu erwerben.869 Da jede Speise als Portion galt und nicht nachvollzogen werden kann, wie sich der Mehrportionenbezug bis zum Sommer 1917 gestaltete, muss von einer zwangsläufigen Vermehrung der Portionsausgabezahl infolge der neuen Speisebezugsregelung ausgegangen werden. Dass die Inanspruchnahme der öffentlichen Mittagsessen dennoch weiter anstieg, belegen die Portionszahlen für das Jahr 1918. Danach gaben die Kriegsküchen während des ersten Halbjahres täglich etwa 182.000 Portionen und im zweiten Halbjahr mehr als 245.000 Portionen aus. Insgesamt seien einem Bericht des Wiener Kriegsküchenchefs Dont zufolge im Sommer 1918 rund 130.000 Wiener pro Tag von den offenen Kriegsküchen versorgt worden.870 Mit der Eröffnung weiterer Kriegsküchen bis zum Ende des Jahres 1918 stieg die Zahl der Kriegsküchenbesucher weiter an. Nach Hans Löwenfeld-Russ (1873–1945), dem späteren Staatssekretär für Volksernährung, wurden die Wiener Kriegsküchen im letzten Kriegsjahr durchschnittlich von etwa 150.000 Personen täglich besucht.871 Die kontinuierlich zunehmende Frequentierung öffentlicher Speiseeinrichtungen während der zweiten Kriegshälfte blieb nicht auf die städtischen Kriegsküchen beschränkt. Auch die Wiener Gemeinschafts- und Betriebsküchen, für die das Quellenmaterial vergleichsweise wenig Informationen zur Entwicklung der Teilnahme- bzw. Portionszahlen enthält, erfuhren immer größeren Zulauf. Den halbjährlich erstatteten Berichten des Bürgermeisters an den Stadtrat ist zu entnehmen, dass sich die tägliche Teilnehmerzahl der Gemeinschaftsküchen zwischen dem Sommer 1917 und Sommer 867 868 869 870
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Vgl. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 47f. Vgl. auch Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 162f. Vgl. hierzu oben die Ausführungen zur Anm. 798 in Kapitel iii. Vgl. »Protokoll über die Sitzung des Ausschusses der Zentralstelle der Fürsorge für die Angehörigen der Einberufenen und für die durch den Krieg in Not Geratenen in Wien und Niederösterreich vom 24. Juli 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 74, 13. September 1918, S. 1840–1848, hier S. 1841. Vgl. Löwenfeld-Russ, Die Regelung, S. 354.
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1918 mehr als vervierfachte.872 Zählten die 47 Gemeinschaftsküchen im Juni 1917 täglich noch rund 23.230 Teilnehmer, besuchten im Dezember 1917 bereits 70.600 Wiener die mittlerweile mehr als 150 Gemeinschaftsspeisungen. Im Juni 1918 versorgten schließlich 227 Gemeinschaftsküchen insgesamt 95.110 Speiseteilnehmer pro Tag. Hinsichtlich der Inanspruchnahme der Wiener Betriebsküchen enthalten die Quellen kaum Informationen, die Aussagen über die generelle Entwicklung der Frequentierung in den Wiener Werks- und Fabrikkantinen zulassen. Nur für die Kantine der Ottakringer Tabakfabrik liegen jährlich dokumentierte Angaben über den Umfang des Besucherkreises vor, denen zufolge die Zahl der Kantinennutzer von 200 Arbeitern im Jahr 1914 auf 800 im Jahr 1918 zunahm.873 Entsprechend der allgemeinen Entwicklung zur vermehrten Frequentierung öffentlicher Speiseeinrichtungen in Wien erfuhr die Betriebsküche der Tabakfabrik die stärkste Steigerung der Inanspruchnahme im letzten Kriegsjahr. Es kann davon ausgegangen werden, dass dem Großteil der Wiener Betriebsküchen eine ähnlich starke Zunahme der Teilnehmerzahl widerfuhr. Neben den Besucher- bzw. Portionszahlen der Wiener Speiseeinrichtungen sprechen auch zahlreiche Berichte über die Abweisung zahlreicher Kostgänger in den Küchen für einen kontinuierlich wachsenden Bedarf nach öffentlichen Speiseangeboten. Zahlreiche Kriegs- und Gemeinschaftsküchen erreichten unmittelbar nach ihrer Eröffnung die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. »Wie stark das Bedürfnis des Mittelstandes und der Arbeiterschaft nach Teilnahme an einer Speisegemeinschaft ist«, heißt es in der Denkschrift der Regierungsbehörden über die im Krieg getroffenen staatlichen Maßnahmen, »geht daraus hervor, daß jeder neue Küchenbetrieb schon wenige Tage nach seiner Eröffnung für die Aufnahme weiterer Mitglieder gesperrt werden muss.«874 Der Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen beklagte im Rahmen seiner Hauptversammlung Ende Juni 1918, dass der Verein seit der Eröffnung seiner ersten Gemeinschaftsküchen im März 1917 rund 28.000 Interessenten abweisen musste.875 Ende des Jahres 1918 schrieb die Sekretärin des Zentralverbandes der Gemeinschafts- und Kriegsküchen in Wien und Niederösterreich Valerie Adler (1882–1969) in einem Artikel der Zeit: »Das Bedürfnis nach Küchen wuchs und wächst täglich, und Küchen für alle Kategorien des Mittelstandes wurden und werden eröffnet, ohne jedoch dem Andrang der Teilnehmer auch nur annährend zu entsprechen.«876 Die Bemühungen zur Eröffnung weiterer Gemeinschaftsküchen seien der Autorin zufolge stets vorhanden gewesen, doch scheiterten die Neugründungen oftmals »an den schier unüberwind-
872 Vgl. »Bericht des Bürgermeisters vom 16. August 1917«, S. 1633. »Bericht des Bürgermeisters vom 8. Februar 1918«, S. 229. Sowie »Bericht des Bürgermeisters an den Stadtrat über die Gemeindeverwaltung bis Ende Juni 1918 in der Sitzung des Wiener Stadtrates vom 1. August 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 62, 2. August 1918, S. 1557–1574, hier S. 1559. 873 Vgl. hierzu oben die Ausführungen zur Anm. 841 in Kapitel iii. 874 Denkschrift, Vierter Teil, S. 274. Vgl. auch »Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 15. April 1917. Sowie »Eröffnung der Gemeinschaftsküche ›Emilienhof‹«, in: Neues Wiener Tagblatt, 12. April 1917. 875 Vgl. »Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen«, in: Neue Freie Presse, 1. Juli 1918. 876 »Die Gemeinschaftsküche«, in: Die Zeit, 29. Dezember 1918. Vgl. auch »Zehn Jahre Gemeinschaftsküchen«, in: Das interessante Blatt 45, 11. November 1926.
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lichen Schwierigkeiten der Beschaffung von Kesseln, Service und Inventar«877 . Hinzu kam der Lebensmittelmangel, der den an sich schon nicht ausreichenden Kapazitäten häufig zusätzlich Grenzen setzte. So mussten nach den Stimmungsberichten der Wiener Polizeidirektion während des Versorgungsnotstandes im März 1917 zeitweilig auch mehr als die Hälfte der städtischen Kriegsküchen die Aufnahme neuer Gäste sperren.878 Waren die Versorgungsschwierigkeiten besonders stark, wichen viele Speisewillige auf die zahlreichen eigenständig arbeitenden Wiener Volksküchen und Suppen- und Teeanstalten aus. Diese für alle offenen und vom Kriegsküchenerlass nicht betroffenen Speiseeinrichtungen verfügten im Gegensatz zu den Kriegs- und Gemeinschaftsküchen über keine festgelegte Teilnehmerzahl. Vom Lebensmittelmangel waren die alternativen Speiselokalitäten jedoch in gleicher Weise betroffen, sodass auch diese Einrichtungen während der schlimmsten Krisenzeiten täglich Tausende Besucher ohne Mittagessen fortschicken mussten.879 Als Wien im Juni 1918 eine der schwersten Versorgungskrisen bevorstand, kamen die Staatsregierung und das Kaiserhaus nicht umhin, der Gemeinde unter die Arme zu greifen und auf die fehlenden Kapazitäten in den Kriegsküchen zu reagieren. Infolge der Kürzung der Brotration schlug der Vorsitzende des »Gemeinsamen Ernährungsausschusses« General Ottokar Landwehr von Pragenau (1868–1944) dem Kaiser vor, eine Ausspeisungsaktion für die am schwersten von der Rationskürzung betroffenen Wiener in die Wege zu leiten.880 Mit dem kaiserlichen Auftrag zur raschen Umsetzung der Hilfsaktion beriet sich der Generalmajor am 22. Juni 1918 u.a. mit dem Minister und Leiter des Amtes für Volksernährung Ludwig Paul (1864–1920), Weiskirchner und dem Wiener Magistrat. Gemeinsam fassten sie den Beschluss, die bestehenden städtischen Kriegsküchen für die Dauer der Brotkürzung in dreierlei Hinsicht zu erweitern: »Die Zahl der bisher von diesen Küchen ausgespeisten Personen soll vermehrt, gleichzeitig sollen die den einzelnen Personen gewährten Portionen erheblich vergrößert, und endlich soll im Interesse der Leute, die mittags nicht abkommen können, in stärkerem Maße für Nachtessen gesorgt werden.«881 Da die verantwortlichen Staats- und Gemeindevertreter eine Erhöhung der Zahl der Kriegsküchenbesucher von 100.000 bis 150.000 Personen für möglich hielten, sollten die 64 Gemeindekriegsküchen umfassende Unterstützung vom Kriegsministerium erhalten. Jeder Kriegsküche wurde eine militärische Fahrküche zugeteilt, die in den Höfen der Küchen in Reserve gehalten wurden. Zur Verstärkung des Kriegsküchenpersonals wurden mit jeder Fahrküche außerdem ein Militärkoch und zwei militärische 877 Ebd. Der Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen äußerte sich hierzu in ähnlicher Weise. Vgl. »Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen«, in: Neue Freie Presse, 1. Juli 1918. 878 Vgl. WBD, Stimmungsberichte vom 8. März 1917, S. 13; 15. März 1917, S. 17; und 29. März 1917, S. 8. 879 Vgl. ebd. Vgl. auch die Stimmungsberichte vom 1. März 1917, S. 10; und 22. März 1917, S. 8. Ausführlicher zu den alternativen Volksküchen und Suppenanstalten in Kapitel iii, Abschnitt 3.3. 880 Vgl. u.a. Landwehr von Pragenau, Hunger, 235. »Eine Ausspeisungsaktion«, in: Neues Wiener Tagblatt, 23. Juni 1918. »Eine neue Hilfsaktion für Wien«, in: Neue Freie Presse, 22. Juni 1918. Zum »Gemeinsamen Ernährungsausschuss« siehe oben Kapitel iii, Anm. 228. 881 »Eine Ausspeisungsaktion«, in: Neues Wiener Tagblatt, 23. Juni 1918.
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Hilfskräfte entsendet.882 Während das Amt für Volksernährung in Zusammenarbeit mit der »Oezeg«883 für die Sicherstellung und Herbeischaffung der Lebensmittel Sorge trug, übernahmen Weiskirchner und der Kriegsküchenkommissar Dont die lokale Leitung der Fahrküchenaktion, die weitgehend mit staatlichen Zuschüssen finanziert und allen Wienern gleichermaßen zur Verfügung gestellt wurde. Umgehend leitete das Wiener Kriegsküchenkommissariat die erforderlichen Maßnahmen für die Anmeldungen neuer Teilnehmer ein. Keine vier Tage nach der Beschlussfassung der Staats- und Gemeindevertreter berichtete Der Neue Abend bezugnehmend auf eine Mitteilung des Rathauses, dass die Zahl der Neuangemeldeten bereits eine namhafte sei.884 Der Großteil der neuen Teilnehmer meldete sich in den großen bevölkerungsreichen Wiener Außenbezirken und damit zugleich in jenen Stadtteilen an, wo die meisten Kriegsküchen vorzufinden waren. Die Zeit berichtete: »Wie es ja aus der verschiedenartigen wirtschaftlichen Zusammensetzung der Bevölkerungsschichten der einzelnen Stadtteile sich leicht erklären läßt, ist die Zahl der Anmeldungen in den einzelnen Bezirken eine durchaus verschiedene. Geradezu stürmischer Andrang herrschte gestern bei den Anmeldestellen in Ottakring, wo die weitaus stärkste Nachfrage nach der Massenausspeisung zu beobachten ist.«885 Um allen Speisewilligen eine Mahlzeit zu ermöglichen, konnten sich die Wiener nur für eine Mahlzeit pro Tag, d.h. die Mittags- oder die neueingeführte Abendspeisung, anmelden. Dont plante die bereits in Betrieb stehenden Kocheinrichtungen der öffentlichen Kriegsküchen zunächst voll auszunutzen. Da nicht ausreichend Lebensmittel vorhanden waren, sei dies seinen Aussagen zufolge in den ersten Wochen nach der Einleitung der Aktion nicht möglich gewesen.886 Dennoch gelang es der Stadt, mit der »Betriebserhöhung« ihrer Kriegsküchen auf den Mehrbedarf zu reagieren. Die akquirierten Fahrküchen fanden nach den Ausführungen des Wiener Kriegsküchenkommissars kaum Verwendung. Die Kriegsküchen schafften es innerhalb eines Monats nahezu im Alleingang täglich rund 87.000 Portionen mehr auszugeben.887 Durch die anhaltenden Versorgungsschwierigkeiten erhielten die Kriegsküchen auch nach der Anhebung der Brotration den erhöhten Betrieb aufrecht. Nachdem die Kaiserin bereits bei mehreren Kriegskücheneröffnungen wiederholt präsent war, nahm auch der Kaiser seine Hilfsaktion zum Anlass für Kriegsküchenbe-
Vgl. ebd. Sowie »Die Volksausspeisung«, in: Der Neue Abend, 26. Juni 1918. Näheres hierzu oben Kapitel iii, Anm. 709. Vgl. »Die Volksausspeisung«, in: Der Neue Abend, 26. Juni 1918. »Die Ausspeiseaktion«, in: Die Zeit, 26. Juni 1918. Vgl. »Erweiterung der Kriegsküchen wegen der Brotkürzung«, in: Neues Wiener Journal, 9. Juli 1918. Das Neue Wiener Tagblatt erörterte das Problem der Lebensmittelbeschaffung und die Fraglichkeit seiner Lösung in Anbetracht des enormen Mehrbedarfs bereits vor Beginn der Fahrküchenaktion. Vgl. »Eine Ausspeisungsaktion«, in: Neues Wiener Tagblatt, 23. Juni 1918. 887 In der Woche vom 9. bis 15. Juni 1918 gaben die bis dahin bestehenden 61 Kriegsküchen 1.428.327 Speiseportionen aus. Einen Monat darauf waren 64 Kriegsküchen in Betrieb, die in der Woche vom 7. bis 13. Juli insgesamt 2.034.235 Portionen ausgaben. Dont zufolge setzte die erhöhte Inanspruchnahme unmittelbar nach dem 24. Juni 1918 ein. Vgl. »Die Betriebserhöhung der Kriegsküchen«, in: Neues Wiener Journal, 18. August 1918. 882 883 884 885 886
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sichtigungen. »[… U]m der Bevölkerung zu zeigen, daß diese Aktion nicht nur unter seiner Ägyde unternommen worden sei, sondern daß er sich auch persönlich um den Erfolg bemühe«888 , besuchte Karl i. auf Anraten Landwehr von Pragenaus im Sommer 1918 mehrere Wiener Kriegsküchen (Abb. 41). Medial begleitet nutzten er und Kaiserin Zita die Gelegenheit, in direkten Kontakt zu den Wienern zu treten, die immer weniger Sympathien für die Monarchie aufbrachten. Dabei versuchte das junge Kaiserpaar »Ruhe, Harmonie und Sicherheit im tatsächlichen Chaos zu vermitteln«889 . Den Presseberichten zufolge seien beide während ihrer Kriegsküchenbesuche stets von großen Menschenmengen herzlich empfangen und von Hochrufen begleitet worden. »Der Rundgang [des Kaiserpaares] durch die engen Räume des alten, schon recht windschiefen Hauses [… in Döbling], erfolgte wieder mit jener ungezwungenen, jegliche Steifheit außeracht lassenden Natürlichkeit, mit der der Kaiser bei solchen Gelegenheiten stets auftritt. Es entsteht da sehr rasch ein Kontakt zwischen Menge und Monarch, und die gewisse Atmosphäre, die man, in alte Vorurteile verfangen, um den Kaiser vermutet, wird durch viel Herzlichkeit und Ungezwungenheit sofort gesprengt. Die Leute wenden sich ungescheut an den Monarchen, sehen in ihm nur die höchste Instanz, kompetent für all ihre Leiden und Sorgen. Es ist keine Spur von Befangenheit in ihnen, nur ein unerschütterliches Bewußtsein: hier findet jedes Wort ein Echo!«890 Trotz der schwierigen Versorgungslage und der Sorge vor möglichen Zusammenstößen mit darbenden Wienern, Kriegsgegnern oder »radikalen Sozialisten« kam es während der Kaiserbesuche in den Kriegsküchen in den Wiener Arbeitervierteln zu keinerlei Zwischenfällen. »The table where they ate, always a place which in a curious way combined misery and authority for working-class people«, resümiert Sieder, »was evidently, even in the dire situation of the second half of 1918, still not a scene of revolt against the crumbling old order and its highest representatives.«891
888 Landwehr von Pragenau, Hunger, S. 236. 889 Moser, Karin: »Der idealisierte Führer und Monarch Kaiser Karl im Film – christlich, familiär, uniformiert«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/der-idealisierte-fuehrer-und-monarch-kaiser-karl-im -film-christlich-familiaer-uniformiert (07.08. 2020). 890 »Das Kaiserpaar in der Döblinger Kriegsküche«, in: Die Zeit, 6. Juli 1918. Vgl. auch »Besuch des Kaisers in einer Kriegsküche in Favoriten«, in: Neue Freie Presse, 3. Juli 1918. »Der Besuch des Kaiserpaares in der Kriegsküche in der Thaliastraße«, in: Neue Freie Presse, 12. Juli 1918. Sowie »Besuch des Kaisers in einer Kriegsküche«, in: Neues Wiener Tagblatt, 3. Juli 1918. 891 Sieder, Behind the lines, S. 126. Vgl. auch Landwehr von Pragenau, Hunger, S. 236.
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Abbildung 41: Das Kaiserpaar zu Besuch in den Kriegsküchen (1918)
Tageszeitungen und Illustrierte berichteten über die Kriegsküchenbesuche des Kaisers. Abbildungen aus Österreichs Illustrierte Zeitung 40, 07. Juli 1918, S. 673 (rechts); Österreichs Illustrierte Zeitung 41, 14. Juli 1918, S. 681 (links). Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, ANNO Austrian Newspapers Online.
3.2.6 Feinschmecker in ernsten Zeiten: Kriegsküchenklagen und Ungerechtigkeiten Die weitgehend zurückgehaltenen Unmutsäußerungen der Kriegsküchenbesucher in Gegenwart des Kaisers und die kontinuierliche Zunahme der Teilnehmerzahlen in den Wiener Speiseeinrichtungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein beträchtlicher Teil der Kostgänger mit den öffentlichen Speiseangeboten unzufrieden war. Vor allem die städtischen Kriegsküchen waren immer wieder scharfer Kritik ausgesetzt, die gelegentlich auch von einzelnen Wiener Tageszeitungen aufgegriffen wurde. Die Klagen über die schlechte Qualität des Essens gingen Hand in Hand mit der zunehmenden Verschlechterung der Lebensmittelversorgungslage. Über die Speisen einer Wiener Kriegsküche beschwerte sich z.B. die Arbeiter-Zeitung im August 1918: »Die Suppe bestand aus einer bitteren Flüssigkeit, die eher als ein schmutziges Wasser bezeichnet werden könnte. Die zweite ›Speise‹, sogenannter ›Schirok‹, sah aus, wie wenn man Hanfkörner im Wasser kocht, und war schon nach dem Geruch ekelerregend. Etwas anderes als Dörrgemüse oder schlechtes Kraut bekommen die Leute überhaupt nicht […]. Man weiß schon, daß die Kriegsküchen nicht für verwöhnte Gaumen sein können: aber wie bei einem derartigen Schlangenfraß die Leute noch arbeiten sollen, darüber sollte man sich doch Rechenschaft geben. Bei einer solchen Kost ›durchzuhalten‹ ist etwas viel verlangt.«892
892 »Die Kriegsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 13. August 1918. Vgl. auch Healy, Am Pranger, S. 196. Sowie »Das Essen aus den Kriegsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 10. September 1918. »Klagen über die Kriegsküchen«, in: Der Neue Abend, 28. Juni 1918. Siehe auch vielmehr verteidigend als kritisierend »Von der Zita-Kriegsküche in Ottakring«, in: Reichspost, 7. August 1918. Wie unter Abschnitt 3.2.1. dargelegt wurde, ließ die Qualität des Essens aus Sicht der Teilnehmer in einigen Kriegsküchen
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Die Kriegsküchenklagen, die sich häufig auf einzelne Küchen bezogen, beschränkten sich aber nicht allein auf die minderwertige Qualität der verabreichten Speisen. Im Mittelpunkt der Kritik standen sehr oft die hohen Preise der Mahlzeiten, die viele Familien häufig nicht aufbringen konnten.893 Des Weiteren wurden einige Kriegsküchen für ihre unzureichende Ausstattung mit Sitzplätzen oder ihre mangelhafte Hygiene kritisiert.894 Vielfach bemängelt wurde auch das »unhöfliche Benehmen« und die »selbstherrliche Schreckensherrschaft« des Kriegsküchenpersonals gegenüber den Speiseteilnehmern.895 Gleichfalls wurde einigen Küchenverwaltungen und deren Köchinnen wiederholt vorgeworfen, nicht in ausreichenden Mengen zu kochen. Im ersten Jahr des Bestehens der Kriegsküchen war dies vor allem auf den Mehrportionenbezug zurückzuführen, der insbesondere von Soldaten in Anspruch genommen wurde. Im Januar 1917 hielt die Wiener Polizeidirektion in ihrem Stimmungsbericht fest: »Die Kriegsküchen weisen weiter einen lebhaften Verkehr von Militärpersonen auf. Da diese in der Lage sind, früher zu erscheinen, als die Arbeiter aus den verschiedenen Betrieben, so essen sie den Zivil-Arbeitern die Fleisch- und Mehlspeisenportionen weg, so dass für die letzteren oft nur Suppe und Gemüse übrig bleibt.«896 Es kam wiederholt vor, dass nicht alle der angemeldeten Teilnehmer versorgt werden konnten. Die Ursache hierfür waren nicht immer unzureichend zubereitete Speisemengen. Es gab auch Kriegsküchen, in denen der Betrieb zeitweise so langsam vonstattenging, dass die Mittagspausen der angemeldeten Speisewilligen nicht ausreichten und sie die Kriegsküche bzw. Warteschlange noch vor Entgegennahme ihres Essens wieder verlassen mussten.897 Die Arbeiter-Zeitung, die von allen Wiener Tageszeitungen am lautesten im Namen der Kriegsküchenbesucher sprach, forderte im April 1917 mehr Einheitlichkeit und Zuverlässigkeit bei der Speisenzubereitung in den Stadtküchen. Vom Wiener Magistrat
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bereits viel früher zu wünschen übrig. Siehe hierzu oben Kapitel iii, Anm. 740. Vgl. auch »Kriegsküche Nr. 27«, in: Arbeiter-Zeitung, 11. April 1917. WBD, Stimmungsbericht vom 28. Juni 1917, S. 6. Vgl. »Massenspeisung und Hauskost«, in: Arbeiter-Zeitung, 11. November 1916. Sowie WBD, Stimmungsberichte vom 8. Februar 1917, S. 12; und 28. Juni 1917, S. 6. Vgl. »Bericht über die öffentliche Sitzung der Bezirksvertretung Rudolfsheim vom 27. Juni 1917«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 26 (1917), Nr. 70, 31. August 1917, S. 1739–1740, hier S. 1740. Vgl. auch »Klagen über die Kriegsküchen«, in: Der Neue Abend, 28. Juni 1918. Vgl. »Kriegsküche Nr. 27«, in: Arbeiter-Zeitung, 11. April 1917. »Beschwerden über die Kriegsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 14. August 1917. WBD, Stimmungsbericht vom 25. Januar 1917, S. 8. Zahlreiche weitere Stimmungsberichte thematisierten die anhaltende Anwesenheit der Soldaten in den Kriegsküchen. Vgl. WBD, Stimmungsberichte vom 19. Oktober 1916, S. 10; 16. November 1916, S. 11; 18. Januar 1917, S. 11; 1. Februar 1917, S. 11. Auch in den Speisestellen der Wiener Ausspeisungsaktion wurden viele Soldaten gesehen. Vgl. u.a. Stimmungsberichte vom 23. Februar 1917, S. 9; und 1. März 1917, S. 9. Ab Mitte Februar 1917 wurde die Speiseausgabe für Militärpersonen allmählich eingeschränkt. Vgl. Stimmungsberichte vom 15. Februar 1917, S. 11. Im März wurde den Militärpersonen der Besuch der Kriegsküchen verboten. Vgl. »Verbot des Besuches von Volksküchen durch Militärpersonen«, in: Neue Freie Presse, 3. März 1917. Vgl. »Kriegsküche Nr. 27«, in: Arbeiter-Zeitung, 11. April 1917. »Beschwerden über die Kriegsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 14. August 1917. Ferner »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 27. März 1917.
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verlangte das sozialdemokratische Blatt ein verstärktes Vorgehen gegen den »Kochlöffelabsolutismus« und die Kontrolle der Vorgänge in den einzelnen Speiseeinrichtungen.898 Zumeist verteidigte die Stadtverwaltung die jeweils kritisierten Küchenverwaltungen, verwies dabei auf die schwierigen Verhältnisse, unter denen die Küchen arbeiteten, und versuchte in der Regel den Missständen auf den Grund zu gehen.899 Schließlich, so geht aus einem Artikel der Zeit hervor, richteten Dont und sein Kriegsküchenkommissariat im Februar 1918 auch ein Kontrollgremium für die Kriegsküchen ein. Fortan fungierten zwei Kochlehrerinnen und zwei Buchhalterinnen als Kücheninspektorinnen, die die Beaufsichtigung und Kontrolle der städtischen Küchen übernahmen.900 Da die Kritik an den Kriegsküchen nicht verstummte, ist anzunehmen, dass die Tätigkeit der Inspektorinnen nur in geringem Maß zur Verbesserung bzw. Angleichung der Verhältnisse in den Kriegsküchen beitrug. Im Juni 1918 beklagte Der Neue Abend nach wie vor den »Ruf von ›guten‹ und ›schlechten‹ Küchen« und benannte eine Reihe von Standorten, die durch mangelhafte Sorgfalt bei der Speisezubereitung auffielen.901 Ebenso wie die kommunalen Kriegsküchen mussten sich auch die beliebteren Wiener Gemeinschaftsküchen wiederholt mit Beschwerden auseinandersetzen. Gegenüber den offenen Kriegsküchen fiel die Kritik aus dem Speisepublikum der Gemeinschaftsküchen, das mehrheitlich von der finanzschwachen »kunterbunt zusammengewürfelten«902 Intelligenz gebildet wurde, vergleichsweise mager aus.903 Die größte Kritik erfuhren die Gemeinschaftsküchen von außen und dabei aus jenen Kreisen, die den Gemeinschaftsküchen nicht allzu wohlgesonnen gegenüberstanden. Hierzu gehörten erwartungsgemäß jene Wiener, die nicht zum Zielpublikum der Gemeinschaftsküchen gehörten, aber auch und vor allem (kommunalpolitische) Verfechter der gleichmäßigen und gerechten Lebensmittelverteilung. So gab es trotz der bevorzugten Belieferung der Gemeinschafts- und Kriegsküchen mit rationierten Lebensmitteln vereinzelte Gemeinschaftsspeisungen, die in Hinblick auf die wachsende Not mit eindrucksvollen Speisezetteln auffielen. Nach Angaben der Arbeiter-Zeitung konnten z.B. die Offiziersund Beamtenspeisesäle des k.u.k. Kriegsministeriums in Wien im Januar 1918 mit einer Speisefolge aufwarten, die sich ausschließlich aus Fleischgerichten zusammensetz-
898 Vgl. »Kriegsküche Nr. 27«, in: Arbeiter-Zeitung, 11. April 1917. 899 Vgl. u.a. Protokoll über die 73. Sitzung der Obmänner-Konferenz vom 18. April 1917, S. 25f. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/75. Sowie »Die Kriegsküchen der Gemeinde«, in: Der Abend, 27. Juli 1917. 900 Vgl. »Kücheninspektorinnen für die Wiener Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 21. Februar 1918. 901 Vgl. »Klagen über die Kriegsküchen«, in: Der Neue Abend, 28. Juni 1918. Vgl. u.a. auch »Die Speisen aus Czirok in den Kriegsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 16. Mai 1918. Sowie »Bericht über die 94. Obmänner-Konferenz vom 14. Mai 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 73, 10. September 1918, S. 1804–1812, hier S. 1809. 902 »Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 15. April 1917. Vgl. auch »Kriegsrestaurants«, in: Fremdenblatt, 22. April 1917. »In der Wiener Gemeinschaftsküche«, in: Fremdenblatt, 17. Februar 1918. 903 Der Tagespresse waren kaum kritische Stimmen aus dem Kreis der Gemeinschaftsküchenteilnehmer zu entnehmen. In Einzelfällen wurden die Speisepreise für zu hoch empfunden oder die Quantität und Qualität der Speisen als unzureichend bewertet. Vgl. z.B. »Die Gemeinschaftsküchen und der Mittelstand«, in: Österreichische Volkszeitung, 24. Januar 1917. »Obligatorische Gemeinschaftsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 18. Mai 1918.
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te.904 Demgegenüber konnten die meisten Kriegs- und Gemeinschaftsküchen von Glück reden, wenn sie wenigstens ab und zu ein Fleischgericht anbieten konnten. Im Gegensatz zu den wenigen Gemeinschaftsspeisungen mit üppigen Speiseangeboten, die das Bild von der Gemeinschaftsküche als allgemein »bessere Küche« schärften, kämpfte der Großteil der anderen Gemeinschaftseinrichtungen mit ausbleibenden Lebensmittellieferungen und damit auch um ihre Existenz.905 Im April 1918 sahen sich schließlich alle Wiener Gemeinschaftsküchen dem Vorwurf ausgesetzt, die Doppelversorgung mit Fleisch zu begünstigen. Infolge einer Anfrage des christlichsozialen Gemeinderats Leopold Kunschak (1871–1953) in der Gemeinderatssitzung vom 10. April wurde publik, dass den Teilnehmern der Wiener Gemeinschafts-, Anstaltsund Betriebsküchen mehr Fleisch zur Verfügung gestanden habe als den Kriegsküchenteilnehmern und jenen Wienern, die keine öffentliche Speiseanstalt in Anspruch nahmen. Nach Weiskirchner, der für »eine gleichmäßige und gerechte Verteilung aller vorhandenen Lebensmittel«906 eintrat, erhielten die Besucher der Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen neben den regulären wöchentlichen zwanzig Dekagramm Rindfleisch, die (sofern verfügbar) mit Einkaufsscheinen erworben werden konnten, mit dem Gemeinschaftsküchenessen weitere fünfzig Dekagramm Rindfleisch pro Woche. Kunschak bezeichnete die Fleischrationen der Gemeinschaftsküchen als »unerhörten Skandal« und betonte, dass längst nicht alle der Küchen »wirklich Bedürftigen« dienten und diese oftmals von Personen in Anspruch genommen wurden, die auf eine doppelte Versorgung abzielten.907 Die Organisatoren der Gemeinschaftsküchen verteidigten sich gegen die Vorwürfe und wiesen darauf hin, dass die ihnen zugeteilten Fleischmengen keineswegs volle fünfzig Dekagramm pro Kopf umfassten. Gleichfalls wurde hervorgehoben, dass die offiziellen Zuweisungen an Lebensmitteln »absolut unzureichend« seien und die Gemeinschaftsküchen »weder Mehl, noch Kartoffeln, noch auch Eier oder Fettstoffe oder gar Obst in halbwegs ausreichendem Maße«908 erhielten. Von Seiten der ROHÖ wurde betont, dass es sich mit der Fleischversorgung in den Gemeinschaftsküchen nicht anders verhielte als in den Gastwirtschaften, denen das Rathaus eine vergleichbare Aufmerksamkeit entgegenbringen sollte.909 Im dem der ROHÖ nahestehenden Wochenblatt Der Morgen wurde die »kommunale Wirthauspolitik« offen angeprangert:
904 Vgl. »Speisezettel einer Gemeinschaftsküche«, in: Arbeiter-Zeitung, 1. März 1918. 905 Vgl. »Bedrohung der Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 13. April 1918. Über die Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung in den Gemeinschaftsküchen äußerte sich auch Schwarzwald rückblickend im Artikel »Undankbare Arbeit« in der Neuen Freien Presse vom 15. März 1925. Vgl. hierzu Deichmann, Hans: Leben mit provisorischer Genehmigung. Leben, Werk und Exil von Dr. Eugenie Schwarzwald, Wien 1988, S. 160–182, hier S. 161. 906 »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeindesrates der k.k. Reichshauptund Residenzstadt Wien vom 10. April 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 31, 16. April 1918, S. 691–714, hier S. 695. 907 Vgl. »Die Belieferung der Gemeinschaftsküchen in den Konsumentenorganisationen«, in: Österreichische Volkszeitung, 11. April 1918. Sowie »Gemeinschaftsküche und Volksernährung«, in: Reichspost, 14. April 1918. »Die Wirtschaftsfragen«, in: Reichspost, 18. April 1918. 908 »Bedrohung der Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 13. April 1918. 909 Vgl. »Kommunale Wirtshauspolitik«, in: Der Morgen, 15. April 1918.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
»Die Leitungen der Gemeinschaftsküchen beklagen sich schon lange, daß sie mit allen Lebensmitteln, deren Verteilung der Gemeinde obliegt, ganz unverhältnismäßig kurz gehalten werden. Daß man von ihnen in der rigorosesten Weise die Abgabe der Fett-, Mehl-, Kartoffel-, Zuckerkarten usw. verlangt, während man in allen Gasthäusern ohne diese Karten essen kann so viel man will, wenn man das dazu nötige Geld hat.«910 In einer vom Rathaus angestrebten Kürzung der Fleischration in den Gemeinschaftsküchen sah das Blatt eine Bevorzugung der Gasthäuser, die »überdies die Möglichkeit haben, sich für teueres Geld die nichtrationierten Fleischsorten zu verschaffen, was die Gemeinschaftsküchen natürlich nicht können«911 . Ähnliche Verlautbarungen kamen aus den Reihen der Sozialdemokraten.912 Diese waren zwar keine Verfechter der Gemeinschaftsküche, sahen sich aber mit Blick auf die ebenso betroffenen Betriebsküchen und Konsumentenorganisationen, die nach Weiskirchner gleichfalls bevorzugt mit höheren Fleischrationen beliefert wurden,913 zum Handeln veranlasst. Die Arbeiter-Zeitung stellte klar, dass sich das Vorgehen der Stadtverwaltung nicht nur gegen in Not geratene Wiener richtete, sondern auch negativ auf das weitere Bestehen der Gemeinschaftsküchen auswirke: »Herrn Weiskirchner und seinen Parteifreunden im Rathause […] ist es ganz gleichgültig, daß sich so viele Angestellte und Beamte in den Gemeinschaftsküchen wegen ihres kleinen Einkommens, das mit der Teuerung nicht Schritt hielt, künftig mit einer Kost begnügen müssen, die sie weder sättigt noch ihre Arbeitsfähigkeit erhält. Die Freunde des Mittelstandes, als die sich die Christlichsozialen so oft ausgeben, haben einen Schlag gegen die Kriegsküchen des Mittelstandes geführt, den deren Besucher nicht werden verwinden können. Die Kriegs- und Gemeinschaftsküchen werden ihren Betrieb einstellen müssen. Das ist den Rathausgewaltigen ganz gleichgültig. Mag der Arbeiter oder der Beamte hungern, wenn nur die Restaurants leben und im Schleichhandel weiter die Zahlungskräftigen sättigen können.«914 Auch wenn diese Vorwürfe an die Rathausspitze zum Teil sehr überspitzt formuliert waren, kamen diese nicht von ungefähr. Eine Benachteiligung der Besucher der öffentlichen Küchen nahmen die Wiener Küchenbetreiber und ihre Fürsprecher bereits seit Mitte des Jahres 1917 wahr. Infolge der im Juni 1917 neu eingeführten Mehlabgaberegelung mussten alle Speiseteilnehmer in den meisten der öffentlichen Küchen wöchentlich bis zu fünf Mehlmarken und bald darauf auch bis zu drei Fettmarken abgeben.915 Diese Regelung, die einer Doppelversorgung entgegenwirken sollte, galt jedoch nicht für die Gäste der Wirts- und Gasthäuser, in denen die Speisen weiterhin ohne Vorlage der Bezugskarten ausgegeben wurden. Die Bevorzugung der Gastwirtschaften nahmen die
910 Ebd. 911 Ebd. 912 Vgl. »Die Fleischration der Kriegsküchen« und »Die Christlichsozialen gegen die Gemeinschaftsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 12. April 1918. 913 Vgl. »Bericht des Gemeindesrates vom 10. April 1918«, S. 695. 914 »Weniger Fleisch in den Kriegs- und Gemeinschaftsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 16. April 1918. 915 Siehe oben Kapitel iii, Abschnitt 3.2.3. Vgl. auch »Bericht des Bürgermeisters vom 8. Februar 1918«, S. 229.
III. Metropolen im Krieg
Teilnehmer und Betreiber der öffentlichen Speiseanstalten nicht klaglos hin und machten die Behörden darauf aufmerksam, dass das Problem der Doppelversorgung auf diese Weise nicht gelöst werden konnte.916 Doch weder im Juni 1917 noch im April 1918 bewirkten derlei Anmahnungen ein behördliches Vorgehen, das die Protektion der Gasthäuser beendete. Ebenso wenig verstummten die Kritiker der Gemeinschaftsküchen. So veröffentlichte z.B. die Reichspost im Juli 1918 ein Schreiben eines nicht namentlich genannten Wiener Geschäftsmannes, in welchem er die Gemeinschaftsküchenidee für gescheitert erklärte und zugleich die Gemeinschaftsküche »Akazienhof« als negatives Beispiel hervorhob.917 Die Küche sei weder fach- noch kaufmännisch zufriedenstellend geführt worden, die Speisen seien zu teuer und von kräftiger Hausmannkost könne keine Rede sein. Die Fürsprecher der Gemeinschaftsspeisungen konterten mit Gegendarstellungen, in denen sie die Bedeutung der Gemeinschaftsküchen für den Mittelstand und die schwierigen Verhältnisse, unter denen diese ihre Arbeit verrichteten, hervorhoben.918 Die Mitglieder der Gemeinschaftsküche »Akazienhof« machten ebenfalls deutlich, dass sie die Kritik nicht teilten. Sie sprachen der Küchenleitung ihr »uneingeschränktes Vertrauen« aus und demonstrierten damit nicht nur die Loyalität der Küchengemeinschaft, sondern signalisierten auch eine weitgehende Zufriedenheit des Speisepublikums mit der Gemeinschaftsküche.919 Der seit ihrem Bestehen allgegenwärtige und allgemeine Zusammenhalt der Gemeinschaftsküchenbewegung gegenüber dem Vorgehen der Kommunal- und Staatsbehörden deuten genauso wie die nicht abnehmende Nachfrage nach Gemeinschaftsspeisungen darauf hin, dass die Besucher der Gemeinschaftsküchen – anders als in den städtischen Kriegsküchen – insgesamt zufriedenstellend versorgt wurden.
3.3 Ein lebhafter Zuspruch: Die Wiener Ausspeisungsaktion und alternative Speiseeinrichtungen 1916–1918 Die städtischen Kriegsküchen und zahlreichen Gemeinschaftsspeisungen versorgten im Jahr 1918 täglich fast eine Viertelmillion Menschen in der Habsburgermetropole mit einem Mittagessen.920 Damit sind jedoch bei weitem nicht alle Wiener erfasst, die in den 916 Vgl. »Ein schwerer Schlag für die Kriegsküchenteilnehmer«, in: Der Abend, 20. Juni 1917. »Ein empörendes Unrecht«, in: Der Abend, 22. Juni 1917. »Der Lebensmittelverband der Kriegsleistungsbetriebe Wiens«, in: Arbeiter-Zeitung, 24. August 1917. »Gegen die Doppelversorgung«, in: Die Zeit, 15. September 1917. »Hundertfünfzig Kriegsküchen in Wien«, in: Fremdenblatt, 30. Oktober 1917. 917 Vgl. »Die Versorgungsfragen«, in: Reichspost, 7. Juni 1918. 918 Hierzu gehörte z.B. der Architekt des »Akazienhofes« Adolf Loos. Vgl. »Der Akazienhof«, in: Reichspost, 11. Juni 1918. Sowie »Sprechsaal«, in: Die Zeit, 13. Juni 1918. »Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 13. Juli 1918. 919 Vgl. »Kleine Chronik. Hof- und Personalnachrichten«, in: Neue Freie Presse, 12. Juni 1918. Sowie »Sprechsaal«, in: Die Zeit, 13. Juni 1918. 920 Nach einem Bericht Donts wurden Mitte 1918 durchschnittlich etwa 130.000 Personen in den offenen Kriegsküchen und circa 95.000 Personen in den Gemeinschaftsküchen täglich mit einem Mittagessen versorgt. Entsprechend der Angaben des Bürgermeisters in seinen halbjährlichen Berichten an den Gemeinderat wird angenommen, dass die Betriebs- und Anstaltsspeisungen in der Gruppe der Gemeinschaftsküchen miterfasst wurden. Vgl. »Protokoll über die Sitzung des Aus-
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Mittagsstunden öffentliche Verpflegungseinrichtungen in Anspruch nahmen. Über die Speiseeinrichtungen, die unter den Kriegsküchenerlass fielen, hinaus gab es eine breite Palette weiterer Speisegelegenheiten, die zusammen mehrere Hunderttausend Wiener täglich versorgten. Eine Vielzahl dieser alternativen Speiseeinrichtungen waren bereits während der ersten Kriegshälfte aktiv. Weiterhin standen zahlreiche Vereine und Institutionen im Dienst der Ausspeisungsaktion der Wiener Fürsorgezentrale, die im Laufe des Krieges schätzungsweise dreißig Millionen Kronen in die unentgeltliche Ausspeisung der bedürftigen Wiener investierte.921 Ein Jahr vor dem Ende des Krieges umfasste das Speisestellennetz 157 Einrichtungen, die täglich mehr als 98.000 Portionen ausgaben.922 Entsprechend der allgemein wachsenden Inanspruchnahme öffentlicher Speiseeinrichtungen stiegen die Portionszahlen auch in den Ausspeisungen kontinuierlich bis über das Kriegsende hinaus. Im Jahr 1918 wurden täglich durchschnittlich 110.000 Portionen verabreicht. Einen beträchtlichen Teil des Speisepublikums der Ausspeisungen bildeten nach wie vor Kinder. Zwar bemühte sich die Wiener Stadtverwaltung, in Zusammenarbeit mit dem Volksernährungsamt und der Statthalterei eine Reihe von Kinderkriegsküchen zu eröffnen, doch mussten weitere Vorhaben bereits nach der Eröffnung der dritten Kinderküche verworfen werden, »weil die staatlichen Zusagen behufs Belieferung der Küchen mit Lebensmitteln nicht eingehalten werden«923 konnten. Dennoch blieb die Wiener Ausspeisungsaktion, mit der zwischen 1914 und 1918 rund 95 Millionen Portionen unter das Volk gebracht wurden, nicht die einzige Versorgungsmaßnahme der Fürsorgezentrale. In Ergänzung zur Ausspeisungsaktion wurden seit November 1916 täglich Tausende Wiener Schulkinder mit einem warmen Frühstück versorgt.924 Ab April 1917 organisierte die Zentralstelle darüber hinaus eine Lebensmittelabgabe für Mindestbemittelte, die Hunderttausenden Wienern zugutekam.925 Neben der unentgeltlichen Ausspeisungsaktion gab es aber nach wie vor auch einige private Speiseeinrichtungen, die ihre Aktivitäten in der zweiten Kriegshälfte fortsetzten und eine Alternative zu den Kriegs- und Gemeinschaftsküchen darstellten. Zu den
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schusses der Zentralstelle der Fürsorge vom 24. Juli 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 74, 18. September 1918, S. 1840–1841, hier S. 1841. Zwischen August 1914 und Ende Juni 1918 beliefen sich die Ausgaben für die Ausspeisungsaktion auf 22,2 Millionen Kronen. Vgl. ebd. Bis Ende Juni 1919 stiegen die Ausgaben auf 35,6 Millionen Kronen. Vgl. Mertens, Weiskirchner, S. 162. Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 160. »330.000 Personen in der Ausspeisung«, in: Reichspost, 5. September 1918. »Die Wiener Kriegsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 7. März 1918. Zu den Kinderkriegsküchen vgl. »Schaffung von Kinderkriegsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 11. November 1917. »Die erste Kinderkriegsküche«, in: Die Zeit, 9. Januar 1918. Vgl. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 49ff. Sowie Vgl. »Protokoll über die Sitzung des Ausschusses der Zentralstelle der Fürsorge vom 24. Juli 1918«, S. 1841f. Hierbei wurden alle Haushalte mit einem Jahreseinkommen bis zu 4.000 Kronen bzw. Einzelpersonen mit einem vergleichbar geringen Einkommen berücksichtigt. Diese Versorgungsmaßnahme, die etwa ein Drittel der Wiener Bevölkerung erfasste, betrieb die Gemeinde Weigl zufolge auf Rechnung des Staates. Hierzu vgl. ders., Kommunale Daseinsfürsorge, S. 340. Siehe auch »Bericht des Bürgermeisters vom 1. August 1918«, S. 1559.
III. Metropolen im Krieg
bedeutendsten und größten Speiseanbietern gehörten weiterhin die Wiener Volksküchen und die Küchen der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt. Die Küchen des Ersten Wiener Volksküchen-Vereins, die während der ersten beiden Kriegsjahre stark frequentiert wurden und ein festes Stammpublikum besaßen, wurden seit der Errichtung der Wiener Kriegs- und Gemeinschaftsküchen von vielen Wienern in Anspruch genommen, die aufgrund der fehlenden Kapazitäten keiner Gemeinschaftsspeisung angehörten oder einer Kriegsküche zugewiesen werden konnten. Zunächst erhoffte sich der Verein, der während der zweiten Kriegshälfte fünfzehn der neunzehn aktiven Volksküchen in der Hauptstadt unterhielt, von der Wiener Kriegsküchenaktion und der Neugründung weiterer Speisegemeinschaften eine Entlastung für seine Küchen.926 Mit durchschnittlich über 57.000 täglich verausgabten Portionen hatten die Volksküchen im Jahr 1916 bereits alle Hände voll zu tun, nicht nur die erforderlichen Mengen Lebensmittel zu besorgen, sondern auch die günstigen Speisepreise zu halten. Im Gegensatz zu den Kriegsküchen erhielten die Volksküchen weder Subventionen noch umfassende Unterstützung bei der Lebensmittelbeschaffung.927 Durch die Teuerung der Lebensmittel gelang es dem Volksküchen-Verein nicht mehr, die anfallenden Kosten durch seine Einnahmen zu decken, sodass er vermehrt auf seine finanziellen Reserven zurückgreifen musste.928 Entgegen den Erwartungen setzte nach der Eröffnung der Kriegsküchen keine Entlastung der Volksküchen ein. Im August 1916 berichtete das Fremdenblatt, dass die Volksküchen weiterhin erhöhten Zuspruch erfuhren: »Ganze Familien holen jetzt die täglichen Speisen aus den Volksküchen, so daß die Zahl der an eine Partei verabreichten Portionen auf zwei reduziert werden mußte. Früher wurden sechs bis acht Portionen von einzelnen Parteien abgeholt. Auch an fleischlosen Tagen ist der Zuspruch […] sehr lebhaft. Nebenbei liefern die Volksküchen noch ein kolossales tägliches Speisenquantum für größere Anstalten auf Grund vertragsmäßiger Verpflichtung.«929 Im Zuge des Hungerwinters 1916/17 und der zunehmenden Versorgungsprobleme im Frühjahr 1917 trieb die Not noch mehr Wiener in die Volksküchen. Seit März berichteten
926 Vgl. »Der Volksküchenbesuch«, in: Fremdenblatt, 20. Juli 1916. Neben den fünfzehn Volksküchen des Ersten Wiener Volksküchen-Vereines waren weiterhin die Küche des Meidlinger Volksküchenvereines sowie eine Volksküche in Rudolfsheim in Betrieb. Auch der Verein zur Errichtung von Volksküchen nach israelitischem Ritus unterhielt weiterhin seine beiden Volksküchen. Vgl. hierzu »Die Volksküchen«, in: Der Abend, 14. März 1917. 927 Die Volksküchen wurden von keiner zentralen Stelle, wie dem Zentralverband der Gemeinschafts- und Kriegsküchen, mit Lebensmitteln beliefert. Siehe hierzu ausführlich »Wie die Volksküchen durchhalten«, in: Die Zeit, 1. Mai 1917. Vgl. auch »Die Lebensmittelversorgung«, in: Österreichische Volkszeitung, 27. Oktober 1917. 928 Vgl. »Der Volksküchenverein im Kriege«, in: Österreichische Volkszeitung, 31. Mai 1917 »Die Verpflegsfragen. Steigender Zuspruch in den Volksküchen«, in: Fremdenblatt, 18. August 1916. 929 Ebd. Auch in den Stimmungsberichten der Wiener Polizeidirektion wurde die erhöhte Inanspruchnahme der Volksküchen hervorgehoben. Vgl. WBD, Stimmungsberichte vom 19. Oktober 1916, S. 10; und 16. November 1916, S. 11. Der Volksküchen-Verein belieferte z.B. eine Reihe von Spitälern des Militärs und des Roten Kreuzes. Vgl. hierzu »Der Volksküchenverein im Kriege«, in: Österreichische Volkszeitung, 31. Mai 1917.
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verschiedene Tageszeitungen vom täglichen »Wettlauf der Hungrigen« und stetig anschwellenden Warteschlangen vor den Wiener Volksküchen.930 Die Polonaisen vor den Küchen bildeten sich zumeist ab zehn Uhr vormittags und damit zwei Stunden vor dem Beginn des eigentlichen Speisebetriebes. Über die Lage vor der Volksküche in der Inneren Stadt, die täglich von bis zu 4.000 Personen frequentiert wurde, berichtete die Österreichische Volkszeitung im Juli 1917: »Zwischen 12 und 12 1 Uhr schwillt die Reihe der Wartenden mehr und mehr an; von der Volksküche in der Stadt, Grashofgasse, angefangen, steht die Menschenmauer durch die Köllnerhofgasse, biegt dort um und zieht sich über den halben Fleischmarkt hin. Die Leute warten ruhig, geduldig, ohne Murren. Nichts von den oft unerquicklichen Szenen, die sich beim ›Anstellen‹ um Lebensmittel abspielen, ist hier zu bemerken […]. Einer steht neben dem anderen und wartet, bis er drankommt; Bekannte begrüßen einander und knüpfen ein Gespräch an, neue Bekanntschaften werden geschlossen. Die einen reden, die anderen lesen die Zeitung oder ein Buch.«931 Wie vor der Volksküche im 1. Bezirk werden sich auch vor den anderen Küchen täglich Tausende wartende Kostgänger versammelt haben. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass das Anstehen stets friedlich und ohne Zwischenfälle stattfand. Nicht ohne Grund übernahmen vor den Volksküchen Wachleute den Ordnungsdienst. Die Meidlinger Volksküche berichtete in ihrem Rechnungsabschluss von 1917, dass sie einen Wachmann zum Schutze erwirkt habe, um bei dem täglichen Andrang die Ordnung aufrechtzuerhalten und Ausschreitungen unter den Leuten sowie gegenüber dem Küchenpersonal zu verhindern.932 Gleichfalls oblag es dem Wachdienst, das erneute Anstellen bereits abgefertigter Speiseteilnehmer zu unterbinden. Auch die zahlreichen Abweisungen von Speisewilligen, die durch die fehlende Registrierung der Küchengäste in den Volksküchen sehr viel höher ausfielen als in den Kriegsküchen,933 werden nicht immer ohne Unmut hingenommen worden sein. Im Februar 1917 mussten dem Abend zufolge täglich etwa 3.000 Volksküchenbesucher unverrichteter Dinge wieder gehen.934 Mit der stetig zunehmenden Inanspruchnahme konnten die wenigen Volksküchen nicht Schritt halten. Zurückzuführen war dies aber nicht nur auf die kleine Zahl der Einrichtungen mit zugleich unzureichenden Räumlichkeiten, sondern auch und vor allem
930 Vgl. u.a. »Die Volksküchen«, in: Der Abend, 14. März 1917. »Die öffentlichen Küchen im Kriege«, in: Die Zeit, 25. März 1917. »Wie die Volksküchen durchhalten«, in: Die Zeit, 1. Mai 1917. »Die Wiener Volksküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 1. Juli 1917. Sowie Winter, Max: »In der Volksküche«, in: Arbeiter-Zeitung, 8. April 1917. 931 »Vor der Volksküche«, in: Österreichische Volkszeitung, 28. Juli 1917. Zur Volksküche Grashofgasse vgl. auch »Der Volksküchenbesuch«, in: Fremdenblatt, 20. Juli 1916. 932 Vgl. Rechnungs-Abschluß des Vereines der Meidlinger Volksküche für das Jahr 1917, Wien 1918, [S. 4]. Vgl. auch »Wie die Volksküchen durchhalten«, in: Die Zeit, 1. Mai 1917. 933 Vgl. WBD, Stimmungsbericht vom 8. März 1917, S. 11f. Die Ausgabe von Nummern oder Marken für den Bezug des Volksküchenessens wurde vor allem wegen des damit verbundenen bürokratischen Aufwands abgelehnt. Vgl. »Die öffentlichen Küchen im Kriege«, in: Die Zeit, 25. März 1917. 934 Vgl. »Die Volksküchen«, in: Der Abend, 14. März 1917. Ferner »Die Wiener Volksküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 1. Juli 1917.
III. Metropolen im Krieg
auf die fehlenden Lebensmittel.935 Eine der leitenden Damen der Volksküche in der Grashofgasse versicherte der Österreichischen Volkszeitung, dass der Volksküchen-Verein die Leistungsfähigkeit seiner Küchen hätte steigern können, wenn die Menge der zur Verfügung stehenden Lebensmittel größer ausgefallen wäre.936 Seit Februar 1917 erhielten die Volksküchen keine Kartoffeln mehr, Hülsenfrüchte waren kaum verfügbar und auch die Ausgabe von Mehlspeisen musste kurz darauf eingestellt werden. Die stets zunehmenden Lebensmittelengpässe führten Ende März 1917 schließlich zur Abschaffung der Abendspeisung in den Volksküchen.937 Im Herbst 1917 waren die finanziellen Reserven des Ersten Wiener Volksküchen-Vereins vollkommen ausgeschöpft. Der Verein kam nicht mehr umhin, seine lange aufrechterhaltenen günstigen Speisepreise zu erhöhen. Bis dahin erhielten die Volksküchenbesucher die Suppe für acht Heller und das Gemüse für zwölf Heller.938 Die Preise des Volksküchenessens waren damit günstiger als die Speisepreise in den städtischen Kriegsküchen, wobei die Preisunterschiede durch kleinere Portionen ausgeglichen wurden. Auch in den Volksküchen hatte die Lebensmittelnot zwangsläufig eine Verschlechterung der Qualität des Essens zur Folge. Dennoch erfuhren die für ihre Fleischspeisen beliebten Volksküchen insgesamt mehr Lob als Kritik. Das Essen sei als gut zu bezeichnen und schmecke trotz geringerer Fleischmengen nicht schlechter als in irgendeinem kleinen Vorstadtwirtshaus, gab Der Abend die allgemein vorherrschende Meinung der Volksküchengäste im März 1917 wieder.939 Trotz Abnahme der Speisevielfalt und der Verschlechterung der Speisen wurde das Volksküchenessen im Gegensatz zu dem der Kriegsküchen positiv hervorgehoben. Während über die Qualität der Kriegsküchenkost viel geklagt werde, hieß es in einem Stimmungsbericht der Wiener Polizei im Februar 1917, seien die Volksküchen von den Wienern gelobt worden.940 Für immer mehr notleidende Wiener stellten die Einrichtungen des Ersten Wiener Volksküchen-Vereins nicht nur während der Krisenzeiten eine Alternative zu den Gemeinschafts- und Kriegsküchen dar. Im Laufe des Krieges fand eine Umschichtung der Besu-
935 Vgl. »Die öffentliche Ausspeisung«, in: Arbeiter-Zeitung, 12. August 1917. Ferner »Die öffentlichen Küchen im Kriege«, in: Die Zeit, 25. März 1917. »Wie die Volksküchen durchhalten«, in: Die Zeit, 1. Mai 1917. 936 Vgl. »Die Wiener Volksküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 1. Juli 1917. 937 Vgl. WBD, Stimmungsbericht vom 22. März 1917, S. 8. Rechnungs-Abschluß Meidlinger Volksküche 1917, [S. 3f.]. Sowie »Die öffentlichen Küchen im Kriege«, in: Die Zeit, 25. März 1917. »Wie die Volksküchen durchhalten«, in: Die Zeit, 1. Mai 1917. 938 Vgl. »Die Lebensmittelversorgung«, in: Österreichische Volkszeitung, 27. Oktober 1917. Vgl. auch »Hör’s Wien«, in: Der Abend, 3. November 1917. Höher fielen die Preise der Fleisch- und (wenn verfügbar) Mehlspeisen aus, die für 26 bzw. 24 Heller abgegeben wurden. Vgl. »Der Volksküchenbesuch«, in: Fremdenblatt, 20. Juli 1916. 939 Vgl. »Die Volksküchen«, in: Der Abend, 14. März 1917. Zur abgenommenen Qualität der Speisen vgl. u.a. »Wie die Volksküchen durchhalten«, in: Die Zeit, 1. Mai 1917. Und »Die öffentliche Ausspeisung«, in: Arbeiter-Zeitung, 12. August 1917. Vgl. auch Rechnungs-Abschluß des Vereines der Meidlinger Volksküche für das Jahr 1918, Wien 1919, [S. 4]. 940 Vgl. WBD, Stimmungsbericht vom 8. Februar 1917, S. 12. Die positive Wahrnehmung schien angehalten zu haben. So hob Der Neue Abend im Juni 1918 abermals hervor, dass sich die reinlicheren Volksküchen »wohltuend« von den Kriegsküchen unterschieden haben und das Essen anders als in den städtischen Einrichtungen gut und sättigend gewesen sei. Vgl. »Klagen über die Kriegsküchen«, in: Der Neue Abend, 28. Juni 1918.
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chergruppen der Volksküchen statt, sodass sich die Küchengäste im Frühjahr 1917 längst nicht mehr aus den ärmsten Schichten rekrutierten: »Man sieht in der Reihe der Angestellten vor dem Eingange [der Volksküche] manche Frau, die nach Kleidung und Sprechweise der unteren Hälfte des Mittelstandes angehört, man sieht Arbeitsfrauen, deren größter Stolz früher die peinlich ordentlich geführte Wirtschaft gewesen ist, man sieht Männer in guten Kleidern, junge nett gekleidete Mädchen, kleine Angestellte, Kontormädels, Schneiderinnen, Modistinnen, Verkäuferinnen. Man sieht neben Kindern in Klapperschuhen und vielgeflicktem Anzug, solche mit netten Röckchen und gutem Schuhwerk […]. Man sieht, wenn man die Volksküche besucht, wie die Teuerung ganze Schichten verelendet, die nach ihrem Einkommen noch vor kurzem als gutgestellt bezeichnet werden mussten.«941 Entsprechend der Erweiterung des Besucherkreises der Volksküchen erhöhte sich auch ihre Inanspruchnahme. Das täglich ausgegebene Speisequantum hatte sich zwischen 1914 und 1917 nahezu verdoppelt. Gaben die Volksküchen im Jahr des Kriegsausbruchs noch rund 38.000 Portionen pro Tag aus, waren es 1917 bereits über 68.000 Portionen. Allein im ersten Halbjahr 1917 gaben die fünfzehn Wiener Volksküchen mit über zwölf Millionen Portionen fast so viele Essen aus wie im ganzen Jahr 1914 (13,7 Millionen Portionen).942 Einen enormen Beitrag zur Versorgung der Wiener Bevölkerung leistete neben dem Volksküchen-Verein auch weiterhin die Erste Wiener Suppen- und Tee-Anstalt. Sie stieß im Zuge der zunehmenden Versorgungsnot ebenfalls an ihre Grenzen. Im Jahr 1917 wurden die fünfzehn Einrichtungen der Suppen- und Tee-Anstalt täglich von rund 40.000 Personen frequentiert und damit um etwa 10.000 mehr als noch im Jahr 1916.943 Einem noch größeren Andrang fühlte sich die Anstalt nicht gewachsen: »Unsere Lokalitäten sind auf den gegenwärtigen Verkehr nicht eingerichtet. Wir sehen alle Übelstände, allein wir sind nicht imstande sie zu beseitigen. Es ist ganz unmöglich entsprechende Lokalitäten zu mieten – sie sind nicht vorhanden, selbst wenn wir den gesteigerten Mietanforderungen entsprechen, aber auch die Einrichtungsgegenstände sind nicht zu beschaffen.«944 Insgesamt wurden im vorletzten Kriegsjahr fast dreißig Millionen Speise- und Getränkeportionen ausgegeben. Im Vergleich zum Jahr 1916 hatte sich der Leistungsumfang zeitweise nahezu verdoppelt. Waren es 1916 noch rund 66.000 Portionen, die täglich abgegeben wurden, lag der Verbrauch im Jahr 1917 zwischen 80.000 und 120.000 Tagesportionen (Tab. 12).945 Während der überwiegende Teil der Speisen gegen Entgelt ausgege941 »Die Volksküchen«, in: Der Abend, 14. März 1917. Vgl. auch Neuber, Die Ernährungslage, S. 92. 942 Vgl. »Der Volksküchenverein im Kriege«, in: Österreichische Volkszeitung, 31. Mai 1917. »Hör’s Wien«, in: Der Abend, 3. November 1917. Darüber hinaus gaben die zwei rituellen Volksküchen des Volksküchen-Vereins und die beiden Volksküchen in Meidling und Rudolfsheim weitere 7.000 bis 8.000 Portionen pro Tag aus. Vgl. »Die Volksküchen«, in: Der Abend, 14. März 1917. 943 Vgl. General-Versammlung der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt 1917, S. 11. »Die öffentliche Ausspeisung«, in: Reichspost, 9. Mai 1917. 944 General-Versammlung der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt 1917, S. 11. 945 Vgl. ebd., S. 21.
III. Metropolen im Krieg
ben wurde, stellte die Suppen- und Tee-Anstalt etwa ein Fünftel ihrer Gesamtleistung unentgeltlich der von ihr nach wie vor unterstützten städtischen Ausspeisungsaktion zur Verfügung.
Tabelle 12: Verabreichte Kostportionen der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt im Jahr 1917 Ausgegebene Portionen a)
gegen Entgelt
Portionszahl 21.047.747
Kriegsküche der Firma Gräf und Stifft
762.258
Ausspeisung der Fürsorgezentrale
5.947.172
Russen-Ausspeisung
355.406
Personal
800.000 28.912.583
a) Angabe enthält alle ausgegebenen Speise- und Getränkeportionen. Abzüglich der Kaffee- und Teeportionen umfasste die Zahl der Kostportionen 18.485.950. Quelle: Vgl. General-Versammlung der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt 1917, S. 21.
Nach den Ausführungen von Löwenfeld-Russ wiesen die Suppenanstalten und Volksküchen zusammen mit einer Reihe weiterer privater Speisebetriebe im Jahr 1918 einen durchschnittlichen Besucherstand von 120.000 Personen auf.946 Gemeinsam mit den Speisestellen der städtischen Ausspeisung, die nach den Angaben des Obermagistratsrats Dont im Sommer 1918 von etwa 100.000 Wienern täglich frequentiert wurden,947 versorgten die alternativen Wiener Speiseeinrichtungen ebenfalls fast eine Viertelmillion Menschen pro Tag mit einem Mittagessen. Insgesamt besuchten zur Mitte des Jahres 1918 mindestens 450.000 Menschen täglich die verschiedenen Speiseeinrichtungen.948 Die anwachsende Not und die allgemein zunehmende Inanspruchnahme der öffentlichen Verpflegungseinrichtungen bis über den Waffenstillstand von Villa Giusti hinaus lässt den Schluss zu, dass das öffentliche Speiseangebot gegen Ende des Krieges von mindestens einer halben Million Menschen in der Habsburgermetropole in Anspruch genommen wurde. Dass der Bedarf nach öffentlichen Speiseeinrichtungen noch höher war, verdeutlichen die zahlreichen anhaltenden Abweisungen Tausender Wiener, die sich täglich vergebens für das Mittagessen anstellten. 946 Vgl. Löwenfeld-Russ, Die Regelung, S. 354. 947 Vgl. »Protokoll über die Sitzung des Ausschusses der Zentralstelle der Fürsorge vom 24. Juli 1918«, S. 1841. 948 Dont, der die privaten Speisegelegenheiten unberücksichtigt ließ, und Löwenfeld-Russ, der keine konkreten Zahlen zur Frequentierung der Wiener Gemeinschaftsküchen nannte, präsentierten voneinander abweichende Besucherzahlen. Hinsichtlich der Gesamtzahl der täglich verköstigten Wiener stimmten beide Darstellungen aber weitgehend überein. Vgl. ebd. Sowie LöwenfeldRuss, Die Regelung, S. 354. Siehe auch die Ausführungen des Sekretärs der Kriegsfürsorgezentrale im Artikel »400.000 Kriegsküchenteilnehmer« der Österreichischen Volkszeitung, 14. Dezember 1917. Hierzu siehe auch Kapitel iii, Anm. 920.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
4| Berliner und Wiener Kriegsküchen im Vergleich 4.1 Organisatorisch-administratives Handeln: Die Rolle der Stadtverwaltungen In Berlin und Wien wurde die Massenverpflegung frühzeitig als ein Lösungsansatz für den wachsenden Fürsorgebedarf und die zunehmenden Lebensmittelversorgungprobleme betrachtet. Damit stellte sie eine der wichtigsten Notstandsfürsorgemaßnahmen dar. In beiden Metropolen entstanden umfangreiche Massenspeisesysteme, die im Hinblick auf das Ausmaß ihres Daseins und ihrer beträchtlichen Leistungen weder von zeitgenössischen Beobachtern noch von der gegenwärtigen Forschung eine hinreichende Würdigung erfahren haben. Neben der Fülle der Herausforderungen, die der Ausnahmezustand des Ersten Weltkrieges den Kommunalbehörden auferlegte, betrieben die beiden Stadtverwaltungen auf dem Gebiet der öffentlichen Massenversorgung nicht nur einen enormen Aufwand, sondern nahmen sich mit der täglichen Bereitstellung der Mahlzeitenversorgung für weite Teile der Bevölkerung zugleich einer nie zuvor dagewesenen Aufgabe an. Angesichts der kriegswirtschaftlichen und soziokulturellen Gegebenheiten erwies sich diese als ein schwieriges Unterfangen, das in beiden Städten gleichermaßen nicht hinlänglich gelang. Nachdem die Entwicklungen der Massenverpflegungsaktivitäten im Einzelnen betrachtet wurden, liefert dieser Teil der Untersuchung einen zusammenfassenden Überblick über die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Berliner und Wiener Massenversorgung. Der Blick richtet sich zum einen auf die verschiedenen Stadien des organisatorisch-administrativen Vorgehens im Verlauf des Krieges, d.h. die Phase der kommunalen Improvisation während der ersten Kriegshälfte, die der Reorganisation im Sommer 1916 sowie die der staatlichen Intervention in der zweiten Hälfte des Krieges. Zum anderen werden ausgewählte soziokulturelle Einflüsse in den Blick genommen, die auf die großstädtischen Massenverpflegungsbemühungen einwirkten und damit die Entwicklungen des Berliner und Wiener Großküchenwesens maßgeblich mitbestimmten. Dabei steht die einleitend formulierte Hypothese, nach der die Massenversorgungsaktivitäten in der Habsburgermetropole im Vergleich zu jenen in Berlin insgesamt effizienter waren, auf dem Prüfstand.
4.1.1 Improvisation: Die Notstandsverpflegung der ersten Kriegshälfte Unterstützt durch die lokalen Frauenorganisationen nahmen die Stadtverwaltungen beider Hauptstädte die Organisation der Großküchenversorgung vorerst eigenständig in die Hand. Als supplementäre Kriegsfürsorgemaßnahme und Teil der städtischen Lebensmittelversorgung gehörte die Massenverpflegung durch Großküchen in Berlin und Wien zu den beiden zentralen Kriegsverwaltungsbereichen der Kommunen. Demnach konnten die Hauptstadtadministrationen die Organisation und Ausgestaltung der Massenversorgung weitgehend autonom und losgelöst von staatlichen Vorgaben in Angriff nehmen. Unter dem Eindruck der ersten Versorgungsschwierigkeiten und familiärer Notlagen infolge des Kriegsausbruchs und bestimmt durch die allgemein vorherrschende Annahme eines kurzen Krieges zielten die Stadtverwaltungen in Berlin und Wien auf eine möglichst rasche Einrichtung der Großküchenverpflegung. Hierfür griffen sie auf die Expertise privater Wohltätigkeitsvereine und damit bewährter In-
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stitutionen der Vorkriegszeit zurück, denen die Zusammenarbeit mit den Kommunen freigestellt war. Innerhalb weniger Wochen existierte sowohl in Wien als auch in Berlin eine umfangreiche Notspeiseversorgung. In beiden Metropolen wurde das Ziel verfolgt, allen behördlich anerkannten Bedürftigen, d.h. vor allem Kindern und Arbeitslosen sowie weiteren Familienangehörigen einberufener Soldaten, eine warme Mahlzeit am Tag zu ermöglichen. Die Intention und der Ansatz der Notspeiseversorgung stimmten in beiden Hauptstädten weitgehend überein. Ein Blick auf die konkrete Ausgestaltung der Massenverpflegung zeigt jedoch, dass die Wiener und Berliner Gemeindeverwaltungen ihre Rollen innerhalb der Notspeiseorganisation unterschiedlich definierten. In der Donaumetropole leitete die Stadtverwaltung zunächst die öffentliche unentgeltliche Wiener Ausspeisungsaktion ein, für die sie ein durchdachtes Konzept mit Richtlinien zur Küchenorganisation und Arbeitsweise aller beteiligten Institutionen und Vereine vorlegte. Dabei beschränkte sie sich nicht auf die Festlegung detaillierter Regularien. Die Kommunalverwaltung übernahm mit ihrer Zentralstelle der Fürsorge die leitende Funktion bei der Durchführung ihrer Notspeiseversorgung. Besonders hervorzuheben sind hierbei vor allem die kommunale Kontrolle der mitwirkenden Speisebetriebe und die städtische Organisation des Lebensmitteleinkaufs für die Speisestellen. Auch wenn das Regelwerk der Ausspeisungsaktion einen enormen bürokratischen Aufwand bedeutete, der in der Praxis nicht immer eins-zu-eins umzusetzen war, trug die Wiener Gemeindeverwaltung mit ihren Handlungsanweisungen und selbst auferlegten Verpflichtungen viel umfassender zur Gewährleistung der städtischen Notspeiseversorgung bei als der Berliner Magistrat, der den Großteil der organisatorischen Aufgaben rund um die Notspeiseversorgung an den NFD delegierte. Anders als in Wien stand die Stadtverwaltung in Berlin nicht im direkten Kontakt mit den Speisebetrieben. Das übernahm hier das Zentralbüro des NFD als Vermittlungsinstanz zwischen der Kommune und den Speiseeinrichtungen. Zurückhaltender präsentierte sich die Berliner Stadtverwaltung auch hinsichtlich der Festlegung konkreter Bestimmungen, die die Kooperation zwischen Kommune und den mitwirkenden Vereinen bzw. Institutionen regelten. Von Seiten des Magistrats, dessen organisatorischer Beitrag sich hauptsächlich auf die Finanzierung der Notspeiseaktivitäten beschränkte, erhielten die Berliner Notküchenbetriebe mit Ausnahme der überschaubaren Regularien zur Handhabung des städtischen Speisemarkensystems, die einem Missbrauch der Einrichtungen vorbeugen sollten, kaum kommunale Vorgaben zur Organisation ihres Küchenbetriebs. Die Lebensmitteleinkäufe nahmen die Wohltätigkeitsvereine und Institutionen des Berliner Notküchensystems weitgehend selbstständig vor, wobei eine punktuelle Unterstützung der Kommunalverwaltung bei der Beschaffung von Lebensmitteln nicht ausgeschlossen war. Und auch die Ausgestaltung des Speisebetriebs blieb den Betreibern vorbehalten, wodurch das Berliner Notspeisesystem zahlreiche unterschiedliche Küchen mit variierenden Speiseangeboten umfasste und somit zugleich durch eine relative Unübersichtlichkeit gekennzeichnet war. Für die Vermittlung des Speisepublikums an die jeweiligen Speisebetriebe waren sowohl in Wien als auch in Berlin die lokalen Hilfskomitees der Frauenorganisationen zuständig. Die Damenkomitees der Wiener Frauenhilfsaktion und Berliner Hilfskommissionen des NFD waren in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Bezirksbehörden für die
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Bedürftigkeitsprüfung, Ausstellung der Speisemarken und Zuteilung der Bedürftigen an die verschiedenen Speisestellen zuständig. Mit Blick auf die Gesamtorganisation der Notspeiseversorgung war der administrative Verantwortungsbereich der Berliner Frauenorganisation insgesamt ein größerer als in der Habsburgermetropole. Wenn auch das bürokratische und seitens der Stadtverwaltung klar definierte Tätigkeitsspektrum der Wiener Frauenkomitees im Bereich der Ausspeisungsaktion begrenzt war, leistete die Frauenhilfsaktion an anderer Stelle einen für die Durchführung und Aufrechterhaltung der Notspeiseaktion notwendigen Beitrag. In Zusammenarbeit mit der Kriegsfürsorgeorganisation des Schwarz-Gelben Kreuzes begleitete die Wiener Frauenhilfsaktion zahlreiche Spendensammlungen, mit denen die städtische Ausspeisungsaktion beworben und das Bekanntwerden dieses städtischen Fürsorgeangebots gefördert wurde. In der deutschen Hauptstadt gab es keine vergleichbare Initiative. Hier waren es vor allem die betreibenden Vereine selbst, die für sich und ihre Einrichtungen finanzielle Mittel über Büchsensammlungen eintrieben.949 Beide Hauptstädte verfügten über umfangreiche und schnell wachsende dezentrale Speisestellennetze, die sich in ihrer Zusammensetzung und Ausrichtung stark ähnelten. Sowohl in Berlin als auch in Wien wurde das Notspeisenetz überwiegend durch privatwohltätige Vereine getragen. Häufig aber gehörten die ermittelten Küchen bzw. Speisestellen auch zu kirchlichen Vereinen, Unternehmen, Gaststätten sowie kommunalen Einrichtungen und Privatpersonen. In beiden Fällen richtete sich eine Vielzahl der Speisegelegenheiten vornehmlich an Kinder, wobei dies vor allem auf jene Vereine zutraf, die bereits in der Vorkriegszeit im Bereich der (Schul-)Kinderversorgung und -fürsorge aktiv waren. Doch nicht nur die Speisungen für die Klein(st)en, auch die aus der Vorkriegszeit bekannten philanthropischen Mahlzeitanbieter für Erwachsene stellten wie in den Fällen der beiden Volksküchen-Vereine einen bedeutenden Anteil der Notküchen. In beiden Städten waren es auch bewährte Einrichtungen der Vorkriegszeit, wie z.B. das Israelitische Heimathaus in Berlin und die Küchen des Wiener Vereins zur Errichtung von Volksküchen nach israelitischem Ritus, die dem Bedürfnis nach ritueller Kost Rechnung trugen, wobei dieses Engagement in Wien dem größeren und zugleich wachsenden jüdischen Bevölkerungsanteils entsprechend stärker ausfiel. Eine weitere Gemeinsamkeit war die starke Beteiligung von gut situierten Einzelpersonen, die private Mittagstische für eine kleine Zahl von Bedürftigen oder in Not geratene Berufsgruppen (z.B. Künstler) zur Verfügung stellten. In Berlin waren jene Speisestellen zumeist im wohlhabenden Westteil der Stadt zu finden. In Wien hingegen verteilte sich die Einsatzbereitschaft der Privatpersonen auf mehrere und unterschiedliche Stadtbezirke. In der Regel waren die privaten Mittagstische in Wien auch in die einzelnen Bezirksspeisekomitees integriert, die im Rahmen der Wiener Ausspeisungsaktion lokal gegründet wurden. Derlei Zusammenschlüsse auf Bezirksebene, die zur strukturellen Übersichtlichkeit des Wiener Speisenetzes beitrugen, gab es in Berlin nicht. Wie bereits hervorgehoben wurde, existierten in der deutschen Hauptstadt zahlreiche Speiseeinrichtungen, die sich in ihrer Ausgestaltung nach ihrem Zielpublikum unterschieden. Neben offenen Bürger- und Volksspeisehallen sowie Volksküchen, die allen Bedürftigen Berlins offenstanden, gab es Speiseanstalten, die sich an einen bestimmten 949 Vgl. u.a. Abraham, Drei Kriegsjahre, S. 5. Sowie »Opfertage«, in: Vorwärts, 22. November 1915.
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Kreis von Bedürftigen richteten (Mittelstands-, Kantinen- und Kinderküchen usw.). Ein beträchtlicher Teil der Notküchen beschränkte sich nicht auf die Versorgung der kommunal anerkannten Bedürftigen, sondern bot seine Speisen generell allen Stadtbewohnern zum Selbstkostenpreis an. Die Mehrheit der Einrichtungen befand sich in den Arbeitervierteln und damit in jenen Stadtteilen, in denen die Not infolge des Kriegsausbruchs und der Lebensmittelteuerung besonders groß war. Auch in den anderen Stadtgebieten waren viele Notküchen vorzufinden, wobei sich einige dieser Einrichtungen insbesondere im Zentrum und im gutbürgerlichen Westen Berlins vom übrigen Teil des Speisesystems abhoben, indem sie sich vornehmlich an mittelständische und kleinbürgerliche Notleidende richteten. Durch die Fülle und Verschiedenartigkeit der Speiseeinrichtungen war für die Betroffenen, die sich keiner Bedürftigkeitsprüfung unterziehen wollten, häufig nicht ohne Weiteres ersichtlich, welche der Einrichtungen ihren verschiedenen Bedürfnissen entsprach. Die Berliner Stadtverwaltung folgte mit ihrer Notstandsversorgung keinem konkreten Konzept. Vielmehr ließ sie das laissez-faire-Prinzip walten, das den Speisebetrieben möglichst viele Freiheiten gestattete. Vom Magistrat wurden weder Maßnahmen ergriffen, die zur Einheitlichkeit des Speisesystems beitrugen, noch warb er in der Bevölkerung für die Besonderheit der kriegsbedingten Notstandsküchen, die sich von der parallel betriebenen städtischen Armen-Speisungs-Anstalt der Vorkriegszeit abgrenzen sollten.950 Sowohl die Fülle neuer administrativer Aufgaben infolge des Krieges als auch die vorherrschende Überzeugung von einer kurzen Kriegsdauer werden Gründe gewesen sein, warum die Stadtverwaltung die Notstandsversorgung weitgehend sich selbst überließ und damit die Chance verpasste, ein Zusammengehörigkeitsgefühl der in Not geratenen Berliner zu fördern. Demgegenüber versuchte die Wiener Stadtverwaltung mit ihrer Ausspeisungsaktion ein einheitliches und bedarfsorientiertes Speisesystem für die Notleidenden zu schaffen. Alle Wiener Stadtbezirke verfügten über mindestens eine städtische Ausspeisung. Auch hier wurde die Mehrheit der Speisestellen gemeinhin in den bevölkerungsreichen äußeren Arbeiterbezirken eingerichtet. Wie in der deutschen Hauptstadt wurde genau definiert, wer zur Gruppe der Bezugsberechtigten gehörte. Anders als in Berlin richtete sich die städtische Versorgungsinitiative vorrangig an Arbeitslose. Die Fürsorgeunterstützten bzw. Angehörigen der Einberufenen wurden in den kommunalen Richtlinien zum Empfängerkreis nicht berücksichtigt. Möglicherweise wurde zunächst davon ausgegangen, dass die Betroffenen durch die Unterstützungen auf das Angebot nicht angewiesen waren und selbständig für ihre Mittagsmahlzeit sorgen konnten. Die tatsächlichen Verhältnisse zeigten jedoch, dass auch die Unterstützungsempfänger in den Kreis der Bezugsberechtigten aufgenommen werden mussten.951 Von der Ausspeisungsaktion ausgeschlossen waren wie in Berlin auch die Empfänger der städtischen Armenfürsorge. Doch anders als in der deutschen Hauptstadt stand den Armen in Wien keine »Armenspeisung« zur Verfügung. Vor dem Krieg war es die Erste Wiener Suppen- und Teeanstalt,
950 Die Empfehlung der Stadtverwaltung, die Armenfürsorgeempfänger von der Notspeisung auszuschließen, wurde in erster Linie auf inoffiziellem Weg kommuniziert. Vgl. »Regelung der Speisemarken in 12 Punkten«. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932, Bl. 33. Die Bevölkerung scheint über diese Regelung nicht in Kenntnis gesetzt worden zu sein. 951 Vgl. »Die Fortsetzung der öffentlichen Ausspeisung in Gefahr«, in: Neue Freie Presse, 1. Oktober 1915.
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die sich der Versorgung der Armenfürsorgeempfänger annahm. Da diese nun einen großen Teil ihrer Einrichtungen in den Dienst der städtischen Notspeisung stellte, blieb den Ärmsten der Stadt oftmals nicht mehr als auf die wenigen übrig gebliebenen Küchen der Suppen- und Teeanstalt zurückzugreifen. Über die städtische Ausspeisungsaktion hinaus gab es in Wien noch eine Reihe weiterer wohltätiger Speiseeinrichtungen, die ihre Fürsorge und den Speisebetrieb in Eigenregie organisierten. Durch diese parallel zur Ausspeisungsaktion betriebenen Küchen erweiterte sich das Wiener Speisepublikum, weil sich viele von ihnen über die »klassischen« Fürsorgeempfängergruppen hinaus an weitere Bedürftige (Flüchtlinge, Künstler u.a.) sowie Erwerbstätige richteten. All jene, die sich von diesen Speiseeinrichtungen angesprochen fühlten, konnten hier auf eigene Kosten und ohne Bedürftigkeitsprüfung ein günstiges Mittagsmahl zu sich nehmen. Oftmals glichen die unabhängig von der Stadt arbeitenden Speisebetriebe auch die Lücken in jenen Bezirken aus, in denen die Zahl der städtischen Ausspeisestellen klein ausfiel. Unter Einbeziehung der Speisestellen der Wiener Ausspeisungsaktion und der alternativen Küchen nahmen zwischen Kriegsbeginn und Ende des Jahres 1916 mindestens 235 Speiseeinrichtungen ihren Betrieb auf, wobei nicht alle der ermittelten Speisestellen durchgehend aktiv waren. Damit fiel die Zahl der wohltätigen Wiener Notspeisungen insgesamt größer aus als in Berlin mit mindestens 175 Einrichtungen. Doch in der deutschen Hauptstadt, deren Stadtgebietsfläche etwas mehr als ein Fünftel des Wiener Stadtgebiets umfasste, lagen die zahlreichen Speisebetriebe sehr viel dichter beieinander. Weder Wien noch eine andere deutsche oder europäische Stadt verfügte während der ersten Kriegshälfte über derart viele wohltätige Speisebetriebe auf so engem Raum wie Berlin.952 Sowohl in Wien als auch in Berlin versorgten die Notspeisenetze bis zum Sommer 1916 täglich mehrere Zehntausend Großstädter. Vor allem in Wien erfuhren die bestehenden Speiseeinrichtungen sehr schnell einen großen und wachsenden Andrang. Im Dezember 1916 wurden täglich über 70.000 Portionen ausgegeben. Die Kapazitäten und maximale Leistungsfähigkeit vieler Speisestellen waren im Dezember 1916 ausgeschöpft und in einigen Fällen zeigte sich, dass der Bedarf nach städtischen kostenlosen Mittagessen höher war als von den Verantwortlichen angenommen wurde. Dennoch gelang es den Speiseeinrichtungen – zumindest bis Ende des Jahres 1916 – fortwährend den erhöhten Bedarf zu decken. Die allgemeine Entwicklung der Portionszahlen der Wiener Speisestellen während der ersten Kriegshälfte belegt, dass das städtische Speiseangebot mit der zunehmenden Verschlechterung der Versorgungslage vermehrt in Anspruch genommen wurde. Eine vergleichbare Entwicklungstendenz lässt sich für die Berliner Notspeisungen nicht beobachten, was jedoch in erster Linie damit zu erklären ist, dass eine umfassende Übersicht des Leistungsumfangs aller Berliner Küchen nicht vorliegt. Die vorhandenen Quellen, die sich in der Regel auf die Einrichtungen eines Speiseanbieters beziehen, liefern ein sehr durchwachsendes Bild der Inanspruchnahme des Notküchenessens. Nachdem die Berliner Speiseeinrichtungen zu Beginn des Krieges zunächst regen Zuspruch erfuhren, nahm die Zahl der Teilnehmer in den meisten Einrichtungen im Verlauf des
952 Vgl. Sprenger-Seyffarth, Public Feeding, S. 79.
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ersten Kriegshalbjahres bereits wieder ab. Bis zum Sommer 1916 konnte keine nennenswerte Steigerung der Inanspruchnahme der Notküchen festgestellt werden. Nach den vorliegenden Quellen gab es jedoch mindestens eine Ausnahme, die eine gegensätzliche Entwicklung aufwies. Die Portionszahlen in den Mittelstands- und Bürgerküchen des Kindervolksküchenvereins nahmen im Verlauf der ersten Kriegshälfte kontinuierlich zu. Zusammen mit der gleichzeitig wachsenden Zahl der Mittelstandsspeisungen verdeutlicht dies, dass die Versorgungsnot immer mehr erwerbstätige und kleinbürgerliche Kreise der Stadt erfasste. Auch in Wien wurden zunehmend Küchen und Kriegsmittagstische für den Mittelstand in Betrieb genommen. Die über die mittellosen Bevölkerungskreise hinaus drückende Not in der Berliner und Wiener Bevölkerung veranlasste beide Stadtverwaltungen im Laufe des Frühjahrs 1916 zum Umdenken. Inzwischen lebten weite Teile des Mittelstandes und Kleinbürgertums sowie viele erwerbstätige Arbeiter am Rande des Existenzminimums. Da vielen von ihnen die Zeit und/oder finanziellen Mittel fehlten, um ihren privaten Mittagstisch zu organisieren, sahen sich die Gemeindeverwaltungen veranlasst, auf die neuen Bedürfnisse der Betroffenen zu reagieren.
4.1.2 Reorganisation: Die Massenverpflegung im Sommer 1916 In beiden Großstädten sollte die öffentliche Massenverpflegung ab dem Sommer 1916 nicht nur quantitativ erweitert, sondern auch den neuen potentiellen Besucherkreisen angepasst werden. Die neu einzurichtenden Küchen sollten allen Wienern und Berlinern gleichermaßen zur Verfügung stehen. Ausgehend von einer verbreiteten Zurückhaltung der Stadtbevölkerung, die die private Zubereitung und Einnahme der Mahlzeiten im Kreis der Familie bzw. in den eigenen vier Wänden bevorzugte, verfolgten die Verantwortlichen beider Städte frühzeitig die Absicht, die Hürden der öffentlichen Mittagsversorgung möglichst niedrig zu halten. So mussten die neuen Küchen zum einen ohne jedwede Bedürftigkeitsprüfung und räumlich getrennt von den Notspeisestellen erreichbar sein und zum anderen sollten sie ihre Speisen zum Selbstkostenpreis und im Interesse der privaten Familienmahlzeit vornehmlich zur Abholung anbieten. Hinsichtlich der Zielsetzung stimmten die Planungen zur Reorganisation der Massenverpflegung beider Städte nahezu überein. Doch in der Herangehensweise, Ausgestaltung und Umsetzung der Massenverpflegung schlugen Berlin und Wien unterschiedliche Richtungen ein, was nicht zuletzt auch ein Ergebnis der Rahmenbedingungen war, unter denen die Städte in den Prozess der Reorganisation einstiegen. Bereits eine Gegenüberstellung der Ausgangslage im Frühjahr 1916 zeigt, dass sich beide Stadtverwaltungen auf unterschiedliche Weise zu den Reorganisationsmaßnahmen veranlasst sahen. Während der Wiener Magistrat von allein erkannte, dass die bestehenden (Not-)Ausspeisungen keine zeitgemäße Antwort auf die sich ausbreitende Not in der Bevölkerung mehr waren und daher die Neuplanungen für eine städtische Großküchenverpflegung selbst in die Hand nahm, wurde die Berliner Stadtregierung durch staatliche Anweisungen gedrängt, die Neuorganisation seiner Massenverpflegung in Angriff zu nehmen. Die anhaltenden Versorgungsschwierigkeiten, die steigende Inanspruchnahme öffentlicher Küchen durch große Teile der Bevölkerung und die mit ihr verbundene Möglichkeit des sparsamen Kochens weckten im Frühjahr 1916 im Deutschen Reich ein zunehmendes staatliches Interesse am Ausbau der Großküchen. Mit Blick auf noch kommende Versorgungskrisen sollte ein großer Teil der Berliner Bevöl-
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kerung möglichst effektiv und rationell durch kommunale Küchen versorgt werden. Doch anders als die deutschen Oberbehörden waren der Berliner Oberbürgermeister Wermuth und der Magistrat wenig überzeugt vom Nutzen einer umfassenden kommunalen Massenversorgung. Dennoch leistete Berlin den staatlichen Anweisungen, die der Stadtverwaltung hinsichtlich der Ausführung freie Hand ließen, Folge. Für die künftige Ausgestaltung der Berliner Großküchenversorgung konnten Wermuth und der eigens gegründete Beirat für Volksspeisung zwischen zwei Optionen wählen: Entweder hielt die Stadtverwaltung an dem bestehenden dezentralen Notspeisesystem fest und baute es weiter aus, indem sie die Kooperation mit den überwiegend wohltätigen Vereinen aufrechterhielt, noch mehr Speisegelegenheiten schuf und die bisweilen philanthropische Verantwortung bei der Bereitstellung der Speisen übernahm; oder aber sie entschied sich zur Errichtung von neuen großen kommunal betriebenen Zentralküchen mit Speiseabgabestellen.953 Aus Sicht der Verantwortlichen war das uneinheitliche und schwer kontrollierbare Notküchensystem, das jedem Küchenbetrieb die Selbstorganisation überließ, für eine effektive und weitreichende Versorgung der Berliner Bevölkerung nicht geeignet.954 Daher entschied sich die Berliner Administration im Sommer 1916 mithilfe finanzieller Unterstützung des Staates zur Einrichtung eines neuen Speisesystems, das sich vom alten privatwohltätigen System abgrenzen sollte. Mit der Volksspeisung wurde schließlich ein prestigeträchtiges Küchenprogramm eingeleitet, das zeigen sollte, dass der Staat und die Stadtverwaltung die Versorgungsprobleme im Griff hatten. Nahezu zeitgleich diskutierten auch die Verantwortlichen um den Wiener Bürgermeister Weiskirchner über die künftige und zeitgemäße Ausgestaltung der Großküchenversorgung in der Habsburgermetropole. Die Wiener Gemeindeverwaltung erhielt keine Handlungsanweisungen seitens der staatlichen Behörden, wohl aber standen ihr Vertreter der Staats- und Landesbehörden in den Beratungen zur Seite. Der Wiener Magistrat verfügte über umfassende Erfahrungen auf dem Gebiet der Massenverpflegung, da er im Gegensatz zur zurückhaltenden Berliner Verwaltung seit Kriegsbeginn weitgehend eigenverantwortlich in diesem Bereich aktiv war. Dennoch wurde auch hier mit dem Kriegsküchen-Komitee ein neues Gremium geschaffen, das die Organisation der neuen Versorgungsaktion übernahm. Gegenüber Berlin verfügte die Donaumetropole nicht über sonderlich viele Optionen zur Neuorganisation der Großküchenverpflegung. Dem Wiener Kriegsküchen-Komitee standen weder große Markthallen noch umfangreiche finanzielle Mittel zur Verfügung, mit denen ein Zentralküchensystem, wie es in Berlin geplant wurde, einführbar gewesen wäre.955 Dennoch herrschte in Wien während der Planungsphase der künftigen städtischen Großküchen die Überzeugung vor: »Was Berlin kann, kann auch Wien.«956 Den begrenzten Möglichkeiten entsprechend ging das
953 Vgl. Döhling, Das Problem der Massenspeisung, S. 38. Zu den zwei Optionen ausführlich auch bei Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. 41. 954 Vgl. Sprenger-Seyffarth, Public Feeding, S. 87ff. 955 Vgl. Healy, Am Pranger, S. 196. Vgl. »Bericht über die 69. Sitzung der Obmänner-Konferenz vom 6. März 1917«, S. 29ff. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/75. 956 »Volks- und Mittelstandsküchen für Wien«, in: Österreichische Volkszeitung, 14. Juni 1916.
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Komitee von vornherein davon aus, dass die Reorganisation der öffentlichen Massenverpflegung in Form eines Ausbaus des bestehenden und bisweilen gut funktionierenden dezentralen Speisenetzes stattfinden musste. Dies schloss nicht nur eine Aufrechterhaltung, sondern auch eine Intensivierung der bewährten Zusammenarbeit zwischen der Gemeinde und der Wiener Philanthropie ein. Durch die zu Kriegsbeginn festgelegten Richtlinien für die Massenverpflegung waren die Grundlagen der kommunalen Zusammenarbeit mit den zahlreichen Vereinen eindeutig und langfristig geregelt. Zugleich blieb den Verantwortlichen in Wien aufgrund ihres begrenzten Handlungsspielraums kaum etwas anderes übrig als die Kooperation mit der Philanthropie fortzuführen. Im Unterschied zu den Verhältnissen in der deutschen Hauptstadt, wo sich die Stadtverwaltung von einer Unterstützung der Berliner Privatwohltätigkeit lossagte, stand und fiel die Wiener Großküchenversorgung mit der Unterstützung privatwohltätiger Vereine. Hinsichtlich der Ausgestaltung der künftigen Massenverpflegung orientierte sich die Wiener Stadtverwaltung an den Großküchensystemen verschiedener deutscher Städte.957 Die neuen Stadtküchen, die das bisherige Ausspeisungssystem ergänzten, sollten anders als die Berliner Volksspeisung langfristig Bestand haben und über die Kriegszeit hinaus einen Zweck erfüllen. Während Berlin die Massenverpflegung schon zu Kriegsbeginn als Übergangsmaßnahme für die Dauer eines kurzen Krieges und ab der zweiten Kriegshälfte als vorübergehenden »Notbehelf« für bevorstehende Versorgungskrisenzeiten betrachtete, wurde in Wien nicht nur eine vorausschauende Auswahl der neuen Küchenstandorte getroffen, für die zumeist städtische und öffentliche Gebäude herangezogen wurden, sondern auch über deren Funktion in der Nachkriegszeit gesprochen.958 Bei der Auswahl der Standorte versuchte das Wiener Kriegsküchen-Komitee die potentiellen Küchenbesucher einzubeziehen. Durch eine unverbindliche Anfrage wurde wenige Wochen vor dem Start der Aktion in Erfahrung gebracht, in welchen Stadtteilen der größte Bedarf zu erwarten war. Diesen Weg wählte zum gleichen Zeitpunkt auch der Berliner Volksspeisungsbeirat. Doch die Beteiligung der Bevölkerung blieb in beiden Städten weit hinter den Erwartungen der Organisationsgremien zurück, sodass sich die Planungen zur Standortverteilung der Küchen sowohl in Berlin als auch (zunächst) in Wien vor allem an der Einwohnerdichte der Stadtteile orientierten. Die meisten Küchen wurden daher in den bevölkerungsstarken und proletarischen Stadtteilen eröffnet. Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Zuspruch der mittelständischen und kleinbürgerlichen Bevölkerungsteile, die beiderseits das bevorzugte Zielpublikum der neuen Küchen darstellten. Da in Berlin neun der ursprünglich geplanten elf Zentralküchen und die große Mehrheit der Ausgabestellen bereits im Sommer 1916 allesamt nach dem gleichen Muster eröffnet wurden, blieb dem Berliner Magistrat in der Folge kaum Spielraum für eine Anpassung der Küchen an die Wünsche und Bedürfnisse der Berliner. Demgegenüber war die Wiener Verwaltung mit ihrem zu Beginn noch recht kleinen und ausbaufähigen Kriegsküchensystem im Vorteil. Im Verlauf der zweiten Kriegshälfte entstand ein
957 Vgl. u.a. »Was leisten Kriegsküchen?«, in: Arbeiterzeitung, 14. Juni 1916. »In einer Berliner Mittelstandsküche«, in: Die Zeit, 17. Mai 1916. 958 »Was leisten Kriegsküchen?«, in: Arbeiterzeitung, 14. Juni 1916. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 162. »Kriegsküchen in der Friedenszeit«, in: Die Zeit, 1. Januar 1918.
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Netz aus 68 Kriegsküchen, das einerseits zunehmend über das gesamte Stadtgebiet verteilt und andererseits variabel und anpassungsfähig war, indem z.B. entsprechend den Bedürfnissen der potentiellen Besucher vermehrt Küchen für spezifische Berufsgruppen geschaffen werden konnten.
4.1.3 Intervention: Die Auswirkungen der staatlichen Einmischung ab 1916 Einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklungen der Verpflegungssysteme in Wien und Berlin hatten darüber hinaus die staatlichen Instanzen, die sich ab der zweiten Hälfte des Krieges zunehmend um die Versorgung der breiten Massen bemühten. Der anhaltende Kriegszustand verbunden mit den militärischen Niederlagen an Ost- und Westfront im Sommer 1916, die unentwegt schlechter werdende Ernährung und Versorgung sowie die daraus erwachsende Unzufriedenheit im Hinterland veranlassten die deutschen und österreichischen Reichs- und Staatsbehörden, in die lokale Versorgungspolitik, die bis dahin im starken Maße von kommunalen Eigeninitiativen geprägt war, einzugreifen. Beide Stadtverwaltungen bekamen die staatliche Einmischung gleichermaßen und doch auf unterschiedliche Weise zu spüren. In der deutschen Reichshauptstadt setzten die staatlichen Bemühungen unmittelbar nach der Gründung des KEA im Frühsommer 1916 ein, das gemeinsam mit den preußischen Behörden eine Intensivierung der Verpflegung durch Massenküchen in den deutschen Großstädten anstrebte. Die Berliner Volksspeisung als Großversuch kommunal betriebener Massenspeisungen diente im darauffolgenden halben Jahr als richtungsweisendes Modell, dem weitere Kommunen folgen sollten. So wurden die in Berlin gemachten Erfahrungen mit den neu eingerichteten Stadtküchen maßgeblich in dem Ende November 1916 vom KEA veröffentlichten Grundsatzkatalog zur Errichtung von Massenspeisungen einbezogen. Nahezu zeitgleich gingen Ende des Jahres 1916 auch die herrschenden Kreise im österreichischen Teil des Habsburgerreiches daran, eine umfangreiche Versorgung der Bevölkerung in den cisleithanischen Städten durch Großküchen auf den Weg zu bringen. Gegenüber dem Deutschen Reich stand es um die allgemeine Lage in Österreich sehr viel schlechter. »Der fühlbarer werdende Mangel an Kohle und anderen Rohstoffen, die einer Katastrophe zutreibende Ernährungslage und die immer schärfer aufbrechenden Gegensätze zwischen den Nationalitäten führten Österreich im Herbst 1916«, resümiert Hautmann, »in die Situation des Herannahens einer revolutionären Krise, in der das § 14-Regime der im Juli 1914 errichteten Kriegsdiktatur zunehmend seine Wirksamkeit verlor.«959 Die österreichische Führung suchte Auswege aus der Krise, die mit den herkömmlichen Repressionsmaßnahmen nicht mehr lösbar schien. Unter dem immensen Handlungsdruck sahen sich die führenden Kreise schließlich zu einem Umsteuern ihres politischen Kurses gegenüber der unzufriedenen Bevölkerung veranlasst und versuchten u.a. durch das vermehrte Ergreifen sozialpolitischer Maßnahmen eine Beruhigung unter den Arbeitermassen herbeizuführen. Hierzu gehörte auch die Errichtung des Amtes für Volksernährung Ende des Jahres 1916, dessen überparteilich zusammengesetztes Direktorium im Januar 1917 einen Erlass zur Regelung der künftigen Ausgestaltung des Kriegsküchenwesens in Österreich veröffentlichte. Der im Vergleich zu den deutschen 959 Hautmann, Die Herrschenden, S. 6. Siehe hierzu auch Kapitel iii, Anm. 42.
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Massenspeisungsbestimmungen sehr umfangreiche Kriegsküchenerlass, in dessen Erarbeitung die Sozialdemokratie bewusst eingebunden wurde, zielte darauf ab, die Versorgung durch Großküchen in Wien und anderen österreichischen Gemeinden auszudehnen und durch ihre Einbeziehung in die amtliche Verbrauchsregelung eine gerechte und gleichmäßige Verteilung der unzureichenden Lebensmittelmengen zu erreichen. Anders als in Berlin sah sich die Wiener Stadtverwaltung durch die neuen Bestimmungen gezwungen, ihr bisher improvisiertes Kriegsküchenwesen an die Staatsvorgaben anzupassen. Neben einigen strukturellen Veränderungen in der Wiener Kriegsküchenorganisation verlangte der Erlass wie im Deutschen Reich zuvorderst die bisher nicht vorgenommene Einforderung der Lebensmittelkarten durch die Küchen, wodurch eine Doppelversorgung der Speiseteilnehmer verhindert werden sollte. Die größte Herausforderung stellte jedoch die staatlich verlangte Erweiterung des Wiener Kriegsküchennetzes dar, die sowohl in finanzieller Hinsicht als auch mit Blick auf die spärlich vorhandenen geeigneten Räumlichkeiten kaum umsetzbar erschien. Dass es der Wiener Administration dennoch gelang, die Zahl der städtischen Kriegsküchen zu erhöhen, war nicht zuletzt auf die Initiative der zahlreichen kooperierenden Vereine zurückzuführen, die nach entsprechenden Lokalitäten suchten oder eigene Räumlichkeiten zur Verfügung stellten. Maßgebliche und tatkräftige Unterstützung erhielt die Wiener Kriegsküchenaktion darüber hinaus aus dem Kaiserhaus, das seit der Thronbesteigung Kaiser Karls i. ebenso wie die Wiener Aristokratie nicht nur Spenden für den Küchennetzausbau akquirierte, sondern vielfach auch die Schirmherrschaft für Wiener Kriegsküchen übernahm. Ein vergleichbares Engagement des Herrscherhauses wurde der Berliner Stadtverwaltung und ihrer Volksspeisung nicht zuteil. Zwar gab sich das deutsche Kaiserpaar auch hier die Ehre des Besuches einer Berliner Zentralküche, doch eine kontinuierliche Mithilfe des Kaiserhauses, wie sie die Habsburgermetropole seit Anfang des Jahres 1917 und insbesondere im Rahmen der kaiserlich geförderten Fahrküchenaktion im Sommer 1918 zu spüren bekam, konnte im Fall Berlins nicht festgestellt werden.960 Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Expansion der Wiener Verpflegungseinrichtungen seit Ende 1916 leistete schließlich der Kriegsküchenerlass selbst, indem dieser auch die Neugründung von der Kommune unabhängiger Speiseeinrichtungen ermöglichte. Damit förderten die staatlichen Bestimmungen eine Entwicklung, die in Wien seit dem Sommer 1916 zu beobachten war: die vermehrte Entstehung geschlossener Speiseeinrichtungen durch Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen in (staatlichen) Behörden, Unternehmen und Fabriken. Mit diesen Speisegemeinschaften, die zumeist eigens gegründete mittelständische Gemeinschaftsküchenvereine sowie 960 Die einzige ermittelte Quelle, die das deutsche Herrscherhaus mit der Berliner Volksspeisung in Verbindung bringt, ist ein Telegramm aus Berlin, das in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurde. Vgl. u.a. »Das deutsche Kaiserpaar in einer Zentralküche«, in: Illustrierte Kronen-Zeitung, 29. Oktober 1916. »Das deutsche Kaiserpaar in einer Berliner Volksküche«, in: Pester Lloyd, 29. Oktober 1916. Dass sich der junge österreichische Kaiser im Gegensatz zu Wilhelm ii. intensiv für die Wiener Kriegsküchen engagierte, ist mitunter auf seine ausgeprägte Menschenliebe zurückzuführen. Vielmehr aber war seine Unterstützung Ausdruck der Sorge um den Zustand der Habsburgermonarchie, die in der österreichischen Bevölkerung viel stärker an Sympathien einbüßte als in Deutschland.
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die Angestellten und die organisierte Arbeiterschaft auf Eigeninitiative ins Leben riefen, wurde ein alternatives Speiseangebot geschaffen, das losgelöst von den städtischen Einrichtungen auf die Bedürfnisse der einzelnen Berufs- respektive Bevölkerungsgruppen einging. Der Wiener Stadtverwaltung, die dem stetig wachsenden Bedarf nach öffentlicher Massenverpflegung nicht mehr Herr wurde, blieb keine andere Wahl als den Zuwachs der Kriegsküchenalternativen zu akzeptieren, wobei sie stets auf die Einhaltung der für alle Küchen geltenden Versorgungsbestimmungen bedacht war. Die weitgehend reibungslose Koexistenz der kommunal organisierten Kriegsküchen und der verschiedenen alternativen Speiseeinrichtungen war nicht ausschließlich auf die Zwangslage der Gemeindeverwaltung zurückzuführen, denn bis auf die Genehmigung der nichtkommunal organisierten Gemeinschaftsküchen hatte die Wiener Gemeindeverwaltung keinerlei Verpflichtungen gegenüber den alternativen Speisegemeinschaften. Während die städtischen Kriegsküchen von der Gemeinde mit Lebensmitteln versorgt wurden, erhielten alle anderen Speiseeinrichtungen, die den Vorgaben des Kriegsküchenerlasses folgten, ihre Lebensmittel von der Einkaufsstelle des Zentralverbandes der Gemeinschaftsund Kriegsküchen in Wien und Niederösterreich. Letzterer kontrollierte das Einhalten der amtlichen Verbrauchsregelungen in den Gemeinschaftsküchen, wodurch zumindest offiziell eine Gleichbehandlung der Küchen beim Warenbezug sichergestellt schien. Auf eine ähnliche, aber weitergehende Verfahrensweise zielten auch die Bemühungen der preußischen Staatsbehörden, die unter dem Druck der anhaltenden Berliner Versorgungsprobleme im Frühjahr 1917 die Einrichtung der Staatlichen Verteilungsstelle für Groß-Berlin in die Wege leiteten. Diesen Eingriff in die lokale Selbstverwaltung quittierte die Berliner Administration jedoch mit Widerstand. Gemeinsam mit weiteren Berliner Vorortgemeinden war die Hauptstadtverwaltung bestrebt, die gerechte und gleichmäßige Verteilung der Lebensmittel nach eigenständig festgelegten Regelungen zu gewährleisten. Damit einhergehend beanspruchten Berlin und seine Vororte die vollständige Kontrolle aller Lebensmittelzufuhren in Groß-Berlin für sich. Da es den Groß-Berliner Gemeinden aber aufgrund des vorherrschenden »Vorortpartikularismus« bis über das dritte Kriegsjahr hinaus nicht gelang, einheitliche Verteilungsgrundsätze aufzustellen, musste die Berliner Stadtverwaltung nicht nur die anhaltenden Versorgungsnöte in der Hauptstadt bewältigen, sondern sich auch unentwegt gegen die Einmischungsversuche der Staats- und Reichsbehörden wehren. Berlins Selbstverwaltungsanspruch und die damit einhergehende auf Gleichbehandlung aller Berliner fixierte Sicht des Magistrats blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Massenverpflegung in der Hauptstadt. Wie in Wien war die Berliner Volksspeisung während der zweiten Kriegshälfte kein alternativloses Unternehmen. Vor allem seit der Mitte des Jahres 1916 nahm auch hier die Zahl privatwohltätiger und privatwirtschaftlicher Speiseeinrichtungen in Behörden, Unternehmen und Fabriken weiter zu. Anders als in der Donaumetropole trat in Berlin mit dem Kindervolksküchenverein vor allem ein Küchenbetreiber in Erscheinung, der die Mittelstands- und Beamtenverpflegung nahezu im Alleingang in die Hand nahm und mit seinen stark frequentierten Küchen sehr bald in Konkurrenz mit den Berliner Stadtküchen stand. Das Zustandekommen dieses Konkurrenzverhältnisses ist nicht zuletzt auf das Vorgehen der Stadtverwaltung seit der Inbetriebnahme der Volksspeisung zurückzuführen. Zum einen schlug sie während der Planungsphase des neuen Massenspeisungssystems im Sommer 1916 jegliche Unterstüt-
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zungsangebote seitens der erfahrenen Berliner Philanthropie aus. Zugleich beendete sie die Zusammenarbeit mit Herrmann Abrahams Kindervolksküchenverein, der bis zu diesem Zeitpunkt auch die Verantwortung für die Berliner Schulkinderspeisung trug. Zum anderen ging der Berliner Magistrat, der im Gegensatz zur Wiener Stadtverwaltung für die Belieferung aller Speiseeinrichtungen in der Hauptstadt verantwortlich war, durch die prioritäre Belieferung der Volksspeisung mit Lebensmitteln auf Konfrontationskurs zum Kindervolksküchenverein.961 Damit begünstigte der Magistrat den eigenen Kontrollverlust über die Versorgungsverhältnisse in den Speiseeinrichtungen des alternativen Küchenbetreibers, der sich in der Folge – begünstigt durch persönliche Handelskontakte bis in die höheren Reichsbehörden – auf anderem Wege die notwendigen Lebensmittelvorräte beschaffte und diese im Gegensatz zu den Verantwortlichen der Volksspeisung auch besser zu verarbeiten wusste. Ähnlich problematisch gestaltete sich das Verhältnis der Berliner Stadtverwaltung zu den Berliner Kriegsindustriebetrieben, von denen viele ihren Arbeitern nicht erst seit der Einleitung des Hindenburg-Programms eine Sonderversorgung mit Nahrungsmitteln und oftmals auch eine Mahlzeitversorgung in ihren Fabrik- und Werkskantinen ermöglichten. Unterstützung erhielten die Betriebe hierbei von der Militärverwaltung. Diese beeinflusste die deutsche Versorgungspolitik im Interesse der Sicherstellung einer effizienten Rüstungsproduktion ab der zweiten Kriegshälfte in starkem Maß, indem sie z.B. vielen Betrieben mit außerplanmäßigen Lebensmittellieferungen u.a. aus dem Heeresbestand unter die Arme griff und die Schleichhandels- und Schwarzmarktaktivitäten zahlreicher Kriegsindustriebetriebe duldete. Durch die kaum überschaubare Zahl der Versorgungsquellen der verschiedenen Betriebe gerieten sämtliche Versuche des Berliner Magistrats, eine geregelte und gerechte Lebensmittelverteilung zu gewährleisten, ins Hintertreffen. Schließlich erfolgte die staatliche Sonderversorgungspolitik auf Kosten der »normalversorgungsberechtigten« Bevölkerung, was zwangsläufig auch eine bessere Qualität der Speisen in den Werks- und Fabrikküchen nach sich zog. Die Berliner Stadtregierung erachtete die Betriebskantinenverpflegung prinzipiell als notwendige Ergänzung der städtischen Großküchenversorgung, sah sich durch diese aber wiederholt gezwungen, sich für die mindere Qualität des Volksspeisungsessens zu rechtfertigen.962 Das Vorgehen der Staatsbehörden nährte den Missmut in der Berliner Verwaltung, den der Oberbürgermeister bereits während der Einführung der Volksspeisung zum Ausdruck brachte, indem er auf die zwingend erforderliche staatliche Unterstützung für ein Gelingen des eingeforderten städtischen Großküchenprojekts drängte. Der Einsatz der Staats- und Militärbehörden für die Kriegsindustriebetriebe konterkarierte nicht nur das von der Stadtverwaltung verfolgte Egalitätsgebot, sondern führte der Hauptstadtadministration jenes oberbehördliche Engagement vor Augen, das sich Berlin für seine krisenhafte Ernährungswirtschaft wünschte. Statt neugegründete staatliche Verteilungsinstanzen, die den regionalen Lebensmittelmangel nach
961 Vgl. Schreiben des Oberbürgermeisters Wermuth an den Präsidenten des KEA und den Oberpräsidenten von Berlin vom 20. Januar 1917. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 315, Bl. 43–44. 962 Vgl. hierzu z.B. die Ausführungen des sozialdemokratischen Stadtverordneten Ritter in der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 363f.
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Gutdünken sortierten, benötigte Groß-Berlin aus Sicht der Kommunalbeamten ein Regierungshandeln, das der ungleichmäßigen Verteilung der Ressourcen zwischen Stadt und Land ein Ende bereitete und der Reichshauptstadt samt ihrer Vororte verlässliche Lebensmittellieferungen zusicherte. Das widerstrebende Verhalten der Berliner Verwaltung gegenüber der Volksspeisungskonkurrenz und den staatlichen Behörden war nichts anderes als ein Versuch, eine gerechte Lebensmittelverteilung für die Allgemeinheit herbeizuführen. In der festen Überzeugung, die lokalen Verhältnisse und Bedürfnisse der Bevölkerung am besten zu kennen, glaubte die Stadtverwaltung mit ihrem für alle Stadtbewohner offenen Volksspeisungssystem auf dem einzig richtigen Weg zu sein. Hierbei setzte sie sich im Interesse der eigenen Küchen gegen alles zur Wehr, was von ihr als Quelle der Ungerechtigkeit wahrgenommen wurde. Anders als in Wien wurde von der Berliner Verwaltung kein Versuch unternommen, sämtliche Massenverpflegungsinitiativen als gemeinschaftliches Unternehmen zu betrachten, mit dem den verschiedenen Not leidenden Bevölkerungskreisen geholfen und ein gewisses Gemeinschaftsgefühl unter den Betroffenen gefördert werden konnte. Mit Blick auf die soziokulturellen Gegebenheiten wird ersichtlich, dass die für alle offene Volksspeisung allein den unterschiedlichen Bedürfnissen der Hauptstadtbevölkerung nicht gerecht wurde und dass die Wiener Stadtverwaltung mit ihrem aus der Not geborenen Kurs des gemeinschaftlichen Improvisierens auf dem Gebiet der Massenverpflegung einen zweckdienlicheren Weg einschlug.
4.2 Soziokulturelle Gegebenheiten: Stolze Stadtbevölkerungen mit Ansprüchen Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte für die Wiener und Berliner Arbeiter- und Mittelstandsfamilien eine enorme Verschlechterung der Lebensumstände zur Folge, die im Verlauf des Krieges dramatisch zunahm. Sowohl die staatlichen Familienfürsorgeals auch die kommunalen Kriegswohlfahrtsmaßnahmen konnten den drastisch gestiegenen Lebenshaltungskosten kaum Einhalt gebieten. Einen entscheidenden Anteil an der Verelendung der Bevölkerungsmassen hatten die bereits während der ersten Kriegsmonate vielerorts einsetzenden Versorgungsprobleme. In beiden Metropolen standen Teuerungsdemonstrationen und Lebensmittelkrawalle auf der Tagesordnung und lange Menschenschlangen vor den Lebensmittelgeschäften wurden zu einem vertrauten Alltagsphänomen. Entbehrung und Mittellosigkeit bestimmten den Kriegsalltag vieler Wiener und Berliner Arbeiter- und Angestelltenfamilien. Mit den neuen Lebensbedingungen einhergehend sahen sich viele Betroffene herausgefordert, ihren gesellschaftlichen Status und die damit verbundenen Normen und Gewohnheiten zu verteidigen. Die Entwicklung der kriegsbedingten Massenverpflegung in Wien und Berlin veranschaulicht einerseits, wie stark die soziale Identität durch die Art und Weise der Mahlzeiteinnahme bestimmt wurde und wie ausgeprägt der Wunsch nach Aufrechterhaltung des sozialen Status unter den Berlinern und Wienern war. Andererseits aber demonstriert die Großküchenversorgung beider Städte in aller Deutlichkeit, mit welcher Intensität sich der Krieg und die Not auf das Leben der Menschen auswirkten. Anhand der Klagen und wesentlichen Kritikpunkte an den kommunal betriebenen offenen Großküchen, dem Wandel sozialdemokratischer Massenverpflegungsforderun-
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gen und schließlich dem Vormarsch der alternativen (nicht-kommunalen) Verpflegungseinrichtungen wird im Folgenden gezeigt, dass die Wiener und Berliner auch während des Krieges an ihrer Anspruchshaltung hinsichtlich der täglichen Mahlzeitenversorgung lange festzuhalten versuchten.
4.2.1 Klagen: Die Kritik an der kommunalen Massenverpflegung Mit ihrem Bestreben, möglichst weite Teile ihrer Bevölkerung täglich mit einem warmen Mittagessen zu versorgen, setzten sich die Stadtverwaltungen in Wien und Berlin ein hohes Ziel. Die ab der zweiten Kriegshälfte eingeleitete Massenverpflegung sollte über die Gruppe der Bedürftigsten hinaus nicht nur die bemittelte Arbeiterschaft, sondern auch die mittelständischen und kleinbürgerlichen Kreise gleichermaßen ansprechen. In beiden Städten zeichnete sich bereits während der ersten Kriegshälfte ab, dass der überwiegende Teil der Not leidenden Bevölkerung nicht bereit war, das »Almosen-Mittagessen« der städtisch-organisierten Wohltätigkeit anzunehmen. Solange die Betroffenen die finanziellen Mittel und Möglichkeiten besaßen, ihre Versorgung eigenständig zu bestreiten, kochten und speisten sie im Privathaushalt oder nahmen entgeltliche Speiseangebote in Anspruch, die ihren standesgemäßen Bedürfnissen gerecht wurden. Mit den wachsenden Versorgungsschwierigkeiten und der dadurch zunehmenden Notlage unter der Bevölkerung wurde es jedoch für viele der Betroffenen spätestens ab dem Beginn der zweiten Kriegshälfte immer schwieriger, die Selbstversorgung nach eigenem Ermessen zu organisieren. In dieser Situation versuchten die Berliner Volksspeisung und die Wiener Kriegsküchen mit ihren günstigen Mittagsangeboten Abhilfe zu schaffen. Die Inanspruchnahme der Stadtküchen belegt, dass in beiden Städten ein Bedarf vorhanden war (Abb. 42).963 Im ersten Jahr ihres Bestehens, das maßgeblich von den großen Versorgungsproblemen des krisenhaften Winters 1916/17 bestimmt wurde, stiegen die Teilnehmerzahlen rapide an. In Berlin sanken die Besucherquoten im zweiten Halbjahr 1917 wieder. Demgegenüber nahm die Frequentierung der Wiener Kriegsküchen und Ausspeisungen bis zum Ende des Krieges nicht nur kontinuierlich, sondern auch in drastischer Weise zu. Mit durchschnittlich bis zu 355.000 täglichen Kostgängern im zweiten Halbjahr 1918 versorgten die Wiener Küchen einen beträchtlichen Teil der Stadtbevölkerung. Wie außerordentlich hoch die Zahl der Beköstigten in den kommunal betriebenen Küchen Wiens ausfiel, verdeutlicht die Gegenüberstellung mit den schätzungsweise 40.000 bis 60.000 täglichen Volksspeisungsgästen in Berlin.964
963 Berücksichtigung finden hierbei der Einheitlichkeit halber auch die Teilnehmerzahlen der städtischen Wiener Ausspeisungen. Dies ist notwendig, weil sich die Berliner Volksspeisung auch an jene Stadtbewohner richtete, die bis zum Sommer 1916 zum Besucherkreis der Notküchen für Bedürftige und zu der bis Oktober 1916 privatwohltätig organisierten Schulkinderspeisung gehörten. 964 Seit Juli 1917 erreichten die Teilnehmerzahlen der Volksspeisung kein weiteres Mal den sechsstelligen Bereich. Für das zweite Halbjahr 1918 liegen für die Berliner Volksspeisung vereinzelte monatliche Besucherquoten vor. Die Schätzung basiert auf den Besucherzahlen für die Monate Mai und Juni 1918 sowie Januar 1919.
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Abbildung 42: Gegenüberstellung der täglichen Inanspruchnahme der kommunal organisierten Großküchen in Berlin und Wien (1916–1918)
* Berlin: einschließlich Januar 1919 Quellen: Berlin: »Zwei Jahre Berliner Volksspeisung«, in: Tägliche Rundschau, 12. Juli 1918 und Käber, Berlin, S. 150. Vgl. auch Allen, Hungrige Metropole, S. 75. Davis, Home Fires, S. 148. Döhling, Das Problem der Massenspeisung, S. 58. Wien: Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 162f.
Anmerkungen zu Abbildung 42 Da für die Wiener Ausspeisungen und Kriegsküchen nur die Gesamtportionsausgabezahlen für die angegebenen Zeiträume und für die Berliner Volksspeisung keine vergleichbaren Angaben vorliegen, stellt das Diagramm lediglich eine Annäherung an die Entwicklung der Inanspruchnahme der kommunal organisierten Großküchen dar. Im Fall Wien wurden die Angaben über die tägliche Inanspruchnahme aus der Gesamtportionsausgabezahl des jeweiligen Zeitraums errechnet (hierzu vgl. auch Abb. 37). Die Angaben für die Berliner Volksspeisung entsprechen der durchschnittlichen täglichen Besucherzahl aus jeweils zwei gewählten965 Monaten des entsprechenden Zeitraums (vgl. Abb. 23). Über das Problem des variierenden Datenmaterials hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass die Portionsausgabezahl der Wiener Küchen nicht zwangsläufig äquivalent zur Besucherzahl war. Es muss daher angenommen werden, dass die Inanspruchnahme insgesamt etwas niedriger ausfiel als im Diagramm dargestellt.
Durch die Unterstützung zahlreicher privater Speiseinitiativen und -betriebe wurden zudem Hunderttausende Wiener in alternativen bzw. nicht-kommunal betriebenen Küchen versorgt. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges gehörten rund eine halbe Million Menschen zum Speisepublikum der Wiener Massenspeisungen. Es ist nicht von der 965 Da nicht für alle Monate Angaben über die Besucherzahlen der Volksspeisung vorliegen, erfolgte die Auswahl in erster Linie in Abhängigkeit der verfügbaren Angaben. Aufgrund fehlender Daten für die Zeit zwischen Juli und Dezember 1918 wurde für diesen Zeitraum die Besucherzahl für Januar 1919 hinzugezogen.
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Hand zu weisen, dass die Inanspruchnahme der Wiener Stadtküchen das katastrophale Ausmaß der städtischen Ernährungsprobleme abbildete. Für unzählige Wiener und ihre Familien entwickelten sich die öffentlichen Massenküchen im Verlauf des Krieges zwangsläufig zu einer unentbehrlichen Einrichtung. Selbstredend galt dies auch für viele Not leidende Berliner, denen auch nach dem Abklingen der schweren Versorgungskrisen des dritten Kriegsjahres keine andere Wahl blieb als die Massenverpflegungseinrichtung aufzusuchen. Durch die bevorzugte Belieferung der Wiener und Berliner Speiseeinrichtungen mit Lebensmitteln war die zum Überleben notwendige Kost noch am ehesten in der kommunalen Massenspeisung zu erhalten. Zumindest war dies der Anspruch, den die Stadtverwaltungen an ihre Küchen stellten. Gemäß den Ankündigungen der städtischen Behörden erhofften sich die betroffenen Stadtbewohner von den Großküchen den Zugang zu den vom freien Markt verschwundenen Nahrungsmitteln. Da die Lebensmittelknappheit die Küchen früher oder später genauso wie den Einzelhandel erfasste, fehlte jedoch auch der Massenspeisungskost die mittels Rationskarten zugesicherte und von den Küchengästen sehnlichst erwartete Menge an Fleisch, Fetten und Kartoffeln. Eine unweigerliche Folge des Mangels war die Unzufriedenheit der Speiseteilnehmer. So standen die Berliner und Wiener Stadtküchen permanent in der Kritik. Die Klagen der Teilnehmer gingen in beiden Hauptstädten nicht nur Hand in Hand mit der sich verschlechternden Versorgungslage, sondern waren auch inhaltlich nahezu identisch. Über die minderwertige Qualität des Essens hinaus wurde die Quantität der abgegebenen Speisen beanstandet, die aus Sicht der Küchengäste nicht im Verhältnis zu den Preisen und der abzuliefernden Menge der Rationskarten standen. Während die Bezugskartenabgabe in der Berliner Volksspeisung seit ihrer Eröffnung für alle Besucher verpflichtend war, erfolgte die Einführung der Kartenpflicht in den Wiener Küchen erst auf Drängen der staatlichen Behörden rund ein Jahr später. Sowohl in der deutschen Hauptstadt als auch in der Habsburgermetropole wurde diese Regelung in vielen Gasthäusern und ähnlichen privaten Speisebetrieben jedoch nicht umgesetzt und damit eine Bevorteilung der wohlhabenderen Bevölkerungskreise geduldet. Der Nutzen des »Kartenzwangs« wurde deshalb nicht nur von den betroffenen Küchenbesuchern in Wien und Berlin in Frage gestellt, sondern auch von den kommunalen und privaten Wiener Großküchenbetreibern. Jegliche Bemühungen der Kommunen, mit der Massenverpflegung eine Streckung der Lebensmittel herbeizuführen, konnten nur ins Leere laufen, solange die Privatgastwirtschaften ihre Speisen weiterhin ohne Vorlage der Bezugskarten ausgaben.966 Das Problem erkannten auch die Stadtverwaltungen, doch sahen diese sich nicht in der Lage, die zahlreichen Gaststätten und Gasthäuser effektiv zu kontrollieren. »Da die Lebensmittelkartenanrechnung nicht vollständig durchgesetzt werden konnte,« so Roerkohl, »blieben die volkswirtschaftlichen Vorteile der Massenspeisung,
966 Vgl. u.a. »Ein schwerer Schlag für die Kriegsküchenteilnehmer«, in: Der Abend, 20. Juni 1917. »Der Lebensmittelverband der Kriegsleistungsbetriebe Wiens«, in: Arbeiter-Zeitung, 24. August 1917. »Gegen die Doppelversorgung, in: Die Zeit, 15. September 1917. »Hundertfünfzig Kriegsküchen in Wien«, in: Fremdenblatt, 30. Oktober 1917.
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den Gesamtvorrat an Nahrungsmitteln zu vergrößern, weit hinter den Erwartungen zurück.«967 Die Skepsis der Küchengäste bezüglich der Sinnhaftigkeit der Bezugskartenabgabe paarte sich in beiden Städten mit dem Ärger über unzureichende Speisemengen in den Küchenkesseln und das fehlende Speiseausgabetempo. Durch die verpflichtende Vorausabgabe der wertvollen Rationierungskarten waren die Speiseteilnehmer für eine Woche an die Massenspeisung gebunden und somit auf eine verlässliche Speiseabgabe angewiesen. Da aber viele Küchengäste wiederholt »leer« ausgingen und die Betroffenen auf andere Weise keine Lebensmittel erhielten, war es eine Frage der Zeit, bis Panik und Verzweiflung um sich griffen, was sich vor allem durch das Schlange stehen und aggressive Verhalten der Besucher gegenüber dem Küchenpersonal bemerkbar machte.968 Nicht zuletzt gehörten auch Beanstandungen der hygienischen Zustände in den Speiseeinrichtungen, die »dilettantischen Kochkünste« und das unbesonnene Benehmen der Küchenbelegschaft zu den häufig geäußerten Klagen, die die Stadtküchen in Wien und Berlin auf sich zogen und viele potentielle Speisegäste aus der kommunalen Massenküche fernhielten.
4.2.2 Resignation: Die Grenzen sozialdemokratischen Mitwirkens Gemeinsam hatten die beiden Hauptstädte zudem, dass der überwiegende Teil der Kritik den Reihen der Sozialdemokratie bzw. der sozialdemokratischen Presse entsprang. Als Verfechter der »Massenspeisung für alle«, die allen Stadtbewohnern ohne Unterschied eine gerechte und gleichmäßige Zuteilung der Nahrungsmittel zusichern sollte, waren die Sozialdemokraten daran interessiert, sämtliche dahingehende Bemühungen der Gemeinden zu unterstützen. Die Stadtverwaltungen erkannten umgekehrt, dass es notwendig war, die sozialdemokratischen Kräfte in die kommunale Kriegsarbeit einzubeziehen. Auf diese Weise wurde nicht nur die Zustimmung der Arbeiterschaft für das vielfach unpopuläre Vorgehen der Gemeindebehörden gewonnen, sondern auch etwaigen Unruhezuständen in der mehrheitlich aus Arbeitern bestehenden Stadtbevölkerung entgegengewirkt. In Wien war die Sozialdemokratie seit Beginn des Krieges in die kommunalpolitische Entscheidungsfindung eingebunden. So wurden nicht nur Vertreter der sozialdemokratischen Gemeinderatsfraktion in die Obmänner-Konferenz, der wichtigsten Wiener Kriegsverwaltungsinstitution, berufen, sondern auch rührige Sozialdemokratinnen in die Kriegsarbeit des städtischen Frauenbeirats der Frauen-Hilfsaktion einbezogen, der maßgeblich an den Planungen und der Organisation des Wiener Kriegsküchenwesens beteiligt war. Davon abweichend und weniger zielführend gestaltete sich die Einbeziehung der Sozialdemokratie in die Berliner Kriegsverwaltung. Über die »Burgfriedenspolitik« hinaus ergab sich die parteiübergreifende Zusammenarbeit hier zu Kriegsbeginn aus der bewährten gremienübergreifenden Kooperation von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung. Der im Sommer 1916 gegründete »Beirat für Volksspeisung« war ein Gremium wie alle bereits bestehenden kommunalen Ausschüsse und
967 Roerkohl, Hungerblockade, S. 257. 968 Vgl. Healy, Eine Stadt, S. 152. Sowie Heyl, Aus meinem Leben, S. 156.
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Deputationen, in denen u.a. einzelne Stadtverordnete der verschiedenen Fraktionen zusammenkamen. Eine außerordentliche Einbindung erlebten die sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kräfte in Berlin im Grunde genommen erst mit der Gründung der Arbeiterkommission im April 1917, die der Unzufriedenheit unter den Arbeitermassen Einhalt gebieten sollte, aber mit Blick auf die Organisation der Volksspeisung nahezu bedeutungslos war. Wie in Wien wurde auch in Berlin kurz nach Ausbruch des Krieges der Versuch unternommen, die weibliche Sozialdemokratie in die Arbeit des NFD einzubeziehen, doch im Gegensatz zur Wiener Frauenhilfsaktion währte das Bündnis der Berliner Frauen nur kurzfristig. Neben dem Zwang zur Erwerbstätigkeit vieler der ehrenamtlichen Arbeiterinnen führten Ablehnungserfahrungen und Konflikte mit den bürgerlichen Frauen schließlich zu einem Rückzug der einflusslosen Sozialdemokratinnen aus dem NFD und dem städtischen Massenspeisungsbetrieb.969 Nicht zuletzt muss auch die wachsende Uneinigkeit und im April 1917 vollzogene Spaltung der SPD berücksichtigt werden. Die weitgehend vereinte sozialdemokratische Unterstützung der städtischen Volksspeisung versuchte lange den Bedürfnissen der Stadtbevölkerung und den schwierigen Organisationsbedingungen der Massenverpflegung gleichermaßen gerecht zu werden. Dieses geschlossene Auftreten der Sozialdemokraten hinsichtlich der städtischen Massenverpflegung fand mit der Parteispaltung sein Ende. Trotz ihrer überschaubaren Mitwirkungsmöglichkeiten nutzten die Berliner Sozialdemokraten die sich ihnen bietenden Gelegenheiten zur Mitgestaltung der Volksspeisung, indem sie die Stadtverwaltung einerseits durch ihre Mitglieder in der Stadtverordnetenversammlung und andererseits über ihre Presseorgane wiederholt auf viele der oben benannten Unzulänglichkeiten und Probleme hinwiesen und stets auf eine Beseitigung der anhaltenden Missstände drängten. Schon vor der Eröffnung der Volksspeisung wies die SPD auf mögliche Fehlentscheidungen bei der Einrichtung von Massenküchen hin. Dass die Organisation der Massenversorgung im Sommer 1916 zur kommunalen Angelegenheit erklärt wurde, war nach ihrer Ansicht ein längst überfälliger Schritt, den sie bereits seit den ersten Wochen des Krieges als notwendig erachtet hatte.970 Dabei war die Berliner Sozialdemokratie überzeugt, dass ein städtisches Großküchensystem nur dann erfolgreich sei, wenn dieses allen Berlinern gleichermaßen zur Verfügung gestellt und von allen Kreisen der Bevölkerung in Anspruch genommen werde. Anders als die Stadtverwaltung, die in erster Linie daran interessiert war, die Bevölkerung ohne die Ausschaltung des Einzelhaushaltes für die bevorstehenden Versorgungsnotzeiten zu wappnen, zielten die Forderungen der SPD auf eine »allgemeingültige« Gemeinschaftsverpflegung, die sich vom wohltätigen »Armeleuteessen« abhob. Die Volksspeisung, wie sie die Berliner Verwaltung schließlich auf den Weg brachte, hatte damit nur wenig gemein. Da der überwiegende Teil der Küchen und Ausgabestellen vorwiegend in jenen Stadtteilen eröffnet wurde, wo die größte Nachfrage vermutet wurde, war das städtische Unternehmen schlussendlich nur dem Namen nach »für alle« gedacht. Die Ähnlichkeit des »neuen« Massenversorgungssystems mit den Notküchen der ersten Kriegshälfte war
969 »Volksspeisung«, in: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 13, 10. Dezember 1916. 970 Vgl. »Hilfe in der Not«, in: Vorwärts, 16. August 1914. »Oeffentliche Speisungen«, in: Vorwärts, 4. Oktober 1914.
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nicht nur für die Sozialdemokraten unverkennbar. Noch bevor die erste Küche in Betrieb genommen wurde, war die vom Vorwärts angekündigte »freudige Begrüßung« innerhalb der Berliner Arbeiterschaft längst verflogen. Die Berliner SPD hielt dennoch an ihrem Zuspruch für das städtische Massenverpflegungsvorhaben fest, denn immerhin konnte mit diesem die über viele Jahre von ihr geforderte Übernahme der Schulkinderverpflegung in städtische Regie verwirklicht werden. Auch wenn die Umgestaltung der bislang philanthropisch organisierten Schulspeisung, die fortan von der Volksspeisung ausgeführt wurde, mehr eine logische Konsequenz des kommunalen Handelns war und weniger als ein Entgegenkommen gegenüber der SPD anzusehen ist, verbuchte der Vorwärts diesen Schritt der Stadtverwaltung als Erfolg der sozialdemokratischen »Zähigkeit und Ausdauer«.971 Ähnlich beharrlich setzte sich die Partei auch im ersten Jahr der Volksspeisung für eine gut funktionierende Massenversorgung ein. Die sozialdemokratische Kritik und Wiedergabe der Besucherbeschwerden wurden nicht selten in Verbindung mit einem grundsätzlichen Verständnis für die außerordentlichen Versorgungsbedingungen sowie Vorschlägen zur Verbesserung geäußert. Der Großteil der im Vorwärts und anderen gewerkschaftlichen Blättern publizierten kritischen Anmerkungen zur Volksspeisung machte die Verwaltung somit nicht nur auf die Mängel in den Küchen aufmerksam, sondern verwies die Leserschaft wohlweislich auf die besonderen wirtschaftlichen Verhältnisse, die es den Stadtküchen erschwerten, die Zufriedenheit aller Teilnehmer herbeizuführen. Die Einrichtung der Beschwerdekästen in den Speiseeinrichtungen ist ein Beispiel dafür, dass die Kritik und die Verbesserungsvorschläge der SPD in der Stadtverwaltung und im Volksspeisungsbeirat nicht ungehört blieben und im Interesse der Zufriedenheit des Küchenpublikums zunächst durchaus willkommen waren. Doch die meisten Forderungen zur Verbesserung der Volksspeisung, die seitens der Arbeitervertreter hervorgebracht wurden, fanden bei den Berliner Behörden wenig bis keinen Anklang. Dem sozialdemokratischen Verlangen nach einer Ausdehnung des Volksspeisungsunternehmens auf das gesamte Wirtschaftsgebiet Groß-Berlins oder dem nach einer Herabsenkung der anzurechnenden Lebensmittelkarten konnte der Magistrat nicht nachkommen, weil ihm der dafür notwendige Handlungsspielraum oder in einigen Fällen auch der Wille fehlte.972 Dabei war es aus Sicht der verantwortlichen Kommunalbeamten vor allem die wankende Ernährungswirtschaft der Hauptstadt, die den Volksspeisungsorganisatoren Grenzen setzte. Da diese als fortwährende Entschuldigung der Stadtverwaltung für nahezu alle Mängel und Verfehlungen der Volksspeisung diente und die unhaltbaren Zustände in
Vgl. »Schulspeisung in städtischer Regie«, in: Vorwärts, 8. August 1916. Vgl. auch »Die Speisung bedürftiger Schulkinder«, in: Vorwärts, 5. Februar 1916. 972 Vor allem mit Blick auf die Rationskartenabgabe zeigte sich die Stadtverwaltung kompromisslos. Eine Lockerung oder gar Freigabe der Speisen ohne Kartenanrechnung kam für die Verantwortlichen nicht in Frage, da sie befürchteten, dass sich damit der Mangel an Lebensmitteln außerhalb der Stadtküchen vergrößere und dies somit einen »indirekten Zwang der Bevölkerung« zur Teilnahme an der Volksspeisung nach sich ziehe. Hierbei wird abermals deutlich, dass der Berliner Magistrat im Gegensatz zu den Sozialdemokraten zu keinem Zeitpunkt das Ziel verfolgte, wirklich alle Berliner mit den Stadtküchen zu erreichen. Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Massenspeisungen am 9. Dezember 1916. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164, Bl. 150. 971
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den Küchen unaufhörlich zunahmen, verloren allen voran die Unabhängigen Sozialdemokraten spätestens ab dem vierten Kriegsjahr die Geduld und das Interesse, sich gegenüber der Arbeiterschaft weiter für die städtische Massenspeisung und ihre Verantwortlichen stark zu machen. Die vehemente Ablehnung der Speisepreiserhöhung und die verständnislosen Äußerungen und Anklagen über die Unzumutbarkeit der Volksspeisung belegen wie der Wille zur Unterstützung der kommunalen Massenverpflegung in den Reihen der (Unabhängigen) Sozialdemokraten versiegte. Auch die Wiener Stadtküchen standen seit ihrer Einführung in der Kritik der sozialistischen Presse. Trotz ihrer verstärkten Einbindung in das kommunale Kriegsverwaltungsgeschehen bekundete die Wiener Sozialdemokratie hinsichtlich der Probleme der Küchenversorgung stets ihre Sicht der Dinge. Einerseits entsprach dies der »taktischen Doppelrolle« der Sozialdemokraten, die über die Gemeinderegierungsbeteiligung hinaus ihre Teilhabe an der Opposition aufrechterhielten.973 Andererseits offenbaren die kritischen Berichte der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Presse, dass der Einfluss der mitwirkenden Arbeitervertreter auf die Kriegsküchenorganisation in den entsprechenden Verwaltungsgremien doch relativ gering war.974 Dass die Wiener Kriegsküchenaktion nicht nach den Vorstellungen der sozialdemokratischen Massenspeisungsbefürworter ausgestaltet wurde, belegen die früh veröffentlichten Klagen über die ungünstig gelegenen und viel zu kleinen Küchen in der Arbeiterinnen-Zeitung und der Arbeiter-Zeitung im Sommer und Herbst 1916. Hierbei verwiesen sie von Anfang an auf ein Problem der Wiener Massenverpflegung, welches in Berlin ausblieb: die fortdauernd unzureichenden Kapazitäten der Stadtküchen. Im Gegensatz zur deutschen Hauptstadt, die sich mit ihrer Volksspeisung auf künftige Versorgungskrisen vorbereitete, hatte der Lebensmittelmangel die Donaumetropole im Herbst 1916 bereits so fest im Griff, dass die städtische Massenversorgung den hohen Bedarf zu keiner Zeit decken konnte. Seit der Eröffnung der ersten Wiener Kriegsküchen bis zum Ende des Krieges arbeiteten die Einrichtungen an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Die Abweisung speisewilliger Wiener in den Küchen wurde von der Arbeiter-Zeitung wiederholt kritisiert.975 Weniger verständnisvoll als die Berliner Genossen zeigte sich die Wiener Arbeiterpartei auch gegenüber der »selbstherrlichen Schreckensherrschaft«976 einiger Küchenleitungen, die anders als in Berlin nicht zentral organisiert waren. Da die Verwaltung der Wiener Küchen im Zuständigkeitsbereich der mit der Gemeinde kooperierenden Vereine lag, variierten nicht nur die »Schmackhaftigkeit« der Speisen von Küche zu Küche, sondern auch die Eigenmächtigkeiten der jeweiligen Küchenverwalter. Über ihre personelle Mitwirkung in der Wiener Verwaltung und auch durch ihre Kriegsküchenkritik gelang es den Sozialdemokraten nicht, eine Verbesserung der obwaltenden Zustände in den Küchen herbeizuführen. Nach der Veröffentlichung des Kriegsküchenerlasses gingen sie dazu über, die Arbeiterschaft zur Eigeninitiative aufzurufen. So wurden z.B. die Gründung genossenschaftlicher Gemeinschaftsküchen und die Mitwirkung in den in ihrer Zahl zuneh-
973 Vgl. Pfoser, Das politische System (oben Kapitel iii, Anm. 48). 974 Vgl. u.a. Freundlich, Kriegsküchen zur Massenspeisung, S. 38. 975 Vgl. u.a. »Kriegsküche Nr. 27«, in: Arbeiter-Zeitung, 11. April 1917. Ferner »Aufgelassene Kriegsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 9. Februar 1917. 976 Ebd.
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menden Wiener Betriebsküchen empfohlen. Wie die Berliner SPD sah sich die Wiener Arbeiterpartei schlussendlich mit dem gleichen Problem konfrontiert, das maßgeblich zur schwindenden Unterstützung der Sozialdemokraten für die kommunal organisierte Massenverpflegung beitrug: die öffentlichen Küchen der Stadt »rochen nach sozialer Erniedrigung«977 und hatten mit einer gerechten und rundherum ansprechenden Massenspeisung, wie sie die sozialdemokratischen Verfechter der (obligatorischen) Großküche forderten, nichts gemein.
4.2.3 Stolz: Die vorherrschenden Ansprüche auf Sonderbehandlung Sofern die Not sie nicht dazu zwang, waren die Berliner und Wiener mehrheitlich nicht für die städtischen »Hungerküchen« zu gewinnen. Mit Blick auf die Berliner Volksspeisung und den enormen Anteil der Stadtbevölkerung, der den Stadtküchen fernblieb, resümiert Belinda Davis: »Lower middle-class women remained unconvinced, bourgeois women had other options, and working-class women consequently refused to use them.«978 Davis’ Einschätzung besitzt auch für Wien eine gewisse Gültigkeit. Wie in Berlin machte der überwiegende Teil der Bevölkerung in der Habsburgermetropole keinen Gebrauch von den Stadtküchen. Berücksichtigt werden muss hier jedoch die nicht zu unterschätzende Zahl der Speisewilligen, die aufgrund der unzureichenden Kapazitäten keine Chance zur Teilnahme an der kommunalen Küchenspeisung erhielten. Gleichwohl veranschaulicht die Entwicklung der kriegsbedingten Massenverpflegung in beiden Hauptstädten, wie vehement am Mittagstisch um den Erhalt des sozialen Status gekämpft wurde. Die kontinuierlich zunehmende Inanspruchnahme alternativer Speiseeinrichtungen mit ihrer Ausrichtung auf die spezifischen Bedürfnisse unterschiedlicher Berufs- bzw. Bevölkerungsgruppen verdeutlicht, dass die mittelständischen und kleinbürgerlichen Kreise genauso wie die ärmeren (Arbeiter-)Schichten notgedrungen bereit waren, den Privatmittagstisch zugunsten der Großküchenversorgung aufzugeben. Seit dem Sommer 1916 nahm sowohl in Wien als auch in Berlin die Zahl geschlossener Gemeinschafts-, Mittelstands- und Beamtenküchen unaufhaltsam zu. In den Zeiten der größten Versorgungsnot nutzten täglich Hunderttausende Stadtbewohner die Speiseangebote nicht-kommunaler Mahlzeitenanbieter, von denen lediglich ein kleiner Teil keine Einschränkungen hinsichtlich des Besucherkreises vornahm. Dabei erfasste der vorherrschende Lebensmittelmangel, der vor allem in Wien ein schier grenzenloses Ausmaß annahm, die alternativen Speiseeinrichtungen ebenso wie die Stadtküchen. Auch hier gab es kritische Äußerungen hinsichtlich des Speiseangebots. Diese wurden zwar vergleichsweise selten veröffentlicht, doch belegen sie, dass das Essen der Stadtküchenkonkurrenz ebenfalls nicht immer »genießbar« war.979 Die dennoch überwiegend bessere Qualität des Essens war nicht der maßgebliche Grund
977 Chickering, Roger: Freiburg im Ersten Weltkrieg: Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914–1918, Paderborn 2009, S. 258. 978 Davis, Home Fires, S. 146. 979 Vgl. z.B. »Die Gemeinschaftsküchen und der Mittelstand«, in: Österreichische Volkszeitung, 24. Januar 1917. »Obligatorische Gemeinschaftsküchen«, in: Österreichische Volkszeitung, 18. Mai 1918. Sowie »Suppen«, in: Wirtschaftliches Wochenblatt für die Beamten-, Mittelstands- und Kleinkinderküchen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte Berlin e.V. (Januar 1917), Nr. 4, S. 1.
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für die kontinuierlich hohe und steigende Frequentierung der mittelständischen Gemeinschaftsspeisungen. Bei der mittäglichen Massenverpflegung beharrte die breite Masse der Mittelstandsbevölkerung bis in das letzte Kriegsjahr hinein auf ihrem Recht der Sonderbehandlung: »Der Mittelstandsmensch kann sich nun einmal nicht mit den Angehörigen einer niedrigeren Bildungsschichte um den Zutritt drängen. Seine Ellbogentechnik reicht dazu nicht aus, und außerdem wird sein besserer, wenn auch mit schweren Opfern erkaufter Rock immer die Veranlassung zu wüstesten Anrempeleien sein. Der gebildete, an eine gewisse Kultur des Essens gewöhnte Mensch bringt es auch nicht fertig, sich an einer Schüssel abwechslungslosen Kriegsgemüses satt zu essen. Der Ekel vor der aufgehäuften Masse überwiegt da das Hungergefühl, und man darf es dem Mittelstandsmenschen gewiß nicht verübeln, daß er seine durch Jahrtausende erworbene Kultur nicht schon wieder verloren hat und mit wilder Gier hinabschlingt, was ihm vorgesetzt wird.«980 Überdies gilt es hervorzuheben, dass der Anspruch auf Sonderbehandlung nicht auf die kleinbürgerlichen Kreise beschränkt blieb. Innerhalb der Arbeiterschaft, die sich vergebens mehrheitlich eine verbindliche schichtenübergreifende Gemeinschaftsverpflegung wünschte, wuchs im Verlauf der zweiten Kriegshälfte ebenfalls das Bedürfnis nach einer exklusiven Versorgung. Auch die Arbeiterkreise waren nicht frei von »spießbürgerlichen Vorurteilen« gegenüber der Großküche und angesichts ihrer Klagen im Vorwärts und der Arbeiter-Zeitung ebenso wenig bereit, sich mit dem vielfach verabreichten »Hundefraß« in den Stadtküchen abfertigen zu lassen.981 Die von den Stadtverwaltungen geduldete Mittelstandsverpflegung, die für Außenstehende nicht selten den Anschein einer exquisiten Ernährung erweckte, förderte zudem die Frustration unter den Wiener und Berliner Arbeitern, von denen sich viele das Mittelstandsessen nicht leisten konnten.982 Die Sonderbehandlung des Mittelstandes und der fehlende Einfluss der Arbeiterschaft auf die Organisation der Stadtküchen förderten den Wunsch vieler Arbeiter nach einer Versorgung, die ihren Bedürfnissen bzw. ihrem Einsatz für die Kriegsindustrie gerecht wurde. Die Arbeiterverpflegung im Betrieb bzw. der Fabrik, die sich ab der zweiten Kriegshälfte auf nahezu alle Wiener und Berliner Betriebe erstreckte und für viele der Beschäftigten eine Erleichterung des kräftezehrenden Arbeitsalltages darstellte, ermöglichte den Kriegsarbeitern nicht nur häufig die Selbst- bzw. Mitverwaltung der betriebsinternen Verpflegung, sondern auch eine – nicht zwangsläufig ausreichende – Sonderversorgung mit Lebensmitteln. Obwohl letztere nicht im Mindesten allen Arbeitern zugutekam, nährte die Arbeitersonderversorgung wiederum das Gefühl einer Benachteiligung und den Unmut innerhalb des Mittelstandes. Davis zufolge beklagte der
980 »Die Organisierung des Mittelstandes«, in: Neues Wiener Journal, 2. Juli 1918. 981 Vgl. hierzu »Massenspeisung und Hauskost«, in: Arbeiter-Zeitung, 11. November 1916. »Kriegsküche Nr. 27, in: Arbeiter-Zeitung, 11. April 1917. Ferner »Speisenknappheit bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 30.10.1917. »Aus der Berliner Massenküche«, in: Der Textil-Arbeiter 42, 20. Oktober 1916, S. 161–162. 982 Siehe hierzu u.a. »Massenausspeisung oder Kriegsküche«, in: Arbeiter-Zeitung, 10. Oktober 1916.
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Reichsdeutsche Mittelstandsverband, »that the privilege undermined the prewar hierarchy, putting large portions of the working class in a better position than their petit bourgeois counterparts«983 . Ähnlich, aber weniger missgünstig äußerten sich auch die Mittelstandsvertreter in Österreich: »Während in vielen Industriebetrieben, was ja ganz in der Ordnung ist, den dort beschäftigten Arbeitern Fleisch, Gemüse und Obst zu billigen Preisen und in ausreichender Menge zur Verfügung gestellt werden, müssen die Schichten des Mittelstandes auf diese Lebensmittel entweder ganz verzichten oder selbe zu enorm hohen Preisen erstehen. […] Man kann heute wohl sagen, daß der einstige Mittelstand tatsächlich das Proletariat darstellt.«984 In Wien schritt die Verelendung der Mittelschichten derart rasant voran, dass die Nachfrage nach dem Essen in den mittelständischen Gemeinschaftsküchen zu keinem Zeitpunkt gedeckt werden konnte. Die alles beherrschende »Magenfrage« zwang die Privatangestellten, Beamten, Lehrer, Festbesoldeten, Gewerbetreibenden usw. schließlich zum Abschied von der bevorzugten »standesgemäßen« Mahlzeitenversorgung. Demnach trieb der Überlebenswille den Wiener Mittelstand in die unliebsamen städtischen Kriegsküchen sowie in die alternativen und ebenso für alle offenen Küchen des Wiener Volksküchenvereins. Eine ähnlich starke Beanspruchung offener Speiseeinrichtungen durch den Mittelstand war in Berlin nicht gegeben, was sich mit der im Vergleich zu Wien weniger verheerenden Versorgungslage erklären lässt. Doch auch in Berlin nahm die Verarmung des Mittelstandes ungebrochen zu. Die geringe Frequentierung der Volksspeisung durch die Mittelstandsschichten ist kein Beleg dafür, dass der Mittelstand auf anderem Weg ausreichend mit Lebensmitteln versorgt war.
4.3 Kommunale Küchenorganisation und gesellschaftliche Akzeptanz: Ein Wechselverhältnis Wie keine andere Rationierungsmaßnahme des Krieges demonstrieren die Massenspeisungen in Wien und Berlin, wie weit die Not in der Bevölkerung während des Krieges reichte. Doch über die täglich Zehn- bis Hunderttausenden Wiener und Berliner Küchenbesucher hinaus verdeutlicht die kriegsbedingte Massenverpflegung in all ihren Erscheinungen auch wie stark die beiden Stadtgesellschaften in sich gespalten waren. So sehr sich die Stadtregierungen, politischen Parteien und einzelnen Akteure der Kriegswohlfahrtspflege in ihrem Bestreben nach einer gleichmäßigen und gerechten Lebensmittelversorgung um das Zurückstellen der Klassengegensätze bemühten – am Mittagstisch obwalteten mehrheitlich die persönlichen bzw. sozialen Bedürfnisse des Einzelnen.985 Der Zuspruch für geschlossene Gemeinschaftsküchen und die Ablehnung schichtenübergreifender öffentlicher Großküchen veranschaulichen, dass die Inanspruchnahme
983 Davis, Home Fires, S. 158. Vgl. auch Schilling-Voß, Die Sonderernährung, S. 61. 984 »Die Not des Mittelstandes«, in: Fremdenblatt, 28. September 1917. 985 Vgl. Allen, Food, S. 179.
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des jeweiligen Massenverpflegungsangebots in entscheidendem Maß von ihren identitätsstiftenden Eigenschaften bestimmt wurde. Damit bestätigt sich die der Untersuchung vorausgestellte Annahme, dass es nicht allein die Notverhältnisse waren, die den überwiegenden Teil der Stadtbewohner zum Gang in die Massenküche veranlassten – wohl aber begünstigten diese schichtenübergreifend die Bereitschaft, die Großküchenverpflegung in Erwägung zu ziehen. Die Organisationsweise und Ausgestaltung der jeweiligen Küchen, die damit einhergehende oder ausbleibende Vorbeugung der Stigmatisierung der Küchenteilnehmer sowie die Qualität der Speisen waren schlussendlich die maßgebenden Faktoren, die über den Zuspruch für eine Küche oder deren Ablehnung entschieden. Zum Wesen der Massenverpflegungsorganisation gehörte hierbei im Fall der kommunal organisierten und an alle Stadtbewohner gerichteten Wiener und Berliner Kriegsküchen auch der administrative Umgang mit den vorgebrachten Klagen und den damit verbundenen verschiedenen Bedürfnissen der Besucher. Je mehr die Versorgungsprobleme und die Not in der Bevölkerung im Laufe der zweiten Kriegshälfte zunahmen, umso größer wurde der Kreis der potentiellen Speiseteilnehmer mit ihren Ansprüchen bzgl. der individuellen Verpflegung, die die Stadtverwaltungen auf lange Sicht nicht unberücksichtigt lassen konnten. Gleichzeitig sahen sich beide Stadtregierungen auf dem Gebiet der Massenverpflegung mehr und mehr mit einem begrenzten Handlungsspielraum konfrontiert, der sich aus den Versorgungsschwierigkeiten sowie der zunehmenden staatlichen Intervention ergab und der es den Verantwortlichen zunehmend erschwerte, auf die Kritik und Probleme der städtischen Massenverpflegung zu reagieren. Aus den vorangegangenen Ausführungen zum organisatorisch-administrativen Handeln Berlins und Wiens ging bereits hervor, dass die beiden Stadtverwaltungen mit ihren eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten unterschiedlich umgingen. Während die Wiener Gemeindeverwaltung gezwungenermaßen an ihrer improvisierenden und notgedrungen flexiblen Politik der ersten Kriegshälfte festhielt, forcierten die Berliner Kommunalbeamten über die Volksspeisung hinaus lange vergeblich eine Herbeiführung geregelter und gerechter Versorgungsbedingungen. Daraus resultierte ein unterschiedlicher Umgang der Verantwortlichen mit den in beiden Städten sehr ähnlichen sozio-kulturellen Verhältnissen, der schlussendlich auch einen Anteil an der geringen Inanspruchnahme der Berliner Volksspeisung und dem größeren Zuspruch für die Kriegsküchen in Wien hatte.
4.3.1 Berlin: Das Scheitern der Volksspeisung Bereits zu Kriegsbeginn zeigte die Berliner Stadtverwaltung, dass sie der Massenverpflegung als einer großangelegten Maßnahme zur Linderung der Not in der Bevölkerung skeptisch gegenüberstand. Das Notspeisesystem wurde in erster Linie auf Empfehlung des preußischen Innenministeriums errichtet und war vorrangig das Ergebnis des Engagements der zahlreichen wohltätigen Berliner Vereine und des NFD. Für den Berliner Oberbürgermeister und die Stadtverwaltung stand von Anfang an die Durchsetzung geordneter Nahrungsversorgungsverhältnisse in Berlin und seinem Umland im Vordergrund, denn ohne Rationierungsmaßnahmen und hinlängliche Lebensmittelzuweisungen war auch eine Massenverpflegung langfristig nicht zu gewährleisten. Unentwegt und vielfach vergebens forderte Wermuth bei den Staats- und Reichsbehörden eine effiziente Kriegsernährungspolitik ein, wobei er gleichzeitig stets auf dem Selbstver-
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waltungsanspruch der Hauptstadt beharrte. Letzteres kam auch im Frühjahr 1916 zum Tragen, als Berlin von den Oberbehörden zum »Großversuch der Massenspeisung« gedrängt wurde. Obwohl die Kommunalbeamten alles andere als überzeugt vom Nutzen eines städtischen Massenspeisungsunternehmens waren und mit Blick auf ihre bisherige geringe Beteiligung an der Notspeiseversorgung kaum über Erfahrungen auf dem Gebiet der Massenversorgung verfügten, bestanden sie auf der selbständigen Ausgestaltung des Verpflegungssystems. Orientiert am Gebot der gerechten Verteilung der Lebensmittel und eingeschränkt durch materielle Gegebenheiten traf die Stadtverwaltung bereits hierbei einige Entscheidungen, die sich nachhaltig negativ auf die Entwicklung und Inanspruchnahme des städtischen Verpflegungssystems auswirkten. Die Stadt verlangte zum einen die vollständige Kontrolle über den Küchenbetrieb. Mit der Entscheidung, die bisherige Zusammenarbeit mit der Berliner Philanthropie aufzugeben, gelang der Stadtverwaltung auf den ersten Blick zwar eine Abgrenzung von den bisherigen Notküchen, die aufgrund ihrer Bedürftigkeitsprüfung von vielen Berlinern als neue »Armenküchen« wahrgenommen wurden. Gleichzeitig aber signalisierte dieser Schritt auch einen Bruch mit der städtischen Kriegsfürsorgearbeit der ersten beiden Kriegsjahre. Diese wurde lange nicht mehr nur von den als »bedürftig« anerkannten Berlinern in Anspruch genommen, wie die zunehmende Frequentierung der sich ausbreitenden Mittelstandsküchen verdeutlichte. Dies ignorierend bestand die Stadtverwaltung darauf, ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – eigenes Süppchen zu kochen. Sich des unverlässlichen Regierungshandelns bewusst, erweckte die Berliner Verwaltung gegenüber der Bevölkerung den Eindruck, dass das neue Versorgungssystem alles bisher Dagewesene verdrängen könne, womit sie nicht nur die Erwartungen der Berliner hochschraubte, sondern sich auch selbst unter Druck setzte. Zum anderen entschied sich Berlin für ein Versorgungssystem, das sich schichtenübergreifend an alle Stadtbewohner richtete, das aber in seiner Ausgestaltung keine der verschiedenen Bevölkerungsschichten ansprach. Nach Meinung der Stadtbehörden war die Schaffung der vom Mittelstand bevorzugten getrennten Speiseeinrichtungen für die einzelnen Bevölkerungsgruppen im benötigten Umfang sowohl organisatorisch als auch finanziell nicht leistbar. Zugleich entstanden die meisten Volksspeisungseinrichtungen in den Berliner Arbeitervierteln, womit sich das Großküchenunternehmen aus Sicht des potentiellen Speisepublikums kaum von den wohltätigen Notspeisungen und der städtischen Armenspeisung unterschied. Es war offensichtlich, dass die im Juli 1916 eingeführte Volksspeisung in ihrer Ausgestaltung dem großspurig postulierten Ziel, der sozialen Stigmatisierung der Küchenbesucher entgegenzuwirken, widersprach. Die Ausgabe der Speisen gegen ein geringes Entgelt allein reichte nicht aus, um sich vom Stigma des »Armeleuteessens« abzusetzen. Davon abgesehen waren auch die Betriebszeiten der Volksspeisung mit dem Arbeitsalltag der überwiegend werktätigen Bevölkerung nicht in Einklang zu bringen. Da sie die ablehnende Haltung der Berliner gegenüber der Gemeinschaftsverpflegung mehr bestärkte als abschwächte, trug die Volksspeisung von Anfang an den Charakter eines Notbehelfs. Mit der Volksspeisung sah der Magistrat die Hauptstadt dennoch für Krisenzeiten gewappnet, in denen der Bevölkerung qualitativ hochwertiges Essen zur Verfügung stehen sollte. Die Versorgungskrisen kamen und mit ihnen auch die Anklagen aus der
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Berliner Bevölkerung. Diese ließen schnell erkennen, dass die Lage der Speisegelegenheiten nicht die einzige Hürde darstellte, die die Berliner von den Küchen fernhielt. Die von der Berliner Verwaltung im Sommer 1916 geschaffene Ausgangslage war maßgeblich für die weitere Entwicklung der Volksspeisung, die nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in Anspruch nahm. Sowohl während als auch außerhalb der großen Versorgungskrisen erreichte die Volksspeisung nicht den Zulauf, den die Stadtverwaltung erwartet hatte. Über neunzig Prozent der Berliner fühlten sich von den Stadtküchen nicht angesprochen und dies lag, wie gezeigt wurde, nicht an der fehlenden Not und Bedürftigkeit der Hauptstädter. »[H]ungry women remained resigned to running helplessly in the bitter cold from municipal sales outlet to retail shop and to protesting violently in the streets, still finding this more respectable than mass dining«986 , so veranschaulicht Davis die weitgehende Ablehnung der Volksspeisung. Insgesamt war es ein Bruchteil der Berliner Bevölkerung, der das Essen und die Organisationsweise der Volksspeisung öffentlich kritisierte. Die Anklagen offenbarten die Missstände in den Küchen, doch führten sie nicht zu den gewünschten Veränderungen. Die Berliner Verwaltung sah sich durch die in ihren Augen kleine Gruppe der Beschwerdeführenden und überwiegend in der sozialdemokratischen Presse veröffentlichten Anklagen selten zum Handeln veranlasst. Für die Gruppe der Volksspeisungsverweigerer waren die Presseartikel eine Bestätigung ihrer Ressentiments. Wie stark sich die Pressekritik letztlich auf die Frequentierung der Küchen auswirkte, ist schwer einzuschätzen. Die »Volksspeisungsbeschwerden« wurden in den Lokalnachrichten zwar auffällig platziert, doch in ihrer Anzahl blieben sie überschaubar.987 Auch wenn davon auszugehen ist, dass die Veröffentlichungen der Klagen nicht zur Steigerung des Ansehens der Volksspeisung beitrugen, so war das Ausmaß der vorgebrachten Kritik gemessen an der Bedeutung, die der Berliner Volksspeisung im Sommer 1916 zugesprochen wurde, dennoch relativ gering. Die Vorwürfe an die Stadtverwaltung und die Volksspeisung waren, wie auch die Kriegsküchenklagen in der Habsburgermetropole zeigen, nicht außergewöhnlich. Im Hinblick auf die lange vorherrschenden Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber öffentlichen Speiseanstalten war die Kritik an der Volksspeisung geradezu vorprogrammiert und unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen unvermeidbar. Die Berliner Administration war sich von Anfang an darüber im Klaren, dass die Einrichtung der Massenspeisung und die mit ihr verbundene Streckung und Einsparung von Nahrungsmitteln das Problem der ungleichen Verteilung der Lebensmittel nicht lösen werde. Die Zweifel überdauerten die Kriegszeit, bestimmten die folgenschwere Umsetzung und prägten schließlich auch das kommunale Management des Volksspeisungsprojekts.988
986 Davis, Home Fires, S. 152. 987 Zwischen Juli 1916 und November 1918 wurden im Vorwärts nicht mehr als dreißig Artikel veröffentlicht, in denen die Volksspeisungsbeschwerden thematisiert wurden. In der weiteren Lokalpresse fanden sie noch seltener Berücksichtigung. 988 Die Zweifel der Verantwortlichen am Berliner Massenspeisungsprojekt blieben durchgehend bestehen, wie die Rückblicke des Berliner Oberbürgermeisters und der Küchenchefin der Volksspeisung Heyl belegen. Vgl. Wermuth, Beamtenleben, S. 380f. Heyl, Aus meinem Leben, S. 141.
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Der Ärger und die Sorgen rund um die Volksspeisung reihten sich schließlich ein in die generell in der Tagespresse geführte Debatte rund um die Lebensmittelversorgungskrise. Solange es der staatlichen Kriegsernährungspolitik nicht gelang, den durch den Wegfall der Importe notwendig gewordenen innerstaatlichen Güteraustausch zwischen Überschuss- und Bedarfsgebieten gerecht zu organisieren, mussten die Probleme der Massenspeisung von den Kommunalbeamten letztlich ebenso inkonsequent behandelt werden, wie die zuvor schon bestehenden Versorgungsprobleme. Ein Faktor, der sich maßgeblich auf die Akzeptanz der öffentlichen Küchen auswirkte und aus Sicht von Allen das Scheitern der Berliner Volksspeisung vorherbestimmte, war der Zeitpunkt ihrer Einführung. Der Aufbau der Volksspeisung erfolgte »zu einem Zeitpunkt, als der gesamte Lebensmittelmarkt bereits zusammengebrochen war«989 . Die städtische Massenspeisung als wirtschaftlichste Form der Volksernährung sei zu spät gekommen, um diese in einer Qualität anzubieten, die die Akzeptanz in der Bevölkerung hätte garantieren können.990 Durch die verspätete Einführung der Volksspeisung in Verbindung mit der geringen Abstimmung des einzurichtenden Massenspeisungssystems auf die Wünsche der Bevölkerung, die aufgrund der erschwerten Versorgungsverhältnisse auch gar nicht mehr in Gänze berücksichtigt werden konnten, war das Projekt im Grunde genommen schon gescheitert, bevor es startete. Der beharrliche Kampf der Stadtregierung gegen die ungleiche Verteilung der Lebensmittel zwischen Stadt und Land sowie für eine Verbesserung der Berliner Ernährungswirtschaft legt nahe, dass die Verantwortlichen der Volksspeisungskritik zumindest ein gewisses Verständnis entgegenbrachten. Doch das Gegenteil war der Fall: auf die Beschwerden reagierte die Stadtverwaltung in erster Linie mit Unverständnis und Missbilligung. Dabei veranschaulicht das administrative Verhalten gegenüber den Volksspeisungsgästen, wie schwer es einem Großteil der Verantwortlichen fiel, sich mit den Nöten der verzweifelten Hauptstadtbewohner zu identifizieren. Statt sich der Klagen und Missstände auf Augenhöhe anzunehmen, zogen es der Magistrat und die bürgerlichen Fraktionen in der Stadtverordnetenversammlung vor, die Probleme der Stadtküchen in einer geradezu herablassenden Art herunterzuspielen. Mit Blick auf die Voreingenommenheit und die ausgebliebene Würdigung der Berliner während der Einführungsphase der Volksspeisung erscheint dieses Verhalten noch gerechtfertigt. Doch spätestens während des Winters 1916/17 hätten die vorgebrachten Sorgen von der Stadtverwaltung ernster genommen werden müssen. Es scheint fast so, als hätten Doflein und seine Abteilung für Volksspeisung nicht erkannt, dass die Beschwerden der Volksspeisungsbesucher weit mehr als die Äußerung persönlicher Befindlichkeiten waren. Anstatt sich der Probleme der klagenden Teilnehmer anzunehmen und Verständnis dafür aufzubringen, setzten die Verantwortlichen den Volksspeisungsgästen unermüdlich und entschuldigend das fehlende Wissen der Bevölkerung von den Schwierigkeiten der Nahrungsmittelbeschaffung entgegen. Unbeachtet blieb dabei, dass die Berliner als Verbraucher vergleichbaren Erschwernissen ausgesetzt waren. Trotz der Zweifel am Erfolg des Volksspeisungsprojekts, waren die Verantwortlichen meist nicht imstande, die Klagen als berechtigt anzuerkennen. Vielmehr meinten die 989 Allen, Hungrige Metropole, S. 74. 990 Vgl. ebd., S. 75.
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kommunalen Volksvertreter, dass sie es besser wüssten. Indem sie ihren persönlichen positiven Erfahrungen mit der Volksspeisung mehr Gewicht beimaßen, den Mittelstand lapidar auf die vielfach vorhandenen privaten Speiseeinrichtungen verwiesen und der arbeitenden Bevölkerung gänzlich unterstellten, dass diese doch (finanziell) bestens versorgt sei, gaben die kommunalpolitischen Entscheidungsträger aus Sicht der breiten unzufriedenen Masse ein ebenso schlechtes Bild ab wie die Reichsregierung.991 Das Scheitern des Berliner Großküchenprojektes wurde nicht allein durch das Versagen der staatlichen Behörden herbeigeführt, sondern auch durch die Umgangsweise der uneinsichtigen und resignierenden Stadtverwaltung mit den fortwährenden Missständen in den Stadtküchen. Die Volksspeisung erfüllte unbestreitbar ihren Zweck, doch in ihrer Umsetzung und als Antwort auf die Not aller Berliner war sie ein auf ganzer Linie misslungenes Projekt. Als Teil der – aus Sicht der Bevölkerung – ungerecht gehandhabten Nahrungsmittelversorgung verschärfte auch die Volksspeisung einerseits die Spannungen innerhalb der Stadtgesellschaft und untergrub andererseits das Verhältnis der Bevölkerung zum Staat. Daniel spricht von einer »kriegs- und staatsüberdrüssigen Stimmung«, die sich an der Heimatfront nach und nach ausbreitete und den kriegsgesellschaftlichen Konsens zu einem Kampf zwischen Bevölkerung und Obrigkeit verwandelte.992
4.3.2 Wien: Die Massenküche und der großstädtische Kampf ums Überleben Die »Opferbereitschaft« und der »Durchhaltewille« der Kriegsgesellschaft gingen spätestens seit dem Frühjahr 1917 auch in der Habsburgermetropole nach und nach verloren. Tagtäglich wurde der Wiener Bevölkerung vor Augen geführt, dass die Behörden auf lokaler und staatlicher Ebene keinerlei Kontrolle über die laufende Versorgung mit Lebensmitteln hatten. Das Versagen der Lebensmittelorganisation der österreichischen Regierung, die von ihr selbst als »Sack mit hundert Löchern«993 bezeichnet wurde, bewirkte wie in Berlin nicht nur die Entstehung des Wiener Kriegsküchenwesens als Versorgungsmaßnahme, sondern trug gleichzeitig auch zu seiner Ausgestaltung bei. Durch die unzuverlässigen Nahrungsmittellieferungen von außen, das improvisierte Netz an Zentralen, die einander überschneidenden und zum Teil widersprüchlichen Lebensmittelgesetze und nicht zuletzt den bedeutenden Einfluss des außerhalb der Gesetze stehenden Schwarzmarkthandels wurden der Wiener Stadtverwaltung auf dem Gebiet der Massenverpflegung Grenzen gesetzt, die sich u.a. in der fehlenden Qualität der Kriegsküchenspeisen und vor allem in den unzureichenden Kapazitäten der Stadtküchen widerspiegelten.994 Eine strukturierte kommunale Organisation des Großküchenwesens war in Anbetracht dieser Beeinträchtigungen kaum möglich. Doch trotz dieser Erschwernisse 991 Vgl. u.a. die Ausführungen des Stadtverordneten Thieme in der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 25. Oktober 1917, S. 365f. Vgl. auch den Redebeitrag Dofleins im Massenspeisungsausschuss. Siehe hierzu Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Massenspeisungen am 9. Dezember 1916. GStAPK, I. HA Rep. 197A, Nr. 164, Bl. 150. Sowie »Gewerkschaftsbewegung«, in: Vorwärts, 7. August 1918. 992 Daniel, Arbeiterfrauen, S. 215. Hierzu ausführlich auch Davis, Konsumgesellschaft, insb. S. 241f. und S. 248f. Ferner Proctor, The Everyday (siehe oben Kapitel i, Anm. 35). 993 Healy, Vienna, S. 72. Vgl. dies., Am Pranger, S. 192 und S. 197. 994 Vgl. ebd., S. 196f.
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gelang es der Wiener Gemeindeverwaltung ein weitgehend funktionierendes Massenversorgungssystem zu etablieren, das im Gegensatz zur Berliner Volksspeisung täglich von mehreren Hunderttausend Wienern angenommen wurde.995 Dies war zum einen das Ergebnis der durchweg entschlossenen Haltung der Stadtverwaltung zur Maßnahme der Massenversorgung und ihrem damit verbundenen halbwegs geordnetem Vorgehen, das sich bereits in den ersten Kriegswochen in der Organisationsweise der Wiener Ausspeisungsaktion ausdrückte. Über dieses unverzagte Engagement hinaus war das Handeln der Wiener Stadtverwaltung auf dem Gebiet der Massenverpflegung – gemessen an den Verhältnissen in Berlin – in starkem Maß von Eigenständigkeit, Anpassungsfähigkeit und Kontinuität gekennzeichnet. Sowohl das Versorgungsangebot für die Bedürftigen während der ersten Kriegshälfte als auch den Ausbau der städtischen Speiseangebote im Sommer 1916 leitete Wien ohne vorherige Empfehlung oder Anweisung der Oberbehörden in die Wege. Das eigenständige Vorgehen zu Kriegsbeginn kann durchaus als Fortsetzung der kommunalen Fürsorgepolitik der Vorkriegsjahre betrachtet werden, doch resultierte es in erster Linie aus dem Handlungsdruck, unter dem die Stadtverwaltung im Zuge der Mobilisierung stand. Früh einsetzende erste Versorgungsprobleme infolge des Transportmittelmangels und abnehmende Lebensmittellieferungen aus Ungarn, unmittelbar aufkeimende Preistreiberei auf den Wiener Märkten und damit einhergehende Krawalle, der Flüchtlingsstrom aus dem Nordosten der Habsburgermonarchie und schließlich auch die rasch zunehmende Frauenerwerbsarbeit, die sich nachhaltig auf den Alltag vieler Wiener Familien auswirkte, zwangen die städtische Selbstverwaltung zum Ergreifen von Maßnahmen, die der Verschärfung der entstandenen Notlagen entgegenwirkten und in gewisser Hinsicht auch der Unruhevermeidung zweckdienlich waren. Die zeitig eingeleitete Ausspeisungsaktion war eine dieser Maßnahmen, an der die Stadtbehörden während des gesamten Krieges festhielt. Mit Fortdauer des Krieges nahmen die kommunalen Aufgaben »ungeahnte, kaum zu bewältigende Ausmaße«996 an. Hinsichtlich der Massenverpflegung reagierte die Stadtverwaltung auf den unentwegt wachsenden Problemdruck in geradezu stoischer Weise und mit der gleichen Eigenständigkeit, die sie bereits zu Beginn des Krieges demonstrierte. Ihre Anpassungsfähigkeit demonstrierte die Wiener Verwaltung im Umgang mit den wenigen zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten. So war die Zusammenarbeit mit der Wiener Philanthropie von Anfang an die einzig gangbare Option, um eine breite Mittagsverpflegung der Bevölkerung zu gewährleisten. Beim Ausbau der städtischen Speiseeinrichtungen im Sommer 1916 kam der Stadtverwaltung schließlich die entschiedene Vorgehensweise zugute, die sie bei der Organisation der Ausspeisungsaktion an den Tag legte. Sie verfügte nicht nur über organisatorische Erfahrungen auf dem Gebiet der Massenverpflegung, sondern auch über ein umfassendes Regelwerk, das die
995 Die Aussage bezieht sich insbesondere auf das letzte Kriegsjahr und berücksichtigt alle kommunal geleiteten Speiseeinrichtungen, d.h. die Ausspeisungen und Kriegsküchen, sowie die dem Kriegsküchenerlass folgenden und ebenfalls zum Wiener Massenversorgungssystem gehörigen Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen. 996 Mertens, Die Wiener, S. 285.
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Aufgaben und Verpflichtungen aller an der neu gegründeten Kriegsküchenaktion beteiligten (wohltätigen) Institutionen, Einrichtungen und Personen klar festlegte. Anpassungsfähig zeigten sich die Wiener Behörden in gewisser Hinsicht auch im Hinblick auf den staatlichen Kriegsküchenerlass sowie auf die Bedürfnisse der Bevölkerung. Das Wissen um die Schwächen der mehr als ausgelasteten Wiener Kriegsküchen führte bei der Stadtverwaltung zu der Einsicht, dass die großflächige Versorgung der Bevölkerung nicht ohne die zusätzliche Unterstützung durch die infolge des Erlasses entstandenen alternativen Gemeinschaftsspeisungen möglich war. Davon abgesehen waren die Wiener Behörden mit staatlichen Interventionsmaßnahmen, wie sie der Kriegsküchenerlass darstellte, vertraut. Im Gegensatz zur deutschen Hauptstadt, die sich erst ab der zweiten Kriegshälfte mit vermehrten Einmischungsversuchen der staatlichen und militärischen Instanzen auseinandersetzen musste, war die Wiener Zivilverwaltung seit dem Ausbruch des Krieges dem »bürokratischen Kriegsabsolutismus« der Militärverwaltung und der Zentralbürokratie ausgesetzt.997 Zwar kritisierte Bürgermeister Weiskirchner wiederholt die unklar geregelten und vielfach verfehlten staatlichen Interventionsmaßnahmen, doch infolge der völligen Unterordnung der Kommunalbehörden unter die militärischen Bedürfnisse gab es kein Aufbegehren, das mit dem der Berliner Verwaltung gegenüber den Oberbehörden vergleichbar war. Im Falle des Kriegsküchenerlasses kam das Wiener Rathaus pflichtgetreu den staatlichen Vorgaben nach und passte das städtische Kriegsküchenwesen den Bestimmungen weitgehend an. Neben den Anweisungen »von oben« reagierte die Stadtverwaltung auch auf die Forderungen »von unten«. Den Klagen und den Beschwerden der Kriegsküchengäste begegnete sie einerseits ähnlich wie die Verantwortlichen der Berliner Volksspeisung, indem sie die Arbeit der Stadtküchen verteidigte und auf die schwierigen Verhältnisse, unter denen die Einrichtungen zu arbeiteten, verwies. Wie in Berlin signalisierte auch die Wiener Stadtregierung vereinzelt fehlendes Verständnis für die Sorgen der Bevölkerung.998 Andererseits aber – und hierin lag der Unterschied im administrativen Umgang mit der Kriegsküchenkritik – resignierte die Wiener Verwaltung nicht. Sie war von vornherein auf die vorherrschende Skepsis in der Bevölkerung gegenüber der öffentlichen Massenversorgung eingestellt. Die neuen Kriegsküchen, die im Sommer 1916 innerhalb kürzester Zeit praktisch aus dem Nichts entstanden und sich von allen bisher dagewesenen öffentlichen Verpflegungseinrichtungen abheben sollten, mussten publik gemacht werden. Um möglichst viele Menschen mit dem neuen Verpflegungsangebot zu erreichen, war eine umfassende Öffentlichkeitsarbeit erforderlich, die zugleich der Besonderheit der Massenverpflegungseinrichtungen Rechnung trug. In Wien berichtete die lokale Zeitungslandschaft während der zweiten Kriegshälfte umfassend über die städtische Kriegsküchenaktion. Mehrere Interviews mit dem Wiener Kriegsküchenchef
997 Vgl. Mutschlechner, Martin: »Der Einfluss des Krieges auf die Zivilgesellschaft«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/ der-einfluss-des-krieges-auf-die-zivilgesellschaft (05.06.2019). Zur Bezeichnung »bürokratischer Kriegsabsolutismus«, die auf den Sozialdemokraten Otto Bauer zurückgeht, vgl. auch Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte 1890–1990), Wien 1994, S. 224. 998 Vgl. Healy, Vienna, S. 76.
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Dont wurden genutzt, um das kommunale Vorgehen zu begründen, Missverständnisse zu beseitigen, auf Probleme der Kriegsküchenversorgung zu reagieren und Berührungsängste des potentiellen Speisepublikums zu zerstreuen.999 Die Vielzahl der streckenweise propagandistischen Zeitungsberichte und ihr umfangreicher Informationsgehalt veranschaulichen, dass die Wiener Presse zum festen Bestandteil der Organisation des Kriegsküchenwesens gehörte. Dont und die Kriegsfürsorgezentrale versuchten den Missständen auf den Grund zu gehen und suchten den Verhältnissen entsprechend nach Lösungen für die Probleme und Forderungen der Küchengäste. Eine Maßnahme, die von den Wiener Behörden ergriffen wurde und die an dieser Stelle hervorgehoben werden muss, war die Schaffung von gesonderten Kriegsküchen, die sich an ein bestimmtes Speisepublikum richteten. Die Gründung der städtischen »Straßenbahnhofsküchen«, Reservisten- und Beamtenkriegsküchen ging zwar auf die Initiative der dahinterstehenden Vereine zurück, doch mit ihrer Eingliederung in das kommunale Kriegsküchensystem reagierte die Stadtverwaltung auf das in der Bevölkerung verbreitete Bedürfnis nach getrennten Speisegelegenheiten. Wie bereits hervorgehoben wurde, hatte die Organisationsweise des Wiener Stadtküchensystems im Gegensatz zur Berliner Volksspeisung den Vorteil, dass das Küchennetz beliebig und bedarfsorientiert ausgebaut werden konnte. Dieses machte sich die Verwaltung zu Nutze und folgte damit der in Wien allgemein vorherrschenden Entwicklung zu mehr geschlossenen Speiseeinrichtungen. Damit einher ging auch die weitgehende kommunalbehördliche Akzeptanz von und Unterstützung für die alternativen Gemeinschafts-, Betriebs- und Anstaltsküchen, die infolge des Kriegsküchenerlasses zahlreich gegründet wurden. Gemäß den obigen Ausführungen war dies jedoch in erster Linie das Ergebnis der Zwangslage, in der sich die Wiener Verwaltung mit ihrem begrenzten Handlungsspielraum befand. Da die breitflächige Massenversorgung im Alleingang nicht zu stemmen war, wurde sie von der Stadtverwaltung bald als gemeinschaftliche Aufgabe aller Verpflegungseinrichtungen angesehen. Die erzwungene Strategie des gemeinsamen Improvisierens der unterschiedlichen Großküchenorganisatoren, die alle mehr oder weniger den verschiedenen Bedürfnissen der Wiener gerecht werden wollten, war möglicherweise ein Faktor, der sich positiv auf die gesellschaftliche Akzeptanz der Massenverpflegung auswirkte. Über die mit dem Wiener Gemeinschaftsküchensystem1000 verbundene Vielfalt hinaus spielte hinsichtlich des Zuspruchs für die öffentliche Verpflegung auch die Beständigkeit der Wiener Küchen eine Rolle. Im Gegensatz zu Berlin mit seiner Massenversorgungskehrtwende im Sommer 1916 »optimierte« Wien im Verlauf des Krieges – ebenfalls
999 Siehe u.a. »Das Ergebnis der ersten Kriegsküchenwoche«, in: Neue Freie Presse, 23. Juli 1916. »Die Kriegsküchen«, in: Die Zeit, 15. September 1916. »Die Betriebserhöhung der Kriegsküchen«, in: Neues Wiener Journal, 18. August 1918. Eine vergleichbare Form der Aufklärungsarbeit gab es in Berlin nicht. Im Gegensatz zu Wien waren die Berliner Aktivitäten im Bereich der öffentlichen Küchenversorgung für die Stadtbevölkerung weder transparent noch nachvollziehbar. Die Einrichtung der Volksspeisung wurde im Sommer 1916 zwar öffentlich stark beworben, doch ihre Besonderheit gegenüber den weiterhin bestehenden Notküchen wurde der Bevölkerung kaum vermittelt. 1000 Gemeint sind hierbei alle städtischen Ausspeisungen und Kriegsküchen sowie alle Speiseeinrichtungen, die den Vorgaben des Kriegsküchenerlasses folgten.
III. Metropolen im Krieg
aus einer Zwangslage heraus – das zu Kriegsbeginn eingerichtete Küchenversorgungsnetz. Ein Blick auf andere Großstädte, die auf dem Gebiet der Massenverpflegung während des Ersten Weltkrieges ähnlich verfuhren, veranschaulicht, dass die Frage der Kontinuität der Küchenversorgung keine unbedeutende war. So richteten beispielsweise die Städte Dresden und Hamburg ihre Küchensysteme ebenfalls zu Kriegsbeginn ein und bauten ihr Massenversorgungsnetz sukzessive und dem Bedarf entsprechend aus. Gegenüber jenen Städten, die wie Berlin ihre Küchensysteme ab der zweiten Kriegshälfte nahezu vollständig reorganisierten, wiesen die Kriegsküchen der beiden Elbestädte verhältnismäßig hohe Besucherquoten auf.1001 Daher kann angenommen werden, dass ein etabliertes Küchensystem im Verlauf der Kriegszeit der verbreiteten Voreingenommenheit in der Bevölkerung entgegenwirkte und auf die Dauer mehr Vertrauen erweckte als das vor allem in Berlin eingetretene großangelegte »künstliche Züchten der Massenspeisung«1002 . So gesehen begünstigte der Mangel an administrativen Handlungsmöglichkeiten in Wien eine vergleichsweise »effiziente« Entwicklung der Massenversorgung. Zweifellos waren die höhere Inanspruchnahme und die damit einhergehende größere Akzeptanz der Wiener Großküchen im Ersten Weltkrieg primär auf die Lebensmittelversorgungslage und die verbreitete Not in der Bevölkerung zurückzuführen. Gleichfalls demonstrieren die vorangegangenen Ausführungen, dass der Zuspruch für die Massenversorgung auch ein Ergebnis des organisatorisch-administrativen Handelns der Stadtverwaltung und deren Umgang mit den soziokulturellen Verhältnissen war. Obwohl das Wiener Massenverpflegungswesen weitreichende Mängel aufwies, war es mit Blick auf seine Reichweite insgesamt besser aufgestellt als die Berliner Großküchenversorgung. Einleitend wurde der Untersuchung die Frage vorangestellt, inwiefern die Verantwortlichen in Wien die Massenverpflegung strukturierter organisiert haben. Es gibt durchaus Hinweise, die punktuell ein strukturelles Vorgehen der Stadtverwaltung bestätigen, z.B. die umfassende Regelung der Durchführung der Ausspeisungsaktion und die Öffentlichkeitsarbeit für das Kriegsküchenwesen. Eine grundlegend strukturierte Organisation der Massenverpflegung kann den Wiener Kommunalbeamten dennoch nicht bescheinigt werden. Die Großküchenorganisation war während der gesamten Dauer des Krieges von einem situativen und improvisierten Handeln geprägt, das sich schlussendlich ›positiv‹ auf die Inanspruchnahme der Massenküchen auswirkte. Sowohl die Kontinuität der Wiener Küchenversorgung als auch die Gemeinschaftlichkeit ihrer Organisation waren einerseits Faktoren, die für die gesellschaftliche Akzeptanz der Massenküchen relevant waren, und andererseits Entwicklungen, die von der Wiener Stadtverwaltung
1001 Dresden verfügte von Kriegsbeginn an über ein dezentrales Küchensystem, das während der vier Kriegsjahre von zwölf bis neunzehn Prozent der Bevölkerung in Anspruch genommen wurde. Hamburg richtete kurz nach dem Ausbruch des Krieges ein zentrales Küchensystem ein, das dem der Berliner Volksspeisung sehr nahekam. Von Anfang an setzte die Stadtverwaltung der Hansestadt auf offene Kriegsküchen, die von allen Stadtbewohnern ohne Bedürftigkeitsnachweis besucht werden konnten. Hamburg war nicht halb so groß wie Berlin und beköstigte in ihren Kriegsküchen fast genauso viele Teilnehmer wie die Berliner Volksspeisung. Bereits 1916 versorgten die Küchen zwanzig Prozent der Bevölkerung. Während der Krisenzeiten besuchte etwa ein Drittel der Hamburger die Kriegsküchen. Hierzu vgl. ausführlicher Sprenger-Seyffarth, Public Feeding, S. 92ff. 1002 »Zweite deutsch-österreichische Tagung für Volkswohlfahrt«, in: Fremdenblatt, 17. April 1917.
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nicht bewusst herbeigeführt wurden. Schließlich nutzten die Kommunalbehörden ihren begrenzten Handlungsspielraum maximal aus. Die verheerenden Versorgungsverhältnisse und der um sich greifende Hungertod in der Habsburgermetropole ließen der Stadtregierung keine Zeit für Resignation und waren bis weit über das Kriegsende hinaus ihr Antrieb. Gleichfalls waren die Lebensmittelnot und die verzweifelten, hungernden Massen Ausdruck dafür, dass auch die Kriegsund zahlreichen Gemeinschaftsküchen nicht viel bewirken konnten. Seit dem Hungerwinter 1916/17 waren diese nicht mehr in der Lage, mit dem Andrang der unzähligen Besucher Schritt zu halten. Es wäre demzufolge verfehlt, die Entwicklung der Wiener Massenverpflegung im Ersten Weltkrieg als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen. Zwar wurde sie insgesamt von mehr Stadtbewohnern in Anspruch genommen als in Berlin, doch auch in Wien blieb der überwiegende Teil der Bevölkerung der Massenküche fern. Aus der Sicht all jener Wiener, die aufgrund der fehlenden Kapazitäten keine Chance zur Teilnahme erhielten, trug die Massenverpflegung zu den herrschenden Ungerechtigkeiten in der Lebensmittelversorgung bei. Und für die meisten Küchenbesucher stellte die Massenverpflegung in erster Linie eine Notlösung dar. Mit Blick auf die Kriegszeit blieb das Ideal der privat-familialen Mahlzeit als Merkmal von »Normalität«, die sich die Arbeiterschaft und der Mittelstand sehnlichst zurückwünschten, in Wien genauso vorherrschend wie in Berlin. Dennoch gilt es anzuerkennen, dass die Wiener Massenküche in ihrem vielfältigen Dasein einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zum Überleben der Donaumetropole während der letzten Kriegsmonate leistete. Dies ist – bei aller Handlungsunfähigkeit und dem Versagen der staatlichen, regionalen und lokalen Entscheidungsträger auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung – dem unverzagten und improvisatorischen Vorgehen der Wiener Kommunalbehörden anzurechnen, die sich in Anbetracht der weiterhin zunehmenden Versorgungsnot von der Massenverpflegung auch nach dem Ende des Krieges nicht abwenden sollten. Noch viel mehr aber gebührt dieses Verdienst dem Einsatz der unzähligen und unermüdlichen Hilfswilligen der Wiener Frauenhilfsaktion sowie den zahlreichen mitwirkenden Vereinen und Initiativen. Letztendlich waren sie es, die das organisatorisch-administrative Handeln in Fragen der Großküchenversorgung ermöglichten – ein Fakt, der im Übrigen auch im Hinblick auf das Berliner Massenverpflegungswesen Gültigkeit hat.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit »An allen Ecken und Enden aus dem Boden gestampft: wildgewachsene Notstandshilfe [… Die Berliner Kriegsküchen] schützten Tausende vor nacktem Hunger, waren der Rettungsgürtel, der sie Wochen und Monate über Wasser hielt.« Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt Helene Simon (1926), Kinderspeisungen in Deutschland, S. 54.
Als Österreich-Ungarn am 3. November 1918 den Waffenstillstand von Villa Giusti schloss und das Deutsche Reich wenige Tage später am 11. November den Waffenstillstandsvertrag von Compiègne unterzeichnete, war nicht nur das Ende des für sie verlorenen Krieges, sondern auch das Ende der beiden Monarchien besiegelt. Wien und Berlin standen mittlerweile ganz im Zeichen der Revolution. Eine Erleichterung oder gar eine Normalisierung der Lebensverhältnisse in den Großstädten brachten die einschneidenden revolutionären Ereignisse und die mit ihnen verbundenen Republikgründungen jedoch zunächst nicht. Die katastrophalen Folgen des Krieges wirkten noch lange im Alltag der Berliner und Wiener Bevölkerung nach. In den einst glänzenden Metropolen herrschten nach wie vor Unruhe, Mangel und Not. Die Lebensbedingungen der Massen in der unmittelbaren Nachkriegszeit unterschieden sich kaum von jenen der Kriegszeit und erfuhren insbesondere in Wien noch eine Verschärfung. Weiterhin standen beide Hauptstädte vor stetig wachsenden Herausforderungen und vielfach unlösbaren Problemen. Wie im Krieg wurden die (sozial-)politischen Verhältnisse und das gesellschaftliche Leben in der unmittelbaren Nachkriegszeit maßgeblich von den weitgehend ungeordneten gesamtstaatlichen Entwicklungen bestimmt. Mit dem revolutionären Umbruch schlug die Stunde der Sozialdemokraten, die in Deutschland und Österreich die politische Verantwortung übernahmen und rasch auf die soziale Situation, die der Krieg hinterlassen hatte, zu reagieren versuchten.1 Die Verwaltung der Nachkriegsverhältnisse war mit
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Vgl. Konrad, Helmut: »Das Rote Wien: Ein Konzept für eine moderne Großstadt?«, in: ders./Maderthaner, Das Werden, Band 1, S. 223–240, hier S. 240. Trommler, Frank: »Das rote
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Blick auf die Pariser Friedensverträge und die damit einhergehenden »unerwarteten und nicht einkalkulierten Reparationsverpflichtungen«2 ein schwieriges Unterfangen. Beide Staaten kämpften nach dem Krieg mit einer nie dagewesenen Geldentwertung und standen vor schweren wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Zwischen 1918 und 1924 taumelten die Hauptstädte von einer Krise in die nächste. Während das Alltagsleben in Berlin von Unruhen, Streiks und Lebensmittelkrawallen bestimmt wurde, sah sich Wien mit einer unaufhörlich wachsenden Hungersnot konfrontiert. Auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung ging der Krieg für die Mehrheit der Berliner und Wiener in eine Verlängerung.3 Die öffentliche Massenverpflegung behielt ihre Daseinsberechtigung. Nicht zuletzt durch das Einsetzen ausländischer Hilfsaktionen trugen die Massenküchen auch in der Nachkriegszeit zum Überleben zahlreicher Großstädter bei.
1| Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1.1 Rebellierende Städte: Revolutionen und Republikgründungen Der revolutionäre Umbruch in Österreich wurde am 30. Oktober 1918 mit einer Massenkundgebung in Wien, der »stürmisch verlaufende Soldatendemonstrationen«4 folgten, eingeleitet. »Angespornt von den Ereignissen in Russland, marschierten sogenannte Rote Garden durch die Stadt und zogen linke Intellektuelle […] ebenso in ihren Bann wie radikalisierte Soldaten und Arbeiter.«5 Die halbverhungerten Massen der bewaffneten Frontheimkehrer, unzufriedenen Arbeitslosen, gebrochenen Kriegsinvaliden und erschöpften Kriegshinterbliebenen forderten ein Ende des massenvernichtenden Krieges und des Hungers, verlangten die Abdankung des Kaisers und die Gründung einer Republik. Der gänzliche Zusammenbruch der militärischen Disziplin und das Aufbegehren der Bevölkerung, das über Wien hinaus weite Teile des österreichischen (und ungarischen) Hinterlandes erfasste, waren in Anbetracht der jahrelang anhaltenden Not und Entbehrungen keine plötzlich auftretende Erscheinung. Der Jännerstreik zu Beginn des Jahres 1918 kündigte bereits an, was der Habsburgermonarchie in den letzten Monaten ihres Bestehens noch bevorstehen sollte. So markierten die Streikentwicklungen im Januar »den Beginn einer österreichischen Rätebewegung und bedeuteten den Auftakt zu einer inneren Destabilisierung des Staates. Es folgten Meutereien in der Marine, welche die Demobilisierung der Truppen bis zum Oktober/November antrieben, dazu kamen weitere Streikwellen in Niederösterreich und Wien.«6 In Anbetracht des Zustands der
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Wien und das sachliche Berlin«, in: Warren, John und Ulrike Zitzlsperger (Hg.), Vienna Meets Berlin. Cultural Interaction 1918–1933, Bern 2005, S. 185–197, hier S. 185. Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 34. Vgl. Proctor, Civilians, S. 110. Sowie Davis, Home Fires, S. 238. Winter, Jay und Jean-Louis Robert: »Conclusions: towards a social history of capital cities at war«, in: dies., Capital Cities, Vol. 1, S. 527–554, hier S. 539f. Maderthaner, Von der Zeit, S. 341. Gerwarth, Robert: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2016, S. 143. Stangl, Andrea: »›Wir hatten den Streik als eine große revolutionäre Demonstration gewollt.‹ Die Sozialdemokratie und der Jännerstreik«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im
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k.u.k. Armee, die nicht nur schlecht mit Waffen, Munition und Nahrungsmitteln versorgt, sondern spätestens auch seit der gescheiterten Offensive am Piave im Juni 1918 in Auflösung begriffen war, sahen sich Kaiser Karl i. und die Habsburgerregierung im Herbst gezwungen, sich auf einen Frieden mit den Entente-Mächten zu verständigen. Beim militärischen Zusammenbruch allein blieb es nicht, denn zeitgleich befand sich der Vielvölkerstaat auch im Innern im Zerfallsprozess. Ermutigt durch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924), der seine Unterstützung für die Befreiung aller slawischen Völker von der österreich-ungarischen und deutschen Herrschaft erklärte, sagten sich die nicht-deutschen Völker im Laufe des Oktobers nach und nach von der Doppelmonarchie los. Es bildeten sich, so Hans Magenschab, »sogenannte Nationalräte, die in den Großstädten der Monarchie unabhängige Staaten ausriefen – in Prag eine Republik der Tschechen und Slowaken, am Balkan für ein Reich der Serben, Kroaten und Slowenen. Schließlich fiel auch Ungarn ab […].«7 Den Zerfall der alten Ordnung und die Verselbständigung der Staatenbildung konnte der Kaiser auch mit seinem »Völkermanifest« vom 16. Oktober 1918, mit dem er durch die Umwandlung der Monarchie in einen Bundesstaat auf den Zusammenhalt des Reiches zielte, nicht mehr aufhalten. Daran anschließend ergriffen auch die deutschsprachigen Reichstagsabgeordneten der österreichischen Reichshälfte die Initiative und beriefen einen provisorischen »Nationalrat« ein. Mit der »Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich«, die sich am 21. Oktober in Wien konstituierte, entstand ein neuer Staat, der alle mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete der Monarchie umfassen sollte. In der Folge wählte die Versammlung einen zwanzigköpfigen Vollzugsauschuss (später »Staatsrat« genannt), der sich aus Vertretern aller Parteien zusammensetzte und de facto die Regierungsgeschäfte übernahm. »Die sozialdemokratischen Abgeordneten stellten zwar nur eine relativ kleine Gruppe«, erklären Pfoser und Weigl, »aber die aktuelle politische Situation gab ihnen großes politisches Gewicht.«8 Es war kein Zufall, dass der Sozialdemokrat Karl Renner nun die Initiative ergriff und der Provisorischen Nationalversammlung einen Verfassungsentwurf für den neuen Staat zum Beschluss vorlegte. Dessen Annahme in der Sitzung des 30. Oktobers, dem Tag der »Massenmanifestation«9 in Wien, schloss die Konstituierung des Staates »Deutschösterreich« ab. Zugleich wurde die erste deutschösterreichische Regierung gebildet, die fortan unter Renner als Leiter der Kanzlei des Staatsrates (später »Staatskanzler«) sämtliche Regierungs- und Vollzugsgewalt im neuen Staat ausübte. Mit den Beschlüssen vom 30. Oktober endete die Rechtskontinuität mit dem alten Staat. Der österreichische Histo-
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Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/wir-hatten-den-streik-als-eine-grosse-rev olutionaere-demonstration-gewollt-die (09.09.2019). Magenschab, Hans: Der Große Krieg. Österreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918, Innsbruck 2013, S. 245. Andere nicht-deutsche Völker bildeten keine selbstständigen Staaten, sondern schlossen ihre Gebiete wie in den Fällen der polnischen und rumänischen Bevölkerung souveränen Staaten an. Vgl. hierzu u.a Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 19f. Ebd., S. 122. Die Provisorische Nationalversammlung setzte sich gemäß dem Kräfteverhältnis der letzten Reichstagswahl von 1911 aus 101 Deutschnationalen, siebzig Christlichsozialen und 39 Sozialdemokraten zusammen. Vgl. hierzu ebd. Ferner Hanisch, Der lange Schatten, S. 264. Maderthaner, Von der Zeit, S. 341.
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riker Ernst Hanisch hebt hervor, was der Austromarxist Bauer als »parlamentarische Revolution«10 bezeichnete: »[… A]ls Reaktion auf die schwache Stellung des Parlaments in der Monarchie verschob sich nun das politische Schwergewicht auf eine extreme Parlamentsherrschaft. Noch standen sie nebeneinander: der alte Reichsrat und die provisorische Nationalversammlung, das Ministerratspräsidium und die Staatskanzlei, die k.u.k. Ministerien und die neuen Staatsämter. Die Machtübergabe geschah amikal. Noch wurden, wie gewohnt, kaiserliche Orden und Ehrenämter verliehen. Die Frage Republik oder Monarchie blieb vorläufig offen.«11 Nachdem die Demonstrationszüge auf den Straßen Wiens und Deutschösterreichs in den darauffolgenden Tagen Schwung aufnahmen und sich die Stimmung in der Bevölkerung infolge des »desaströsen Waffenstillstandes« mehr und mehr aufheizte, erreichten die Österreicher die Nachrichten vom Waffenstillstand des Deutschen Reiches, von den revolutionären Ereignissen in Berlin, die zur Abdankung Kaiser Wilhelms ii. führten, und schließlich von der Ausrufung der deutschen Republik am 9. November 1918. Jetzt schlug aus Sicht der deutschösterreichischen Regierung die Stunde zur Proklamation der Republik Deutschösterreich. Schon zwei Tage später, am 11. November, erklärte Kaiser Karl i. widerwillig seinen Verzicht auf die Fortführung der Staatsgeschäfte. Am Tag darauf beschloss die provisorische Nationalversammlung die Ausrufung der Republik und den Anschluss an das Deutsche Reich.12 Zur Tragweite der Entscheidungen vom 12. November resümierte Bauer: »Der Gesetzesbeschluß dieses Tages faßte die Ergebnisse der großen Umwälzung zusammen. Er schloß die demokratische Revolution ab: er erklärte Deutschösterreich zur demokratischen Republik, übertrug alle Rechte des Kaisers dem Staatsrat, erklärte alle Vorrechte der Familie Habsburg für aufgehoben, alle auf politische Privilegien gegründeten Körperschaften – die Delegationen, das Herrenhaus, die auf Grund des Zensuswahlrechtes gewählten Landtage und Gemeindevertretungen – für aufgelöst, er ordnete die Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung und die Neuwahl der Landes- und der Gemeindevertretungen auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechtes auf Grund der Verhältniswahl an. Die Republik, die Zertrümmerung der plutokratischen Wahlrechtsprivilegien in den Ländern und in den Gemeinden, das Frauen Wahlrecht [sic!], der Proporz waren die Errungenschaften der demokratischen Revolution. Zugleich zog derselbe
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Bauer, Otto: »§ 14. Der Kampf um die Institutionen der Republik«, in: ders., Die österreichische Revolution, Vierter Abschnitt – Die Zeit des Gleichgewichts der Klassenkräfte, Wien 1923, transkribiert und digitalisiert durch das Marxists’ Internet Archive. Im Internet unter: https://www.m arxists.org/deutsch/archiv/bauer/1923/oesterrev/14-institutionen.html (11.09. 2019). Hanisch, Der lange Schatten, S. 266. Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 123. Vgl. Mertens, Weiskirchner, S. 197. Ferner Stangl, Andrea: »Der 12. November« in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/der -12-november-1918 (11.09.2019).
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Gesetzesbeschluß die letzte Folgerung aus der nationalen Revolution: ›Deutschösterreich‹, erklärte der Artikel 2, ›ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.‹«13 Zwar sollten die Alliierten den Anschluss Österreichs an Deutschland, der vermeintlich »einzige Ausweg aus den vielen Nöten, welche die Republik bedrohten«14 , in der Zukunft blockieren, doch für den Moment siegte in dem kleinen »Reststaat« des einstigen Riesenreiches die Demokratie über die Monarchie. Noch am Nachmittag dieses »welthistorischen Tages«15 versammelte sich rund um das Parlament an der Wiener Ringstraße eine Menschenmenge, als der amtierende deutschnationale Präsident der Provisorischen Nationalversammlung Franz Dinghofer (1873–1956) in Begleitung seines sozialdemokratischen Präsidentenkollegen Karl Seitz (1869–1950) von der Parlamentsrampe aus die Republik Deutschösterreich verkündete. Für Wien läutete die Republikgründung eine neue Ära ein. Nach Jahrhunderten, in denen die Stadt einen Mittelpunkt der europäischen Geschichte darstellte, habe sie, wie Jean-Paul Bled darlegt, von einem Tag auf den anderen ihre Stellung als Metropole eines ausgedehnten politischen Gemeinwesens verloren und war fortan als Hauptstadt eines kleinen Staates auf der Suche nach ihrer Identität.16 Im Herbst 1918 herrschte im kriegsgebeutelten Wien Endzeitstimmung. Die dramatische Versorgungslage und die um sich greifende Spanische Grippe nährten die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit unter den Einwohnern. Neben Elend und Not trat die Ungewissheit über die Zukunft des neuen Staates, die mit Blick auf die anstehenden Friedensverhandlungen in den Händen der Siegermächte lag. Mit dem 12. November kam bei vielen Zeitgenossen aber auch eine gewisse Aufbruchstimmung auf. Infolge der Gründung der Alpenrepublik wurden Mut und Zuversicht auf bessere Zeiten geschöpft. Damit verbunden besaßen das Zauberwort »Sozialismus« und die ihm innewohnenden Versprechen eine enorme Anziehungskraft. Demzufolge waren die Erwartungen an die erstarkte Sozialdemokratie, die nun – organisatorisch bestens gerüstet – in politischer Verantwortung war, hoch. Die verheerenden Bürgerkriegsverhältnisse in Russland seit der gewaltsamen Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 vor Augen setzten sich die Sozialdemokraten zum Ziel, ihre sozialpolitische Agenda durch parlamentarische Reformen auf den Weg zu bringen. Das jedoch entsprach nicht den Vorstellungen der radikalen Arbeiter- und Soldatenräte, die seit ihrer Entstehung infolge des Jännerstreiks die basisdemokratische Mitgestaltung der Politik forderten und nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution die sozialistische Republik auf revolutionärem Weg schaffen wollten. Angesichts der Schwäche
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Bauer, Otto: »§ 7. Die deutschösterreichische Republik«, in: ders., Die österreichische Revolution, Zweiter Abschnitt – Der Umsturz, Wien 1923, transkribiert und digitalisiert durch das Marxists’ Internet Archive. Im Internet unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bauer/1923/oest errev/07-republik.html (11.09.2019). Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 123. Hanisch, Der lange Schatten, S. 267. Schnitzler, Arthur: Tagebuch 1879–1931, Wien 1985, hier Eintrag vom 12. November 1918, transkribiert und digitalisiert durch das Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH) und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Im Internet unter: https://schnitzler-tagebuch .acdh.oeaw.ac.at/entry__1918-11-12.html (11.09.2019). Vgl. Bled, Wien, S. 389.
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des Militärs und der chaotischen Zustände im Land hätte die österreichische Arbeiterbewegung auch nach der Republikgründung jederzeit eine Rätediktatur errichten können.17 Die Einbindung der revolutionär eingestellten Rätebewegung und der hinter ihr stehenden Massen in den politischen Prozess war, wie sich im weiteren Verlauf der österreichischen Revolution zeigte, nur eine der großen Herausforderungen, denen sich die österreichische Sozialdemokratie während der Gründungsjahre der Ersten Republik stellen musste. Mit ihrer neuen Rolle als politische Führungskraft im neugegründeten Staat waren die österreichischen Genossen nicht allein, denn auch in Deutschland fiel der Sozialdemokratie im Zuge der Novemberrevolution die politische Führung zu. Obwohl die Umsturzereignisse in Österreich-Ungarn in einem, wie Robert Gerwarth hervorhebt, »weitaus komplizierteren multinationalen Kontext stattfanden«18 , weisen die politischen Entwicklungen in den beiden Nachbarstaaten während der Revolutionsperiode 1918/19 viele Parallelen auf.19 So ging das Ende der militärischen Kampfhandlungen auch im Deutschen Reich mit dem Umsturz im Inneren einher. Wie die Donaumetropole stand die deutsche Hauptstadt im Herbst 1918 bald im Mittelpunkt der revolutionären Umgestaltung Deutschlands in eine moderne Republik. Auch sind die revolutionären Ereignisse des 9. Novembers in erster Linie auf die militärische Unterlegenheit der schlecht verpflegten deutschen Divisionen an der Westfront während der letzten Kriegsmonate zurückzuführen. Hunderttausende Soldaten gaben nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensiven von 1918 die Hoffnung auf einen Sieg auf und versuchten der Front zu entkommen.20 Hierbei wirkte Berlin auf zahlreiche Deserteure und Heimkehrer wie ein Magnet, was einerseits auf die verkehrsgünstige Lage der Hauptstadt und andererseits auf die vielen »Unterschlupfmöglichkeiten« der Metropole zurückzuführen war. Ein großer Teil der zurückkehrenden Soldaten sehnte sich nach Frieden und war bereit, »alles, was das Ende des Krieges zu versprechen schien, nachhaltig zu unterstützen«21 . Ende September gestand schließlich auch die Oberste Heeresleitung die Niederlage ein. Der endgültige Zusammenbruch des Westheeres sollte durch die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen verhindert werden. Um das Wohlwollen Wilsons für einen Verständigungsfrieden zu gewinnen, drängte die OHL Wilhelm ii. (1859–1941) dazu, per Dekret die Demokratie in Deutschland einzuführen und den Übergang zu einer parlamentarischen Monarchie einzuleiten.22 Doch es vergingen noch Wochen, ehe die Anfang Oktober neugebildete
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Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 175. Gerwarth, Die Besiegten, S. 140. Eine vergleichende Darstellung der revolutionären Veränderungen in Österreich-Ungarn und Deutschland hat Francis L. Carsten vorgelegt. Siehe hierzu ders., Revolution in Mitteleuropa 1918–1919, Köln 1973. Der umfassende Vergleich der beiden Revolutionen, die jeweils unterschiedlichen Imperativen folgten, liefert insgesamt jedoch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Vgl. hierzu Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Bonn 2014, S. 729. Vgl. Neitzel, Sönke: Weltkrieg und Revolution 1914–1918/19, Bonn 2011, S. 147f. Köhler, Berlin, S. 797. Vgl. Görtemaker, Manfred: »Zwischen den Kriegen. Revolution, Reaktion, Republik«, in: ders. (Hg.), Weimar in Berlin. Porträt einer Epoche, Berlin 2002, S. 10–35, hier S. 10.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
parlamentarische Regierung23 unter Prinz Max von Baden (1867–1929) den Waffenstillstand mit den Alliierten vereinbaren konnte. In der Zwischenzeit herrschte Ungewissheit darüber, ob es nicht doch zu einer Wiederaufnahme der Kampfhandlungen kommen würde. »Große Teile der Bevölkerung«, so Neitzel, »waren nicht länger bereit, Krieg zu führen. Sie wollten den Frieden, und zwar schnell.«24 Anders als in Österreich nahm die deutsche Revolution ihren Ausgangspunkt nicht in der Hauptstadt, sondern in der Provinz.25 Es war der Kieler Matrosenaufstand26 vom 3. November, von dem aus die Unruhen auf weitere norddeutsche Städte übergriffen. Innerhalb kürzester Zeit organisierten sich die kriegsmüden Massen im ganzen Reich: »Wie von einem Sturmwind angefacht sprang der revolutionäre Funke von den Hafenstädten ins Landesinnere über. Von Kiel bis München, von Köln bis Breslau, zuletzt in Berlin begehrten Soldaten und Arbeiter auf gegen die Obrigkeit und den Militarismus, motiviert von dem Verlangen nach Frieden, Freiheit, Brot und getragen von der Hoffnung, dass nun alles anders und besser würde.«27 Überall bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, die die Macht in den Regierungsbehörden ohne Gegenwehr übernahmen. Am 9. November, als die Revolution die Reichshauptstadt erfasste, verschwanden die Stützen der alten Ordnung innerhalb eines Tages schließlich ganz von der Bildfläche.28 Der Tag begann mit machtvollen Demonstrationszügen der Arbeiterschaft, die ihre Betriebe verließen und unterstützt von Soldaten und kriegsüberdrüssigen Berlinern in Richtung des Parlaments- und Regierungsviertels marschierten. In Berlin, der Hochburg der Linken, wo die Gegensätze innerhalb der Arbeiterbewegung seit der zweiten Kriegshälfte stärker als andernorts in Erscheinung traten, dominierte an diesem Samstag die Einigkeit der Arbeiterschaft. Der (M)SPD29 war es gelungen, den überwiegenden Teil der (radikalen) linken Kräfte für die gemäßigte Politik der Mehrheitssozialisten zu gewinnen und sich an die Spitze der Protestbewegung zu stellen.30 Wie ihre österreichischen Genossen wollten die führenden deutschen Sozialdemokraten eine blutige Revolution verhindern. Sie strebten einen friedlichen Übergang zum Volksstaat an:
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Mit ihrer Ernennung wurde das Deutsche Reich in den letzten Wochen seines Bestehens in eine parlamentarische Monarchie umgewandelt. Den Oberbefehl über die Armee hatte nicht mehr der Kaiser, sondern die Regierung inne. Es handelte sich einerseits um die letzte Regierung des Kaiserreichs und andererseits um die erste Reichsregierung unter Beteiligung der Sozialdemokratie. Neitzel, Weltkrieg, S. 155. Vgl. Wirsching, Andreas: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2000, S. 3. Trotz der in Gang gesetzten Waffenstillstandsverständigungen sollte die in Wilhelmshaven gelegene deutsche Hochseeflotte auf eigenmächtiges Betreiben der Admiralität in die letzte große Schlacht ziehen. Die kriegsmüden Matrosen waren jedoch nicht bereit, sich auf die »geplante Todesfahrt« zu begeben und verweigerten den Befehl der Seekriegsleitung. In der Folge kam es in Kiel zur offenen Rebellion der dorthin verlegten meuternden Matroseneinheiten. Nach kaum mehr als zwei Tagen befand sich die Stadt in den Händen der Aufständischen. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 83. Vgl. Köhler, Berlin, S. 799. Die im Folgenden bevorzugt verwendete Abkürzung SPD meint die Mehrheitssozialdemokratie. Hierzu vgl. ausführlich ebd., S. 798ff. Sowie Bisky, Berlin, S. 440ff.
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»[… Die SPD] richtete ihre Politik längst auf reformerische Ziele wie den Aufbau einer parlamentarischen Demokratie, die Einführung des Frauenwahlrechts, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und den Ausbau des Sozialstaats. All dies sollte nicht durch einen Umsturz, sondern durch schrittweise Reformen erreicht werden.«31 Gemäß ihrer Ablehnung der Machtübernahme nach bolschewistischem Vorbild handelte die SPD in der Stunde der Revolution. Während der Generalstreik und die Demonstrationen am 9. November das öffentliche Leben in der Hauptstadt lahmlegten, gab der letzte kaiserliche Reichskanzler Max von Baden unter dem Eindruck der Stimmung der Massen eigenmächtig den Thronverzicht Wilhelms ii. bekannt und übergab dem SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert (1871–1925) die Regierungsgeschäfte. Im Verlauf des Tages gewannen die Ereignisse weiter an Eigendynamik. Am frühen Nachmittag entschied sich der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann (1865–1939) kurzerhand ohne Autorisierung Eberts zur Ausrufung der »deutschen Republik«. »Diese Geste«, erklärt Henning Köhler, »brachte zum Ausdruck, wovon die meisten Menschen in den Straßen überzeugt waren. Die Monarchie hatte mit der Niederlage ausgespielt, es mußte etwas Neues kommen.«32 Scheidemann mit seinem wachen Gespür für die Stimmung im Volk sprach aber nicht nur aus, wovon die Mehrheit der demonstrierenden Arbeiter und Soldaten überzeugt war. Mit der spontanen Verkündung der Republik vom Balkon des Reichstagsgebäudes kam Scheidemann zugleich den Plänen Karl Liebknechts und des Spartakusbundes zuvor, eine Räterepublik zu proklamieren. Die moderate SPD konnte ihre führende Rolle im revolutionären Geschehen behaupten. Unter dem Druck der Volksbewegung wusste Ebert jedoch um die Notwendigkeit der Einbindung der linksstehenden Kräfte und bot der Unabhängigen Sozialdemokratie die Bildung einer gemeinsamen, paritätisch zusammengesetzten Regierung an.33 Durch die Einbeziehung der USPD in die Regierungsverantwortung konnte der Umsturzbewegung viel von ihrer potentiellen Wirkungskraft genommen werden.34 So bildete sich am 10. November in der Reichskanzlei der so genannte sechsköpfige »Rat der Volksbeauftragten«, der sich unter Führung von Ebert und dem Unabhängigen Hugo Haase (1863–1919) aus Vertretern der beiden »Arbeiterparteien« zusammensetzte. Noch am selben Tag wurde die Revolutionsregierung, auf die nun alle Entscheidungsbefugnisse übergingen, von einer Versammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte bestätigt.35 Auch von den Vertretern der alten Ordnung, d.h. von der Beamtenschaft, Verwaltung und vom Militär, wurde diese anerkannt. Dies lag nicht zuletzt auch daran, dass 31 32 33 34 35
Gerwarth, Die Besiegten, S. 137. Köhler, Berlin, S. 798. Vgl. auch Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin 1985, S. 49. Vgl. Kolb, Eberhard und Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, München 2013, S. 7. Vgl. Neitzel, Weltkrieg, S. 158. Letztere schossen in weiten Teilen des Landes wie Pilze aus dem Boden. »Ihre Entstehung beruhte«, wie Köhler darlegt, »nicht auf einem formalisierten Verfahren mit Gründungsversammlung, Wahlen, Abstimmungen, sondern es war eine Bildung aus ›revolutionärer‹ Wurzel.« Köhler zufolge waren die Räte keine politische Kraft. Ebenso stellten sie kein neues politisches Potential dar, denn auch in den Reihen der Arbeiter- und Soldatenräte »hielten die etablierten sozialistischen Parteien und ihre Führer die Dinge im Griff und kamen überein, die Macht gemeinsam auszuüben
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sich der Rat der Volksbeauftragten aus seinem tief verwurzelten Demokratieverständnis heraus nur als ein Provisorium für die revolutionäre Umbruchsperiode verstand.36 In Anbetracht der Situation, in der sich Deutschland als Verlierer des jüngst zu Ende gegangenen Krieges befand, stand das Kabinett um Ebert vor außerordentlichen Herausforderungen. Zu den drängendsten Problemen gehörten die Demobilisierung mehrerer Millionen Soldaten und die Sicherstellung der Volksernährung. In beiden Bereichen kam die Revolutionsregierung nicht umhin, mit den Trägern der alten Ordnung zu kooperieren und Kompromisse zu finden.37 So wurde der Regierung von Seiten der Militärführung die Loyalität der Streitkräfte zugesichert (Ebert-Groener-Pakt). Im Gegenzug versprach Ebert die Anerkennung der Befehlsgewalt der Offiziere und das Ergreifen von Maßnahmen gegen den Linksradikalismus. Eine ähnliche Übereinkunft kam auch im wirtschaftlichen Bereich zustande. Führende Gewerkschafter und Unternehmer schlossen ein »Abkommen, in dem die Gewerkschaften zusicherten, die wilden Streiks zu beenden, den Produktionsablauf nicht weiter zu behindern und die Enteignung von Privateigentum zu verhindern«38 . Im Gegenzug garantierte die Unternehmerschaft u.a. Tarifverträge, den Alleinvertretungsanspruch der Gewerkschaften als Arbeiternehmervertreter und die Einführung des Achtstundentages. Letzteres, die gesetzliche Festlegung der achtstündigen Höchstarbeitszeit galt bei der arbeitenden Bevölkerung in den darauffolgenden Jahren »als die große Errungenschaft der Revolution«39 . Die Sozialdemokratie verwirklichte damit eines ihrer großen traditionellen Ziele. Ein weiteres war die Einführung des allgemeinen und gleichen Verhältniswahlrechts für alle Parlamente, das für Männer und Frauen gleichermaßen galt. Angesichts der widrigen Umstände und der kurzen Zeit, in denen der Rat der Volksbeauftragten die Regierungsverantwortung innehatte, waren seine Leistungen beachtlich: »Die Not des Augenblicks wurde gelindert, die schlimmsten Folgen des Krieges beseitigt, die Hungersnot bekämpft, die zurückkehrenden Soldaten weitgehend integriert und mit einem Bündel sozialpolitischer Regelungen über Arbeiterschutz, Krankenversicherung, Arbeitsbeschaffung und Arbeitslosenunterstützung wichtige Reformen eingeleitet. Die Aufhebung der Zensurbestimmungen und der Ausnahmegesetze war für Sozialdemokraten ein Akt der Selbstverständlichkeit, ebenso wie die Freiheit der Meinungsäußerung und die Freiheit und Sicherheit der Person.«40
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und die bestehenden Gegensätze nach Möglichkeit zu überwinden«. Köhler, Berlin, S. 800 und S. 802. Ferner Winkler, Von der Revolution, S. 55ff. Vgl. ebd. Vgl. Neitzel, Weltkrieg, S. 158. Vgl. hierzu ausführlich auch Kolb/Schumann, Weimarer Republik, S. 11ff. Neitzel, Weltkrieg, S. 159. Zum »Zentralarbeitsgemeinschafts«-Abkommen bzw. Stinnes-LegienAbkommen vom 15. November 1918, benannt nach dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsvertreter Carl Legien (1861–1920) und dem führenden Großindustriellen Hugo Stinnes (1870–1924) als den beiden Hauptunterzeichnern, vgl. auch Gerwarth, Die Besiegten, S. 139f. Ausführlich auch Winkler, Von der Revolution, S. 75ff. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 86. Ebd. Vgl. hierzu auch Winkler, Von der Revolution, S. 89ff.
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Dieser von Potthoff und Miller gezogenen Bilanz muss in einem Punkt widersprochen werden. Um die Ernährungslage stand es auch Wochen nach der Republikgründung weiterhin »katastrophal schlecht«41 . Trotz dieser positiven Ergebnisse darf außerdem nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Leistungen der Revolutionsregierung weit hinter dem zurückblieben, was sich die Arbeiterschaft von der Revolution erhofft hatte. Von einer umfassend umwälzenden Revolution konnte nicht die Rede sein. Zwar hatte die Regierung eine Reihe wichtiger Maßnahmen wie den Achtstundentag durchsetzen können, doch die Grundlagen von Wirtschaft und Staat wurden nicht angetastet.42 Da beiden führenden Parteien qualifiziertes Personal fehlte, um die Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit anzupacken, sah sich der Rat der Volksbeauftragten gezwungen, auf die alten monarchistischen Eliten zurückzugreifen. Eine Demokratisierung des öffentlichen Dienstes, des Militärs, der Wirtschaft und wichtiger gesellschaftlicher Einrichtungen hat es nicht gegeben.43 Potthoff und Miller selbst betonen, dass im Grunde genommen alles beim Alten blieb: »Auf den Landrats- und Bürgermeisterstühlen, in den Schaltstellen der Industrie und der Wirtschaft, auf den Offiziersposten und in den Behörden des Reiches und der Länder saßen, abgesehen von einzelnen Vertretern und ›Kontrolleuren‹ der Arbeiterklasse, immer noch die Repräsentanten des Obrigkeitsstaates und der Militärkaste, der ›Landlords‹ und der Industriebosse.«44 Sich selbst als »Konkursverwalter« des alten Reiches betrachtend, beharrte die SPD-Führung auf dem Standpunkt, dass wegweisende verfassungsrechtliche Entscheidungen durch ein aus allgemeinen Wahlen hervorgehendes Volksparlament getroffen werden sollten. Die Volksbeauftragten der USPD, die angesichts des Ausbleibens umwälzender Sozialisierungsmaßnahmen und der zunehmenden Enttäuschung der Arbeitermassen aus den Reihen des linken Parteiflügels schnell unter Druck gerieten, drängten hingegen auf die rasche Einführung eines Rätesystems, das mit einer später zu wählenden Nationalversammlung zusammengeführt werden sollte. Auf dem Reichsrätekongress (16.-20. Dezember 1918), der als höchste revolutionäre Instanz über die Frage der Nationalversammlung entscheiden sollte, traten die gegensätzlichen Positionen der beiden Linksparteien schließlich offen zu Tage. Im Ergebnis setzte die SPD ihre Position mit deutlicher Mehrheit durch: »Der Rat der Volksbeauftragten wurde als provisorische Exekutive und Legislative bis zum Zusammentritt einer Nationalversammlung anerkannt, die zum nächstmöglichen Zeitpunkt – am 19. Januar 1919 – gewählt werden sollte.«45 Der Politik der »Konkursverwaltung« widerstrebend und gewillt, den Kontakt zur radikalen Linken aufrechtzuerhalten, drängte der linke Flügel der USPD die Partei daraufhin
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Witt, Peter-Christian: Friedrich Ebert. Parteiführer, Reichskanzler, Volksbeauftragter, Reichspräsident, Bonn 2014, S. 120. Vgl. Weipert, Das Rote Berlin, S. 147. Vgl. hierzu ausführlich Winkler, Von der Revolution, S. 72ff. Sowie Kluge, Weimarer Republik, S. 36ff. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 87f. Vgl. auch Weipert, Das Rote Berlin, S. 144. Zur Abhängigkeit der Sozialdemokratie vom alten Beamtenapparat und ihre Folgen vgl. Walter, SPD, S. 53ff. Neitzel, Weltkrieg, S. 159f. Vgl. auch Wirsching, Weimarer Republik, S. 7.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
zurück in die Opposition. Die blutig verlaufenden Weihnachtsunruhen46 in Berlin nahmen die Unabhängigen schlussendlich zum Anlass, um die Kooperation mit der SPD zu beenden. Die USPD-Volksbeauftragten legten am 29. Dezember ihr Amt nieder. Die SPD stand damit in den Wochen vor der Wahl in alleiniger Regierungsverantwortung. Eine besondere Herausforderung während dieser Zeit waren die bürgerkriegsähnlichen Zustände in der deutschen Hauptstadt. Nachdem der Unabhängige Emil Eichhorn (1863–1925) infolge seiner Unterstützung der Aufständischen während der Weihnachtskämpfe aus dem Amt des Berliner Polizeipräsidenten entlassen wurde, riefen USPD und die am 30. Dezember 1918 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) die Berliner Arbeiterschaft am 5. Januar 1919 zum Widerstand und zum Sturz der Revolutionsregierung auf. Die spontane Aktion geriet rasch außer Kontrolle: »Bewaffnete Aufständische […] besetzten das Polizeipräsidium am Alexanderplatz und das Zeitungsviertel im Bereich der Leipziger Straße, Friedrichstraße und Kochstraße sowie andere zentrale Punkte in der Stadt. Kleinere Scharmützel eskalierten zu erbitterten Straßenschlachten, als Verhandlungen mit der Regierung scheiterten und die Aufständischen die Bevölkerung zum Generalstreik aufforderten. Die Regierung antwortete mit der Verhängung des Belagerungszustandes.«47 Mit zusammengewürfelten Freikorps-Verbänden schlugen die Volksbeauftragten den sogenannten »Januaraufstand« schließlich am 11./12. Januar blutig nieder. Zahlreiche Menschen wurden verletzt oder starben im Zuge der Straßenkämpfe. Mit den Morden an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, der Führungsspitze der KPD, erreichten die gewaltsamen Auseinandersetzungen auch die politische Elite. Die blutige Eskalation markierte einen Wendepunkt und führte, wie Weipert darlegt, zu zunehmender Erbitterung innerhalb der Arbeiterschaft: »Weder die Führer der Linken noch die Sozialdemokraten in der Regierung hatten sich während der Januartage im Sinn der Arbeiterschaft verhalten. Die einen wollten die verbreitete Unzufriedenheit für einen übereilten und deshalb chancenlosen Aufstand nutzen, die anderen gewaltsam beweisen, dass sie die Zügel in der Hand hielten. Beide ignorierten dabei den parteiübergreifenden Willen der Basis, die an solchen Machtkämpfen innerhalb der Arbeiterbewegung nicht interessiert war. Sie wollte vielmehr, dass sich ihre Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderungen endlich, zwei Mona-
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Nachdem vom Rat der Volksbeauftragten die Reduzierung der Truppenstärke und der Abzug der »Volksmarinedivision«, eine zum Schutz des Regierungsviertels aufgestellte Einheit bewaffneter Matrosen, aus Berlin angeordnet und die Soldforderungen der Matrosen nicht erfüllt wurden, kam es am 23. und 24. Dezember 1918 am Berliner Stadtschloss und am Neuen Marstall zu den sogenannten Weihnachtskämpfen zwischen der Volksmarinedivision und regulären Truppen der Obersten Heeresleitung. Letztere wurde auf Betreiben Eberts zu Hilfe gerufen und erlitt gegen die von bewaffneten Arbeitern und unbewaffneter Bevölkerung unterstützten Matrosen eine Niederlage. Die Auseinandersetzung offenbarte, dass Ebert die labile Ordnung mit Waffengewalt zu verteidigen bereit war. Auf Seiten der politischen Linken bewirkte die »Blutweihnacht« eine Radikalisierung. Vgl. u.a. Neitzel, Weltkrieg, S. 160ff. Winkler, Von der Revolution, S. 109ff. Görtemaker, Zwischen den Kriegen, S. 11. Umfassendere Schilderungen der Ereignisse des Januaraufstandes liefern Weipert, Das Rote Berlin, S. 147ff. Sowie Köhler, Berlin, S. 806ff.
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te nach dem Ende des Krieges und der Monarchie, erfüllen würden. Davon war man jedoch weit entfernt.«48 Der Januaraufstand bewirkte zum einen eine Radikalisierung des städtischen Arbeitermilieus und zum anderen eine Verschärfung der Rivalität zwischen der Sozialdemokratie und linken Radikalen. Es sollte nicht der letzte Zusammenstoß der beiden Gruppen in der Hauptstadt der noch jungen Republik bleiben. Für den Moment aber kehrte in Berlin Ruhe ein. Die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar verliefen störungsfrei. Aus der ersten reichsweiten Wahl nach dem Verhältniswahlrecht ging die SPD mit 37,9 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft hervor. Insgesamt aber blieben die sozialdemokratischen Parteien (die USPD erreichte lediglich 7,6 Prozent) in der Minderheit. Stattdessen waren es die bürgerlich-konservativen Parteien, die gestärkt aus dem Urnengang hervorgingen.49 Das neu gewählte verfassungsgebende Parlament mit 423 Abgeordneten, darunter 37 Frauen, trat zum ersten Mal am 6. Februar zusammen. Aufgrund der unruhigen Verhältnisse in Berlin fiel die Wahl des Tagungsortes auf das Weimarer Nationaltheater. Hier wurde Ebert fünf Tage später zum ersten Reichspräsidenten gewählt und eine Koalitionsregierung gebildet. Das Ergebnis war die »Weimarer Koalition« – ein Regierungsbündnis der Sozialdemokraten mit der Deutschen Demokratischen Partei und dem Zentrum. Diese zunächst von Scheidemann als Ministerpräsidenten50 geführte Drei-Parteien-Koalition, die bereits während des Krieges im Interfraktionellen Ausschuss des Reichstages zusammenarbeitete, sollte mit wechselnden Kabinetten und zeitweisem Ausscheiden der DDP bis zu den ersten Reichstagswahlen im Juni 1920 bestehen bleiben. Parallel zur Wahl der Weimarer Nationalversammlung standen Mitte Februar 1919 auch in Deutschösterreich die ersten freien und gleichen Wahlen für Männer und Frauen an. Wie in Deutschland stand die Sozialdemokratie in den unruhigen Wochen zwischen Republikgründung und den Parlamentswahlen unentwegt unter dem Druck, den Frieden im Land zu wahren. Dies sei Otto Bauer zufolge das »schwierigste Problem der Revolution« gewesen: »[H]ungernde, verzweifelnde, von allen Leidenschaften, die der Krieg und die Revolution aufgewühlt hatten, bewegte Massen nicht mit Gewaltmitteln niederzuhalten, sondern mit geistigen Mitteln dazu zu bestimmen, daß sie aus freiem, aus eigener Erkenntnis stammenden Entschlüsse die Grenzen nicht überschreiten, die das wirtschaftliche Elend und die wirtschaftliche und militärische Ohnmacht des Landes der Revolution setzten.«51
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Weipert, Das Rote Berlin, S. 152. Die Christliche Volkspartei (Zentrum) erreichte rund zwanzig Prozent. Die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) kam auf etwas mehr als achtzehn Prozent und die konservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) auf zehn Prozent der Stimmen. Hierzu ausführlich Winkler, Von der Revolution, S. 135ff. Nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung am 14. August 1919 wurde die Bezeichnung Reichskanzler wiedereingeführt. Bauer, Otto: »§ 12. Der Staat und die Arbeiterklasse«, in: ders., Die österrerichische Revolution, Dritter Abschnitt – Die Vorherrschaft der Arbeiterklasse, Wien 1923, transkribiert und digitalisiert
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Nach den Ausführungen von Pfoser und Weigl hat die sozialdemokratische Partei in ständiger Kommunikation mit den Betrieben, mit den Arbeiter- und Soldatenräten und den Gewerkschaften gestanden und versucht, mit ihnen das politische Vorgehen abzustimmen und sie für die »Kunst des Kompromisses« zu gewinnen.52 Die Gunst der Stunde nutzend brachte die Sozialdemokratie in den ersten Revolutionswochen zudem eine Reihe (provisorischer) sozialpolitischer Notstandsmaßnahmen auf den Weg. Hierzu gehörten neben der Wiederinkraftsetzung der Arbeiterschutzgesetzgebung der Vorkriegszeit u.a. die Auszahlung von Arbeitslosenunterstützungen, die Abschaffung des Arbeitsbuches und die Einführung des Achtstundentages. Tiefgreifende Veränderungen im Wirtschafts- und Bürokratieleben gab es in Österreich aber letztendlich genauso wenig wie in Deutschland. Mit Ausnahme des Militärs, mit dem die neue Republik kompromisslos brach, herrschte auf allen Ebenen eine weitgehende Kontinuität der alten Ordnung.53 Auch nach den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919, die wie in Deutschland nach dem Verhältniswahlrecht abgehalten wurden und bei denen die Sozialdemokratie mit 72 von insgesamt 170 Mandaten als stärkste Kraft hervorging, sollte sich daran nicht viel ändern. Gemeinsam mit den nur marginal schwächeren Christlichsozialen (69 Mandate) bildete die SDAP am 4. März 1919 eine Koalitionsregierung unter dem Staatskanzler Karl Renner. Wie die Weimarer Koalition hielt die Große Koalition in dem kleinen Arbeiter- und Bauernstaat bis zum Juni 1920.
1.2 In Verantwortung: Die Sozialdemokratie regiert Die beiden neuen Staatsregierungen in Deutschland und Österreich standen in den eineinhalb Jahren ihrer Amtszeit vor ähnlichen Aufgaben und Herausforderungen. Es galt, die Demobilisierung von Armee und Wirtschaft zu Ende zu führen und die Volksernährung sicherzustellen. Die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln bereitete den Regierungen besondere Schwierigkeiten, »denn hier konnten sie nicht allein und aus eigener Kraft eine Verbesserung der Situation herbeiführen, sondern waren auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen der allein lieferungsfähigen Alliierten unterworfen«54 . Die dominierenden Aufgaben der Regierungsverantwortlichen und der Nationalversammlungen waren jedoch der Abschluss von Friedensverträgen mit der Entente und die Ausarbeitung und Verabschiedung neuer Verfassungen. Die Erarbeitung der Verfassungen nahm in beiden Ländern viel Zeit in Anspruch und war mit langwierigen Beratungen und Verhandlungen der beteiligten Institutionen verbunden. Während sich die Verfassungsentwicklung in Österreich in Etappen mit mehreren Verfassungsnovellen und Gesetzen zwischen 1918 und 1920 vollzog, trat am 14. August 1919 die Weimarer Verfassung in Kraft, die Deutschland zu einem föderalen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat machte. Zu den zentralen Verfassungsprinzipien gehörten die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und die Garantie der Freiheits- und Grundrechte für alle
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durch das Marxists’ Internet Archive. Im Internet unter: https://www.marxists.org/deutsch/ar chiv/bauer/1923/oesterrev/12-staat.html (20.09.2019). Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 175. Vgl. auch Weihsmann, Das Rote Wien, S. 21. Vgl. Hanisch, Der lange Schatten, S. 268. Witt, Ebert, S. 120. Vgl. hierzu auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 27 und S. 93.
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Bürger und Bürgerinnen.55 Die Weimarer Reichsverfassung verankerte ein parlamentarisches Regierungssystem, in dem Elemente der repräsentativen und plebiszitären Demokratie mit dem Präsidialprinzip, das einen direkt gewählten und mit umfassenden Kompetenzen ausgestatteten Reichspräsidenten vorsah, vereinigt wurden. Das österreichische Verfassungswerk, das seinen vorläufigen Abschluss in der Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 fand, unterschied sich in seinen Grundinhalten kaum von der Weimarer Verfassung.56 Auch Österreich war nun nach den Gesetzesbestimmungen eine demokratische Republik, in der die Prinzipien der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung verfassungsrechtlich verankert waren. Hinsichtlich der Grundrechte wurde auf den Grundrechtskatalog des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 zurückgegriffen. Bei der Ausgestaltung des Regierungssystems gab es jedoch Unterschiede. In der Alpenrepublik wurde ein verhältnismäßig starkes parlamentarisches System verankert, in dem die Frage nach dem Staatsoberhaupt und dessen Kompetenzen lange Zeit ungeklärt blieb.57 Unterschiede gab es zudem in den föderalen Strukturen beider Republiken. Während der deutsche Föderalismus in abgeschwächter Form erhalten blieb, sah die österreichische Bundesverfassung von 1920 eine deutlichere Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern vor.58 Der Entscheidung gegen einen Zentralstaat und für einen föderalistischen Bundesstaat gingen in der österreichischen Verfassungsdiskussion zahlreiche Beratungen und Länderkonferenzen voraus, in denen die Skepsis gegenüber dem neugegründeten Staat und das Misstrauen gegenüber einer Zusammengehörigkeit der Länder offen zu Tage traten. In den zwei Jahren zwischen dem Beginn der Revolution und dem Beschluss der Bundesverfassung entwickelte sich in Österreich ein ausgeprägter und von parteipolitischen Gegensätzen getragener Länderseparatismus, in dem sich nach Hanisch ein Bündel von kollektiven Emotionen auskristallisierte: »[… D]as Unbehagen über das demographische Übergewicht Wiens und, damit verknüpft, die unlösbaren Ernährungsprobleme, ein traditioneller, bislang verdeckter Antizentralismus, verbunden mit Antisemitismus und Antisozialismus, vor allem aber die 55
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Zur Entstehung und zu den Bestimmungen der Weimarer Verfassung sind in den letzten Jahren umfassende Darstellungen veröffentlicht worden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf eine allgemeine Kurzdarstellung. Zur Weimarer Verfassung siehe ausführlich Kluge, Weimarer Republik, S. 36ff. Boldt, Hans: »Die Weimarer Reichsverfassung«, in: Bracher, Karl Dietrich, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 1998, S. 44–62. Mit dem Bestreben nach einer angemessenen und allgemeinverständlichen Würdigung der Weimarer Verfassung haben jüngst Horst Dreier und Christian Waldhoff einen Sammelband herausgegeben: Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018. Einen Vergleich der beiden Verfassungswerke, der sich jedoch auf ausgewählte Schwerpunkte beschränkt, hat Stefanie Vielgut vorgelegt. Vgl. dies., Demokratie und Verfassung in der Weimarer Republik und der Ersten Republik Österreichs, Diplomarbeit, Universität Wien, Wien 2012, hier S. 4. Zur Entwicklung der österreichischen Verfassung vgl. ausführlich Noll, Alfred J.: »Entstehung der Volkssouveränität? Zur Entwicklung der österreichischen Verfassung 1918 bis 1920«, in: Konrad/Maderthaner, Das Werden, Band 1, S. 363–380. Demzufolge gab es in Österreich keinen »übermächtigen Präsidenten«, der wie in der Weimarer Republik eine wesentliche Rolle im Gesetzgebungsprozess spielte. Vgl. ebd., S. 4 und S. 62. Vgl. ebd. Sowie Wirsching, Weimarer Republik, S. 10.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Furcht vor einer bolschewistischen Revolution (Dein Eigentum ist bedroht!), die von Wien ausgehen könnte. All das sammelte sich in der Formel von der ›Wiener Diktatur‹.«59 Das Bundesverfassungsgesetz von 1920 stellte daher zwangsläufig einen Kompromiss dar, wonach die Länder einerseits einen selbstständigen Wirkungsbereich erhielten und andererseits ihre Kompetenzen einer zentralen Agenda unterzuordnen hatten.60 Mit Beginn des Jahres 1922 erfolgte darüber hinaus die Trennung Niederösterreichs von der ehemaligen Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, die mit ihren zwei Millionen Einwohnern gut ein Drittel der Republikbevölkerung stellte und mit ihrem ›sterbenden Dasein‹ nach dem Krieg von der Provinz als eine gewaltige Belastung angesehen wurde (»Wasserkopf«). Eng verflochten mit den Verfassungsberatungen waren die Pariser Friedensverhandlungen, die im Januar 1919 begannen und für Deutschland und Österreich in der Unterzeichnung der Friedensverträge von Versailles (28. Juni 1919) und St. Germain (10. September 1919) mündeten.61 Die Hoffnungen beider Verliererstaaten auf milde Friedensbedingungen erfüllten sich nicht. Die Pariser Friedensbedingungen sahen spürbare Gebietsverluste, Souveränitätsbeschränkungen, hohe Abrüstungsauflagen und umfangreiche Reparationsverpflichtungen vor. Die hohen Wiedergutmachungsleistungen wurden von den Alliierten mit dem Kriegsschuldartikel rechtlich begründet, »in dem Deutschland und seine Verbündeten ›als Urheber‹ des Ersten Weltkrieges für alle Verluste und Schäden verantwortlich gemacht wurden«62 . Die Zuweisung der Kriegsschuld löste vor allem in Deutschland eine Welle der Entrüstung aus (»Diktat- und Schandfrieden«), die alle sozialen Schichten und politischen Parteien erfasste. In der Alpenrepublik, die sich nun nicht mehr »Deutschösterreich« nennen durfte, sorgte insbesondere das Anschlussverbot an den deutschen Nachbarstaat für Fassungslosigkeit (»Vernichtungsfrieden«). »Die permanente Klage über die Lebensunfähigkeit Österreichs lief ins Leere […]. Ob man wollte oder nicht,« so Hanisch, »man mußte sich im Kleinstaat einrichten.«63 Sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Ersten Republik Österreichs bewirkten die Friedensverträge eine Verschärfung der ohnehin schon angespannten inneren Verhältnisse. Auch ein Jahr nach dem Beginn der Revolution standen beide Staaten ganz im Zeichen der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die sich aus dem Krieg und der Demobilisierung ergaben. In dieser Situation wurde der als Schmach empfundene Versailler Vertrag von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung in Deutschland »sehr schnell mit der Revolution von 1918 und deren Ergebnis [verbunden]: dem neuen Staat,
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Hanisch, Der lange Schatten, S. 270. Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 133. Die erzielte Einigung zum Verhältnis zwischen Bund und Ländern gestaltete sich weitaus komplexer als hier dargestellt. Siehe hierzu ausführlich ebd., S. 133ff. Ferner Rauscher, Die verzweifelte Republik, S. 78ff. Zum Verlauf und den Ergebnissen der Pariser Friedenskonferenz siehe ausführlich u.a. Kolb/ Schumann, Weimarer Republik, S. 23ff. Siehe auch Janz, 14, S. 324ff. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 23ff. Grevelhörster, Ludger: Kleine Geschichte der Weimarer Republik 1918–1933. Ein problemgeschichtlicher Überblick, Münster 2005, S. 49. Hanisch, Der lange Schatten, S. 271. Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 31.
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der Republik und der Demokratie. Und wer zusätzlich an die Legende vom ›Dolchstoß‹ glaubte – und das waren nicht wenige derer, die mit der Novemberrevolution ihr Weltbild zerstört sahen –, wähnte die Republik mit dem doppelten Geburtsfehler des Umsturzes und des schmählichen Friedens auf die Welt gekommen.«64 Verbitterung und Unmut über die junge Republik gab es auch in Österreich. Angefacht und vereinnahmt wurde diese republikfeindliche Stimmung in beiden Ländern von (radikalen) Gruppierungen der äußersten Rechten. Mit ihrer verächtlichen und hasserfüllten Haltung gegenüber dem neuen demokratischen Staat und die ihn tragenden Kräften fanden namentlich die Deutschnationalen Parteien sowie weitere Vertreter des völkischen Nationalismus, Monarchismus und Antisemitismus bis in die Mitte der Gesellschaft hinein Gehör und Zuspruch.65 Auf der anderen Seite stand die radikale politische Linke, die vor allem in Deutschland starken Zulauf erfuhr und die regierungsverantwortliche gemäßigte Sozialdemokratie unter Druck setzte. Die verheißungsvollen Sozialisierungsversprechen, die mit der Novemberrevolution einhergingen, wurden nicht erfüllt. Zahlreiche Anhänger der Mehrheits-SPD wandten sich von ihrer Partei ab, »weil sie glaubten, dass die von ihr getragene Regierung zu wenig für ihre materiell-sozialen Belange und die sozialistischen Ziele tue«66 . Die gewünschten Reformen in Wirtschaft, Bürokratie und Militär blieben aus. Bis auf das »Sozialisierungsgesetz« vom März 1919, das eine Vergesellschaftung von Bergbau und Energiewirtschaft »gegen angemessene Entschädigung« ermöglichte, aber kaum praktische Konsequenzen hatte, konnte die Regierung nicht viel Vorzeigbares auf den Weg bringen.67 Auch die Weimarer Verfassung, die u.a. den Schutz der Arbeitskraft und den Aufbau eines umfassenden, demokratisch strukturierten Versicherungssystems zur »Erhaltung der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens«68 festschrieb, enthielt lediglich einige Bestimmungen, die den Übergang zu einer »Wirtschaftsdemokratie« ermöglichen sollten. Einen zusammenfassenden Überblick liefert Ludger Grevelhörster: »Artikel 153 und 156 schränkten das Recht auf Eigentum ein und erlaubten es, Unternehmen zu enteignen und in Gemeineigentum zu überführen. Die um die Jahreswende 1918/19 heftig diskutierte Forderung weiter Teile der Arbeiterschaft nach Sozialisierung ›dazu geeigneter‹ Großbetriebe konnte damit, den politischen Willen vorausgesetzt, grundsätzlich in Gang gesetzt werden. In den weiteren Bestimmungen zur Ordnung des Wirtschaftslebens gab die Verfassung den Rahmen für eine
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Elz, Wolfgang: »Versailles und Weimar«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 50/51 (2008), S. 31–38, hier S. 33. Vgl. u.a. Rauscher, Die verzweifelte Republik, S. 143. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 233. Kolb/ Schumann, Weimarer Republik, S. 38f. Vgl. auch Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 42f. Zur Rekonvaleszenz und dem zunehmenden Erstarken der äußersten Rechten in beiden Ländern vgl. Carsten, Revolution, S. 197ff. und S. 241ff. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 105. Vgl. ebd., S. 94f. und S. 107. Zitiert ebd., S. 96.
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sozialpartnerschaftliche Neuregelung der betrieblichen und überbetrieblichen Arbeitsbeziehungen vor. In Artikel 165 heißt es, Arbeiter und Angestellte seien dazu berufen, in gleichberechtigter Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen mitzuwirken. […] Schließlich sollten Arbeiter und Angestellte zur Wahrung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Anliegen so genannte ›Betriebsräte‹ bilden können. Diese Idee kam Anfang 1920 im Reichsrätegesetz zur Verwirklichung.«69 Der Betriebsrätegedanke war jedoch alles, was von der Rätebewegung der Revolution in die neue Verfassung gelangte.70 Zweifelsfrei erzielten die Sozialdemokraten in ihrer Kooperation mit dem Bürgertum nach dem Buchstaben der Weimarer Verfassung Erfolge, »die weit über das hinausgingen, was sie vor dem Kriege zu hoffen wagte[n]«71 , doch Verfassungsbuchstabe und Verfassungswirklichkeit waren nicht das Gleiche. In vielerlei Hinsicht habe das Bündnis mit den alten Eliten, resümiert Neitzel, einer umfassenden Erneuerung von Staat und Gesellschaft im Wege gestanden. Die SPD war nicht imstande, »den Räten entgegenzukommen und so große Teile der organisierten Arbeiterschaft und des Mittelstandes – etwa durch ein Korporativsystem – an den Staat zu binden«72 . Die Unzufriedenheit und Enttäuschung der arbeitenden Massen über die »steckengebliebene Revolution«73 nahm im Laufe des Jahres 1919 unentwegt zu. Bereits im Frühjahr des Jahres erlebten weite Teile des Landes »wilde« Streiks und lokale Aufstände. Nur wenige Wochen nach dem Januaraufstand kam es Anfang März 1919 auch in Berlin erneut zum Generalstreik, der auf Betreiben von Anhängern der KPD zu blutigen Straßen- und Häuserkämpfen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen führte.74 Die »Berliner Märzkämpfe«, die von Seiten der Regierung unter Einsatz des Schießbefehls und mit Verhängung des Belagerungszustandes beendet wurden, forderten rund 1.200 Tote und Dutzende Verletzte. Im Zusammenspiel mit permanenten Versorgungskrisen, zunehmender Arbeitslosigkeit und Teuerung trieben der Einsatz von Militär gegen die aufständische Arbeiterschaft und die Unterdrückung von Streikbewegungen mehr und mehr junge Arbeiter in die Reihen der USPD, die sich – von ihrem linken Flügel dominiert – mit ihrer Programmatik (Rätesystem und »Diktatur des Proletariats«) zunehmend der KPD annäherte und damit bald in Fundamentalopposition zur Weimarer Republik stand.75 Während die Anziehungskraft der USPD zunahm und vor allem die Gewerkschaften einen enormen Aufschwung erfuhren, stagnierte der Zulauf zur SPD. Nicht nur die junge (radikale) Arbeitnehmerschaft wanderte in Scharen ab, sondern auch breite Gruppen der gemäßigten Arbeiterschaft sahen »sich um die Früchte der Revolution betrogen und konnten nicht verstehen, dass die Sozialdemokraten in der Regierung nicht mehr für sie
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Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 41. Vgl. ebd. Vgl. auch Winkler, Von der Revolution, S. 293. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 97. Neitzel, Weltkrieg, S. 165. Vgl. hierzu auch ausführlich Carsten, Revolution, S. 265ff. Kolb/Schumann, Weimarer Republik, S. 22. Hierzu ausführlich Weipert, Das Rote Berlin, S. 153f. Köhler, Berlin, S. 810f. Vgl. Kolb/Schumann, Weimarer Republik, S. 22 und S. 38. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 105.
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durchgesetzt hatten«76 . Wie deutlich die SPD als erklärte und verachtete Gegnerin der Rechten und Linken an Boden verlor, zeigte die erste Reichstagswahl im Juni 1920. Infolge des am 13. März 1920 stattgefundenen konterrevolutionären Umsturzversuchs der radikalen Rechten in Berlin (Kapp-Lüttwitz-Putsch), der mithilfe eines großangelegten Generalstreiks und unter besonderem Einsatz der Gewerkschaften verhindert werden konnte, und des daraufhin ausgelösten und mit Gewalt gebrochenen Arbeiteraufstands im Ruhrgebiet (»Ruhraufstand«), sah sich das Kabinett des Sozialdemokraten Gustav Bauer (1870–1944) Ende März zum Rücktritt gezwungen.77 Die Weimarer Koalition, die vorerst von Hermann Müller (SPD, 1876–1931) weitergeführt wurde, kam nicht umhin, die für Oktober 1920 vorgesehenen Reichstagswahlen vorzuziehen. Diese brachten der SPD deutliche Verluste in der Wählergunst.78 In den folgenden acht Jahren wurde die Weimarer Republik überwiegend von bürgerlichen Regierungen geführt. Während dieser Zeit waren die Sozialdemokraten nur noch als temporärer Juniorpartner an den Regierungsgeschäften beteiligt. Wie die deutsche geriet auch die österreichische Sozialdemokratie rasch in die Defensive. In Österreich war es jedoch weniger die radikale Linke, die die regierungsanführende Partei in Bedrängnis brachte. Im Gegenteil – anders als in der Weimarer Republik verstanden es die österreichischen Parteigenossen, die virulenten linksradikalen Strömungen, »die mit Ungeduld den revolutionären Prozeß über das erreichte Stadium der Demokratisierung hinaus vorantreiben wollten«79 , unter Kontrolle zu halten und weitgehend in das politische System einzubinden. Hanisch spricht von einer »geschmeidigen Taktik« der Sozialdemokraten, die sie bereits während des Jännerstreiks 1918 demonstrierten, indem sie die linksradikalen Tendenzen zu bremsen wussten: »flexible Politik nach links, aber klare Abgrenzung gegenüber einem kommunistischen Experiment, bei gleichzeitiger Durchsetzung umfassender sozialer Reformen«80 . Angesichts der unruhigen Lage im kriegsgebeutelten Kleinstaat war dies kein leichtes Unternehmen, denn Massendemonstrationen und spontan auftretende Hungerproteste waren alltägliche Erscheinungen. Unter dem Einsatz der Arbeiterräte, an deren Spitze sich die Sozialdemokraten stellten, konnten größere Ausschreitungen jedoch verhindert werden. Anders als in Deutschland befanden sich die linksradikalen Kräfte in Österreich in einer vergleichbar schwachen Position. Der Anfang November 1918 gegründeten Kommunistischen Par-
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Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 107. Zum Kapp-Lüttwitz-Putsch und dem Ruhraufstand siehe ausführlich Gerwarth, Robert: Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit, München 2018, S. 285ff. Ferner Winkler, Von der Revolution, S. 295ff. Eine umfassende Schilderung der Putschereignisse in Berlin liefert Weipert, Das Rote Berlin, S. 157ff. In den eineinhalb Jahren ihrer Regierungsverantwortung hatte sich der Stimmenanteil für die SPD nahezu halbiert, sodass die Partei nur mehr 21,6 Prozent erreichte. Demgegenüber löste die USPD mit achtzehn Prozent das Zentrum (13,6 Prozent) als zweitstärkste Kraft ab. Auch unter den bürgerlichen Parteien gab es deutliche Verschiebungen zugunsten der Deutschnationalen (fünfzehn Prozent) und Nationalliberalen (13,9 Prozent). Vgl. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 112. Holtmann, Everhard: »Die Organisation der Sozialdemokratie in der Ersten Republik, 1918–1934«, in: Maderthaner, Wolfgang und Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Organisation der österreichischen Sozialdemokratie 1889–1995, Wien 1996, S. 93–167, hier S. 101. Hanisch, Der lange Schatten, S. 276.
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tei Österreichs (KPDÖ, später KPÖ) gelang es nicht, in der Rätebewegung Fuß zu fassen und eine Spaltung zwischen den Arbeitermassen und der sozialdemokratischen Führung herbeizuführen.81 Da sich die österreichische Sozialdemokratie in ideologischen Fragen stark links positionierte, gelang es ihr, die Rätebewegung anzuführen und dadurch den Einfluss auf die Massen nicht zu verlieren.82 Hanisch benennt in diesem Zusammenhang mehrere Faktoren, die für die Stärke der Sozialdemokraten ausschlaggebend waren: »Die Sozialdemokratie konnte diese schwierige Politik nur durchsetzen, weil erstens die Ernährungssituation sich im Frühjahr 1919 durch die alliierten Hilfslieferungen etwas gebessert hatte; weil zweitens die radikale Sprache identische Ziele, aber einen anderen Weg postulierte; weil drittens [… im] Frühjahr und Sommer 1919 das große soziale Reformwerk einsetzte und das gelähmte Wirtschaftsbürgertum bereit war, einen Schritt mitzugehen. […] Und viertens, weil die Räte außerparlamentarisch genügend Druck erzeugten, um die Wirtschaftsverbände und das Parlament zum Handeln zu zwingen.«83 Auch der Historiker Helmut Konrad unterstreicht das große Verdienst der Sozialdemokratie, der es gelang, das revolutionäre Potential »so weit zu domestizieren, dass keine Räterepublik nach dem ungarischen Modell entstehen konnte, dass aber gleichzeitig das revolutionäre Drohpotential groß genug blieb, um dem Bürgertum massive Zugeständnisse, vor allem in der Sozialpolitik, abzuringen«84 . Die Bilanz der österreichischen Sozialgesetzgebung während der Gründungsjahre der Republik war beachtlich. Das von Ferdinand Hanusch (1866–1923) sozialdemokratisch geführte Staatsamt für soziale Fürsorge brachte zahlreiche Sozialgesetze und -verordnungen auf den Weg, die zu einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten beitrugen. Über den Achtstundentag und die staatliche Arbeitslosenunterstützung hinaus lieferte die Sozialdemokratie u.a. gesetzliche Regelungen zum kollektivvertraglich garantierten Mindestlohn, zur Einführung der Arbeitslosenversicherung, der paritätischen Arbeitsvermittlung, der Sonn- und Feiertagsruhe, des Urlaubsanspruchs und der 81
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Die KPDÖ gewann zwar einzelne arbeitslose, invalide und heimkehrende Bevölkerungsteile für sich, doch auf das Gros der (Industrie-)Arbeiterschaft blieb sie einflusslos. Dies galt ebenso für die Mehrheit der Soldatenräte, die von der SDAP-Führung beim Aufbau einer republiktreuen Volkswehr frühzeitig eingebunden wurden. Wie gering die Durchschlagkraft der kommunistischen und linksradikalen Bewegung in Österreich war, veranschaulichen die Gründonnerstags-Unruhen vom 17. April 1919 und der »Putschversuch« vom 15. Juni zwei Monate später. Unter dem Eindruck der Räterepublikausrufungen in Ungarn und Bayern versuchten die auf Revolution drängenden Kräfte in Wien zweimal erfolglos einen Umsturz herbeizuführen. In beiden Fällen griff die sich klar zur sozialdemokratischen Führung bekennende Volkswehr ein und beendete die Aufstände mit Gewalt. Vgl. ebd. Vgl. ausführlich auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 152f. und S. 176ff. Vgl. Thosold, Barbara und Helmut Wohnout: »Politische Lager und Zukunftsentwürfe«, in: Konrad, 1918–2018, S. 23–26, hier S. 26. Sowie Holtmann, Die Organisation, S. 102. Hanisch, Der lange Schatten, S. 276. Konrad, Helmut: »Das Rote Wien«, in: ders., 1918–2018, S. 47–50, hier S. 48. Vgl. hierzu auch den Vortrag Konrads vom 6. Mai 2019 im Wiener Rathaus: »Das Rote Wien«, veröffentlicht in: Konrad, Helmut und Gabriella Hauch, Hundert Jahre Rotes Wien. Die Zukunft einer Geschichte, Wien 2019, S. 11–52, hier S. 27f.
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Soforthilfen für Kriegsopfer.85 Hervorzuheben ist auch das Betriebsrätegesetz vom 15. Mai 1919, das gegen die widerstrebenden Christlichsozialen durchgesetzt werden konnte. Der aus der Gewerkschaftsbewegung kommende Hanusch habe das Fürsorgeministerium, so resümierte sein Parteigenosse Otto Bauer, »in ein Exekutivorgan der Gewerkschaften«86 verwandelt. Anders als in Deutschland, wo sich die Gewerkschaften wegen des mangelnden Einsatzes für die Arbeiterinteressen seitens der Regierung allmählich von der Mehrheits-SPD lösten, besaßen die österreichischen Gewerkschaften weitreichenden Einfluss auf die Sozialgesetzgebung. Die Gewerkschaften waren im Parlament stark vertreten und an der Ausarbeitung der Gesetzesanträge beteiligt, wodurch sie, so der Sozialdemokrat Julius Deutsch (1884–1968), im Staate faktisch mitregiert haben.87 Mit seiner Sozialgesetzgebung stand Österreich schließlich »an erster Stelle der Sozialstaaten Europas«88 . Doch auch die hervorragend aufgestellte österreichische Sozialdemokratie stieß mit ihren viel weitergehenden Reformvorhaben alsbald an ihre Grenzen. Ausgebremst wurden sie in erster Linie vom christlichsozialen Koalitionspartner und den allmählich an Stärke zurückgewinnenden bürgerlich-konservativen Kräften. Die Christlichsozialen waren unter dem Eindruck der revolutionären Stimmung »als Juniorpartner in die Regierung eingetreten, um als Korrektiv gegenüber der SDAP zu wirken, um aus ihrer Sicht Schlimmeres zu verhindern«, wobei sie die Sozialdemokraten, so Rauscher, »wiederholt mit ihren Projekten grandios scheitern und im Zuge dessen viele Anhänger verlieren«89 ließ. Die vorrangig von Bauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden des ländlichen Österreichs getragene katholisch-konservative Christlichsoziale Partei trug die sozialdemokratischen Reformbestrebungen zwar in vielerlei Hinsicht mit, doch die Zusammenarbeit verlief alles andere als konfliktfrei. Im Verlauf der Koalitionszeit verschärften sich schließlich die Gegensätze, die sich aus den unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Leitbildern beider Großparteien ergaben. So scheiterten u.a. weitgehende Sozialisierungsbestrebungen der SDAP im wirtschaftlichen Sektor am Widerstand des Koalitionspartners. Besonders deutlich traten die parteipolitischen Differenzen im zunehmenden Länderseparatismus, der seitens der Christlichsozialen unterstützt wurde, sowie in den Diskussionen über die Verfassung und das Wehrgesetz hervor. Letztere führte im Juni 1920 schließlich zum Bruch der Koalitionsregierung, die auch in der Bevölkerung alles andere als populär war. Da die Regierung nicht imstande war, mit den anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der nicht enden wollenden Lebensmittelnot fertig zu werden, geriet sie vor allem bei den Angehörigen des nach
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Vgl. ebd. Sowie Holtmann, Die Organisation, S. 98. Thosold/Wohnout, Politische Lager, S. 23f. Zitiert bei Holtmann, Die Organisation, S. 98. Vgl. ebd., S. 99. Die legislatorische Programmsteuerung ging Holtmann zufolge sogar über die parlamentarische Ebene hinaus. Es sei wiederholt vorgekommen, dass Gesetzentwürfe, die von Fachreferenten der Ministerien kurzfristig ausgearbeitet worden waren, nach Zustimmung der Gewerkschaftskommission durch die Parlamentsmehrheit faktisch nur noch förmlich abgesegnet wurden. Vgl. ebd. Zur Lage und Haltung der deutschen Gewerkschaften vgl. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 108f. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 179. Rauscher, Die verzweifelte Republik, S. 151.
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wie vor notleidenden Mittelstandes in Misskredit.90 Zudem herrschte in den ländlichen Regionen und damit dem überwiegenden Teil des Landes eine regelrechte »Hassstimmung« gegenüber der Wiener Regierung. Die Landbevölkerung hielt einerseits nicht viel von der Sozialgesetzgebung und war andererseits »wütend über die Fortdauer von Maßnahmen der Kriegswirtschaft und von Requisitionen und Ablieferungsquoten«91 , die vor allem der städtischen und damit hauptsächlich der Wiener Bevölkerung zugutekamen. Die verbreitete Unzufriedenheit mit der Regierung richtete sich in erster Linie gegen die Sozialdemokraten, denen die ländliche Bevölkerung prinzipiell ablehnend gegenüberstand und von denen sich viele Großstädter mehr versprochen hatten. Nachdem die Koalition gescheitert war und die Geschäfte von einer »unpolitischen Übergangsregierung« unter dem Vorsitz des Christlichsozialen Michael Mayr (1864–1922) übernommen wurden, fanden am 17. Oktober 1920 die ersten Nationalratswahlen statt. Die Wahlen veränderten die innenpolitischen Kräfteverhältnisse nun zugunsten der Christlichsozialen Partei.92 Die Sozialdemokraten gingen nach beinahe zwei Jahren in Regierungsverantwortung in die Opposition zurück. Dort verblieben sie bis zum Ende der Ersten Republik. Auf Bundesebene hatte sich »der ländliche Charakter Österreichs und das natürliche Schwergewicht der Länder gegenüber Wien durch[gesetzt] und ebenso ihr betonter Katholizismus und Konservativismus«93 . Nach dem Ende der Großen Koalition folgten eine Reihe bürgerlicher Koalitionsregierungen unter Führung der Christlichsozialen und unter Einschluss äußerst rechter Kräfte (»Bürgerblock«). In der weiteren Zwischenkriegszeit nahmen die Gegensätze der beiden Großparteien weiter zu, was zwangsläufig zu einer verstärkten Polarisierung der Gesellschaft führte. Die österreichische Arbeiterbewegung blieb auch ohne Regierungsbeteiligung weiterhin einflussreich. So besaß sie dominierende Positionen im Bundesheer, bei der Wiener Polizei, in den Betriebsräten, in der Sozialversicherung sowie der Arbeiterkammer.94 Sie regierte auch in vereinzelten Bundesländern mit. Die wohl größte und unangefochtene Machtbasis der Sozialdemokraten war jedoch die Hauptstadt. Im Zuge der Revolution eroberten sie die Wiener Rathausspitze. Damit war es ihnen möglich, ihr Reformprogramm auf kommunalpolitischer Ebene weitgehend uneingeschränkt durchzusetzen. Die Wiener Sozialdemokratie befand sich dadurch in einer weitaus günstigeren Position als die Genossen der SPD in Berlin, die für die Umsetzung einer linken Gemeindepolitik auf die konkurrierende USPD angewiesen war. Sowohl in Wien als auch in Berlin traten die Sozialdemokraten das schwere Erbe des Krieges an und läuteten auf unterschiedliche Weise eine neue Ära in der Geschichte der beiden Städte ein.
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Vgl. Carsten, Revolution, S. 251f. Ebd., S. 252. Die Christlichsozialen gingen mit nahezu 42 Prozent als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor. Demgegenüber erhielten die Sozialdemokraten nur knapp 36 Prozent der Stimmen. Vgl. Rauscher, Die verzweifelte Republik, S. 15ff. Carsten, Revolution, S. 260. Vgl. Rauscher, Die verzweifelte Republik, S. 156.
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1.3 »Rote« Großstädte: Die Sozialdemokratie in den Stadtverwaltungen Während des revolutionären Umbruchs im November 1918 standen Wien und Berlin als Hauptstädte der gestürzten Monarchien und neugegründeten Republiken besonders im Mittelpunkt des Geschehens. Ihre Verwaltungen aber blieben nahezu unberührt von der Zeitenwende. In beiden Städten zog die Revolution keine tiefgreifenden Veränderungen in der Kommunalbürokratie nach sich. In den Stadtverwaltungen, die sich den übergeordneten Verhältnissen anpassten, herrschte zunächst mehr (Berlin) oder weniger (Wien) Kontinuität, die am deutlichsten in der Amtsfortführung der beiden Stadtoberhäupter Wermuth und Weiskirchner in Erscheinung trat. Letzterer gab die Amtsgeschäfte als Wiener Bürgermeister im Zuge der »Demokratisierung des Gemeinderats«95 jedoch um einiges eher ab als sein Berliner Amtskollege. In Wien konstituierte sich nur wenige Wochen nach der Republikgründung am 3. Dezember ein provisorischer Gemeinderat, der bis zur Neuwahl der Gemeindevertretungen im Mai 1919 bestehen blieb. Gleichzeitig wurde er neben weiteren bestehenden Gemeindegremien auf Anweisung des Staatsrates durch eine angemessene Zahl von Vertretern der Arbeiterschaft ergänzt.96 Die bisher im Stadtparlament vertretenen Parteien einigten sich auf eine Erhöhung der Mandatszahl für die SDAP, wobei jedoch eine knappe Mehrheit für die Christlichsozialen bestehen blieb.97 Der alte Wiener Bürgermeister wurde in seinem Amt bestätigt und suchte mit Blick auf die unruhigen politischen Verhältnisse in den folgenden Monaten die – im Krieg bereits bewährte – kooperative Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten. Mertens zufolge seien anstehende Probleme einvernehmlich gelöst und die wichtigsten Vorlagen gemeinsam vorbereitet worden.98 Zur Austragung weltanschaulicher Differenzen sei es hierbei nicht gekommen. Neben vereinzelten gemeinsam getroffenen Maßnahmen u.a. in den Bereichen der kommunalen Wohnungs- und Sozialpolitik, die zumeist von der sozialdemokratischen Partei initiiert wurden, beschloss der provisorische Gemeinderat Anfang März 1919 ein neues Gemeindewahlgesetz. Mit diesem wurde für die städtischen Vertretungskörperschaften das für beide Geschlechter geltende allgemeine, gleiche und direkte Verhältniswahlrecht eingeführt. Am 4. Mai folgten die von der niederösterreichischen Landesregierung verordneten Wiener Gemeinderatswahlen, bei denen alle Stadtbewohnerinnen und -bewohner wahlberechtigt waren, die ihr 20. Lebensjahr erreicht und ihren ordentlichen Wohnsitz in Wien hatten. Der Urnengang brachte schließlich die politische Wende und beendete die seit 1895 bestehende christlichsoziale Hegemonie in Wien. Die Sozialdemokraten errangen mehr als die Hälfte der Stimmen und 100 der 165 Mandate.99 Zum neuen und ersten sozialdemokratischen Bürgermeister Wiens wurde der langjährige Gemeinderat Jakob Reu95 96 97 98 99
Mertens, Weiskirchner, S. 198. Vgl. ebd. Sowie Maderthaner, Von der Zeit, S. 347. Nach dem Mandatsverteilungsbeschluss hatten die Fraktionen darüber hinaus einen Teil ihrer Mandate mit Frauen zu besetzen. Vgl. ebd. Vgl. Mertens, Weiskirchner, S. 200f. Vgl. u.a. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 192. Ähnliche Ergebnisse erzielte die SDAP auch bei den parallel stattfindenden Wahlen zum niederösterreichischen Landtag und zu den 21 Wiener Bezirksvertretungen. Vgl. hierzu Mertens, Weiskirchner, S. 207f.
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mann gewählt. Mit ihm als Stadtoberhaupt – und ab 1922 auch Landeshauptmann – konnte die Ära des Roten Wiens beginnen. Doch die Wiener Sozialdemokraten, die mit einem umfassenden Kommunalprogramm ans Werk gingen, standen mit Blick auf die verheerenden Nachkriegsverhältnisse in der einstigen Donaumetropole vor gewaltigen Herausforderungen. Das von Reumann so bezeichnete »traurige Erbe«100 , das die Sozialdemokratie antrat, fasst Maderthaner so zusammen: »Wien war das Zentrum der Mobilisierung und habsburgischen Kriegsanstrengungen gewesen, Massen von Arbeitskräften in nie gekanntem Ausmaß waren zusammengezogen, der gesamte Produktionsapparat auf die Bedürfnisse des Krieges umgestellt worden. Der nunmehr gegebene gänzliche Zusammenbruch der Wirtschaft, der Verlust der Metropolfunktion, die Hinterlassenschaft eines an den Erfordernissen eines Großreiches ausgerichteten Verwaltungs- und Dienstleistungssektors, drückende und drastische Wohnungsnot, Abwanderungstendenzen und destabilisierte Kriegsheimkehrer, unsägliches soziales Elend setzten die Rahmenbedingungen für eine radikale Neuorientierung kommunaler Politik.«101 Darüber hinaus wies die Stadt infolge des Krieges eine desaströse Finanzlage auf. Wien saß nicht nur auf einem enormen Schuldenberg in Höhe von 250 Millionen Kronen, sondern sah angesichts gesunkener Einnahmen und zunehmender Ausgaben kaum eine Möglichkeit die Finanzsituation zu verbessern, geschweige denn ohne weitere Schulden zu einem ausgeglichenen Budget zu kommen.102 Die Rathausverwaltung erklärte die Sanierung des Kommunalbudgets als Basis für soziale Reformprojekte zur vordringlichsten Aufgabe, für deren Lösung der sozialdemokratische Finanzexperte Hugo Breitner (1873–1946) als Stadtrat für Finanzen zuständig war. Einen hilfreichen Beitrag leistete in dieser für Wien so schwierigen Situation die organisatorische Trennung der Hauptstadt von Niederösterreich, die mit der Bundesverfassung festgelegt und Ende Dezember 1921 vollzogen wurde. Die Rechtsstellung Wiens als Bundesland gestattete die Steuerhoheit und die eigene Steuerfindung. Dieser Gestaltungsspielraum habe, wie Konrad erklärt, die Realisierung des sozialen Experiments »Rotes Wien« überhaupt erst denkbar gemacht.103 »Die politischen Experimente konnten auf einer sozial differenzierten Beschaffung der finanziellen Mittel aufbauen. Hugo Breitner, ehemals Direktor der Länderbank, führte direkte Steuern ein, mit ganz starker Progression, sodass tatsächlich die Reichen besteuert wurden. Gleichzeitig war er strikt gegen kommunale Verschuldung und zog Sparprogramme durch. Grundeigentum wurde hoch versteuert, und das galt besonders auch für Luxusgüter. So gab es eine hohe Kraftfahrzeugsteuer, eine Klaviersteuer, eine Billardsteuer und Steuer auf Luxushunde oder Glühlampen.«104 100 Ebd., S. 208. Vgl. auch Lehnert, Detlef: Kommunale Politik, Parteiensystem und Interessenkonflikte in Berlin und Wien 1919–1932, Berlin 1991, S. 58. 101 Maderthaner, Von der Zeit, S. 347. 102 Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 192. 103 Vgl. Konrad, Das Rote Wien: Ein Konzept, S. 229. Vgl. auch Weihsmann, Das Rote Wien, S. 24f. 104 Konrad, Das Rote Wien, S. 48. Zu Breitners Steuerpolitik vgl. ausführlich Weihsmann, Das Rote Wien, S. 25ff.
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Dies allein reichte jedoch nicht, um die beabsichtigte Budgetkonsolidierung zu erreichen. Zum Umschwung verhalf schließlich die 1923 von Breitner eingeführte Wohnbausteuer, einer Kombination aus direkter, stark progressiver Massen- und Luxussteuer, mit der der Kleinwohnungsbestand geschont, die großen Objekte der bürgerlichen Kreise stärker herangezogen und ein zwingend notwendig gewordener Massenwohnungsbau finanziert werden sollte.105 Einen nicht unbedeutenden Beitrag bei der Sanierung des Kommunalbudgets leistete schlussendlich auch die gewaltig fortschreitende Inflation, mit der sich die Schuldenlast im Inland einerseits selbstlaufend verringerte, die jedoch andererseits zulasten der inländischen, überwiegend mittelständischen Gläubiger ging.106 Breitners effektive Finanzpolitik verschaffte der Wiener Sozialdemokratie den finanziellen Spielraum zur Umsetzung ihres – bereits 1914 beschlossenen – kommunalen Sozialprogramms, das u.a. Reformen in den Bereichen der Arbeiter- und Armenfürsorge sowie im Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungswesen vorsah. Während die Sozialdemokraten in Wien die Vorherrschaft im Rathaus gewannen und die Gestaltung der Kommunalpolitik in ihre Hände nehmen konnten, blieb der Berliner Mehrheits-SPD eine vergleichbar komfortable Position zur Umsetzung ihres Programms verwehrt. Stärker als in Wien herrschte in der Berliner Verwaltung zur Zeit der Republikgründung die Kontinuität – wenn auch mit größerem Gestaltungsspielraum für die Sozialdemokraten, die in den Stunden der Revolution vor allem die Sicherstellung von Ruhe und Ordnung in der Hauptstadt zu erreichen versuchten. Die erste Amtshandlung der vier ernannten »Volksbeauftragten für die Stadt Berlin«107 , allesamt keine Revolutionäre, sondern vielmehr erfahrende sozialdemokratische Stadtverordnete, bestand darin, den parteilosen Berliner Oberbürgermeister und den Magistrat zum »Weiterwirken an den bisherigen Stellen« zu bitten. Mit Wermuths Zusage sahen die Berliner Volksbeauftragten ihre Pflicht am 11. November 1918 erfüllt. Die Verwaltung arbeitete wie bisher unter dem alten Oberbürgermeister weiter und die Volksbeauftragten gingen wieder ihrer Tätigkeit als Stadtverordnete nach. So habe also, resümiert Köhler, der »revolutionäre Wandel« an der Spitze der Stadt ausgesehen.108 Doch auch in Berlin hielt die Demokratisierung der städtischen (Selbst-)Verwaltung schon bald in umfassender Weise Einzug. Rund einen Monat nach den Wahlen zur Nationalversammlung wählte die Hauptstadtbevölkerung am 23. Februar 1919 nach allgemeinem und gleichem Verhältniswahlrecht eine neue Stadtverordnetenversammlung. Anders als die Berliner Ergebnisse der vorangegangenen Wahlen zur Nationalversammlung und der Preußischen Landesversammlung (26. Januar 1919) erwarten ließen – hier wurde die SPD mit rund 38 bzw. 35 Prozent jeweils stärkste Kraft –, verloren die gemäßigten Sozialdemokraten 105 Vgl. Maderthaner, Von der Zeit, S. 355. 106 Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 190. 107 Die Berliner Volksbeauftragten, die als Aufsichtsbehörde an die Stelle des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg traten, waren Hugo Heimann und Bernhard Bruns (*1862) von der SPD sowie die beiden USPD-Mitbegründer Hermann Weyl und Kurt Rosenfeld. Zu den Vorgängen im Rathaus am 11. November 1918 vgl. die Schilderungen Wermuths, Beamtenleben, S. 418ff. Bisky, Berlin, S. 445. Vgl. auch Engel, Gerhard, Bärbel Holtz und Ingo Materna (Hg.): Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19: Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongreß, Berlin 1993, S. 35f. 108 Vgl. Köhler, Berlin, S. 803. Vgl. auch Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 8.
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auf kommunaler Ebene an Boden. Sie erreichten nur 31,7 Prozent der Stimmen, während die USPD mit 33 Prozent die Wahl gewann. Diese Wahlentscheidung, die zugleich mit einer deutlich geringeren Wahlbeteiligung einherging als bei den Wahlen zur Nationalversammlung, gab Köhler zufolge zu erkennen, dass die Politik der Mehrheits-SPD auch in der »roten Hochburg« Berlin in zunehmendem Maße an Akzeptanz verlor: »Das Dilemma der Partei trat zutage. In dem Maße, in dem diese in der Opposition groß gewordene Partei politische Verantwortung übernahm und sich zur Mitte orientierte, wanderte ein Teil ihrer Anhängerschaft nach links ab. Die Stadtverordnetenversammlung wies auf der Linken ein Übergewicht auf. Beide sozialistischen Parteien hatten 93 [von insgesamt 144] Mandate[n], fast eine Zweidrittelmehrheit.«109 So eindrucksvoll diese Mehrheitsverhältnisse auf den ersten Blick auch ausgesehen haben, die Bildung einer linken Koalition fand aufgrund der bestehenden Gegensätze beider Arbeiterparteien nicht statt.110 Dennoch gelang die kollegiale Zusammenarbeit der gemäßigten und (weniger radikalen) unabhängigen Sozialdemokraten auf kommunalparlamentarischer Ebene besser als im Reichstag. Im Berliner Rathaus herrschte »ein milderes Klima« und es kam »unter der behutsamen Leitung« des Oberbürgermeisters »nicht zu der haßerfüllten Konfrontation […], die die Situation in der Stadt insgesamt kennzeichnete«111 . Wermuth, der den Umbruch vom Kaiserreich zur Republik als politische Realität akzeptierte und bestrebt war, »diesen Umbruch mit möglichst geringen Verlusten für die bürgerliche Gesellschaft gestalten zu helfen«112 , blieb auch nach den Wahlen das Berliner Stadtoberhaupt. Der eher bürgerlich-konservative Oberbürgermeister trieb eine sachliche und kompromissbereite Zusammenarbeit zwischen seinem weitgehend bürgerlichen Magistrat und den Stadtverordneten der verschiedenen Fraktionen voran.113 Wermuth war es schließlich auch, der unterstützt von den sozialdemokratischen Parteien und den Linksliberalen als entscheidender Wegbereiter des GroßBerlin-Gesetzes vom 27. April 1920 eine neue Ära in der Geschichte der deutschen Hauptstadt und seiner Verwaltung einleitete. Die Bildung einer Einheitsgemeinde Groß-Berlin war in den revolutionären Tagen Ende des Jahres 1918 nicht absehbar, bestenfalls zu erahnen. Inmitten des gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozesses infolge des Ersten Weltkrieges erfuhr Berlin endlich den von Wermuth und den Sozialdemokraten lange geforderten politisch-administrativen und kommunalwirtschaftlichen Zusammenschluss von acht Stadtgemeinden, 59 Vororten und 27 Gutsbezirken.114
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Köhler, Berlin, S. 809f. Vgl. auch Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 28f. Vgl. Köhler, Berlin, S. 810. Ebd., S. 812. »An der Spitze der Reichshauptstadt Berlin von 1871 bis 1945: Dr. Adolf Wermuth«, in: Luisenstädter Bildungsverein e.v., Lexikon von A-Z zur Berlingeschichte und Gegenwart. Im Internet unter: https://berlingeschichte.de/historie/spitze/berliner_buergermeister.htm (08.10.2019). Vgl. auch Strauch, Wermuth, S. 55. Bis zur turnusgemäßen Neuwahl des Berliner Magistrats im Sommer 1920 blieb das Ergebnis der Stadtverordnetenwahlen ohne Auswirkungen auf die personelle Zusammensetzung der Stadtregierung. Hierzu vgl. Lehnert, Kommunale Politik, S. 56f. Vgl. Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 5f. Sowie Köhler, Berlin, S. 816ff. Vgl. auch oben Kapitel ii, Anm. 34. Beschlossen wurde die Bildung der Stadtgemeinde Berlin als Groß-Berliner Einheitsge-
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Die Erfahrungen im Krieg hatten endgültig bewiesen, dass in dem ausgedehnten vernetzten Wirtschaftsgebiet eine einheitliche gemeindeübergreifende Versorgung der Bevölkerung mit der vorherrschenden Verwaltungszersplitterung kaum zu bewerkstelligen und ein über den bisherigen »Zweckverband« hinausgehender Zusammenschluss Groß-Berlins notwendig war. Mit dem Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin wuchs die Hauptstadt in Fläche und Bevölkerungszahl. Der Fläche nach war Berlin mit rund 878 km² nun die zweitgrößte Stadt der Welt. Und nur in New York und London lebten mehr Menschen als in Berlin, das jetzt 3,8 Millionen Einwohner zählte. Doch das Gesetz verschaffte Berlin nicht nur die Eigenschaft als »Riesengemeinde«, sondern setzte auch den Rahmen für die politisch-administrative Ausformung und Durchführung der Demokratisierung von Politik, Verwaltung und Wirtschaft in der gewachsenen Großstadt.115 »Das Problem der modernen Weltstadtorganisation in der Demokratie mit allen sozialen und politischen Interessenverflechtungen der nach Berufsgruppen und Wirtschaftszweigen wie nach Stadtteilen beziehungsweise Bezirken gegliederten Bevölkerung dieser Stadt im Innern wie nach Außen, im Verhältnis der Stadt zum Staat Preußen und zum Reich, wurde in Groß-Berlin […] zum einen durch die administrative Verbindung der Verwaltung der früheren Einzelgemeinden zu gemeinsamen Organen der neuen Zentralverwaltung – Magistrat, Stadtverordnetenversammlung und zentrale Deputationen – und der Bezirksverwaltungen – Bezirksämter und Bezirksversammlungen – gelöst. Es wurde zum anderen bewältigt durch das Prinzip des Ausgleichs der Belastung von einkommensschwachen und wohlhabenden Bevölkerungsschichten und […] von armen und reichen ehemaligen Einzelgemeinden und jetzigen Bezirken […].«116 Gemäß dem Groß-Berlin-Gesetz galt es für die neue Einheitsgemeinde, die zentralen Verwaltungskörperschaften und die dezentralen Bezirksverwaltungsgremien als »ausführende Organe des Magistrats« zu wählen. Am 20. Juni 1920 gaben rund 1,65 Millionen der insgesamt 2,55 Millionen wahlberechtigten Berlinerinnen und Berliner ihre Stimmen für die alle vier Jahre neu zu wählende Stadtverordnetenversammlung und die parallel zu wählenden Bezirksversammlungen ab. Bei der Stadtverordnetenwahl konnten die beiden sozialdemokratischen Parteien zusammen 125 der insgesamt 225 Mandate gewinnen und die linke Mehrheit im Stadtparlament verteidigen. Hierbei war die USPD mit 86 Mandaten die eindeutige Gewinnerin, wohingegen der Abwärtstrend der Mehrheits-SPD in der Wählergunst weiter zunahm. Nur noch 17,2 Prozent der (Groß-)Berliner wählten die SPD. Die Profiteure der sozialdemokratischen und linksliberalen (auch das Ergebnis der DDP halbierte sich) »Stimmenverluste« waren die rechtsliberale DVP und die konservative DNVP. Die Verschiebungen in den Stimmverhältnissen waren eine Folge der Eingemeindung der überwiegend bürgerlich geprägten Berliner Vororte und der
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meinde auf Antrag des sozialdemokratischen preußischen Innenministers in der Preußischen Landesversammlung mit den Stimmen von SPD, USPD und einer Mehrheit der liberalen DDP. Vgl. Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 9. Sowie Strauch, Wermuth, S. 67ff. Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 20. Vgl. auch Bisky, Berlin, S. 459ff. Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 12.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
damit verbundenen veränderten Wählerschaft.117 »Alles in allem hatte sich also«, so das Fazit von Büsch, »der Zusammenschluß des ›roten‹ Berlin mit den Vorstädten und ländlichen Gemeinden zum Vorteil der bürgerlichen Kräfte ausgewirkt, wenn auch eine herausragende numerische Stärke weiterhin eindeutig auf seiten [sic!] der sozialistischen Parteien lag.«118 Die linke Mehrheit schlug in der Zusammensetzung des neuen Magistrats zu Buche. Dieser war nach der weiterhin geltenden preußischen Städteordnung von 1853 nicht nur ausführende Körperschaft der Stadtverordnetenversammlung, sondern auch ein dem Stadtparlament gleichgestelltes beschlussfassendes Organ.119 Die Stadtverordnetenversammlung wählte einen überwiegend sozialdemokratischen Magistrat und setzte ohne die Stimmen der bürgerlichen Parteien die Wiederwahl Wermuths als Oberbürgermeister durch. Nach nunmehr acht Jahren als Stadtoberhaupt entschied sich letzterer jedoch wenige Wochen nach seiner Wiederwahl zum Rücktritt. Ein entscheidender Grund für Wermuths Rückzug im November 1920 war die geschlossene Gegnerschaft des bürgerlichen Lagers, das ihm die anhaltende enge und vertrauensvolle Kooperation mit den sozialdemokratischen Parteien vorwarf.120 Mit Blick auf die Bewältigung der Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit verteidigte Wermuth seine Integrationspolitik lange mit den politischen Verhältnissen in Berlin, die nun mal anders lägen als im Reich. In Berlin habe es, wie Köhler darlegt, eine kräftige sozialistische Mehrheit gegeben und diese habe es nicht geraten erscheinen lassen, Konstruktionen zu suchen, die sich gegen die stärkste politische Kraft in der Stadt richteten.121 Doch nach der Spaltung der Unabhängigen Sozialdemokratie verlor Wermuth gegen Ende des Jahres 1920 seine linke Mehrheit im Stadtparlament. Durch die Vereinigung der USPD-Linken mit der KPD schrumpfte die Fraktion der Unabhängigen um 21 Stadtverordnete, welche nun der kommunistischen Fraktion angehörten.122 Für den Realpolitiker Wermuth, der sich stets auf das Machbare konzentrierte und dabei parteiübergreifend Mitstreiter gewann, kam eine Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei, gegen die er entschieden kämpfte, nicht in Frage.123 Er zog die Konsequenzen. Im Amt des Berliner Oberbürgermeisters folgte ihm der bisherige Stadtkämmerer Gustav Böß (1873–1946), der sich im Januar 1921 mit den Stimmen der mehrheitssozialdemokratischen und der bürgerlichen Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung gegen den USPD-Kandidaten Hermann Weyl durchsetzte. Da eine Unterstützung
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Vgl. Weipert, Das Rote Berlin, S. 165. Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 32. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. Köhler, Berlin, S. 822f. Vgl. auch Wermuth, Beamtenleben, S. 438ff. Vgl. Köhler, Berlin, S. 823. Die Spaltung der USPD war das Ergebnis anhaltender innerparteilicher Richtungskämpfe und Gegensätze. Zum Bruch kam es schließlich im Oktober 1920 als die Mehrheit der Parteilinken den Anschluss an die »Kommunistische Internationale« durchsetzen konnte. Die Vereinigung des linken Parteiflügels mit der KPD folgte zwei Monate später. Der übrig gebliebene »Rumpf« der USPD schloss sich im September 1922 mit der Mehrheits-SPD zur »Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« (bald darauf wieder SPD) zusammen. Vgl. Potthoff/Miller, Kleine Geschichte, S. 104ff. Mit Blick auf die Verhältnisse in Berlin vgl. auch Köhler, Berlin, S. 827. Vgl. Luisenstädter Bildungsverein e.v., Wermuth (oben Kapitel iv, Anm. 112).
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Weyls langfristig eine Einbindung der KPD in die kommunalpolitische Arbeit nach sich gezogen hätte, orientierte sich die Berliner SPD hin zu einer Mitte-Links-Koalition. Damit folgten sie dem Kurs, den sie bereits auf Reichs- und Landesebene eingeschlagen hatten. Künftig sollte es zu einer intensiveren Zusammenarbeit mit der linksbürgerlichen DDP kommen. Böß, der zunächst ohne Parteimitgliedschaft den Demokraten zugerechnet wurde, unterstützte die SPD in erster Linie aufgrund seiner Qualifikation als Verwaltungsfachmann. Darüber hinaus wurde ihm sein Einsatz zugunsten der sozial Schwachen während der Kriegs- und Nachkriegsjahre hoch angerechnet.124 Auch drei Jahre nach dem Kriegsende stand das nun neugewählte Stadtoberhaupt vor gewaltigen Problemen: »Nach den eigenen Worten seiner Antrittsrede waren es ›Hunger und Elend, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot und andere Mühsale‹, die – man konnte sagen: wieder einmal oder noch immer – die Stadt beherrschten; und weiter: ›Ungeheure Aufgaben der Organisation der Stadtverwaltung‹ warteten der Lösung, und die ›Ansprüche unserer Arbeiter, Angestellten und Beamten‹ bereiteten schwere Sorgen; vor allem aber: ›Auf Schritt und Tritt hemmt uns die traurige Finanzlage der Stadt.‹«125 Während Böß das schwere Erbe seines Vorgängers antrat, sich der Vereinheitlichung der gänzlich überforderten und schleppenden Verwaltung annahm und der Bekämpfung des hauptstädtischen Schuldenbergs in Höhe von rund 900 Millionen Mark verschrieb, stand im Oktober 1921 die Wiederholung der Stadtverordnetenwahlen vom Juni 1920 an. Die Ergebnisse der Juniwahlen von 1920 wurden infolge einer Wahlanfechtung seitens der bürgerlichen Parteien für ungültig erklärt. Der Ausgang dieses neuerlichen Wahlgangs am 16. Oktober habe Köhler zufolge einen gewissen Trend zur Normalisierung widergespiegelt: »Das Pendel, das nach dem Krieg weit nach links ausgeschlagen war, bewegte sich jetzt stärker zur Rechten hin.«126 Die SPD ging mit 46 Mandaten zwar als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor, doch insgesamt büßten die Linksparteien unter Einschluss der KPD ihre Dominanz ein. Die – wenn auch schwache – Mehrheit besaß nun das »bürgerliche« Lager mit 150 Stimmen. Für die künftige Umsetzung sozialdemokratischer Politik in der deutschen Hauptstadt war das Wahlergebnis ein Rückschlag. Ein Trost für die Sozialdemokraten aber blieb: die bürgerliche Mehrheit in der Versammlung besaß zunächst »keine gesetzliche Handhabe, den [überwiegend sozialdemokratisch zusammengesetzten] Magistrat gemäß den neuen politischen Machtverhältnissen […] umzugestalten«127 . SPD und USPD hatten demzufolge über einige sozialdemokratisch dominierte Bezirksversammlungen hinaus auch weiterhin die Möglichkeit, in ihrem Sinne auf das kommunalpolitische Geschehen und die Bewältigung der Nachkriegsprobleme in der Metropole Einfluss zu nehmen.
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Vgl. Köhler, Berlin, S. 826f. Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 36. Köhler, Berlin, S. 830. Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 40. Waren die Magistratsmitglieder einmal gewählt, so Büsch, blieben sie in der Regel – von veränderten politischen Mehrheiten rechtlich unberührt – zwölf Jahre im Amt.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
1.4 Zurück zur »Normalität«? Die Wirtschafts- und Geschlechterverhältnisse Die vier langen Kriegsjahre setzten den einstigen Wirtschaftsmetropolen Mitteleuropas schwer zu. Mit dem Weltkrieg verloren die beiden für den Krieg so wichtigen Produktionsstandorte Berlin und Wien ihre international bedeutende Stellung als Industrie-, Handels- und Finanzzentren. Zwar gelang es den beiden Städten im Verlauf der 1920er Jahre, ihre Wirtschaft wieder allmählich aufzubauen, doch erforderte die Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme Zeit, viel Geduld und weiterhin große Entbehrungen. Das Bild, das die wirtschaftliche Lage in Wien und Berlin gegen Ende des Jahres 1918 zeichnete, deutete auch nicht darauf hin, dass sich das »riesige graue Häusermeer«128 Berlin und die »tote Stadt«129 Wien von den katastrophalen Zuständen, die der Krieg hinterlassen hatte, bald wieder erholen könnten. Die Umstellung der konzentrierten Kriegswirtschaft auf Friedensproduktion fiel beiden Städten schwer. Der weiterhin vorherrschende Mangel an Rohstoffen und Kohle, die bis zum Sommer 1919 aufrechterhaltene Blockade seitens der Alliierten mit den damit verbundenen Ein- und Ausfuhrverboten, Transportprobleme aufgrund verschlissener Verkehrsmittel und die Ablieferung von Lokomotiven und Eisenbahnwaggons an die Entente führten in Berlin und Wien zur drastischen Drosselung der industriellen Produktion.130 Dabei befand sich die frühere Habsburgermetropole in einer weitaus schwierigeren Lage als die deutsche Hauptstadt. Mit dem Zerfall der Donaumonarchie fiel zugleich ein einheitlich gewachsener, zusammenhängender und nahezu autarker Wirtschaftsraum auseinander. Die industriellen und landwirtschaftlichen Ressourcen des ehemaligen Riesenreichs waren unterschiedlich verteilt und die verschiedenen Teile des Produktionsprozesses waren nun durch Grenzen getrennt – die austarierte Arbeitsteilung der Kronländer existierte nicht mehr.131 Der »ökonomische Strukturschock« erfasste die gesamte Alpenrepublik und traf Wien besonders schwer: »Die Produktion war auf die Kriegsbedürfnisse eines Großstaates ausgerichtet, während die Stadt nun von wichtigen Gütern, selbst jenen für die Sicherung des bloßen Überlebens der Bevölkerung, abgeschnitten war. Unter strukturellen Gesichtspunkten verblieben im einstigen gemeinsamen Zentrum die großen Verwaltungszentralen und Banken, die für die neuen Verhältnisse zu groß dimensioniert waren und in weiterer
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Köhler, Berlin, S. 797. Emmerling, Georg: »Das Wien des Aufbaus«, in: Das neue Wien. Städtewerk, Bd. 1, Wien 1926, S. 9–12, hier S. 9. 130 Vgl. Cox, Hunger, S. 241. Rouette, Sozialpolitik, S. 45. Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 35ff. Eigner, Peter: »Umsturz der Werte: Das Nachkriegswien«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/umsturz-der-werte-das-nac hkriegswien (30.10.2019). 131 Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 36. Die regionale Arbeitsteilung des Habsburgerreiches wurde, wie Fritz Weber darlegt, durch sein Auseinanderbrechen von einem Tag auf den anderen zerrissen. Durch die neuen Grenzen seien Rohstoffvorkommen von Verarbeitungsbetrieben getrennt, aufeinander folgende Produktionsstufen unterbrochen und eine Vielzahl von Märkten an die Stelle eines einheitlichen Absatzraumes, in dem zuvor über fünfzig Millionen Menschen gelebt hatten, gesetzt worden. Vgl. ders.: »Zusammenbruch, Inflation und Hyperinflation. Zur politischen Ökonomie der Geldentwertung in Österreich 1918 bis 1922«, in: Konrad/Maderthaner, Das Werden, Band 2, S. 7–32, hier S. 11f.
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Folge zu chronischer Mittelstandsarbeitslosigkeit und einem Überangebot an qualifizierten Arbeitskräften in Wien führten.«132 Die Folgen des abrupten Abschneidens der Rohstoff- und Lebensmittellieferungen aus den ehemaligen Kronländern waren zudem die Stagnation der Produktion, Betriebsstillegungen und Insolvenzen, wodurch die Erwerbslosenzahlen ebenfalls massiv zunahmen.133 Doch nicht nur Wien wurde nach Kriegsende von einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit beherrscht. Auch in Berlin führten die Umstellung auf die Friedenswirtschaft und die damit einhergehenden Produktionseinbrüche zu einer hohen Erwerbslosenzahl. Diese erreichte ihren ersten Höhepunkt im Februar/März 1919 mit rund 235.000 Arbeitslosen im Groß-Berliner Raum.134 Im Verlauf des ersten Nachkriegsjahres nahm die Arbeitslosigkeit zwar wieder ab (100.000 im November 1919), doch insgesamt blieb sie eine dauerhafte Belastung für die deutsche Hauptstadt. Köhler zufolge lag die Zahl der erwerbslosen Berliner weit über dem Reichsdurchschnitt. Hier lebte rund ein Viertel bis ein Drittel aller in Deutschland unterstützten Arbeitslosen. Dabei noch nicht berücksichtigt ist der gleichfalls hohe Anteil an Dauerarbeitslosen, die keine Unterstützung erhielten.135 Als Hauptursache für die hohen Erwerbslosenzahlen in Berlin sieht Köhler jedoch weniger die wirtschaftlichen Probleme der Stadt, sondern vielmehr die unaufhörlich zunehmende Zuwanderung. Kaum anders lagen die Verhältnisse in Wien. Auf bessere Lebensverhältnisse hoffend zog es immer mehr Menschen in die Hauptstädte, ohne dass das entsprechende Arbeitsplatzangebot vorhanden war. So trafen sowohl in Berlin als auch in Wien unzählige heimkehrende Kriegsteilnehmer und mit ihnen auch eine nicht unerhebliche Zahl an zivilem Hilfspersonal, das im Felde tätig gewesen war, auf einen von Massenarbeitslosigkeit beherrschten Arbeitsmarkt. Die Rückkehr der Männer von der Front und ihre Reintegration in die Erwerbsgesellschaft waren bereits zu Kriegszeiten Gegenstand intensiver Debatten in Deutschland und Österreich. Im Verlauf des Krieges fanden Frauen von der (Rüstungs-)Industrie bis zum öffentlichen Dienst in praktisch allen Bereichen der Arbeitswelt Beschäftigung und trugen darüber hinaus Verantwortung für gesellschaftliche Aufgaben, vor allem in der Organisation der Versorgung. Die stark gestiegene Frauenerwerbstätigkeit gab Anlass zu Diskussionen um die Gestaltung der Friedensgesellschaft, an denen sich sowohl die Regierungen und Verwaltungen als auch Parteien, Frauenorganisationen, Gewerkschaften und Unternehmerverbände beteiligten.136 Dabei herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass die Kriegsteilnehmer einen Anspruch auf ihre früheren Arbeitsplätze hatten und insbesondere diejenigen Frauen, die in den Männerdomänen beschäftigt waren, den zurückströmenden Männern Platz machen müssten. Zu den ersten Maßnahmen der staatlichen Arbeitsmarktregulierung gehörte das Wiedereinführen der im Krieg außer Kraft gesetzten Arbeitsschutzbestimmungen für 132 133 134 135 136
Mertens, Weiskirchner, S. 195. Vgl. Weihsmann, Das Rote Wien, S. 15. Vgl. Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 566. Vgl. Köhler, Berlin, S. 834. Vgl. Rouette, Sozialpolitik, S. 255. Hauch, Gabriella: »›…daß die Frau wirklich gleichberechtigt, gleichbefähigt ist‹?! Frauenwahlrecht und ambivalente Geschlechterverhältnisse in der Ersten Republik«, in: Konrad, 1918–2018, S. 27–30, hier S. 28.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Frauen und Jugendliche.137 Infolge von Demobilmachungsverordnungen, die u.a. die Wiedereinstellungs- und Entlassungsverfahren regelten, wurden jene Arbeitskräfte, deren »Ernährer zurückgekehrt« war, und Beschäftigte, die nicht auf den Erwerb angewiesen waren, entlassen. Der Historikerin Susanne Rouette zufolge galt es bald nicht mehr nur, »die kriegsbedingten Umstrukturierungen auf dem Arbeitsmarkt rückgängig zu machen«, sondern auch »die knappen Arbeitsplätze nach Kriterien sozialer Gerechtigkeit zu verteilen«138 . Nach damaliger Auffassung habe den erwerbslosen Familienvätern ein moralisch stärkeres Recht auf Arbeit zugestanden als verheirateten Frauen, die in der Regel als nicht »erwerbsbedürftig« definiert und mit Verweis auf den Unterhalt des Ehemannes in die Familiensphäre zurückgedrängt wurden. Es gab durchaus Frauen, die mit der Rückkehr des Familienernährers freiwillig ihre Erwerbstätigkeit aufgaben. Nicht wenige von ihnen empfanden ihre berufliche Beschäftigung mehr als Zwang denn als Befreiung. »Tatsächlich ließen die katastrophalen Arbeitsbedingungen und die Doppel- und Dreifachbelastungen bei vielen Frauen den Wunsch nach einer Rückkehr zu den traditionellen Aufgaben in der Familie aufkommen«, betont Karin Maria Schmidlechner, »doch war ihre Zahl zu gering, als dass ihr Abgang eine effektive Umstrukturierung der Frauen- und Männerarbeitsplätze bewirkt hätte.«139 Ledigen Frauen und Kriegswitwen, aber auch Frauen, deren Ehemänner invalid waren oder unzureichenden Lohn mit nach Hause brachten, blieb hingegen eine »Rückkehr in die Normalität« häufig verwehrt. Gleichfalls waren auch nicht wenige von ihnen inzwischen in Berufen tätig, die sie nicht mehr aufzugeben bereit waren. Im Kampf um die Arbeitsplätze gingen diese Frauen jedoch zumeist als Verliererinnen hervor.140 Gegen ihren Willen wurden sie gezwungen, auf das traditionell weibliche Segment des Arbeitsmarktes und somit auf die schlecht entlohnten Arbeitsplätze in den alten »Frauenindustrien« zurückzukehren. Es gab jedoch auch Wienerinnen und Berlinerinnen, die ihre berufliche Stellung nach dem Krieg behaupten konnten. Hierbei handelte es sich oftmals um junge, ledige Frauen der Mittelschicht. Sie drangen durch den zunehmenden Prozess der Tertiärisierung vermehrt in den Öffentlichen Dienst und in Angestelltenberufe vor und arbeiteten u.a. als Sekretärin, Stenotypistin oder Lehrerin.141 Es waren aber nicht nur die Kontore der großen Handelshäuser, die Büros der Industriebetriebe und Verkaufsstellen der großen Warenhäuser, die sich mehr und mehr zum »selbstverständlichen Bereich der
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Vgl. hierzu und zu den weiteren Ausführungen Rouette, Sozialpolitik, S. 253ff. Rouettes Darstellung bezieht sich auf die Entwicklungen in der Weimarer Republik, die den Vorgängen in Österreich sehr ähnlich waren. Vgl. hierzu u.a. Schmidlechner, Karin Maria: »Die neue Frau? Zur sozioökonomischen Position und kulturellen Lage«, in: Konrad/Maderthaner, Das Werden, Band 2, S. 87–102. 138 Rouette, Sozialpolitik, S. 255. 139 Schmidlechner, Die neue Frau, S. 94. Vgl. auch Guttmann, Weibliche Heimarmee, S. 217. 140 Vgl. ebd., S. 95. Vgl. auch Embacher, Helga: »Der Krieg hat die göttliche Ordnung zerstört! Konzepte und Familienmodelle zur Lösung von Alltagsproblemen, Versuche zur Rettung der Moral, Familie und patriarchalen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg«, in: Zeitgeschichte 15, 9/10 (1988), S. 347–363, hier S. 351. 141 Vgl. Schmidlechner, Die neue Frau, S. 97. Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 305.
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Frau« entwickelten. Auch die Fabriken und Betriebe der Maschinenindustrie, der Metallverarbeitung, der Elektro- und Chemieindustrie, stellte die Sozialwissenschaftlerin Käthe Leichter (1895–1942) für Österreich fest, wiesen im Vergleich zur Vorkriegszeit einen erhöhten Anteil weiblicher Arbeitskräfte auf.142 Dennoch waren viele der Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit nach dem Krieg aufrechterhalten konnten, mit geschlechtshierarchischer Benachteiligung konfrontiert. So verdienten sie in der Regel weniger als die männlichen Angestellten und »Familienerhalter«. Ein weiteres wichtiges Tätigkeitsfeld, in dem sich viele Frauen behaupten konnten, war die öffentliche (und private) Fürsorgearbeit, die sich im Zuge des Krieges vom Männerberuf zum sozialen Frauenberuf bzw. zu bezahlter sozialer Arbeit entwickelte. Die Ausbildung an sozialen Frauenschulen in Deutschland wurde z.B. staatlich anerkannt und in die öffentlichrechtliche Bildungslandschaft eingegliedert.143 Auch in Österreich entwickelte sich das öffentliche Wohlfahrtswesen zu einem bedeutenden Tätigkeitsbereich der Frauen. Entwicklungen wie diese waren aber die Ausnahme. Vorherrschend blieb die staatlich forcierte geschlechtsspezifische Segregation und die damit einhergehende Diskriminierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die auch in der im November 1918 eingeführten Erwerbslosenfürsorge ihren Niederschlag fand. So resümierte Rouette: »Fußend auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens und geprägt durch eine beeindruckende Homogenität der Sichtweisen formulierte die Demobilmachungspolitik […] ein Modell geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung und damit zugleich ein Programm der Geschlechterbeziehungen. Hierin wurden Männer prinzipiell als potentielle oder tatsächliche Ernährer der Familie, Frauen hingegen als potentielle oder tatsächliche Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter gedacht. Dieses Programm sicherte den männlichen Arbeitskräften die besseren Erwerbschancen und verwies die weiblichen Arbeitskräfte auf die nun wieder eindeutig umgrenzten Segmente des Teilarbeitsmarktes für Frauen.«144 Der Wunsch nach der Wiederherstellung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung war auch Ausdruck der allgemein vorherrschenden Sorgen um den Erhalt der Familie, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung von Auflösung bedroht zu sein schien. Hierbei war es nicht nur die wahrgenommene zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen,
142 Vgl. Leichter, Käthe: »Die Entwicklung der Frauenarbeit nach dem Krieg«, in: dies., Handbuch der Frauenarbeit in Österreich, hg. von der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien, Wien 1930, S. 28–42, hier S. 32. Dies.: Frauenarbeit und Arbeiterinnenschutz in Österreich, Wien 1927, S. 30ff. 143 Vgl. Hammerschmidt, Peter: Die bürgerliche Frauenbewegung und die Entwicklung der sozialen Arbeit zum Beruf – ein Überblick, in: Engelfried, Constance und Corina Voigt-Kehlenbeck (Hg.), Gendered Profession. Soziale Arbeit vor neuen Herausforderungen in der zweiten Moderne, Wiesbaden 2010, S. 23–40, hier S. 34f. Ferner Zahn-Harnack, Agnes von: Die arbeitende Frau, Breslau 1924, S. 18ff. 144 Rouette, Sozialpolitik, S. 257. Auch die Unterstützungsbedingungen seien Rouette zufolge von Anbeginn so formuliert und gehandhabt worden, dass arbeitslose Frauen spürbar seltener als männliche Arbeitslose eine Unterstützung erhielten. Zudem galten für Bezieherinnen der Erwerbslosenfürsorge andere Maßstäbe als bei männlichen Unterstützten. Vgl. ebd., S. 259. Sowie Schmidlechner, Die neue Frau, S. 93. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 304.
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die die Debatten um die Bedeutung von Ehe und Familie für Gesellschaft und Staat nach dem Krieg vorantrieb. Auch mit Blick auf den statistisch gemessenen Rückgang der Heirats- und Geburtenziffern und den Anstieg des Heiratsalters sowie der Scheidungszahlen, betont der Zeithistoriker Christopher Neumaier, »schien es, als würde die Kernfamilie ihre Orientierungsfunktion verlieren und damit das Zusammenleben nicht mehr ordnen können«145 . Die Wiederherstellung der tradierten Familienordnung sollte schließlich den instabilen Lebens- und Gesellschaftsverhältnissen entgegenwirken. Wenngleich die Ansichten über die Ausgestaltung »der« Familie in den Diskussionen auseinandergingen, so wurde die Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion der Institution »Familie« von allen Vertretern der unterschiedlichen soziokulturellen Milieus anerkannt.146 Die unmittelbar nach dem Krieg einsetzende Demobilmachung der Frauenerwerbsarbeit zielte somit auf die Korrektur der »Geschlechterunordnung« in den durch den Krieg veränderten Arbeits- und Familienverhältnissen. Doch wie oben angedeutet ließ sich ein »Zurück zum Status Quo der Vorkriegszeit«147 im Leben der meisten Familien nicht verwirklichen. Da Väter und Söhne oftmals nicht nur desillusioniert und/oder traumatisiert, sondern auch invalid oder gar nicht mehr nach Hause kamen, hatten sich die Familienkonstellationen vielfach geändert. Hämmerle veranschaulicht die neuen familiären Nachkriegsverhältnisse: »Die meist jahrelange Trennung setzte zu; so kannten viele Kinder ihren Vater nicht oder hatten sich, wie wir etwa aus Kindheitserinnerungen wissen, diesem ›entfremdet‹. Auch viele Ehepaare mussten sich wieder aneinander gewöhnen, vor allem wenn sie angesichts der Kriegssituation rasch geheiratet hatten, Männer mit einer erhöhten Selbständigkeit der Frauen nicht zurechtkamen oder im Laufe eines langen Kriegseinsatzes überhaupt den Bezug zur veränderten Heimat verloren hatten.«148 Begleitet wurden diese innerfamiliären Beziehungsschwierigkeiten von äußeren problematischen Lebensbedingungen. Für eine Rückkehr in geordnete Verhältnisse fehlte es in den Familien oftmals an den materiellen Grundvoraussetzungen. Die vorherrschende hohe Arbeitslosigkeit und der starke Rückgang der Reallöhne unter den Stand der Vorkriegszeit bewirkten, dass der überwiegende Teil der Familien mit einem Einkommen allein nicht auskam. Darüber hinaus war es unter diesen Bedingungen für viele ledige Frauen unmöglich, eine dauerhaft auskömmliche und von einem Ernährer unabhängige Existenz zu führen. »Die proklamierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen ›Familienernährern‹ und ›Hausfrauen und Müttern‹ war folglich für weite Teile der Bevölkerung nicht lebbar«, schlussfolgerte Rouette.149 Die vehement vorangetriebene Rekonstruktion der Geschlechterverhältnisse fand in der Lebensrealität der meisten Frauen und Männer ihre Grenzen. Dies trug dazu bei, 145
Neumaier, Christopher: Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken, Berlin 2019, S. 76. Vgl. auch Schmidlechner, Die neue Frau, S. 91. 146 Vgl. Neumaier, Familie, S. 76f. und S. 90. Vgl. auch Healy, Maureen: »Am Ende und doch kein Ende«, in: Pfoser/Weigl, Epizentrum, S. 572–577, hier S. 575. 147 Hämmerle, Christa: »Alltag in der Zeitenwende«, in: Konrad, 1918–2018, S. 15–18, hier S. 17. 148 Ebd., S. 15f. Vgl. hierzu auch Rollet, The home, S. 348ff. Sieder, Behind the lines, S. 129. 149 Rouette, Sozialpolitik, S. 261. Neumaier, Familie, S. 118ff. Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 305.
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dass das Ideal der tradierten Familienordnung als Hort der Stabilität in der Gesellschaft weiterhin vorherrschend blieb. Zwar traten mittlerweile auch sozialdemokratische bzw. emanzipatorische Familienkonzepte, die die Gleichrangigkeit der Geschlechter in der Ehe und Familie forderten, aber dennoch nicht die traditionelle Aufgabenteilung zwischen Frau und Mann in Frage stellten, verstärkt neben das konservativ-bürgerliche Familienmodell, doch durchsetzen konnte sich das Ideal der gleichberechtigten Partnerschaft nicht.150 Alles in allem behaupteten die Männer während der 1920er Jahre ihre Vormachtstellung im Familiendasein. Trotz oder gerade aufgrund der schwierigen Lebensverhältnisse infolge des Krieges erbrachten die familialen (bzw. verwandtschaftlichen) Solidargemeinschaften, wie Hämmerle darlegt, schließlich für zahlreiche Kriegsheimkehrer eine hohe Reintegrationsleistung.151 Die familiäre Bewältigung der Nachkriegssorgen festigte die Familie als soziale Institution und als Beziehungsgefüge. Von einer Destabilisierung der Familie, wie sie von vielen Zeitgenossen in den 1920er Jahren wahrgenommen wurde, konnte demzufolge nicht die Rede sein.152 Die Stellung der Frau in Familie und Nachkriegsgesellschaft hatte sich, so wurde in der Forschung bereits oft betont, mit Ausnahme des Frauenwahlrechts gegenüber der Vorkriegszeit nicht stark verändert. Dass dies aber nicht für alle Frauen galt, zeigt die nicht zu unterschätzende Zahl von Frauen, die nach Kriegsende auf sich allein gestellt waren. Durch den Verlust des (Familien-)Ernährers infolge von Tod oder Trennung – nach dem Krieg stiegen allerorten die Scheidungsziffern – und unzureichender Unterstützungsleistungen mussten viele Frauen ihre im Krieg erlangte Rolle als Familienernährerin fortführen. Da die verbreitete Not viele (auch verheiratete) Frauen weiter zur Erwerbstätigkeit zwang, erfüllten sich die vorrangig von männlichen Entscheidungsträgern in Politik und Gewerkschaften gehegten Erwartungen hinsichtlich eines massiven Rückgangs der Frauenerwerbsarbeit nicht.153 Die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt der Nachkriegszeit und auch das häufiger in Erscheinung getretene Phänomen der selbstän-
150 Schmidlechner, Die neue Frau, S. 100. Neumaier, Familie, S. 124. Hierzu ausführlich auch Heinemann, Rebecca: Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik, München 2004. 151 Hämmerle, Alltag, S. 16. Dies., Heimat/Front, S. 200. Damit widerspricht Hämmerle der in der Forschung inzwischen breit diskutierten These von der »Krise der Männlichkeit« nach dem Krieg, wonach vor allem in Österreich eine »Orientierungslosigkeit« der Heimkehrer vorgeherrscht (Embacher) und eine unzureichende Reintegration der kriegsbedingt »entmännlichten« Soldaten durch die Familien stattgefunden habe (Healy). Ohne die Probleme der »männlichen Ordnung« als solche infrage zu stellen, verweist Hämmerle in ihrer Darstellung auf die Ambivalenz des Krisenkonzepts. Siehe auch Hämmerle, Christa: »›Vor vierzig Monaten waren wir Soldaten, vor einem halben Jahr noch Männer…‹ Zum historischen Kontext einer ›Krise der Männlichkeit‹ in Österreich«, in: L’Homme 19/2 (2008), S. 51–74, hier S. 72. In diesem Kontext siehe auch den Beitrag Embacher, Der Krieg. Sowie Healy, Maureen: »Civilizing the Soldier in Postwar Austria«, in: Wingfield, Nancy M. und Maria Bucur (Hg.), Gender and War in Twentieth-Century Eastern Europe, Bloomington 2006, S. 47–69. 152 Vgl. Neumaier, Familie, S. 101f. Zur ordnungsstiftenden Funktion der Familie nach dem Krieg vgl. ebd., S. 91. 153 Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 305. Ferner Sieder, Behind the lines, S. 130f. Vgl. auch ZahnHarnack, Die arbeitende Frau, S. 33ff.
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digen und selbstbewussten »neuen Frau«154 , das freilich auf kleinere Kreise der Gesellschaft beschränkt blieb, verdeutlichen, dass ein »Rollback« nicht vollumfänglich möglich war. Die im Vergleich zur Vorkriegszeit nahezu gleichbleibende Erwerbsquote von Frauen belegt wiederum eindrücklich155 , dass die umfassende Emanzipation der Frau noch in weiter Ferne lag.
1.5 »Blutarme Elendszeit«: Die Währungskatastrophe und ihre sozialen Folgen Die Hoffnungen der kriegsmüden Berliner und Wiener, dass der Übergang in die Friedensgesellschaft und -wirtschaft ein schnelles Ende der kriegsbedingten sozialen Krise bringen würde, erfüllten sich nicht. Vielmehr erlebten die Menschen während der Nachkriegsjahre eine Verschärfung der krisenhaften Zustände. Zwischen 1918 und 1922/23 stand das Alltagsleben in Wien und Berlin ganz im Zeichen »der größten je da gewesenen Geldentwertung«156 , deren Hauptursache im Krieg und in der auf seine Erfordernisse hin ausgerichteten Wirtschaft lag. Sowohl in der Habsburgermonarchie als auch im Deutschen Reich konnten die Kosten des Krieges nicht durch Steuereinnahmen gedeckt werden. Die Kriegsfinanzierung erfolgte in erster Linie durch Kriegsanleihen bei der eigenen Bevölkerung und Aufnahme kurzfristiger Kredite, mit denen eine drastische Steigerung des Geld- und Notenumlaufs einherging. Während die Notenpressen unaufhörlich liefen und die Geldmengen aufblähten, verringerte sich als Folge der einseitigen Ausrichtung der Produktion auf den militärischen Kriegsbedarf das Angebot an Konsumgütern und Dienstleistungen.157 Die deutsche Mark und die österreichische Krone verloren zunehmend an Kaufkraft und Außenwert. Bei Kriegsende besaßen beide Währungen im Verhältnis zu den wichtigsten Fremdwährungen nur noch fünfzig Prozent ihres früheren Wertes.158 Mit Blick auf die Lage in Österreich konstatiert der österreichische Wirtschaftshistoriker Fritz Weber: »Der Krieg hatte zu einer konsumtiven Überbeanspruchung des Sozialprodukts durch den Staat geführt. Die Inflation war der monetäre Ausdruck dafür, dass Konsum und 154
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Vgl. zur Leitfigur der »neuen Frau« in Berlin Eifert, Christiane: »Die neue Frau: Bewegung und Alltag«, in: Görtemaker, Manfred (Hg.), Weimar in Berlin. Porträt einer Epoche, Berlin 2002, S. 82–103. Zur »neuen Frau« in Wien und Österreich vgl. Schmidlechner, Die neue Frau, insb. S. 101f. In Berlin wuchs der Anteil der berufstätigen Frauen zwischen 1907 und 1925 lediglich von 34,9 auf 35,6 Prozent. Vgl. Eifert, Die neue Frau, S. 84. Auch in Wien nahm die Frauenerwerbsquote zwischen 1910 und 1923 nur geringfügig zu. Nach den Ausführungen von Käthe Leichter stieg hier der Anteil berufstätiger Frauen von rund 36,3 Prozent auf 36,9 Prozent. Vgl. dies., Frauenarbeit, S. 24. An dieser Stelle sei noch auf die Ausführungen zur Frauenlohnarbeitsentwicklung von Ute Daniel hingewiesen. Daniel zufolge war der Erste Weltkrieg kein »Schrittmacher der Frauenemanzipation«. Auch während des Krieges bewegte sich die Zunahme der Frauenerwerbsarbeit auf dem Niveau der Vorkriegszeit. Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 106f. Matis, Herbert: »›Notleidende Millionäre bevölkerten damals Österreich‹: Die Währungs- und Geldpolitik in der jungen Republik«, in: Konrad/Maderthaner, Das Werden, Band 2, S. 33–48, hier S. 33. Vgl. Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 81. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 107. Sowie Matis, Notleidende Millionäre, S. 37. Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 107. Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 81.
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Produktion, Angebot und Nachfrage, Gütererzeugung und Geldmenge (als potenzielle Nachfrage nach Gütern) weit auseinanderklafften. Bis Ende November 1918 war die in Umlauf befindliche Geldmenge während des Krieges kontinuierlich auf das fast Fünfzehnfache des Niveaus von Ende 1913 angestiegen. Die Lebenshaltungskosten (ohne Wohnungsausgaben) hatten sich mehr als versechzehnfacht.«159 Für die Geld- und Währungspolitik der Nachkriegszeit galt es, die umlaufende Geldmenge zu reduzieren und die Budgetdisziplin wiederherzustellen, was jedoch durch die strukturellen Wirtschaftsprobleme infolge der Auflösung des österreich-ungarischen Wirtschafts- und Währungsraumes nur unzureichend bis gar nicht begonnen werden konnte. Der Zerfall der Währungsunion brachte »abrupte, massive Kursverluste der Krone auf den internationalen Devisenmärkten«160 . Die unsichere politische Lage bewirkte zudem die Kapitalflucht ins Ausland, wodurch die Kursverluste zusätzlich verstärkt wurden. Die bald galoppierende Inflation nahm ihren Lauf und gewann mit der Einführung der innovativen, aber kostspieligen sozialpolitischen Maßnahmen, wie etwa dem Achtstundentag und der Arbeitslosenversicherung, im Verlauf des ersten Nachkriegsjahres an Tempo. Spätestens im Sommer 1919 kam es auch in Deutschland zu einem verstärkten Wertverfall der Mark. Auch hier wurden keine Maßnahmen gegen die Geldentwertung ergriffen. Mit Blick auf die schwierigen innenpolitischen Verhältnisse von 1918/19 schreckte die Reichsregierung davor zurück, die Bevölkerung über das volle Ausmaß der finanziellen Probleme aufzuklären. Enorme Steuererhöhungen und die Annullierung der Kriegsanleihen wären die Folge gewesen. Aufgrund der staatlichen Zurückhaltung, so Grevelhörster, »lasteten auf den öffentlichen Haushalten zu Beginn der Weimarer Republik von vornherein hohe Schuldverpflichtungen.«161 Und diese nahmen im Zuge der jüngst vereinbarten Lohnerhöhungen sowie der Sozialisierungs- und Nachkriegsfürsorgemaßnahmen, die wie in Österreich die Aufnahme neuer Schulden unumgänglich machten, immer mehr zu. Mit der Aufhebung der alliierten Wirtschaftsblockade im Sommer 1919, der damit verbundenen Reintegration der deutschen Wirtschaft in den Weltmarkt und dem allmählichen Abbau der Bewirtschaftungsmaßnahmen trat Rouette zufolge schließlich die während des Krieges zurückgestaute Inflation offen zutage.162 Eine wirtschaftliche Wiederbelebung setzte zwar ein, doch der Kurs der Mark befand sich weiterhin auf Talfahrt. Export und Import (der vor allem dringend benötigten Lebensmittel) standen in keinem Verhältnis zueinander. Daneben trugen innenpolitische Krisenmomente (wie der Kapp-Lüttwitz-Putsch) und die mit dem Friedensvertrag angekündigten Reparationslasten, über deren Ausmaß bis zum Frühjahr 1921 Ungewissheit herrschte, zur Destabilisierung der Währung bei.163 Die Notenpressen in Deutschland und Österreich, wo sich das Ende der Entente-Blockade, das
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Weber, Zusammenbruch, S. 8. Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 108. Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 81.Vgl. auch Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 34. Vgl. Rouette, Sozialpolitik, S. 48. Vgl. Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 82.
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steigende Budgetdefizit und die »de facto uneinbringlichen Reparationsleistungen«164 ähnlich auf den Kronen-Kurs auswirkten, druckten eifrig weiter. Währenddessen nahmen die Kleinhandelspreise und Lebenshaltungskosten ungeahnte Ausmaße an. Die Bevölkerung begegnete der dauernden Geldentwertung vor allem mit einem Gefühl der Hilflosigkeit. Nach Ansicht Köhlers scheinen die Menschen von einem lähmenden Entsetzen gegenüber dem undurchschaubaren Mechanismus der Inflation befallen gewesen zu sein.165 Auch die Berliner Schriftstellerin und Zeitgenossin Annemarie Lange hebt hervor, dass die Berliner die Inflation ähnlich wie eine Naturkatastrophe als unvermeidbare Folge des verlorenen Krieges hingenommen haben.166 Der zur Zeit der Inflation in Berlin lebende russische Schriftsteller Ilja G. Ehrenburg (1891–1967) beschrieb die Stimmung der Menschen: »Die Deutschen lebten wie in einem Wartesaal, niemand wußte, was der kommende Tag verhieß… Schweigend lasen die Leute die Zeitung und gingen zur Arbeit. Die Ladeninhaber wechselten täglich ihre Preisschilder: Die Mark fiel. Der Kurfürstendamm wimmelte von Ausländern, für ein Spottgeld kauften sie die Reste verflossener Herrlichkeit. In den Armenvierteln wurden einige Bäckereien gestürmt. Der Zusammenbruch schien unvermeidlich, doch die Fabrikschlote rauchten, die Bankangestellten notierten gewissenhaft die vielstelligen Zahlen, die Nutten legten sorgfältig Rouge auf, die Journalisten schrieben vom Hunger in Rußland… Auf Schritt und Tritt begegnete man Tanzdielen, wo sich magere Pärchen systematisch abstrampelten. Der Jazz dröhnte… Doch allem zum Trotz nahm man die Katastrophe für ein normales, gutgeregeltes Leben […].«167 Berlin und Wien waren während der Inflationszeit von Hektik und Vergnügungstaumel befallen. Dies rührte vor allem aus dem verbreiteten Bedürfnis, nach dem entbehrungsreichen Krieg und seinen vielfach leidvollen Erfahrungen etwas nachzuholen. »Die Überlebenden wollten vergessen, sie suchten nach Ablenkung und unbeschwerter Geselligkeit, nach Unterhaltung und Betätigungen, die das Leben lebenswert machen.«168 Diese Lebenslust erfuhr durch die Geldentwertung noch eine Steigerung. Während, wie Zweig veranschaulicht, »das einstmals Stabilste, das Geld, täglich an Wert verlor, schätzten die Menschen die wirklichen Werte des Lebens – Arbeit, Liebe, Freundschaft, Kunst und Natur – um so höher«169 . Inmitten der Katastrophe lebten die Menschen intensiver und gespannter denn je. Die Passivität der Zeitgenossen gegenüber dem Währungsverfall lässt sich zum Teil auch aus der Tatsache heraus erklären, dass die Inflation nicht ununterbrochen in das Leben der Bevölkerung hereinbrach. Es gab Phasen relativer Währungs164 165 166 167
Matis, Notleidende Millionäre, S. 42. Vgl. Köhler, Berlin, S. 835. Vgl. Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 336. Ebd., S. 380. Ähnlich schilderte auch Stefan Zweig die Stimmung in Österreich. Ihm zufolge gewöhnten sich die Menschen an das Chaos und passten sich diesem an. Der Wille zur Kontinuität des Lebens erwies sich stärker als die Labilität des Geldes. Vgl. Zweig, Die Welt, S. 336. Vgl. hierzu auch Rauscher, Die verzweifelte Republik, S. 191. 168 Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 313. Vgl. auch Köhler, Berlin, S. 836. Torp, Claudius: Konsum und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, S. 76f. 169 Zweig, Die Welt, S. 337.
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stabilität, die sich mit Phasen verstärkten Wertverfalls abwechselten. Auch stiegen nicht alle Preise in gleicher Weise. Und obgleich die Einkaufspreise zunehmend stiegen, begünstigte die Geldentwertung zugleich eine kräftige Reduzierung bedeutender Kostengrößen wie etwa Steuern, Zinsen und Kreditbelastungen.170 Trotz der vorherrschenden Wohnungsnot in den Großstädten, die im Zuge des Krieges verheerende Ausmaße annahm, blieben auch die Mieterhöhungen deutlich hinter der Geldentwertung zurück. Die Wohnungsmieten boten für die breite Masse eine Ersparnismöglichkeit. In seinen Erinnerungen schilderte Stefan Zweig die absurden neuen Verhältnisse im Kleinstaat Österreich: »Am groteskesten entwickelte sich das Mißverhältnis bei den Mieten, wo die Regierung zum Schutz der Mieter (welche die breite Masse darstellten) und zum Schaden der Hausbesitzer jede Steigerung untersagte. Bald kostete in Österreich eine mittelgroße Wohnung für das ganze Jahr ihren Mieter weniger als ein einziges Mittagessen; ganz Österreich hat eigentlich fünf oder zehn Jahre (denn auch nachher wurde eine Kündigung untersagt) mehr oder minder umsonst gewohnt.«171 Wer Schulden hatte, wurde sie im Zuge der Inflation auf bequeme Weise los. Hiervon profitierte neben privaten Schuldnern vor allem die öffentliche Hand, die ihre alten Inlandsschulden quasi automatisch loswurde. Da die Passiva binnen kurzer Zeit dahinschwanden, bewirkte die Inflationsperiode für die beiden hoch verschuldeten Staaten und die Finanzverwaltungen ihrer Hauptstädte eine »billige Sanierung« ihrer Haushalte.172 Die Last dieser »selbstlaufenden« Schuldentilgung trugen zweifelsohne die inländischen Gläubiger und damit vor allem Angehörige des Mittelstandes. Zu den inflationsbedingten Kostenminderungen gehörten auch die Löhne und die Gehälter. Die rasche Entwertung des Geldkapitals förderte die Bereitschaft vieler Unternehmen, Arbeiternehmer einzustellen und in neue Produktionsstandorte, Maschinen usw. zu investieren. Die exportorientierte deutsche Wirtschaft habe sich hierdurch, wie Grevelhörster darlegt, gegenüber den ausländischen Konkurrenten vorübergehend in einer vergleichsweise günstigen Wettbewerbssituation befunden.173 Vor allem im Jahr 1921 habe eine für die Exportwirtschaft vorteilhafte große Spanne zwischen dem Kostenniveau im Inland und dem im Ausland bestanden. Daraus resultierend herrschte um 1921/22 in Berlin – wie überall in Deutschland – Vollbeschäftigung. Ebenso erlebte Österreich den Konjunkturaufschwung, der bereits 1920 und damit nach dem Ende des internationalen Nachkriegsbooms einsetzte. Mit einem kurzfristigen Exportboom, der auf dem Ausverkauf der tief unter den Weltmarktpreisen liegenden österreichischen Waren und Dienstleistungen an das Ausland beruhte, kehrte auch in der Alpenrepublik für rund
170 Vgl. Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 84. 171 Zweig, Die Welt, S. 333. Vgl. zu Berlin auch Köhler, Berlin, S. 836. Sowie Niehuss, Merith: »Lebensweise und Familie in der Inflationszeit«, in: Feldman, Gerald D. et al., Die Anpassung an die Inflation, Berlin/New York 1986, S. 237–265, hier S. 252. 172 Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 110. Vgl. auch Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 343. Weber, Zusammenbruch, S. 29. 173 Vgl. Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 85. Mit Blick auf Österreich vgl. Weber, Zusammenbruch, S. 16.
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zwei Jahre (1920/21) ein Zustand struktureller Nicht-Arbeitslosigkeit ein.174 Dem Wirtschaftshistoriker Herbert Matis zufolge herrschte in Österreich eine »Ausverkaufsstimmung«, die eine Scheinkonjunktur herbeiführte. Diese bewirkte zwar sinkende Arbeitslosenzahlen, barg jedoch bei anhaltender Inflation auch die Gefahr von Fehlinvestitionen und einer Fortsetzung (des bereits zu Kriegszeiten vorherrschenden) wirtschaftlichen Substanzverzehrs.175 Notwendige strukturelle Anpassungen an die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten wurden durch die andauernde Geldentwertung und den Exportboom vielfach aufgeschoben oder blieben vollständig aus. Die Konjunkturbelebung infolge des Währungsverfalls brachte einen geradezu fieberhaften Spekulationsboom mit sich. All jene, die noch über finanzielle Mittel verfügten, trachteten danach, ihr Vermögen vor der weiteren Entwertung zu schützen, indem sie ihren Geldbesitz in Wertpapieren und Devisen anlegten. Dementsprechend setzte an der Börse ein starker Anstieg der Aktienkurse ein. Maderthaner veranschaulicht die große Hausse in Österreich, bei der große Teile der Bevölkerung ins Spekulationsgeschäft einstiegen und die Gewinne in einem hemmungslosen Luxuskonsum mündeten: »Die Börse spekulierte auf das kontinuierliche Sinken der Krone, deren Kurs ins Bodenlose fiel und dem Niedergang ihrer Kaufkraft vorauseilte. Die Diskrepanz zwischen Kurs und Kaufkraft der Krone drückte sich in den tief unter den Weltmarktpreisen liegenden Inlandspreisen österreichischer Waren aus, der Exportspekulation waren Tür und Tor geöffnet. Jeder, der mit ausländischem Geld Waren ankaufte, konnte – mit Hilfe einer um ihre materielle Existenz kämpfenden und daher korruptionsanfälligen Bürokratie – außergewöhnliche Export- und Surplus-Profite realisieren. Die Zeit des großen Ausverkaufs hatte begonnen, ein skrupelloses Schiebertum hatte ›Schmuck und Hausrat‹ des in der Inflation schwer in Mitleidenschaft gezogenen städtischen Mittelstands auf ausländischen Märkten zu höchsten Profitraten umgesetzt.«176 Im Lotteriespiel der Nachkriegsjahre verstanden es vor allem die großen Kriegsgewinner, das Spekulations- und Risikogeschäft skrupellos zu nutzen. Was sie in der Kriegswirtschaft gelernt und genutzt hatten, setzten »Inflationskönige« wie Julius Barmat (1887–1938) in Berlin und Siegmund Bosel (1893–1942) in Wien nach dem Krieg fort: »Luftgeschäfte, Korruption, Spekulation mit der Inflation, schneller Kauf mit geliehenem Geld und zeitverzögerter Verkauf mit satten Gewinnen, alles abseits konservativer Pfade der Realwirtschaft.«177 Die Emporkömmlinge und »Nouveaux riches« drangen in Wien in die Domäne der guten Gesellschaft ein und bezogen im Berliner
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Vgl. ebd., S. 14ff. Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 110f. Vgl. Matis, Notleidende Millionäre, S. 43. Ferner Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 111. Maderthaner, Wolfgang: »Zusammenbruch und ökonomische Rekonstruktion oder: Die Metaphysik der Haifische«, in: Konrad, 1918–2018, S. 43–46, hier S. 44. Siehe auch ders., Von der Zeit, S. 350f. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 112. Vgl. ausführlich zu den Kriegsgewinnlern und Inflationsspekulanten in Wien und Berlin ebd., S. 112ff. Maderthaner, Von der Zeit, S. 351ff. Berger, Peter: »Zur Situation des österreichischen Bürgertums nach dem Ersten Weltkrieg: Tatsachen und Legenden«, in: Konrad/Maderthaner, Das Werden, Band 2, S. 67–86, hier S. 76ff. Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 351ff.
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Tiergartenviertel die Luxusvillen der alten Großbourgeoisie. Letztere geriet im Zuge des rücksichtslosen »Raubkapitalismus« zusehends ins Hintertreffen. Viele der an die Solidität und Sicherheit ihres Einkommens sowie Besitzes gewöhnten Repräsentanten des Berliner Großbürgertums vermochten sich, wie Lange darlegt, an die veränderten Bedingungen und Praktiken des kapitalistischen Geschäftslebens nicht anzupassen und verloren an Reichtum und Einfluss.178 Kaum anders stand es um die Vertreter der Wiener Großbourgeoisie. Hatten sie es ungeschickt angepackt, erklärt der Historiker Peter Berger, nahmen ihnen Krieg und Inflation ein beträchtliches Stück ihres Wohlstandes oder gar ihre Existenz.179 Berger betont zugleich, dass es auch genügend anpassungsfähige Gutbürgerliche gab, die dieses Schicksal nicht ereilte und deren Geschäfte in den 1920er Jahren florierten. So standen z.B. Unternehmer und Großindustrielle »als typische Geldschuldner und Sachwertsbesitzer« mehr »auf der Gewinner- als auf der Verliererseite der Inflation«180 . Auf den überwiegenden Teil der Rentiers, Hausbesitzer, Geldvermögenden, Sparer und Festbesoldeten traf dies hingegen nicht zu – sie waren die Hauptgeschädigten, die tatsächlichen Verlierer der brutalen Umverteilung. Mit Blick auf zeitgenössische Berichte summiert Berger »die zerstörerische Kraft der Geldentwertung«, mit der die materielle und ideelle Existenzgrundlage weiter Teile des Kleinbürgertums und der Mittelschichten vernichtet wurde: »Die Inflation fraß die Renteneinkommen des Bürgertums auf. Insbesondere machte sie die Renditeversprechen von Kriegsanleihen […] zu Makulatur. Sie annullierte Bargeldvermögen, es sei denn, man hatte rechtzeitig […] Kronen [oder Mark] in US-Dollar umgetauscht. Die Inflation legte die Axt an bürgerliche Werte wie Redlichkeit, Sparsamkeit, Arbeitsfleiß, ja sogar Tugendhaftigkeit an […].«181 Die Wiener und Berliner Mittelschichten erlitten nicht nur enorme Vermögensverluste. Der ökonomische Niedergang des Mittelstandes wurde zudem von den dahinschmelzenden sozialen Unterschieden zwischen Arbeiterschaft auf der einen und Angestelltenund Beamtenschaft auf der anderen Seite verstärkt. Schon der Krieg habe, betont Eigner, als gesellschaftlicher Gleichmacher fungiert. Ihm zufolge trug der Kriegsalltag zu einer Nivellierung von Arbeiterschaft und unterer Mittelschicht bei, wobei er aber gleichzeitig soziale Bruchlinien zwischen diesen Bevölkerungsschichten akzentuierte.182 Besonders präsent war hierbei die Angst der Mittelschicht vor einem Absinken ins Proletariat. Nach Kriegsende setzten sich die Einkommensverschiebungen fort, sodass die Distanz zwischen den Gehältern der Angestellten und Beamten und den Löhnen der Arbeiter weiter abnahm. Wie weit die Gehälter der Angestellten und Beamten vom Vor178 Vgl. ebd., S. 351. 179 Vgl. Berger, Zur Situation, S. 86. 180 Sandgruber, Roman: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, S. 358. Berger, Zur Situation, S. 74. Vgl. hierzu auch Pfoser/ Weigl, Stunde Null, S. 106f. 181 Berger, Zur Situation, S. 74. 182 Eigner, Umsturz (oben Kapitel iv, Anm. 130). Hierzu auch Kocka, Jürgen: »Weltkrieg und Mittelstand: Handwerker und Angestellte in Deutschland 1914–1918«, in: Francia: Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 2 (1974), S. 431–457, hier S. 439. Mit Bezug zur Nachkriegszeit vgl. ebd., S. 454ff. Hierzu auch Winkler, Von der Revolution, S. 155.
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kriegsniveau entfernt waren, veranschaulicht Claudius Torp in seiner Studie über die Konsumverhältnisse in der Weimarer Republik. »Ein verheirateter Bankangestellter mit zwei Kindern und im zehnten Berufsjahr erhielt im Durchschnitt der Jahre 1920 bis 1922 zwischen 66 und 70 Prozent seines Vorkriegsverdienstes.«183 Die höheren und mittleren Beamten habe es noch härter getroffen. Sie erreichten in den Nachkriegsjahren bis 1922 nur noch 37 bzw. fünfzig Prozent ihres Einkommens von 1913. In vielen bürgerlichen Familien fiel – wenn der Krieg nicht schon dazu geführt hatte – »das alte Tabu, daß die Frau nicht mitarbeiten dürfte«184 . Mit den schwindenden Einkommen, den vernichteten Ersparnissen und der rapide zunehmenden Not begannen viele Angehörige des Mittelstandes ihr Hab und Gut zu veräußern. »Was entbehrlich und verkäuflich war«, so Lange, »nahm den Weg zum Trödler oder Pfandleiher oder wurde in dunklen Häusereingängen verramscht.«185 Die Nutznießer der Mittelstandsnot waren vor allem die valutakräftigen Besucher aus dem Ausland, von denen die beiden Hauptstädte geradezu überschwemmt wurden. Die niedrigen Preise ausnutzend kauften sie wie auf einem Basar die städtischen Ladengeschäfte leer. »[… S]tattliche Massen von Ausländern nützten die Konjunktur, um sich an dem zuckenden Kadaver der österreichischen Krone anzufressen«, empörte sich Stefan Zweig über den riesigen Ausverkauf der Werte. »Alle Hotels in Wien waren von diesen Aasgeiern überfüllt«, so Zweig weiter, »sie kauften alles, von der Zahnbürste bis zum Landgut, sie räumten die Sammlungen von Privaten und die Antiquitätengeschäfte aus, ehe die Besitzer in ihrer Bedrängnis merkten, wie sehr sie beraubt und bestohlen wurden.«186 Viele Angehörige der Mittelschichten standen im Zuge der Inflation bildlich gesprochen bald vor dem Nichts und kämpften um die nackte Existenz. Ihren gesellschaftlichen Status einbüßend wurden sie, »die sich vorher zivilgesellschaftlich für arme, unterbürgerliche Gruppen engagiert hatten«, nun »selbst zu Klienten des Sozialstaates, wenn nicht gar der Fürsorge«187 . Die zunehmende soziale Umschichtung bedeutete nicht, dass es der Arbeiterschaft während der Inflationszeit zwangsläufig besser erging als den Mittelschichten. Es ist richtig, dass die Arbeiterschaft, wie Sandgruber mit Blick auf die Verhältnisse in Österreich darlegt, in der inflationären Vollbeschäftigung mit ihrer gegenüber der Vorkriegszeit beträchtlich gestiegenen Verhandlungsmacht Lohnerhöhungen durchsetzen konnte. Dennoch lagen auch ihre Einkommen »real weit unter dem Vorkriegsniveau und überstiegen kaum das physische Existenzminimum«188 . Auch in der Weimarer Republik konnten die sozialen Stabilisierungsgewinne der Arbeiter (Achtstundentag, reichliches Arbeitsplatzangebot, preisgebundene Wohnungsmieten) zwar eine generelle Verelendung verhindern, doch die Lebensqualität der Vorkriegszeit stellten sie nicht wieder 183
Torp, Konsum, S. 31. Vgl. auch Kocka, Klassengesellschaft, S. 73f. Ferner Flemming/Ulrich, Heimatfront, S. 217. 184 Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 428. 185 Ebd., S. 428, ferner S. 348. Vgl. auch Lawrence, Material pressures, S. 252. 186 Zweig, Die Welt, S. 334. Vgl. auch Matis, Notleidende Millionäre, S. 46. Ähnlich schilderte auch Lange die Situation in Berlin. Vgl. dies., Berlin in der Weimarer Republik, S. 339f. 187 Hammerschmidt, Die bürgerliche Frauenbewegung, S. 33. 188 Sandgruber, Ökonomie, S. 357. Vgl. hierzu auch Kocka, Klassengesellschaft, S. 17. Winkler, Von der Revolution, S. 155.
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her.189 Spätestens als die Inflation in Hyperinflation umschlug, wurde die beschleunigte Teuerung auch für die Arbeitermassen zu einem sozialen Alptraum. Nachdem die Geldentwertung nahezu drei Jahre lang im Tempo der Kriegsinflation weiterging, brachen im österreichischen Staat ab Mai 1922 schließlich die Dämme. In der nun einsetzenden Phase der Hyperinflation verlor die Krone zusehends ihre Funktion als Zahlungsmittel: »Der Index des Außenwertes der Krone (1914 = 1), der im Mai bei 1.913 gelegen war, stieg bis September 1922 bis auf 15.123, das heißt, er war auf mehr als ein Fünfzehntausendstel seines Vorkriegswertes gesunken. Die massive Geldentwertung gegenüber dem Ausland fand im Inland ihre Entsprechung: Der Lebenshaltungskostenindex (1914 = 1) wuchs im selben Zeitraum von 1.364 auf 14.153 an. Damit konnte die zeitlich verzögerte indexgebundene Angleichung der Löhne nicht Schritt halten: Die Kosten und Preise stiegen so rasch, dass dies durch Lohnanpassungen nicht ausgeglichen werden konnte.«190 Der Kleinstaat war faktisch bankrott. Während die »notleidenden Millionäre« Österreichs ihre Löhne und Gehälter in Aktentaschen, Rucksäcken und Wäschekörben nach Hause transportierten und gezwungen waren, ihr von Tag zu Tag an Wert verlierendes Geld möglichst rasch auszugeben, musste sich die österreichische Politik eingestehen, dass sämtliche Sanierungspläne und Selbsthilfeaktionen wirkungslose Unterfangen waren.191 Österreich hatte sich lange vergeblich an die Hoffnung auf Hilfe aus dem Ausland geklammert, doch die ersehnten Auslandskredite wurden aufgrund des im Vertrag von St. Germain festgeschriebenen Generalpfandrechts der Siegermächte auf alle Besitzungen und Staatseinnahmequellen bislang nicht gewährt. In der verzweifelten Situation des Sommers 1922 unternahm der Ende Mai 1922 zum neuen Bundeskanzler gewählte Obmann der Christlichsozialen Partei Ignaz Seipel (1876–1932) einen neuerlichen Versuch, die Signatarstaaten des Vertrages von St. Germain von der zwingenden Notwendigkeit ausländischer Hilfe zu überzeugen, indem er das ökonomische Problem der Alpenrepublik zu einem politischen Problem Mitteleuropas umdefinierte.192 Durch seine unlösbaren wirtschaftlichen Schwierigkeiten sei Österreich nun gezwungen, die Anlehnung an ein größeres Wirtschaftsgebiet zu suchen. Dies aber gefährde den politischen Status quo in Mitteleuropa und somit das in Paris ausgehandelte Friedensvertragswerk. Seipels Vorgehen erfüllte schließlich seinen Zweck: »Tatsächlich gelang es ihm [Seipel] auf diese Weise, die politischen Kräfte in Europa zum Handeln zu bewegen und in der Folge die Zusage des Völkerbunds zu erlangen,
189 Vgl. Kluge, Weimarer Republik, S. 84. So lag der Realwochenlohn der gelernten Arbeiter zwischen 1919 und 1922 im Durchschnitt bei nur 76 Prozent des Vorkriegsniveaus, im Hyperinflationsjahr 1923 sank er auf 62 Prozent. Vgl. Torp, Konsum, S. 30f. 190 Matis, Notleidende Millionäre, S. 46. Vgl. auch Weber, Zusammenbruch, S. 23. 191 Vgl. Matis, Notleidende Millionäre, S. 46. Die hier in aller Kürze wiedergegebenen Entwicklungen auf der politischen Bühne werden u.a. von Rauscher ausführlich dargestellt. Vgl. hierzu ders., Die verzweifelte Republik, S. 172ff. 192 Vgl. Hanisch, Der lange Schatten, S. 282. Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch Matis, Notleidende Millionäre, S. 46ff.
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Österreich eine Anleihe zu gewähren. Die Unterzeichnung der drei Genfer Protokolle am 4. Oktober 1922 durch Großbritannien, Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei sicherte Österreich eine Anleihe von 650 Millionen Goldkronen zu. Im Gegenzug verpflichtete sich Österreich, seine Unabhängigkeit nicht aufzugeben, binnen eines Monats ein Reform- und Sanierungskonzept vorzulegen und das Gleichgewicht im Staatshaushalt binnen zwei Jahren herzustellen.«193 In der Folge setzte der Bundeskanzler sein Sanierungswerk um, das gemeinsam mit den Genfer »Unheilsprotokollen« seitens der Sozialdemokraten heftig kritisiert wurde. Mit der Einführung neuer Steuern und Steuererhöhungen, dem Abbau des Verwaltungsapparats und der Schaffung einer nationalen Notenbank gelang der Genfer Sanierung die Stabilisierung der Währung und der Staatsfinanzen. Sie blieb jedoch »Stückwerk«, erklärt Hanisch, da mit ihr eine Instandsetzung der Volkswirtschaft nicht einherging.194 In den Jahren nach 1922 sollte sich die österreichische Wirtschaft nur sehr langsam und nicht ohne Rückschläge erholen. Während die Geldentwertung in Österreich ihr Ende fand, »galoppierte« die Inflation im deutschen Nachbarland seit Mitte des Jahres 1922 und schlug spätestens mit der Ruhrbesetzung195 im Juni 1923 in eine Hyperinflation um. Das ganze Leben in Berlin richtete sich mittlerweile nach dem Dollarkurs. Nach den Ausführungen von Lange kursierten ab Juni 1922 die ersten 10.000-Mark-Scheine. Seither hatten sich die Menschen daran zu gewöhnen, »beim kleinsten Einkauf erst mit Zehn-, dann mit Hunderttausenden, dann mit Millionen, mit Milliarden, schließlich mit Billionen zu rechnen, und der Irrsinn«, so Lange, »wollte und wollte kein Ende nehmen«196 . Die Lebenshaltungskosten stiegen 1922/23 schwindelerregend an. Zahlte eine fünfköpfige Berliner Familie im Sommer 1922 für Ernährung, Heizung, Wohnung und Kleidung das 41-fache des Vorkriegsjahres 1913, war es im Dezember 1922 bereits das 605fache und im Februar 1923 das 2.643fache.197 Die Talfahrt der deutschen Währung, in die immer mehr in- und ausländische Kapitalbesitzer das Vertrauen verloren, war trotz zwischenzeitlicher Stützungsversuche der Reichsbank nicht mehr aufzuhalten. In der Phase der Hyperinflation sank der Wert der Währung schließlich ins Bodenlose. Die anhaltende Flucht in den steil ansteigenden Dollar sowie in Sachwerte und Immobilien nahm ungehemmt zu. Sowohl Löhne und Gehälter als auch Pensionen und Unterstützungszahlungen fielen weit hinter die Teuerungsrate zurück.198 Anfang Januar 1923 zahlten die Berliner für ein Kilogramm Roggenbrot noch 163 Mark, Anfang September bereits 273.684 Mark, und Anfang November schlussendlich 78 Milliarden Mark.199 Das Geld verlor täglich und bald fast stünd193 Ebd., S. 47. 194 Vgl. Hanisch, Der lange Schatten, S. 283. 195 Da Deutschland seine Reparationsverpflichtungen aufgrund der Inflation nicht mehr erfüllen konnte, marschierten Anfang Januar 1923 französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet ein. Die deutsche Regierung rief daraufhin zu »passiven Widerstand« auf. Die hieran anschließenden Streiks und Produktionsausfälle brachten die deutsche Wirtschaft zum Erliegen. Hierzu ausführlich u.a. Kluge, Weimarer Republik, S. 74ff. 196 Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 338. 197 Vgl. ebd., S. 425f. Vgl. auch Böß, Die Not, S. 10. 198 Vgl. Glatzer, Berlin zur Weimarer Zeit, S. 116. Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 85. 199 Vgl. ebd., S. 84. Vgl. auch Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 35.
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lich an Wert. Am Ende konnte es seine Funktion als Berechnungsgröße, als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel nicht mehr erfüllen.200 Der heillose Spuk konnte letztendlich nur noch durch einen harten Währungsschnitt beendet werden. Die seit Mitte August 1923 vom Nationalliberalen Gustav Stresemann (1878–1929) geführte neue Große Koalition leitete eine Währungsreform und damit die Rückkehr zu einer stabilen Währung ein. Eine deutsche Rentenbank wurde errichtet, die zur Überwindung der Inflation ab dem 15. November 1923 die »Rentenmark« als neues Zahlungsmittel herausgab.201 Mit der Übergangswährung, die im Sommer 1924 im Rahmen des Dawes-Plans202 von der goldgedeckten Reichsmark abgelöst wurde, galt die äußerste Sparsamkeit als das Gebot der Stunde. Wie in Österreich wurden neue und höhere Steuern zur Sicherung regelmäßiger Einnahmen eingeführt, erfolgten ein beispielloser Personalabbau im öffentlichen Dienst und drastische Kürzungen der Löhne und Gehälter. Für die deutsche Hauptstadt, die bereits zu Beginn des Hyperinflationsjahres mit über 71.000 Erwerbslosen eine vergleichsweise hohe Arbeitslosenquote vorwies, brachte die Sanierungspolitik eine erneute sprunghafte Steigerung der Arbeitslosigkeit (360.000 Erwerbslose gegen Ende November 1923), die in den Jahren der Stabilisierung und des konjunkturellen Aufschwungs zwar wieder sank, aber dennoch chronisch bleiben sollte.203 Mit der Währungskatastrophe in Österreich und Deutschland nahmen die Not und das Elend in Wien und Berlin ein erschütterndes Ausmaß an. Der Berliner Oberbürgermeister Böß betonte in seiner Darstellung der Berliner Notverhältnisse um 1922/23, dass sich infolge der verbreiteten Verarmung das Augenmaß bei der Beurteilung der Elendserscheinungen gegenüber früheren Zeiten verändert habe: »Was früher schon als größte Not erschien, gilt heute noch als erträglich[.]«204 Der durch die Hyperinflation nochmals verstärkte Verarmungsprozess erreichte in beiden Städten nahezu alle Schichten der Bevölkerung. Die Einschränkung der Lebenshaltung machte vor kaum jemanden Halt – vor den Beamten und Angestellten nicht, vor den Arbeitern nicht und auch nicht vor den kleinen Gewerbetreibenden, Handwerkern und Angehörigen der freien Berufe. Alle diese Schichten sanken unaufhörlich tiefer in ihrer Lebenshaltung und jede neue Teuerungswelle zwang sie zu weiteren Abstrichen und Entbehrungen.205 Am schlimmsten
200 Vgl. Grevelhörster, Kleine Geschichte, S. 84. 201 Zu diesem Zeitpunkt verfügte Deutschland nicht über entsprechende Gold- und Devisenvorräte. Damit die Rentenmark gedeckt werden konnte, galt es, den gesamten deutschen Grundbesitz, den Handel und die Industrie mit einer Hypothek in Höhe von 3.200 Millionen Rentenmark zu belasten. Die Rentenbank gab auf diesen Gegenwert 2.400 Millionen Rentenmarknoten aus. Der Wechselkurs einer Rentenmark wurde mit einer Billion Papiermark festgesetzt. Entsprechend des Vorkriegsstandes entsprachen 4,2 Rentenmark einem Dollar. Vgl. hierzu ebd., S. 96. 202 Mit dem Ziel, die Reparationsfrage zu entpolitisieren und unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlich Machbaren zu betrachten, legte ein internationaler Sachverständigenausschuss unter der Leitung des amerikanischen Bankiers Charles G. Dawes (1865–1951) im April 1924 einen neuen Finanzierungsplan vor, nach dem Deutschland seine Reparationszahlungen künftig in Abhängigkeit von seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit leisten sollte. Vgl. u.a. ebd., S. 102ff. 203 Zu den Erwerbslosenzahlen in Berlin vgl. Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 426 und S. 468. Sowie Demps/Materna, Geschichte Berlins, S. 579 und S. 581. 204 Böß, Die Not, S. 13. 205 Vgl. ebd.
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stand es, so betonten zeitgenössische Berichte fast gleichlautend, um die erwerbsunfähigen Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen, Dauerarbeitslosen und Erwerbsbeschränkten, Rentnern sowie alleinstehenden älteren Frauen (vor allem des gebildeten Bürgertums). Für die meisten dieser Bevölkerungsgruppen attestierte die Berliner Sozialarbeiterin Siddy Wronsky bereits für das Jahr 1920 »gefährliche Armutserscheinungen«.206 Ihre traurige Lage nahm im letzten Inflationsjahr dramatisch zu. Sie alle waren auf Unterstützungszahlungen und Beihilfen angewiesen, die in Zeiten der täglichen und zum Schluss stündlichen Geldentwertung in viel zu großen Abständen ausgezahlt wurden. Die kommunalen Behörden waren mittlerweile vollkommen überfordert und außerstande, den laufend neuen Verordnungen Folge zu leisten.207 In dieser »blutarmen Elendszeit«208 versuchten zahlreiche Frauen vor allem durch die Prostitution ihrer Existenznot zu entfliehen. Dabei gehörten die Betroffenen schon lange nicht mehr nur zu den unteren Schichten.209 Der Anteil von Arbeiterinnen und insbesondere von Frauen aus den Mittelschichten in der Geheim- und Gelegenheitsprostitution nahm signifikant zu. Überdies trieb die wirtschaftliche Not viele Menschen so sehr zur Verzweiflung, dass diese nur noch den Ausweg im Freitod sahen.210 So nahmen sich in Berlin auf dem Höhepunkt der Inflation bis zu fünfzehn Menschen täglich das Leben. Die Inflation hatte schließlich verheerende Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben. Mit ihr verschärften sich, so Ulrich Kluge, »innergesellschaftliche Spannungen […] zwischen den Generationen und Geschlechtern, zwischen Angestellten, Beamten und Arbeitern, zwischen Gelernten und Ungelernten innerhalb der Arbeiterschaft sowie zwischen Menschen, die im Erwerbsleben standen und denen, die auf dem Arbeitsmarkt chancenlos blieben«211 . Die anwachsenden Massen derer, die dem Elend und der Not völlig hilflos ausgeliefert waren, führte mehr und mehr zu einem Abstumpfen des Mitleids. Die nackte Selbsterhaltung habe die Menschen, resümierte Lange, zu Hartherzigkeit und Rohheit getrieben.212 In ihrer Verzweiflung griffen immer mehr Berliner und Wiener zu Selbsthilfeaktionen, die immer seltener gesetzeskonform waren. Die eigenmächtige Brennholzbeschaffung in den Berliner Grünanlagen und im Wienerwald, das Fälschen von Lebensmittelkarten, Hamsterei und Schleich- bzw. Straßenhandel, kleinere und größere Diebstähle, Plünderungen und Zerstörungen von Geschäften, Körperverletzungen im Zuge von Teuerungskrawallen und Lebensmittelunruhen – die großstädtische »Inflationskriminalität« und der damit verbundene Werteverfall hatten im Wien und Berlin der Nachkriegszeit Hochkonjunktur. Die nach dem Krieg und in der Inflation anhaltenden Versorgungs- und Verteilungskämpfe waren Ausdruck des herrschenden nackten Hungers, der im Vergleich zur Kriegszeit insbesondere in Wien eine nochmalige Steigerung erfuhr. 206 Vgl. Niehuss, Lebensweise, S. 253. 207 Vgl. Wetzel, Jürgen: »Die Inflation in Berlin 1923«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 20 (2020), S. 32–41, hier S. 36. 208 Fallada, Hans: Wolf unter Wölfen, Berlin 2004, S. 175. 209 Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 293f. Weber, Zusammenbruch, S. 28. Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 429. 210 Vgl. Wetzel, Die Inflation, S. 37. 211 Kluge, Weimarer Republik, S. 84. 212 Vgl. Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 429.
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2| Das Ernährungsproblem und die Massenversorgung 2.1 Gewitterstimmung und Krawalle: Die Berliner Lebensmittelversorgung Rund eineinhalb Jahre nach den bedrohlichen Versorgungskrisen des Jahres 1917 stand es auch im Winter 1918/19 schlecht um die Berliner Lebensmittelversorgung. Mit Ausnahme von Brot, das vorerst wieder ohne Streckungsmittel verteilt werden konnte, blieben die meisten Nahrungsmittel knapp.213 Nicht nur blieb die Kartoffelernte des Jahres 1918 deutlich hinter den Schätzungen zurück, auch die Versorgung mit Fleisch, das hauptsächlich gefroren oder in Konserven verfügbar war, war unzureichend. Besonders mangelte es Berlin an Molkereiprodukten – allen voran Milch, deren Zufuhr im Jahr 1919 noch geringer ausfiel als im ganzen Krieg.214 Die mit dem Kriegsende verbundenen Hoffnungen der Berliner Bevölkerung auf ein rasches Ende der entbehrungsreichen Zeiten erfüllten sich nicht. Im Verlauf des Krieges war die inländische Produktion von Grundnahrungsgütern ungefähr um die Hälfte des Friedensstandes von 1913 geschrumpft.215 Zudem wurde die alliierte Wirtschaftsblockade bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages im Juli 1919 aufrechterhalten. Auch die im Rahmen der Waffenstillstandsverhandlungen versprochenen Lebensmittellieferungen der Entente blieben vorerst aus. Die Siegermächte wollten sich zunächst ein Bild davon machen, wie schlecht es tatsächlich um die Versorgung der Besiegten unter den Bedingungen der Blockade stand.216 Erst ab dem Frühjahr 1919, nachdem mehrere alliierte Militärmissionen nach Berlin und in andere deutsche Städte Inspektionsreisen unternommen hatten, stellte sich langsam eine leichte Verbesserung der Versorgungssituation ein. Mit dem Brüsseler Abkommen vom 14. März 1919 erhielt Deutschland die Zusicherung von Lebensmittellieferungen in Höhe von 270.000 Tonnen. Als Gegenleistung verlangten die Alliierten rund 220 Millionen Goldmark und die sofortige Auslieferung der deutschen Handelsflotte.217 Zusätzlich wurde Deutschland gestattet, in begrenzten Mengen Lebensmittel aus dem neutralen Ausland einzuführen. Da nur ein Teil der geforderten Summe aufgebracht werden konnte, wurde in den darauffolgenden Wochen auch nur ein knappes Drittel der versprochenen Waren nach Deutschland geliefert. Das reichte zusammen mit den Lebensmitteln, die zusätzlich importiert werden durften, nicht aus, um den prekären Versorgungsverhältnissen Einhalt zu bieten. Dennoch führten die Einkäufe im Ausland zu einer merklichen Entspannung der Berliner Lebensmittelversorgung. Spätestens nach der Aufhebung der alliierten Seeblockade war die Hauptstadtverwaltung in der Lage, durch Auslandseinfuhren auf sich abzeichnende Engpässe zu reagieren. Darüber hinaus 213 Vgl. ausführlich Käber, Berlin, S. 170, S. 212 und S. 194. Ferner Teuteberg, Food Provisioning, S. 70. 214 Vgl. ebd., S. 229. Die Einrichtungen des Berliner Milchhandels seien Käber zufolge auf eine Einfuhr von täglich einer Million Liter Milch zugeschnitten gewesen. Nachdem die Zufuhren seit dem Herbst 1914 kontinuierlich zurückgegangen waren, erreichten diese im Jahr 1918 einen Tiefstand von 302.000 Litern pro Tag. Im ersten Nachkriegsjahr sanken die Zufuhren auf täglich 210.000 Liter Milch. Vgl. ebd., S. 223f. 215 Vgl. Kluge, Weimarer Republik, S. 56. 216 Vgl. Taylor, Frederick: Inflation: Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas, München 2013, S. 81. 217 Vgl. Büttner, Weimar, S. 133f. »Das Lebensmittelabkommen«, in: Vorwärts, 16. März 1919.
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brachte die Versorgung aus dem Berliner Umland im Sommer 1919 eine leichte Verbesserung der Verhältnisse. Trotz des florierenden Schleichhandels und verbreiteten Unwillens vieler Landwirte, weiterhin unrentable Lieferungen nach Berlin bereitzustellen, erhielten die Hauptstädter regelmäßig ihre (wenn auch schwankenden) Lebensmittelrationen. Das Festhalten an der »Zwangswirtschaft«, das Erfassen und Verteilen der wichtigsten Lebensmittel zu festen Preisen, hielten sowohl die staatlichen als auch die lokalen Behörden nach wie vor für zwingend erforderlich – im Gegensatz zur Bevölkerung, die mit den gewährten Rationen nicht auskam, und den Produzenten, die mit den verordneten Preisen nicht hinkamen.218 Erste Lockerungen des Bewirtschaftungssystems, mit denen seit dem Frühjahr 1919 der Verkauf von Eiern, Hülsenfrüchten und Fisch freigegeben wurde, führten den Verantwortlichen vor, dass der weitere Abbau der Zwangswirtschaft mit Bedacht angegangen werden musste. Sie befürchteten immense Preissteigerungen, die eine Schlechterstellung eines Großteils der Bevölkerung nach sich gezogen und damit den sozialen Frieden gefährdet hätten. Die Rationierung von Kartoffeln, Fleisch und Fett wurde somit noch bis zum Sommer 1920 aufrechterhalten. Dass die Bewirtschaftung dieser Lebensmittel aufgegeben wurde, war jedoch weniger das Ergebnis einer hinreichenden Versorgungslage, sondern vielmehr eine Folge des zunehmenden Verschwindens von Lebensmitteln in »dunklen Kanälen«.219 Am System der Brot- und Getreideversorgung wurde jedoch festgehalten, bis auch dieses im Frühjahr 1921 gelockert wurde. Mindestmengen, so Ursula Büttner, seien weiterhin von öffentlichen Stellen erfasst und auf Karten ausgegeben worden, während der Rest der Getreideprodukte zu erheblich höheren Marktpreisen frei verkauft werden durfte.220 Die allmähliche Entspannung der Berliner Versorgungslage seit dem Frühjahr und Sommer 1919 hielt – nicht ohne Rückschläge und noch immer weit entfernt von einer »Normalisierung« der Verhältnisse – bis zum Ende des Jahres 1921 an. Besonders schwer wirkte sich der Generalstreik infolge des Kapp-Lüttwitz-Putsches auf die Versorgungsverhältnisse aus. Dieser habe, so klagte Wermuth, »den mühseligen Aufbau der Ordnung und Wirtschaft um viele Monate […] zurückgeworfen«221 . Da der Eisenbahnverkehr und der gesamte öffentliche Berliner Nahverkehr stillgelegt wurde und auch keine alternativen Fuhrwerke und Beförderungsmittel zur Verfügung standen, konnten ab dem 13. März 1920 für mehrere Tage keine Lebensmittel in die Hauptstadt geliefert werden. Der Streik beeinträchtigte auch den gewerbsmäßigen Schleichhandel, wodurch in diesen Tagen nicht nur die »gesetzmäßige Versorgung der Bevölkerung«, sondern auch die »Selbstversorgung der zahllosen Hamsterer«222 nahezu unmöglich war. Die noch verfügbaren Lebensmittel schwanden von Tag zu Tag, bis die Ladengeschäfte vollständig leergefegt waren. Dem Berliner Oberbürgermeister gelang es erst nach einigen Tagen, mit 218
Vgl. Büttner, Weimar, S. 134. Vgl. auch Wermuth, Beamtenleben, S. 438. Dem Widerstand der Landwirte begegneten die Behörden mittlerweile gelegentlich mit der Gewährung zusätzlicher Prämien, wenn sie ihre Erzeugnisse nach Berlin lieferten. Vgl. Käber, Berlin, S. 229. Ferner Wetzel, Die Inflation, S. 37. 219 Vgl. Büttner, Weimar, S. 134. 220 Vgl. ebd. 221 Wermuth, Beamtenleben, S. 435. 222 Niehuss, Lebensweise, S. 250.
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der Generalstreikleitung in Kontakt zu treten. Wermuth beschrieb in seinen Erinnerungen, mit welcher Entschlossenheit und Beharrlichkeit die Streikführung in das Gespräch mit dem Stadtoberhaupt ging.223 Die Erbitterung der Streikenden sei so stark gewesen, dass diese sich von Hungerdrohungen nicht aufhalten lassen wollten. Es brauchte dem Oberbürgermeister zufolge einige Überzeugungskraft bis sie einsahen, dass ihr Vorgehen das Wohl Hunderttausender Kinder gefährdete. Schließlich stimmten Wermuths Gesprächspartner der Wiederaufnahme der Lebensmitteltransporte zu, womit eine Verschärfung der Versorgungssituation abgewendet werden konnte. Dennoch wirkte die Unterbrechung der Nahversorgung jener Tage noch einige Zeit nach. In den darauffolgenden Monaten bekamen die Berliner als Folge der Geldentwertung nach dem Ende der zwangswirtschaftlichen Maßnahmen die von den Behörden befürchtete Lebensmittelteuerung zu spüren. Dadurch kam es zwischen dem Sommer 1920 und dem Höhepunkt der Inflation im Herbst 1923 in Berlin wiederholt zu Lebensmittelunruhen und Hungerkrawallen. Nach der Historikerin Andrea Lefèvre, die eine detailreiche Darstellung dieser »subsistenzorientierten Selbsthilfeaktionen« liefert, wurde die Hauptstadt ausgehend von ihren Arbeiterbezirken während dieser Zeit in drei Wellen von Hungerunruhen erfasst.224 Die ersten Proteste starteten Ende Juni 1920 mit einigen Hundert Frauen, die infolge der starken Preiserhöhungen für Obst und ausländische Kartoffeln mehrmals gegen den Lebensmittelwucher demonstrierten. Ihre Frustration mündete alsbald in der Erstürmung und Plünderung von Markthallenständen und Geschäften: »Am Kottbusser Damm wurde der Wagen eines Obsthändlers nach einem Streit zwischen ihm, anderen Straßenhändlern und [dem] Publikum leergeplündert. Beim Herannahen der Polizei ergriff die Menge die Flucht. […] Am selben Tag stürmte die Menge ein Geschäft am Alexanderplatz und ließ 200 Pfund Obst mitgehen; als die Polizei eintraf, hatte sich die Menge schon in alle Winde zerstreut. In der Ackerstraße beruhigte die Polizei die Lage, indem sie den Verkauf vermeintlich ausländischer Kartoffeln, über deren Herkunft die Händler keinen Nachweis erbringen konnten, zum Preis von 50 Pfennig das Pfund anordnete. Nach dem 14. Juli flauten [die] Obst- und Kartoffelkrawalle langsam ab.«225 Nachdem die Stadtverwaltung ein energisches Vorgehen gegen den Wucher und die Preistreibereien ankündigte, fanden die Obst- und Kartoffelkrawalle Mitte Juli schließlich ein Ende. Zu einer Beruhigung der angespannten Stimmung in der Bevölkerung trug auch die zeitweilig verbesserte Wirtschaftslage bei. Erst im Herbst 1921 kam es erneut zu Plünderungskrawallen. Da eine angekündigte Erhöhung der Erwerbslosenunterstützung nicht eintrat, griffen nun vor allem junge arbeitslose Männer zum Mittel der kollektiven Selbsthilfe.226 Spontan in großen Gruppen organisiert, zogen
223 Vgl. Wermuth, Beamtenleben, S. 434. 224 Vgl. Lefèvre, Andrea: »Lebensmittelunruhen in Berlin 1920–1923«, in: Gailus, Manfred und Heinrich Volkmann (Hg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990, Opladen 1994, S. 346–360. 225 Ebd., S. 348. 226 Vgl. ebd., S. 349.
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sie ab der zweiten Novemberhälfte mehrfach durch die Berliner Arbeiterviertel und die Innenstadt und drangen gewaltsam in zahlreiche Lebensmittel-, Zigarren- und Kleidungsgeschäfte ein. In erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, versuchte die Polizei meist vergeblich, die »Selbstbedienungsaktionen« unter Kontrolle zu bringen – bis am 22. November ein Demonstrations- und Versammlungsverbot für die Hauptstadt verhängt wurde. Eine weitgehende Beruhigung der arbeitslosen Berliner erreichte die Stadtverwaltung schließlich mit der Anpassung der Erwerbslosenunterstützung an die Inflation.227 Damit wurde das Problem der zunehmenden Lebensmittelteuerung jedoch nicht behoben und es war nur eine Frage der Zeit, bis die massive Geldentwertung neuerliche Subsistenzunruhen auslöste. Die größten Ausschreitungen der Berliner Nachkriegszeit erlebte die Stadt zwei Jahre später während der Hyperinflation. Kurz vor der Ernte kämpften die Berliner im Sommer 1923 erneut mit Versorgungsengpässen, die an Verhältnisse aus der Kriegszeit erinnerten: »Die Kartoffeln wurden knapp. So bildeten sich Kartoffelkolonnen, die in alle Himmelsrichtungen ausschwärmten, um noch alte Kartoffeln bei den Bauern zu ergattern. Diese hatten es nämlich vorgezogen, angesichts zu niedriger Preise, die ihnen der Zwischenhandel bot, und angesichts der hohen Kosten für Verladung und Versand die Kartoffeln selbst zu verfüttern […]. Angesichts des Kartoffelmangels in der Stadt wurde ›Gewitterstimmung in den Markthallen‹ gemeldet. Obwohl die Preise sich verdoppelt hatten, bildeten sich Schlangen ›wie im Krieg‹. […] Ende Juli sprach man von zunehmender Unruhe und wachsender Nervosität bei der Bevölkerung.«228 Zu diesem Zeitpunkt funktionierte nur noch die Versorgung mit Brot halbwegs verlässlich, da sich die Preise für das »Markenbrot« in zumutbaren Grenzen hielten. Die Preisexplosion aller anderen Lebensmittel und Güter trieb die Berliner Bevölkerung jedoch zu hektischen Angst- und Hamsterkäufen. Zugleich führte die Furcht vor Plünderungen zur polizeilichen Überwachung und zum vorzeitigen Schließen vieler Geschäfte. Das knapp werdende Papiergeld und vermehrt aufflammende Streiks verschiedener (städtischer) Betriebe, darunter die Hoch- und Straßenbahnen und die Gaswerke, stifteten Anfang August zusätzlich Verwirrung und sorgten für Erbitterung in der Bevölkerung.229 Verschärft wurde die unruhige Lage durch die nun übliche Orientierung des Handels am täglichen Dollarkurs und die damit einhergehende willkürliche Erhöhung der Lebensmittelpreise. Anfang Oktober nahmen die Preise innerhalb kürzester Zeit phantastische Ausmaße an. Dass es in dieser Situation noch zu keiner Eskalation in Berlin kam, hing wohl in erster Linie mit dem vorherrschenden Demonstrationsverbot und dem Ende September 1923 verkündeten Ausnahmezustand230 zusammen. Die Behörden versuchten außerdem, die Verhältnisse mithilfe des Einsatzes der sogenannten Wucherpolizei zu ordnen. Die mit der Überwachung von Lebensmittelgeschäften und Markthal-
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Vgl. Weipert, Das Rote Berlin, S. 192. Köhler, Berlin, S. 838. Vgl. ebd., S. 839. Die Ausrufung des Ausnahmezustandes durch die Reichsregierung am 30. September 1923 stand nicht mit der Situation in Berlin in Verbindung. Sie war vielmehr eine Folge der Auseinandersetzungen zwischen der Reichsregierung und der bayrischen Regierung.
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len bereits vollständig überlastete Polizei hatte fortan auch die Preise für die Dauer von 24 Stunden festzusetzen und deren Einhaltung zu kontrollieren. Es dauerte jedoch nur wenige Tage, bis das mehr schlecht als recht funktionierende System zusammenbrach. Am 14. Oktober musste auch die Brotkarte aus dem Verkehr gezogen werden. Die Gründe waren, wie Köhler hervorhebt, haarsträubend und bezeichnend zugleich: »Die Kosten für das Papier, den Druck und die Ausgabe der Karten waren zu hoch!«231 Mit der Abschaffung des verbilligten Brotes, des einzigen noch halbwegs sicheren Grundnahrungsmittels, waren die Berliner mit ihrer Geduld schließlich am Ende. Bereits einen Tag nach der Abschaffung der Brotkarte eskalierte die Situation. »In zahlreichen Straßen der typischen Arbeiterquartiere«, schildert Lefèvre, »bildeten sich […] spontane Ansammlungen von Menschen, die erregt über Preise debattierten, in Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte eindrangen und dort Backwaren und Lebensmittel entwendeten.«232 Zwischen dem 24. Oktober und der Einführung der Rentenmark stand die Stadt ganz im Zeichen von Demonstrationen, Hungerunruhen und -tumulten, an denen Berlinerinnen und Berliner jeden Alters beteiligt waren. Allein am 5. November seien Lefèvre zufolge weit über Tausend Fälle kollektiver und antisemitischer Übergriffe auf Geschäfte und Stadtbewohner registriert worden und auch am folgenden Tag zählte die Stadt immer noch mehrere Hundert Plünderungen.233 Zugleich häuften sich in jenen Tagen die Diebstähle auf den Feldern an der Peripherie der Stadt. Trotz eines großangelegten Polizeiaufgebots gelang es den Behörden kaum, den Ausschreitungen Einhalt zu bieten. Immer wieder sei die Vollstreckung polizeilicher Ordnungsmaßnahmen auf entschiedenen Widerstand gestoßen, sodass sich einige Polizeibeamte auch zum Gebrauch ihrer Schusswaffe gezwungen sahen.234 Ein Ende fanden die Unruhen schließlich Anfang Dezember mit der Konsolidierung der Rentenmark. Die Berliner Bevölkerung erhielt ihr Brot wieder zu »gewohnten« Preisen. Nahezu zehn Jahre nach dem Ausbruch des Weltkrieges erlebte die deutsche Hauptstadt ab Anfang des Jahres 1924 endlich die langersehnte langsame Normalisierung der Lebensmittelversorgung. Mit ihr verschwand auch ein Großteil der Massenverpflegungseinrichtungen. Obwohl diese bis zu diesem Zeitpunkt nach wie vor Hundertausende notleidende Berliner versorgten, verloren sie nun nach und nach an Bedeutung.
2.1.1 Nur mehr ein Akt der Wohltätigkeit: Die Berliner Volksspeisung An eine Stilllegung des städtischen Massenverpflegungsbetriebs war in Anbetracht der anhaltenden Ernährungsprobleme und Notverhältnisse nach dem Krieg nicht zu denken. Die nur mäßig besuchte Volksspeisung musste aus Sicht der Berliner Stadtverwaltung vorerst weiterbetrieben werden. Doch die vor allem von den Vertretern der sozialdemokratischen Parteien angestrebte Aufrechterhaltung der Stadtküchen stellte mit fortschreitender Inflation eine schwer zu bewältigende Herausforderung dar. Während der ersten Monate nach dem Krieg griffen die Sozialdemokraten ihre Forderungen aus der Kriegszeit auf und versuchten unter den erschwerten Versorgungsbedingungen der
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Köhler, Berlin, S. 843. Lefèvre, Lebensmittelunruhen, S. 351. Vgl. ebd., S. 353. Vgl. ebd., S. 353f. Vgl. auch Wetzel, Die Inflation, S. 40.
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unmittelbaren Nachkriegszeit eine Verbesserung der Volksspeisung herbeizuführen. Diese bot aus Sicht des USPD-Stadtverordneten Emanuel Wurm, wie Allen darlegt, »die einmalige Gelegenheit […], dem neuen Staat breiten Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern. Die Stadtregierung der Nachkriegszeit würde städtische Verpflegung anbieten, die den Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiterklasse entsprach. Im Gegenzug würde man sich deren Bereitschaft guten Willens [sic!] sichern.«235 Als Bevollmächtigter für das Groß-Berliner Ernährungswesen veranlasste Wurm nicht nur die Öffnung der Großküchen für den Abendbetrieb und die Erweiterung des täglichen Angebots, sondern auch die Abschaffung der unbeliebten wöchentlichen Registrierung.236 Der Magistrat begegnete dem sozialdemokratischen Reorganisierungseifer jedoch mit Skepsis, da ein rationelles Wirtschaften in den Küchen durch die fortgefallene Registrierung kaum mehr möglich war und der Stadt zudem die finanziellen Mittel für ein vielfältiges Mahlzeitenangebot in den Großküchen fehlten. Die Beschaffung der benötigten Lebensmittel war teuer, sodass bereits im März 1919 eine Erhöhung der Portionspreise vorgenommen werden musste. Die Preiserhöhung hielt schließlich noch mehr Berliner von der Volksspeisung fern, was dazu führte, dass das städtische Verpflegungsprogramm erstmals mit ernsten Verlusten zu arbeiten begann.237 Im Laufe des Frühjahrs 1919 sank die tägliche Inanspruchnahme der Küchen von 62.000 auf 35.000 Teilnehmer.238 Diese Entwicklung setzte sich fort. Trotz der verbreiteten Not in der Bevölkerung suchten Anfang des Jahres 1920 nur noch 10.000 bis 12.000 Berliner die Volksspeisung auf. Ein maßgeblicher Grund für den rapiden Rückgang der Besucherzahlen war der Umstand, dass mit der Erhöhung der Portionspreise keine Verbesserung des Mahlzeitenangebots einherging. Die Klagen über die »Schweinereien« in der Volkspeisung und die fehlende Qualität der Speisen hielten weiter an.239 Zugleich waren mit der allmählich verbesserten Lebensmittelversorgung zunehmend weniger Menschen auf die Stadtküchen angewiesen. Ihre schwindende Inanspruchnahme veranlasste die Stadtverwaltung bereits im Sommer 1919 zur Schließung der ersten Zentralküchen und mehrerer Ausgabestellen. Zum Ende desselben Jahres war nur noch die Hälfte der Ausgabestellen in Betrieb.240 Die Küchen in der Treskowstraße/Wörther Straße und der Landsberger Allee waren die letzten beiden verbliebenen städtischen Großküchenstandorte, die den abeb-
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Allen, Hungrige Metropole, S. 77 Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Käber, Berlin, S. 150. Die Volksspeisung gab im Jahr 1919 im Durschnitt 46.000 Tagesportionen aus – gegenüber 53.000 Tagesportionen im Jahr zuvor. Diese Berechnungen basieren auf den Angaben in: Die Wohlfahrtseinrichtungen in der Stadtgemeinde Berlin. Ein Auskunfts- und Handbuch, hg. von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1921/22, S. 32. 239 Vgl. u.a. »Was geht bei der Massenspeisung vor?«, in: Vorwärts, 3. März 1920. »Die Volksspeisung«, in: Freiheit, 20. Februar 1921. 240 Vgl. Käber, Berlin, S. 151. Damit einhergehend wurde die Zahl der (lange ehrenamtlich arbeitenden) Beschäftigten in der Volksspeisung von rund 3.000 auf 300 reduziert. Nach dem Krieg wurden sie für ihre Tätigkeit bei der Stadt angestellt und gehörten somit zum »aufgeblähten und teuren Verwaltungsapparat«. Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 78. Ferner »Der Kampf mit der Not«, in: Vorwärts, 2. Februar 1924.
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benden Bedarf nach der Volksspeisung decken sollten, bis schließlich auch die Küche in der Landsberger Allee im Oktober 1921 stillgelegt wurde. Organisatorisch erfuhr das geschrumpfte Volksspeisungsunternehmen seit dem Sommer des Jahres 1921 noch weitere Veränderungen. So wurde der Volksspeisungsbeirat der städtischen Wohlfahrtsdeputation241 angegliedert, der damit die Oberaufsicht über die Stadtküchen übertragen wurde. Eingebettet in das System der öffentlichen Wohlfahrtspflege wurde die Volksspeisung fortan vor allem der unbemittelten und minderbemittelten Bevölkerung zugänglich gemacht. Insbesondere Kriegsbeschädigte, Kriegshinterbliebene, Erwerbslose sowie Klein- und Sozialrentner erhielten Vergünstigungen beim Bezug der Speisen. Entsprechend der Höhe des monatlichen Einkommens erhielten die Betroffenen das Essen entweder unentgeltlich oder zum ermäßigten Preis. Dabei wurden die vom Magistrat festgelegten Einkommensgrenzen im Laufe der Inflation mehrfach erhöht.242 Mit ihrem Dasein als kommunale »Wohlfahrtsküche« sprach die Volksspeisung immer weniger Berliner an. Mittlerweile unterschied sie sich kaum noch von der Armen-Speisungs-Anstalt (ab 1923 Wohlfahrtsspeisungsanstalt zu Berlin) für unbemittelte Berliner, deren Notlage nicht auf den Krieg zurückging. Gegen Ende des Jahres 1921 lag die durchschnittliche Besucherquote der Volksspeisung in den AltBerliner Bezirken zwischen 9.000 und 11.000 Teilnehmern.243 Fast zwei Drittel der Besucher waren Schulkinder und Studenten. In den ehemaligen Außenbezirken fiel die Inanspruchnahme noch geringer aus. Hier bewegten sich die Teilnehmerzahlen in den einzelnen Bezirken im unteren dreistelligen Bereich.244 Die ausbleibende Teilnahme weiterer Bevölkerungskreise bewegte den Magistrat Anfang des Jahres 1922 schließlich zu dem Entschluss, die Volksspeisung bis Ende April 1922 zu schließen:
241 Die Deputation für allgemeine Wohlfahrt wurde nach dem Krieg eingerichtet. In ihr wurden sämtliche Arbeitsgebiete der öffentlichen Wohlfahrtspflege, die vorher verschiedenen Deputationen zugeordnet waren, zusammengeführt. Ihre Tätigkeitsbereiche umfassten neben der Volksspeisung u.a. das allgemeine Unterstützungswesen einschließlich Armenpflege, Arbeits- und Obdachwesen, Kriegsbeschädigten- und -hinterbliebenenfürsorge. Nähere Erläuterungen zum Berliner Wohlfahrtswesen nach dem Krieg unter 3.1. in diesem Kapitel. 242 Im Oktober 1922 erhielten unbemittelte Berliner mit einem monatlichen Einkommen bis zu 2.000 Mark die Speisen unentgeltlich. Minderbemittelte mit einem Monatseinkommen bis maximal 4.000 Mark bezogen die Speisen zum halben Preis. Vgl. »782. Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 27. Oktober 1922«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 49 (1922), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1922, S. 575–587, hier S. 579. Im April 1923 lagen die Einkommenshöchstgrenzen bei 15.000 Mark (Unbemittelte) bzw. 30.000 Mark (Minderbemittelte). Vgl. »355. Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 20. April 1923«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 14 (1923), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1923, S. 195–204, hier S. 196. Ferner Böß, Die Not, S. 26. 243 Vgl. »Die städtische Volksspeisung«, in: Freiheit, 8. Dezember 1921. Sowie »106. Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 27. Januar 1922«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 6 (1922), S. 75–86, hier S. 84f. 244 In den meisten ehemaligen Berliner Vororten wurden während des Krieges kommunale Volksspeisungs- bzw. Volksküchenunternehmen gegründet. Eine Angliederung dieser Küchen an die AltBerliner Volksspeisung fand nach der Eingemeindung nicht statt. Sie wurden von den jeweiligen Bezirksämtern eigenständig weitergeführt. Ihre Finanzierung war nun jedoch Aufgabe der GroßBerliner Stadtverwaltung.
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»Bei dieser geringen Beteiligung kann, abgesehen von den Schulkindern, für welche die Speisung in anderer Weise organisiert werden soll, eine Notwendigkeit zur Weiterführung der Volksspeisung nicht als vorliegend anerkannt werden. Sie führt, da die vorhandene Küchenanlage nicht voll ausgenutzt wird, andererseits aber die Ausgaben für Lebensmittel, sowie die Betriebskosten dauernd steigen, dazu, daß die Volksspeisung erhebliche Zuschüsse fordert, welche die Stadtgemeinde auf die Dauer nicht zu leisten imstande ist.«245 Der Beschluss zur Aufhebung der Volksspeisung rief jedoch unter den verbliebenen Teilnehmern »eine große Beunruhigung« hervor. Aus allen Ausgabestellen erreichten den Magistrat Petitionen, in denen die wirtschaftlich schlechten Verhältnisse der Volksspeisungsgäste betont wurden.246 Sie alle waren auf ein Fortbestehen der Stadtküchen angewiesen und baten eindringlich darum, den Beschluss aufzuheben. Der Magistrat sah sich daraufhin veranlasst, seine Entscheidung zu überdenken und beschloss, den bedürftigen Bevölkerungskreisen auch weiterhin ein warmes und kräftiges Mittagessen zur Verfügung zu stellen. Da das Kostenproblem der Volksspeisung weiterhin bestehen blieb, suchten die Verantwortlichen nach weiteren Finanzquellen. Neben einer erneuten Anhebung der Portionspreise sollten die Kosten fortan durch »erhöhte Überschüsse« der städtischen Gas- und Elektrizitätswerke bestritten werden.247 Auch diese begrenzten Mittel reichten bald nicht mehr aus, wodurch die Stadtverwaltung in der Folge wiederholt in Bedrängnis geriet. Einerseits war sie mittlerweile wieder von der Notwendigkeit der Fortführung der Volksspeisung überzeugt.248 Andererseits stand die Inanspruchnahme der Stadtküche in keinem Verhältnis zum Aufwand, den die Behörden für die Aufrechterhaltung des Verpflegungsangebots betrieben. Nur mehr 9.000 minderbemittelte Berliner suchten Anfang 1923 täglich die übrig gebliebenen siebzehn Ausgabestellen der Volksspeisung in den Alt-Berliner Bezirken auf.249 Ganz Groß-Berlin zählte rund 18.000 Stadtküchenbesucher, wobei der überwiegende Teil der Teilnehmer die Literportion zum Preis von 228 Mark unentgeltlich bezog. Damit verpflegte die Volkspeisung nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung in der Viermillionenstadt. Der Berliner, erklärte Böß, habe sich nie so recht an die
245 106. Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 27. Januar 1922, S. 85. 246 Vgl. »Vorlage 261g für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 28. April 1922«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 23 (1922), S. 261–269, hier S. 262. Vgl. auch »Weiterbetrieb der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 16. April 1922. 247 Vgl. ebd. Sowie »649. Dringlichkeitsvorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 8. September 1922«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 39 (1922), S. 461–475, hier S. 470f. »Die Teuerungsaktion des Magistrats«, in: Vorwärts, 9. September 1922. Ferner »Teuerung und Volksspeisung«, in: Vorwärts, 15. August 1922. 248 Vgl. Schreiben der Deputation für das Ernährungswesen an den Deutschen Städtetag vom 10. Oktober 1922. LAB, B Rep. 142–01, StB 924. Vgl. auch »761. Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 12. Oktober 1923«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 35 (1923), S. 399–402, hier S. 400. 249 Vgl. Böß, Die Not, S. 26. Ferner »Not und Elend in Berlin«, in: Vorwärts, 24. Januar 1923. »877. Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 11. Dezember 1922«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 57 (1922), S. 649–652, hier S. 649f.
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Volksspeisung gewöhnen können und sei mittlerweile »vollständig davon entwöhnt«.250 Hunderttausende Berliner waren dem sozialen Elend ausgesetzt und dennoch war sich die Stadtregierung sicher, dass die Teilnehmerzahl »[…] nicht mehr die Höhe erreichen [wird] wie während des Krieges, weil die Verhältnisse heute ganz anders liegen als damals. Damals gingen die meisten der Frauen, deren Männer sich im Heeresdienst befanden, dem Broterwerb nach und waren infolgedessen nicht in der Lage, selbst das Mittagessen zu kochen; außerdem gab es auch nicht genügend Lebensmittel in Deutschland; heute dagegen führen die Frauen wieder ihren Haushalt und kochen auch nach Möglichkeit das Mittagessen wieder selbst, heute sind aber auch Lebensmittel vorhanden, und nur deren Beschaffung ist infolge der außerordentlichen Teuerung sehr erschwert. Nur wo die Not zu krasse Formen annimmt, werden die Hausfrauen das Mittagessen aus der Volksspeisung beziehen.«251 An der vorherrschenden Ansicht, dass die Großküche nicht mehr als massentaugliches Mittel zur Linderung der Not in der Bevölkerung betrachtet werden könne, hielt der Berliner Magistrat auch in den Wochen der Hyperinflation fest. Damit war er nicht allein, denn auch zahlreiche weitere deutsche Gemeinden stellten die Zweckdienlichkeit der Massenspeisung in Frage.252 Eine andere Auffassung vertrat hingegen das Preußische Staatsministerium für Volksernährung. Dessen Leiter Hugo Wendorff (1864–1945) rechnete Ende September 1923 mit einer starken Zunahme des Notstands in der Bevölkerung im kommenden Winter und forderte die preußischen Großstädte mit einem Runderlass zur erneuten Einrichtung von Notstandsspeisungen auf: »Die Einrichtung solcher Notstandsspeisungen ist stets eine Aufgabe der Gemeinden gewesen, deren Erfüllung ihnen auch jetzt obliegen wird. Sie werden zu diesem Zwecke die aus der Kriegszeit bei ihnen etwa noch bestehenden Einrichtungen wieder auszubauen und dort, wo solche nicht mehr vorhanden sind, wieder einzurichten haben. […] Die Kosten der Durchführung der Notstandsspeisungen sind, da staatliche Mittel hierfür zur Zeit leider nicht zur Verfügung gestellt werden können, von den Gemeinden unter Mitverwendung der durch die freiwilligen Sammlungen eingehenden Mittel zu tragen.«253 Noch bevor die preußischen Gemeinden auf den Erlass reagieren konnten, setzte das Ernährungsministerium die Bevölkerung über die bevorstehende Volksspeisungsaktion in Kenntnis. Mit seinem Aufruf zur »Hilfe für hungernde Volksgenossen«, den die Berliner Tageszeitungen am 29. September veröffentlichten, versuchte das Ministerium die dringend benötigten Spendenmittel einzutreiben.254 Die Hauptstadtpresse zeigte 250 Vgl. »Der Abbau der Not«, in: Vorwärts, 3. September 1922. 251 Schreiben der Deputation für das Ernährungswesen an den Deutschen Städtetag vom 10. Oktober 1922. LAB, B Rep. 142–01, StB 924. 252 Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 80f. 253 Schreiben des Preußischen Staatskommissars für Volksernährung an die Herren Regierungspräsidenten und Herrn Oberpräsidenten in Berlin vom 29. September 1923. LAB, B Rep. 142–01, StB 924. 254 Vgl. hierzu u.a. »Hilfe für hungernde Volksgenossen!« in den Morgen-Ausgaben der Berliner-Börsen-Zeitung, des Berliner Tageblatts, der Vossischen Zeitung und des Vorwärts, 29. September 1923.
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sich jedoch zugleich wenig überzeugt von den Plänen des Staatskommissars. Die Aktion komme »ein wenig spät« und sei »nichts als eine schöne Geste«.255 Die Gemeinden reagierten derweil mit Bestürzung und Unmut auf das Vorgehen Wendorffs, da »dieser Erlass ergangen ist, ohne dass darüber vorher eine Fühlungnahme mit den Vertretern der Gemeinden stattgefunden hat«256 . Die Wiedereinführung der Massenküche wurde von Seiten der Gemeindevertretungen rundweg abgelehnt. In einer Mitteilung setzte der Deutsche Städtetag den Staatsminister über ihre grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der Massenverpflegung in Kenntnis. Hierbei wurde nicht nur die verbreitete »starke Abneigung gegen die Massenküchen« in der Bevölkerung betont, sondern auch deren Wirtschaftlichkeit in Frage gestellt: »Abgesehen davon, dass mit Abfällen und Resten weit weniger gespart wird, als in einem privaten Haushalt, [und] dass die Verteilung des zentral hergerichteten Essens auf die verschiedenen Speisestellen und die Einrichtung von Speiseräumen erhebliche Sonderaufwendungen erfordern, stellt der Brennstoffaufwand für die Massenküchen einen ziemlich reinen Verlustfaktor dar, weil in der Mehrzahl der Haushaltungen die Feuerung zum Kochen zugleich zur Erwärmung der Räume dient.«257 Darüber hinaus verwiesen die Gemeindevertreter auf die außerordentlichen Kosten dieser Aktion, die die finanziell schwer angegriffenen Gemeindehaushalte nicht ohne »beträchtliche Staatsmittel« bestreiten konnten.258 Durch den Erlass stünden die Gemeinden nun unter einem »so starken moralischen Druck vor der Öffentlichkeit«, dass sie sich den an sie gestellten Forderungen »nur sehr schwer werden entziehen können«. Der Preußische Staatskommissar wies die hervorgebrachten Einwände des Städtetages zurück und unterstrich nochmals die zwingende Notwendigkeit der Massenversorgung. »Sollten weitere Schichten der Bevölkerung unter Mangel an Nahrung leiden,« erklärte Wendorff, »so könnten sich hieraus in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht Schwierigkeiten ergeben, deren Folgen nicht übersehbar sind.«259 Inmitten der chaotischen Wochen der Hyperinflation sah sich die Hauptstadtverwaltung nun gezwungen, das Volksspeisungswesen einer Generalüberholung zu unterziehen. Hierbei drängte die SPD auf eine Erweiterung des Empfängerkreises für die unentgeltliche Speiseabgabe, die von allen Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung befürwortet wurde.260 Bereits im Frühjahr 1923 kritisierte der Vorwärts die unerschwinglichen Preise des Mittagessens, das sich nur noch die wenigsten zuzahlenden Kostgänger
255 Vgl. »Die Volksspeisungsaktion«, in: Vorwärts, 26. September 1923. »Notverpflegung im Haushalt«, in: Vossische Zeitung, 11. Oktober 1923. 256 Schreiben des Deutschen Städtetags an den Preußischen Herrn Minister des Inneren vom 4. Oktober 1923. LAB, B Rep. 142–01, StB 924. 257 Ebd. 258 Vgl. ebd. Vgl. auch Mitteilung des Preußischen Städtetages an die Preußischen Mitgliedstaaten vom 4. Oktober 1923. LAB, B Rep. 142–01, StB 924. 259 Schreiben des Preußischen Staatskommissars für Volksernährung an den Deutschen Städtetag vom 16. Oktober 1923. LAB, B Rep. 142–01, StB 924. 260 Vgl. »Ausbau der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 3. Oktober 1923. Sowie »Die Notmaßnahmen der Stadt«, in: Vorwärts, 17. Oktober 1923. Ferner »Die Volksspeisungsaktion«, in: Vorwärts, 18. Oktober 1923.
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leisten konnten. Zwischen Mitte März und Mitte Oktober 1923 waren die Kosten für die Literportion von 576 Mark auf 16,8 Millionen Mark gestiegen.261 Gegen Ende Oktober betrug der Portionspreis rund 140 Millionen Mark. Da die finanziellen Ressourcen für die geforderte Ausweitung der unentgeltlichen Speiseabgabe nicht ausreichten, machte die Stadtverwaltung ihre Umsetzung von der Höhe der Spendengelder abhängig. Zugunsten der Volksspeisung wurden Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert und auch eine nicht unumstrittene Tanzsteuer eingeführt.262 Doch die dadurch eingenommenen Mittel reichten gerade, um den Fortbestand der Volksspeisung zu sichern. Der Vorwärts beklagte die unzureichende finanzielle Unterstützung der preußischen Regierung und teilte mit, dass die Erträge der Sammlungen nicht ausreichten, um den Empfängerkreis für die unentgeltliche Speiseabgabe auszuweiten.263 Auf dem Höhepunkt der Inflation und in den schwierigen ersten Monaten des Jahres 1924 zählte die Volksspeisung im gesamten Groß-Berliner Stadtgebiet gerade einmal 20.000 Besucher täglich.264 Etwa die Hälfte der Küchenteilnehmer bestritt die Kosten für die Mahlzeiten als »Vollzahler« aus eigener Tasche. Es ist fraglich, ob die von der SPD geforderte Ausdehnung des unentgeltlich versorgten Teilnehmerkreises eine signifikante Steigerung der Besucherzahlen herbeigeführt hätte. Die geringe Inanspruchnahme der Volksspeisung stand in keinem Verhältnis zur verbreiteten Not in der Bevölkerung. Bereits ohne die Ausweitung des Empfängerkreises fiel die Gruppe der unbemittelten Berliner, die zur kostenlosen Speisung berechtigt waren, größer aus als die Zahl der tatsächlich unentgeltlich Verpflegten. Da die Besucherzahlen die einzigen verfügbaren Quellen sind, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, was die Mehrheit der Berliner tatsächlich von der Volksspeisung gehalten hat. Aus den Zahlen in den katastrophalen Inflationsjahren lässt sich jedoch schließen, was die breite Masse der Hauptstadtbevölkerung bereits während des Krieges deutlich zu erkennen gab: die Berliner waren nicht gewillt, ihre Not vor aller Augen preiszugeben. Mehr denn je wollten sie ihren Stolz wahren und lehnten das »Almosen-Mittagessen« der städtisch-organisierten Wohltätigkeit ab. Für einige der erwerbslosen und von Armut betroffenen Berliner, von denen es auch in den Jahren der wirtschaftlichen Stabilisierung und des industriellen Aufschwungs ab Vgl. »Unerschwingliche Preise bei der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 15. März 1923. »Was kostet das Essen der Volksspeisung«, in: Vorwärts, 19. Oktober 1923. 262 Vgl. »Für die Volksspeisung«, in: Vorwärts, 30. Dezember 1923. »Eine Tanzsteuer«, in: Vorwärts, 6. Januar 1924. Sowie »Das Wohlfahrtsopfer der Tanzlustigen«, in: Vorwärts, 12. Januar 1924. Die »Wohltätigkeitstanzerei« wurde sowohl von den Vertretern der städtischen Wohlfahrtspflege als auch von den privaten Berliner Wohlfahrtsorganisationen abgelehnt. »Die städtische und die Freie Wohlfahrtspflege […]«, so die Sozialreformerin Wronsky, »kennen den Ernst der Notlage der Berliner Bevölkerung und sind mit allen Kräften bemüht, dieser Not durch Opferbereitschaft aller Schichten zu begegnen. Dazu sollen alle Mittel dienen, die aus der Erkenntnis sozialer Verpflichtung heraus fließen, alle Mittel, die von dem Gedanken der Nächstenliebe und Verbrüderung getragen sind. Mit schärfster Entschiedenheit sind aber alle Mittel abzulehnen, die in gedankenloser Weise die Not des Volkes zum Vorwand der Vergnügungssucht machen […].« Siehe hierzu »Der Kampf mit der Not«, in: Vorwärts, 2. Februar 1924. Zur »Tanzmanie der Nachkriegszeit« vgl. Torp, Konsum, S. 78f. 263 Vgl. »Arbeiterwohlfahrt und Notdienst«, in: Vorwärts, 15. November 1923. 264 Vgl. »Selbsthilfe und Auslandshilfe in Berlin«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 10. April 1924. »Die Notmaßnahmen der Stadt«, in: Vorwärts, 17. Oktober 1923.
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Mitte der 1920er Jahre noch immer Hunderttausende gab, blieb die Volksspeisung unbestreitbar eine unverzichtbare Fürsorgeeinrichtung.265 Vor allem während der Weltwirtschaftskrise ab 1929 sollte sie von den notleidenden Berlinern noch einmal vermehrt in Anspruch genommen werden.266 Für die Mehrheit ihrer Küchenbesucher war und blieb die ursprünglich für jedermann gedachte Volksspeisung jedoch nicht mehr als ein Notbehelf der Kriegs- und Krisenzeit. Spätestens mit der Verbesserung der Berliner Versorgungsverhältnisse entwickelte sich die von Anfang an allseits verschmähte Volksspeisung in großen Schritten zu dem, was sie zum Zeitpunkt ihrer Gründung niemals zu sein beabsichtigte – einem »unbeliebten« Akt der Wohltätigkeit.
2.1.2 Der Gedanke zündet nicht: Philanthropische und betriebliche Massenverpflegung Neben der Volksspeisung existierte in den Jahren nach dem Krieg weiterhin eine kaum zu überschauende Zahl privat-wohltätiger und betrieblicher Speiseeinrichtungen, die nach wie vor auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Ansprüche der Berliner zu reagieren versuchten. Wie die Volksspeisung kämpften auch diese Massenverpflegungsbetriebe mehrheitlich mit den Härten der Inflation. Anders als noch zur Kriegszeit fiel es auch ihnen nach dem Krieg immer schwerer, die Berliner für ihre Speiseangebote zu gewinnen. Wie andere Wohltätigkeitsvereine und -einrichtungen wurde auch der überwiegende Teil der privat-wohltätigen Großküchen durch Spenden und »Liebesgaben« aus den wohlhabenderen Kreisen finanziert. Die Vermögensverluste des mittleren und Kleinbürgertums infolge der Geldentwertung bewirkten zwangsläufig eine abnehmende Spendenbereitschaft und einen Rückgang des bürgerlichen Engagements für wohltätige Zwecke.267 Zahlreiche philanthropische Einrichtungen waren nicht mehr imstande, ihre vielfach langjährige Wohltätigkeitsarbeit fortzuführen. Zu den Betroffenen zählte auch der Verein für Kindervolksküchen, der in den revolutionären Novembertagen 1918 sein 25-jähriges Bestehen feierte. In den Nachkriegsjahren arbeitete Abrahams Verein mit immer größeren Verlusten. Anfang des Jahres 1921 sah er sich schließlich gezwungen, den Betrieb seiner sechzehn Mittelstands- und Beamtenküchen, die bis zuletzt rund
265 Gleiches gilt für die von der Stadt weiterhin finanzierten Armenküchen der Wohlfahrtsspeisungsanstalt zu Berlin. Ihre Inanspruchnahme sank zwischen November 1923 und November 1924 von rund 11.500 auf etwa 2.800 Tagesportionen. Seit Ende 1924 bis Anfang 1929 schwankte die Portionenzahl zwischen 2.000 und 4.000 Portionen täglich. Vgl. hierzu Geschäftsbericht der Wohlfahrtsspeisung zu Berlin e.V. vom 1. Oktober 1927 bis 31. März 1929. LAB, A Rep. 060–21, Nr. 28. Im Jahr 1927 unterhielt das städtische Wohlfahrtsamt in sechzig kommunalen Ämtern Volksspeisungseinrichtungen. Die Wohlfahrtsspeisung umfasste zu diesem Zeitpunkt noch immer vierzehn Küchenstandorte. Vgl. Die Wohlfahrtseinrichtungen in der Stadtgemeinde Berlin (Graubuch). Ein Auskunftsund Handbuch, hg. vom Archiv für Wohlfahrtspflege Berlin, Berlin 1927, S. 17. Siehe hierzu auch das »Verzeichnis der gemeinnützigen Speiseeinrichtungen in Berlin«, in: ebd., S. 329ff. Zur Erwerbslosigkeit in Berlin vgl. Glatzer, Berlin zur Weimarer Zeit, S. 233. 266 Vgl. Torp, Konsum, S. 75. 267 Vgl. Juchacz, Marie und Johanna Heymann: Die Arbeiterwohlfahrt. Voraussetzungen und Entwicklung, Berlin 1924, S. 17f. Vgl. auch Allen, Hungrige Metropole, S. 85.
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4.000 Gäste täglich zählten, einzustellen.268 Doch nicht nur die philanthropischen Großküchen, sondern auch kommerzielle Massenverpflegungseinrichtungen wie die Aschinger-Betriebe und die Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft kämpften nach dem Krieg ums Überleben. Letztere zählte im ersten Halbjahr 1919 nahezu 30.000 Besucher täglich und kam dennoch nicht umhin, ihre neun Speisehallen im Juli 1919 zu schließen.269 Trotz solcher Entwicklungen blieben dem Berliner Massenverpflegungswesen der Nachkriegszeit weiterhin viele Großküchen erhalten, die während des Krieges an Bedeutung gewonnen hatten. So blieb z.B. die Gulaschkanone der Heilsarmee ein vertrautes Bild im Berliner Alltag. Umlagert »von Ketten Armer und Alter« versorgten fünfzehn Feldküchen im Frühjahr 1924 täglich rund 3.500 Berliner.270 Darüber hinaus zählten die Küchen des Vaterländischen Frauenvereins im Februar 1924 22 Standorte, die täglich bis zu 5.000 Portionen ausgaben.271 Die kirchliche Wohlfahrtspflege unterhielt zusammen mehr als 130 Küchen und Speiseausgabestellen, die täglich über 20.000 Portionen verteilten. Weitere 2.500 Portionen wurden von siebzehn jüdischen Wohlfahrtsküchen bereitgestellt, zu denen weiterhin auch die rituelle Küche des Israelitischen Heimathaus von Abraham gehörte. Auch der Verein der Berliner Volksküchen von 1866 blieb nach dem Krieg aktiv, betrieb jedoch deutlich weniger Küchen als vor dem Krieg.272 Der Deutschen Allgemeinen Zeitung zufolge wurden Anfang des Jahres 1924 in ganz Berlin täglich etwa eine Viertelmillion Portionen verabreicht. Mehr als die Hälfte davon trugen die philanthropischen Küchenbetriebe bei.273 Die Schließung vieler Einrichtungen während der Nachkriegsjahre verminderte die Leistungen des privat-wohltätigen Massenverpflegungswesens kaum, was vor allem auf die Gründung zahlreicher neuer Verpflegungseinrichtungen zurückzuführen ist. Zu erwähnen sind hierbei die Aktivitäten der im Dezember 1919 gegründeten Arbeiterwohlfahrt, die als eigenständige Wohlfahrtsorganisation der Sozialdemokratie ein umfassendes Netzwerk an Fürsorgeeinrichtungen aufbaute. Neben Kinderbetreuungsstätten, Nähstuben und Beratungsstellen organisierte die »Selbsthilfe der Arbeiterschaft« in verschiedenen Berliner Bezirken eine Reihe von Notspeisungen und unentgeltlichen Mittagstischen, die Hunderten Kindern und
268 Vgl. »Die billige Mahlzeit – Müssen die Mittelstandsküchen eingehen?«, in: Vorwärts, 3. März 1920. »Hungerlöhne«, in: Freiheit, 31. Dezember 1920. »Das Ende der Massenspeisungen«, in: Freiheit, 22. Januar 1921. Ferner Allen, Hungrige Metropole, S. 79. 269 Vgl. »Volksernährung in Groß-Berlin«, in: Vorwärts, 14. Juli 1919. »Zur Schließung der Volkskaffees und Speisehallen«, in: Vorwärts, 20. Juli 1919. 270 Finanziert wurden die Gulaschkanonen der Heilsarmee hauptsächlich mithilfe von Sammlungen des Berliner Tageblatts. Vgl. »Selbsthilfe und Auslandshilfe in Berlin«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 10. April 1924. Sowie Lange, Berlin in der Weimarer Republik, S. 433. 271 Vgl. hierzu und den folgenden Ausführungen »Selbsthilfe und Auslandshilfe in Berlin«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 10. April 1924. 272 Der Verein konnte im Alt-Berliner Stadtgebiet nur eine Küche aufrechterhalten. Eine weitere unterhielt er im Berliner Bezirk Lichtenberg. Vgl. Die Wohlfahrtseinrichtungen in der Stadtgemeinde Berlin, S. 32. Sowie »Verzeichnis der gemeinnützigen Speiseeinrichtungen in Berlin«, in: Graubuch 1927, S. 329ff. 273 Abzüglich der Leistungen der Volksspeisung, der städtischen Armenküchen und der ausländischen Hilfsaktionen gaben die philanthropischen Großküchen rund 130.000 Portionen täglich aus. Vgl. hierzu »Selbsthilfe und Auslandshilfe in Berlin«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 10. April 1924.
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arbeitslosen Jugendlichen zugutekamen.274 Darüber hinaus schloss sich die Arbeiterwohlfahrt im November 1923 mit verschiedenen Berliner Frauenorganisationen zum »Notdienst Berliner Frauen« zusammen, der während der Wintermonate in allen Berliner Stadtteilen zahlreiche »Gastküchen« für die notleidende Bevölkerung organisierte.275 Nahezu zeitgleich startete in Berlin ein weiteres Großküchenprojekt für den verarmten Berliner Mittelstand. Am 22. Oktober 1923 eröffnete im Apothekenflügel des Berliner Stadtschlosses eine Mittelstandsküche für rund 1.000 Personen. Ihre Initiatorin war keine Geringere als die Österreicherin Eugenie Schwarzwald, die seit Anfang 1917 mit dem Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen in Wien regen Zuspruch erfuhr. Die Not in Berlin veranlasste die bestens vernetzte Sozialreformerin zur Gründung eines »Aktionskomitees« – die Österreichische Freundeshilfe. Mit ihr wollte Schwarzwald die Idee des Gemeinschaftsmittagstischs für »Notleidende der geistigen Berufe« auch in Berlin umsetzen. Die Berliner Stadtverwaltung empfing die »Mutter« der Wiener Gemeinschaftsküchen mit offenen Armen und »stellte Tische und Stühle zur Verfügung, mit denen die angrenzenden Räume [der Schlossküche] in Speisesäle verwandelt wurden«276 . Die Ausstattung der Küche finanzierte ihre Gönnerin mit einem Kredit des Österreichischen Verbands der Banken und Bankiers. Während der ersten Wochen ihres Bestehens erhielt die erste Berliner Schwarzwald-Küche regen Zuspruch: »An sauber gedeckten Tischen wird gegessen, Blumentöpfe stehen auf den Borden; nichts, was irgendwie nach ›Abspeisung‹ aussieht. Man hat Gelegenheit, von der Mahlzeit zu kosten. Wienerische Küche, das besagt alles. Ein Blick auf das Publikum. Menschen, denen man es ansieht, daß sie entweder ›unter Tarif‹ bezahlt werden oder stellungslos sind oder – wie die alten Leutchen dort am Fenster – nicht mehr von ihrer Hände Arbeit sich ernähren können, Menschen auch, die trotz allem immer noch darauf halten, sich mit einem reinen Kragen zu Tisch zu setzen.«277 Das Mittagessen für 400 Millionen Mark bzw. dreißig Goldpfennig konnten sich dennoch viele der anstehenden Speisewilligen nicht leisten – zum Bedauern der Küchengründerin: »Tausende gehen weinend weg. Die wenigen, die es zahlen können, dünken sich glücklich und geborgen; [… d]ie übrigen lassen sich meistens nur mit Hilfe der Polizei entfernen, weil sich die Hungernden durch kein Zureden bereden lassen, das Tor der Gaststätte, nach der sie sich sehnen, zu verlassen. Es ist eben wirkliche Hungersnot in Berlin.«278 274 Vgl. Juchacz/Heymann, Arbeiterwohlfahrt, S. 116f und S. 121f. »Unsere Nothilfe«, in: Vorwärts, 9. Dezember 1923. Zur Gründung und Entwicklung der Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in den 1920er Jahren vgl. ausführlich Kufferath, Philipp und Jürgen Mittag: Geschichte der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Bonn 2019, insb. S. 65ff. 275 »Arbeiterwohlfahrt und Notdienst«, in: Vorwärts, 15. November 1923. »Ein Notdienst der Berliner Frauen«, in: Vorwärts, 24. November 1923. »Der Notdienst Berliner Frauen«, in: Vorwärts, 3. Februar 1924. Ferner Eifert, Christiane: Frauenpolitik und Wohlfahrtspflege. Zur Geschichte der sozialdemokratischen »Arbeiterwohlfahrt«, Frankfurt a.M. 1993, S. 59f. 276 Holmes, Deborah: Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald, St. Pölten 2012, S. 228. 277 »Satt zu essen«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 23. Oktober 1923. 278 Schwarzwald, Eugenie: »Ein Hilferuf aus Berlin«, in: Neues Wiener Tagblatt, 28. Oktober 1923.
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In den Wiener Zeitungen rief Schwarzwald zum Spenden auf, um weitere Küchen und vor allem Freispeisungen zu finanzieren. Im Laufe des Winters 1923/24 eröffnete die Österreichische Freundeshilfe eine »Arbeitslosenküche« in der Nordbahnstraße in Pankow, eine »Künstlerküche« im Keller des Neuen Schöneberger Rathauses und eine »Ärzteküche« in der Kurfürstenstraße.279 Doch anders als in Wien erlebten die vier Gemeinschaftsküchen in Berlin, die zusammen mehr als 2.000 Personen verpflegen konnten, keinen vermehrten Zulauf. Anfang Juni 1924 berichtete der Vorwärts über ihre geringe Inanspruchnahme und betonte, dass diese nicht als günstiges Zeichen für eine verbesserte Lage des Mittelstandes gewertet werden könne. Der Grund sei vielmehr darin zu suchen, »daß die von der Zeit besonders entschlußlos gewordenen Kreise sich in voller Teilnahmslosigkeit lieber dem allmählichen Selbstmord ergeben, als die ihnen gebotenen Lebensmöglichkeiten auszunützen«280 . Da die Speiseteilnehmer ausblieben, musste der Betrieb der unrentablen Pankower Küche bereits im September 1925 eingestellt werden. Regen Zuspruch erhielten die österreichischen Schwarzwald-Küchen lediglich von den Studierenden, was die Freundeshilfe dazu bewog, auch an den verschiedenen Berliner Hochschulen und der Charité mehrere Gemeinschaftsküchen einzurichten. Doch auch diese Einrichtungen betrieb Schwarzwald nur geraume Zeit. Im Frühjahr 1927 fasste sie den Entschluss, ihre Großküchenaktivitäten in Berlin einzustellen. Anders als in Wien, wo sich ihre Verpflegungseinrichtungen nach dem Krieg wachsender Beliebtheit erfreuten, zündete der Gedanke der Gemeinschaftsküchen in Berlin nicht.281 Ende Mai 1927 übergab Schwarzwald den Großteil ihrer Küchen dem Berliner Studentenwerk. Die übrigen Einrichtungen übernahmen private Pächter. So verlor die deutsche Hauptstadt nach dem Kindervolksküchenverein eine weitere bedeutende Förderin der Mittelstandsküche. Auch wenn die philanthropische Mittelstandsverpflegung damit nicht gänzlich aus dem Berliner Stadtbild verschwand, so macht ihre Entwicklung nach dem Krieg doch deutlich, dass sie für die betroffenen Bevölkerungsgruppen langfristig keine ansprechende Alternative zum privaten Mittagstisch darstellte.282 Wie die Volksspeisung blieb auch die Mittelstandsküche in Berlin nicht mehr als ein »Notbehelf«, der lediglich in Krisenzeiten vermehrt Akzeptanz erfuhr. Von der Rückkehr der Berliner zu »gewohnten« Verhältnissen und der abnehmenden Bedeutung der Massenverpflegung nach dem Krieg waren nicht nur die privatwohltätigen und kommunalen Großküchen betroffen. Auch die betriebliche Massenverpflegung, die vor allem ab der zweiten Kriegshälfte in den kriegswichtigen Unternehmen vermehrt eingerichtet wurde, erlebte durch den Krieg keinen nachhaltigen Aufschwung. Im Jahr 1925 zählte Berlin mehr als 3.700 gewerbliche Großbetriebe, von denen nur wenige über eine Betriebsspeisung verfügten. Hierzu gehörten mit Borsig, Siemens-Schuckert, der AEG und der Papierfabrik Max Krause vor allem solche Unternehmen, die über einen hohen Anteil weiblicher Arbeitskräfte verfügten und bereits vor dem Krieg eine
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Vgl. Deichmann, Leben mit provisorischer Genehmigung, S. 187 und S. 194. »Die ungenützte Künstlerhilfe«, in: Vorwärts, 3. Juni 1924. Vgl. Holmes, Langeweile, S. 230. Im Jahr 1927 gab es in Berlin nach wie vor eine kleine Zahl an Mittelstandsküchen, die von verschiedenen philanthropischen Vereinen betrieben wurden. Vgl. »Verzeichnis der gemeinnützigen Speiseeinrichtungen in Berlin«, in: Graubuch 1927, S. 329ff.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
umfassende Arbeiter-Wohlfahrtspflege betrieben. Nach einer Umfrage der Berliner Gewerbeaufsichtsämter im Sommer 1921 unterhielten darüber hinaus auch die Glühlampenfabrik der Auerlicht-Gesellschaft, die Osram-Werke sowie die Zigarettenfabrik Massary großzügige Speiseeinrichtungen und Fabrikküchen.283 Insgesamt blieb die Betriebsverpflegung eine Ausnahmeerscheinung, die sich im Alltag der Berliner Arbeiterschaft nur stellenweise durchsetzte. Ulrike Thoms kam bereits vor einigen Jahren im Rahmen ihrer Forschungen zum betrieblichen Kantinenwesen in Deutschland zu dem Ergebnis, dass der Weltkrieg – anders als z.B. in England – nicht zu einer »merklich größeren Akzeptanz« beitrug: »Trotz der Bemühungen der Werksleitungen, im Hinblick auf die Produktivität die knappen Rationen aus eigenen Mitteln aufzustocken, blieb die Nutzung der Kantinen trotz gewährter Extrazulagen eher dürftig, zumal diese Zuteilungen schließlich enorm absanken. Nach Ende des Ersten Weltkrieges hing ihnen lange das negative Bild der Massenspeisungskost an.«284 Nicht wenige der zu Kriegszeiten rasch hergerichteten Betriebs- und Werksspeisungen wurden aufgrund ihrer geringen Inanspruchnahme und der hohen Kosten für die Unternehmer nach dem Krieg wieder aufgegeben. Hierzu gehörte in Berlin u.a. die Metallwarenfabrik Ludwig Loewe & Co., die im September 1921 den Betrieb ihres fünf Jahre zuvor eingerichteten Werkkonsums und die »Verabfolgung von Mittagessen aus der Massenspeisung der Stadt Berlin«285 wegen mangelnder Beteiligung der Belegschaft einstellte: »Als die Zahl der [Speise-]Teilnehmer von über 400 auf etwa 20 Personen zurückgegangen war, weil die Leute wieder in der Lage waren sich selbst besseres Essen zuzubereiten, lohnte sich die Abholung durch ein mit 2 Personen besetztes Fuhrwerk nicht mehr und musste aus diesem Grunde eingestellt werden. Weder die Arbeiter noch der Betriebsrat sind bisher mit neuen Wünschen über die Wiedereinführung des Werkkonsums oder der Massenspeisung an die Fabrikleitung herangetreten.«286 Entwicklungen wie diese schließen nicht aus, dass es in der Arbeiterschaft dennoch vereinzelt Bestrebungen gab, eine Werksverpflegung einzuführen oder eine bestehende Betriebsverpflegung in Eigenregie weiterzuführen. Wie vor dem Krieg zog es der Großteil der Arbeiter jedoch weiterhin vor, andere Verköstigungsmöglichkeiten und -angebote in Anspruch zu nehmen. Viele Berliner verbrachten ihre knapp bemessene Mittagspause in den Aschinger-Schnellrestaurants. Die preiswerten belegten Brötchen und Bockwürste mit Kartoffelsalat waren nach wie vor beliebt und das nicht nur unter den Arbeitern.
283 Vgl. die Berichte der Gewerbeaufsichtsämter an den Polizeipräsidenten betreffend Fabriken mit hervorragenden Wohlfahrtseinrichtungen und überwiegend weiblichen Arbeitskräften. LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1418, Bl. 144ff. 284 Thoms, Essen, S. 214. Niehuss hebt hervor, dass sich die Werksküche dennoch »mancherorts eingebürgert« habe. Vgl. Niehuss, Lebensweise, S. 251. Vgl. auch Schilling-Voß, Die Sonderernährung, S. 66. 285 Schreiben des Gewerbeaufsichtsamts Berlin-Tiergarten an den Polizeipräsidenten von Berlin vom 7. Februar 1923. LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1418, Bl. 187. 286 Ebd., Bl. 187f.
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»[A]lle Welt aß bei Aschinger«287 , so der Berlin-Biograf Jens Bisky über das Leben in der deutschen Hauptstadt der 1920er Jahre. Sei es der Verzehr selbst mitgebrachter Speisen, die Teilnahme an der Betriebsspeisung oder der Besuch kommerzieller »Express-Speisedienstleister« – die Außer-Haus-Verpflegung war durch das begrenzte Zeitregime am Arbeitsplatz weiterhin im Zunehmen begriffen und gehörte für viele Werktätige in Berlin auch nach dem Krieg zum Alltag.288
2.1.3 Internationale Kinderspeisung: Das ungenutzte Potential der Quäkerhilfe Das Berliner Massenverpflegungswesen der Nachkriegszeit war nicht nur durch den Fortbestand vieler »altgedienter« Großküchen der Kriegszeit gekennzeichnet. Die Existenz öffentlicher Massenspeisungen wurde auch – das zeigt das Mittelstandsküchenunternehmen der Österreichischen Freundeshilfe – durch private Hilfsinitiativen aus dem Ausland gefördert. Die »deutsche Not« der Nachkriegs- und Inflationszeit rief zahlreiche internationale Wohltätigkeitsorganisationen auf den Plan, die vielfach angestoßen durch Auslandsdeutsche in ihren Ländern große Spendenaktionen ins Leben riefen und in Deutschland mannigfache Hilfsangebote auf den Weg brachten.289 Die Empfänger der »Auslandshilfe« waren vor allem Kinder, die keine Schuld am Krieg traf und die besonders nachhaltig von den schwierigen Ernährungsverhältnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit betroffen waren. Rund 75 Prozent der in größeren Städten und Industriegebieten lebenden deutschen Kinder galten 1919 als ernsthaft unterernährt.290 Noch 1924 litten viele dieser Kinder unter schweren Mangelkrankheiten wie Tuberkulose, Skrofulose, Rachitis und Blutarmut. Dem »Kinderelend« begegneten die internationalen Hilfsorganisationen mit Erholungsaufenthalten im Ausland und vor allem mit der Einrichtung unzähliger Suppenküchen und Kinderspeisestellen. Allein in Berlin bewerkstelligten Hilfskomitees aus Norwegen, Schweden, Dänemark und den Niederlanden die Speisung Zehntausender Kinder. Hierbei arbeiteten sie zumeist mit lokalen Wohltätigkeitsorganisationen und erfahrenen Hilfskräften des Berliner Massenverpflegungswesens zusammen. Den mit Abstand bedeutendsten Beitrag zur Versorgung der Berliner Kinder leistete die amerikanische Quäkerspeisung, die zu Beginn des Jahres 1920 in vielen Teilen Deutschlands eingerichtet wurde und fünf Jahre
287 Bisky, Berlin, S. 470f. Vgl. auch Allen, Hungrige Metropole, S. 106. 288 Vgl. Demps, Laurenz: »Licht und Schatten. Alltag in der Großstadt«, in: Görtemaker, Manfred (Hg.), Weimar in Berlin. Porträt einer Epoche, Berlin 2002, S. 36–61, hier S. 42. Ferner Pracht, Elfi: M. Kempinski & Co., Berlin 1994, S. 69. Klein, Michael: »Unternehmensgeschichte: Aschinger’s Aktien Gesellschaft«, in: Findbuch Aschinger-Konzern, Bestandsgruppe A Rep. 225 des Landesarchivs Berlin, Berlin 2003, S. IV-XXIII, hier S. VIII. 289 Zum Umfang und den Strukturen der »Auslandshilfe« in Deutschland wurden mittlerweile eine ganze Reihe von Studien veröffentlicht. Siehe hierzu u.a. Kreyenpoth, Johannes: Die Auslandshilfe für das Deutsche Reich, Stuttgart 1932. Sowie Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 60–102. Cox, Hunger, S. 275–365. 290 Vgl. Cox, Hunger, S. 304. Drei Jahre später waren noch immer sechzig Prozent der Kinder in Deutschland unterernährt. Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 85. Hierzu ausführlich Henriques, Clara: »Notwendigkeit öffentlicher Kinderspeisung«, in: dies. (Hg.), Kinderspeisung, Weimar 1926, S. 5–41, hier S. 23ff.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
lang einen festen Platz im Alltag vieler unterernährter Klein- und Schulkinder einnahm. Der Initiator der amerikanischen Kinderfürsorgeaktion war der Leiter der United States Food Administration und spätere US-Präsident Herbert Hoover (1874–1964), der seit dem Ende des Krieges im Auftrag seiner Regierung den Wiederaufbau in Europa unterstützte.291 Während der Zeit des Waffenstillstandes betrieb er mit der von ihm ins Leben gerufenen American Relief Administration (ARA) in den von Lebensmittelnot betroffenen Staaten Europas eine umfangreiche Ernährungsfürsorge. Auch nach dem Ende dieses Einsatzes im Sommer 1919 sah Hoover weiterhin Handlungsbedarf. Nicht nur die schlechte Versorgungslage vieler europäischer Länder war aus Sicht vieler westlicher Beobachter besorgniserregend, sondern auch die damit zusammenhängende Gefahr von Unruhen und revolutionären Ausschreitungen nach bolschewistischem Vorbild.292 Hoover entschied, seine bis zu diesem Zeitpunkt staatlich finanzierte ARA in eine private Spendenorganisation umzuwandeln. Mit dem ARA European Children’s Fund setzte er sein Hilfswerk fort und plante die Einrichtung einer großangelegten Kinderspeisungsaktion in Deutschland. Unterstützung erhielt er hierbei vom American Friends Service Committee (AFSC), dem Hilfskomitee der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker). Das AFSC wurde von Hoover mit der Durchführung und Leitung der Kinderspeisung beauftragt: »Ich war froh, die Unterstützung von so tüchtigen Leuten zu erhalten und übertrug ihnen die Organisation des Kinderhilfswerks in Deutschland. Ich sorgte für die Schaffung der Beziehungen zwischen ihnen und der deutschen Regierung und schickte ihnen Fachleute, um ihnen zu zeigen, wie die Sache aufgezogen werden musste. Wir lieferten den größten Teil der Lebensmittel und anderer Güter. Die Quäker leisteten Hervorragendes.«293 Hoovers Erinnerungen geben zu erkennen, dass sein Vorhaben nicht ohne Hilfe der deutschen Behörden und Fürsorgeorganisationen umzusetzen war. Bei den Vorarbeiten für die praktische Durchführung des Kinderhilfswerks stand dem AFSC der 1919 gegründete Deutsche Zentralausschuss für die Auslandshilfe (DZA) zur Seite, dessen Hauptaufgabe bislang darin bestand, die ausländischen Hilfsorganisationen zu koordinieren und die Hilfsgüter zu verteilen. Der DZA, der vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft geleitet wurde, war ein Zusammenschluss aller behördlichen Stellen, die für das Ernährungswesen und die Wohlfahrtspflege zuständig waren, den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege und Vertretern der amerikanischen Spender.294 Zur Koordinierung des Kinderhilfswerks richtete der DZA einen Ausschuss für Kinderspeisung 291 292 293 294
Zum Engagement Hoovers vgl. ausführlich Cox, Hunger, S. 256ff. Vgl. hierzu ebd., S. 282f. Zitiert bei Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 76. Behördlicherseits waren neben dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft auch das Reichsministerium des Innern, das Reichsgesundheitsamt, das Reichsarbeitsministerium und das preußische Ministerium für Volkswohlfahrt vertreten. Von kommunaler Seite war u.a. der Deutsche Städtetag am Zusammenschluss beteiligt. Zu den Vertretern der freien Wohlfahrtspflege gehörten u.a. der Caritasverband, die Innere Mission der evangelischen Kirche, die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, das Deutsche Rote Kreuz und der Hauptausschuss der Arbeiterwohlfahrt sowie verschiedene Frauenverbände und Gewerkschaften. Vgl. hierzu ausführlich Hen-
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ein, dem neben den genannten Vertretern auch Ärzte und Lehrer als »besondere Sachverständige« angehörten. Als verantwortlicher Träger der Hilfsaktion gegenüber den Spendern und der deutschen Regierung war der Ausschuss in Zusammenarbeit mit den Quäkern für die »einheitliche Leitung der Speisungen, insbesondere die Beratung und Beschlußfassung über die organisatorische und grundsätzliche Ausgestaltung des Hilfswerkes und über die Verteilung der Lebensmittel«295 zuständig. In Verbindung mit den jeweiligen Lokalkommissionen des DZA war es außerdem die Aufgabe des Kinderspeisungsausschusses, die benötigten Lagerräume und Küchen mit entsprechender Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Auch hier waren es vielfach lokale wohltätige Massenverpflegungsinitiativen, die sich in den Dienst des AFSC stellten und die Kinderspeisung mit Tausenden erfahrenen Hilfskräften unterstützten. Die amerikanische Kinderspeisung startete schließlich am 26. Februar 1920 und versorgte während der ersten Wochen ihres Bestehens in Berlin rund 5.000 Kinder täglich.296 Eingerichtet wurden die Speisestellen hauptsächlich in Schulen, Kindergärten, Kinderbewahranstalten und Säuglingsfürsorgestellen. Ausschlaggebend für die Teilnahme war zunächst der gesundheitliche Zustand der Kinder, der durch (schul-)ärztliche Musterungen ermittelt wurde.297 Später wurden auch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Kinder vermehrt berücksichtigt. Das Hilfswerk sollte vor allem dort eingreifen, »wo die Eltern oder sonst Unterhaltspflichtigen nicht in der Lage waren, für eine hinreichende Verpflegung Sorge zu tragen«298 . Dabei erhielten die Kinder im Rahmen der Speisungsaktion in erster Linie die Lebensmittel, die in Deutschland nur schwer zu beschaffen waren und deren Nährstoffe für eine ausgewogene Ernährung als besonders wichtig erachtet wurden. Hierzu gehörten allen voran Kondensmilch, Reis, Fett sowie Grieß und Bohnen. Neben diesen aus Amerika eingeführten Lebensmitteln stellten die deutschen Behörden außerdem Weizenmehl und Zucker bereit. Aus diesen Lebensmitteln wurden reichhaltige Suppen zubereitet, wobei die aus Schokolade, Kondensmilch und Reis bestehende »Quäkersuppe« bei den Kindern besonders beliebt war.299 Die abgegebenen Quäkerspeisen stellten in der Regel nur eine sättigende Zusatzmahlzeit dar und deckten rund ein Viertel bis Fünftel des
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riques, Clara: »Die Amerikanisch-Deutsche Kinderspeisung. Organisation und Durchführung in Deutschland«, in: dies. (Hg.), Kinderspeisung, Weimar 1926, S. 62–94, hier S. 63. Ebd., S. 64. Vgl. »Speisung von 100.000 Berliner Kindern«, in: Vorwärts, 10. März 1920. Entscheidend war hierbei, wie stark die körperliche Entwicklung eines Kindes vom alterstypischen Gewicht und der Körperlänge abwich (Rohrer-Index). Die Kinder wurden in vier Klassen eingruppiert. Die Klassen eins (ausreichend ernährt) und zwei (leicht unterernährt) wurden für die Speisung in der Regel nicht berücksichtigt. Zur Klasse drei gehörten »unterernährte, insbesondere in der körperlichen Entwicklung […] erheblich zurückgebliebene, skrofulöse, spätrachitische oder blutarme Kinder«, die nur für die Speisung berücksichtigt werden konnten, wenn die »schwer unterernährten Kinder […] in einem bedenklichen Zustande« der Klasse vier versorgt waren. Vgl. Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 89. Vgl. auch Cox, Hunger, S. 308. Sowie »Richtlinien für die Auswahl und Eingruppierung von Schulkindern zur Teilnahme an einer täglichen Speisung«, in: Henriques, Clara, Kinderspeisung, Weimar 1926, S. 150–155, hier S. 150ff. Henriques, Organisation und Durchführung, S. 73. Vgl. Cox, Hunger, S. 327.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Tagesbedarfs (670 bis 750 Kalorien). Hierzu erklärte der amerikanische Quäker Wilbur Thomas (1882–1953): »We do not want to raise the burden of support from the shoulders of the parent any more than necessary. The meal is given at 10 o’clock in the morning, or at 2 or 3 o’clock in the afternoon so as not to coincide with the meal at home.«300 Der »Zusatz zur häuslichen Ernährung« kam in den meisten Fällen Schulkindern im Alter von sechs bis vierzehn Jahren zugute. Sie stellten deutschlandweit mit mehr als neunzig Prozent die größte Teilnehmergruppe.301 Weitere viereinhalb Prozent der Begünstigten waren Kleinkinder. Die übrigen fünf Prozent der Teilnehmer stellten Jugendliche, werdende und stillende Mütter. Überall in der Republik wurde die Quäkerspeisung in steigendem Maß in Anspruch genommen. Bereits Mitte April 1920 nahmen in Groß-Berlin rund 35.000 Kinder an der Aktion teil. Bis Ende November 1922 stiegen die Teilnehmerzahlen allein in den Alt-Berliner Bezirken auf etwa 69.000 Kostgänger.302 Und dabei lag der tatsächliche Bedarf noch um einiges höher. Nur knapp die Hälfte der dringend Speisebedürftigen habe Aufnahme finden können, so der DZA, der mittlerweile die Leitung des Hilfswerks übernommen hatte.303 Durch die Hungersnot in Russland fühlte sich das AFSC Anfang des Jahres 1922 dazu bewogen, seine Aktivitäten zu verlagern und von seiner Aufgabe in Deutschland zurückzutreten. Auch die zur Verfügung stehenden amerikanischen Spendenmittel waren zu diesem Zeitpunkt erschöpft. Zwar beteiligten sich seit September 1920 auch das Reich und die Länder an der Finanzierung der Kinderspeisung, doch trugen diese Mittel lediglich zu einem Drittel der Gesamtkosten bei.304 Auch die Stadtgemeinde Berlin stellte Gelder für die Speiseaktion zur Verfügung, sah sich aber durch ihre Finanznot zur Refinanzierung ihrer Zuschüsse gezwungen. So war die Quäkerspeisung in Berlin, anders als in einigen anderen Orten Deutschlands, kein kostenfreies Angebot. Für die Teilnahme ihrer Kinder mussten die Eltern in der Regel einen Beitrag von 25 Pfennig leisten, mit dem ein Teil der kommunalen Kosten gedeckt wurde.305 Ohne ausreichende Spenden konnte die Kinderspeisung nicht aufrechterhalten oder gar ausgebaut werden. Trotz der zunehmenden Spendenmüdigkeit in den USA und vereinzelter Rückschläge gelang es dem im DZA vertretenen deutsch-amerikanischen Central Committee for the Relief of Distress in Germany and Austria (CRC), die Quäkerspeisung mit einer »Drei-Millionen-DollarKampagne« bis zum Herbst 1923 sicherzustellen.306 So konnten zur Zeit der Hyperin-
300 Zitiert bei Allen, Hungrige Metropole, S. 88. 301 Vgl. Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 90. 302 Vgl. Böß, Die Not, S. 23. Vgl. auch »Stand der Quäkerspeisung in Groß-Berlin«, in: Freiheit, 13. April 1920. Bis zum 1. Juni 1920 verteilte der AFSC in ganz Deutschland 44,6 Millionen Mahlzeiten. Vgl. Cox, Hunger, S. 305. 303 Vgl. Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 91f. und S. 100. 304 Vgl. ebd., S. 84f. Vgl. auch »Der Dank der Kinder«, in: Vorwärts, 23. September 1923. 305 Vgl. »Die Kinderspeisung«, in: Vorwärts, 11. März 1920. Ferner Henriques, Organisation und Durchführung, S. 67. 306 Vgl. »Der Dank der Kinder«, in: Vorwärts, 23. September 1923. Das im Jahr 1920 gegründete CRC war die Zentralorganisation der deutschamerikanischen Hilfsvereine. Sie stellte Richtlinien für die Mittelbeschaffung auf und koordinierte die Sammlungstätigkeiten der Vereine. Bevor das CRC sei-
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flation täglich rund 80.000 Kinder in den Alt-Berliner Bezirken versorgt werden. Zum überwiegenden Teil waren es nun Kinder des Mittelstandes, die auf die Quäkerspeisung angewiesen waren.307 Der DZA erwartete, dass die Zahl der unterversorgten Kinder im folgenden Winter nochmals zunehmen werde. In der Sitzung seines Ausschusses für Kinderspeisung Anfang November 1923 in Berlin zeigte sich vor allem die Vertretung der Lehrerschaft besorgt. Die Zahl der Kinder, die ohne Frühstück zur Schule kommen, habe von Tag zu Tag zugenommen. Andere Kinder seien sogar zu Hause geblieben, weil sie im Bett den Hunger weniger spürten.308 Die Sorge um das erneut zunehmende Kinderelend in Deutschland aktivierte die Spendensammlungen in den Vereinigten Staaten schließlich noch ein weiteres Mal. Mit Unterstützung einiger amerikanischer Regierungsvertreter und dem AFSC konnten nochmals mehr als dreieinhalb Millionen US-Dollar aufgebracht werden, womit die Kinderspeisung bis in das Jahr 1925 fortgeführt werden konnte.309 Obwohl mit der Quäkerhilfe nicht alle bedürftigen Kinder versorgt werden konnten, so half sie dennoch die gravierendsten Folgen der Unterernährung zu mildern. Während ihrer größten Ausdehnung erfasste die Speisung rund zwölf Prozent der deutschen Schulkinder gleichzeitig. Mehr als eine Million Kinder wurden gegen Ende des Jahres 1921 täglich vom AFSC mit einer Mahlzeit versorgt.310 Durch den mehrfachen Wechsel der Speiseteilnehmer während des fünfjährigen Bestehens der Kinderspeisung, kann davon ausgegangen werden, »daß zum mindesten ein Viertel der in den Jahren 1907 und 1919 Geborenen einmal wenigstens ein halbes Jahr lang gespeist worden ist«311 . Sowohl die Initiatoren der Kinderhilfsaktion als auch die zahlreichen beteiligten Akteure der deutschen Fürsorgelandschaft erhofften sich durch ihre Bemühungen den Grundstein für die Etablierung der Schulkinderspeisung im Weimarer Wohlfahrtsstaat zu legen.312 Ab 1926 standen dem Hilfswerk keine Auslandsmittel mehr zur Verfügung. Fortan waren die deutschen Behörden allein für die Kinderspeisung verantwortlich, wobei ihre Fortführung nach der Reichsfürsorgepflichtverordnung vom 4. Dezember 1924 nicht nur in organisatorischer, sondern auch in finanzieller Hinsicht in den Zuständigkeitsbereich der Kommunen fiel.313 Die Organisation der Kinderspeisung in Berlin gehörte damit zum Aufgabengebiet des von der Sozialdemokratin Klara Weyl (1872–1941) geleiteten Landesjugendamtes.
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ne eigenen Spendenaktionen startete, war es bereits an Hoovers Sammelaktion für das Europäische Hilfswerk beteiligt. Vgl. hierzu ausführlich Kilian, Die unbekannte Winterhilfe, S. 78ff. Vgl. hierzu die beeindruckende Analyse zum Ernährungszustand der Kinder in Deutschland im und nach dem Krieg von Mary Cox, Hunger, S. 334ff. Vgl. Henriques, Notwendigkeit, S. 16. Ähnliche Schilderungen fanden sich auch in den Berichten des Jugendamtes und der Fürsorgestellen. Vgl. hierzu Landwehr, Funktionswandel, S. 99. Vgl. Gramm, Hans: »Die Amerikanisch-Deutsche Kinderspeisung. Organisation und Mittelaufbringung in Amerika«, in: Henriques, Clara, Kinderspeisung, Weimar 1926, S. 58–61, hier S. 60. Ferner Allen, Hungrige Metropole, S. 87. Vgl. Cox, Hunger, S. 307. Henriques, Notwendigkeit, S. 93. Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 89. Vgl. auch »Reichstagung der Arbeiterwohlfahrt«, in: Vorwärts, 16. September 1924. Hierzu ausführlicher unter 3.1. in diesem Kapitel.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Die seit November 1920 erste und einzige Berliner Stadträtin Weyl war in mehrfacher Weise mit der Arbeit des Kinderhilfswerkes vertraut. Zum einen war sie als Mitglied des Hauptausschusses der Arbeiterwohlfahrt und der städtischen Jugendwohlfahrtsdeputation aktiv an der Arbeit der Quäker in Berlin beteiligt.314 Zum anderen besaß die Sozialpolitikerin auf dem Gebiet der kommunalen Schulspeisung allerhand Erfahrungen. Vor dem Krieg war sie selbst eine Zeit lang Mitarbeiterin in einer Schulspeisehalle und gehörte in ihrer Partei zu den Triebkräften, die in Berlin die Übernahme der Schulspeisung in städtische Hand forderten.315 Nach dem Krieg bemühte sie sich um die Aufrechterhaltung der seit 1916 kommunal organisierten Mittagsverpflegung der Schulkinder, die weiterhin mit den Einrichtungen der Volksspeisung bewerkstelligt wurde. Da die Inanspruchnahme der Schulspeisung in den Nachkriegsjahren kontinuierlich zunahm – allein zwischen 1920 und 1921 stieg die Zahl der Tagesportionen von etwas mehr als 3.000 auf nahezu 10.000 Portionen – und die Finanzlage der Stadt kaum Mehrausgaben für das Schulessen erlaubte, sah sich Weyl gezwungen, das schulische Fürsorgeangebot erheblich einzuschränken.316 Seit 1922 durften die Gemeindeschulen nicht mehr als fünf Prozent ihrer Schüler zur Speisung zulassen, wobei nur jene Kinder in Betracht kamen, »bei denen die Bedürftigkeit zweifelsfrei feststeht«. Der darüber hinaus bestehende Bedarf, der vor allem im Winter 1923/24 noch einmal erheblich zunahm, wurde mit zusätzlichen gespendeten Verpflegungsangeboten gedeckt. Anfang des Jahres 1924 erhielten z.B. rund 18.000 Kinder an 165 Berliner Schulen ein Schulfrühstück, das ehrenamtlich von Arbeiterfrauen und Müttern der Schulkinder zubereitet wurde.317 Als Weyl zu Beginn des Jahres 1926 die Verantwortung für die Quäkerspeisung übernahm, sah sie darin die Chance, die Schulspeisung in einem zweiten Anlauf als einen festen Bestandteil der Berliner Schulfürsorge zu etablieren. Das Verpflegungsangebot sollte in der Zukunft ausgebaut und einem größeren Kreis der Schulkinder zugänglich gemacht werden.318 Möglich war dies jedoch nur mit entsprechenden finanziellen Mitteln. Diese waren durch den Wegfall der amerikanischen Spenden zum Zeitpunkt der Übernahme der Kinderspeisung nur in ungenügendem Maß vorhanden. Bereits Ende des Jahres 1925 brachten die Sozialdemokraten in der Stadtverordnetenversammlung (darunter auch Weyl) einen Antrag zur Erhöhung der Mittel für die Kinderspeisung ein, der mit großer Mehrheit beschlossen wurde.319 Sowohl der Magistrat als auch das Reichs314 315
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Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 90f. Vgl. Weyls Referat zum Thema »Die Frauen und die Gemeindepolitik« im Bericht über die 6. Sozialdemokratische Frauenkonferenz in Jena (8. und 9. September 1911), in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 10. bis 16. September 1911 in Jena, Berlin 1911, S. 414–459, hier S. 455f. Vgl. »295. Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 1. April 1922«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 17 (1922), S. 207–220, hier S. 211. Die Spenden kamen überwiegend aus Bank- und Handelskreisen. Neben der Schulfrühstücksaktion stellten auch verschiedene Firmen und Privatmittagstische Freitische für Schulkinder zur Verfügung. Vgl. »Selbsthilfe und Auslandshilfe in Berlin«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 10. April 1924. Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 92. Vgl. »Amtlicher stenographischer Bericht über die Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung am 17. Dezember 1925«, 6. (42.) Sitzung, in: Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Ausgabe 1925, hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1926, S. 832–850, hier S. 834 und S. 838.
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ernährungsministerium wurden aufgefordert, die benötigten Mittel für die uneingeschränkte Fortführung des Speiseangebots zur Verfügung zu stellen. Trotz des Wissens um die Notwendigkeit der Kinderspeisung beteiligte sich Letzteres jedoch nur widerwillig an der Finanzierung. Aus Sicht der Reichsbehörden handelte es sich »um eine Angelegenheit der Länder und Gemeinden, das Reich könne Zuschüsse nicht leisten«320 . Nur in Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien gelang es schließlich den oppositionellen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, das Reichsernährungsministerium in die Pflicht zu nehmen. Doch bis 1928 kam es wiederholt zu derlei Auseinandersetzungen, wobei den deutschen Kommunen immer weniger Mittel von Seiten des Reichs zum Zweck der Kinderspeisung zuflossen. Dementsprechend stiegen die Ausgaben der Gemeinden, die »seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre […] weit mehr als zwei Drittel der Kosten für die Kinderspeisung auf[brachten]; der Deutsche Städtetag bezifferte die Last der Kommunen bereits im Februar 1927 ›nach roher Schätzung‹ sogar auf 90 […Prozent]«321 . An einen Ausbau der Schulspeisung, wie ihn Weyl beabsichtigte, war in dieser Situation nicht zu denken. Durch die abnehmende finanzielle Beteiligung der Reichsbehörden reichten die Mittel gerade noch, um die Kinderspeisung in gemindertem Umfang aufrechtzuerhalten.322 Ab dem Jahr 1928 erhielten die Kommunen von Seiten des Reiches schließlich keinerlei Zuschüsse mehr. In Anbetracht der schwierigen Wirtschafts- und Finanzlage war es der Stadtverwaltung in Berlin nicht mehr möglich, die zusätzlich benötigten finanziellen Mittel allein aufzubringen. In dieser Situation sei es wieder, wie Allen darlegt, die private Wohltätigkeit gewesen, die dabei half, die finanziellen Schwierigkeiten für eine Weile zu überwinden. »[…W]ie vor 1914 sah sich die Berliner Kommunalverwaltung den freien Wohlfahrtsverbänden, einzelnen philanthropisch gesinnten Privatpersonen und Firmen zu großem Dank verpflichtet.«323 Weyls Behörde kam dennoch nicht umhin, den Umfang der Schulspeisung drastisch einzuschränken. Die unentgeltliche Speisung der besonders von Armut betroffenen Kinder konnte nicht mehr gewährt werden. Für die Sozialdemokraten war der Verfall der Kinderspeisung, der auch zahlreiche weitere deutsche Städte erfasste, nicht tragbar. Unter dem Motto »Kinderspeisung statt Panzerkreuzer« griffen sie im Reichstagswahlkampf 1928 die aus ihrer Sicht verfehlte Politik der bürgerlichen Reichsregierung an. In einigen Stadtteilen von Berlin, so ein Wahlaufruf der SPD, seien noch immer mindestens 33 Prozent der Kinder schlecht ernährt und mehr als die Hälfte der Kinder befänden sich in einem nur mittelmäßigen Ernährungszustand. Die »Herren des Bürgerblocks«, so die SPD, kümmere dies wenig.
320 Bohm-Schuch, Clara: »Frauen aufgewacht! Unerhörtes geschieht«, in: Vorwärts, 27. März 1927. 321 Allen, Hungrige Metropole, S. 93. Vgl. hierzu auch »167. Vorlage für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 25. Februar 1927«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 8 (1927), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1927, S. 100–117, hier S. 114f. 322 Vgl. hierzu z.B. einen Antrag der Sozialdemokraten für die Stadtverordnetenversammlung, in dem darauf hingewiesen wurde, dass in einigen Bezirken Berlins nur noch ein Drittel der Kinder zur Speisung zugelassen werden konnten. »79. Dringlichkeitsantrag für die Stadtverordnetenversammlung zu Berlin vom 14. Januar 1927«, in: Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 2 (1927), hg. vom Magistrat zu Berlin, Berlin 1927, S. 46–63, hier S. 57. 323 Allen, Hungrige Metropole, S. 93.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Sie hätten keinen Pfennig für die Arbeiterkinder, aber Millionen für ihre Flottenbaupolitik.324 Nach ihrem Wahlerfolg gaben sich die Sozialdemokraten alle Mühe, um die nationale Förderung der Schulspeisung sicherzustellen. Doch das Ende der wohlfahrtlichen Ernährungspolitik konnte, stellt Allen fest, dadurch nicht mehr aufgehalten werden.325 Von den ambitionierten Plänen Weyls, die Schulspeisung im lokalen Wohlfahrtsystem zu verankern, war und blieb die deutsche Hauptstadt weit entfernt. Gegen Ende des Jahres 1928 nahmen nicht einmal siebzehn Prozent der Berliner Kinder an der Schulspeisung teil. Zwar erhielt die Verpflegung der Schulkinder nun die lange gewünschte Aufmerksamkeit des Staates, aber diese war nur dann förderlich, wenn auch finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Hierzu waren die staatlichen und ebenso die kommunalen Behörden bei bestem Willen spätestens ab der Weltwirtschaftskrise nicht mehr in der Lage.
2.2 Ohne Hilfe kein Überleben: Die Hungerkatastrophe in Wien Das dramatische Ausmaß der Versorgungsprobleme im »Nachkriegsberlin« stand in keinem Verhältnis zu dem, was die Wiener Bevölkerung nach Kriegsende durchmachte. Nach über vier Jahren mit unaufhörlich zunehmenden Ernährungsproblemen und wachsenden Entbehrungen war Wien in den Wochen des Herbstes 1918 am Ende dessen angelangt, was eine Stadt an Mangel und Not auszuhalten vermochte. Wer in diesen Tagen in das von der Grippeepidemie befallene Wien reiste, der erlebte »eine Stadt, die zu keiner Regung mehr fähig schien«326 . Apathie und Totenstille waren allgegenwärtig. In Anbetracht des katastrophalen Ausmaßes der Not schien es kaum vorstellbar, dass die österreichische Hauptstadt unter den anhaltenden Versorgungsverhältnissen überleben konnte. Auf das kontinuierliche Sinken der für Wien bestimmten Lebensmittellieferungen während des Krieges folgte in den Tagen nach dem Zusammenbruch der Monarchie ein nahezu vollständiges Erliegen der Zufuhren. Mit der Gründung der neuen Nachbarstaaten fielen die Lieferungen aus den ungarischen und nunmehr polnischen und tschechoslowakischen Agrargebieten weg. Das gänzlich auf sich allein gestellte Österreich war nun gezwungen, die benötigten Lebensmittel in seinem geschrumpften Staatsgebiet aufzubringen. Doch infolge der schlechten Ernte des Jahres 1918 und »[t]rotz der ohnehin sehr niedrigen Rationen deckte die heimische Agrarproduktion nur rund ein Viertel des Brot- und Mehlbedarfs, ein Fünftel des Kartoffel- und ein Drittel des Fleischbedarfs«327 . Nicht besser stand es um die selbstständige Versorgung mit Fett, Milch und Zucker. Die Ressourcen der österreichischen Landwirtschaft waren so gering, dass eine annähernd ausreichende Versorgung der Republik auch ohne die Belieferung ihrer hungernden Hauptstadt nicht gewährleistet war. Dies hatte u.a. zur Folge, dass die Alpenländer nur widerwillig bereit waren, den »großen Esser« Österreichs mitzuversorgen.
324 325 326 327
Vgl. »Bürgerblock gegen Schulspeisung«, in: Frauenstimme, 12. Mai 1928. Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 93. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 93. Ebd., S. 74.
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Die überschaubaren Lebensmittelmengen, die Wien aufgrund von Kontingentverpflichtungen aus der Provinz erreichten, deckten den Bedarf der Zweimillionenstadt nicht ansatzweise.328 Durch die weiterhin aufrechterhaltene alliierte Wirtschaftsblockade blieb der österreichischen Regierung zunächst nur die Möglichkeit, die überlebenswichtigen Lebensmittel aus dem neutralen Ausland zu beziehen.329 Zudem verliefen die Verhandlungen mit den Nachbarstaaten alles andere als erfolgreich. Sofern es zu Vereinbarungen in Form von Kompensationsverträgen kam, verhinderten die Transportprobleme die Ankunft der Lebensmittel. So erreichten Österreich lediglich einige Mehllieferungen aus Deutschland und ein paar Rinderzufuhren aus Ungarn. Wien blieben letztendlich nicht mehr als die »kärglichen Reste«, die in den Militärmagazinen und Lagern der Gemeinde übrig geblieben waren.330 Gegen Ende November 1918 war die Stadt in hohem Maß auf Importe angewiesen, die jedoch ohne ein Entgegenkommen der Siegerstaaten nicht zu erhalten waren. Wie dringend die Hilfe aus dem Ausland gebraucht wurde, machte der damalige Staatssekretär für Volksernährung LöwenfeldRuss gegenüber der Nationalversammlung deutlich: »Die gegenwärtige Lage in den Städten, insbesondere in Wien, wo überdies katastrophaler Kohlenmangel zur Einstellung von Licht und Beheizung führt und Störungen der Lebensmitteltransporte verursacht, ist besorgniserregend. Da aus eigener Kraft Deutschösterreich genügend Lebensmittel derzeit nicht aufbringen kann, und aus den Sukzessionsstaaten genügende Mengen nicht geliefert werden können, ist sofortige möglichst schon Mitte Jänner eintreffende ausländische Hilfe, insbesondere für Wien, dringend nötig. Ohne Einfuhren aus dem Auslande müßte Wien verhungern!«331 Zu diesem Zeitpunkt waren bereits die ersten Journalisten aus Frankreich, England, Italien und der Schweiz in Wien zugegen, um sich ein Bild von der Ernährungslage zu machen und in ihren Heimatländern über die Notwendigkeit der Auslandshilfe zu berichten. Was einige der Journalisten am 27. November 1918 in Wien zu sehen bekamen, schilderte der Wiener Sozialdemokrat Max Winter (1870–1937) in einem Bericht der ArbeiterZeitung: »Der erste Besuch der ausländischen Gäste galt dem Eugenmarkt. Alle Fleischstände geschlossen. Nur einige Gemüsestände geöffnet. Rüben, oft verfault, Zwiebeln, etwas Knoblauch und gefrorenes Kraut ist alles, was wir zu sehen bekommen. […] Das Thermometer zeigt 2 Grad unter Null, der Tag ist neblig und bitter kalt und die Menschen sind alle schlecht gekleidet. Kinder in Sandalen und Halbschuhen, ihre Füße mit Fetzen umwickelt, stehen in der Reihe dichtgedrängt neben Großmüttern [… und] jungen Frauen […]. Jammern und Klagen geht durch die Reihen, da die Frauen hören, was der Zweck des Besuches ist. ›Helfen Sie uns, meine Herren!‹ klingt es in allen Tonarten an die Ohren der Gäste […] ›Helfen Sie uns, wir können nicht mehr weiter!‹ Nicht ein Kilogramm Kartoffeln ist auf dem Markte. […] Gleich um die Ecke wird Roßfleisch abgeladen. […] Dieses durchaus fettlose, dunkelrote Fleisch, dem man es förmlich ansieht, 328 329 330 331
Vgl. Weisgram, Das Problem, S. 247. Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 75. Vgl. Weisgram, Das Problem, S. 244. Vgl. auch Reischl, Wiens Kinder, S. 31f. Löwenfeld-Russ, Im Kampf, S. 202.
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daß die armen Tiere, die es liefern mußten, vorher bis zur Erschöpfung ausgeschunden waren, Kriegsgäule, die nun das Ende erreicht hat. Aber die Hungernden warten darauf. […] Wieder um die Ecke, Quellenstraße Nr. 52, die Zentralküche Favoriten, eingerichtet von der Gemeinde Wien. In einer Schule ein Parterreraum als Küche, ein Kellerraum als Magazin, der Turnsaal eingerichtet für die Speisenabgabe. [… V]ierzehntausend Menschen sind es, für die diese Küche das Essen bereiten soll. Sechs bis acht Riesenkessel in der Reihe und alle bis zum Rande gefüllt mit braunem Kraut. […] Dann führt uns die Küchenleiterin zu ihrem Kartoffelvorrat. Höchstens 500 Kilogramm, vielfach verfaulte und sehr stark noch mit Erde vermischte Kartoffeln liegen in einem Abteil des Kellers. ›Das ist unser ganzer Vorrat, er soll für 14.000 Menschen reichen. ‹ – ›Auf wie lange?‹ – ›Auf unbestimmte Zeit […].‹ Wollte man die vorhandenen Kartoffeln auf die 14.000 verteilen, so käme im günstigsten Falle auf einen der Esser, die auf diese Küche angewiesen sind, ein halber Kartoffel. Auf dem Markte keine Kartoffeln, in der Küche keine Kartoffeln! Im Turnsaal drüben sind schon Frauen und Kinder angestellt, um an der Kasse ihre Marken zu beheben, um sich dann auf Grund der Marken ihre Töpfe mit Kraut füllen zu lassen. Da steht ein kleines Mädel, zehnjährig etwa, mit einem viel, viel kleineren Buben an der Hand. ›Wie alt ist der Junge?‹ – ›Sechs Jahre.‹ – ›Aber das ist doch nicht möglich, er kann doch nicht älter wie drei, vier Jahre sein.‹ […] Ein Zwerglein, das in seinen sechs Jahren kaum Tischhöhe erreicht hat. […] Unser Weg führt uns weiter zum Ostbahnhof zu den großen Magazinen, die sonst die Waren aufnahmen, die für den Magen von Wien von Ungarn und Böhmen geliefert wurden. […] Nun gähnende Leere, leere Magazine, leere Magen. Die Gäste haben genug gesehen. […] Sie wüßten nun aus eigenem Augenschein, daß nirgends in der Welt so viel gehungert wird wie in diesen Tagen in Wien. Ein geistreicher Franzose kleidet seinen Dank in die Worte: ›Wir haben viel gesehen, da wir nichts gesehen haben.‹«332 Bis die ersten Verhandlungen mit den Vertretern der Entente schließlich begannen, verstrichen nahezu vier Wochen. Gegen Ende Dezember 1918 wurde der Schweiz die Lieferung von mehr als 1.000 Tonnen Lebensmittel nach Österreich gestattet. Anfang Januar 1919 trafen erste Hilfszüge mit Mehl, Reis, Milch und Fett in Wien ein.333 Darüber hinaus erreichten Österreich auch erste Getreidelieferungen aus Italien. Wie existenziell diese Lebensmittel waren, veranschaulicht die Tatsache, dass sich die Wiener Versorgungslage trotz dieser Zufuhren mehr verschlechterte als besserte. Mitte Januar musste die tägliche Brotquote auf neunzig Gramm halbiert werden. Zudem kündigte sich mit der Einführung fleischloser Wochen ein Zusammenbruch der Fleischversorgung an.334 Zwischen März und August 1919 erhielten die Wiener teilweise ganze Monate kein Fleisch. In großen Teilen Wiens nahmen die Versorgungsbedingungen verheerende Ausmaße an. Der Obersanitätsrat Arnold Durig (1872–1961) berichtete: »Schwerer Nahrungsmittelmangel und bittere Not haben bei der ärmeren Bevölkerung dazu geführt, alles, selbst das Unappetitlichste, zu essen. Vielfach werden nicht
332 »Das hungernde Wien«, in: Arbeiter-Zeitung, 29. November 1918. Siehe hierzu auch LöwenfeldRuss, Im Kampf, S. 273. 333 Vgl. ebd., Im Kampf, S. 232. 334 Vgl. ebd., S. 203.
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nur Tröge, in denen die Küchenabfälle und das Spülwasser für das Schweinefutter gesammelt werden, von Hungrigen aufgesucht, die eifrig nach Eßbarem in der eklen Brühe fahnden, sondern man sieht in den ärmeren Bezirken auch arme Hungernde, die Koprophorgefäße und Abfallkistchen durchwühlen nach Resten von Gemüsen oder Fasern von Fleisch an Knochen; ja sogar nach Kartoffelabfällen wird gierig gesucht, und es zählt wohl zu den traurigsten […] Szenen, wenn man sieht, daß diese Schalen nicht etwa als Tabak verwendet, sondern tatsächlich aus Hunger, manchmal sogar roh gegessen werden.«335 Die unhaltbaren Zustände haben, so bemerkte Löwenfeld-Russ in seinen Erinnerungen, den amerikanischen Food Administrator Hoover veranlasst, »eine neue Delegation nach Wien zu senden, um nun die Lebensmittelzuschübe, die bisher nur provisorisch festgelegt worden waren, für einen längeren Zeitraum zu regeln«336 . Im März 1919 wurde Österreich schließlich ein Warenkredit in Höhe von dreißig Millionen Dollar eingeräumt, mit dem die äußerste Not bis zur nächsten Ernte bewältigt werden sollte. Mit dem Kredit, der im Juni auf 48 Millionen Dollar erhöht wurde, konnten bis Oktober 1919 etwa 360.000 Tonnen Lebensmittel nach Österreich geliefert werden.337 Auf die Art und Qualität der Lebensmittel, die fast ausschließlich für Wien bestimmt waren, hatte die österreichische Regierung keinen Einfluss, sodass auch weniger bedarfsgerechte Überschussgüter eintrafen. Die Lieferungen sorgten für eine zeitweilige Entschärfung der angespannten Situation. Die Brotration wurde im Mai 1919 wieder auf die reguläre Tagesmenge von 180 Gramm erhöht und auch die fleischlose Zeit fand ein Ende. Die von der Öffentlichkeit vielfach angefochtene Aufrechterhaltung der staatlichen Bewirtschaftung für fast alle Nahrungsmittel blieb aus Sicht der Regierung dennoch das Gebot der Stunde.338 Wie sehr Österreich weiter von Nahrungsmittelimporten abhängig blieb, offenbarten die katastrophalen Ernteerträge im Herbst 1919. Ab September verschlechterte sich die Versorgungslage in Wien erneut. Gegen Ende November stand die Stadt in bislang ungekanntem Ausmaß am Rande einer Hungersnot. »Die Wochenration für Lebensmittel«, so Rauscher, »betrug pro Person nur mehr 787 Gramm Brot, 250 Gramm Mehl und 125 Gramm Hülsenfrüchte ohne jegliche Lieferungen von Kartoffeln und Fleisch.«339 Bei diesen geringen Rationen war ein Überleben der Bevölkerung undenkbar. Der zu Kriegszeiten bereits verbreitete Rucksackverkehr und die Versorgung auf dem Schwarzmarkt, der nach dem Krieg mehr denn je florierte, stellten in dieser Zeit eine Überlebensnotwendigkeit dar: »Ohne Rucksackverkehr und ohne Schleichhandel wäre bei den herrschenden offiziellen Ernährungszuständen Wien längst ausgestorben. Wenn der Wiener nicht tot ist, so
335
Reischl, Wiens Kinder, S. 37. Der Begriff »Koprophor« war früher in einigen Teilen Österreichs ein gebräuchlicher Ausdruck für die Mülltonne. 336 Löwenfeld-Russ, Im Kampf, S. 236. 337 Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 75. Hierin einbezogen sind auch die zu Jahresanfang erhaltenen Hilfslieferungen aus der Schweiz und Italien. Vgl. hierzu auch Löwenfeld-Russ, Im Kampf, S. 237f. 338 Vgl. ebd., S. 216ff. 339 Rauscher, Die verzweifelte Republik, S. 144.
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ist damit der Beweis erbracht, daß er entweder selbst hamstert oder sich von Schleichhändlern seine Nahrung ergänzen läßt.«340 Der Rucksackverkehr für den Eigenbedarf wurde seitens der Ernährungsbehörden als legitimes und unumgängliches Hilfsmittel geduldet, wohingegen der gewerbsmäßige Schleichhandel, mit dem große Mengen Lebensmittel über die Gastronomie und den Einzelhandel vertrieben wurden, weiterhin (vergeblich) bekämpft wurde. Um die Jahreswende 1919/20 begann das Ringen der österreichischen Regierung um neue Kredite schließlich von Neuem. Auf der nach wie vor tagenden Pariser Friedenskonferenz machte die Staatsführung die Vertreter der Siegermächte auf die sich abzeichnende humanitäre Katastrophe in der Heimat aufmerksam und appellierte an deren Verantwortung für das Überleben Wiens und Österreichs. »[… D]as Wasser stand uns an der Kehle, und wir mußten viel verlangen, um etwas zu bekommen«, resümierte Löwenfeld-Russ. »Und schließlich konnten wir uns auf den Standpunkt stellen, daß nicht wir den kleinen Torso-Staat Österreich geschaffen hatten, und die Herren der Entente sich nun etwas zu kümmern hätten, ob und wie sie das von ihnen in die Welt gesetzte Kind am Leben erhalten wollten.«341 Dem »Bettelgang« nach Paris im Dezember 1919 folgten Wochen der Ungewissheit und zahlreiche Verhandlungen. Ende März 1920 wurde Österreich schließlich von Seiten der USA ein neuerlicher Lebensmittelkredit eingeräumt, der die Lieferung von 200.000 Tonnen Mehl sicherstellte.342 Zusammen mit weiteren »Reliefkrediten«, die u.a. von England, Frankreich, der Schweiz und später auch von Argentinien gewährt wurden, bewirkten die amerikanischen Mehllieferungen ab Mai die langersehnte Entlastung der Wiener Versorgungsverhältnisse. Erstmals seit dem Zusammenbruch der Monarchie sei Löwenfeld-Russ zufolge die Brot- und Mehlversorgung der Alpenrepublik gesichert gewesen.343 Die »quälende Unruhe« in der Bevölkerung fand ein Ende. Von guten Versorgungsverhältnissen konnte aber dennoch keine Rede sein. Noch im Herbst 1920, betonen Pfoser und Weigl, seien die Grundnahrungsmittel derartig knapp bzw. notgedrungen preisgestützt gewesen, dass z.B. für Mehl und Brot auf dem Schwarzmarkt das Fünf- bis Sechsfache der staatlich vorgegebenen Fixpreise verlangt wurde.344 An der allgemeinen Zwangsbewirtschaftung wurde mit wenigen Ausnahmen festgehalten. Erst ab dem Frühjahr 1921 erfolgte die Freigabe erster wichtiger Nahrungsmittel, darunter (Rind-)Fleisch, Fett und Kartoffeln.345 Die Rationierungsmaßnahmen für Brot und Milch wurden bis zum Frühsommer 1922 aufrechterhalten. Mit der Freigabe dieser beiden Nahrungsmittel verschwanden die letzten Lebensmittelkarten aus dem Wiener Alltag. Die parallel voranschreitende Geldentwertung verhinderte es jedoch, dass sich das Gros der Bevölkerung ausreichend selbstversorgen konnte. In Anbetracht der unentwegt anhaltenden Entbehrungen der Bevölkerung ist es geradezu bemerkenswert, dass Wien – im Gegensatz zu Berlin und anderen Regionen Ös340 341 342 343 344 345
Löwenfeld-Russ, Im Kampf, S. 225. Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 80. Löwenfeld-Russ, Im Kampf, S. 251. Vgl. hierzu auch Rauscher, Die verzweifelte Republik, S. 144. Vgl. auch Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 76. Sowie Löwenfeld-Russ, Im Kampf, S. 264. Vgl. ebd., S. 265. Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 80. Vgl. hierzu ausführlich Weisgram, Das Problem, S. 190ff.
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terreichs – von größeren Lebensmittelunruhen lange verschont blieb.346 Mit Ausnahme vereinzelter Menschenansammlungen vor dem Ernährungsamt in den unmittelbaren Nachkriegswochen und Plünderungen von Lebensmittelmagazinen kam es in Wien erst am 1. Dezember 1921 zu großen Ausschreitungen und Plünderungskrawallen, bei denen mehrere Tausend Wienerinnen und Wiener ihre Wut gegenüber den Spekulanten und Schiebern zum Ausdruck brachten: »Im Anschluß an die Arbeiterdemonstration zog eine erbitterte Menge […] zerstörend über den Ring, durch die Geschäftsstraßen der Inneren Stadt und der umliegenden Bezirke. Bei den Ringstraßenhotels Bristol, Grand Hotel und Hotel Imperial ereigneten sich schwere Sachbeschädigungen und Plünderungen; Passagiere wurden ihrer Habe beraubt. Kaffeehäuser und Geschäftsladen haben einen ungeheuren Schaden durch Zertrümmerung der Spiegelscheiben, Zerstörung der Einrichtung und durch den Verlust der Ware erlitten, die die raubenden Plünderer aus den Auslagen und aus dem Innern der Geschäfte hinwegschleppten.«347 Zu einem vergleichbaren Ereignis sollte es trotz der drastisch zunehmenden Teuerung, der nicht enden wollenden Not und Verzweiflung in der Bevölkerung kein weiteres Mal kommen. Gegenüber den exzessiven Entwicklungen in Berlin blieb es in Wien in den letzten Monaten der Inflation bis zur Genfer Sanierung Ende 1922 vergleichsweise ruhig. Dies mag auch daran gelegen haben, dass die Wiener Bevölkerung nach über acht entbehrungsreichen Jahren mit ihrer Kraft am Ende war. Es ist auch anzunehmen, dass sich die Maßstäbe, die die Wiener bei der Bewertung der vorherrschenden Versorgungsverhältnisse anlegten, infolge der dramatischen Hungerzeiten zwischen 1918 und 1920 veränderten. Die Versorgungssituation im Jahr 1922 war noch immer weit entfernt vom »Normalzustand« der Vorkriegszeit, doch gegenüber den fürchterlichen Verhältnissen im Winter 1919/20 erlebte die Bevölkerung nun eine merkliche Verbesserung der Ernährungslage. Die Stadt erreichte endlich den Punkt, an dem es ihr gestattet war, sich bis zu einem gewissen Maß von den Nahrungssorgen zu erholen. Ein weiterer Faktor, der sich beruhigend auf die Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung ausgewirkt haben wird, war die sozialdemokratische Gemeindeverwaltung, die sich seit ihrem Antritt im Mai 1919 tatkräftig und spürbar für eine Verbesserung der Wiener Lebensverhältnisse einsetzte. Von der ersten Stunde ihrer Amtsübernahme an galt es für die Sozialdemokraten, unter widrigsten Bedingungen gegen das Versorgungselend anzukämpfen. Es war naheliegend, dass sich die Sozialisten – als Fürsprecher der Großküche – hierbei auch frühzeitig mit Fragen der Fortführung der (kommunalen) Gemeinschaftsverpflegung befassten. Doch noch bevor die neue Gemeindeadministration eigenverantwortlich aktiv werden konnte, erhielt die Stadt auf diesem Gebiet unverhofft Hilfe von Hoovers ARA, die eine großangelegte Hilfsaktion für die unterernährten Kinder Österreichs in die Wege leitete.
346 In Oberösterreich kam es bereits zu Beginn des Jahres 1919 zu vermehrten Hungerprotesten. Vgl. ausführlich Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 84f. Zu Wien vgl. Löwenfeld-Russ, Im Kampf, S. 198. 347 »Ausschreitungen und Plünderungen in Wien«, in: Neues Wiener Tagblatt, 2. Dezember 1921.
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2.2.1 »Amerika rettet unsere Kinder«: Die ausländische Massenverpflegung in Wien Bereits Anfang Mai 1919 berichteten einige Wiener Tageszeitungen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika Lebensmittel im Wert von zehn bis zwölf Millionen Kronen für die Massenspeisung deutschösterreichischer Kinder zur Verfügung zu stellen beabsichtigten (Abb. 43).348 Angesichts des besorgniserregenden Ernährungszustandes der Wiener Kinder setzten sich die Verantwortlichen der geplanten »Amerikanischen Kinderhilfsaktion für Deutschösterreich« für eine umgehende Realisierung ihres Programms ein. Durch das zeitnahe Eintreffen der ersten dafür vorgesehenen Lebensmittel und der unverzüglichen Mithilfe des Staatsamts für Volksernährung und der Wiener Fürsorgezentrale konnte die Hilfsaktion bereits Mitte Mai täglich rund 1.000 Wiener Kinder verpflegen.349 Da ausschließlich unterernährte Kinder zur Kinderspeisung zugelassen werden sollten, waren die Leiter der Kinderhilfsaktion auf wissenschaftliche Unterstützung angewiesen, für die sie den Ernährungsgelehrten Clemens von Pirquet (1874–1929) gewinnen konnten. Als Kinderarzt untersuchte Pirquet bereits im Jahr 1918 den Ernährungszustand von rund 500 Wiener Kindern nach einheitlichen wissenschaftlichen Grundsätzen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen gaben zu erkennen, dass rund 91 Prozent der von ihm behandelten Kinder unterernährt waren.350 Verglichen mit den Vorkriegsverhältnissen wiesen z.B. Jugendliche im Alter von fünfzehn Jahren nun ein durchschnittliches Untergewicht von zehn Kilogramm auf.351 Um eine angemessene und reichhaltige Versorgung der untersuchten Kinder sicherzustellen, griff Pirquet auf ein von ihm entwickeltes Ernährungssystem zurück, mit dem der Nährwert der Nahrungszuteilungen auf Basis der Nahrungseinheit Milch berechnet wurde (NEMSystem).352 Mit dieser Methode und den dazugehörigen Rezepten konnte die amerikanische Kinderspeisung auf wissenschaftlicher Grundlage durchgeführt werden. Pirquet unterstützte die Kinderhilfsaktion aber nicht nur als Ernährungsexperte. Da er fließend Englisch sprach, fungierte er auch als Vermittler zwischen den Amerikanern und den staatlichen und kommunalen Behörden, die für die Umsetzung des Hilfsprogramms in starkem Maß herangezogen wurden. Die Staatsämter für Volksgesundheit, Volksernährung, soziale Fürsorge, Finanzen und Verkehr entsandten Beauftragte, die gemein348 »Eine 400.000 Dollar-Lebensmittelspende für die Kinder Wiens«, in: Der Neue Tag, 6. Mai 1919. »Die Amerikaner übernehmen die Kinderernährung«, in: Neues 8 Uhr-Blatt, 6. Mai 1919. Vgl. auch Reischl, Wiens Kinder, S. 86. 349 Vgl. »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 30. Mai 1919«, in: Amtsblatt der Stadt Wien 28 (1919), Nr. 46, 7. Juni 1919, S. 1301–1337, hier S. 1302. 350 Vgl. Pirquet, Clemens: »Ernährungszustand der Kinder in Österreich während des Krieges und der Nachkriegszeit«, in: ders. (Hg.), Volksgesundheit im Krieg, Wien 1926, S. 151–179, hier S. 155. Das gleiche Ergebnis erzielten auch die amtsärztlichen Untersuchungen des städtischen Jugendamtes im Jahr 1918, in deren Rahmen etwa 50.000 von rund 200.000 Wiener Schulkinder untersucht wurden. Vgl. ebd., S. 158. 351 Vgl. Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 92. 352 Die Zusammensetzung der Speisen wurde nach NEM bemessen. Ein NEM entsprach einem Gramm Muttermilch (667 Kilokalorien/Liter). Vgl. ausführlich Reischl, Wiens Kinder, S. 125. Ferner Löwenfeld-Russ, Im Kampf, S. 280. »Bei den essenden Kindern«, in: Arbeiter-Zeitung, 29. Mai 1919.
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sam mit Vertretern verschiedener Gemeindebehörden (Jugendamt, Fürsorgezentrale, Kriegsküchenkommissariat u.a.) und Mitarbeitern der zahlreichen Kinderfürsorgeeinrichtungen eine Arbeitsgemeinschaft bildeten.353 Mit diesem Zusammenschluss, der sich am 24. Mai als »Deutschösterreichisches Jugendhilfswerk« konstituierte, wurde der Organisationsapparat zur Durchführung der Kinderspeisung geschaffen.
Abbildung 43: Ankündigung der Amerikanischen Kinderhilfsaktion in der Wiener Presse
Abbildung aus Wiener Bilder 19, 11. Mai 1919. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, ANNO Austrian Newspapers Online.
353
Vgl. Reischl, Wiens Kinder, S. 87. Sowie »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 30. Mai 1919«, S. 1302f.
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Alle Beteiligten nahmen innerhalb weniger Tage ihre Arbeit auf und setzten in Windeseile ein rasant wachsendes Versorgungssystem in Gang. Ärzte und Beamte begannen mit den Untersuchungen Hunderter und bald Tausender Kinder, die von den Bezirksjugendämtern, Schulen und Fürsorgeverbänden geschickt wurden. Parallel setzte die Ermittlung der für einen Dauerbetrieb geeigneten Küchenstandorte ein. Von Palästen, Schulgebäuden, Turnsälen, Kasernen und Baracken bis hin zu Spitälern, Kindergärten, Waisenhäusern und Fürsorgeeinrichtungen wurden alle zweckmäßigen Objekte herangezogen und für die Kinderspeisung dienstbar gemacht.354 Auch einige der bestehenden Wiener Kriegsküchen fanden Berücksichtigung, doch »[i]n nicht wenigen der für eine Massenverköstigung installiert gewesenen Küchen waren die Räume, Kessel, Heizanlagen, Tische, Bänke, Kochkisten usw. zum Teile Wracks oder in tadelnswertem Zustande«, konstatierte Reischl rückblickend. Die »Spuren der Kriegszeit […], in der […] jegliches brauchbare Material verwendet, rücksichtlos abgenützt wurde, in der ein sinnloses Wirtschaften sich um ein Konservieren und Erneuern nicht kümmerte«355 bereiteten große Probleme, sodass die Übernahme vieler Kriegsküchen nicht in Frage kam. Demgegenüber waren die für die Durchführung der Kinderspeisung unabkömmlichen Wiener Lagerhäuser und mit großen Kühlanlagen ausgestatteten Speicher von größerem Nutzen. Für die großen Mengen an Lebensmitteln, die im Laufe des Sommers 1919 für die Kinderhilfsaktion bereitgestellt wurden, erwiesen sich die städtischen Einrichtungen jedoch bald als zu klein. So dienten in erster Linie die Parterreräumlichkeiten in der Neuen Burg, die bis zu 300 Tonnen Lebensmittel fassten, als Zentral-Lebensmittellager.356 Darüber hinaus galt es frühzeitig ein System für die Belieferung der Küchen mit Lebensmitteln zu entwickeln, für das neben Lastkraftwagen auch Straßenbahnen, Pferdefuhrwerke und Handwagen herangezogen wurden. Für die Küchenbetriebe musste zudem ausreichendes und vor allem geeignetes Personal gefunden werden. Die Leitung der Küchen übernahmen vor allem Frauen, die an Fachkursen der Kinderklinik Pirquets teilgenommen hatten und mit den NEM-Rezepten vertraut waren. Unterstützt wurden die Küchenwirtschafterinnen von einem Stab weiblicher Hilfskräfte, die aus allen Gesellschaftskreisen und Altersgruppen rekrutiert wurden.357 Noch vor der Aufnahme des Speisebetriebs standen die Küchendamen vor der schwierigen Aufgabe, die Ausstattung der Kinderküchen mit sämtlichen Einrichtungsgegenständen, Gebrauchsgütern, Nahrungsmitteln, Brennmaterial, Wäsche und Geschirr zu besorgen. Der anhaltende Material- und Rohstoffmangel bewirkte, dass viele der geplanten Küchen nicht sofort in Betrieb genommen werden konnten. Am 2. Juni 1919, dem offiziellen Eröffnungstag der amerikanischen Kinderspeisung, beklagte der für die Wiener Kinderhilfsaktion zuständige Kommissär Raymond Hermann 354 Vgl. Fechner, Bruno: »Die Küchen- und Ausspeiseräume«, in: Die Amerikanische Kinderhilfsaktion in Wien. Mitteilungen der American Relief Administration, Band 2, Wien 1921, S. 84–90, hier S. 84. 355 Reischl, Wiens Kinder, S. 116. 356 Vgl. Müller, Robert: »Das Zentral-Lebensmittellager«, in: Die Amerikanische Kinderhilfsaktion in Wien. Mitteilungen der American Relief Administration, Band 2, Wien 1921, S. 98–100, hier S. 98. 357 Vgl. hierzu ausführlich Menzl, Maria: »Die Ausspeisedame«, in: Die Amerikanische Kinderhilfsaktion in Wien. Mitteilungen der American Relief Administration, Band 2, Wien 1921, S. 143–146, hier S. 144. Ferner Reischl, Wiens Kinder, S. 113f. Three Years Work of the American Relief Administration in Austria, Wien 1922, S. 15.
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Geist (1885–1955), »daß die ganze Ausspeisungsaktion für amerikanische Begriffe viel zu langsam vor sich gehe«358 . In Wien waren mittlerweile Lebensmittel für eine dreimonatige Versorgung von über 50.000 Kindern täglich vorrätig. Mit dem Tempo der eintreffenden Lebensmittel aus Amerika konnten die Kücheneröffnungen und ärztlichen Untersuchungen nicht mithalten.359 Keine zwei Wochen nach der Gründung des Österreichischen Jugendhilfswerks waren am Tag der feierlichen Eröffnung im Augartenpalais immerhin sechs Kinderspeisungen in Betrieb, die zusammen täglich etwa 3.000 Wiener Schulkinder verpflegten.360 Weitere rund 2.000 Kinder wurden zudem in verschiedenen belieferten Fürsorgeeinrichtungen (u.a. Tagesheimstätten, Krippen, Horten) mit einer warmen Mahlzeit versorgt.361 Seit Anfang Juni nahmen Woche für Woche weitere Kinderküchen ihren Betrieb auf und täglich kamen neue Kostgänger hinzu. Etwa einen Monat später gab die amerikanische Kinderspeisung schon 75.000 Portionen täglich aus. Mitte Juli 1919 wurden täglich mehr als 106.000 Kinder mit einer warmen Mittagsmahlzeit versorgt.362 Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Kinderspeisung bereits 34 Küchen, von denen etwa zwei Drittel in Schulgebäuden untergebracht waren. Gekocht wurde darüber hinaus in den Schlössern Belvedere und Schönbrunn und in der Neuen Burg. Auch vier der ehemaligen Kriegsküchen konnten für die Kinderspeisung nutzbar gemacht werden.363 Die Speisen wurden grundsätzlich unentgeltlich ausgegeben. Familien, die über ausreichend finanzielle Mittel verfügten, konnten jedoch freiwillig einen Regiebeitrag von zunächst dreißig Hellern pro Mahlzeit leisten, der zur Deckung der Zubereitungs-, Heiz- und Personalkosten beitrug. Wie in Deutschland war die Kinderspeisung sowohl von staatlicher als auch von kommunaler Seite auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Auch hier trugen die Amerikaner schlussendlich den Löwenanteil der Finanzierung. Ihr anfänglich anvisierter Betrag von zwölf Millionen Kronen für Lebensmittel stieg nach eigenen Angaben bis Mitte Juli 1919 auf über fünfzig Millionen Kronen.364 Die amerikanische Kinderhilfsaktion war ursprünglich für einen Zeitraum von wenigen Monaten angedacht. Sie wurde jedoch alsbald verlängert. Die ärztlichen Untersuchungen gaben rasch zu erkennen, dass das Wiener Kinderelend weitaus dramatischer war als im Vorhinein angenommen wurde. Ende Januar 1920 gab der Leiter der Kinderhilfsaktion für Österreich Schiffsleutnant Gilchrist Baker Stockton (1890–1972) bekannt, dass die medizinische Überprüfung der Kinder einen so erschreckenden Zustand von Unterernährung zeigte, dass nicht nur eine Verlängerung der Aktion bis August 1920 für unumgänglich erachtet wurde, sondern auch eine Erhöhung der täglich zu versor-
358 »Die Kinderausspeisungen«, in: Neues 8-Uhr-Blatt, 2. Juni 1919. 359 Vgl. Reischl, Wiens Kinder, S. 94 und S. 100. 360 Vgl. »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 30. Mai 1919«, S. 1302. 361 Zwei Tage nach der Eröffnung seien Reischl zufolge bereits 6.000 Kinder täglich versorgt worden. Vgl. ders., Wiens Kinder, S. 95. 362 Vgl. ebd., S. 150f. 363 Vgl. Fechner, Die Küchen- und Ausspeiseräume, S. 86. 364 Vgl. Reischl, Wiens Kinder, S. 86.
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genden Kinderzahl von 110.000 auf 147.000 Pfleglinge notwendig erschien.365 Tatsächlich stieg die Zahl der Verköstigten kontinuierlich weiter. Gegen Ende März 1920 wurden rund 175.000 Kinder versorgt.366 Bis Juli 1920 gab die amerikanische Kinderhilfsaktion insgesamt 68 Millionen Mahlzeiten aus. Trotz des Rückgangs der zur Verfügung stehenden amerikanischen Spendenmittel konnte die Aktion im August nochmals um ein weiteres Jahr verlängert werden.367 Damit verbunden waren eine Erhöhung der Regiekosten und eine verstärkte Mitarbeit der österreichischen Behörden bei der Beschaffung der Nahrungsmittel. So konnten auch zwei Jahre nach dem Beginn der Aktion noch immer rund 157.000 der vier- bis achtzehnjährigen Wiener täglich ausgespeist werden.368 Im Sommer 1921 standen über Tausend Hilfskräfte im Dienst der amerikanischen Kinderspeisung. Das Hilfswerk unterhielt mittlerweile »nur« noch 24 Großküchen, zählte aber weiterhin über 530 Speisestellen. Mehr als die Hälfte der Speisestellen befand sich in den zahlreichen Kinder- und Jugendfürsorgeeinrichtungen, die alle mit finanziellen Problemen infolge des Krieges kämpften.369 An ihrem Fortbestehen hatte die amerikanische Kinderhilfsaktion einen maßgeblichen Anteil. Die Kinderspeisung der ARA war mit Abstand die bedeutendste ausländische Aktion, die zur Linderung der Not im »Nachkriegswien« beitrug. Seit ihrem Beginn im Frühsommer 1919 wurden zahlreiche weitere Initiativen und Missionen von verschiedenen Staaten und Hilfsorganisationen in die Wege geleitet. Das Spektrum der Auslandshilfe war vielfältig und umfasste u.a. die Unterstützung inländischer Wohlfahrtsvereinigungen, die Verteilung von Kleiderspenden, die Unterbringung unterernährter Kinder im Ausland, die Errichtung von Kinderheimen und Kinderfürsorgestellen, den Import ausländischer Kühe zur Unterstützung der Milchversorgung und die Einrichtung von Kinder-Milchtrinkhallen.370 Auch die Massenverköstigung war wie in Deutschland häufig Bestandteil der Hilfsmissionen. Die niederländische Hilfsaktion z.B. organisierte ab
365 »Ausgestaltung des amerikanischen Kinderhilfswerkes«, in: Neues Wiener Journal, 28. Januar 1920. Wie in Berlin waren die Mahlzeiten der Wiener Kinderhilfsaktion zunächst als eine »Zusatzmahlzeit« angedacht. Angesichts der schwierigen Versorgungsverhältnisse vieler Familien erkannte die ARA, dass das »American meal« für die meisten Kinder die Hauptmahlzeit des Tages darstellte. Vgl. A Review of the Work of the American Relief Administration in Austria, Wien 1921, S. 11f. 366 Vgl. »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 30. März 1920«, in: Amtsblatt der Stadt Wien 29 (1920), Nr. 31, 17. April 1920, S. 961–1033, hier S. 961. 367 »Die amerikanische Kinderausspeisung geht weiter«, in: Neues Wiener Tagblatt, 4. August 1920. »Die nächsten Pläne der amerikanischen Kinderhilfsaktion«, in: Vorarlberger Wacht, 10. August 1920. 368 Vgl. Tremml, Franz: »Mitwirkung der Schule an der Hilfsaktion«, in: Die Amerikanische Kinderhilfsaktion in Wien. Mitteilungen der American Relief Administration, Band 2, Wien 1921, S. 69–73, hier S. 70. 369 Vgl. Wolf, Hilda: »Die Hilfe für 280 Jugendfürsorgeanstalten«, in: Die Amerikanische Kinderhilfsaktion in Wien. Mitteilungen der American Relief Administration, Band 2, Wien 1921, S. 81–84, hier S. 83. Bis zum Rückzug der ARA aus dem Kinderhilfswerk im Mai 1922 blieb der Umfang der versorgten Wiener Kinder, der Speiseeinrichtungen sowie des Personals weitgehend gleich. Vgl. Three Years Work of the American Relief Administration in Austria, Wien 1922, S. 26. 370 Einen nachträglichen Überblick über die Auslandshilfe in Wien hat der damalige Pressechef des österreichischen Jugendhilfswerks Reischl vorgelegt. Siehe hierzu ders., »Die ausländische Kinderhilfe in Wien«, in: Pirquet, Clemens (Hg.), Volksgesundheit im Krieg, Wien 1926, S. 363–428.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
November 1919 das Frühstück in den Wiener Kindergärten, das von rund 3.000 Kleinkindern in Anspruch genommen wurde.371 Norwegen und Schweden wiederum widmeten einen beträchtlichen Teil ihrer Hilfe der Mittagsverpflegung der vierzehn- bis achtzehnjährigen Wiener Bevölkerung. Beide Länder richteten unabhängig voneinander zusammen über achtzig Jugendküchen ein, die im Sommer 1920 rund 27.000 Studierende, Mittelschüler, Lehrlinge und Hilfsarbeiter täglich mit einer Mahlzeit versorgten.372
Abbildung 44: Amerikanische Kinderausspeisung in Wien (1920)
Abbildung aus Wiener Bilder 17, 25. April 1920, Titelseite. Quelle: Österreichische Nationalbibliothek, ANNO Austrian Newspapers Online.
Neben den amerikanischen, schwedischen und norwegischen Küchen, die sich ausschließlich an Kinder und Jugendliche richteten, gab es auch eine Reihe von Verpflegungsangeboten für Erwachsene. So startete Ende März 1921 eine Hilfsaktion amerikanischer Studierender für mittellose Wiener Hochschüler. Mit der Unterstützung der ARA finanzierte die »Studenten-Hilfsaktion« Mittagstische für mehr als 8.700 Studenten.373 Eine andere Massenverpflegungsinitiative, die sich an akademische Lehrkräfte richtete, brachte der amerikanische Rochester Patriotic and Community Fund auf den Weg.374 Dieser 371 372 373 374
Vgl. Gemeindeverwaltung 1919–1922, S. 300. Vgl. Reischl, Die ausländische Kinderhilfe, S. 396ff. Vgl. ebd., S. 412f. Der Rochester Patriotic and Community Fund ging aus einer Kriegskasse hervor, die zur Unterstützung der Soldaten und ihrer Familienangehörigen während des Krieges in Rochester, New York, eingerichtet wurde. Nach dem Krieg wurden mithilfe des Fonds mehrere Fürsorgeinitiativen und
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
finanzierte im Jahr 1920 die Inbetriebnahme einer »Professorenmensa«, von der mehr als Tausend Lehrkräfte in Wien Gebrauch machten: »The basement premises of the Arkaden-Keller Café were chosen as the locality for the Vienna mess. They had many advantages, immediate vicinity to the university, fitness of the rooms for use as dining rooms and small anti-rooms adjoining for service. […] The food was prepared at the Hofburg kitchen, one of the A.R.A. kitchens, under the Nem system, and transported to the mess by motor lorry. A mess committee was formed and general conditions were laid down as to participation, admittance being given to all actual professors of the university, especially professors of special faculties, including salaried lecturers […]. Luncheon is served daily[,] consisting of soup, a second course, sweet[s], and home made bread, cocoa or coffee. The foodstuffs come from America – with the addition of locally purchased foods, such as vegetables and condiments to vary the menu.«375 Einen bemerkenswerten Beitrag zur Massenverpflegung im Nachkriegswien leistete darüber hinaus das Hilfswerk des American Jewish Joint Distribution Committees (JDC). Das JDC war ein Zusammenschluss verschiedener Hilfsorganisationen, die sich in erster Linie der Fürsorge für jüdische Kriegsbetroffene in Osteuropa widmeten.376 In der Zeit von Juli 1919 bis Mai 1921 gründete und unterhielt das Komitee in Wien mindestens drei rituelle Kinderküchen, eine Arbeiterküche und zwei Mittelstandsküchen. Letztere wurden täglich von rund 1.800 Lehrern, Künstlern, Schriftstellern und Buchhaltern usw. in Anspruch genommen. Daneben subventionierte das JDC den Weiterbetrieb von nahezu vierzig jüdischen Versorgungseinrichtungen, zu denen neben weiteren rituellen Speisestellen der Kriegszeit auch die Küchen des Vereins zur Errichtung von Volksküchen nach israelitischem Ritus gehörten. Des Weiteren ermöglichte das JDC im Jahr 1922 die Aufrechterhaltung der Schwarzwaldschen Mittelstandsküchen des Vereins zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen, indem es gemeinsam mit der ARA die Belieferung der Gemeinschaftsküchen mit amerikanischen Lebensmitteln und die Ausgabe von Freikarten an Mittelstandsangehörige finanzierte.377 Die von der ARA ins Leben gerufenen Verpflegungsaktionen für Erwachsene beschränkten sich bis zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen auf die sogenannte »Dollarpaketaktion«, mit der zwischen Februar 1920 und März 1921 Lebensmittel im Wert von rund 360.000 Dollar zur Verteilung gelangten.378 Ein Teil der versandten Dollarpakete war an einzelne Österreicher persönlich gerichtet, denen auf diesem Weg die Hilfe von Verwandten und Freunden, die in den Vereinigten Staaten lebten, zukam. Der überwiegende Teil der Sendungen war jedoch ohne nähere Widmung für unterschiedliche Wohlfahrtszwecke bestimmt,
Wohltätigkeitsaktionen finanziell unterstützt. Vgl. Liebschutz, Sarah F.: Communities and Health Care. The Rochester, New York, Experiment, Rochester 2011, S. 30. Zur Hilfsmaßnahme in Wien vgl. Reischl, Die ausländische Kinderhilfe, S. 411f. 375 A Review of the Work of the American Relief Administration in Austria, Wien 1921, S. 44ff. 376 Vgl. Reischl, Die ausländische Kinderhilfe, S. 395 und S. 403ff. 377 Vgl. ebd., S. 413. Three Years Work of the American Relief Administration in Austria, Wien 1922, S. 35ff. 378 Vgl. »Verordnungsblatt des Bundesministeriums für Volksernährung«, 3. Jg., Nr. 5 (Mai 1921), S. 161.
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sodass auf diesem Wege auch einige Wiener Großküchen, die sich an Erwachsene richteten, Unterstützung erhielten.379 Trotz der vielfältigen ausländischen Aktionen blieb die Massenverpflegung für Erwachsene insgesamt betrachtet – und im Gegensatz zur Kinderspeisung – eine Ausnahmeerscheinung unter den Hilfsmaßnahmen. Dies lag zu einem gewissen Teil daran, dass die ausländische Spendenbereitschaft gegenüber Hilfsmissionen für Erwachsene weitaus geringer ausfiel als für jene Initiativen, die sich in erster Linie an Not leidende Kinder richteten.380 Eine nicht unbedeutende Rolle werden aber auch die Massenverpflegungsaktivitäten der Wiener Stadtverwaltung gespielt haben, die seit dem Sommer 1919 an einer neuerlichen Reorganisation des städtischen Großküchenwesens arbeitete.
2.2.2 Wiens Kriegsküchen bestehen fort: Die Entstehung der WÖK Der enorme Zulauf zu den Wiener Massenspeiseeinrichtungen blieb im ersten Nachkriegsmonaten ungebrochen. Im Sommer 1919 existierten in Wien nach wie vor mehr als 400 Großküchen und Ausspeisestellen, die durchschnittlich von mindestens 452.000 Wienern täglich in Anspruch genommen wurden.381 Mehr als die Hälfte der Speiseteilnehmer waren Besucher der kommunalen Großküchen. Die Speisestellen der unentgeltlichen Ausspeisungsaktion erlebten im Januar 1919 mit nahezu 110.000 Teilnehmern den höchsten Besucherstand seit ihrer Errichtung. Über zwei Drittel der Portionen wurden hierbei in den Speisestellen der Wiener Arbeiterbezirke verteilt (Abb. 45).382 Auch in den anschließenden Monaten blieb die Frequentierung der Ausspeisungen außerordentlich hoch. Etwa 34 Millionen Portionen gaben die Speisestellen im ersten Nachkriegsjahr aus – das waren rund eine Million Portionen mehr als im Kriegsjahr 1917. Abgenommen hatte demgegenüber die Zahl der Ausspeisungen, die im Vergleich zum Jahr 1917 (mit 157 Speisestandorten) nunmehr 127 Speisestellen umfasste. Ebenfalls gesunken war auch die Zahl der städtischen Kriegsküchen, die zwischen Januar und Juni 1919 nicht weniger als 35 Millionen Portionen ausgaben. Nachdem gegen Ende des Jahres 1918 die Kriegsküche Nr. 68 eröffnet wurde, mussten im ersten Halbjahr 1919 achtzehn Einrichtungen ihren Betrieb wieder einstellen. Der enorme Materialmangel, der die hygienischen Bedingungen in den Küchen zunehmend beeinträchtigte, fehlende Rohstoffe und unüberwindbare Schwierigkeiten bei der Belieferung der Küchen mit Lebensmitteln werden die maßgeblichen Gründe für die Schließungen gewesen sein.383
379 Vgl. ebd. Ferner Reischl, Die ausländische Kinderhilfe, S. 409. 380 Vgl. Cox, Hunger, S. 282. 381 Im Juni 1919 waren mehr als 120 Speisestellen der städtischen Ausspeisungsaktion und noch etwa fünfzig städtische Kriegsküchen in Betrieb. Daneben bestanden u.a. über 110 Gemeinschaftsküchen und mehr als 120 Betriebsküchen. Nicht mitgerechnet sind die privaten Speiseanbieter, Suppenanstalten und Volksküchen. Vgl. Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 160 und S. 162f. 382 Vgl. ebd., S. 160. 383 Dies geht aus verschiedenen Beiträgen in den Gemeinderatssitzungen hervor. Vgl. u.a. »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 6. März 1919«, in: Amtsblatt der Stadt Wien 28 (1919), Nr. 22, 15. März 1919, S. 629–672, hier S. 634. Sowie »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 15. April 1919«, in: ebd., Nr. 33, 23. April 1919, S. 937–963, hier S. 939f.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Abbildung 45: Besucherzahlen der öffentlichen Ausspeisungen nach Wiener Bezirken (Anfang 1919)
Quellen: Gemeinde-Verwaltung 1914–1919, S. 160.
Die Probleme in den Kriegsküchen, von denen auch die Ausspeisungen und viele andere Wiener Großküchen in ähnlichem Maße betroffen waren, wurden ab dem Frühjahr 1919 abermals im Gemeinderat zur Sprache gebracht und erneut mit Forderungen nach einer Reform des Kriegsküchenwesens verbunden. Dabei waren es wieder in erster Linie die sozialdemokratischen Vertreterinnen und Vertreter, die auf die »grandiose Mißwirtschaft« in nahezu allen Küchen hinwiesen. Die Stadträtin Amalie Seidel (1876–1952) beklagte die vorherrschende Korruption in den Küchen, die mit einer bevorzugten Versorgung des Küchenpersonals und vielfach ausbleibenden Einnahmen einherging. Niemand kümmere sich um die Vorkommnisse in den Küchen und jede Einrichtung führe ihre Bücher nach eigenem Ermessen.384 Ein grundsätzliches Problem habe laut den Sozialdemokraten in der Vielzahl der verschiedenen nebeneinander bestehenden Einrichtungen bestanden, die alle getrennt voneinander und daher unökonomisch verwaltet wurden.385 Der sozialdemokratische Gemeinderat Gustav Scheu (1875–1935) forderte
384 »Die Reform des Ausspeisedienstes«, in: Neue Freie Presse, 24. Oktober 1919. Siehe auch »Vereinheitlichung des Ausspeisedienstes der Stadt Wien«, in: Wiener Zeitung, 24. Oktober 1919. 385 Vgl. hierzu den Antrag der Gemeinderätin Marie Kramer (1884–1973). »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 20. Juni 1919«, in: Amtsblatt der Stadt Wien 28 (1919), Nr. 52, 28. Juni 1919, S. 1503–1540, hier S. 1513.
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daher bereits im März 1919 »einen Plan zur einheitlichen Organisation, Leitung, Versorgung und hygienischen Ueberwachung der Kriegsküchen«386 . Die Aufgabe der Reorganisation der städtischen Massenverpflegung wurde schließlich im Juli einer Gemeinderatskommission übertragen. Diese sprach sich nach eingehender Prüfung der Verhältnisse in den Küchen im Laufe des Herbstes ebenfalls für eine einheitliche Belieferung der Einrichtungen durch eine noch zu gründende städtische Zentralstelle aus.387 Mittlerweile hatten weitere Kriegsküchen ihren Betrieb einstellen müssen. Auch der Besucherandrang nahm trotz der anhaltenden Versorgungsschwierigkeiten spürbar ab. Die Zahl der ausgegebenen Mahlzeiten, die im Frühjahr 1919 noch mehr als 190.000 Portionen täglich umfasste, sank bis Oktober 1919 auf nunmehr 60.000 Tagesportionen.388 Einen ähnlich drastischen Rückgang der Teilnehmerzahlen hatten auch die städtischen Ausspeisungen zu verzeichnen. Während im Sommer noch rund 94.000 Wiener die unentgeltliche Speisung in Anspruch nahmen, waren es gegen Ende des Jahres noch 51.000 Teilnehmer. Die rückläufigen Zahlen in den mehrheitlich von Kindern besuchten Ausspeisungen sind zum einen auf das Bestehen der amerikanischen Kinderhilfsaktion zurückzuführen. Zum anderen habe, wie Reumann erklärte, der im Spätsommer eingeführte Regiebeitrag dazu beigetragen, dass viele Bedürftige die Ausspeisungen nicht mehr frequentierten.389 Die abnehmende Besucherzahl in den Kriegsküchen wurde hingegen gemeinhin als Folge der obwaltenden Missstände in den Küchen angesehen. Im Zuge der Verschärfung der Ernährungsprobleme im Herbst 1919 suchten die Wiener statt der Kriegsküchen vermehrt andere Speiseeinrichtungen auf. Dem NeuigkeitsWelt-Blatt zufolge wuchs der Besucherkreis der Gemeinschaftsküchen in jenen Wochen um 50.000 Personen.390 Immer mehr Gasthäuser gingen zudem dazu über, ihre Betriebe in Erwerbsküchen umzuwandeln, und boten Menüs zum Einheitspreis an.391 Darüber hinaus wurde die Gründung eines neuen privaten Großküchenunternehmens bekanntgegeben. Gegen Ende November eröffnete die sogenannte »Wiener Elternvereinigungsküche«, die in nahezu allen Stadtbezirken mindestens eine ihrer rund vierzig Abgabestellen unterhielt.392 Alle diese Entwicklungen gaben der Stadtverwaltung zu erkennen, dass der Bedarf nach öffentlicher Verpflegung in der Wiener Bevölkerung anhielt. In Anbetracht des 386 »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 6. März 1919«, S. 634. 387 Vgl. Hörandner, WÖK, S. 13. Vgl. auch »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 11. Juli 1919«, in: Amtsblatt der Stadt Wien 28 (1919), Nr. 60, 26. Juli 1919, S. 1855–1893, hier S. 1861. Die Errichtung einer städtischen Zentralstelle, die sämtliche Verpflegungsanstalten mit Lebensmitteln beliefert, wurde bereits kurz zuvor von Seiten des christlichsozialen Gemeinderatsvertreter Karl Rummelhardt (1872–1930) beantragt. Vgl. »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 15. April 1919«, S. 940. 388 Vgl. »Die Reform des Ausspeisedienstes«, in: Neue Freie Presse, 24. Oktober 1919. 389 Vgl. »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 23. Jänner 1920«, in: Amtsblatt der Stadt Wien 29 (1920), Nr. 9, 31. Jänner 1920, S. 273–291, hier S. 279f. 390 Vgl. »Die Massenausspeisung in Wien«, in Neuigkeits-Welt-Blatt, 15. November 1919. 391 Vgl. »Die Wiener Gemeinschaftsküchen«, in: Der Tag, 11. Februar 1925. 392 Vgl. ebd. Vgl. auch »Der Kampf um die ›Wiener Elternvereinigungs-Küche‹«, in: Neuigkeits-WeltBlatt, 19. November 1919. »Das Ende der Wiener Großküche«, in: Der Neue Tag, 19. November 1919. Näheres über den Fortgang dieses Großküchenunternehmens konnte nicht ermittelt werden.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Brennstoffmangels gingen die Gemeindevertreter davon aus, dass viele Zehntausende Wiener Haushalte im bevorstehenden Winter auf öffentliche Küchen angewiesen sein werden.393 Ende Oktober präsentierten Reumann und Finanzstadtrat Breitner dem Stadtrat die Pläne zur Vereinheitlichung der städtischen Küchen. Für die künftige Organisation des Kriegsküchenwesens setzte die Wiener Stadtverwaltung auf die Expertise der US-Amerikaner, die mit der Kinderhilfsaktion eine mustergültige Massenverpflegung leiteten. Im Einvernehmen mit der niederösterreichischen Landesregierung und dem Volksernährungsamt betraute der Stadtrat auf Antrag Reumanns den für Wien zuständigen ARA-Kommissär Geist mit der Leitung der künftigen Wiener Erwachsenenspeisung. Breitner zufolge war der US-Amerikaner damit bevollmächtigt, die städtischen Küchen ohne jegliche »bürokratische Bevormundung« nach seinen Vorstellungen zu reorganisieren und, »was das Entscheidende und Maßgebende ist, Lebensmittelbezüge aus dem Auslande zu sichern, nachdem weder wir noch der Staat die hiezu erforderlichen Fremdenkredite uns beschaffen können«394 . Für die Durchführung der Kriegsküchenreform, für die von Seiten der amerikanischen Auslandshilfe keinerlei finanzielle Mittel in Aussicht gestellt wurden, entschlossen sich Staat und Gemeinde zur Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Am 8. November 1919 wurde schließlich die »Vienna Public Feeding Ges.m.b.H.« (VPF) ins Leben gerufen: »Als Gegenstand des Unternehmens wurde die Volksausspeisung in Wien festgelegt, mit dem Zusatz, daß die Gesellschaft ein gemeinnütziges Unternehmen sei. Das Stammkapital von 20 Millionen Kronen wurde je zur Hälfte von Bund und Gemeinde eingelegt, zur Gewinnverteilung wurde bestimmt, daß der Reingewinn teils zu ›reservieren‹, teils Ausspeisungszwecken zuzuführen sei. Einen allfälligen Verlust sollten beide Gesellschafter je zur Hälfte tragen.«395 Die Geschäftsführung der VPF wurde erfahrenen Vertretern verschiedener staatlicher und kommunaler Lebensmittelversorgungsinstitutionen übertragen. Geist übernahm den Vorsitz im siebenköpfigen Aufsichtsrat, dem neben je zwei staatlichen und kommunalen Vertretern auch Clemens Pirquet und der US-amerikanische Fabrikant und Wohltäter Jerome Stonborough (1873–1938) angehörten.396 Die Vorbereitungen zur Übernahme der Kriegsküchen durch die VPF waren seit Ende Oktober im Gange. Nicht alle der bestehenden Einrichtungen wurden als fortführungswürdig erachtet. Jene
393 Vgl. »Die Reform des Ausspeisedienstes«, in: Neue Freie Presse, 24. Oktober 1919. Ferner »Die amerikanische Kriegsküchenaktion«, in: Neues Wiener Tagblatt, 15. November 1919. 394 Ebd. 395 Schönfellner, Franz: »Der Bund als Gesellschafter der WÖK in der ersten Republik«, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 39 (1986), S. 148–171, hier S. 148. Vgl. auch »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 14. November 1919«, in: Amtsblatt der Stadt Wien 28 (1919), Nr. 95, 26. November 1919, S. 2919–2951, hier S. 2928ff. 396 Vgl. hierzu ausführlich »Die amerikanische Ausspeisung«, in: Der Neue Tag, 14. November 1919. Sowie Schönfellner, Der Bund, S. 151f. Das Mitwirken Stonboroughs stand in einem engen Zusammenhang mit dem Engagement seiner Frau Margaret Stonborough-Wittgenstein (1882–1958), die sich als gebürtige Österreicherin zur Mitarbeit in der Amerikanischen Hilfsaktion berufen fühlte und Lebensmittelspenden für Wien organisierte. Vgl. Greiner, Margret: Margaret Stonborough-Wittgenstein. Grande Dame der Wiener Moderne, Wien 2018, S. 120ff.
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Küchen, die sich für den Weiterbetrieb eigneten, wurden nach Möglichkeit generalüberholt, was sich in erster Linie in der Neubesetzung des Küchenpersonals bemerkbar machte. Nach den Vorstellungen Geists sollte auch die Leitung der Erwachsenenküchen vor allem Frauen angetragen werden, die mit dem bewährten NEM-System von Pirquet vertraut waren.397 Die VPF übernahm zunächst nur neunzehn Wiener Kriegsküchen und machte während der Verhandlungen darauf aufmerksam, dass die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel die für einen Dauerbetrieb anfallenden Kosten nicht deckten. Hörandner zufolge übertrug die Gemeinde der Gesellschaft daraufhin u.a. die volle Verfügungsmacht über den kommunalen »Mindestbemitteltenfonds« in Höhe von 1,2 Millionen Kronen monatlich, mit dem die Fürsorgezentrale bislang auch die Ausspeiseaktion finanzierte.398 Am 10. November 1919 eröffnete die VPF die ersten neun Küchen, die zu Beginn etwa 6.900 Teilnehmer täglich versorgten. Bis zum Ende des Jahres wurden nach und nach auch die übrigen Küchen in Betrieb genommen. Der Teilnehmerkreis nahm kontinuierlich zu. Gegen Ende Februar 1920 betrug die tägliche Besucherzahl mehr als 46.000 Personen.399 Trotz dieser recht positiven Entwicklung sah sich die VPF ab Anfang des Jahres 1920 gezwungen, innerhalb des Unternehmens personelle Neubesetzungen vorzunehmen. Ausgelöst wurden die Veränderungen in erster Linie durch die Beanstandung des Unternehmens seitens der ARA. Diese betrachtete die in der Wiener Presse vielfach irrtümlich als »amerikanische Hilfsaktion« betitelte Erwachsenenspeisung nicht als ihre Aufgabe und distanzierte sich von Geist. Zugleich forderte sie die Rückgabe aller Arbeitsmittel, die ursprünglich im Besitz der amerikanischen Kinderhilfsaktion waren und für den Zweck der Erwachsenenspeisung dienstbar gemacht wurden.400 Kurz nach seinem Ausscheiden aus der amerikanischen Hilfsaktion wurde Geist auch seiner Position im Aufsichtsrat der VPF enthoben. Der nur mehr einfache amerikanische Bürger Geist, der wenige Wochen zuvor noch als »Nährvater Wiens«401 hochgelobt wurde, erfüllte die an ihn gestellten Erwartungen nicht. Seine Versprechungen, finanzielle Mittel für die VPF aufzubringen und Nahrungsmittel aus dem Ausland herbeizuschaffen, konnte er nicht erfüllen. Auch das von ihm erklärte Ziel, innerhalb kürzester Zeit rund eine Million Wiener durch die Erwachsenenspeisung zu versorgen, lag Anfang Januar 1920 in unrealistischer Ferne.402 Der Neue Tag bezeichnete Geists Leistung als ein Fiasko und gab 397 Vgl. »Die amerikanische Ausspeiseaktion«, in: Neues Wiener Abendblatt, 29. Oktober 1919. »Reform des Ausspeisewesens«, in: Der Neue Tag, 30. Januar 1920. Vgl. auch »Energische Remedur!«, in: Neues Wiener Journal, 25. Oktober 1919. 398 Vgl. Hörandner, WÖK, S. 16f. 399 Vgl. Exel, Erich: »Die Wiener öffentliche Küchenbetriebsgesellschaft m.b.H.«, in: Amtsblatt der Stadt Wien 51 (1946), Nr. 27, 24. Juli 1946, S. 1–2, hier S. 1. 400 Vgl. Schönfellner, Der Bund, S. 150. »Reform des Ausspeisewesens«, in: Der Neue Tag, 30. Januar 1920. Bereits Ende des Jahres 1919 klärten erste Wiener Tageszeitungen die Bevölkerung darüber auf, dass die VPF ein vom amerikanischen Kinderhilfswerk unabhängiges Unternehmen sei. Von Seiten der USA seien der VPF weder finanzielle Mittel noch Lebensmittel zur Verfügung gestellt worden. Vgl. »Die amerikanische Kinderhilfsaktion über die Not in Wien«, in: Neue Freie Presse, 30. November 1919. »Von der amerikanischen Kinderhilfsaktion«, in: Wiener Abendpost, 1. Dezember 1919. 401 »Dr. R. Hermann Geist«, in: Wiener Bilder 44, 24. Jg. (2. November 1919), S. 4. 402 Vgl. »Die Reform des Ausspeisedienstes«, in: Neue Freie Presse, 24. Oktober 1919.
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zu erkennen, dass es um die einstige Beliebtheit des Amerikaners nicht mehr allzu gut stand: »Die Art der Geschäftsführung und die Haltung, die Dr. Geist gegenüber den verdienten Leiterinnen der früheren Kriegsküchen an den Tag legte, aber auch – und dies nicht zum geringsten Teile – das Ausbleiben der Geldhilfe und der Lebensmittel aus Amerika, die Dr. Geist in bestimmte Aussicht gestellt hatte, haben nun in den beteiligten Kreisen eine Mißstimmung gegen den Chef der ›Vienna public feeding‹ hervorgerufen, die immer größeren Umfang annahm, vielleicht auch aus dem Grunde, weil sich Doktor Geist bei verschiedenen Anlässen in offenem Widerspruch zu den Anschauungen anderer in Wien tätiger amerikanischer Funktionäre setzte.«403 Die Nachfolge Geists als Präsident des Aufsichtsrats trat ab Januar 1920 der sozialdemokratische Gemeinderat Sigmund Fränkel (1868–1939) an. Infolge der personellen Neuerungen und in Abgrenzung zur amerikanischen Hilfsaktion erachteten die Verantwortlichen auch die Änderung des Unternehmenstitels für erforderlich. Im Rahmen der außerordentlichen Generalversammlung vom 12. Mai 1920 wurde die VPF schließlich in »Wiener Öffentliche Küchengesellschaft m.b.H.« umbenannt.404 Durch eine sparsame Unternehmensführung und einige Spenden verschiedener ausländischer Missionen gelang es der WÖK, die Küchenzahl im Laufe der folgenden Monate auf 22 zu steigern. In nahezu jedem Wiener Bezirk gab es gegen Ende des Jahres 1920 eine WÖK-Filiale, die von rund 60.000 Wienern täglich besucht wurden (Abb. 46).405 Mittellose Teilnehmer, die von den nach wie vor aktiven Frauenarbeitskomitees einen Nachweis der Bedürftigkeit erhielten, bezogen die Speisen der WÖK unentgeltlich. Alle anderen Gäste zahlten zunächst drei und ab Frühjahr 1920 acht Kronen für die Mahlzeit. An jedem Wochentag wurden Suppe, Gemüse und Beilage oder Mehlspeisen und je einmal wöchentlich Buchteln und Würste angeboten.406 Ab November 1920 erfolgte die Ausgabe der WÖKSpeisen erstmals ohne die Vorlage von Rationsmarken. Nach Weisgram sei die Zahl der täglich ausgegebenen Mahlzeiten noch bis zum Ende des Jahres auf 110.000 Portionen gestiegen.407
403 »Reform des Ausspeisewesens«, in: Der Neue Tag, 30. Januar 1920. Die Unstimmigkeiten führten u.a. dazu, dass Pirquet sein Amt im Aufsichtsrat bereits vor der Abberufung Geists niederlegte. Sein Nachfolger wurde der oben erwähnte Physiologe Arnold Durig. 404 Vgl. Schönfellner, Der Bund, S. 150. 405 Zu den Einrichtungen siehe Ausführungen zur Tab. viii im Anhang. 406 Vgl. »Ein Mittagessen für 60.000 Personen«, in: Illustrierte Kronen-Zeitung, 21. November 1921. Die Mahlzeitenpreise stiegen im Verlauf der Inflation. Im August 1921 kostete die Mahlzeit bereits zwanzig Kronen. Im Frühjahr 1922 zahlten die Abonnenten der WÖK für die Mittagsmahlzeit 340 Kronen. Vgl. hierzu »Der Preisabbau«, in: Die Rote Fahne, 29. Juli 1921. »Billiger Mittags- und Abendtisch«, in: Neues Wiener Tagblatt, 9. April 1922. 407 Vgl. Weisgram, Das Problem, S. 204. In Anbetracht der Versorgungsschwierigkeiten erscheint diese Zahl nicht außergewöhnlich hoch. Den weiteren vorliegenden Quellen war jedoch keine vergleichbare Zahl zu entnehmen.
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Abbildung 46: Besucherzahlen der WÖK (1919–1922)
Quellen: Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 23. Jänner 1920, S. 280. Exel, Die Wiener, S. 1. Weisgram, Das Problem, S. 204. Vom Wiener öffentlichen Küchenbetrieb zur Wiener Gastlichkeit, Wien 1979, [o.S.]. »Ein Mittagessen für 60.000 Personen«, in: Illustrierte Kronen-Zeitung, 21. November 1921. »Der Streik in den Gemeinschaftsküchen«, in: Wiener Zeitung, 6. Juli 1922.
Das Unternehmen setzte sich schließlich zum Ziel, die ehemaligen Kriegsküchen nach und nach in Gemeinschaftsküchen umzuwandeln. Damit verbunden war eine Umgestaltung des Speisebetriebs. Bisher lösten die Besucher – ähnlich wie zu Kriegszeiten – vor dem Erhalt der Speisen sogenannte »Wochenblocks« oder Tageskarten. Die Speisen nahmen sie anschließend in selbst mitgebrachtem Geschirr mit nach Hause. Diese Form der »Besucherabfertigung« sollte nun allmählich durch einen alkohol- und trinkgeldfreien Speisehausbetrieb ersetzt werden. Die Filiale in der Herrengasse war die erste Einrichtung der WÖK, in der das Essen auch an Ort und Stelle eingenommen werden konnte. Hörandner zufolge setzte anschließend eine gewaltige Expansion der WÖK ein: »[… D]as Unternehmen florierte. 1921, dem Jahr des grössten Unternehmensumfangs, was Filialen angeht, waren 39 Küchen in Betrieb. Bereits im nächsten Jahr, 1922, wurden 8 von ihnen als unrentabel geschlossen. Zur Unternehmensstrategie gehörte es (was heute nicht mehr so radikal neu ist), zu expandieren und Neueröffnungen im Sinne der Erprobung neuer Standorte vorzunehmen.«408 Neben der Eröffnung neuer Küchenstandorte übernahm die WÖK auch weitere bestehende Speiseeinrichtungen. Im Oktober 1921 wurden z.B. zwölf Betriebe des Kuratoriums zur Speisung hungernder Kinder in das Filialnetz der WÖK aufgenommen.409 Zum Wachstum des Unternehmens trug darüber hinaus seine Tätigkeit als Speise408 Hörandner, Zur Rolle, S. 86. 409 Vgl. Exel, Die Wiener, S. 1.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
und Lebensmittellieferant bei. So versorgte die WÖK mehr als sechzig städtische Kindergärten mit rohen Lebensmitteln und ermöglichte damit die Fortsetzung der Frühstücksausspeisung für rund 3.300 Kleinkinder, die von der niederländischen Hilfsaktion Mitte Oktober 1921 eingestellt und anschließend von der Gemeinde und dem Personal der Kindergärten weitergeführt wurde.410 Als im Mai 1922 auch die Kinderund Schülerspeisung der amerikanischen Hilfsaktion beendet werden musste, wuchs das Tätigkeitsfeld der WÖK um eine weitere bedeutende Aufgabe. Seit den Wintermonaten bereitete die Gemeindeverwaltung die Übernahme der Mittagsausspeisung für etwa 20.000 Schulkinder und 2.000 Kleinkinder vor. Dabei verfolgte sie das Ziel, die Kinderverpflegung aus eigener Kraft zu finanzieren und zu organisieren. Auf weitere in Aussicht gestellte Auslandskredite wollten die Sozialdemokraten angesichts der verbesserten Versorgungsverhältnisse künftig verzichten. Sie empfanden es »als unerträglich, daß in einer Stadt, in der es nie vorher so viele Nachtlokale, Heurigenschenken, Personenautomobile […] gegeben hat, immer wieder um Auslandshilfe zur Ernährung der Kinder gebettelt wird«411 . Auch auf staatlicher Ebene wurde die Fortführung der Ernährungsfürsorge für unterernährte Schulkinder beschlossen. Am 12. Mai 1922 verabschiedete der Nationalrat ein »Schülerspeisungsgesetz«, das Bund und Länder bei der Finanzierung der Schulverpflegung in die Pflicht nahm.412 Gleichzeitig sicherte sich Österreich mit diesem Beschluss eine vorläufige finanzielle Beihilfe der US-Amerikaner, die auf eine langfristige Fortsetzung des Kinderhilfswerks aus waren.413 Für das Wiener Rathaus kam die Annahme des Gesetzes nicht in Frage. Indem sie sich der Abstimmung enthielt und damit auf Auslands- und Bundesmittel verzichtete, bekannte sich die Stadt zu ihrem Plan der Selbsthilfe. Ab September 1922 führte Wien die Schülerspeisung schließlich selbständig durch. Entscheidend für die Zulassung der Kinder zur Teilnahme war weiterhin allein ihr Ernährungszustand, der von Schulärzten überprüft wurde. Die Organisation und Kontrolle der Mittagsspeisung wurde dem Jugendamt übertragen. Die WÖK war für die Zubereitung, Zufuhr und Verteilung der Speisen in den über fünfzig Schulspeisestellen und mehr als vierzig Kindergärten zuständig.414 Finanziert wurde die Schul- und Kinderspeisung hauptsächlich durch die Gemeinde und die (zum Teil ermäßigten) Regiebeiträge der Eltern. Letztere begrüßten das kommunale Versorgungsangebot für die Kinder,
410 Vgl. ebd. Vgl. auch Gemeindeverwaltung 1919–1922, S. 300. 411 »Kinderbettel und Auslandskredite«, in: Arbeiter-Zeitung, 15. August 1922. 412 Vgl. hierzu »Bundesgesetz vom 12. Mai 1922 über die Ernährungsfürsorge für Schulkinder (Schülerspeisungsgesetz)« bei Pirquet, Clemens: »Schülerspeisung als Teil der allgemeinen Ernährungsfürsorge«, in: ders. (Hg.), Volksgesundheit im Krieg, Wien 1926, S. 273–362, hier S. 360ff. Vgl. auch Gemeindeverwaltung 1919–1922, S. 300. 413 Vgl. Three Years Work of the American Relief Administration in Austria, Wien 1922, S. 48. Sowie »Das stolze Wien«, in: Wiener Fremden-Presse, 11.-17. Juli 1922. 414 Vgl. Tandler, Julius: »Die Fürsorgeaufgaben der Gemeinde«, in: Das neue Wien. Städtewerk, Bd. 2, Wien 1927, S. 337–895, hier S. 409. Vgl. ferner »Die Schülerausspeisung«, in: Neues Wiener Tagblatt, 4. Oktober 1922. »Ein Jahr Schülerausspeisung durch die Gemeinde Wien«, in: Arbeiter-Zeitung, 8. September 1923. Sowie Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien in der Zeit vom 1. Jänner 1923 bis 31. Dezember 1928 unter den Bürgermeistern Jakob Reumann und Karl Seitz, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1933, S. 697.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
das mehr und mehr in Anspruch genommen wurde. Die Zahl der jährlich ausgegebenen Portionen für Kinder stieg von rund zweieinhalb Millionen im Jahr 1923 auf nahezu fünf Millionen im Jahr 1924. Die Versorgung der Wiener (Schul-)Kinder, von denen Mitte der 1920er Jahre noch immer rund 26 Prozent unterernährt waren, entwickelte sich zum Hauptbetätigungsfeld der WÖK.415 Stets wurden mehr als die Hälfte ihrer produzierten Mahlzeiten an Kinder ausgegeben. Demgegenüber wurde das Speiseangebot für Mittellose schrittweise reduziert. Im Laufe des Frühjahrs 1923 löste sich der Großteil der für die Bedürftigkeitsprüfungen zuständigen Frauenarbeitskomitees auf. Kurz darauf lehnte der mittlerweile christlichsozial-großdeutsch regierte Bund weitere Beitragsleistungen für die Mittellosenspeisung ab, deren Kosten auf sechs Millionen Kronen täglich angestiegen waren.416 Im Spätsommer 1923 wurde die unentgeltliche Mittagsversorgung schließlich ganz eingestellt. Für eine günstige Mittagsverpflegung der bedürftigen Wiener sorgten fortan nur noch die Küchen der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt und des Vereins zur Errichtung von Volksküchen nach israelitischem Ritus. Die elf verbliebenen Einrichtungen des Ersten Wiener Volksküchen-Vereins, die für viele Bedürftige über den Krieg hinaus lange eine Alternative zu den kommunalen Küchen darstellten, aber infolge des Krieges finanziell am Ende waren und mit der »übermächtigen Konkurrenz« nicht mithalten konnten, mussten nach fünfzigjährigem Bestehen im Mai 1923 ihren Betrieb einstellen.417 Doch die Küchenstandorte des Volksküchen-Vereins verschwanden damit nicht aus dem Wiener Stadtbild. Im Juli desselben Jahres wurden sie vom Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen übernommen und in das Küchennetz der Schwarzwald-Küchen integriert. Damit verbanden sich, wie das Neues Wiener Tagblatt schrieb, »ein altes und ein neues Stück Wien […] zu gemeinsamer Arbeit«418 . Das von Eugenie Schwarzwald geleitete Gemeinschaftsküchenunternehmen, das wie die Wiener Kriegsküchen aus der Not des Krieges heraus geboren wurde und großen Zuspruch vonseiten der mittelständischen Wiener Bevölkerung fand, erlebte auch nach dem Krieg noch regen Zulauf. Zwischen 10.000 bis 15.000 Wiener nahmen täglich ihr Mittagsmahl in den Schwarzwald-Küchen ein. Zu ihrem sechsjährigen Bestehen im Januar 1923 hob das Neue Wiener Tagblatt hervor, dass die Gemeinschaftsküche, die »[i]m Toben des Krieges der Welt gegen die Welt […] als wirtschaftliche Errungenschaft und kulturelle Wohltat begrüßt« wurde, mittlerweile »ein Faktor im Wiener Leben« geworden sei.419 Das Wirken des Gemeinschaftsküchenvereins war beispielgebend für zahlreiche weitere Initiativen, die seit 1917 Gemeinschaftsverpflegungen ins Leben riefen.
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Vgl. Schönfellner, Der Bund, S. 151. Zum Stand der Unterernährung der Wiener Kinder vgl. Weigl, Andreas: »Vom Versorgungsfall zur Zielgruppe. Konsumverhalten Wiener Kinder und Jugendlicher zwischen Kinderausspeisung und Markenfetischismus«, in: Walter, Rolf (Hg.), Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 23.-26. April 2003 in Greifswald, Wiesbaden 2004, S. 221–244, hier S. 227f. Zur Verteilung der jährlich ausgegebenen Portionen der WÖK vgl. Hörandner, WÖK, S. 104. 416 Vgl. Gemeindeverwaltung 1919–1922, S. 278. 417 Vgl. »Es muß Volksküchen geben«, in: Der Tag, 31. Mai 1923. 418 »Wiederaufbau der Volksküchen«, in: Neues Wiener Tagblatt, 10. Juli 1923. 419 »Sechs Jahre Wiener Gemeinschaftsküche«, in: Neues Wiener Tagblatt, 26. Januar 1923. Vgl. ferner Ulreich, Alois: »Die Speisegemeinschaft«, in: Die Zeit, 20. Februar 1919. Tauber, Ignaz: »Bilder aus einer Gemeinschaftsküche«, in: Österreichische Volkszeitung, 26. Februar 1919.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Zeitweise zählten alle Wiener Gemeinschaftsküchen, berichtete das Neue Wiener Tagblatt weiter, bis zu 350.000 Gäste täglich. Nicht alle dieser Einrichtungen blieben langfristig bestehen. Ein Massenküchenbetreiber, der wie die Schwarzwald-Küchen auch Mitte der 1920er Jahre noch existierte und stark frequentiert wurde, war das Mittelstandsküchen- und Urlaubsheimunternehmen Mittella A.G.420 Im Jahr 1922 unterhielt es vierzehn Großküchen in staatlichen Gebäuden, die sich hauptsächlich an Beamte und Militärpersonen richteten. Wie die WÖK erhielten die Mittella-Küchen staatliche Subventionen. Sie hatten weder Mietkosten noch Wohnbausteuer zu bestreiten und unterschieden sich in dieser Hinsicht von den Schwarzwald-Küchen.421 Letztere leisteten die gleichen Steuern und Abgaben wie alle Wiener Gastwirtschaften, arbeiteten jedoch nicht gewinnorientiert. Dabei hielt der Gemeinschaftsküchenverein an seinem Organisationsprinzip der Selbsterhaltung aus der Kriegszeit fest. »Jeder ist Wirt, jeder ist Gast, jeder ißt dasselbe, jeder zahlt gleich viel«422 , so Schwarzwald, die bereits zum Zeitpunkt der Gründung der Küchen betonte, dass die Gemeinschaftsküche erst in Friedenszeiten ihre eigentliche Bestimmung erfüllen wird: »Die Gemeinschaftsküche ist eine Oase in der Kriegswüste[, in der jeder Gast bei seiner Mahlzeit eine gemütliche Stunde zubringen können soll]. Aber erst im Frieden wird sie werden können, was sie sein soll: die Stätte einer neuartigen Geselligkeit, ein Faktor zum Abbau der Preise, ein wirksames Mittel im Kampf gegen Luxus, Alkoholismus und Arteriosklerose.«423 Dementsprechend betrachteten Schwarzwald und der Gemeinschaftsküchenverein ihre Einrichtungen nach 1918 als alkoholfreie »Reformgasthäuser«, in denen ohne Trinkgeldzwang einfache und preiswerte, aber geschmackvolle Mahlzeiten zu erhalten waren. Für die teilnehmende arbeitende Bevölkerung war die Gemeinschaftsküche nun das, was sie Schwarzwald zufolge zu sein beabsichtigte: »ein selbstgeschaffenes gemütliches Heim« und »ein Ruhepunkt in der Hast des Arbeitstages«.424 Sieben Jahre nach Kriegsende unterhielt der Verein in Wien 24 Gemeinschaftsküchen. Die meisten der Einrichtungen befanden sich im Zentrum der Stadt. Hier war nach wie vor ein Großteil der Angestellten beschäftigt und viele von ihnen nahmen das öffentliche Speiseangebot in Anspruch.
420 Mittella war der Name des Lebensmittellagerbetriebs für österreichische Staatsbedienstete und »in seiner Funktion«, so Sema Colpan, »eine Konsumentenorganisation, die den Bestimmungen der Verordnungen des Amtes für Volksernährung vom Juli 1918 unterworfen war«. Ab 1920 richtete sich das Versorgungsangebot auch an Militärpersonen. Vgl. Colpan, Sema: »Kasernenstadt Wien. Die Stiftskaserne im Übergang vom Krieg zur Ersten Republik«, in: Zeitgeschichte 4 (2017), S. 220–230, hier S. 222. Vgl. hierzu auch Gemeindeverwaltung 1919–1922, S. 278. 421 Vgl. »Die Wiener Gemeinschaftsküchen«, in: Der Tag, 11. Februar 1925. 422 Schwarzwald, Eugenie: »Die Lösung der Mittagssorge«, in: Die Zeit, 31. März 1917. Zitiert bei Deichmann, Leben mit provisorischer Genehmigung, S. 157–160, hier S. 159. 423 Ebd. 424 Schwarzwald, Eugenie: »Mittagsruhe«, in: Neues Wiener Tagblatt, 21. Januar 1917. Dies.: »Undankbare Arbeit«, in: Neue Freie Presse, 15. März 1925. Zitiert bei Deichmann, Leben mit provisorischer Genehmigung, S. 160–162.
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Im Sommer 1922 nahmen mindestens 120.000 Wienerinnen und Wiener an einer Gemeinschaftsverpflegung teil, wobei zahlreiche Angestellte auch auf Gemeinschaftsund Anstaltsküchen in ihren Betrieben zurückgreifen konnten.425 Neben zahlreichen Banken und Gemeindebehörden verfügten z.B. die Bundesbahn, die Wiener Gaswerke, das städtische Lagerhaus und die Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft, um nur einige zu nennen, weiterhin über Betriebsküchen für ihre Angestellten. Sowohl die Schwarzwald-Küchen als auch die betrieblichen Verpflegungsangebote veranschaulichen, dass der Fortbestand der Wiener Kriegsküchen in den Nachkriegsjahren und die daraus entstandene WÖK kein Einzelphänomen blieben. »Die Zeit, da die Wiener zwischen dem häuslichen Herd und der Gasthausküche kein Zwischending kannten, ist vorüber«, erklärte das Wiener Montagblatt Der Morgen Ende des Jahres 1931. »Als während des großen Krieges und in den schrecklichen Jahren nachher die Lebensmittelknappheit zu methodischer Sparsamkeit zwang, kam die ›Gemeinschaftsküche‹ in Schwung, machte seitdem ihre Wandlungen durch und hat schließlich den Begriff […d]es Speisehauses […] in Wien populär gemacht […].«426 Zu dieser Entwicklung trugen alle Speisedienstleister in Wien bei, doch von den drei größten Massenküchenbetreibern gelang es schließlich nur der WÖK, langfristig einen Platz im Alltag der Wiener einzunehmen. Die Schwarzwald-Küchen und die Mittella A.G. gerieten schon bald in finanzielle Schwierigkeiten. Schwarzwalds Gemeinschaftsküchenverein musste bereits im Jahr 1926 ein Ausgleichsverfahren beantragen und die Küchen ein Jahr später auf die Gemeinde übertragen.427 Die Mittella A.G. beklagte ab 1932 immer größere Verluste und ging vier Jahre später in Konkurs.428 Der WÖK hingegen gelang es, das alkoholfreie Reformgasthauswesen und die Schulkinderverpflegung über die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg hinaus voranzutreiben. Hierbei kam sie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zwangsläufig nicht umhin, zumindest zeitweise zu ihren Wurzeln zurückzukehren und die Rolle als Notversorgungseinrichtung einzunehmen.
3| Die Sozialdemokratie und die Massenverpflegung 3.1 Ungleiche Rahmenbedingungen: Kommunale Sozialpolitik in Wien und Berlin Die anhaltenden Versorgungsprobleme nach dem Krieg und die im Zuge der Inflation erneut hereinbrechende Not verlangten in Wien und in Berlin nach einem Weiterbetrieb der Massenverpflegung. Die zahlreichen internationalen Hilfsinitiativen und vor allem die US-amerikanischen Speiseaktionen für Kinder trugen darüber hinaus dazu
425 Vgl. »Drohender Streik in den Gemeinschaftsküchen«, in: Die Rote Fahne, 5. Juli 1922. Zum Fortbestand zahlreicher Betriebs- und Fabrikspeisungen vgl. u.a. Gemeindeverwaltung 1919–1922, S. 633 und S. 754. Darüber hinaus weisen eine Reihe von Versammlungsankündigungen und Spendenausweise in verschiedenen Wiener Tageszeitungen während der Nachkriegsjahre auf das (weitere) Bestehen zahlreicher Betriebsküchen hin. 426 »Der häusliche Herd kommt aus der Mode«, in: Der Morgen, 14. Dezember 1931. 427 Vgl. Deichmann, Leben mit provisorischer Genehmigung, S. 162. 428 Vgl. »Mittella A.G. in Konkurs«, in: Der Österreichische Volkswirt 43 (25. Juli 1936), S. 332.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
bei, dass die Versorgung durch Großküchen bis weit in die 1920er Jahre im Alltag vieler Wiener und Berliner präsent blieb. Dennoch stand ein beträchtlicher Teil der Massenversorgungsangebote in direkter Verbindung mit den Stadtverwaltungen. So waren nicht nur die beiden jeweils größten Massenverpflegungsbetriebe Volksspeisung und WÖK kommunal organisierte Unternehmungen, sondern auch die umfangreichen Kinderspeisungsaktionen wurden in starkem Maße personell, materiell und auch finanziell von den städtischen Behörden unterstützt. Nach dem Rückzug der Auslandshilfe übernahmen die Städte schließlich die Verantwortung für den Fortbetrieb der Kinderverpflegung. Über diese rein formellen Gesichtspunkte hinaus hatten die Wiener und Berliner Großküchenaktivitäten nach 1918 jedoch nicht viel gemeinsam. Obwohl beide Städte nach dem Krieg von Mangel und Not beherrscht wurden, der Hunger und die Unterernährung bis weit über den Friedensschluss und die Inflationskrise hinaus allgegenwärtig waren und es weder in Wien noch in Berlin an Bedürftigen für die öffentliche Massenküche mangelte, wurden die Wiener Massenverpflegungseinrichtungen sehr viel stärker in Anspruch genommen als die Großküchen in der deutschen Hauptstadt. Während für die wenigen (bedürftigen) Berliner, die vom öffentlichen Verpflegungsangebot Gebrauch machten, die städtische und (privat-)wohltätige Massenküche nicht mehr als ein Notbehelf in Krisenzeiten blieb, löste sich die Wiener Großküche im Verlauf der Nachkriegsjahre zunehmend vom Fürsorgecharakter für Notleidende und setzte sich als Alternative zum privaten Mittagstisch im Alltag vieler werktätiger Wiener durch. Dass der Zuspruch für die Wiener Massenverpflegung in der Nachund Zwischenkriegszeit größer ausfiel als für die Berliner Massenküche, lag vor allem an den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen des Massenverpflegungswesens nach dem Krieg. Der Vergleich der Wiener und Berliner Großküchenversorgung bis 1918 hat gezeigt, dass die Akzeptanz der größtenteils improvisierten und vielgestaltigen Massenverpflegung in der Wiener Bevölkerung im Verlauf des Krieges zunahm. Die gegensätzlichen Entwicklungen nach dem Krieg sind aber nicht allein auf die Ausgestaltung des Massenverpflegungswesens zwischen 1914 und 1918 zurückzuführen, sondern zu einem wesentlichen Teil auch das Ergebnis der kommunalen Sozialpolitik der Nachkriegsjahre. Nach 1918 lag diese nicht nur in den beiden Städten, sondern auch auf staatlicher Ebene in den Händen der Sozialdemokratie. Während der ersten zwei Nachkriegsjahre besaßen die Sozialdemokraten in beiden Ländern die politische Stärke, ihre sozialpolitischen Reformen im gesamtstaatlichen Rahmen umzusetzen. Sie zielten auf die Hebung des Lebensstandards und die Sicherung der privaten Reproduktion breiter Bevölkerungskreise durch den Staat. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges sowie der von den Friedensbedingungen abhängigen und somit ungewissen Zukunftsaussichten konnten die sozialdemokratischen Reformbestrebungen jedoch nur in begrenztem Maß realisiert werden. Nach dem Machtverlust auf Reichsbzw. Bundesebene im Jahr 1920 und dem Wegfall der sozialstaatlichen Gestaltungsmacht konzentrierten die Sozialdemokraten ihr politisches Potential vor allem in den von ihnen (mit-)regierten Ländern und Gemeinden.429
429 Vgl. Sieder, Reinhard: Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt a.M. 1987, S. 218. Mit Bezug auf Wien vgl. Maderthaner, Wolfgang: »Das kommunale Experiment. Die ›Veralltäglichung‹ der Utopie?«,
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Im Fall Österreichs blieb den Sozialdemokraten lediglich die Hauptstadt als soziales Experimentierfeld. Doch die Wiener Sozialdemokratie besaß hier nicht nur den benötigten machtpolitischen Freiraum, sondern mit der Trennung Wiens von Niederösterreich ab 1922 auch die partielle finanzpolitische Souveränität, um »über die Notstandsmaßnahmen und pragmatischen Notwendigkeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit«430 hinaus ihr lange geplantes kommunalpolitisches Reformprogramm auf den Weg zu bringen. Vielfach anknüpfend an den Gemeindesozialismus von Karl Lueger und unter Führung von politisch herausragend geschulten Funktionären und Beamten veranlassten die Sozialdemokraten seit 1918 zahlreiche Gesetzesänderungen und Bestimmungen, die Wien nach und nach in eine lebenswerte Stadt verwandeln sollten.431 Zur Behebung der sozialen Missstände drang die Wiener Gemeindeverwaltung in alle Bereiche der Reproduktion ein. Sie kümmerte sich um Gesundheit (Säuglingspaket und medizinische Prophylaxe für Kinder), Bildung (Einrichten und Vorhalten von Kindergärten, Horten, neuen Schulen und Schulformen, Erwachsenenbildung durch Volkshochschulen und -bibliotheken), Wohnen (Schaffung guter und preiswerter Wohnungen für Bedürftige, die mit infrastrukturellen Sozialeinrichtungen ausgestattet waren), Sicherstellung der Nahversorgung und Sozialleben (Schaffen und Vorhalten von Sport- und Freizeitangeboten). Die Wiener Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Wohnbaupolitik zielte damit auf eine allumfassende Betreuung der Bevölkerung von der Wiege bis zur Bahre.432 »Ein ›Neuer Mensch‹, so Konrad, »sollte durch die Politik zumindest mit geformt werden, gesund, kulturell interessiert, stolz auf die Stadt, ihr Erscheinungsbild und ihre Kultur.«433 Mit ihrem sozialen Experiment wollten die Sozialdemokraten der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ein Gegenmodell des kulturellen Zusammenlebens entgegensetzen. Das Rote Wien war ein ehrgeiziges und radikales Konzept, ein »Projekt der Veralltäglichung der Utopie«, das – gewaltsam vom Austrofaschismus zerstört – im Jahr 1934 ein abruptes Ende fand.434 Viele der sozialpolitischen Maßnahmen, die in der Ära des »Neuen Wiens« ergriffen wurden, zeitigten Wirkung. So reduzierte der soziale Wohnbau den Wohnungsmangel und das katastrophale Wohnungselend. Das städtische Gesundheits- und Wohlfahrtswesen, das weitgehend auf dem Kriegsfürsorgewesen aufbaute, bewirkte den Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit und dämmte die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Syphilis ein.435 Die Hebung der sozialen Lebensver-
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in: Schwarz, Werner Michael, Georg Spitaler und Elke Wikidal (Hg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019, S. 24–29, hier S. 29. Ebd. Vgl. Weihsmann, Das Rote Wien, S. 9ff und S. 23. Ferner Konrad, Das Rote Wien (Vortrag), S. 30f. Vgl. Konrad, Das Rote Wien: Ein Konzept, S. 236. Ders., Das Rote Wien (Vortrag), S. 34ff. Vgl. auch Weihsmann, Das Rote Wien, S. 23f. Konrad, Das Rote Wien, S. 49. Vgl. Maderthaner, Wolfgang et al.: »Was ist das Rote Wien? Debatte«, in: Schwarz, Werner Michael, Georg Spitaler und Elke Wikidal (Hg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019, S. 18–23, hier S. 19. Konrad, Das Rote Wien (Vortrag), S. 47ff. Sandner, Günther: Sozialdemokratie in Österreich. Von den Anfängen der Arbeiterbewegung zur modernen Sozialdemokratie, Wien 2018, S. 29ff. Vgl. Pilz, Katrin: »Mutter (Rotes) Wien. Fürsorgepolitik als Erziehungs- und Kontrollinstanz im ›Neuen Wien‹«, in: Schwarz, Werner Michael, Georg Spitaler und Elke Wikidal (Hg.), Das Ro-
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
hältnisse und insbesondere der Volksgesundheit für weite Teile der Bevölkerung verlangte zwangsläufig auch die Förderung einer nahrhaften und gesunden Ernährung. Dies beinhaltete auch den Kampf gegen den Alkoholmissbrauch, der schon lange vor dem Entstehen der Arbeiterbewegung als ein ernstes Problem der Arbeiterklasse angesehen wurde. Für die Wiener Sozialdemokraten, die im Rahmen ihres Arbeiter-Abstinentenbundes seit 1905 Aufklärungsarbeit leisteten und Hilfe für Alkoholabhängige anboten, stellte die Bekämpfung des Alkoholismus von Anfang an eine zentrale Aufgabe dar.436 Unmittelbar nach dem Krieg hatte die Wiener Gemeindeverwaltung nicht besonders viel Handlungsspielraum, um Verbesserungen im Ernährungswesen herbeizuführen, die den ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit entsprachen. Durch die langanhaltenden Versorgungsprobleme und die Abhängigkeit von ausländischen Lebensmittellieferungen beschränkten sich die Sozialdemokraten zunächst auf die wenigen zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten. Die US-amerikanische Hilfsaktion, die mit ihrem Netz von Kinderausspeisungen einer totalen Versorgungskatastrophe entgegenwirkte, wurde von allen Seiten der Wiener Stadtverwaltung tatkräftig unterstützt. Gleichzeitig wusste die Gemeinde um die Notwendigkeit von Versorgungsangeboten für Erwachsene. Bereits zum Zeitpunkt ihrer Amtsübernahme im Mai 1919 verfolgten die sozialdemokratischen Gemeindevertreter das Ziel, die während des Krieges vielfach beklagten und für die Versorgung der minderbemittelten Bevölkerung dringend benötigten Kriegsküchen zu reformieren. Angesichts der katastrophalen Versorgungslage, der damit einhergehenden behördlichen Hilflosigkeit und dem zugleich ständigen Kontakt der Stadtverwaltung zu den Vertretern der ARA, die mit einem gut funktionierenden Versorgungsystem arbeiteten und in direkter Verbindung mit den in Wien eintreffenden Lebensmitteln standen, war es eine Frage der Zeit, bis der Wiener Magistrat für die Organisation des Kriegsküchenwesens eine Zusammenarbeit mit den US-Amerikanern in Erwägung zog. Mit Hermann Geist gewann die Gemeinde die notwendige Unterstützung, um die Reformierung der Kriegsküchen voranzutreiben. Das Mitwirken des in jenen Wochen allseits angesehenen »Dr. Geist«, der Tausende Wiener Kinder vor dem Verhungern rettete, verlieh dem unpopulären städtischen Kriegsküchenwesen gewissermaßen einen neuen (amerikanischen) Charakter, der nicht zuletzt im Namen des Unternehmens »Vienna Public Feeding« in Erscheinung trat. Gleichzeitig erweckte die Kooperation zwischen der Gemeinde und Geist in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass es sich bei der Umgestaltung der kommunalen Großküchen um eine weitere Hilfsaktion der ARA handelte und die erforderlichen Lebensmittel von amerikanischer Seite zur Verfügung gestellt würden. Zu diesem Missverständnis trug auch die Wiener Presse bei, die in ihrer Berichterstattung zur Wiener Kriegsküchenreform im Herbst 1919 vielfach fälschlich von einer »Amerikanischen Kriegsküchenaktion« sprach.437 Tatsächlich erhielt die Stadt von Seiten der USA te Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019, S. 74–81, hier S. 75. Vgl. auch Konrad, Das Rote Wien (Vortrag), S. 39. 436 Vgl. »Arbeiter-Abstinentenbund«, in: Das Rote Wien. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie. Im Internet unter www.dasrotewien.at/seite/arbeiter-abstinentenbund (12.11.2020). 437 Vgl. hierzu exemplarisch »Die amerikanische Ausspeisung«, in: Der Neue Tag, 14. November 1919. »Wiener Angelegenheiten. Die amerikanische Kriegsküchenaktion«, in: Neues Wiener Tagblatt, 15. November 1919. Zu späteren Richtigstellungen vgl. u.a. »Die amerikanische Kinderhilfsaktion über
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weder finanzielle Mittel noch Lebensmittel. Auch wenn seine Ambitionen größere waren, beschränkte sich Geists Unterstützung lediglich auf die organisatorische Expertise und das Hilfsangebot zur Suche nach Lebensmittel- und Finanzquellen für die VPF. Zur Beschaffung der erforderlichen Lebensmittel und auch mit Blick auf das fehlende Kapital für eine umfassende Umgestaltung des Kriegsküchenwesens war die Wiener Stadtverwaltung auf die staatliche Mitwirkung angewiesen. Diese wurde schließlich mit der Beteiligung des Bundes als Gesellschafter der VPF sichergestellt. Die Zusammenarbeit von Staat und Gemeinde auf dem Gebiet der Massenversorgung trug in erster Linie den schwierigen Versorgungsverhältnissen in Wien Rechnung. Da keine genauen Details über das Zustandekommen dieser städtisch-staatlichen Kooperation bekannt sind, lässt sich an dieser Stelle nur mutmaßen, inwieweit die sozialdemokratische Führung der Staatsregierung für die Gründung der Küchengesellschaft eine Rolle spielte.438 Ihre generelle Befürwortung der Massenküche und der grundlegende Wille zur Verbesserung des Fürsorgewesens sprechen dafür, dass es in den Reihen der Sozialdemokraten auf Bundesebene keiner großen Überzeugungskraft bedurfte. Der entscheidende Grund für das gemeinsame Vorgehen, das mit Blick auf die Versorgungs- und Fürsorgeaktivitäten während des Krieges auch kein Novum war, dürfte dennoch weniger die Parteipolitik, sondern vielmehr das Verantwortungsbewusstsein und die Sorge um das Überleben der Hauptstadtbevölkerung gewesen sein. Trotz der schwierigen Lage, in der sich die Wiener Stadtverwaltung im Sommer und Herbst des Jahres 1919 befand, wusste sie ihren engen Handlungsspielraum voll auszunutzen und das Fortbestehen der kommunalen Massenversorgung sicherzustellen. Die – wenn auch nur kurzzeitige – US-amerikanische Unterstützung förderte in gewisser Hinsicht einen »Imagewechsel« der Kriegsküchen, der von Seiten der Bevölkerung nicht gänzlich unbeachtet geblieben sein dürfte. Mit der Vienna Public Feeding und später der WÖK passte die Gemeinde die Neuorganisation und Ausgestaltung der ehemaligen Kriegsküchen den Nachkriegsverhältnissen an. Gleichzeitig stellte sie zügig die Weichen für die Zukunft der Wiener Massenverpflegung. Durch die langfristig angelegte Kooperation von Stadt und Bund war die (finanzielle) Unterstützung des Staates für die WÖK gesichert. Nach dem Ende der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene konnte sich auch die Bürgerblockregierung nicht ohne weiteres aus dem Wiener Großküchenunternehmen zurückziehen. Die Rahmenbedingungen zur Fortsetzung der Massenverpflegung in Wien waren damit gänzlich andere als in der deutschen Hauptstadt. Zwar wurden auch in Berlin unmittelbar nach dem Krieg vereinzelt Veränderungen vorgenommen, die auf eine Verbesserung des städtischen Massenverpflegungswesens zielten, doch wie im Falle Wiens die Not in Wien«, in: Neue Freie Presse, 30. November 1919. »Von der amerikanischen Kinderhilfsaktion«, in: Wiener Abendpost, 1. Dezember 1919. 438 Franz Schönfellner hat sich umfassend mit der Geschichte der WÖK von Seiten des Bundes befasst und die damit zusammenhängenden Bestände des Allgemeinen Verwaltungsarchivs (ATOeStA/AVA) ausgewertet. Seiner Darstellung, die wenige Erkenntnisse zur Vorgeschichte der Gründung der WÖK liefert, sind keine Hinweise auf parteipolitische Interessen zu entnehmen. Vielmehr geht Schönfellner davon aus, dass die Idee zur Gründung der Gesellschaft zum Zweck der Massenverpflegung von einem Mitglied der Amerikanischen Hilfsaktion ausging. Vgl. ders., Der Bund, S. 148f.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
stießen die vorrangig von der (unabhängigen) Sozialdemokratie verfolgten Reorganisationsbestrebungen rasch an die Grenzen des städtischen Budgets. Bis zur turnusgemäßen Neuwahl des Magistrats im Sommer 1920, die den neuen Mehrheitsverhältnissen im Stadtparlament Rechnung trug, lag die Verwaltung der kommunalen Finanzen und der Volksspeisung in den Händen derselben bürgerlichen Magistratsvertreter, die zu Kriegszeiten in Verantwortung waren. Durch ihre ernüchternden Erfahrungen in der Organisation der Massenverpflegung während der Kriegszeit und die fehlenden finanziellen Mittel stand die Stadtregierung den sozialdemokratischen Reformvorschlägen insgesamt zurückhaltend gegenüber. Bei der Lösung der drängenden sozialen Probleme nach dem Krieg nahm die von den Berlinern weitgehend verschmähte Volksspeisung einen nachgeordneten Platz ein. Als die Sozialdemokraten die Magistratsämter endlich mehrheitlich besetzen und ihre – nicht nur auf die Volksspeisung beschränkten – Reformvorhaben auf den Weg bringen konnten, hatten sich die Bedingungen für die Reorganisation der Massenverpflegung geändert. In mehrfacher Hinsicht wurde auf dem Gebiet der Großküchenversorgung wertvolle Zeit verloren. Die Gelegenheit für eine Neuausrichtung der Massenverpflegung, die sich nach Kriegsende und durch den revolutionären Umbruch ergab, blieb ungenutzt. In den städtischen Großküchen blieb vorerst alles beim Alten. Die Berliner Volksspeisung verpasste damit die Chance, den ihr anhaftenden »Kriegscharakter« abzulegen, und erlebte in der Folge eine Fortsetzung des Besucherschwunds, der wiederum ein Schrumpfen des Großküchennetzes nach sich zog. Die Sozialdemokraten übernahmen im Sommer 1920 schließlich die übrig gebliebenen »Reste« des ehemals reichsweit größten Massenverpflegungsprojekts, dem gänzlich die Mittel zum Weiterbetrieb fehlten. Auch galt es nicht mehr nur den Großküchenbetrieb in den Alt-Berliner Bezirken sicherzustellen, sondern auch die Verwaltung und Finanzierung der verschiedenen Massenverpflegungsangebote in den jüngst eingemeindeten Vororten zu koordinieren. Hinzu kam, dass sich die Frage der Finanzierung des städtischen Unternehmens im Zuge der Erzbergerschen Finanzreform 1919/1920 zunehmend schwieriger gestaltete. Die auf den Reichsminister für Finanzen Matthias Erzberger (1875–1921) zurückgehende Reform zielte auf die Vereinheitlichung der Reichsfinanzverwaltung und etablierte ein neues Steuersystem, wodurch die Gemeinden und Länder einen wesentlichen Teil ihrer Steuerautonomie verloren und nun finanziell weitgehend vom Reich abhängig waren.439 Die mit der Neuordnung der Finanzverwaltung einhergehenden Schwierigkeiten für die Hauptstadtverwaltung wogen doppelt schwer, denn seit dem Ausscheiden der SPD aus der Reichsregierung im Juni 1920 fehlte es den Berliner Sozialdemokraten schließlich auch an entscheidungsbefugten Verbündeten auf Reichsebene, die sie materiell und ideell bei ihren sozialistischen Reformvorhaben unterstützten. In Fragen der künftigen Finanzierung der öffentlichen Massenverpflegung waren die Sozialdemokraten somit auf das Wohlwollen der bürgerlichen Regierungsvertreter angewiesen, die als Verfechter der privaten Familienmahlzeit die öffentliche Verpflegung außerhalb von akuten Notzeiten mehrheitlich ablehnten.440
439 Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 100. 440 Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 80f. und S. 94.
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Angesichts dieser organisatorischen und finanziellen Umstände sah sich die Berliner Stadtverwaltung gezwungen, die Volksspeisung in das städtische Fürsorgewesen zu integrieren, um für die bedürftigen Berliner wenigstens den Fortbestand der noch in Betrieb befindlichen Küchen und Ausgabestellen zu sichern. Die Angliederung der Volksspeisung an die städtische Wohlfahrtsdeputation im Jahr 1921 erfolgte im Einklang mit der neuen staatlichen Fürsorgepolitik nach dem Krieg und der damit verbundenen Umstrukturierung des Wohlfahrtswesens. Das traditionelle Armenrecht mit seinen ordnungspolitischen und diskriminierenden Elementen lehnte die SPD ab. Da der überwiegende Teil der durch den Krieg und seine Folgen in Not Geratenen nicht zur traditionellen Klientel der Armenpflege gehörten, förderten die Sozialdemokraten in der Zeit ihrer Regierungsverantwortung ein neues Fürsorgerecht, das gleichzeitig an die Erfahrungen der staatlichen Kriegsfürsorgepolitik anknüpfte.441 Mit Inkrafttreten der Weimarer Verfassung im August 1919 war der neue Staat schließlich für die Regelung der gesamten Sozialpolitik zuständig. Auf Länder- und Gemeindeebene zog dies die organisatorische und verwaltungstechnische Vereinheitlichung der Fürsorgeangelegenheiten nach sich. In der Hauptstadt verband sich die Neugliederung des Wohlfahrtswesens mit der Bildung der Stadtgemeinde Groß-Berlin. Der Größe des Stadtgebiets entsprechend entstanden drei zentrale Deputationen mit den dazugehörigen ausführenden Ämtern für Jugendfürsorge, Gesundheitsfürsorge und die (oben genannte) allgemeine Wohlfahrtspflege. Die Einrichtung der neuen Verwaltungsämter auf kommunaler Ebene schritt zügig voran, wohingegen die Einführung der reichseinheitlichen Fürsorgegesetzgebung mehr Zeit beanspruchte. Die schwierige Wirtschaftslage und die Inflation verzögerten das Inkrafttreten neuer Fürsorgeverordnungen, sodass in den Ländern und Städten bis weit in das Jahr 1924 hinein ein Durch- und Nebeneinander der sozialpolitischen Verpflichtungen und Fürsorgemaßnahmen herrschte. Während dieser ersten Phase der Weimarer Sozialpolitik bestand die Daseinsfürsorge im Wesentlichen in der Erfüllung der materiellen Grundbedürfnisse der überwiegend verarmten städtischen Bevölkerung.442 Die Aufgabe der Kommunalverwaltungen bestand darin, die Mittel des täglichen Bedarfs verbilligt oder kostenlos bereitzustellen. Die Fürsorgemaßnahmen, die von der Wohnraumversorgung über die Abgabe von Heizmaterialien und Kleidung bis hin zur Verpflegung mit warmen Mahlzeiten reichten, wurden nach dem Dotationssystem finanziert. Danach gingen die Gemeinden in Vorleistung und bekamen einen Teil ihrer Ausgaben vom Reich erstattet. Die Subventionen waren zweckgebunden und verlangten somit ein umfangreiches Abrechnungs-, Berichts- und Vorschussverfahren, das die Verwaltung wiederum verteuerte und komplizierte.443 Durch die Fülle von Grundsätzen und Richtlinien wurde nicht nur die eigentliche Fürsorgearbeit stark behindert, sondern auch die Selbständigkeit der Gemeinden eingeschränkt. Die fehlende Steuerautonomie und die voranschreitende Geldentwertung erschwerten zudem die Beteiligung der Kommunen an den Kosten der Fürsorge. In dem Maße wie die Gemeinden zahlungsunfähiger wurden, betont Landwehr, avancierte das Reich zum
441 Vgl. Degethoff de Campos, Von der Armenpflege, S. 68. Vgl. ferner Landwehr, Funktionswandel, S. 92. 442 Vgl. Wirsching, Weimarer Republik, S. 27. Kluge, Weimarer Republik, S. 57. 443 Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 100.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
alleinigen Träger der sozialen Fürsorge.444 Dadurch gerieten der Umfang und Fortbestand kommunaler Fürsorgemaßnahmen wie der Berliner Volksspeisung abermals in Abhängigkeit vom staatlichen Unterstützungswillen. Die mit der Eingliederung der Volksspeisung in das Wohlfahrtswesen verbundene Hoffnung der Berliner Stadtverwaltung, eine dauerhafte Finanzierung der städtischen Großküchenversorgung sicherzustellen, erfüllte sich nicht. Bereits Anfang 1922 spitzten sich die finanziellen Engpässe Berlins bei der Aufrechterhaltung des Verpflegungsangebots zu. Nur wenige Wochen nach der Eingliederung des Volksspeisungswesens in die Wohlfahrtsdeputation sah sich der Magistrat entgegen des eigenen Fürsorgeanspruchs gezwungen, die baldige Schließung der Küchen anzukündigen. Dass an der Volksspeisung schließlich doch festgehalten wurde, gibt zu erkennen, wie sehr der Stadtregierung daran gelegen war, die Verpflegung der Bedürftigen nicht aufzugeben. Obwohl nur ein paar Tausend Berliner von der Volksspeisung Gebrauch machten, zog die Stadtverwaltung alle verfügbaren Quellen zur Finanzierung heran, um den kostspieligen Betrieb des Küchensystems aufrechtzuerhalten. Der Stadt gelang es damit, das Volksspeisungsunternehmen gerade so über Wasser zu halten. An einen Ausbau des Küchennetzes, wie er später von Seiten der preußischen Behörden auf dem Höhepunkt der Inflation noch einmal gefordert wurde, war zu keinem Zeitpunkt zu denken. Der langjährige und unvermeidliche Verfall der Berliner Großküchen und die geschwundene Zahl der nach dem Krieg verbliebenen Küchengäste gaben der Stadtverwaltung außerdem zu erkennen, dass die Masse der bedürftigen Berliner mit dem bestehenden Küchensystem auch in akuten Notzeiten nicht mehr für die Volksspeisung zu gewinnen war. Der von den Berliner Sozialdemokraten im Herbst 1923 unternommene Versuch, die Volksspeisung für größere Kreise der notleidenden Bevölkerung zu öffnen, war Makulatur. Die SPD investierte ihr Engagement mittlerweile in andere aussichtsreichere Massenverpflegungsprojekte, die durch die »Selbsthilfe der Arbeiterschaft« und der Auslandshilfe ins Leben gerufen worden waren.445 Vor allem die Quäkerspeisung, die die öffentliche und freie Wohlfahrtspflege auf außerordentliche Weise zusammenführte446 , war auf dem besten Weg, der Etablierung der lange geforderten Schulspeisung auf gesamtstaatlicher Ebene zum Durchbruch zu verhelfen. Mit ihrer Auffassung, dass die Kinderspeisung zum festen Bestandteil der deutschen Wohlfahrtspolitik werden sollte, war die SPD Anfang der 1920er Jahre nicht mehr allein. Bis in die Kreise der bürgerlichen Regierung hinein gab es Vertreter, die das Verpflegungsprogramm als »dauerhafte Bereicherung der deutschen Jugendwohlfahrt«447 lobten. Nach dem bis 1924 bestehenden Finanzierungsmodus der Reichsfürsorgepolitik stand der staatlichen Weiterführung der Schulverpflegung faktisch nichts mehr im Weg. Der Staat und die Gemeinde kamen gemeinsam für jene Kosten auf, die mit den Mitteln
444 Vgl. ebd. 445 Vgl. Eifert, Frauenpolitik, S. 80. 446 So urteilten einige Zeitgenossen, die sich mit den Auswirkungen der Auslandshilfe auf die deutsche Fürsorgelandschaft auseinandersetzten. Vgl. hierzu z.B. Vöhringer, Gotthilf: »Kinderspeisung als gemeinschaftliche Arbeit der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege«, in: Henriques, Clara, Kinderspeisung, Weimar 1926, S. 129–134. 447 Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 89.
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aus dem Ausland nicht gedeckt wurden. Doch die mit dem Dotationssystem verbundenen bürokratischen Probleme und die zunehmende Finanzschwäche der Gemeinden verlangten nach einer Fürsorgegesetzgebung, die diese Schwierigkeiten im Interesse eines funktionierenden Wohlfahrtswesens beseitigte. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 leitete die Reichsregierung eine Neuordnung der Fürsorge ein. Die Regierung konnte dadurch nun alle erforderlichen Maßnahmen treffen, die der Not in der Bevölkerung entgegenwirkten. Am 14. Februar 1924 erließ sie die Dritte Steuernotverordnung, die die Fürsorge zur Sache der Länder erklärte und den Gemeinden wichtige Steuerquellen zurückgab.448 Mit der am 1. Januar 1925 in Kraft getretenen Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht war die Selbstverwaltung der Kommunen in Fürsorgeangelegenheiten wiederhergestellt. Zugleich wurde die finanzielle Beteiligung des Reiches aufgehoben. Zu Beginn der Währungsstabilisierung, als das ganze Ausmaß der sozialen Folgen des Krieges und der Inflation vollends sichtbar wurde und die Fürsorgelasten rapide zunahmen, waren die Gemeinden in Fragen der Fürsorgefinanzierung auf sich allein gestellt. Durch die rasch zunehmende Zahl der Fürsorgeempfänger stiegen die finanziellen Anforderungen der Berliner Stadtverwaltung. Zur Mitte des Jahres 1924 waren rund sieben Prozent der Groß-Berliner Bevölkerung unterstützungsbedürftig und hierbei wurden die Angehörigen der Fürsorgeempfänger noch nicht mitgerechnet.449 Die Zahl der Berliner, die auf öffentliche Hilfen angewiesen waren, betrug demnach mehrere Hunderttausend und lag damit weit über dem, was die Stadt finanziell zu leisten imstande war. Trotz seiner bis Mitte der 1920er Jahre wiedergewonnenen Position als bedeutendste Wirtschaftsmetropole Deutschlands und der damit einhergehenden wachsenden Zahl der Unternehmen, die sich im Groß-Berliner Raum niederließen und der Stadt beträchtliche Steuereinnahmen bescherten, überwogen in Berlin die sozialen Lasten.450 Dies war im Wesentlichen auf den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden zurückzuführen, der u.a. eine Kürzung der Berliner Steueranteile an der Reichseinkommens-, Körperschafts- und Umsatzsteuer zugunsten anderer Gemeinden zur Folge hatte. Zur Durchführung ihrer sozialpolitischen Maßnahmen war die deutsche Hauptstadt gezwungen, beträchtliche Kredite und Auslandsanleihen aufzunehmen, die wiederum eine enorme Schuldenlast nach sich zogen. Auch in den Jahren nach 1924 nahm der Umfang der Unterstützungsbedürftigen kaum ab, was auch auf den ungebrochenen Sog der Zuwanderung zurückzuführen war. Jährlich strömten zwischen 80.000 und 100.000 Menschen nach Berlin und viele von ihnen waren nicht sofort in der Lage, einem Erwerb nachzugehen und sich selbst (und ihre Familie) zu erhalten. Wie schwer es der Hauptstadt fiel, auf das vorherrschende Elend und die sozialen Nöte in der Bevölkerung zu reagieren, zeigte sich in aller Deutlichkeit auf dem Gebiet des Wohnungswesens. Nach rund einem Jahrzehnt ruhender Bautätigkeit und zunehmendem Verfall vieler Berliner Wohnungen war die Versorgung mit quantitativ und quali-
448 Vgl. Landwehr, Funktionswandel, S. 100ff. 449 Vgl. ebd., S. 108. Ferner Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 87f. 450 Vgl. Köhler, Berlin, S. 852. Hierzu und zur Finanzlage Berlins nach 1923 vgl. ausführlich Büsch, Das neue Groß-Berlin, S. 82ff.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
tativ ausreichendem Wohnraum mehr denn je ein zentrales Problem der Stadt.451 Vollkommen zu Recht stand der soziale Wohnungsbau und die mit ihm verbundene Verbesserung der Wohnkultur auch bei den Sozialdemokraten in Berlin weit oben auf der kommunalpolitischen Agenda. Unterstützt durch Subventionen sollten gemeinnützige Baugenossenschaften für neue, bessere und bezahlbare Wohnungen sorgen. Nachdem der Wohnungsbestand ab Anfang des Jahres 1922 kontrolliert und freigewordene Wohnungen nach Dringlichkeit vergeben wurden, entstanden seit 1924 auch vermehrt Neubausiedlungen mit einigen Tausend Wohnungen. In keiner anderen deutschen Stadt wurde in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik (1924–1929) so viel und vielfältig gebaut wie in Berlin und doch führte die städtische Wohnungspolitik kaum Verbesserungen in den Wohnverhältnissen der Berliner herbei.452 Die Mieten der neuen Wohnungen waren trotz städtischer Zuschüsse nur für die wenigsten Berliner erschwinglich. Viel entscheidender war jedoch, dass der Stadt ganz einfach die finanziellen Mittel fehlten, um dem stetig wachsenden Wohnungsbedarf angemessen zu begegnen. Entgegen aller Bemühungen blieben die Wohnungsnot und das Elend in den düsteren Berliner Mietskasernen dauerhaft ungelöste Probleme. Genauso wie die Wohnungsfürsorge war auch die öffentliche Wohlfahrtspflege in Berlin von einer unzureichenden Leistungsfähigkeit gekennzeichnet.453 Die Stadtverwaltung wendete Millionenbeträge für Fürsorgemaßnahmen auf und dennoch hielten das Kinderelend und die Verwahrlosung weiter Teile der Bevölkerung weiter an. Die staatlichen Vorgaben zur Regulierung der Fürsorge und die Übertragung der Kostenlasten der Fürsorge auf die Gemeinden engten die lokalen Gestaltungsspielräume im Wohlfahrtswesen stark ein.454 Die den Gemeinden zur Pflichtaufgabe gemachten Fürsorgemaßnahmen belasteten die städtischen Haushalte derart, dass das Vorantreiben aller lokalen Wohlfahrtsaktivitäten, die vom staatlichen Regulierungsdruck unberührt blieben, geradezu unmöglich war. Da die Einbindung der Ernährungsfürsorge in die Fürsorgemaßnahmen der staatlichen Sozial-, Gesundheits- und Jugendpolitik weitgehend ausblieb, stand es langfristig auch schlecht um die Fortsetzung und den Ausbau der Schulspeisung.455 Die Reichsbehörden sahen sich nicht in der Verantwortung zur (Mit-)Finanzierung des deutschen Schulspeisewesens und überließen die Ernährungsnot großstädtischer Kinder den Gemeinden. Solange die Schulkinderverpflegung zur Hälfte mit Spendengeldern aus dem Ausland finanziert wurde, waren Berlin und viele andere Städte noch in der Lage, die Kosten zu bewältigen. Seit dem Ausbleiben der Auslandsmittel ab 1926 war der Weiterbetrieb der Schulspeisung dauerhaft gefährdet. Dass der Weimarer Wohlfahrtsstaat noch bis 1928 Zuschüsse gewährte, lag in erster Linie an der Hartnäckigkeit zahlreicher Gemeinden und der Sozialdemokraten, die auf 451 452 453 454
455
Vgl. hierzu und den folgenden Ausführungen Demps, Licht, S. 39f. Weipert, Das Rote Berlin, S. 179f. Ferner Böß, Gustav: Berlin von heute. Stadtverwaltung und Wirtschaft, Berlin 1929, S. 120ff. Vgl. Köhler, Berlin, S. 863ff. Sowie Bisky, Berlin, S. 475. Vgl. Engeli, Christian: »Gustav Böß: Oberbürgermeister von Berlin 1921–1930«, in: Berliner Geschichte. Zeitschrift für Geschichte und Kultur 20 (2020), S. 22–31, hier S. 29. Vgl. Rudloff, Wilfried: »Die kommunale Selbstverwaltung in der Weimarer Zeit«, in: Mann, Thomas und Günter Püttner (Hg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, Berlin 2007, S. 93–118, hier S. 105. Vgl. Allen, Hungrige, S. 93f.
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Reichsebene unentwegt um finanzielle Unterstützung für den Fortbestand der Schulspeisung kämpften. Am Ende war es dennoch der gemeinhin fehlende Beistand des Reiches, der die Verankerung der Schulspeisung im Berliner Wohlfahrtssystem verhinderte. Keith Allen zufolge unterminierte das (ausbleibende) Handeln der Reichsbehörden die Anstrengungen der Gemeinden nicht nur in finanzieller Hinsicht. Angesichts der enormen Sozialausgaben auf kommunaler Ebene habe das Ausbleiben der staatlichen Unterstützung auch die Stimmen derjenigen gestärkt, die den gesellschaftlichen Nutzen der öffentlichen Speisung von Kindern in Frage stellten. »Die Beschwörung des häuslichen Mittagsmahls als wichtiges Unterpfand sozialen Friedens«, so Allen, »war auch in der Weimarer Nachkriegszeit nicht zu überhören, und sie ließ sich weiterhin trefflich gegen den Ausbau der Schulspeisung einsetzen, gerade wenn die Mittel fehlten.«456 Trotz aller Bemühungen der Schulspeisungsbefürworter verpasste Deutschland letztendlich die Gelegenheit, das von den Quäkern in Berlin und anderen Städten geschaffene Potenzial der Kinderspeisung langfristig auszunutzen. Somit blieb auch die Verpflegung der (bedürftigen) deutschen Schulkinder nur eine Episode der Nachkriegszeit. In Anbetracht des höheren Stellenwertes, den die Massenverpflegung in Wien – im Vergleich zu Berlin – nach dem Krieg einnahm, ist es kaum überraschend, dass die Entwicklung der Schulspeisung in der österreichischen Hauptstadt einen anderen Verlauf nahm. Die tägliche Verpflegung der Schulkinder erlangte Anfang der 1920er Jahre nicht nur im sozialdemokratisch regierten Wien, sondern in der ganzen Alpenrepublik an Bedeutung und wurde zur Pflichtaufgabe von Bund und Gemeinden. Auch in Österreich gab es vereinzelt Stimmen, die sich gegen die Schulverpflegungspläne der Regierung richteten, indem sie die mit dem Schulessen verbundene Entfremdung der Kinder aus dem Elternhaus und dem Familienleben heraufbeschworen. Doch angesichts der verbreiteten Unterernährung der Kinder bewirkten die ablehnenden Agitationsversuche recht wenig.457 Dies lag mitunter an der Tatsache, dass die Übernahme der Kinderspeisung durch die österreichischen Behörden zu einem früheren Zeitpunkt einsetzte als in Deutschland. Im Sommer 1922 wies der Ernährungszustand der meisten Kinder nach wie vor enorme Defizite auf, weshalb die gesetzliche Schulspeisung von der Mehrheit der Bevölkerung und der Politik als berechtigt anerkannt wurde. Relevant für den verbreiteten Zuspruch vieler politischer Entscheidungsträger waren mit großer Wahrscheinlichkeit auch die in Aussicht gestellten Auslandsmittel zum Zweck der Schulspeisung. Ihre Auszahlung war schließlich von der Verabschiedung des Schülerspeisungsgesetzes abhängig. Für die Entwicklung der Schulspeisung in Wien waren die verbreiteten Ansichten und Vorgänge auf Bundesebene jedoch kaum von Belang. Die sozialdemokratische Gemeindevertretung fasste frühzeitig und ungeachtet aller finanziellen Schwierigkeiten den Entschluss, nicht nur die Schul-, sondern auch die Kleinkinderspeisung ohne fremde Beihilfen fortzusetzen. Lange vor der Verabschiedung des österreichischen Schülerspeisungsgesetzes wurde die vollständige Übernahme und
456 Ebd., S. 94. Vgl. auch Lüdtke, Alf: »Hunger in der Großen Depression. Hungererfahrungen und Hungerpolitik am Ende der Weimarer Republik«, in: Archiv für Sozialgeschichte 27 (1987), S. 145–176, hier S. 166f. 457 Vgl. Pirquet, Schülerspeisung, S. 358.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
Finanzierung der Kinderverpflegung durch die Gemeinde vorbereitet. Entscheidende Faktoren für die ausschließlich kommunale Fortführung des US-amerikanischen Verpflegungsprogramms waren die Steuerautonomie Wiens und das bis 1922 ausgebaute Großküchennetz der WÖK. Die österreichische Hauptstadt verfügte nicht nur über die dringend erforderliche Infrastruktur für die selbständige Organisation der Schulspeisung, sondern besaß auch einen unerschütterlichen Willen zur Selbsthilfe. Die Enthaltung Wiens bei der Abstimmung zum Schülerspeisungsgesetz und der damit einhergehende Verzicht auf die Auslandsmittel hatte eine beträchtliche Verminderung der von den Amerikanern angekündigten Hilfsgelder zur Folge. Die konservativ regierten Länder reagierten mit Unverständnis auf das Vorgehen der Hauptstadt und missbilligten das Wiener Verhalten als »Protzerei«.458 Dies war einmal mehr Ausdruck der allgemein vorherrschenden Unstimmigkeiten und Gegensätze zwischen den »Roten« in Wien und den Bürgerlich-Konservativen im ländlichen Österreich. Während die Christlichsozialen der Wiener Gemeindeverwaltung Undankbarkeit gegenüber der US-amerikanischen Hilfe unterstellten und ein Scheitern des Wiener Alleingangs prophezeiten, werteten die Sozialdemokraten ihre angestrebte Unabhängigkeit bei der Fortsetzung der Kinderspeisung als »die schönste Form der Dankbarkeit«, denn sie bedeutete das lang ersehnte Ende des »ewigen Bettelns«. Das »Rote Wien« bewies, dass es auf eigenen Beinen stehen konnte. Die Wiener Schulspeisung, die darauf abzielte, dass »kein hungriges Kind auf der Schulbank sitzt und infolge seines Hungers dem Unterricht nicht folgen kann«459 , reihte sich ein in die Liste der Errungenschaften der sozialistischen Gemeindeverwaltung. Im Schuljahr 1924/25 erhielten im Durchschnitt mehr als 13.000 Schulkinder und etwa 3.500 Kleinkinder täglich ein warmes Mittagessen.460 Fast zwei Drittel der Mahlzeiten wurden kostenlos ausgegeben. Diese Versorgungsquoten blieben bis in die frühen 1930er Jahre hinein nahezu konstant.461 Gemeinsam mit der WÖK etablierten die Wiener Sozialdemokraten auch für die jüngsten Stadtbewohner eine außerhäusliche Esskultur, die nicht nur der Hebung der Volksgesundheit diente, sondern auch Teil des Erziehungs- und Bildungsprogramms der städtischen Kulturpolitik war.462 Schließlich waren die im Rahmen der Schulspeisung vermittelten Aspekte wie Ordnung, Hygiene, Genauigkeit und Gleichberechtigung pädagogische Leitziele, die zur Formung des »Neuen Menschen« beitrugen. Nahezu zehn Prozent aller Wiener Schüler kamen gegen Ende der 1920er
458 Vgl. »Das stolze Wien«, in: Fremden-Presse, 11.-17. Juli 1922. »Kinderbettel und Auslandskredite«, in: Arbeiter-Zeitung, 15. August 1922. 459 »Die Frau in der sozialistischen Gemeinde«, in: Vorwärts, 24. Oktober 1925. 460 Vgl. »Kein bedürftiges Wiener Kind ohne Mittagessen«, in: Arbeiter-Zeitung, 22. August 1925. Die Zahl der täglich versorgten Schulkinder basiert auf der Gesamtzahl der verabreichten Mittagessen (rund 3,4 Millionen Mittagessen zwischen Juli 1924 und Anfang Juli 1925) und der Anzahl der Schultage (rund 250). Vgl. auch Tandler, Die Fürsorgeaufgaben, S. 409. 461 Vgl. Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien in der Zeit vom 1. Jänner 1929 bis 31. Dezember 1931 unter dem Bürgermeister Karl Seitz, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1949, S. 277f. Sowie Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1930–1935, hg. von der Magistrats-Abteilung für Statistik, Wien 1935, S. 66. 462 Vgl. Hörandner, Zur Rolle, S. 87. Vgl. ferner Pirquet, Schülerspeisung, S. 359. Ulreich, Alois: »Die Speisegemeinschaft«, in: Die Zeit, 20. Februar 1919.
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Jahre in den Genuss der Schulspeisung. Damit setzte die Wiener Stadtverwaltung den Schulverpflegungsbetrieb zwar nicht in der Dimension der unmittelbaren Nachkriegszeit fort, wie Weigl darlegt, doch im direkten Vergleich zu anderen Städten besaß Wien nach wie vor eine hohe Versorgungsdichte.463 Zum Vergleich: In Berlin erhielten nur rund zweieinhalb Prozent der Schulkinder ein warmes Mittagessen – die überwiegende Berliner Frühstücksversorgung bleibt hierbei unberücksichtigt. Dahingehend waren die Leistungen der Wiener Stadtverwaltung während des ersten Jahrzehnts der selbständigen Durchführung der Kinderausspeisung beachtlich. Unerwähnt bleiben darf aber auch nicht, dass diese erfolgreiche Bilanz nicht gänzlich aus eigener Kraft gelang. Zwar beabsichtigte die sozialdemokratische Gemeindeverwaltung die autarke Organisation der Wiener Schulspeisung, doch durch die Mitwirkung der WÖK konnte das Versorgungsunternehmen nicht vollkommen losgelöst von staatlicher Beihilfe durchgeführt werden. Erst 1940 wurde die Stadt alleiniger Gesellschafter der WÖK.464 Gleichwohl darf der Beteiligung des Bundes an der Wiener Küchengesellschaft nicht allzu viel Gewicht beigemessen werden. Nicht ohne Grund war im Wien der 1920er Jahre häufig von der »roten WÖK« die Rede. »In der Praxis«, bemerkt Schönfellner, »hatte die Gemeinde den weit größeren Einfluß, was etwa auch darin zum Ausdruck kam, daß oft der Wiener Bürgermeister den Vorsitz bei Generalversammlungen übernahm […].«465 Die WÖK, die im Jahr 1930 mit neun Millionen ausgegebenen Portionen ihren Höhepunkt erreichte, war zweifellos eine »Wiener Kommunalleistung«.466 Sie hatte ihren Ursprung im kommunalen Kriegsküchenwesen und war nicht einfach nur ein Produkt der Wiener Nachkriegsnot, sondern das Ergebnis der sozialdemokratischen Entschlossenheit, das kommunale Massenverpflegungswesen trotz aller materiellen Probleme nicht aufzugeben. Die Anerkennung als Kommunalleistung verdiente sich das Küchenunternehmen aber nicht allein durch seine Entstehungszusammenhänge. Noch bedeutender war der Werdegang der WÖK im Jahrzehnt nach dem Krieg. Mit der steten Orientierung an den Bedürfnissen der Bevölkerung und der damit einhergehenden Anpassungsfähigkeit verwandelte die WÖK die unbeliebten städtischen Kriegsküchen in Gemeinschafts- und Reformküchen, deren Speiseangebote ernährungswissenschaftlich auf der Höhe der Zeit waren und von den Wienern gerne in Anspruch genommen wurden. Es war die sozialdemokratische Stadtregierung, die »ihre« WÖK zum »Herzeigbetrieb« formte, der, wie Hörandner treffend formuliert, den weltberühmten Wiener Gemeindebauten in nichts nachstand.467
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Vgl. Weigl, Vom Versorgungsfall, S. 231. Vgl. Schönfellner, Der Bund, S. 171. Ebd., S. 152. Vgl. auch Hörandner, Zur Rolle, S. 87. Vgl. ebd., S. 87. Ferner »Wiener öffentliche Küchenbetriebsgesellschaft (WÖK)«, in: Das Rote Wien. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie. Im Internet unter: www.dasrotewien.at/seite/ wiener-oeffentliche-kuechenbetriebsgesellschaft-woek (11.04.2020). 467 Wie die kommunalen Wohnbauprojekte wurden auch die Einrichtungen der WÖK im Roten Wien von Delegationen aus der ganzen Welt besichtigt. Vgl. Hörandner, Zur Rolle, S. 86.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
3.2 »Rationalisierung« des Familienalltags? Die Nachkriegsfamilie und die Gemeinschaftsverpflegung Mit ihren Maßnahmen auf dem Gebiet der städtischen Massenverpflegung versuchten die sozialdemokratischen Parteien in Wien und Berlin seit Kriegsende auf eine Verbesserung der Ernährungs- und Versorgungsverhältnisse hinzuwirken. Die Förderung der städtischen Großküche war in erster Linie eine Fürsorgemaßnahme. Doch die besondere Entwicklung der WÖK gibt zu erkennen, dass das Massenverpflegungswesen über seine fürsorglichen Ziele hinaus auch Bestandteil der sozialdemokratischen Rationalisierungspolitik der Nachkriegszeit war.468 Zentrale Themen der Reformpolitik der Sozialdemokraten waren das Familienleben und die Probleme der familiären Alltagsorganisation. Damit rückten die Bereiche Wohnen, Arbeiten und Leben in den Mittelpunkt der Rationalisierungsanstrengungen.469 Mit dem Krieg veränderte sich das Zusammenleben in vielen Familien. Kriegshinterbliebene waren gezwungen, sich mit der veränderten Familienkonstellation zu arrangieren und den Verlust des Familienernährers zu kompensieren. Die Familien der physisch und psychisch beeinträchtigten Kriegsheimkehrer mussten lernen, mit der neuen Familiensituation umzugehen. Neben diesen langfristigen Folgen für die Familien bewirkte der Krieg außerdem einen kurzzeitigen Rückgang der Heirats- und Geburtenzahlen und einen Anstieg der Scheidungen. Da diese drei Trendindikatoren im Verlauf der 1920er Jahre wieder in die langfristigen Entwicklungslinien zurückschwenkten, markierte der Erste Weltkrieg, wie Christopher Neumaier darlegt, zwar aus individueller Perspektive vielfach einen erheblichen Einschnitt, doch mit Blick auf die soziostrukturellen Veränderungen keine langfristig messbare Zäsur.470 Anders als von vielen Zeitgenossen wahrgenommen, erlebte die Familie als soziale Institution und Beziehungsgeflecht in den Nachkriegsjahren schichtenübergreifend eine hohe Wertschätzung, wobei das bürgerliche Familienideal mit seiner ordnungsstiftenden und das Gefühl von Sicherheit vermittelnden Funktion nach wie vor eine starke Strahlkraft besaß. Das sich daran orientierende Familienmodell der »respektablen Arbeiterfamilie«, das in der Kaiserzeit noch hauptsächlich für die bessersituierte gelernte Arbeiterschaft erreichbar war, rückte nun auch für die ungelernten und unständig beschäftigten Arbeiter in greifbare Nähe.471 Dennoch hatte die Lebensrealität der Mehrheit der Arbeiterfamilien nach wie vor nur wenig mit dem bürgerlichen Familienleitbild gemein. Durch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges und der Inflation war es den wenigsten Berliner und Wiener Familien möglich, das Familienleben nach traditionellen Regeln von einem Einkommen zu bestreiten.472 Dies galt nicht nur für das Proletariat, sondern auch für zahlreiche Mittelstandsfamilien, für die sich die Rückkehr zur alten Rollenverteilung der Geschlechter
468 Vgl. Dörre, Lucy: »Die Verschwendung in der Wirtschaft«, in: Frauenstimme, 3. September 1925. Sonnleitner, Seraphine: »Die Reform der Hauswirtschaft«, in: Arbeiterinnen-Zeitung 4, 28. Jg. (18. Februar 1919), S. 3–4. 469 Vgl. Yazdanpanah/Duma: Die ›neue Frau‹, S. 293. 470 Vgl. Neumaier, Familie, S. 82. 471 Vgl. ebd., S. 96. Sieder, Sozialgeschichte, S. 221. 472 Vgl. Demps, Licht, S. 42.
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nicht minder schwierig gestaltete. Der Überhang an unverheirateten und verwitweten Frauen sowie die durch die Nachkriegsarbeitslosigkeit häufig hervorgerufenen familiären Notsituationen trugen dazu bei, dass mehrere Familienmitglieder, oftmals auch die Töchter und Mütter, zur Existenzsicherung der Familie beitrugen.473 Obwohl die Frauenerwerbsquote in beiden Städten nur geringfügig höher ausfiel als vor dem Krieg, nahmen die Zeitgenossen doch eine »stärkere Berufsanspannung« der Frauen wahr. Infolge des Krieges verschob sich die weibliche Erwerbsarbeit weg von der isolierten heimischen Frauenberufstätigkeit hin zu öffentlich wahrnehmbaren Tätigkeiten in den Fabriken, Büros und Warenhäusern.474 Die häusliche Abwesenheit der Frauen hatte Auswirkungen auf den familiären Alltag. Mit ihr verlagerte sich nicht nur die Mittagsmahlzeit zwangsläufig für immer mehr Personen außer Haus. Für die Frauen als »Basis der familiären Notökonomie« bedeutete diese Entwicklung auch eine enorme Mehrbelastung. »Die wirtschaftliche Notlage erforderte,« resümiert Torp mit Blick auf die Lebensrealität der Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, »dass die Frau nicht nur mitverdiente, sondern vor allem durch hauswirtschaftliche Leistungen die Unsicherheiten der proletarischen Existenz abfing.«475 Dieser Dreifachbelastung aus Berufsarbeit, Haushaltsführung und Kindererziehung entgegenzuwirken, war ein erklärtes Ziel der sozialdemokratischen Wohlfahrtspolitik der Nach- und Zwischenkriegszeit. Die Sozialdemokraten betrachteten die veränderten sozialen und familiären Verhältnisse nach dem Krieg als Chance, die vorherrschenden patriarchalisch-autoritären Familienstrukturen zu überwinden und im Zuge dessen emanzipatorische und moderne Familienkonzepte zu etablieren.476 Die sozialdemokratische »Familialisierungspolitik« orientierte sich am Leitbild der »modernen Kleinfamilie« und zielte darauf ab, die Sicherung der privaten Reproduktion breiter Bevölkerungskreise durch eine »Modernisierung« und »Rationalisierung« des Familienalltags zu erreichen. Vor allem der linke Flügel und die Führerinnen der Sozialdemokratie forderten eine gleichberechtigte und partnerschaftliche Ehe- und Familienkonstellation. Sie befürworteten die Frauenerwerbsarbeit und setzten auf eine Reform der Hausarbeit, mit der die weibliche Berufstätigkeit mit den familiären Verpflichtungen besser vereinbart werden sollte. Die sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Gleichheit sprach sich auf Bebel bezugnehmend für die »Beseitigung der Privatküche« aus und betonte die damit einhergehende »ungeheure Erleichterung« unzähliger Frauen.477 Die Befreiung der erwerbstätigen Frau von der Hausarbeit forderte auch die Wiener Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Therese Schlesinger (1863–1940). Diese sei nur durch »die Ueberwindung des unratio-
473 Vgl. Schmidlechner, Die neue Frau, S. 96. Sowie Breuss, Susanne: »Neue Küchen für neue Frauen. Modernisierung der Hauswirtschaft im Roten Wien« in: Schwarz, Werner Michael, Georg Spitaler und Elke Wikidal (Hg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019, S. 242–245, hier S. 242. Hörandner, Zur Rolle, S. 88. 474 Vgl. Leichter, Die Entwicklung, S. 29. 475 Torp, Konsum, S. 71. 476 Vgl. Neumaier, Familie, S. 88. Für die folgenden Ausführungen vgl. auch Hagemann, Frauenalltag, S. 641. 477 Vgl. »Genossenschaftliche Organisation zur Erleichterung der Hausarbeiten«, in: Die Gleichheit 11, (28. Februar 1919), S. 86–87, hier S. 87. Vgl. auch Bebel, Die Frau und der Sozialismus, S. 1130f.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
nellen, Zeit, Kraft und Material verschwendenden proletarischen Einzelhaushalts«478 zu erreichen. Rechte Vertreter der Sozialdemokratie gingen nicht so weit und orientierten sich stärker am bürgerlichen Familienmodell. Aus ihrer Sicht sollte sich innerhalb der Arbeiterschaft die mutterzentrierte Familie etablieren, wonach die Ehefrau keiner Erwerbstätigkeit nachgehen musste und als rationell wirtschaftende Hausfrau und pädagogisch aufgeklärte Erzieherin ihrer Kinder den bis dahin in vielen Arbeiterfamilien vermeintlich vorherrschenden Mangel an Liebe, Kultur und Ordnung behob.479 Alle Vertreterinnen und Vertreter der sozialdemokratischen Parteien einte jedoch der Gedanke, »die Arbeiterfamilie von jenen Überlastungen zu befreien, die eine Emotionalisierung der Ehegatten- und Elternkindbeziehung nach bürgerlichem Vorbild zu behindern schienen«.480 Die Arbeiterfrauen sollten ihre Zeit und Kraft auch »höheren« Aufgaben wie Bildung, politischem Engagement und Kindererziehung widmen können. Zudem galt die Hauswirtschaft, so die Wiener Kulturhistorikerin Susanne Breuss, auch unter den Sozialdemokraten gemeinhin als »natürlicher« Beruf der Frau. Gleichwohl hatten sich die Frauen von überkommenen Traditionen zu lösen. Sie sollten sich stattdessen an den veränderten Rollenanforderungen orientieren und sich als Akteurinnen gesellschaftlicher Modernisierung verstehen.481 Das erklärte Ziel der Sozialdemokratie war es, mit ihrer sozialen Reform- und Wohnungspolitik eine Erleichterung der Hausfrauenarbeit zu erreichen. Im Rahmen der sozialen Wohnbautätigkeit, mit der ausreichender Wohnraum geschaffen und die hygienischen Verhältnisse in den vorhandenen Wohnungen verbessert werden sollten, wurden mittels durchdachter Raumorganisation und moderner haus- und haushaltstechnischer Ausstattung rationell und technisch auf den neuesten Stand gebrachte (Wohn-)Küchen implementiert: »Im Vergleich zur Gangküche der Zinskaserne mit Holz- und Kohleherd, fehlender direkter Belüftung und ohne Wasser- und Stromversorgung stellten die Küchen des sozialen Wohnbaus trotz aller notwendigen Sparmaßnahmen einen Fortschritt dar: Neben Tageslicht und frischer Luft dank Fenster ins Freie verfügten sie über elektrisches Licht, Gasherde, Fließwasser und Heißwassergeräte. Die Abkehr von der unmittelbar in den Hauseingang mündenden Küche, durch die man die Wohnung betritt, bedeutete außerdem ein höheres Maß an Privatsphäre. Der nun vorhandene Vorraum diente als Schmutzschleuse ebenso wie als Pufferzone nach außen – ein Effekt, der auf eine Ver(klein)bürgerlichung des Familienlebens zielte.«482 478 Schlesinger, Therese: »Frauenarbeit und proletarische Lebenshaltung«, in: Arbeiter-Zeitung, 3. Februar 1925. 479 Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, S. 219. Ferner Hagemann, Frauenalltag, S. 644. Yazdanpanah/ Duma: Die ›neue Frau‹, S. 294. 480 Sieder, Sozialgeschichte, S. 220. Vgl. auch Hagemann, Frauenalltag, S. 642. 481 Vgl. Breuss, Neue Küchen, S. 243. Vgl. auch Fechenbach, Irma: »Mehr Zeit für Parteiarbeit!«, in: Frauenstimme, 5. Juni 1930. Sowie Sieder, Reinhard: »Wohnen und Haushalten im Gemeindebau. Politischer Diskurs, Repräsentation, Praxis, kulturelle Folgen«, in: Schwarz, Werner Michael, Georg Spitaler und Elke Wikidal (Hg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019, S. 234–241, hier S. 235. 482 Ebd. Vgl. ferner Allen, Hungrige Metropole, S. 83.
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Diese Innovationen hielten zwar erst ab der Mitte der zwanziger Jahre verstärkt Einzug im Alltag der Bevölkerung, dennoch waren schon die ersten ab 1921 in Wien fertiggestellten Gemeindebauten mit modernisierten und Hygiene fördernden Wohnküchen versehen, durch die eine größere Vereinbarkeit der Küchenarbeit mit der Kinderbetreuung erreicht wurde. So habe die Wohnungspolitik, wie Sieder resümiert, nicht nur die Verbesserung der Wohnbedingungen zur Folge gehabt, sondern auch neue Standards des Familienlebens und der Haushaltsführung transportiert, die die Tendenz der Familialisierung der Arbeiterschaft in qualitativer Hinsicht entscheidend bestimmten.483 Hierzu trugen schließlich auch die günstigen Mietpreise bei, die den Bewohnern eine längerfristige Wohnperspektive eröffneten. Die Mietwohnung war keine »temporäre Unterkunft« mehr und galt den Arbeiterfamilien als »Heimat«, in deren Ausgestaltung zunehmend investiert wurde. Von der zeitgenössischen Idee des Taylorismus ausgehend, die auf die Rationalisierung des industriellen Betriebs zielte, waren die sozialdemokratischen Modernisierungsbestrebungen im Wohnbau und der zunehmende Trend zur Rationalisierung des Familienalltags in erster Linie auf den Einzelhaushalt ausgerichtet. Diskutiert wurde aber auch ein weitergehendes Konzept, das die von Schlesinger und anderen Sozialdemokratinnen geforderte Auflösung bzw. Auslagerung der einzelnen Hauswirtschaft vorsah. Bereits um die Jahrhundertwende entwickelten Vertreterinnen der bürgerlichen und sozialdemokratischen Emanzipationsbewegungen das Kollektivmodell »Einküchenhaus«, dem die Idee zugrunde lag, alle Koch- und Reinigungsarbeiten zentral zu organisieren.484 Einen anschaulichen Überblick über das Konzept lieferte die Sozialdemokratin Lily Braun (1865–1916) in ihrem Essay »Frauenarbeit und Hauswirtschaft«: »In einem Häuserkomplex, das einen großen, hübsch bepflanzten Garten umschließt, befinden sich etwa 50 bis 60 Wohnungen, von denen keine eine Küche enthält […]. An Stelle der 50–60 Küchen, in denen eine gleiche Zahl Frauen zu wirtschaften pflegt, tritt eine im Erdgeschoss befindliche Zentralküche, die mit allen modernen arbeitsparenden Maschinen ausgestaltet ist. Giebt es doch schon Abwaschmaschinen, die in drei Minuten zwanzig Dutzend Teller und Schüsseln reinigen und abtrocknen! Vorrathsraum und Waschküche, die gleichfalls selbstthätige Waschmaschinen enthält, liegen in der Nähe; ebenso ein großer Eßsaal […]. Die ganze Hauswirtschaft steht unter einer erfahrenen Wirthschafterin, deren Beruf die Haushaltung ist […]. Die Mahlzeiten werden, je nach Wunsch und Neigung, im gemeinsamen Eßsaal eingenommen oder durch besondere Speiseaufzüge in alle Stockwerke befördert. Die Erwärmung der Wohnungen erfolgt durch Zentralheizung, so daß auch hier 50 Oefen durch einen ersetzt werden. Während der Arbeitszeit der Mütter spielen die Kinder, sei es im [Speise-]Saal, sei es im Garten, wo Turngeräthe und Sandhaufen allen Altersklassen Beschäftigung bieten, unter Aufsicht der Wärterin. Abends, wenn die Mutter sie schlafen gelegt hat und die Eltern mit Freunden plaudern oder lesen wollen, gehen sie hinunter in die ge-
483 Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, S. 218. 484 Vgl. hierzu ausführlich Schmidt-Waldherr, Hiltraud: »Emanzipation durch Küchenreform? Einküchenhaus versus Küchenlabor«, in: L’Homme 1 (1999), S. 57–76, hier S. 58ff.
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
meinsamen Räume, wo sie sich die Unterhaltung nicht durch Alkoholgenuß zu erkaufen brauchen, wenn sie kein Bedürfnis danach haben.«485 Schon vor dem Ersten Weltkrieg erlebte das Einküchenhaus in Wien und Berlin seine erste Umsetzung. In der ehemaligen Habsburgermetropole entstand im Jahr 1911 mit dem Heimhof in Döbling das erste Zentralküchenhaus für ledige und erwerbstätige Frauen. Parallel wurden in den Berliner Vororten Charlottenburg, Lichterfelde und Friedenau zwischen 1908 und 1912 gleich drei Einküchenhausprojekte verwirklicht, die vor allem Familien aus dem Bürgertum zugutekamen.486 Doch in Berlin war der Bestand der neuartigen Wohnhäuser nicht von langer Dauer. Obwohl die Idee des Einküchenhauses vor allem von der bürgerlichen Hausfrauenbewegung im Laufe des Krieges wieder verstärkt in die Öffentlichkeit getragen wurde, überstanden die Berliner Zentralküchenhäuser den Krieg nicht.487 Anfang der 1920er Jahre griffen einige Sozialdemokratinnen das Konzept wieder auf und forderten in Berlin und Wien den Bau gemeinnütziger Einküchenhäuser im Rahmen des städtischen bzw. staatlichen Wohnungsbaus.488 Während in Berlin trotz aller Bemühungen kein weiteres Einküchenhausprojekt realisiert werden konnte, entstand 1923 im Wiener Gemeindebezirk Fünfhaus ein zweites Zentralküchenhaus mit rund 25 Wohneinheiten. Auch in diesem Fall wurde der Bau durch die gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft Heimhof ermöglicht. Ein Jahr später übernahm die Gemeinde das neue Wohngebäude, das sich vor allem an berufstätige Paare und Familien richtete, und baute es auf 271 modern ausgestattete Wohnungen (mit Wasseranschluss, Kochgelegenheiten etc.) und einen Kindergarten aus.489 Das Kernstück des Heimhofs war die 485 Braun, Lily: Frauenarbeit und Hauswirtschaft, Berlin 1901, S. 21f. 486 Vgl. zu Berlin Sethmann, Jens: »100 Jahre Einküchenhäuser: Gescheitertes Reformexperiment«, in: MieterMagazin 1+2 (2008). Im Internet unter: https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/ online/mm0108/010824.htm (08.06.2020). Zu Wien vgl. Breuss, Neue Küchen, S. 244. 487 Sethmann zufolge ist über die Ursachen des Scheiterns wenig bekannt. Vgl. ebd. Zur öffentlichen Debatte um das Einküchenhaus in Deutschland während der Kriegszeit vgl. Schmidt-Waldherr, Emanzipation, S. 67ff. Die überregionalen Tageszeitungen in Wien veröffentlichten während des Krieges mehrere Artikel zum Thema Einküchenhaus, wobei dessen Vorzüge vor allem für den Mittelstand hervorgehoben wurden. Vgl. »Das Einküchenhaus«, in: Österreichische Volkszeitung, 28. Januar 1917. »Einküchenhäuser für den Mittelstand«, in: ebd., 1. Mai 1917. »Das Einküchenhaus«, in: Neue Freie Presse, 11. Mai 1917. »Das Einküchenhaus«, in: Neues Wiener Tagblatt, 9. August 1917. »Einküchenhaus«, in: Neues Wiener Tagblatt, 6. Mai 1918. Auch in Berlin äußerten sich in der Presse vereinzelt Stimmen, die auf die Zweckmäßigkeit des Einküchenhauses hinwiesen. Vgl. hierzu u.a. den Beitrag der Berliner Schriftstellerin Martha von Zobeltitz (1872–1949), »Das Einküchenhaus«, in: Vossische Zeitung, 20. Mai 1919. 488 Vgl. Schmidt-Waldherr, Emanzipation, S. 70f. Zu den wichtigsten sozialdemokratischen Vertreterinnen der Einküchenhaus-Idee gehörten Therese Schlesinger und Marianne Pollak (1891–1963) in Wien und Wally Zepler (1865–1940) in Berlin. Auch Marie Juchacz gehörte zu den Befürworterinnen des Einküchenhauses. Zu Schlesinger vgl. ausführlich Pirhofer, Gottfried und Reinhard Sieder: »Zur Konstitution der Arbeiterfamilie im Roten Wien: Familienpolitik, Kulturreform, Alltag und Ästhetik«, in: Mitterauer, Michael und Reinhard Sieder, Historische Familienforschung, Frankfurt a.M. 1982, S. 326–368, hier S. 336ff. 489 Vgl. Yazdanpanah, Marie-Noëlle: »›Es lebe drum. Die Frau von heut!‹ Frauenpolitik im Roten Wien«, in: Schwarz, Werner Michael, Georg Spitaler und Elke Wikidal (Hg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019, S. 50–57, hier S. 52. Sowie Breuss, Neue Küchen, S. 244.
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Zentralküche mit angeschlossenem Speisesaal, die durch Speiseaufzug und Telefon mit den Wohnungen verbunden war und die einzelnen Küchen ersetzte. Das Einküchenhaus in der Pilgerimgasse blieb im Wohnbauprogramm des Roten Wien jedoch ein Einzelfall. Die Zentralisierung der Hauswirtschaft stieß sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft auf Ablehnung. Nicht nur in Berlin und Wien kritisierten Konservative und Reaktionäre die Idee des Einküchenhauses und betonten dabei seine »familienzerstörende« Wirkung.490 Auch die bürgerlichen Hausfrauenorganisationen, die nach dem Krieg intensiv über die neuen sozialen Verhältnisse der Mittelschichtfamilien diskutierten und nach Lösungen für die Mehrbelastung der bürgerlichen Hausfrauen (zunehmende Erwerbsarbeit, Wegfall des Dienstpersonals) suchten, wandten sich vom Einküchenhaus-Konzept ab.491 Die Rationalisierung des Haushaltes sollte ihrer Ansicht nach durch Professionalisierung und (Selbst-)Erziehung der Hausfrauen erreicht werden. Energisch kritisiert wurde die Einküchenhaus-Idee schließlich auch von der rechten Sozialdemokratie, die in dem Konzept nichts anderes sah als eine »Kasernenmassenabfütterung« und eine »Verstaatlichung der Mutterfreuden«.492 Hinzu kam, dass diese Wohnform mit hohen Kosten verbunden war. Für die Arbeiterbevölkerung, die hauptsächlich vom sozialen Wohnbau profitieren sollte, war das Wohnen in einem Zentralküchenhaus nicht erschwinglich. Dementsprechend konzentrierte sich das sozialdemokratische Modernisierungsprogramm und die Rationalisierung der Hauswirtschaft auf den (proletarischen) Einzel- bzw. Kleinhaushalt, wobei die ab Mitte der zwanziger Jahre in Wien entstehenden großen Wohnhausanlagen zum Teil auch mit Gemeinschaftseinrichtungen (z.B. Zentralwaschküchen, Bäder, Kindergärten) ausgestattet waren. Doch das Kalkül ging nicht auf: Davon abgesehen, dass der soziale Wohnbau in der Praxis den realen Bedarf nicht deckte, konnten sich die wenigsten Arbeiter die Wohnungen leisten. Noch stärker als in Wien profitierten in Berlin vornehmlich die Angestellten- und Beamtenfamilien sowie bessersituierte junge Arbeiterfamilien vom sozialen Wohnungsbau.493 In beiden Hauptstädten blieben die neuen Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus für den Großteil der proletarischen Mieter unerreichbar. Gleichzeitig stand die Arbeiterschaft den Rationalisierungs- und Modernisierungsbestrebungen generell skeptisch gegenüber. Dabei stieß vor allem die Idee des Einküchenhauses auf großen Widerstand. Nicht nur in der Arbeiterschaft, sondern auch unter den Angestellten fehlte das Verständnis für das Konzept. »Ihnen erschien«, so Sieder, »ein konventioneller Familienhaushalt, in dem die Hausarbeit von Ehefrauen geleistet wurde und der Mann als ›Haupternährer‹ das Privileg seiner persönlichen Bedienung durch die Ehefrau genoss, als die ›normale‹ und ›natürliche‹ Lebensweise.«494 Hagemann zufolge orientierten sich 490 Vgl. ebd. 491 Nur vereinzelte Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung glaubten weiter an eine Zukunft des Einküchenhauses und hielten in den Debatten zur Reform der Hausarbeit an dem Modell fest. Vgl. Zahn-Harnack, Die arbeitende Frau, S. 91. Vgl. hierzu ausführlich auch SchmidtWaldherr, Emanzipation, S. 69f. und S. 73. 492 Vgl. ebd., S. 11. Vgl. auch Pollak, Marianne: »Die Großküche: Vorteile und Vorurteile«, in: ArbeiterZeitung, 30. Mai 1926. 493 Vgl. Hagemann, Frauenalltag, S. 642. Torp, Konsum, S. 68. 494 Vgl. Sieder, Wohnen, S. 234. Sowie ders., Behind the lines, S. 134.
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nur wenige, meist jüngere, nach dem Krieg gegründete Arbeiterfamilien am Leitbild der modernen Kleinfamilie und an den Rationalisierungs- und Modernisierungsvorschlägen.495 Noch kleiner sei der Kreis derjenigen Arbeiterehepaare ausgefallen, die im Alltag eine gleichberechtigte und partnerschaftliche Ehe- und Familienkonstellation lebten. Für die Mehrheit der Arbeiter blieb die Familie schließlich eine hierarchischpatriarchalisch strukturierte Arbeits- und Solidargemeinschaft. Dazu trug auch die sozialdemokratische Politik der »Familialisierung der Arbeiterschaft« bei, da diese die im bürgerlichen Familienmodell festgelegten hierarchischen Geschlechterverhältnisse reproduzierte.496 Nachdem die Arbeiter dem bürgerlichen Familienleitbild lange nachgestrebt hatten und sich nun zumindest einige wenige von ihnen in der Lage befanden, das Ideal in Ansätzen zu erreichen, wehrten sie sich vehement gegen die sozialreformerischen Eingriffe in ihr Alltags- und Familienleben. Die anti-modernistische Haltung der Arbeiter und ihre Ablehnung der Rationalisierungsmaßnahmen war, betont Sieder, ein Teil ihres Kampfes um Selbstachtung und Identität.497 Die Aufrechterhaltung patriarchalischen Verhaltens gegenüber Frau und Kindern war der Preis für ihre Anpassung an die fremdbestimmten Arbeitsbedingungen im Betrieb. Sieder resümiert: »After his experience of the war and in view of the daily struggle for survival and the reduction in his ability to work, the male worker wanted to have ›his order‹ restored. And in this connection, he placed most stress on his family life, regular meals and the attentive care of his wife. […] In the aftermath of a period of hunger and misery, he was too absorbed with making sure that his primary needs were satisfied.«498 Der verbreitete Drang zur Rückkehr zum »normalen« Familienalltag der Vorkriegszeit impliziert, dass auch dem Ritual der privat-familialen Mahlzeit weiterhin eine hohe Bedeutung beigemessen wurde. Gemäß ihren Vorstellungen vom Familienleben betrachteten die Arbeiter die tagtägliche Versorgung der Familie mit einem Mittagsessen als Privatangelegenheit und Aufgabe der Frauen. Die Erfahrungen aus der Kriegszeit und den negativen Erinnerungen an die Kriegsküchen werden diese Ansicht bekräftigt haben. Für die Familien der Arbeiterschaft hatte das Essen auch in Notzeiten mehr als die bloße physiologische Subsistenzfunktion zu erfüllen.499 Das Essen sollte genussreich sein und nach Möglichkeit im Kreis der Familie eingenommen werden. Da sich aber der Alltag der meisten Arbeiterfamilien nach dem Krieg kaum von den Vorkriegsverhältnissen unterschied, waren nicht nur die männlichen Familienernährer, sondern vermehrt auch die in die öffentlichen Berufe dringenden Arbeiterinnen in der Mittagszeit auf die Außer-Haus-Verpflegung angewiesen. Diese wurde jedoch hauptsächlich »als subsidiäre Ergänzung der Familienkost«500 angesehen. Die Einnahme der 495 Vgl. Hagemann, Frauenalltag, S. 644. 496 Vgl. Hauch, Gabriella: »›… da war Wien und da war das restliche Österreich‹ – Anmerkungen zu den Geschlechterverhältnissen im Roten Wien«, in: Konrad, Helmut und dies., Hundert Jahre Rotes Wien. Die Zukunft einer Geschichte, Wien 2019, S. 53–77, hier S. 66 und S. 76. 497 Vgl. Sieder, Sozialgeschichte, S. 221. 498 Sieder, Behind the lines, S. 134. 499 Vgl. Torp, Konsum, S. 66. 500 Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 219.
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familiären Mahlzeit fand, wie schon in der Vorkriegszeit bei vielen Arbeiterfamilien üblich, am Abend statt.501 Ein ähnlicher Trend dürfte nach dem Krieg auch häufiger im Familienalltag des Mittelstandes zu beobachten gewesen sein. In den Mittelstandsfamilien, die auf den Verdienst mehrerer und vor allem auch weiblicher Familienmitglieder angewiesen waren, hat die Außer-Haus-Verpflegung nach dem Krieg zwangsläufig eine größere Rolle als in der Vorkriegszeit gespielt.502 Die städtischen Gemeinschaftsküchen der WÖK waren eine Antwort auf die mit der weiblichen Erwerbsarbeit verbundenen Probleme der familiären Alltagsorganisation. Ohne den familiären Mittagstisch ersetzen oder das Ende des heimischen Herdes einläuten zu wollen, zielte die Gemeinschaftsküche – zumindest mit Blick auf die Mittagsstunde – auf eine Erleichterung des Alltags. Mit ihrer stadtweiten Verteilung und ihrer rationellen Wirtschaftsführung war sie für die Wiener nicht nur schnell erreichbar und erschwinglich, sie versorgte auch die Kinder in den Schulen. Welche Entwicklung die WÖK einmal nehmen würde, war für die Sozialdemokraten während der ersten Nachkriegsmonate nicht absehbar. Aber sie erkannten lange bevor sie die Massenverpflegungspolitik selbst gestalten konnten, dass der Krieg den Gedanken der Gemeinschaftsverpflegung voranbrachte und einen für die sozialdemokratische Politik hilfreichen Modernisierungsprozess im Alltagsleben der Menschen unterstützte. Im Vergleich zur Vorkriegszeit waren nach 1918 sehr viel mehr Menschen mit der Gemeinschaftsküche vertraut und eine Vielzahl von ihnen weiterhin auf Angebote der AußerHaus-Verpflegung angewiesen. Die Rationalisierungspolitik des Roten Wien, die darauf abzielte, einen »Neuen Menschen« – den »Gemeinschaftsmenschen« – zu formen, baute auf dieser Entwicklung auf. Die Förderung der Gemeinschaftsverpflegung war Teil eines großangelegten Projekts des Social Engineering. So, wie die neu errichteten Gemeindebauten nicht nur die akute Wohnungsnot linderten, sondern auch »als architektonische Verwirklichung pädagogischer und zivilisatorischer Ideale«503 dienten, sollte auch die Großküche nicht allein eine Fürsorgeeinrichtung sein. Sie sollte vielmehr ihren Fürsorgecharakter ablegen und langfristig als moderne, alltagserleichternde Einrichtung zu einem effizienten, rationellen Wirtschaften und gesundem Leben im »Neuen Wien« beitragen. Den Wiener Sozialdemokraten gelang es, die WÖK-Küche als günstige und gesundheitsfördernde Alternative zum Wirtshaus im Alltag vieler werktätiger Wiener zu etablieren. Sie schafften es jedoch nicht, alle Bevölkerungskreise gleichermaßen für das Verpflegungsangebot zu gewinnen. So beklagte die Sozialdemokratin und engagierte Alkoholgegnerin Marianne Pollak die mäßige Frequentierung der WÖK-Küchen in den Wiener Arbeiterbezirken:
501 Vgl. Pirhofer/Sieder, Zur Konstitution, S. 339f. Vgl. ferner Leonhäuser, Ingrid-Ute et al.: Essalltag in Familien. Ernährungsversorgung zwischen privatem und öffentlichem Raum, Wiesbaden 2009, S. 28. 502 Vgl. Hörandner, Zur Rolle, S. 87f. 503 Opratko, Benjamin und Stefan Probst: »Sozialismus in einer Stadt?«, in: Perspektiven. Magazin für linke Theorie und Praxis (2011). Im Internet unter: https://www.linksnet.de/artikel/26886 (12.11.2020).
IV. Berlin und Wien in der Nachkriegszeit
»Während in einer ganzen Reihe von Speisehäusern der Gesellschaft in nichtproletarischen Stadtteilen […] ein solcher Andrang herrscht, daß während der ›starken Stunden‹ von zwölf bis eins die Neukommenden hinter den Sesseln der Essenden angestellt warten, bis diese, nach den letzten Bissen im Mund, ihnen den Platz räumen, bleibt zum Beispiel in Ottakring in der Küche am Richard-Wagner-Platz der eine und der andre Tisch ganz unbesetzt. Lehrer, Magistratsbeamte, kleine Angestellte, Verkäuferinnen füllen auch dort den Saal. Mitten im Herzen von Ottakring ist kaum ein Drittel der Besucher Arbeiter!«504 Trotz der günstigen Speisepreise konnte und wollte es sich ein erheblicher Teil der Wiener Arbeiterschaft nicht leisten, »in der WÖK« Essen zu gehen.505 Wenn sie außer Haus aßen, dann zogen viele Wiener Arbeiter zur Mittagszeit das Essen mit einem »Krügel Bier« im Wirtshaus vor. Gleichzeitig aber nahmen immer mehr Angehörige der »unwirtschaftlichen« Ein-Personen-Haushalte das städtische Speiseangebot in Anspruch.506 Auch wenn die Arbeiterschaft sich nur im geringen Maß von der alkoholfreien WÖK angesprochen fühlte, hatte die kommunale Großküche spätestens seit dem Verschwinden der Versorgungsnot ab Mitte der 1920er Jahre ihren bis dahin dominierenden Notfürsorgecharakter abgelegt. Anders als in Berlin, wo die Stadtküchen ausschließlich einen Fürsorgezweck erfüllten, gelang es den Wiener Sozialdemokraten mit ihrer Massenverpflegungspolitik, eine aus ihrer Sicht rationelle und gesunde Lebensweise in Teilen der Wiener Bevölkerung zu fördern.507
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Pollak, Marianne: »Die Küche der arbeitenden Menschen«, in: Arbeiter-Zeitung, 13. Juni 1926. Vgl. Hörandner, Zur Rolle, S. 88. Vgl. Pollak, Marianne: »Die Küche der arbeitenden Menschen«, in: Arbeiter-Zeitung, 13. Juni 1926. Vgl. ebd. Sowie »Der häusliche Herd kommt aus der Mode«, in: Der Morgen, 14. Dezember 1931.
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V. Schlussbetrachtung »Mag sein, daß die Gemeinschaftsküche nur eine Zeiterscheinung ist, geboren aus der Not der Gegenwart. Trotzdem will es scheinen, als ob sie sich die Zukunft erst recht erobern wollte. Es zeigt sich eben auch hier wieder, daß der Krieg die Menschen anders zu machen beginnt.« »Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 15. April 1917.
1| Resümee Die außerhäusliche (Mittags-)Mahlzeit, die schon im Zuge der massenhaften Fabrikarbeit und der veränderten Reproduktionsbedingungen in den Jahren vor dem Krieg allmählich trotz verbreiteten Widerstands in der Gesellschaft an Bedeutung gewann, erlebte durch den Krieg und die zunehmende Not innerhalb kurzer Zeit einen beträchtlichen Aufschwung. In Wien und Berlin öffneten zwischen 1914 und 1918 mehrere Hundert Großküchen und Speisestellen, die in Zeiten der schlimmsten Not von Hunderttausenden Großstädtern täglich in Anspruch genommen wurden. In der österreichischen Hauptstadt besuchten gegen Ende des Krieges sogar rund eine halbe Million Menschen täglich die öffentliche Massenverpflegung. Neben den ärmeren Schichten, die von jeher im täglichen Kampf gegen den Hunger auf öffentliche Versorgungsangebote angewiesen waren, gerieten nun auch verstärkt Angehörige des Bürgertums und vor allem des Mittelstandes in eine für sie bislang unbekannte Notlage, die sie zur Inanspruchnahme der Kriegsküchen zwang. Da nicht wenige von ihnen dies als ein Symbol des persönlichen sozialen Abstiegs sahen, suchten sie gezielt Speiseeinrichtungen auf, die ihrem höheren sozialen Status gerecht wurden. Die Entwicklung der Massenverpflegung während der Kriegszeit zeigt, dass die Vorbehalte gegen den Gang in die öffentliche Großküche nicht allein durch die zunehmenden Notverhältnisse überwunden wurden, sondern das Ausmaß des Zuspruchs für die Massenverpflegung auch ein Ergebnis des organisatorischadministrativen Handelns der Stadtverwaltungen und deren Umgang mit den soziokulturellen Verhältnissen in der Bevölkerung war.
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In Anbetracht des breiten und in der Form nie dagewesenen Aufgabenspektrums, das die Stadtverwaltungen beider Hauptstädte seit dem Kriegsausbruch bewältigen mussten, leisteten die kommunalen Behörden in den Bereichen der Notstandsfürsorge und der Massenverpflegung einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Überleben unzähliger Menschen. Die Entstehung der umfangreichen Massenspeisungssysteme unter dem Druck der kriegswirtschaftlichen Verhältnisse und dem damit verbundenen eingeschränkten Handlungsspielraum der Kommunalbehörden verdeutlicht, zu welchen außerordentlichen Leistungen die überwiegend improvisierenden Kriegsverwaltungen imstande waren.1 Das von vielen Zeitgenossen beklagte und von der gegenwärtigen Forschung konstatierte Versagen der städtischen Entscheidungsträger auf dem Gebiet der Nahrungsversorgung trifft zumindest im Hinblick auf die Herausbildung der umfassenden Massenspeisesysteme nicht zu. Doch das bloße Vorhandensein der von den Staatsbehörden vielfach als »Allheilmittel« angesehenen Großküchen sicherte noch nicht die breite Versorgung der notleidenden Massen; entscheidend war die Akzeptanz der Bevölkerung. Maßgebend dafür waren die Ausgestaltung der Verpflegungseinrichtungen und die Anpassungsfähigkeit an die kriegswirtschaftlichen Bedingungen. Als fester Bestandteil der städtischen Ernährungswirtschaft war sie auf ein verlässliches Regierungshandeln der Staatsbehörden angewiesen. Sowohl in Berlin als auch in Wien blieb die notwendige staatliche Unterstützung jedoch aus, so dass das situativ-improvisierte Handeln der Kommunalbehörden letztlich ausschlaggebend für die Entwicklung des Massenverpflegungswesens war. Essentiell war hierbei das Zusammenspiel mit den lokalen Frauenorganisationen und der erfahrenen Philanthropie, ohne die die Großküchenprojekte nicht umsetzbar gewesen wären. Zwar gelang es weder den Wiener noch den Berliner Verantwortlichen, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung vom Nutzen der »Massenküche« zu überzeugen, doch konnten die Organisatoren der Wiener Großküchen im direkten Vergleich mehr Menschen für die Inanspruchnahme des öffentlichen Speiseangebots gewinnen. Dass die gesellschaftliche Akzeptanz der Massenverpflegung in Wien größer ausfiel, war nicht zuletzt das Ergebnis des entschlossenen und gemeinschaftlichen Vorgehens der Stadtverwaltung. Sie nahm von Anfang an eine führende Rolle in der städtischen Küchenversorgung ein, legte Richtlinien fest, begleitete die Vorgänge in den Küchen und nahm ohne Hilfe der staatlichen Behörden Veränderungen vor. Trotz ihres begrenzten Handlungsspielraums war die Gemeindeadministration von der Maßnahme der Massenversorgung und vom eigenen Vorgehen überzeugt. Im Vergleich zur Berliner Volksspeisung war das Wiener Küchensystem im Sommer 1916 klein, doch es hatte den Vorteil, dass das Küchennetz beliebig und bedarfsorientiert ausgebaut werden konnte. Durch die Kooperation mit verschiedenen Speiseanbietern wurde das System den unterschiedlichen Bedürfnissen in der Bevölkerung gerecht. Relevant für die Akzeptanz der öffentlichen Verpflegung war aber nicht nur die Vielfalt des Angebots. Auch die Beständigkeit
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Seitens der historischen Forschung verdient das Leistungsvermögen der Kommunalverwaltungen während der Kriegszeit größere Aufmerksamkeit. Während die Leistungen der Wiener Kriegsverwaltung in den vergangenen Jahren verstärkt in den Blick genommen wurden, fehlt für Berlin nach wie vor eine umfassende Würdigung des Wirkens der kommunalen Behörden und insbesondere der Verdienste Wermuths als Kriegsbürgermeister.
V. Schlussbetrachtung
des Wiener Küchensystems spielte eine Rolle. Im Gegensatz zu Berlin mit seiner Massenversorgungskehrtwende im Sommer 1916 hielt Wien an seinem Küchensystem fest und »optimierte« das Versorgungsnetz während der vier Kriegsjahre. Durch die kontinuierliche Fortführung des Küchensystems hatte die Bevölkerung Zeit, ihre verbreitete Befangenheit gegenüber der Großküche abzulegen und sich an das bestehende Versorgungsnetz zu gewöhnen. Die Berliner Stadtverwaltung hingegen betrachtete die Massenverpflegung ab 1916 nicht mehr als gemeinschaftliche Aufgabe und verzichtete auf die Expertise privater Speiseanbieter. Das Volksspeisungssystem wurde innerhalb weniger Wochen eingerichtet, wobei die Wünsche potentieller Besucher nicht berücksichtigt werden konnten. Die Verantwortlichen glaubten, dass mit der »Küche für jedermann« eine gerechte und gleichmäßige Versorgung einherginge. Gegenüber Wien blieb Berlin nach der Einrichtung des großangelegten Versorgungssystems kein Spielraum mehr, die Küchen an die Bedürfnisse der Bevölkerung anzupassen. Darüber hinaus herrschten in der Stadtverwaltung während des gesamten Krieges Zweifel am Nutzen der öffentlichen Massenverpflegung vor, die der Berliner Bevölkerung nicht verborgen blieben und letztendlich auch zur Ablehnung der Volksspeisung beigetragen haben dürften. Das weitere Fortbestehen zahlreicher Notküchen wie Abrahams Mittelstandsküchen sowie deren hohe Inanspruchnahme bestätigen, dass die Berliner durchaus bereit waren, vom öffentlichen Mahlzeitenangebot Gebrauch zu machen, wenn sie beim Besuch der Einrichtungen ihre soziale Identität gewahrt sahen. Im Gegensatz zu Wien fehlte es der Berliner Volksspeisungsorganisation ganz allgemein an kommunaler Eigenständigkeit, Entschlossenheit, Anpassungsfähigkeit und Kontinuität – allesamt Faktoren, die eine höhere Inanspruchnahme der Küchen begünstigten. Das Wiener Kriegsküchenwesen erfüllte alle diese Eigenschaften. Dies war jedoch weniger das Resultat eines bewusst strukturierten Vorgehens der Stadtverwaltung, sondern vielmehr das Ergebnis eines durch den begrenzten Handlungsspielraum der Stadt erzwungenen improvisierten Handelns. Der Mangel an administrativen Handlungsmöglichkeiten begünstigte in Wien eine vergleichsweise »effiziente« Entwicklung der Massenversorgung. Die unterschiedliche Entwicklung des Massenverpflegungswesens, die spätestens ab der zweiten Kriegshälfte im zunehmenden Maße deutlich wurde, setzte sich schließlich in den Jahren nach dem Krieg fort. Obwohl beide Städte gleichermaßen nach 1918 von einer unvorstellbaren Hungersnot beherrscht wurden, erlebten nach dem Krieg die Wiener Kriegs- und Gemeinschaftsküchen einen deutlich größeren Zulauf als ihre Berliner Pendants. Dennoch blieb die öffentliche Massenverpflegung sowohl im Wiener als auch im Berliner Stadtbild keine »Zeiterscheinung« des Krieges. Durch die umfangreichen internationalen Kinderhilfsaktionen erfuhr die »Massenküche« in den unmittelbaren Nachkriegsjahren eine verstärkte Ausdehnung. Die ausländischen Massenverpflegungsprogramme verhinderten nicht nur »eine totale humanitäre Katastrophe«2 , sondern schufen auch in organisatorischer Hinsicht hervorragende Voraussetzungen für
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Pfoser/Weigl, Stunde Null, S. 93.
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ein Fortbestehen der Massenverpflegung.3 Durch sie ergaben sich für die Stadtverwaltungen neue Möglichkeiten, um die von Unterernährung und wirtschaftlicher Not betroffenen Bevölkerungskreise sowohl von der Zweckmäßigkeit der allgemein unbeliebten Großküche zu überzeugen als auch den dieser inhärenten Kriegscharakter abzulegen. Dass die kommunalen Behörden nach dem Krieg an der kollektiven Massenverpflegung festhielten, lag nicht allein an der fortwährenden unzureichenden Ernährungslage. In beiden Städten übernahmen die sozialdemokratischen Parteien die politische Verantwortung und damit den desaströsen »Nachlaß des verlorenen Krieges«4 . Die Sozialdemokratie befürwortete seit jeher die Gemeinschaftsverpflegung und war von der ernährungswissenschaftlichen Effizienz und »Technik der großen Küche« überzeugt, da diese eine Entlastung des Privathaushaltes und damit einhergehend eine »Erlösung« der zum Familieneinkommen beitragenden (Arbeiter-)Frauen darstellte.5 Die Sozialdemokraten unterstützten die während des Krieges ergriffenen kommunalen Maßnahmen auf dem Gebiet der Massenverpflegung und den später einsetzenden Staatsinterventionismus, betrachteten sie den Krieg doch als ein Ereignis, dessen Eigendynamik dazu beitragen konnte, einen Teil der sozialistischen Reformen durchzusetzen und die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft voranzutreiben. Hatten die Sozialdemokraten während der Kriegsjahre nur mäßigen bis gar keinen Einfluss auf die Ausgestaltung der viel beklagten Massenverpflegung, befanden sie sich nach dem Ende des Krieges endlich in der Position, um die aus ihrer Sicht notwendigen Änderungen im Großküchenwesen in die Wege zu leiten. Sie betrachteten die öffentliche Massenverpflegung nicht mehr nur als Fürsorgemaßnahme, die in Zeiten der Not auf eine Verbesserung der Ernährungs- und Versorgungsverhältnisse hinwirken sollte. Im Sinne des Social Engineering wurde die Gemeinschaftsküche auch als ein zweckdienliches Instrument angesehen, mit dem die sozialdemokratische Rationalisierungspolitik unterstützt werden konnte. Im Mittelpunkt der Reformpolitik stand das Familienleben, das aus Sicht der Zeitgenossen infolge des Krieges aus den Fugen geraten zu sein schien und stabilisierende Maßnahmen verlangte. In den Fokus der Rationalisierungsund Familialisierungskonzepte rückten die Doppelbelastung der erwerbstätigen Frauen und die damit einhergehenden Probleme der familiären Alltagsorganisation. Sie zielten auf eine Erleichterung der Hausfrauenarbeit, die mit Hilfe des sozialen Wohnungsbaus und des Ausbaus der sozialen Infrastruktur erreicht werden sollte. Die Gemeinschaftsküche wurde hierbei vielfach als »Ziel der Rationalisierung«6 definiert, doch zugleich
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Die beachtlichen Leistungen der ausländischen Kinderhilfsaktionen auf dem Gebiet der Massenverpflegung blieben in der Forschung lange unberücksichtigt. Neben der vorliegenden Arbeit erhalten sie gegenwärtig vor allem in den Studien von Mary Cox die wohlverdiente Aufmerksamkeit. Vgl. Cox, Hunger. Sowie dies.: »Working Relationships an their Effects on the American Feeding Program in Post-WW1 Vienna«, Vortrag im Rahmen des Forschungsseminars zur Neueren und Neuesten Geschichte des Deutschen Historischen Instituts Paris: Nouveaux Regards sur la Grande Guerre, Alimentation, Paris, 28. Februar 2020. Nach dem Berliner USPD-Abgeordneten Hintze, zitiert bei Lehnert, Kommunale Politik, S. 58. Vgl. Bebel, Die Frau und der Sozialismus, S. 1130f. Dörre, Lucy: »Die Verschwendung in der Wirtschaft«, in: Frauenstimme, 3. September 1925. Vgl. auch »Genossenschaftliche Organisation zur Erleichterung der Hausarbeiten«, in: Die Gleichheit 11,
V. Schlussbetrachtung
aufgrund der negativen Erfahrungen aus der Kriegszeit auch innerhalb der Sozialdemokratie kontrovers diskutiert. Während die linke Sozialdemokratie nicht nur die entlastenden Effekte für die erwerbstätigen Frauen betonte, sondern auch die gemeinschaftsfördernden Aspekte der Großküche hervorhob, kritisierte der rechte sozialdemokratische Flügel ihre »familienschädigende« Wirkung. Letzterer gab technologischen Innovationen, die der zeitsparenden privaten Selbstverpflegung im Familienhaushalt dienten, den Vorrang. An der (städtischen) Gemeinschaftsverpflegung wurde dennoch festgehalten. Für die vielen erwerbstätigen Menschen und vor allem (Schul-)Kinder, die auf eine außerhäusliche Versorgung angewiesen waren, wollten die Sozialdemokraten ein gesundheits- und gemeinschaftsförderndes Verpflegungsangebot schaffen und die Massenverpflegung als festen Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge etablieren. Dabei standen die Verantwortlichen in Wien und Berlin vor enormen Herausforderungen, da sie abgewirtschaftete Kriegsküchensysteme übernahmen, die inmitten der anhaltenden Versorgungsnot reorganisiert werden mussten. In beiden Städten stießen die kommunalen Massenküchen nach Kriegsende auf starke Ablehnung der Bevölkerung. Wenn sich Bewohner für die öffentliche Verpflegung entschieden und sie es sich leisten konnten, zogen sie Einrichtungen kommerzieller Speiseanbieter oder philanthropische Gemeinschaftsküchen den städtischen Großküchen vor. Von Seiten der Gemeinden bedurfte es großen Aufwands, um die kommunalen Verpflegungseinrichtungen vom Image der unbeliebten Kriegsküche zu befreien und der städtischen Massenverpflegung eine Zukunftsperspektive zu geben. Auch hier hatten die Wiener Behörden wieder die besseren Karten. Zwar schwand auch in Wien mit der abnehmenden Not in der Bevölkerung die massenhafte Inanspruchnahme der Küchen, womit sie als Notstandseinrichtungen an Bedeutung verloren. Doch anders als in der deutschen Hauptstadt, wo die Einrichtungen der städtischen Volksspeisung zu »Armenküchen« degradiert wurden, erlebte die Massenverpflegung im Nachkriegswien in anderer Form einen neuerlichen Aufschwung. Mit der WÖK als der größten Küchengesellschaft, den Schwarzwald-Küchen und den Mittelstandsküchen der Mittella A.G. existierten bis zur Mitte der 1920er Jahre gleich drei große Massenküchenbetreiber, deren Wurzeln im Ersten Weltkrieg liegen. Die aus den städtischen Kriegsküchen hervorgegangene WÖK, die sich gegenüber ihrer Konkurrenz durchsetzen konnte und bis in die 1970er Jahre im Wiener Stadtleben präsent blieb, entwickelte sich nach dem Krieg zu einem selbstständigen Erwerbsunternehmen, das sein Verpflegungsangebot auf die neuen Lebensverhältnisse und die damit verbundenen Bedürfnisse der Stadtbevölkerung auszurichten wusste. Zugleich gelang es der Gemeindeverwaltung die Schulspeisung zu etablieren, deren Vorbildcharakter von der Berliner Sozialdemokratie mit Bewunderung und auch nicht ohne Neid zur Kenntnis genommen wurde.7 Dass die Entwicklung des Massenverpflegungswesens in Berlin nach dem Krieg abermals einen unterschiedlichen Verlauf nahm, lag nicht am mangelnden Gestaltungswillen der Berliner Sozialdemokraten. In Berlin waren die Vertreter von USPD und SPD nicht in der Lage, eine umfängliche Reorganisation der Volksspeisung in die Wege zu leiten. Von Anfang an stand ihre Politik
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(28. Februar 1919), S. 86–87, hier S. 87. Schlesinger, Therese: »Genossenschaften und Großhaushalt«, in: Arbeiter-Zeitung, 1. Juni 1921. Vgl. u.a. »Die Frau in der sozialistischen Gemeinde«, in: Vorwärts, 24. Oktober 1925.
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in Abhängigkeit von den bürgerlichen Kommunalbeamten der Stadtverwaltung, die kein Interesse daran hatten, noch mehr von den gering vorhandenen finanziellen Mitteln in das gescheiterte Massenverpflegungsprojekt zu investieren. Auch nachdem die Sozialdemokraten die entscheidenden Ämter in der Stadtverwaltung bekleideten, blieb ihr finanzieller und politischer Handlungsspielraum begrenzt. Für die Kommunalpolitik galt es mittlerweile, das Großküchenwesen für eine Viermillionenstadt zu organisieren. Die staatliche Steuerpolitik und die veränderten politischen Mehrheitsverhältnisse in der Republik bremsten den Gestaltungswillen der Berliner Sozialdemokraten auf dem Gebiet der Massenverpflegung aus. Unter den gegebenen Umständen waren die Umgestaltung der Volksspeisung und die Einführung einer umfangreichen Mittagsverpflegung an den Schulen während der gesamten Weimarer Zeit nicht mehr als gescheiterte Reformvorhaben. Damit knüpft der Werdegang der Berliner Großküchen nach 1918 nahtlos an die Entwicklung der Kriegszeit an. Auch wenn die Gründe für das Scheitern der sozialdemokratischen Reformpläne nach dem Krieg andere waren, gelang es dem organisatorisch-administrativen Handeln auf dem Gebiet der Massenverpflegung auch nach dem Krieg nicht, in angemessener Weise auf die soziokulturellen Verhältnisse in der Bevölkerung zu reagieren. Die Volksspeisung blieb ein unbeliebtes Relikt der Kriegszeit, das ausschließlich von mittellosen Bewohnern der Stadt in Anspruch genommen wurde Geradezu erstaunlich erscheint demgegenüber die Entwicklung der öffentlichen Massenverpflegung in Wien. Angesichts des Zustandes, in dem sich die einstige Habsburgermetropole nach dem Krieg befand, stand es um die Aussichten auf eine baldige Erholung noch schlechter als in Berlin. In der vom Mangel beherrschten Stadt besaßen die sozialdemokratischen Gemeindevertreter kaum Mittel und Möglichkeiten, um das Überleben Wiens zu sichern. Doch wie bereits in den Kriegsjahren gelang es der Stadtverwaltung abermals, ihren begrenzten Handlungsspielraum effektiv zu nutzen. Dass die Erhaltung des Kriegsküchenwesens und dessen Umwandlung in moderne und sich wachsender Beliebtheit erfreuender Gemeinschafts- und Reformküchen gelang, war auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen, die sich zugunsten des sozialdemokratischen Reformvorhabens auswirkten: 1. Anders als in Berlin waren die Sozialdemokraten in Wien die unangefochten stärkste politische Kraft, die vergleichsweise schnell in die städtischen Behörden einzogen und ihre Politik weitgehend ohne außerparteiliche Kompromissfindung ausführen konnten. 2. Hinsichtlich des zu reorganisierenden Großküchenwesens ist auch den parallel einsetzenden ausländischen Massenverpflegungsprogrammen eine hohe Bedeutung beizumessen. Die internationalen Hilfsaktionen wurden nicht nur von den Wiener Bevölkerung dankbar angenommen, sondern halfen wie im Fall der US-amerikanischen Kinderhilfsaktion der Stadtverwaltung auch über die anfänglichen Schwierigkeiten bei der Neuorganisation der städtischen Küchen hinweg. Die Kooperation mit den US-Amerikanern förderte zudem einen »Imagewechsel« der Stadtküchen weg vom Kriegscharakter hin zu einem neuen »amerikanischen« Charakter, der sich positiv auf die Bereitschaft der Wiener zur Inanspruchnahme der Küchen auswirkte.
V. Schlussbetrachtung 3. Für die Erhaltung dieses langfristig angelegten und kostspieligen Versorgungsangebots kam der Stadtverwaltung außerdem zugute, dass sie sich noch vor dem Machtverlust der SDAP auf Bundesebene die finanzielle Unterstützung des Staates für die WÖK sichern konnte. Mit dem städtischen Küchenunternehmen wurde schließlich die Umsetzung weitreichenderer Massenverpflegungspläne ermöglicht. Die Übernahme der Schul- und Kleinkinderspeisung in städtische Hand konnte vor allem deshalb realisiert werden, weil die WÖK die notwendige Infrastruktur bot. 4. Dass die Stadt zudem in der Lage war, die Schulspeisung zu finanzieren, verdankten die Sozialdemokraten wiederum der Steuerautonomie, die Wien als Bundesland besaß. Obwohl die Sozialdemokraten Gegner des Föderalismus waren, profitierten ihre Reformen in Wien von der mit ihm einhergehenden partiellen Finanzsouveränität.8 5. Mit Blick auf den wachsenden Zuspruch für die kommunalen Verpflegungsinitiativen über die Versorgungskrisen hinaus spielte neben all diesen organisatorischen Aspekten schließlich auch die Vorgeschichte der Massenverpflegung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Wiener Massenverpflegungswesen der Kriegszeit war durch Vielfalt und Heterogenität gekennzeichnet. Trotz seiner Unzulänglichkeiten und Probleme, die von Seiten der Bevölkerung und den Sozialdemokraten berechtigterweise beklagt wurden, umfasste das Küchensystem auch einige Einrichtungen mit Vorzeigecharakter. Die mittelständischen Gemeinschaftsküchen des Vereins zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen fanden von Anfang an großen Anklang in der Bevölkerung und stießen aus gutem Grund auch nach dem Krieg auf starke Resonanz. Die Gemeinschaftsküche war, wie deren Mitbegründerin Eugenie Schwarzwald rückblickend hervorhob, mehr als eine Notspeiseeinrichtung, denn sie sprach die Wiener ebenso als alkoholfreies Unterhaltungslokal und Wärmestube an, war ihnen »Lichtquelle« und »Oase in der Wüste«.9 Mit ihrer Aufmachung und ihrer Leistung trafen die Gemeinschaftsküchen offensichtlich den Geschmack der Bevölkerung. Die auffallende Ähnlichkeit der WÖK-Lokale mit der Gemeinschaftsküche gibt zu erkennen, dass sich die Stadtverwaltung an den Schwarzwald-Küchen orientierte. Die veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation im Blick, schufen die Wiener Sozialdemokraten schlussendlich ein Großküchensystem, das eine »zeitgemäße« und »innovatorische« Lösung des alltäglichen Versorgungsproblems der erwerbstätigen Bevölkerung darstellte.10
Nahezu alle der hier aufgeführten Aspekte trugen dazu bei, dass die »rote« Stadtregierung ihre Massenverpflegungsreformen umsetzen konnte. Einen Teil ihrer Entscheidungen, die der positiven Entwicklung der WÖK zuträglich waren, trafen die Verantwortlichen zum richtigen Zeitpunkt. Die meisten der ergriffenen Maßnahmen geben jedoch zu erkennen, dass die Sozialdemokraten die günstigen Umstände für ihre Zwecke zu nutzen wussten. Die für die Kriegszeit beobachteten Eigenschaften des organisatorisch-administrativen Handelns auf dem Gebiet der Massenverpflegung waren nach dem Krieg
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Vgl. Maderthaner, Das kommunale Experiment, S. 29. Vgl. Schwarzwald, Eugenie: »Undankbare Arbeit«, in: Neue Freie Presse, 15. März 1925. Zitiert bei Deichmann, Leben mit provisorischer Genehmigung, S. 160–162, hier S. 161. Vgl. Hörandner, Zur Rolle, S. 89.
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nicht minder präsent. Ähnlich wie in der Zeit des Krieges nutzte die Wiener Stadtregierung ihren begrenzten Handlungsspielraum maximal aus. Dabei war die Herangehensweise der Sozialdemokraten wie im Krieg durch Eigenständigkeit und vor allem durch Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet. Damit sicherte sie schlussendlich den Fortbestand der WÖK bis weit über die Krisenzeiten der 1920er Jahre hinaus.
2| Einordnung und Bewertung der Ergebnisse Der Werdegang der Wiener Massenverpflegung während des Krieges und in den Jahren nach seinem Ende erscheint sowohl mit Blick auf die allgemeine Entwicklung des deutschen und österreichischen Kriegsküchenwesens als auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht bemerkenswert. Mit Kriegsbeginn wurden in allen größeren Städten Massenküchen eingerichtet. Die Kommunen betrieben einen enormen Aufwand und aktivierten alle zur Verfügung stehenden Kräfte, um möglichst viele Menschen auf diesem Wege zu versorgen. Gleichzeitig stießen die Kriegsküchen bei der Bevölkerung fast überall auf große Ablehnung und waren teilweise so schlecht besucht, dass sich einige Städte bereits im Krieg veranlasst sahen, ihre Massenverpflegungsaktivitäten zu reduzieren und mitunter einzustellen. Die Großküche, von der sich die staatlichen Behörden während des Krieges noch eine Lösung der Versorgungsprobleme versprachen, war aus Sicht vieler Zeitgenossen untauglich und unwirtschaftlich. Die mit ihr verbundenen Anstrengungen der Kommunen wurden als vertane Mühe angesehen. Auch von der Forschung, für die das Massenverpflegungswesen der Kriegszeit häufig nicht mehr als eine Randnotiz darstellte, erfuhren die Kriegsküchen bisweilen nicht die Anerkennung, die in Anbetracht ihrer Leistungen angemessen wäre. Werden die Kriegsküchen allgemein nur als Bestandteil der gescheiterten staatlichen Rationierungspolitik betrachtet, müssen sie zwangsläufig als misslungene Maßnahme angesehen werden. Aus dem Blick geraten hierbei jedoch die mit ihnen verbundenen Leistungen der Stadtverwaltungen und der sie unterstützenden Hilfskräfte, die es auf bemerkenswerte Weise schafften, der Bevölkerung Küchensysteme zugänglich zu machen, die von vielen Notleidenden angenommen wurde. Zwar gelang es keiner Kommune, ihre Bevölkerung flächendeckend durch Großküchen zu versorgen. Doch in einzelnen Fällen gab es Städte wie Wien, die mit ihrer Massenverpflegungsorganisation überdurchschnittlich viele Menschen ansprachen und dadurch zum Überleben großer Bevölkerungsteile beitrugen. Aus kulturhistorischer Sicht erstaunt es, dass sich die öffentliche Massenverpflegung in Wien und nicht in Berlin etablierte. Hierbei rückt das Verhältnis der beiden Großstädte zueinander in den Mittelpunkt. Wien und Berlin waren nicht nur bedeutende Metropolen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich bis zum Kriegsausbruch in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht ähnelten, sondern spätestens seit dem Ende des Deutschen Krieges 1866 mit ihrer Funktion als Hauptstadt auch Konkurrenten, die eine Reihe von Zeitgenossen zum Vergleich der beiden Städte bewogen. Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert setzte unter in Wien und Berlin lebenden Feuilletonisten und Literaten eine umfangreiche Metropolendebatte ein, in der das Wesen und die Geschichte der beiden Städte gegenübergestellt und ihre Unterschiede und Gegensätze hervorgehoben wurden.
V. Schlussbetrachtung
Die publizierten Städteanalysen und -vergleiche standen, so der Wiener Kulturhistoriker Lutz Musner, im Zusammenhang eines umfassenden Modernediskurses, »der stellvertretend anhand der Großstadt die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Modernisierungsprozesse im wilhelminischen Deutschland und im habsburgischen Österreich in Form einer mit antimodernistischen Affekten aufgeladenen Symptomlektüre«11 vollzog. Hierbei betonten u.a. Werner Sombart (1863–1941), Franz Servaes (1862–1947) und Alfred H. Fried (1864–1921) die historische gewachsene Kultur Wiens und Berlins »relative Geschichtslosigkeit«, die sich in den Wesensmerkmalen ihrer Stadtbewohner niederschlugen. »Der Wiener hat Kultur, der Berliner ist zivilisiert«12 , so lautete das Fazit des Wiener Feuilletonisten und späteren Friedensnobelpreisträgers Fried, der nach langjähriger Berlin-Erfahrung 1908 einen Metropolenvergleich veröffentlichte, der sich aus einer Fülle von Alltagsbeobachtungen speiste.13 Für ihn waren Wien und Berlin »zwei grundverschiedene Städte«, wobei ihm das Wesen des »Berliners« arrogant, jung und vorstoßend und das des »Wieners« älter, erfahrener und gemütlicher erschien. »Bei Ersterem seien Elan, Naivität, Robustheit und Unerfahrenheit zugange, währenddessen beim ›Wiener‹ Raffiniertheit und Delikatesse sowie Erfahrung und Abgeklärtheit wirksam seien […].«14 Eine nahezu übereinstimmende Charakterisierung der beiden Städte präsentierten auch die Literaten Julius Bab (1880–1955) und Willi Handl (1872–1920) als Ergebnis ihres 1918 erschienen kulturgeschichtlichen Städtevergleichs: »Wien ist emporgeschossen, Berlin emporgezüchtet; Wien in lachender Anmut, Berlin in klaren Gedanken; Wien heiter und wenig besorgt, auf das Gottesgeschenk seiner Schönheit stolz, an den Gaben der Natur und der Geschichte, soweit es sie würdigen mag, mit zäher Liebe festhaltend; Berlin ernst und in Arbeit, den Blick immer eifrig auf der Spur seiner nächsten Entwicklung. Wien eine Stadt uralter Vornehmheit, Berlin eine Stadt ewig jungen Fleisses.«15 Sowohl Fried als auch Bab und Handl hoben hervor, dass der »Wiener« sich vor allem durch eine ausgeprägte Genusssüchtigkeit und Gemütlichkeit auszeichnete. Letztere wurde als »Kulturgut« angesehen und bestand nach den Ausführungen Frieds »in der Kompromissfähigkeit des Charakters, in der Anpassungsfähigkeit an das Mannigfaltigste, an das Heterogenste und in der Fähigkeit der gegenseitigen Ergänzung der Individuen«16 . Das Sinnbild der Wiener Gemütlichkeit war, so Bab und Handl, das Wiener Café mit den »kleinen Marmortischen zwischen befrackten Kellnern mit einer gewissen Geste sorgloser Vornehmheit«, dessen Hauptzweck nicht das »Verzehren«, sondern 11 12 13
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Musner, Lutz: Der Geschmack von Wien: Kultur und Habitus einer Stadt, Frankfurt a.M. 2009, S. 103. Fried, Alfred H.: Wien–Berlin. Ein Vergleich, Wien 1908, S. 61. Vgl. auch ebd., S. 8 und S. 64. Vgl. Meißl, Gerhard: »Hierarchische oder heterarchische Stadt? Metropolen-Diskurs und Metropolen-Produktion im Wien des Fin-de-siècle«, in: Horak, Roman et al. (Hg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, Band 1, Wien 2000, S. 284–375, hier S. 324f. Vgl. auch Musner, Der Geschmack, S. 100. Ebd., S. 180. Fried, Wien–Berlin, S. 63. Bab, Julius und Willi Handl: Wien und Berlin. Vergleichendes zur Kulturgeschichte der beiden Hauptstädte Mitteleuropas, Berlin 1918 (1. nachgedruckte Auflage: Bremen 2018), S. 324. Fried, Wien–Berlin, S. 75f.
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das »Verweilen« war.17 Mit seiner »Nüchternheit« und Geschäftigkeit habe das »Café« eine luxuriöse Form des geselligen Zusammenseins dargestellt, die international Bedeutung erlangte. Eine Genussfähigkeit, wie sie in Wien vorzufinden war, habe es in Berlin mit seinen ungemütlichen Aschinger-Stehbierhallen und »hemdsärmlichen« Weißbierstuben nicht gegeben.18 Für den geschäftigen Berliner war das Essen, wie Fried feststellte, nur ein Mittel, um die Maschine im Gang zu halten und seinen Hunger zu stillen, wohingegen es dem genießenden Wiener ein Selbstzweck war.19 Die Autoren attestierten dem Berliner Wesen einen Mangel an Gemütlichkeit, hoben aber zugleich die besonderen Qualitäten der deutschen Hauptstadt hervor. Die oben zitierten Ausführungen von Bab und Handl verweisen auf das hohe Arbeitsethos der Berliner. Ebenso betonte Fried das ausgeprägte Pflichtgefühl und die Disziplin des Berliners, der seiner Arbeit mit Hingabe und hohem Einsatz nachging. Berlin zeichnete sich in den Metropolen-Vergleichen durch Ernst, Arbeit und Gestaltungswillen aus, wodurch die Stadt, wie Musner darlegt, »als Sinnbild einer unbändigen, maschinen-zivilisatorischen Moderne«, als »Fabrik der Zukunft« erschien.20 Die Betonung der Offenheit und Innovationsfähigkeit Berlins ging nicht selten mit Bewunderung einher, worin gleichfalls Kritik an dem in Wien vorherrschenden Beharrungsvermögen geübt wurde. Nach Ansicht des Wiener Kulturphilosophen Egon Friedell (1878–1938) repräsentierte Berlin eine reibungslos funktionierende und hochproduktive Großstadtmaschinerie, an der sich Wien ein Beispiel nehmen sollte: »Berlin verdient gerade darum die höchste Bewunderung, weil es seine Aufgabe als deutsche Reichshauptstadt so richtig erfaßt hat: die Aufgabe, ein Zentrum der modernen Zivilisation zu sein. Berlin ist eine wundervolle Maschinenhalle, ein riesiger Elektromotor, der mit unglaublicher Präzision, Schnelligkeit und Energie eine Fülle von komplizierten mechanischen Arbeitsleistungen vollbringt. Es ist wahr: diese Maschine hat vorläufig noch keine Seele. […] Berlin ist in den Flegeljahren einer kommenden Kultur, die wir noch nicht kennen, und die sich erst herausarbeiten muß. Die Berliner Geschmacklosigkeiten sind wenigstens moderne Geschmacklosigkeiten, und die sind immer noch besser als die geschmackvollste Unmodernität, weil in ihnen Entwicklungsmöglichkeiten stecken.«21 In der Metropolendebatte als Teil des Modernediskurses wurde Wien als »Theater der Vergangenheit« herausgestellt. Gleichzeitig gab sie zu erkennen, dass der traditionsverhafteten österreichischen Hauptstadt nicht zugetraut wurde, es dem Berliner Vorbild gleichzutun. »[…E]her wird sich Berlin an die Tradition gewöhnen als Wien an die Maschine«22 , äußerte z.B. der Wiener Publizist Karl Kraus (1874–1936) seine Zweifel an der Fortschrittstauglichkeit Wiens.
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Bab/Handl, Wien und Berlin, S. 18. Vgl. ebd., S. 18f. Fried, Wien–Berlin, S. 69ff. Vgl. Fried, Wien–Berlin, S. 70. Vgl. Musner, Der Geschmack, S. 103f. Vgl. auch Fried, Wien–Berlin, S. 72ff. Friedell, Egon: Ecce Poeta, Berlin 1912 (1. nachgedruckte Auflage: Frankfurt a.M. 2020), S. 260. Vgl. hierzu auch Meißl, Hierarchische, S. 316. Kraus, Karl: »Pro domo et mundo«, in: Die Fackel 326–328, 8. Juli 1911, S. 38–47, hier S. 40.
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Die zeitgenössischen Metropolenvergleiche veranschaulichten einerseits das schwierige Konkurrenzverhältnis der beiden Städte und trugen andererseits zu seiner Komplexität bei. Mit dem Ausbruch des Krieges veränderte sich die Berlin-WienBeziehung dahingehend, dass die beiden Hauptstädte nun auch als Verbündete voneinander abhängig waren. Die im Modernediskurs hervorgebrachten Ungleichheiten Wiens und Berlins, die sinnbildlich für das Befinden der beiden Bündnisstaaten standen, traten im Krieg rasch zutage. In militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht geriet Österreich-Ungarn ins Hintertreffen und verdankte sein militärisches Durchhalten während der vier Kriegsjahre im Wesentlichen dem deutschen Bündnispartner.23 Das ungleiche Kräfteverhältnis führte wiederholt zu Spannungen und Konflikten zwischen den Partnern und bewirkte auf Seiten der österreichischen Heeresleitung ein permanentes Gefühl der Abwertung. Dabei wehrte sich Österreich einerseits gegen eine deutsche Bevormundung und hegte andererseits eine tiefe Bewunderung für die militärische und kriegswirtschaftliche Organisationsfähigkeit des deutschen Verbündeten und dessen vermeintliche Stärke.24 Letzteres galt auch für die Massenverpflegungsorganisation in den deutschen Großstädten, die als Vorbild und Orientierung für das österreichische Kriegsküchenwesen diente. Das kostspielige Berliner Zentralküchensystem fand zwar weniger Berücksichtigung bei der Imitation geeigneter und zielführender Gestaltungsmerkmale der Großküchenorganisation, doch zollte Wien der deutschen Hauptstadt in den Tagen der Eröffnung der Volksspeisung seine Hochachtung.25 In der Tat wuchs Berlin im Sommer 1916 über sich hinaus. Mit Blick auf die Umstände und das kurze Zeitfenster, in dem das neue Küchensystem aus der Taufe gehoben wurde, leistete die Stadt aus organisatorischer Sicht Herausragendes. Nicht umsonst galt es als das größte Massenverpflegungsexperiment im Deutschen Reich, dessen Hauptproblem darin bestand, dass es angesichts der kriegswirtschaftlichen Schwierigkeiten und der soziokulturellen Verhältnisse zu spät umgesetzt wurde. Ab der zweiten Kriegshälfte hatten die Versorgungsprobleme ein solches Ausmaß angenommen, dass eine qualitative und akzeptable zentral organisierte Massenverpflegung nicht mehr möglich war. Hinzu kam, dass den Berlinern zwischen der Eröffnung der ersten Zentralküchen und den Versorgungskrisen des Winters 1916/17 nicht viel Zeit blieb, sich mit dem neuen Verpflegungsangebot der Stadt vertraut zu machen. Auch brauchte es Zeit, bis das organisatorische Räderwerk dieses großen Unternehmens reibungslos funktionierte. Die »Zentralverpflegung« der Berliner Bevölkerung war ein gewagtes Experiment, das mit einem ausgeklügelten und weitsichtigen Küchen-Management durchaus hätte 23
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Vgl. Mutschlechner, Martin: »›Waffenbrüder‹: Österreich-Ungarn und Deutschland als Partner und Verbündete«, in: Die Welt der Habsburger – Der Erste Weltkrieg. Im Internet unter: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/waffenbrueder-oesterreich-ungarn-und-deutschland -als-partner-und-verbuendete (19.06.2020). Die bis hin zu den Spitzen der österreichischen Gesellschaft reichende Bewunderung für das deutsche Organisationswesen in der Kriegszeit thematisierte u.a. Karl Kraus in seinem kriegskritischen Werk ›Die letzten Tage der Menschheit‹, Frankfurt a.M. 1986, insb. S. 296 und S. 351ff. »Volks- und Mittelstandsküchen für Wien«, in: Österreichische Volkszeitung, 14. Juni 1916. »Massenspeisungen in Berlin«, in: Arbeiter-Zeitung, 2. Juli 1916. »Berlins größte Zentralküche«, in: ArbeiterZeitung, 16. August 1916. »Die größte Berliner Kriegsküche«, in: Illustrierte Kronen-Zeitung, 16. August 1916. Siehe auch »Die Massenspeisung in Berlin«, in: Grazer Mittags-Zeitung, 19. Juli 1916.
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funktionieren können. Das bereits zu Kriegsbeginn eingeführte Hamburger Zentralküchensystem zeigt, dass die »Einheitsküche« in Teilen der Bevölkerung größere Akzeptanz erfahren konnte. Hierbei spielte gewiss auch der Faktor »Kultur« eine Rolle, den Davis berechtigterweise hervorhebt. So sei der Besuch der öffentlichen Küchen für die Hamburger und auch die Rheinländer am Ende akzeptabel gewesen, wohingegen selbst die größte Verzweiflung nur wenige Berliner dazu brachte, das günstige und relativ leicht zugängliche städtische Versorgungsangebot in Anspruch zu nehmen. Die Berliner, so Davis, »interpretierten dies offenbar als schwere Verletzung von Anstand und Ehre – sowie ihrer nationalen Identität«26 . Solange die ungleiche Verteilung der Lebensmittel zwischen Stadt und Land einerseits und zwischen den Stadtbewohnern andererseits anhielt, war es für die Berliner immer noch respektabler, von einem Geschäft zum nächsten zu laufen und auf den Straßen zu protestieren als vor aller Augen in die Massenküche zu gehen. Der Stolz der Hauptstadtbevölkerung war nicht zwangsläufig ausgeprägter als in Hamburg, doch er spielte angesichts der kurzen Zeit, in der sich die Berliner an die Großküche gewöhnen sollten, eine größere Rolle. Zum Zeitpunkt der Eröffnung der Berliner Volksspeisung waren die Hamburger Zentralküchen bereits zwei Jahre in Betrieb. Die Bewohner der Hansestadt hatten mehr Zeit, um sich auf das städtische Verpflegungsangebot einzustellen und ihre Skepsis zu überwinden. Diesen Zeitvorteil hatten die Berliner nicht. So schnell wie die Volksspeisung errichtet wurde, ließen sich die Ernährungsgewohnheiten nicht »umorganisieren«. Die Massenverpflegung stellte einen bedeutenden Eingriff in das ohnehin zerrüttete Alltagsleben der Bevölkerung dar und zielte auf zwei genuin private Bereiche des täglichen Lebens: die Ernährung und die mit ihr in Verbindung stehende Erholung. Zwar entwickelten die Menschen im Umgang mit dem Krieg und seinen Auswirkungen auf das Leben an der Heimatfront eine neue »Alltagsmentalität«, zu der auch eine wachsende Bereitschaft zum Gang in die öffentliche Kriegsküche gehören konnte.27 Dennoch versuchte die Bevölkerung ihr Leben so gewohnt wie möglich fortzusetzen und an der den sozialen Status repräsentierenden privaten Tischgemeinschaft festzuhalten. Gerade weil die Ernährung zu einem Bereich des täglichen Lebens gehörte, der vielerorts noch relativ lange die Aufrechterhaltung alter Gewohnheiten ermöglichte, taten sich die Berliner schwer, sich von diesem Rudiment der »Normalität« zu trennen. Der Kulturanthropologe Gunther Hirschfelder weist zudem darauf hin, dass das System der Küche mehr Zeit als andere Bereiche der materiellen Kultur benötigt, um grundlegenden Wandel zu erfahren.28 Auch der Alltagshistoriker Harald Dehne verdeutlicht in seiner Studie zum proletarischen Verlust der familiären Tischgemeinschaft, dass der Wandel der Ernährungsgewohnheiten (d.h. wie das Mittagessen eingenommen wird) nicht parallel mit den veränderten Reproduktionsbedingungen der Bevölkerung einsetzte. Auf die Forschungen des Historikers Robert M. Berdahl verweisend hebt er hervor, »dass symbolische Formationen und
26 27 28
Davis, Konsumgesellschaft, S. 244. Vgl. Proctor, The Everyday, (siehe oben Kapitel i, Anm. 35). Vgl. Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 220.
V. Schlussbetrachtung
der sich in ihnen manifestierende Habitus dahin tendieren, länger anzudauern als die sozioökonomischen Systeme, von denen sie ursprünglich hervorgebracht wurden«29 . Nach mehr als zwei Jahren des Kriegszustandes entsprachen die ernährungswirtschaftlichen Bedingungen kaum mehr den gewohnten Verhältnissen. Vielen Familien war es faktisch unmöglich, das Ritual der privaten Tischgemeinschaft beizubehalten, doch ehe dieser Verlust subjektiv akzeptiert wurde, brauchte es Zeit. Auch die katastrophalen Versorgungskrisen während des dritten Kriegsjahres trugen nicht zur Beschleunigung dieser Entwicklung bei. Die Besucherzahlen der Volksspeisung nahmen zwar im Frühjahr und Sommer 1917 deutlich zu, doch handelte es sich nur um Einzelerscheinungen, die ohne erkennbare Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten der Berliner blieben – zumindest mit Blick auf die kommunale »Einheitsküche«. Es ist jedoch auch zu bezweifeln, dass die stolzen Hauptstädter auf lange Sicht für die Massenabfertigung in den Zentralküchen zu gewinnen waren. Zu sehr widersprach ihre Ausgestaltung den Bedürfnissen des Einzelnen.30 Dass eine grundsätzliche Bereitschaft der Berliner zur kollektiven Außer-Haus-Speisung vorhanden war, belegen die gut besuchten Gemeinschaftsküchen von Herrmann Abraham und anderer privatwohltätiger Küchenbetriebe. Da viele dieser Einrichtungen weit vor den großen Versorgungskrisen des Krieges entstanden, blieb sowohl ihren Organisatoren als auch dem Speisepublikum genügend Zeit, sich mit den widrigen neuen Verhältnissen vertraut zu machen. Kontinuität und Vielfalt der Versorgungsangebote schienen noch stärker als die wachsende Not zur Bereitschaft der Bevölkerung beigetragen zu haben, ihre Ernährungsgewohnheiten den neuen Bedingungen anzupassen. Was sich in Berlin in Ansätzen beobachten lässt, trat in den Fällen Hamburg und Wien noch deutlicher hervor: Um die Menschen für die Gemeinschaftsverpflegung zu gewinnen, brauchte es kein teures und modernes Großküchensystem. Eine beständige und vielfältige Massenverpflegung, die als gemeinschaftliche Aufgabe betrachtet wurde und in der Lage war, inmitten der Not eine familiäre Atmosphäre und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen, trug eher dazu bei, die gewohnten Ernährungsverhältnisse aufzubrechen. Wenn auch die Ausgestaltung der Volksspeisung den Bedürfnissen der Berliner Bevölkerung nicht gerecht wurde, so präsentierte Berlin in den Wochen ihrer Entstehung jenen Fortschrittsdrang, der die Stadt in den Jahrzehnten vor dem Krieg erfasste und der das Wesen des »Neuen Berlins« nach dem Krieg schließlich gänzlich bestimmte. Das Berlin der Nachkriegsjahre, hebt Bisky hervor, »wollte unbedingt modern sein, grundsätzlich unterschieden von der Stadt der Kaiserzeit«31 . Technikbegeisterung, Rekordstreben und der Glaube an große rationale Lösungen für eine Massengesellschaft kennzeichneten Berlins Willen zum Großen und zur Neuerfindung. Alle diese Merkmale, die sich in der Idee des Massenverpflegungsprojekts »Volksspeisung« bereits vereint ermitteln lassen, verhalfen Berlin nach dem Krieg zur Wiedererlangung seines Weltstadtstatus. Auch in diesem Punkt setzte sich die von zeitgenössischen Beobachtern wahrgenommene unterschiedliche Entwicklung der »Verliererhauptstädte« nach 1918 fort. Während das von
29 30 31
Dehne, Alltag, S. 159f. Vgl. Sprenger-Seyffarth, Public Feeding, S. 92. Bisky, Berlin, S. 482. Im Folgenden vgl. auch ebd., S. 473.
499
500
Kriegsküchen in Wien und Berlin
Sachlichkeit und Nüchternheit beherrschte Berlin sich einer neuen, im preußisch dominierten Kaiserreich so nicht möglichen kulturellen Disparität und Erprobungsvielfalt öffnete und sich zu einer »Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten« entwickelte, suchte das von Tradition und Individualität geprägte Wien nach dem Verlust seiner Metropolfunktion in einem multikulturellen Imperium sich mit der kulturellen Homogenisierung unter austromarxistischem Vorzeichen eine neue Identität zu schaffen.32 Die ehemalige Habsburgermetropole, die hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Stärke bereits seit dem späten 19. Jahrhunderts von Berlin abgehängt wurde und nun auch in kultureller und demographischer Hinsicht ins Hintertreffen geriet, ging betäubt und »vollkommen gebrochen aus dem Krieg« hervor.33 Anders als in Berlin herrschte unter den Wiener Zeitgenossen kein Aufbruchsgeist. Ihren Niedergang realisierend, war die einstige Habsburgermetropole stattdessen von Nostalgie erfasst. Ihr fehlte es an »Vitalität und Spannkraft«, um sich den neuen Verhältnissen nach dem Krieg zu stellen und es kostete Zeit, bis die sozialdemokratische Modernisierungspolitik der 1920er Jahre der österreichischen Hauptstadt zu neuer Wirtschaftskraft und Lebensqualität verhalf. Gleichzeitig schlug Wien unmittelbar nach dem Krieg auf dem Gebiet der öffentlichen Massenverpflegung einen augenscheinlich innovativen Weg ein. Dass sich die außerhäusliche Kollektivverpflegung ausgerechnet in Wien durchsetzen konnte, während sie in Berlin offensichtlich keinen vergleichbaren Einfluss gewann, erscheint angesichts des Wesens der beiden Städte im frühen 20. Jahrhundert nicht nur erstaunlich, sondern auch widersprüchlich. Dieser Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn über den Krieg hinaus auch die öffentlichen bzw. kommerziellen (Massen-)Verpflegungsangebote der Vorkriegszeit in den Blick genommen werden. Mit ihnen erklärt sich letztendlich auch, warum die Bemühungen Berlins auf dem Gebiet der städtischen Gemeinschaftsverpflegung vergebens waren. In der deutschen Hauptstadt läuteten bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Speisehausanbieter und Automatenrestaurants eine neue Epoche der Esskultur ein. Die regelmäßige außerhäusliche Mittagsverpflegung in Schnellrestaurants gehörte vor 1914 zum Alltag vieler werktätiger Berliner.34 Auch nach Kriegsende stand ihnen eine 32 33
34
Vgl. Trommler, Das rote Wien und das sachliche Berlin, S. 197. Torp, Konsum, S. 80. Vgl. Warren, John: »Introduction. Cultural Interdependence: a Tale of Two Cities«, in: ders. und Ulrike Zitzlsperger (Hg.), Vienna Meets Berlin. Cultural Interaction 1918–1933, Bern 2005, S. 17–26, hier S. 20. Wie viele Berliner am Vorabend des Krieges täglich kommerzielle (Massen-)Speiseangebote in Anspruch nahmen, lässt sich aufgrund fehlender Besucherstatistiken nur mutmaßen. Die wachsende Zahl der Stehbierhallen in den beiden Vorkriegsjahrzehnten weist jedoch auf eine zunehmende Frequentierung der kommerziellen Schnellverpflegung hin. Allein die Aschinger-Gesellschaft als eine (Massen-)Gastronomiekette neben weiteren Schnellimbissanbietern eröffnete zwischen 1892 und 1913 31 Lokale. Vgl. Glaser, Karl-Heinz: Aschingers »Bierquellen« erobern Berlin, Heidelberg 2004, S. 37f. und S. 149f. Sowie Conze, Aschinger, S. 44f. Die wachsende Inanspruchnahme der Aschinger’schen Bierquellen veranschaulicht Glaser außerdem mit einem Überblick über den Umfang der um 1895 und um 1911 bei Aschinger konsumierten Lebensmittel. Ihm zufolge verzehrten die Berliner im Jahr 1911 täglich mehr als 50.000 der beliebten Aschinger-Brötchen, 20.000 Paar Bierwürstchen und fünfzig Zentner Kartoffelsalat. Zum Vergleich: 1895 lag der tägliche Konsum noch bei rund 20.000 Brötchen, 3.500 Würsten und elf Zentnern Kartoffeln. Vgl. ders., Aschingers, S. 70.
V. Schlussbetrachtung
Fülle von Schnellrestaurants zur Verfügung, die sich mit günstigen Speiseangeboten auf die verschiedenen Bedürfnisse der Berliner ausrichteten. Angesichts der vielfältigen und vertrauten Verpflegungsmöglichkeiten hatte die aus der Kriegsnot heraus geborene und unbeliebte städtische Volksspeisung keine Chance, sich langfristig im Alltag der Berliner zu etablieren. Ähnlich verhielt es sich mit vielen der zu Kriegszeiten eingerichteten Werks- und Betriebskantinen. Zwar hielten vereinzelte Unternehmen nach dem Krieg an ihren Verpflegungseinrichtungen fest, doch die betriebliche Gemeinschaftsverpflegung war Anfang der zwanziger Jahre noch weit von ihrem Durchbruch entfernt. Bis der regelmäßige Betriebskantinenbesuch einen festen Platz im Alltag der Arbeiterschaft in Deutschland einnahm, brauchte es Ulrike Thoms zufolge noch weitere dreißig Jahre.35 Wer in der Zwischenkriegszeit nicht auf das wohltätige Versorgungsangebot der Volksspeisung oder aus Zeitgründen auf die Betriebskantine angewiesen war, dem stand es frei, zwischen den zahlreich bestehenden kommerziellen Speisehäusern, philanthropischen Speisegelegenheiten und dem häuslich zubereiteten Mittagessen zu wählen. Letzteres wurde nach wie vor von großen Teilen der Bevölkerung vorgezogen, was nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen ist, dass sich im Zuge der Rationalisierung der Hausarbeit auch die Privatküche während der 1920er Jahre zunehmend zur »Schnellküche« entwickelte.36 Spätestens nach den schwierigen Nachkriegs- und Inflationsjahren bestand für die deutsche Hauptstadt – mit Ausnahme der Schulspeisung – keine zwingende Notwendigkeit mehr, die kommunale Massenverpflegung im großen Rahmen fortzuführen. Mit Blick auf die Ernährungsgewohnheiten bewirkte der Erste Weltkrieg auf dem Gebiet der Massenverpflegung in Berlin vergleichsweise wenig. Auch Keith R. Allen kommt zu dem Ergebnis, dass die Ernährungsgewohnheiten der Berliner durch die vier Kriegsjahre weitgehend unberührt blieben: »[…I]n the realm of social reproduction the wartime state is believed to have aggressively intervened in the home lives of German men, women and children […]. Wartime innovations brought entire industries under state control and reconfigured the labour force; they did not, however, challenge the balance of power at the dinner table.«37 Für eine gewisse Not- und Übergangszeit sei es, wie Hirschfelder mit Blick auf die Ernährungsverhältnisse in Kriegszeiten darlegt, kein Problem gewesen, das kulturell erlernte System der Tischordnung umzustellen.38 Gleichfalls wuchs mit zunehmender Dauer des Krieges eine Generation heran, für die der Ausnahmezustand die »Normalität« darstellte. Viele Kinder waren mit der klar hierarchischen häuslichen Tischordnung nicht vertraut, zumal die außergewöhnlichen Verhältnisse in vielen Familien nach dem Krieg präsent blieben. Nicht wenige der Betroffenen waren noch lange auf karitative außerhäusliche Speisegelegenheiten angewiesen. Kinder aus »Doppelverdiener-Familien« lernten die traditionelle familiäre Mittagsmahlzeit in dem Sinne nicht mehr kennen. Noch mehr als die Berliner werden die Wiener von dieser Entwicklung betroffen gewesen
35 36 37 38
Vgl. Thoms, Physical Reproduction, S. 152. Dies., Essen, S. 213ff. Uhl, Schafft Lebensraum, S. 380. Vgl. Schmidt-Waldherr, Emanzipation, S. 57ff. Allen, Food, S. 179. Vgl. Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 225.
501
502
Kriegsküchen in Wien und Berlin
sein. Die lang anhaltende Hungersnot nach dem Krieg, die umfassenden ausländischen Kinderspeisungsaktionen und die daraus entstandene Schul- und Kindergartenverpflegung müssen sich langfristig auf das tradierte Ritual der privat-familialen Mahlzeit ausgewirkt haben. In Wien, so scheint es, erwies sich der Krieg als Beschleuniger der öffentlichen Massenverpflegung. Angesichts der im Krieg entstandenen Gemeinschaftsküchen und ihrer wachsenden Zahl nach 1918 nahmen nicht nur viele Zeitgenossen einen Wandel der Verpflegungsgewohnheiten unter den Wienern wahr.39 Auch die historische Forschung, die sich bisweilen der Entwicklung der Wiener Massenversorgung im und nach dem Krieg annahm, kommt zu dem Ergebnis, dass der Krieg die Entwicklung zur vermehrten Außer-Haus-Verpflegung beschleunigte.40 Die Wiener Entwicklung für sich betrachtet, brachte der Krieg in der Tat eine neue Form der öffentlichen Verpflegung hervor. Mit der WÖK und den Gemeinschaftsküchen von Eugenie Schwarzwald entstanden preiswerte Reformspeisehäuser, die es in der Form vor 1914 in Wien nicht gab. Als Schnellküchen für die Massen, die in ihrer Ausgestaltung auch die Wiener Gemütlichkeit nicht vermissen ließen, füllten sie die Lücke zwischen dem häuslichen Mittagsmahl und der zumeist unerschwinglichen Gasthausküche. Sie waren eine Antwort auf den Wandel der Lebens- und Arbeitsbedingungen, der jedoch bereits vor dem Krieg einsetzte und in anderen Städten, wie z.B. in Berlin, zur Entstehung der ungemütlichen Stehbierhallen und anderer Angebote der Außer-Haus-Verpflegung beitrug. Dies berücksichtigend waren die Wiener Reformküchen der Nachkriegszeit nicht so »innovatorisch« wie es zunächst scheint. In Wien bestand vielmehr ein Nachholbedarf an öffentlichen Verpflegungseinrichtungen, der zu einer größeren Akzeptanz der Kollektivverpflegung führte. Die Maßnahmen der Wiener Stadtverwaltung zur Bewältigung der Kriegs- und Nachkriegsnot holten im Zeitraffer eine Entwicklung nach, die sich im kommerzialisierten Berlin der Vorkriegszeit über Jahre als Reaktion auf die veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen marktwirtschaftlich vollzogen hatte. Auch in Wien war das Aufbrechen des privaten Haushalts auf lange Sicht nicht mehr zu verhindern und der Tisch inmitten des Trubels öffentlicher Speiseeinrichtungen ersetzte vor allem für immer mehr (bürgerliche) Familien den gewohnten Mittagstisch im eigenen Heim.41 Der Niedergang der Schwarzwald-Küchen und der Speiseeinrichtungen der Mittella A.G. Mitte der zwanziger Jahre verdeutlicht zugleich, dass sich die Gemeinschaftsverpflegung auch in Wien nicht dauerhaft durchsetzte. Ebenso partizipierten bei Weitem nicht alle Kreise der Bevölkerung an den öffentlichen Speiseangeboten. So fanden sich unter den rund 50.000 Wienern, die im Jahr 1931 täglich die öffentlichen Speisehäuser aufsuchten, vor allem Angehörige des Kleinbürgertums – Pensionisten, Angestellte und kleine Beamte mit ihren erwerbstätigen Frauen.42 Da dem tradierten Ritual der privat39
40 41 42
Vgl. Schwarzwald, Eugenie: »Die Lösung der Mittagssorge«, in: Die Zeit, 31. März 1917. Sowie dies.: »Undankbare Arbeit«, in: Neue Freie Presse, 15. März 1925. Beide Beiträge zitiert bei Deichmann, Leben mit provisorischer Genehmigung, S. 157–162. »Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 15. April 1917. »Die Gemeinschaftsküche«, in: Die Zeit, 29. Dezember 1918. Hörandner, Zur Rolle, S. 89. Breiter, Hinter der Front, S. 255. Mit Bezug zur Schulspeisung vgl. Weigl, Vom Versorgungsfall, S. 230. Vgl. Breiter, Hinter der Front, S. 255. Vgl. »Der häusliche Herd kommt aus der Mode«, in: Der Morgen, 14. Dezember 1931.
V. Schlussbetrachtung
familialen Mahlzeit in den Arbeiterkreisen nach wie vor eine hohe Bedeutung beigemessen wurde, war die Akzeptanz der kollektiven Außer-Haus-Verpflegung in Wien wohl kaum verbreiteter als in Berlin. Auch die Betreiber der WÖK erkannten, dass die Gemeinschaftsverpflegung wenig Anklang fand. Mehrere Einrichtungen der WÖK wurden bis Ende der zwanziger Jahre in gasthausähnliche Lokale umgewandelt.43 Zugleich wurde das Speiseangebot der Stadtküchen ausgebaut, jedoch ohne den Reformgedanken abzulegen. Damit war die WÖK im Grunde genommen auch nur ein weiteres Verpflegungsangebot neben den zahlreichen Gast- und Wirtshäusern. Die weitgehend gleichbleibende Inanspruchnahme der WÖK bis in die fünfziger Jahre belegt außerdem, dass der Großteil der Wiener Bevölkerung auch in den folgenden drei Jahrzehnten der städtischen Großküche fernblieb.44 Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass der Krieg auch in Wien nicht zum umfassenden Durchbruch der Gemeinschaftsverpflegung verhalf. Hinsichtlich der kollektiven Außerhausverpflegung hat der Erste Weltkrieg zwar nur im geringfügigen Maß eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten bewirkt, doch mit Blick auf die kommunalen Reformbemühungen nach 1918 verdeutlicht die vorliegende Untersuchung, dass die »Gemeinschaftsküche« letztendlich doch viel mehr war als eine »Zeiterscheinung« der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit. In Wien und Berlin entstanden unter den widrigen Bedingungen des Krieges und der ungeordneten Nachkriegsjahre städtische Verpflegungsunternehmen, die nach dem Willen der Stadtverwaltungen über die Notzeiten hinaus weiterbetrieben und ausgebaut werden sollten. Die WÖK in Wien entwickelte sich schließlich zu einem dauerhaft rentablen kommunalen Großküchenbetrieb, mit dem die Stadt auch die Schulverpflegung übernehmen konnte. Berlin nahm einen anderen Weg. Die Volksspeisung wurde nach dem Krieg fester Bestandteil des öffentlichen Fürsorgesystems und richtete sich an Berliner, die infolge des Krieges und der Nachkriegsnot bedürftig geworden waren. Das Ziel der Berliner Sozialdemokraten, auch die Schulspeisung langfristig im Berliner Wohlfahrtssystem zu verankern, wurde nicht erreicht. Der Kampf der Berliner Stadtverwaltung für die Umsetzung dieses Reformvorhabens zeigt jedoch, dass die kollektive Verpflegung bestimmter Bevölkerungsgruppen nach dem Krieg als kommunale Aufgabe angesehen wurde. Mit der Massenverpflegungspolitik der Sozialdemokraten, die sich den kriegsbedingten Aufschwung der Gemeinschaftsverpflegung zu eigen machten, nahm die Kollektivverpflegung – losgelöst von der traditionellen und privat-wohltätigen Armenverpflegung – nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin während der 1920er Jahre einen festen Platz in der kommunalen Daseinsvorsorge ein.
43 44
Vgl. Hörandner, WÖK, S. 32ff. Vgl. die Zahlen der ausgegebenen Portionen in den Einrichtungen der WÖK zwischen 1930 und 1955. Hiervon ausgenommen sind die Leistungen der WÖK während der Nachkriegsjahre 1945 bis 1948. Ebd., S. 104f.
503
VI. Anhang
1| Abkürzungen Abb. Anm. Bd. bearb. Bl. bzw. ders. d.h. dies. ebd. einschließl. etc. hg. i.d.R. insb. k.k. k.u.k. o.Ä. Tab. unb. u.a. u.s.f. verf. vgl. v.H. z.B. AFSC ARA
Abbildung(en) Anmerkung Band bearbeitet Blatt/Blätter beziehungsweise derselbe das heißt dieselbe ebenda einschließlich et cetera herausgegeben in der Regel insbesondere kaiserlich-königlich kaiserlich und königlich oder Ähnliche(s) Tabelle unbekannt unter anderen/anderem und so fort verfasst vergleiche von Hundert zum Beispiel
American Friends Service Committee American Relief Administration
506
Kriegsküchen in Wien und Berlin
BDF BÖFV JDC KEA KPD MSPD NFD OHL ROHÖ SDAP SPD USPD VPF WÖK ZEG
Bund Deutscher Frauenvereine Bund Österreichischer Frauenvereine American Jewish Joint Distribution Committee Kriegsernährungsamt Kommunistische Partei Deutschlands Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands Nationaler Frauendienst Oberste Heeresleitung Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Österreichs) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vienna Public Feeding Ges.m.b.H. Wiener Öffentliche Küchengesellschaft m.b.H. Zentral-Einkaufsgesellschaft
VI. Anhang
2| Tabellen und Abbildungen
Tabelle I: Berufsgruppen und soziale Stellung im Beruf in Berlin (1907) Berufsgruppe
Selbständige (a-Personen)
A | Landwirtschaft
B | Industrie
899
a
64.528
afr
31.598
C | Handel & Verkehr
64.802
Angestellte (b-Personen) 237
44.113
48.000
Arbeiter (c-Personen) c
3.138
c1
142
c
400.106
c1
6.413
c
137.859
c1
10.830
N (a-c) 4.416
546.758
261.491
D | Häusliche Dienste D1 | Häusliche Dienste, Aufwartefrauen
--
--
30.799
D2 | Lohnarbeit, pers. Dienste
--
--
30.027
60.826
28.517
35.300
12.173
75.990
190.344
127.650
631.487
949.481
E | Öffentlicher Dienst/freie Berufe A-E G | Dienende innerhalb des Hauses A-G
56.775
1.006.256
F | Berufslose
111.607
H | Angehörige ohne Hauptberuf
887.283
A-H
2.005.146
Quellen: Statistik des Deutschen Reiches, Band 207 (1910), S. 1ff., S. 29 und S. 38. Statistik des Deutschen Reiches, Band 211, hg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Berlin 1913, S. 171f., sowie Anhang, S. 14ff., S. 140 und S. 168f.
Erläuterungen zu Tabelle I afr = Hausgewerbetreibende, die für ein fremdes Geschäft arbeiteten c1 = mithelfende Familienangehörige im Betrieb ihres Haushaltungsvorstandes Die Tabelle I beinhaltet die Zusammenfassung aller Berufsgruppen und Erwerbstätigen mit sozialer Stellung im Beruf in Berlin im Jahr 1907. Sie bildet die Grundlage für die Tabelle 1.
507
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Nach der Statistik des Deutschen Reiches umfasst die Berufsgruppe A: Berufstätige in der Landwirtschaft, Gärtnerei, Tierzucht, Forstwirtschaft und Fischerei. Berufsgruppe B: Berufstätige im Bergbau, in der Industrie der Steine; Metallverarbeitung; Industrie der Maschinen; Chemischen Industrie, Industrie der forstwirtschaftlichen Nebenprodukte, Leuchtstoffe, Seifen, Fette, Öle u.a., Textil-; Papier-; Leder-; Holz- sowie Nahrungs- und Genussmittelindustrie; im Bekleidungs-; Reinigungs-; Baugewerbe; Polygraphischen und Künstlerischen Gewerbe; sowie Fabrikanten, Fabrikarbeiter, Gesellen ohne nähere Bezeichnung. Berufsgruppe C: Berufstätige im Handel, Versicherungs- und Verkehrsgewerbe sowie in der Gast- und Schankwirtschaft. Berufsgruppe D: Berufstätige im Häuslichen Dienst einschließlich persönlicher Bedienung (D1) und Lohnarbeit wechselnder Art (D2). Berufsgruppe E: Berufstätige im öffentlichen Dienst und in freien Berufen: E1: Militär und Marine einschließlich Militärärzte. E2: Hofstaat, Diplomatie, Reichs-, Staats- und Gemeindeverwaltung, Rechtspflege etc. E3: Kirche; Personal in Anstalten für religiöse Zwecke. E4: Bildung, Erziehung und Unterricht, Bibliotheken etc. E5: Gesundheitspflege und Krankendienst. E6: Privatgelehrte, Schriftsteller usw. E7: Stenographen, Privatsekretäre usw. E8: Musik, Theater, Schaustellungen aller Art. Gruppe F:
Personen ohne Beruf bzw. ohne Berufsangabe (F9): F1: F2: F3: F4-8:
Gruppe G:
Gruppe H:
Von eigenem Vermögen Lebende, Pensionisten. Von Unterstützung Lebende. Schüler, die außerhalb des Familienhaushaltes leben. Insassen verschiedener Anstalten.
Dienende, die innerhalb des Haushaltes ihres Arbeitgebers wohnen. In der offiziellen Statistik wurden diese Personen dem Beruf ihres Arbeitgebers zugeordnet. Familienangehörige ohne Hauptberuf.
Die soziale Stellung der Berufszugehörigen umfasste drei Gruppen: a-Personen Selbständige: sind Eigentümer, Inhaber bzw. Besitzer von Betrieben, Handwerksmeister, berufstätige Miteigentümer, Pächter, leitende Beamte von Unternehmungen, Direktoren, Administratoren, Hausgewerbetreibende sowie die Gruppen E6 und E7. b-Personen Angestellte: sind nicht-leitende Beamte, technisches, wissenschaftliches oder kaufmännisch gebildetes Verwaltungspersonal, Aufsichtspersonal, Rechnungs- und Büropersonal.
VI. Anhang
c-Personen Arbeiter: sind alle sonstigen Hilfskräfte bzw. Gesellen, Lehrlinge, Fabrikarbeiter, Lohn- und Tagearbeiter einschließlich der im Gewerbe tätigen Familienangehörigen (c1) sowie die Dienenden (Gruppe D). In einzelnen Berufsarten gab es kleinere Abweichungen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. Näheres hierzu in Statistik des Deutschen Reiches, Band 207 (1910), S. 2.
Tabelle II: Erwerbstätige Frauen in Wien und Berlin (in Prozent) Wien 1910 N = 374.651
Berlin 1907 N = 335.265
Selbständige
23,0
17,4a)
Angestellte
9,1
12,0b)
Arbeiterinnen
38,7
39,4
Mithelfende Familienangehörige
2,7
4,7
Hausdienerschaft
26,5
26,5c)
Quellen: Ehmer, Frauenarbeit, S. 472. Statistik des Deutschen Reiches, Band 207 (1910), S. 29; Band 207/2 (1910), S. 377f.; Band 211 (1913), Anhang, S. 140, 144f., 160f. und 168f. Eigene Berechnungen.
Erläuterugen zu Tabelle II a) 11,2 Prozent davon waren Hausgewerbetreibende, die für ein fremdes Geschäft arbeiteten. b) 7,4 Prozent ohne weibliche Angestellte im öffentlichen Dienst und in den freien Berufen. c) Zur Hausdienerschaft wurden auch die im Haushalt der Herrschaft lebenden Dienenden gezählt. Nach Tabelle I umfasst das die Gruppe D, die insgesamt 32.909 weibliche Beschäftigte umfasste, und die Gruppe G mit 56.028 weiblichen Beschäftigten.
509
510
Kriegsküchen in Wien und Berlin
Tabelle III: Volksküchen des Ersten Wiener Volksküchen-Vereins und weiterer Wiener Volksküchen-Vereine (1894) Verortung Bezirk, Straße
Gründung
Sitzplätzea)
Leistungsfähigkeit in Litern
1. Volksküche Wieden
IV, Hechtengasse 4
Jan. 1873
200
2.100
2. Volksküche Neubau
VII, Bandgasse 14
Dez. 1873
130
2.080
3. Volksküche Mariahilf
VI, Liniengasse 9
Feb. 1874
160
1.320
I, Schönlaterngasse 9
März 1875
200
4.300
I, Kleeblattgasse
Dez. 1875–1877
/
1.500
6. Volksküche Favoriten
X, Laxenburgerstraße 21
Dez. 1887
180
2.580
7. Volksküche Ottakring I
XVI, Yppenplatz/ Weyprechtgasse 6
Mai 1891
160
3.600
8. Volksküche Ottakring II
XVI, Wichtelgasse 36
Nov. 1892
100
1.660
9. Volksküche Alservorstadt
IX, Liechtenthalergasse 16 1874–1879; Dez. 1892
80
1.400
Volksküche des Leopoldstädter Volksküchen-Vereines
II, Haidgasse 1
1873
/
/
Volksküche des Landstraßer Volksküchen-Vereines
III, Blumengasse 4
1874
/
/
Volksküche des Meidlinger Volksküchen-Vereines
XII, Hauptstraße 106
1874
/
/
Volksküche des Sechshauser Volksküchen-Vereines
XIV, Rosinagasse 11
1876
/
/
Volksküche des Vereines zur Errichtung von Volksküchen nach israelitischem Ritus
II, Krummbaumgasse 8
1874
/
/
4. Volksküche Innere Stadt I 5. Volksküche Innere Stadt II
b)
Quellen: Kühn, Volksküche, S. 37 und S. 41ff. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 44f.
Erläuterungen zu Tabelle III a) Die Sitzplätze wurden in einer Stunde im Durchschnitt viermal besetzt. b) Nach ihrer Schließung wurde die Küche in eine Reserveküche umgewandelt.
Alle Volksküchen, für die ein Nachweis über ihr Weiterbestehen bis in die Kriegszeit hinein vorliegt, wurden grau hervorgehoben. Alle neun Einrichtungen stellten sich in den Dienst der zu Kriegsbeginn ins Leben gerufenen Wiener Ausspeisungsaktion. Hierzu ausführlich unter 3.1.3. in Kapitel iii. In späteren während der Kriegszeit veröffent-
VI. Anhang
lichten Küchenstandortverzeichnissen wurden die Volksküchen des Leopoldstädter und Landstraßer Volksküchen-Vereins in der Liste des Ersten Wiener Volksküchen-Vereins geführt. Tabelle IV: Besucherzahlen der Berliner Hilfskommissionen des NFD in der Woche vom 7. bis 12. Juni 1915 Hilfskommission
Stadtteil
Kriegsunterstützte
Zahl unterstützter Sonstige UnArbeitsloser terstützte
Gesamtzahl der Unterstützten
I.
Zentrum
37
5
16
58
II.
Südwesten
54
5
12
71
III.
Westen
202
40
75
317
IVA.
Südwesten
512
17
32
566
IVB.
Südwesten
538
40
18
596
VA.
Südosten
455
102
61
618
VB.
Südosten
405
31
198
634
VI.
Südwesten
184
25
11
220
VIIA.
Osten
172
4
134
310
VIIB.
Osten
388
24
58
470
VIIC.
Osten
336
3
35
374
VIIIA.
Nordosten
218
7
1
226
VIIIB.
Nordosten
632
29
1
662
IX.
Zentrum
353
78
131
562
XA.
Norden
459
28
65
552
XB.
Norden
748
1
/
749
XC.
Norden
584
7
48
639
XI.
Norden
389
69
108
566
XIIA.
Norden
283
11
26
320
XIIB.
Nordwesten
148
21
30
199
XIIC.
Nordwesten
441
8
75
524
XIIIA.
Norden
1.018
16
5
1.039
XIIIB.
Norden
519
7
71
597
9.080
578
1.211
10.869
Gesamt
Quellen: Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 12. Zuordnung der Hilfskommissionen auf die Berliner Stadtteile nach Kriegsfürsorge in Groß-Berlin, S. 132f. Sowie Schreiben von Gertrud Bäumer im Namen des NFD an den Magistrat Berlin vom 27. November 1914. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932.
511
512
Kriegsküchen in Wien und Berlin
Erläuterungen zu Tabelle IV Die Mehrheit der Unterstützungsgesuche erfolgte im Norden der Stadt. Dies ist jedoch nicht nur darauf zurückzuführen, dass im Norden die größte Anzahl von Hilfsstellen vorzufinden war (insgesamt sechs). Da sich die Kommissionen an die Steuerbezirke der Lieferungsverbände angliederten, muss auch der Bevölkerungsanteil hier höher als in den anderen Stadtteilen gewesen sein. In Anbetracht dessen fallen die Fallzahlen der vier bzw. zwei Hilfsstellen in der südwestlichen und südöstlichen Stadtregion stärker ins Gewicht. Sie bestätigen, dass nicht nur die ärmeren Bevölkerungs- und Stadtteile auf die Kriegsfürsorge angewiesen waren. Die höchste Anzahl der Unterstützungsfälle hatte dennoch die Weddinger Hilfskommission XIIIA im Norden vorzuweisen. Sie allein stemmte in diesem Monat mehr als das Doppelte fast aller anderen Hilfsstellen. Die Hilfskommission mit den wenigsten Fällen befand sich im Stadtzentrum, während der Westteil der Stadt insgesamt die wenigsten Gesuche zu verzeichnen hatte. In allen Kommissionen bildeten die Kriegsunterstützten die größte Gruppe. Deren Fallzahlen lagen weit über den Zahlen unterstützter Arbeitsloser und »sonstiger Unterstützter«. Letztere waren vor allem Frauen, die trotz ihrer Erwerbstätigkeit nicht ausreichend Mittel zur Selbstversorgung aufbringen konnten. In der Mehrheit der Kommissionen lag diese Gruppe noch vor den unterstützten Arbeitslosen.
Tabelle V: Verteilung der Lebensmittelunterstützung auf die einzelnen Unterstützungsgruppen des NFD 1914/15 und 1918 (in Prozent) Kriegsunterstützte
Arbeitslose
»sonstige Unterstützte« a)
22,4
42,2
35,4
16.-21. November 1914
35
33,2
31,8
14.-19. Dezember 1914
41,3
31,3
27,4
18.-23. Januar 1915
45,8
27
27,2
15.-20. Februar 1915
53,1
20,7
26,2
15.-20. März 1915
58,8
16,9
24,3
12.-18. April 1915
67,1
14,3
18,6
1.-6. Juli 1918
97,8
0,7
1,5
15.-21. Juli 1918
98,2
0,5
1,3
1.-8. September 1918
98,6
0,2
1,2
16.-23. September 1918
95,9
0,3
3,8
Woche 12.-17. Oktober 1914
Quellen: Die Angaben für Oktober/November 1914 wurden dem Schreiben des NFD an den Berliner Magistrat vom 27. November 1914 entnommen. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932. Für Dezember 1914 bis April 1915 siehe Schreiben des NFD an den Berliner Magistrat vom 22. April 1915. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1933. Die Daten für 1918 wurden aus den Monatsstatistiken vom Juli und September 1918 übernommen. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1936.
VI. Anhang
Erläuterungen zu Tabelle V a) Respektive »andere Bedürftige«. Hierzu zählten vor allem Frauen, die keine staatliche Unterstützung erhielten und trotz ihrer Erwerbstätigkeit nicht ausreichend Mittel zur Selbstversorgung aufbringen konnten. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel III, Abschnitt 2.1.1.
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514
Kriegsküchen in Wien und Berlin
Abbildung I: Verteilung der Massenspeisungen im Berliner Stadtgebiet (1914–1918)
Abbildungsnachweis: Maraun, Wilhelm: Grosser Verkehrs-Plan von Berlin mit seinen Vororten. Berlin: Liebel, 1900. Digitalisiert durch die Zentral- und Landesbibliothek Berlin, 2014. Im Internet unter: http://nbn-resolvin g.de/urn:nbn:de:kobv:109-opus-104299 (09.01.2018).
VI. Anhang
Erläuterungen zu Abbildung I Notstandsspeisungen: Insgesamt konnten 211 Speiseeinrichtungsstandorte für Berlin (ohne Vororte) ermittelt werden. Die meisten Einrichtungen befanden sich im Norden (61) und im Westen (34) der Stadt. Davon waren in der Zeit zwischen Sommer 1914 und Frühjahr 1916 etwa 175 Speiseeinrichtungen aktiv, wobei einige nach den ersten Wochen bzw. Monaten des Krieges ihren Betrieb wieder einstellten und andere erst im Verlauf der ersten beiden Kriegsjahre in Betrieb genommen wurden. Nach dem Frühjahr 1916 waren etwa 113 Speiseeinrichtungen aktiv. Die Vollständigkeit der verorteten Notstandsspeisungen sowie privaten Verpflegungseinrichtungen ab 1916 ist nicht gewährleistet. Es ist davon auszugehen, dass es noch weitere, insbesondere private Speisemöglichkeiten gab, die nicht weiter namentlich in den Verzeichnissen und Übersichten erwähnt wurden. Die Abbildung berücksichtigt alle Küchen- und Speisestandorte, die in den aufgeführten Quellen genannt wurden. Vereinzelte Standorte sind doppelt in der Übersicht vertreten. Es ist möglich, dass in diesen Fällen Kooperationen zwischen den jeweiligen Vereinen bestanden oder zwei Küchen an einer Adresse vorzufinden waren oder aber die Leitung der Küche im Verlauf des Krieges wechselte. Berliner Volksspeisung: Es wurden alle elf Zentralküchenstandorte und 65 der über siebzig Ausgabestellen ermittelt. Siehe hierzu Tab. VII. Berliner Armen-Speisungs-Anstalt: Ermittelt wurden alle sechzehn Küchenstandorte einschließl. eines Umzugs im Nordwesten (Küche XVI).
Quellen Zusammengestellt nach »Vervollständigtes Verzeichnis der Speiseanstalten in Berlin nach dem Bericht des Polizeipräsidenten«. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932. »Liste der auf die Speiseanstalten verteilten Marken« vom Oktober 1914 sowie diverse Schreiben des NFD an den Berliner Magistrat. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1931. Verzeichnisse »Volksspeisung. Zentralküchen – Ausgabestellen« vom 1. Dezember 1916 und Dezember 1917. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1806, Bl. 27 und Bl. 49. »Verzeichnis der Kinder-Volksküchen des Vereins«, in: Die Kinderfürsorge, März 1914, S. 8. GStAPK, I. HA Rep. 89, Nr. 12728. »Verzeichnisse der Mittelstands-, Beamten- und Kriegsküchen des Vereins Kindervolksküchen«. Ebd., Bl. 90f. Kriegsfürsorge in Groß-Berlin, S. 164ff. Nationaler Frauendienst, Kriegsjahr 1914–1915, S. 20f. Unsere Ernährungs-Fürsorge, S. 12f. »Berliner Kriegsküchen«, in: Berliner Tageblatt, 30. September 1914. »Verzeichnis der Mittelstands- und Bürgerküchen des Vereins für Volkskinderküchen und Volkskinderhorte Berlin e.V.«, in: Vorwärts, 23. April 1916. »Kriegsküche für Beamte«, in: Vorwärts, 26. Juli 1916. Käber, Berlin, S. 145. Wronsky/Friedeberg, Handbuch der Kriegsfürsorge, S. 266ff. Die Standorte der Armen-Speisungs-Anstalt wurden aus den Akten der Bestände zur Armen-Speisungs-Anstalt und zur Wohlfahrtsspeisung zu Berlin e.V. ermittelt. LAB, A Rep. 003–06 sowie A Rep. 060–21.
515
516
Kriegsküchen in Wien und Berlin
Tabelle VI: Durchschnittlicher Nährstoffanteil in den Speisen der Berliner Notspeiseeinrichtungen (Angabe pro Portion; Okt./Nov. 1914) Verein/ Speiseeinrichtung
Eiweiß (in Gramm)
Fett (in Gramm)
Kohlenhydrate (in Gramm)
Kalorien
Bürgerspeisehallen vom Roten Kreuz
23,4
24,6
73,0
624
Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft
15,3
17,8
99,4
638
Berliner Volksküchen von 1866
27,2
15,9
103,9
695
Berliner Hausfrauenvereine
15,8
10,7
71,1
456
Vaterländischer Frauenverein
20,7
12,1
69,0
480
Kindervolksküchenverein (Ausgabe für Erwachsene)
12,1
11,4
73,0
454
Kindervolksküchenverein (Bürgerküchen)
23,5
18,2
94,9
674
Israelitisches Heimathaus
54,6
27,4
161,6
1141
Verein zur Errichtung von Arbeiterinnenheimen
14,7
8,6
87,7
500
Verlangter Mindestbedarf pro Portion (nach Rubner)
30
18
130
800
Quelle: Übernommen aus dem 3. Bericht des Städtischen Untersuchungsamtes über die Untersuchung verabreichter Speisen in den Berliner Notstandsküchen und anderen gemeinnützigen Speiseanstalten vom 16. Dezember 1914, Tabelle I. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1932.
Tabelle VII: Die Zentralküchen und Ausgabestellen der Berliner Volksspeisung (1916–1917) Küche
Stadtteil
Standort
Anmerkungen
Zentralküche I
Norden
Markthalle XIII Wörtherstraße 45
eröffnet am 10. Juli 1916
1. Ausgabestelle
Norden
Treskowstraße 11 (links) (heute: Knaakstraße)
2. Ausgabestelle
Norden
Treskowstraße 11 (rechts) (heute: Knaakstraße)
3. Ausgabestelle
Norden
Danziger Straße 23
4. Ausgabestelle
Nordosten
Kolmarer Straße 8/9
5. Ausgabestelle
Norden
Zehdenicker Straße 17/18
6. Ausgabestelle
Norden
Schwedter Straße 232/234
ab 1917 Ausgabestelle der Zentralküche XI
VI. Anhang Küche
Stadtteil
Standort
Anmerkungen
7. Ausgabestelle
Norden
Ystader Straße 1/8
8. Ausgabestelle
Norden
Greifenhagener Straße 20
9. Ausgabestelle
Norden
Ibsenstraße 17
65. Ausgabestelle
Nordosten
Naugarder Straße 45
erst 1917 in Betrieb genommen
Zentralküche II
Norden
Turnhalle Gemeindeschule Graunstraße 11
eröffnet am 10. Juli 1916; zugleich 10. Ausgabestelle für Zentralküche I; kleine Küche, August 1917 geschlossen
Zentralküche III
Osten
Schlachthof Landsberger Allee 59
eröffnet am 24. Juli 1916
11. Ausgabestelle
Osten
Landsberger Allee 59
12. Ausgabestelle
Osten
Landsberger Allee 59
13. Ausgabestelle
Osten
Straßmannstraße 6/8
14. Ausgabestelle
Osten
Rigaer Straße 81/82
15. Ausgabestelle
Osten
Memeler Straße 24/25 (heute: Marchlewskistraße)
16. Ausgabestelle
Osten
Langestraße 76
17. Ausgabestelle
Nordosten
Höchste Straße 34/35
18. Ausgabestelle
Nordosten
Pasteurstraße 5
ab 1917 zeitweise Ausgabestelle der Zentralküche XI
Zentralküche IV
Norden
Frühere Gasanstalt Sellerstraße 16/31
eröffnet am 31. Juli 1916; 1918 geschlossen und nach Revolution wiedereröffnet
21. Ausgabestelle
Norden
Schulstraße 99/100
22. Ausgabestelle
Norden
Böttgerstraße 18
23. Ausgabestelle
Norden
Christianastraße 36/39
24. Ausgabestelle
Norden
Christianastraße 4/6
25. Ausgabestelle
Norden
Ruheplatz 6/7
26. Ausgabestelle
Norden
Müllerstraße 48
ab 1917 Ausgabestelle der Zentralküche VII
63. Ausgabestelle
Norden
Sellerstraße 16/31
erst 1917 in Betrieb genommen
517
518
Kriegsküchen in Wien und Berlin Küche
Stadtteil
Standort
Anmerkungen
Zentralküche V
Zentrum
Zentralmarkthalle I Neue Friedrichstraße 29/34
eröffnet am 14. August 1916
19. Ausgabestelle
Norden
Ravenéstraße 12
ab 1917 Ausgabestelle der Zentralküche IV
20. Ausgabestelle
Norden
Müllerstraße 158/159
ab 1917 Ausgabestelle der Zentralküche IV
27. Ausgabestelle
Zentrum
Neue Friedrichstraße 29/34
28. Ausgabestelle
Zentrum
Neue Friedrichstraße 29/34
29. Ausgabestelle
Norden
Auguststraße 67/68
30. Ausgabestelle
Nordosten
Keibelstraße 31/32
31. Ausgabestelle
Osten
Markusstraße 49
32. Ausgabestelle
Südosten
Schmidstraße 38
33. Ausgabestelle
Zentrum
Niederwallstraße 6/7
34. Ausgabestelle
Nordwesten
Albrechtstraße 20
35. Ausgabestelle
Norden
Gartenstraße 107
36. Ausgabestelle
Nordwesten
Scharnhorststraße 12
37. Ausgabestelle
Norden
Stralsunder Straße 54
38. Ausgabestelle
Südwesten
Kommandantenstraße 80/81
64. Ausgabestelle
Zentrum
Stadthaus (Klostertraße/Stralauer Straße)
erst 1917 in Betrieb genommen
Zentralküche VI
Südosten
Markthalle IX Pücklerstraße 34
eröffnet am 22. August 1916
39. Ausgabestelle
Südosten
Pücklerstraße 34
Südosten
ab 1917: Waldemarstraße 77
39a. Ausgabestelle
Südosten
Mariannenufer 1a
40. Ausgabestelle
Osten
Naglerstraße 3
41. Ausgabestelle
Südosten
Görlitzer Ufer 4
42. Ausgabestelle
Südosten
Glogauer Straße 12/16
43. Ausgabestelle
Südosten
Reichenbergstraße 44/45
44. Ausgabestelle
Südosten
Dieffenbachstraße 51
Zentralküche VII
Nordwesten
Markthalle X Arminiusplatz (heute: Mathilde-Jacob-Platz)
ab 1917 Ausgabestelle der Zentralküche VIII
ab 1917 Ausgabestelle der Zentralküche IV
ab 1917
eröffnet am 4. September 1916
VI. Anhang Küche
Stadtteil
Standort
45. Ausgabestelle
Nordwesten
Arminiusplatz (heute: Mathilde-Jacob-Platz)
46. Ausgabestelle
Nordwesten
Arminiusplatz (heute: Mathilde-Jacob-Platz)
47. Ausgabestelle
Nordwesten
Rostocker Straße 32
48. Ausgabestelle
Nordwesten
Stephanstraße 3
49. Ausgabestelle
Nordwesten
Alt-Moabit 23
50. Ausgabestelle
Nordwesten
Schleswiger Ufer 14
Zentralküche VIII
Süden
Markthalle VII Luisenufer 15/16 (heute: Legiendamm)
51. Ausgabestelle
Süden
Dresdener Straße 27
Süden
ab 1917: Stallschreiberstraße 54
52. Ausgabestelle
Süden
Luisenufer 15/16 (heute: Legiendamm)
53. Ausgabestelle
Süden
Wassertorstraße 31
54. Ausgabestelle
Südwesten
Alte Jakobstraße 127
55. Ausgabestelle
Süden
Wilmsstraße 10
56. Ausgabestelle
Südwesten
Kleinbeerenstraße 2
Zentralküche IX
Südwesten
Markthalle XI Marheineckeplatz
57. Ausgabestelle
Südwesten
Marheineckeplatz
Südwesten
ab 1917: Mittenwalderstraße 34/37
58. Ausgabestelle
Südwesten
Belle-Alliance-Straße 80 (heute: Mehringdamm)
59. Ausgabestelle
Südwesten
Tempelhofer Ufer 20
60. Ausgabestelle
Westen
Culmstraße 15 (heute: Kirchbachstraße)
61. Ausgabestelle
Westen
Steglitzer Straße 8a (heute: Pohlstraße)
62. Ausgabestelle
Westen
Genthiner Straße 4
Zentralküche Xa)
Südosten
Lohmühlenstraße
Anmerkungen
eröffnet am 11. September 1916; 1918 geschlossen und nach Revolution wiedereröffnet
eröffnet am 11. September 1916
519
520
Kriegsküchen in Wien und Berlin Küche Zentralküche XI
b)
Stadtteil
Standort
Anmerkungen
Nordosten
Ehemaliges Wasserwerk Belforter Straße 11
eröffnet im Januar 1917; August 1917 geschlossen
Quelle: Verzeichnisse »Volksspeisung. Zentralküchen – Ausgabestellen« vom 1. Dezember 1916 und Dezember 1917. LAB, A Rep. 001–02, Nr. 1806, Bl. 27 und Bl. 49. Käber, Berlin, S. 145.
Erläuterungen zu Tabelle VII a) Die Küche wurde zur Speisebereitung nicht benutzt, aber für allgemeine Zwecke der Volksspeisung (u.a. Herrichtung bzw. Lagerung von Dauerwaren). b) Die Küche wurde in Zeiten großen Andranges zur Volksspeisung zwischen Januar und August 1917 in Betrieb genommen. Sowohl davor als auch danach wurden ihre beiden Ausgabestellen (4. und 18.) von der Zentralküche I mitversorgt.
Tabelle VIII: Die offenen Kriegsküchen in Wien (1916–1918) Nr.
Eröffnung
Bezirk
Ort
Einrichtung und Organisation
1
17.07.1916
XII
Tivoligasse 34, Dunklergasse 19, Kobingergasse 5/7
Städtische Schule, Frauenarbeitskommission XII
2
17.07.1916
X
Gänsbachergasse 3/Arsenalgasse 9
Städtisches Asyl- und Werkhaus, Verwaltung
3
17.07.1916
IX
Währingerstraße 45/ Spitalgasse 4
Städtisches Bürgerversorgungshaus, Verwaltung
4
01.08.1916
II
Haidgasse 1
5
01.08.1916
IV
Hechtengasse 4 (ab 1917 Rienößlgasse)
Volksküche, Erster Wiener Volksküchen-Verein
6
01.08.1916
V
Margaretenstraße 129
7
01.08.1916
VI
Liniengasse 9
8
01.08.1916
XV
Goldschlagstraße 13
9
01.08.1916
XVI
Wichtelgasse 36
10
31.07.1916
XVI
Lorenz Mandlgasse 56
Städtische Schule, Ottakringer Lehrerhilfskomitee
a)
11
16.08.1916
VII
Kaiserstraße 92
Städtisches Charitas-Haus, Katholischer Wohltätigkeitsverband für Niederösterreich
a)
a)
a)
VI. Anhang Nr.
Eröffnung
Bezirk
Ort
Einrichtung und Organisation
12
21.08.1916
IX
Liechtenwerderplatz 2 und Liechtensteinstraße 134
Eingemietet, Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder und Frauenkongregation der Canisiuskirche
b)
13
17.08.1916
XIII
Linzerstraße 62/64
Eingemietet (Haus des Armenrats), Frauenarbeitskommission XIIIb
a)
14
17.08.1916
XIII
Straßenbahnhof Breitensee, Matzingerstr./ Hütteldorferstr. 112
Verwaltung des Jubiläumsspitals
15
17.08.1916
X
Straßenbahnhof Favoriten/ Leebgasse 17
Frauenarbeitskommission X, Versorgungsheim Lainz
16
21.08.1916
XVI
Neulerchenfelderstraße 43
Eingemietet, Frauenarbeitskommission XVI und Christlicher Wiener Frauenbund
17
17.09.1916
XX
Greiseneckergasse 29
Städtische Schule, Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder
18
17.09.1916
XVIII
Simonygasse 12
Eingemietet, Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder, vor allem für Privatbeamte
19
17.09.1916
X
Quellenstraße 31
Städtische Schule, Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder
20
18.09.1916
II
Engerthstraße
Städtisches Gebäude/Baracke gegenüber dem städtischen Kühllagerhaus, Verwaltung des Lagerhauses der Stadt Wien
21
02.10.1916
III
Sophienbrückengasse 32 (ab 1919 Kundmanngasse)
Städtisches Gebäude
22
05.10.1916
II
Hillerstraße 7
Privathaus
23
22.09.1916
XXI
Neu-Kagran/ Erzherzog Karlstraße 66
Gemeindegasthaus Resniczek
24
17.10.1916
VI
Magdalenenstraße 22
Lokal der Anglobank, Frauenarbeitskomitee und Telephonzentrale
25
19.10.1916
XIX
Billrothstraße 67
Städtisches Haus
a)
a)
c)
521
522
Kriegsküchen in Wien und Berlin Nr.
Eröffnung
Bezirk
Ort
Einrichtung und Organisation
26
07.11.1916
XII
Schönbrunnerstraße 266
Privathaus, Frauenarbeitskomitee, richtete sich vor allem an Straßenbahnangestellte
27
04.12.1916
VII
Kandlgasse 30
Städtische Schule, Christlicher Wiener Frauenbund
28
04.12.1916
IX
Währinger Gürtel 104
Charitashaus, Katholischer Wohltätigkeitsverband
29
08.01.1917
III
Keilgasse 2
Privathaus, Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder
30
16.01.1917
XX
Brigittaplatz 10
Bezirksamt
31
18.01.1917
XXI
Brünnerstraße 36
Privathaus
32
15.02.1917
III
Rasumofskygasse 22/24
Speisekomitee für den 3. Bezirk
33
26.02.1917
I
Felderstraße/ Ebendorfer Str. 1
Neues Amtshaus, Verein der Beamten der Stadt Wien
VIII
Josefsgasse
Filiale im Lehrerhaus
a)
a)
34
28.02.1917
XIII
Hetzendorferstraße 102
35
28.02.1917
XVIII
Währinger Straße 175
Schloß Czartoryski
36
29.03.1917
XVII
Kalvarienberggasse 38
Bezirksamt, Christlicher Wiener Frauenbund
37
02.04.1917
IX
Galileigasse 8
Ehemaliges städtisches Waisenhaus
d)
38
23.04.1917
XV
Gasgasse 8/10, Staglgasse 5
Amtshaus des Bezirks, vom Hochadel finanzierte Kriegsküche
d)
39
25.04.1917
XX
Stromstraße 78
40
15.05.1917 26.05.1917
XIV
Dadlergasse 7 und Sturzgasse 40
Zwei Ausgabestellen
d)
41
26.05.1917
X
Columbusplatz 6
42
29.05.1917
XI
Enkplatz 2
Amtshaus des Bezirks
d)
43
22.06.1917
IV
Karolinengasse 26
44
22.06.1917
II
Kronprinz-RudolfStraße 38 (heute: Lassallestraße)
45
22.06.1917
XVI
Neulerchenfelder Straße 92
46
27.06.1917
X
Sonnenwendgasse 4
47
25.06.1917
IX
Kolingasse 15
48
31.07.1917
XXI
Brünnerstraße 139
d)
d)
Schulgebäude
d)
VI. Anhang Nr.
Eröffnung
Bezirk
Ort
Einrichtung und Organisation
49
30.08.1917
V
Margaretenstraße 103
50
05.10.1917
VII
Hermanngasse 24
Amtshaus des Bezirks
51
05.11.1917
VIII
Hamerlingplatz 1
Gastwirtschaft »Hamerlinghof«, Verein der Reserveoffiziere
52
07.11.1917
XVI
Gablenzgasse 62
Kaiserin-Zita-Kriegsküche I (gegenüber Radetzkykaserne)
53
20.12.1917
I
Giselastraße 11 (heute: Bösendorferstraße)
d)
54
17.01.1918
XIII
Spallartgasse 23
a)
55
25.01.1918
XVII
Richthausenstraße 18
56
03.02.1918
XIII
Linzer Straße 399
57
18.03.1918
VI
Millergasse 29
58
18.03.1918
XIV
Pillergasse 8
59
22.04.1918
IV
Waltergasse 16
Schulgebäude, Christlicher Wiener Frauenbund
60
25.04.1918
VIII
Schlesingerplatz 4
Amtshaus des Bezirks
61
25.04.1918
XVIII
Schulgasse 34/38
Kaiserin-Zita-Kriegsküche II, Mittelstands- und Beamtenkriegsküche
62
Ende April 1918
XVII
Straßenbahnhof Hernals
Kuratorium zur Speisung hungernder Kinder
63
01.07.1918
X
Gudrunstraße/ Tramway Remise
Kriegsküchenerweiterung Straßenbahnhof Favoriten (Kriegsküche 15)
64
02.07.1918
X
Antonsplatz
Schulgebäude
65
16.08.1918
XX
Forsthausgasse
Kaiserin-Zita-Kriegsküche III, Franziskanerorden
a)
66
September 1918
II
Volksprater
Lokal »Zum goldenen Ochsen«
e)
67
25.11.1918
IX
Währinger Straße 21
Verein der Reserveoffiziere
68
Dezember 1918
XIX
Gatterburggasse 23
Baumgartner Kasino
d)
b)
523
524
Kriegsküchen in Wien und Berlin Quellen: Anlage »Kriegsküchen« im Protokoll über die 53. Sitzung der Obmänner-Konferenz vom 12. September 1916. Sowie »Verzeichnis Kriegsküchen« im Protokoll über die 61. Sitzung der Obmänner-Konferenz vom 1. Dezember 1916. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/74. »Bericht des Bürgermeisters an den Stadtrat über die Gemeindeverwaltung bis Ende Dezember 1917 in der Sitzung des Wiener Stadtrates vom 8. Februar 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 12, 8. Februar 1918, S. 229. »Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderates vom 11. Dezember 1918«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 27 (1918), Nr. 101, 18. Dezember 1918, S. 2421. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 44ff. K.k. Polizei-Direktion, Adressenverzeichnis vom 15. Mai 1917, S. 6. Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1917, Wien 1917, S. 888ff. Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1918, Wien 1918, S. 612ff. Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1919, Wien 1919, S. 491ff. »Neue Kriegsküchen«, in: Reichspost, 6. Dezember 1916. »Die erste Kriegsküche im Prater«, in: Neues Wiener Tagblatt, 14. September 1918. »Ein Mittagstisch für 60.000 Personen«, in: Illustrierte KronenZeitung, 21. November 1920.
Erläuterungen zu Tabelle VIII a) Die Kriegsküche war an eine unentgeltliche Ausspeisung angegliedert. b) Es handelt sich um eine ehemalige unentgeltliche Ausspeisung. c) Nicht alle Kriegsküchen waren bis Kriegsende in Betrieb. Nach einem Bericht der Arbeiter-Zeitung vom 8. Februar 1917 wurde z.B. die Kriegsküche 23 im Verlauf des Krieges geschlossen. d) Die Kosten wurden von Herzogin Isabella getragen bzw. akquiriert. e) Die Informationen für die Kriegsküche waren nicht eindeutig. Die Kriegsküche könnte sich auch im 20. Bezirk, Mortaraplatz 1, befunden haben. Vgl. hierzu »Bericht über die Sitzung des Stadtrates vom 17. September 1919«, in: Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 28 (1919), Nr. 79, 1. Oktober 1919, S. 2367–2372, hier S. 2371.
Grau markiert sind alle Standorte, die nach dem Krieg von der WÖK übernommen wurden.
VI. Anhang
525
Abbildung II: Verteilung der öffentlichen Speiseeinrichtungen im Wiener Stadtgebiet (1914–1918)
Abbildungsnachweis: Plan der Großgemeinde Wien: Bezirke I-XXI. Wien: Artaria & Co., 1914. Digitalisiert durch die Wienbibliothek Digital, Public Domain (CC-PD). Im Internet unter: https://www.digital.wienbibliot hek.at/wbrobv/content/titleinfo/1825756 (09.01.2018).
526
Kriegsküchen in Wien und Berlin
Quellen Zusammengestellt nach »Verzeichnis der Speisestellen der Zentrale I., Neues Rathaus«, in: Rechnungs-Abschluß über die Einnahmen und Ausgaben der Zentralstelle der Fürsorge für die Angehörigen der Einberufenen und der durch den Krieg in Not Geratenen für Wien und Niederösterreich für die Zeit vom 30. Juli bis 31. Dezember 1914, o.S. WStLA, Gemeinderat, 1.6.1. B23/73. Dont, Tätigkeits-Bericht, S. 35ff. Ein Jahr Kriegsfürsorge, S. 77ff. General-Versammlung der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt 1917, S. 21. K.k. Polizei-Direktion, Adressenverzeichnis vom 12. Dezember 1914, S. 2ff. K.k. Polizei-Direktion, Adressenverzeichnis vom 22. Mai 1915, S. 2ff, S. 9f., S. 29ff. Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, S. 362. WBD, Stimmungsberichte 1916–1917. Wegweiser der Kriegsfürsorge, S. 5f. Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1919, Wien 1919, S. 494. Zweiter Tätigkeits-Bericht Anitta Müller, [S. 37]. Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien 153 (September 1914), S. 176. Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien 154 (Oktober 1914), S. 195. Sowie »Ausspeisung von Kindern im katholischen Arbeiterhaus in Margareten«, in: Reichspost, 24. Oktober 1914. »Ausspeisung galizischer Flüchtlinge«, in: Fremdenblatt, 13. Dezember 1914. »Die Ausspeisungsaktion«, in: Neue Freie Presse, 27. Dezember 1914. »Ein Besuch in der ›Ausspeisung‹«, in: Fremdenblatt, 1. Januar 1916. »Neue Kriegsküchen«, in: Reichspost, 6. Dezember 1916. »Aufgelassene Kriegsküchen«, in: Arbeiter-Zeitung, 9. Februar 1917. »Bisher 33 Wiener Kriegsküchen«, in: Reichspost, 23. Februar 1917. Die Verortung der Küchen erfolgte darüber hinaus entsprechend der Tabellenangaben und nach den jeweiligen Quellenverweisen der Tabellen VIII und IX.
VI. Anhang
Tabelle IX: Die Wiener Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen (1916–1918) Eröffnung
Küche
August 1914März 1917
AnglobankRestaurant a)
Frühjahr 1916 Sommer 1916
Bezirk
Ort
Verwaltung/Leitung
IX
Thurngasse 4
Direktion der Anglobank
Gemeinschaftsküche für Handelsangestellte
I
Eßlinggasse 18
Gremium der Wiener Kaufmannschaft
Hausküche der k.k. Österreichische Tabak-Regie
IX
Porzellangasse 51
Angestelltenkomitee der Generaldirektion der Austria Tabak
Messe der Niederösterreichischen Eskomptegesellschaft
I
Wipplinger Straße 2
Angestelltenkomitee der Allgemeinen EskompteAnstalt
Messe des Wiener Bankenvereins
I
Schottenring/ Schottengasse
Angestelltenkomitee des Wiener Bankenvereins
Gemeinschaftsküche in der Kreditanstalt für Handel und Gewerbe
I
Am Hof 6
Angestelltenkomitee der Kreditanstalt
Gemeinschaftsküche der Österreichischen Länderbank
I
Hohenstaufengasse 1
Angestelltenkomitee der Österreichischen Länderbank
15.08.1916
Gemeinschaftsküche des Handelsministeriums
I
Postgasse (Gebäude des alten Postsparkassenamtes)
Komitee von Bediensteten im Handelsministerium
15.09.1916
Gemeinschaftsküche der Eisenbahnbeamten
XV
Westbahnhof/ Gebäude der Staatsbahndirektion
Verein Österreichische Eisenbahnbeamte und Verein Gemeinschaftsküchen österreichischer Eisenbahnbeamtenfrauen
Oktober 1916
Mittagskost für Privatbeamte
XVIII
Herbeckstraße 75
Allgemeine Pensionsanstalt für Angestellte in Kooperation mit der 18. Kriegsküche
15.10.1916
»Professorenstüberl« in der »Mensa Academica«
Universität Wien
Universität Wien
I
527
528
Kriegsküchen in Wien und Berlin Eröffnung
Küche
09.12.1916
Kriegsmittagstisch für Privatangestellte (Wiener Konzerthaus)
26.02.1917
Ort
Verwaltung/Leitung
III
Lothringerstraße 20
Gremium Wiener Kaufmannschaft in Kooperation mit verschiedenen Verbänden b)
Kriegsküche des Lehrerhausvereins
VIII
Langegasse 20
Lehrerhausverein
01.03.1917
Kriegsgesellschaftsküche für Staatsund Kommunalbeamte
XII
Meidlinger Hauptstraße 5
Bezirksgericht Meidling
10.03.1917
Gemeinschaftsküche »Deutsche Wacht« d)
VIII
Florianigasse 39
10.03.1917
Gemeinschaftsküche »Akazienhof« a) d)
IX
Thurngasse 4
Verein zur Schaffung und Erhaltung von Gemeinschaftsküchen/ Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs
18.04.1917
Gemeinschaftsküche »Emilienhof« d)
III
Esteplatz 3
24.04.1917
Gemeinschaftsküche »Elisabethhof« d)
I
Friedrichstraße 4/ Elisabethstraße 3
17.12.1917
Gemeinschaftsküche »Zur Tabakspfeife« d)
I
Jasomirgottstraße 6
22.08.1917
Gemeinschaftsküche »Isabellaheim« mit zwei Filialen
IV
Mayerhofgasse
01.12.1917
Gemeinschaftsküche »St. Stanislaus«
I
Dezember 1917
Gemeinschaftsküche
XVIII
Gentzgasse
Sommer 1917
1. Gemeinschaftsküche Hietzing
XIII
Altgasse 1
04.08.1917
2. Gemeinschaftsküche Hietzing im »Ober St. Veiter Casino«
XIII
Hietzinger Hauptstraße 149
September 1917
3. Gemeinschaftsküche »Penzing«
XIII
Am Platz 5
22.08.1917
Bezirk
Fleischmanngasse
Katholische Hausfrauenorganisation für Niederösterreich
Steindlgasse 6
Verein Westend
VI. Anhang Eröffnung
Küche
Bezirk
Ort
Verwaltung/Leitung
08.10.1917
Gesellschaftsküche »Neubau«
VII
Zieglergasse 23/25
Verein der Beamten und Lehrer des 7. Bezirks
14.10.1917
Künstlergesellschaftskriegsküche d)
IV
Schleifmühlgasse 21
u.a. die Direktionen des Hofburgtheaters und der Hofoper
17.10.1917
Gesellschaftsküche der Studienfürsorge
I
Weihburggasse 10
Verein Studienfürsorge
November 1917
Gemeinschaftsküche des Österreichischen Touringklubs
I
Restaurant Deierl: Babenbergerstraße 5a
Österreichischer Touringklub
03.12.1917
Speisegemeinschaft »Akademikerküche«
I
Lichtenfelsgasse 3
Wirtschaftsverband der Akademiker im öffentlichen Dienst
Dezember 1917
Krankenküche I
VII
Kaiserstraße
Gemeinde Wien
Dezember 1917
Krankenküche II
XVIII
Währinger Straße
Gemeinde Wien
07.01.1918
Kinderküche
XII
Tivoligasse
Gemeinde Wien; Erzherzogin Isabella
28.04.1918
Gemeinschaftsküche für Journalisten und Schriftsteller
II
Dianabad, Lilienbrunngasse 1a
Verein »Die Scholle«
1918
Gemeinschaftsküche für Festbesoldete
XVI
Neulerchenfelder Straße 78
Beamten- und Lehrerverband
vor 1914
Fabrikkantine
XVI
Thaliastraße 125
k.k. Österreichische TabakRegie
1917
Fabrikkantine
III
Rennweg 44
1917
Kriegsküche der Firma Gräf und Stifft
XIX
Solingergasse 16
Wiener Suppen- und Teeanstalt
1917
Werksküche
XVI
Wögingergasse 11
Patronenfabrik/ Industriewerke Warchalowski, Eißler & Co.
529
530
Kriegsküchen in Wien und Berlin Eröffnung
Küche
unbekannt c)
Betriebsküche
Bezirk
Ort
Verwaltung/Leitung
III
Invalidenstraße 5–7
Direktion des Stahlwerkes »Poldihütte«
Betriebsküche
IX
Mariannengasse 4
Direktion der Wiener Elektrizitätswerke
Werksküche
X
Laxenburgerstraße 66
Fabrik Hutter & Schrantz A.G.
Werksküche
XIII
Hütteldorfer Str. 180
Semperit ÖsterreichischAmerikanische Gummiwerke
Werksküche
XXI
Siemensstraße 88
Siemens & Halske Kabelwerke
Fabrikkantine und Betriebsküche
XXI
Industriestraße 190 (Stadlau)
Phönix Flugzeugwerke A.G.
Erläuterungen zu Tabelle IX a) Das Anglobank-Restaurant wurde im März 1917 in die Gemeinschaftsküche »Akazienhof« umgewandelt. b) Allgemeine Pensionsanstalt für Angestellte, Bund österreichischer Industrieller, Niederösterreichischer Gewerbeverein, Wiener Industriellenverband, Wiener Kaufmännischer Verein, Verein der Angestellten der Privatbankfirmen und Wechselstuben. c) Es waren keine Daten zur Eröffnung der Betriebsküchen zu ermitteln. Es ist davon auszugehen, dass einige der Betriebsküchen bereits vor dem Krieg in Betrieb genommen wurden. d) Diese Küchenstandorte gehörten nach 1918 zum Küchennetz der SchwarzwaldKüchen.
Die Benennung der Küchen erfolgt chronologisch nach deren Eröffnung. Unterhielt ein Verein bzw. eine Institution mehrere Küchenstandorte, erfolgt deren Nennung unmittelbar im Anschluss der zuerst eröffneten Küche. Die Tabelle enthält lediglich die Küchen, die ermittelt werden konnten. Es kann davon ausgegangen werden, dass noch weitere Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen existierten.
Quellen Bericht der k.k. Gewerbeinspektoren 1914, S. 605. Bericht der k.k. Gewerbeinspektoren 1917, S. 204. Czeike, Felix: Historisches Lexikon Wien, Band 1, Wien 2004, S. 34. K.k. Polizei-Direktion, Adressenverzeichnis vom 15. Mai 1917, S. 3ff. Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch für 1919, Wien 1919, S. 492ff. »Speisung für Beamte«, in: Fremdenblatt, 10. August 1916. »Gemeinschaftsküchen österreichischer Eisenbahnbe-
VI. Anhang
amtensfrauen«, in: Österreichische Volkszeitung, 30. August 1916. »Die Kantine des Handelsministeriums« und »Gemeinschaftsküchen für Eisenbahnbeamte«, in: Neues Wiener Tagblatt, 3. September 1916. »Die Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 16. September 1916. »Ein Professorenstüberl in der Mensa Academica«, in: Die Zeit, 5. Oktober 1916. »Mittagskost für Privatbeamte im 18. Bezirk«, in: Neues Wiener Tagblatt, 14. Oktober 1916. »Kriegsmittagstisch für Privatangestellte«, in: Österreichische Volkszeitung, 5. November 1916. »Eröffnung des Kriegsmittagstischs für Privatangestellte«, in: Reichspost, 5. Dezember 1916. »Kriegsmittagstisch für Privatangestellte«, in: Neues Wiener Tagblatt, 15. Januar 1917. »Die Gründung der ersten Kriegsgesellschaftsküche in Wien«, in: Die Zeit, 10. Februar 1917. »Der Kriegsmittagstisch für Privatangestellte«, in: Die Zeit, 25. Februar 1917. »Zur Gemeinschaftsküchenbewegung«, in: Fremdenblatt, 25. Februar 1917. »Die erste Kriegsküche für den Mittelstand«, in: Neues Wiener Tagblatt, 27. Februar 1917. »Eine Gemeinschaftsküche im Opernkeller«, in: Fremdenblatt, 1. März 1917. »Eröffnung der ersten Gemeinschaftsküchen«, in: Reichspost, 10. März 1917. »Eröffnung der Gemeinschaftsküche ›Emilienhof‹«, in: Neues Wiener Tagblatt, 12. April 1917. »Eine neue Gemeinschaftsküche«, in: Reichspost, 18. April 1917. »Gemeinschaftsküchen für den Mittelstand«, in: Der Abend, 22. Mai 1917. »Minister-Höfer in der Gemeinschaftsküche der Rohö«, in: Die Zeit, 26. Mai 1917. »Eine Gemeinschaftsküche für den Mittelstand in Hietzing«, in: Neues Wiener Tagblatt, 6. August 1917. »Eröffnung der Gemeinschaftsküchen ›Isabellahalle[‹] der Katholischen Frauenorganisation«, in: Reichspost, 22. August 1917. »Eine Kriegsküche des Vereines der Reserveoffiziere«, in: Neues Wiener Tagblatt, 19. September 1917. »Gesellschaftsküche Neubau«, in: Reichspost, 26. September 1917. »Gesellschaftskriegsküche der ›Studienfürsorge‹«, in: Reichspost, 27. September 1917. »Westend-Gemeinschaftsküchen in Hietzing«, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. Oktober 1917. »Gemeinschaftsküche des Oesterr. Touringklub«, in: Fremdenblatt, 16. November 1917. »Speisegemeinschaft ›Akademikerküche‹«, in: Neues Wiener Tagblatt, 26. November 1917. »Gemeinschaftsküche in der Innern Stadt«, in: Neues Wiener Tagblatt, 8. Dezember 1917. »Konflikte im Vorstand der Künstler-Kriegsküche«, in: Die Zeit, 14. Dezember 1917. »400.000 Kriegsküchenteilnehmer«, in: Österreichische Volkszeitung, 14. Dezember 1917. »Die Gemeinschaftsküche ›St. Stanislaus‹«, in: Reichspost, 29. Dezember 1917. »Aus der Betriebsküche der städtischen Elektrizitätswerke«, in: Arbeiter-Zeitung, 1. Juni 1918. »Die Gemeinschaftsküchen«, in: Die Zeit, 13. Oktober 1918. Neben den zahlreichen Zeitungsartikeln wiesen darüber hinaus auch vereinzelte Zeitungsinserate auf das Bestehen von Werks- bzw. Fabrikküchen hin. Darunter Neues Wiener Tagblatt, 6. Mai 1917, S. 41; sowie 29. Juni 1917, S. 22. Illustrierte Kronen-Zeitung, 10. Juli 1917, S. 12. Arbeiter-Zeitung, 15. Oktober 1918, S. 8.
531
532
Kriegsküchen in Wien und Berlin
3| Quellen und Literatur 3.1 Archivquellen Bundesarchiv Berlin (BA) R 3601 Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, R 3601/30 Frauenbeirat des Kriegsernährungsamtes. R 3101 Reichswirtschaftsministerium, R 3101/6040 Massenspeisungen Allgemein, Rechnungen und Druckschriften. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK) I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Volkswohlfahrt und Volksgesundheit, VIII B, Nr. 2045, Maßnahmen zur Verpflegung der unteren Volksschichten, Suppenküchen. I. HA Rep. 193A Deutscher und Preußischer Städtetag, Lebensmittel und Ernährung (1914–1919), Nr. 127, »Krieg und Volksernährung«, Schrift von Dr. M. Winckel, München. I. HA Rep. 197A Preußischer Staatskommissar für Volksernährung, Nr. 164, Massenspeisungen allgemein. I. HA Rep. 197A Preußischer Staatskommissar für Volksernährung, Nr. 315, Die Lebensmittelversorgung der Groß-Berliner Mittelstands- und Volksküchen. I. HA Rep. 89 Geheimes Zivilkabinett, Nr. 12728, Vereine, Anstalten und Stiftungen für wohltätige Zwecke in Berlin, Band 5. Landesarchiv Berlin (LAB) A Pr. Br. Rep. 030, Polizeipräsidium Berlin, Nr. 1418, Arbeiter-Wohlfahrtspflege. A Rep. 000–02-01 Stadtverordnetenversammlung der Stadt Berlin, Nr. 2531, Die Volksund Speisehallen. A Rep. 001–02 Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1054, Allgemeine Bestimmungen über den vaterländischen Hilfsdienst. A Rep. 001–02 Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1806, Verzeichnisse und Aufgaben der für städtische Kriegsaufgaben eingerichteten Dienststellen. A Rep. 001–02 Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1930, Sammlung von Geld- und Sachspenden für Familien von Kriegsteilnehmern und Hilfseinrichtungen. A Rep. 001–02 Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1931–1936, Hilfefonds und Zuwendungen für Volksküchen und Speiseanstalten. A Rep. 003–06 Armenspeisungsanstalt, Nr. 21–22, Generalakten der Direktion der Armenspeisungsanstalten. A Rep. 003–06 Armenspeisungsanstalt, Nr. 47, Speisepläne, von der Armendirektion bestellte Portionen und deren Abrechnung mit der Armendirektion. A Rep. 003–06 Armenspeisungsanstalt, Nr. 52, Jahresberichte. A Rep. 060–21 Wohlfahrtsspeisung zu Berlin e.V., Nr. 28 Geschäftsberichte. B Rep. 142–01 Deutscher und Preußischer Städtetag, StB 924, Durchführung von Volksspeisungen in den deutschen Städten. B Rep. 142–02 Deutscher und Preußischer Städtetag, Kriegswirtschaftsakten, StK 1056, Versorgung der Massenspeisungseinrichtungen mit Lebensmitteln und Zuschüssen.
VI. Anhang
Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA) Gemeinderat, 1.6.1. B23/73. Gemeinderat, 1.6.1. B23/74. Gemeinderat, 1.6.1. B23/75. Marktamt, 1.1.12.A2/1 Volksküche.
3.2 Gedruckte Quellen A Review of the Work of the American Relief Administration in Austria, Wien 1921. Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 25–27, Wien 1916–1918. Amtsblatt der Stadt Wien 28–29, Wien 1919–1920. Bericht der k.k. Gewerbeinspektoren über ihre Amtstätigkeit in den Jahren 1914 bis 1918, Wien 1915–1921. Bericht über die 6. Sozialdemokratische Frauenkonferenz in Jena (8. und 9. September 1911), in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 10. bis 16. September 1911 in Jena, Berlin 1911, S. 414–459. Bericht über die Tätigkeit des Vereines »Die Bereitschaft«, Wien 1916. Berliner Fürsorge-Arbeit während des Krieges, hg. von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1916. Bestimmungen über die Errichtung von Betriebs- (Anstalts-)Kriegsküchen im Sinne des Erlasses des k.k. Amtes für Volksernährung mit einigen erläuternden Beispielen für die Ausarbeitung von Speise- und Warenbedarfsplänen, Wien 1917. Denkschrift über die von der k.k. Regierung aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen. Bis Ende Juni 1915, Wien 1915. Denkschrift über die von der k.k. Regierung aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen. Vierter Teil, Juli 1916 bis Juni 1917, Wien 1918. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Wiener Lohnarbeiterinnen. Ergebnisse und stenographisches Protokoll der Enquête über Frauenarbeit abgehalten in Wien vom 1. März bis 21. April 1896, Wien 1897. Die Gemeinde Wien während der ersten Kriegswochen, 1. August bis 22. September 1914. Nach dem vom Bürgermeister Dr. Richard Weiskirchner dem Wiener Gemeinderate erstatteten Bericht zusammengestellt vom Sekretariate der Wiener christsozialen Parteileitung, Wien 1914. Die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Wien in der Zeit vom 1. Jänner 1914 bis 30. Juni 1919 unter den Bürgermeistern Dr. Richard Weiskirchner und Jakob Reumann, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1923. Die Gemeindeverwaltung der Bundeshauptstadt Wien in der Zeit vom 1. Juli 1919 bis 31. Dezember 1922 unter dem Bürgermeister Jakob Reumann, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1927. Die Massenspeisungen. Beiträge zur Kriegswirtschaft, Heft 14, hg. von der Volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegsernährungsamts, Berlin 1917. Die Schwerarbeiterfrage. Beiträge zur Kriegswirtschaft, Heft 26/27, hg. von der Volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegsernährungsamts, Berlin 1917.
533
534
Kriegsküchen in Wien und Berlin
Die städtische Volksspeisung in Berlin [im Kriegsjahr 1916], hg. vom Magistrat von Berlin, Berlin 1916. Die Tätigkeit der Wiener Gemeindeverwaltung in der Obmänner-Konferenz während des Weltkrieges, Band 1, Wien 1917. Die Versorgung Berlins mit Mehl und Brot im Erntejahr 1914/15, hg. vom Magistrat von Berlin, Berlin 1915. Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien in der Zeit vom 1. Jänner 1923 bis 31. Dezember 1928 unter den Bürgermeistern Jakob Reumann und Karl Seitz, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1933. Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien in der Zeit vom 1. Jänner 1929 bis 31. Dezember 1931 unter dem Bürgermeister Karl Seitz, hg. vom Magistrat der Stadt Wien, Wien 1949. Die Wohlfahrtseinrichtungen in der Stadtgemeinde Berlin. Ein Auskunfts- und Handbuch, hg. von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1921/22. Die Wohlfahrtseinrichtungen in der Stadtgemeinde Berlin (Graubuch). Ein Auskunftsund Handbuch, hg. vom Archiv für Wohlfahrtspflege Berlin, Berlin 1927. Dokumente aus geheimen Archiven. Band 4: 1914–1918, Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin 1914–1918. Bearb. von Materna, Ingo und Hans-Joachim Schreckenbach, Weimar 1987. Dont, Jakob: Tätigkeits-Bericht über die Zeit vom 30. Juli 1914 bis 31. Dezember 1916, hg. von der Zentralstelle der Fürsorge für die Angehörigen der Einberufenen und für die durch den Krieg in Not Geratenen in Wien und Niederösterreich, Wien 1917. Ein Jahr Kriegsfürsorge der Gemeinde Wien, Wien 1915. Erlaß des k.k. Amtes für Volksernährung an sämtliche Landesbehörden, betreffend die Errichtung von Kriegsküchen, Beilage II, Wien 1917. »Errichtung einer Kriegsküche für Beamte«, in: Der Bautechniker – Zentralorgan für das österreichische Bauwesen. Zeitschrift für Bau- und Verkehrswesen, Technik und Gewerbe, 37. Jahrgang, Wien 1917, S. 84. General-Versammlung und Rechenschafts-Bericht des Vereines zur Errichtung und Erhaltung der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt für die Zeit vom 1. Jänner bis zum 31. Dezember 1917, hg. vom Zentralverein für Volksernährung, Wien 1918. K.k. Polizei-Direktion in Wien. Kriegszustand, Instruktion für Polizeiorgane. Adressenverzeichnis vom 12. Dezember 1914, 22. Mai 1915 und 15. Mai 1917. Im Internet unter: https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/titleinfo/48365 9 (09.07.2018). Kriegsfürsorge in Groß-Berlin. Ein Führer, Gesetze, Bekanntmachungen, Wohlfahrtseinrichtungen, hg. von der Zentrale für private Fürsorge, Berlin 1915. Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien. 59. Jahrgang, Erster Band, Wien 1917. Nationaler Frauendienst: Kriegsjahr 1914–1915. Abteilung Berlin, hg. vom Nationalen Frauendienst, Berlin 1915. Nationaler Frauendienst in Berlin 1914–1917, hg. vom Nationalen Frauendienst, Berlin 1917.
VI. Anhang
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3.3 Zeitungen und Periodika Arbeiter-Zeitung Arbeiterinnen-Zeitung Berliner-Börsen-Zeitung Berliner Morgenpost Berliner Tageblatt Berliner Volkszeitung Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien Das Blatt der Hausfrau Das interessante Blatt Der Abend Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischer Frauenvereine Der Konsumverein Der Morgen. Wiener Montagblatt Der Neue Abend Der Neue Tag Der Österreichische Volkswirt Der Textil-Arbeiter. Organ des Deutschen Textilarbeiter-Verbandes Deutsche Allgemeine Zeitung Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen Die Neue Zeitung Die Rote Fahne Die Woche Die Zeit Frankfurter Zeitung Frauenstimme, Beilage zum Vorwärts Freiheit. Berliner Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands Fremdenblatt Grazer Mittags-Zeitung Illustrierte Kronen-Zeitung Kölnische Zeitung
VI. Anhang
Lokal-Anzeiger Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung Neue Freie Presse Neues 8-Uhr-Blatt Neues Wiener Abendblatt Neues Wiener Journal Neues Wiener Tagblatt Neuigkeits-Welt-Blatt Norddeutsche Allgemeine Zeitung Österreichische Volkszeitung Österreichs Illustrierte Zeitung Pester Lloyd Reichspost ROHÖ-Flugblatt. Mitteilungen über die Aktionen der ROHÖ Sonder-Abdruck. Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, 1914–1917 Sonntag. Beilage zum Vorwärts Tägliche Rundschau Tages-Post Vorwärts Vossische Zeitung Westungarischer Grenzbote Wiener Abendpost Wiener Bilder Wiener Fremden-Presse Wiener Zeitung Wirtschaftliches Wochenblatt für die Beamten-, Mittelstands- und Kleinkinderküchen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte Berlin e.V. Vorarlberger Wacht Zeit am Montag Zentralblatt der Bauverwaltung
Der überwiegende Teil der zitierten Zeitungen und Periodika wurde in digitalen Zeitungsarchiven verschiedener Bibliotheken abgerufen: • • • •
ANNO – Historische Zeitungen und Zeitschriften, Österreichischen Nationalbibliothek. Historische Presse der deutschen Sozialdemokratie online, Bibliothek der FriedrichEbert-Stiftung. Wienbibliothek digital: Zeitungsausschnittsammlung Erster Weltkrieg, Wienbibliothek. Zeitungsinformationssystem ZEFYS, Staatsbibliothek zu Berlin.
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle I: Tabelle II: Tabelle III: Tabelle IV: Tabelle V: Tabelle VI:
Berufsverteilung und soziale Schichtung in Wien und Berlin ..................... 44 Soziale Schichtung der erwerbstätigen Bevölkerung in Wien und Berlin (in Prozent) ....................................................................... 46 Angestellte und Arbeiterschaft in Wien und Berlin............................... 65 Anzahl der ausgegebenen Speisen und Getränke in den Hallen der Berliner VolksKaffee- und Speisehallen-Gesellschaft (1889–1913)............................... 91 Anzahl der täglichen Besucher der Berliner Volksküchen von 1866 (1866–1912) .... 93 Anzahl der ausgegebenen Portionen in der Volksküche des Meidlinger Volksküchen-Vereines (1912–1918) ............................................... 96 Zusammensetzung und Kaloriengehalt der täglichen Mahlzeiten eines Wiener Nichtselbstversorgers.......................................................... 161 Preissteigerung ausgewählter Lebensmittel in Wien und Berlin (1914–1918)........163 Das Gewicht der offiziellen Lebensmittelrationen in Prozent des Gewichts des Friedensverbrauchs nach Kocka (1916/17-1917/18) ................................164 Jährlich ausgegebene Portionen in den Küchen der Berliner Armen-SpeisungsAnstalt (1914–1920) ............................................................. 191 Gesamtkapazität der städtischen Ausspeisungen in den Wiener Bezirken (Dez. 1916) ...........................................................................265 Verabreichte Kostportionen der Ersten Wiener Suppen- und Tee-Anstalt im Jahr 1917 ............................................................................339 Berufsgruppen und soziale Stellung im Beruf in Berlin (1907) ....................507 Erwerbstätige Frauen in Wien und Berlin (in Prozent)............................509 Volksküchen des Ersten Wiener Volksküchen-Vereins und weiterer Wiener Volksküchen-Vereine (1894)..................................................... 510 Besucherzahlen der Berliner Hilfskommissionen des NFD in der Woche vom 7. bis 12. Juni 1915....................................................................511 Verteilung der Lebensmittelunterstützung auf die einzelnen Unterstützungsgruppen des NFD 1914/15 und 1918 (in Prozent)....................512 Durchschnittlicher Nährstoffanteil in den Speisen der Berliner Notspeiseeinrichtungen (Angabe pro Portion; Okt./Nov. 1914) .................... 516
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Tabelle VII: Tabelle VIII: Tabelle IX:
Die Zentralküchen und Ausgabestellen der Berliner Volksspeisung (1916–1917) ....516 Die offenen Kriegsküchen in Wien (1916–1918)....................................520 Die Wiener Gemeinschafts-, Anstalts- und Betriebsküchen (1916–1918) ............527
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12:
Abbildung 13:
Abbildung 14: Abbildung 15:
Abbildung 16:
Eröffnung der XIII. Kinderküche des Vereins für Kindervolksküchen in der Manteuffelstraße 67, Berlin (1907) ............................................. 99 Besucherzahlen der Berliner Hilfskommissionen des NFD (1914–1915) ........... 111 Anspruchsanmeldungen für den staatlichen Unterhaltsbeitrag in den einzelnen Wiener Bezirksämtern zwischen August 1914 und Ende Juli 1915 ................ 124 Wöchentliche Bedarfsanmeldungen für Brotmarken durch den NFD (1914–1918) ..142 Wöchentliche Bedarfsanmeldungen für Kartoffelmarken durch den NFD (Jan. 1915 bis Dez. 1916) ............................................................ 144 Gelieferte Kartoffel- und Gemüsemengen in Wien (Nov. 1914 bis Feb. 1917) ...... 147 Gelieferte Buttermengen in Wien (Nov. 1914 bis Feb. 1917) ...................... 149 Bürgerspeisehalle des Roten Kreuzes (1914) ................................... 172 Speisung von Reservisten-Kindern durch den Verein für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (August 1914) ........................................... 173 Entwicklung der Zahl der Speiseeinrichtungen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (1915 bis 1917) ........................ 176 Ausgegebene Portionen in den Bürgerspeisehallen des Roten Kreuzes (Nov. 1914 bis März 1915) ............................................................ 179 Entwicklung der monatlich ausgegebenen Speisemarken in den Kinder- und Suppenküchen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (1914 bis 1917)......................................................................180 Entwicklung der monatlich ausgegebenen Portionen in den Mittelstands- und Beamtenküchen des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (1914 bis 1917)......................................................................182 Wöchentliche Bedarfsanmeldungen für Speisemarken durch den NFD (1914–1919)....................................................................184 Das Verhältnis der wöchentlich gemeldeten Speisemarken und Lebensmittelscheine inklusive Kartoffel- und Gemüsemarken (Nov. 1914 bis Dez. 1918) ....................................................................186 Entwicklung der ausgegebenen Portionen in den Küchen der Berliner ArmenSpeisungs-Anstalt (1908/1909-1919/1920) ......................................189
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Kriegsküchen in Wien und Berlin
Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30: Abbildung 31: Abbildung 32: Abbildung 33: Abbildung 34: Abbildung 35: Abbildung 36: Abbildung 37: Abbildung 38: Abbildung 39: Abbildung 40: Abbildung 41: Abbildung 42: Abbildung 43: Abbildung 44: Abbildung 45: Abbildung 46: Abbildung I: Abbildung II:
Durchschnittlich im Monat ausgegebene Portionen in den einzelnen Küchen der Berliner Armen-Speisungs-Anstalt (1914–1919).............................. 192 Das Mittagessen aus der Berliner Gulaschkanone in Lichtenberg (1916) ......... 199 Die Eröffnung der Berliner Volksspeisung (Juli 1916) ...........................203 Die Hauptküche der Berliner Volksspeisung am Alexanderplatz ................204 Berlins Chefköchin Hedwig Heyl bei einem ihrer Kontrollgänge (1916) ..........207 Wochenkarte der Berliner Volksspeisung ......................................209 Entwicklung der täglichen Besucherzahlen der Berliner Volksspeisung (1916–1920) ................................................................... 215 Arbeiterinnen in einer Speisehalle der Berliner Volksspeisung (1916)............220 Mittelstandsküche des Vereins für Kindervolksküchen und Volkskinderhorte (Juli 1916) ....................................................................248 Plakat mit dem Emblem des Schwarz-Gelben Kreuzes ........................256 Zahl der Ausspeisungsstellen nach Wiener Bezirken (1914–1919) ................262 Tägliche Gesamtkapazität der Wiener Ausspeisungen in den Bezirken (Dez. 1916) .........................................................................266 Durchschnittlich täglich ausgegebene Speiseportionen in den Wiener Ausspeisungen (Okt. 1914-Dez. 1916) ...........................................274 Entwicklung der Wiener Ausspeisungsaktion (1914–1919) .......................275 Gegenüberstellung der täglichen Portionsausgabezahlen in den Wiener Ausspeisungen nach Bezirken im Dezember eines Jahres (1914–1916) ...........277 Entwicklung der Tagesportionenausgabezahl nach Wiener Bezirken (1914–1916) ..278 Gegenüberstellung der Kapazitäten und der tatsächlich ausgegebenen Portionen in den Wiener Ausspeisungen nach Bezirken (Dez. 1916) .............279 Anzahl der ausgegebenen Portionen nach ausgewählten Wiener Speisestellen (1914–1916)....................................................................282 Die Eröffnung der Kriegsküchen in der Wiener Presse .........................287 Vor der 25. Kriegsküche in der Billrothstraße 67 im 19. Wiener Gemeindebezirk..290 Portionsausgabeentwicklung in den offenen Kriegsküchen in Wien (1916–1919)..293 Entwicklung der Wiener Speiseeinrichtungen (1917–1919) .......................307 Schlange von Wartenden vor der Kriegsküche Nr. 21, Sophienbrückengasse 32 im 3. Wiener Gemeindebezirk.................................................318 Wöchentlich ausgegebene Portionen in den Wiener Kriegsküchen (Juli 1916Feb. 1917) ....................................................................322 Das Kaiserpaar zu Besuch in den Kriegsküchen (1918) .........................328 Gegenüberstellung der täglichen Inanspruchnahme der kommunal organisierten Großküchen in Berlin und Wien (1916–1918) .......................354 Ankündigung der Amerikanischen Kinderhilfsaktion in der Wiener Presse ......448 Amerikanische Kinderausspeisung in Wien (1920) .............................452 Besucherzahlen der öffentlichen Ausspeisungen nach Wiener Bezirken (Anfang 1919) .........................................................................455 Besucherzahlen der WÖK (1919–1922) ..........................................460 Verteilung der Massenspeisungen im Berliner Stadtgebiet (1914–1918)........... 514 Verteilung der öffentlichen Speiseeinrichtungen im Wiener Stadtgebiet (1914–1918)....................................................................525
Personenregister
A Abraham, Herrmann, 99, 100, 134, 172–175, 177, 179–181, 185, 186, 246–252, 351, 429, 430, 489, 499 Adler, Valerie, 324 Aschinger, August, 91 Aschinger, Carl, 91 B Bab, Julius, 495, 496 Baden, Max von, 59, 379, 380 Badeni, Kasimir Felix Graf von, 59 Barmat, Julius, 411 Batocki, Adolf von, 152, 232–234 Bauer, Gustav, 390 Bauer, Otto, 72, 369, 376, 384, 392 Bäumer, Gertrud, 109, 134, 511 Bebel, August, 195, 478 Bienerth-Schmerling, Anka von, 254, 255 Bienerth-Schmerling, Richard Graf von, 284 Binzer, Hans von, 240, 245 Bismarck, Otto von, 58, 64 Blasel, Leopold, 301 Bleyleben, Gabriele von, 284 Bleyleben, Oktavian Regner von, 284 Borsig, Ernst von, 244
Bosel, Siegmund, 411 Böß, Gustav, 399, 400, 416, 425 Bouton, Stephen Miles, 156 Braun, Lily, 480 Breitner, Hugo, 395, 396, 457 Bruns, Bernhard, 396 C Calwer, Richard, 231, 232 D Dawes, Charles G., 416 Deutsch, Julius, 392 Dinghofer, Franz, 377 Doflein, Karl, 175, 188, 192, 198–202, 209, 211, 212, 214, 223–225, 227, 228, 235, 249, 366, 367 Dont, Jakob, 120, 257, 285, 286, 288, 290, 304, 305, 321, 323, 326, 330, 333, 339, 370 Durig, Arnold, 443, 459 E Ebert, Friedrich, 380, 381, 383, 384 Ehrenburg, Ilja G., 409 Eichhorn, Emil, 383 Eltzbacher, Paul, 138 Erzberger, Matthias, 469 Eynern, Hans von, 251
572
Kriegsküchen in Wien und Berlin
F Felder, Cajetan, 52 Ferstel, Heinrich, 39 Forckenbeck, Max(imilian) von, 55, 56 Fränkel, Sigmund, 459 Franz Joseph i., Kaiser von Österreich, 39, 53, 101, 140, 153 Freißler, Robert, 294, 298, 303 Freundlich, Emmy, 131, 135, 294, 299 Freund-Markus, Fanny, 299 Fried, Alfred H., 495, 496 Friedell, Egon, 496 Fürth, Henriette, 222 G Geist, Raymond Hermann, 449, 450, 457–459, 467, 468 Granitsch, Helene, 121, 310, 311 Grey, Valerie, 313 Groener, Wilhelm, 134, 232, 236, 240, 244, 381 Grünwald, Anna (auch Kaff, Anna), 294 H Haase, Hugo, 380 Hagedorn, Fred, 243, 245 Handl, Willi, 495, 496 Hansen, Theophil, 39 Hanusch, Ferdinand, 391, 392 Heimann, Hugo, 223, 226, 396 Heyl, Hedwig, 167, 176, 186, 197, 205–207, 219, 230, 234, 235, 365 Hindenburg, Paul von, 131 Hintze, August, 197, 210–212, 222, 226, 490 Hobrecht, Arthur, 55 Hobrecht, James, 47, 48, 55 Hoffmann, Adolph, 106 Hoffmann, Ludwig, 201 Hoffmeister, Karl, 299 Hoover, Herbert, 435, 438, 444, 446 I Isabella, Erzherzogin von ÖsterreichTeschen, 312, 319, 524, 529
J Jandorf, Adolf, 34 K Käber, Ernst, 15, 105, 107, 108, 139, 198, 203, 242, 252, 418 Kaff, Anna (siehe Grünwald, Anna), 294 Karl i., Kaiser von Österreich, 113, 153, 154, 327, 328, 375, 376 Kautsky, Karl, 72 Kessel, Gustav von, 104 Kirschner, Martin, 56 Kläger, Emil, 28 Kolm, Betty, 100, 254, 268 Körsten, Alwin, 197, 226 Kramer, Marie, 455 Kraus, Karl, 496, 497 Krobatin, Alexander von, 153 Kühn, Josef von, 93, 94, 313 Kuhn, Wenzel, 294 Kunschak, Leopold, 331 L Landwehr von Pragenau, Ottokar, 154, 325, 327 Lange, Annemarie, 20, 38, 46, 47, 49, 409, 412, 413, 415, 417 Legien, Carl, 381 Lehmann, Adolph, 260 Lehner, Oskar, 299 Leichter, Käthe, 404, 407 Levy-Rathenau, Josephine, 110 Levy, Albert, 190 Liebknecht, Karl, 158, 380, 383 Liebrecht, Arthur, 125 Lindemann, Hugo, 132 Liszt, Eduard von, 129 Loebell, Friedrich Wilhelm von, 166, 195, 196, 234 Loewy, Siegfried, 254 Loos, Adolf, 311, 333 Löwenfeld-Russ, Hans, 323, 339, 442, 444, 445 Ludendorff, Erich, 131 Lüders, Marie-Elisabeth, 134
Personenregister
Lueger, Karl, 50, 53, 54, 466 Luxemburg, Rosa, 158, 383 M Mayr, Michael, 393 Michaelis, Georg, 231, 241, 243, 251 Mielenz, Gustav, 190, 192 Minlos, Emil, 90 Mommsen, Karl, 229 Morgenstern, Lina, 92, 93, 95 Müller, Hermann, 390 Müller(-Cohen), Anitta, 270, 303 N Nüchtern, August, 305 O Oppen, Heinrich von, 157 P Patek-Hochenadl, Clara, 271, 302, 311 Paul, Ludwig, 325 Penz, Othmar, 299 Philippovich, Eugen von, 42 Pirquet, Clemens von, 447, 449, 457–459 Plothow, Anna, 206 Pollak, Marianne, 481, 484 Popp, Adelheid, 316 Popper, Else, 278 R Rain, Josef, 304 Rathenau, Emil, 30 Reicke, Georg, 104, 167, 176, 205 Renner, Karl, 294, 375, 385 Reumann, Jakob, 273, 395, 456, 457 Ritter, Adolf, 197, 210, 218, 226, 227, 351 Rosenfeld, Kurt, 106, 396 Rubner, Max, 98, 138, 183, 516 Rummelhardt, Karl, 456 S Salomon, Alice, 134 Schalek, Alice, 254, 280 Scheidemann, Philipp, 380, 384 Scheu, Gustav, 455
Schlesinger, Therese, 478, 480, 481 Schmidt, Friedrich von, 39 Schwarzwald, Eugenie, 101, 311, 312, 331, 431, 432, 453, 462–464, 491, 493, 502, 530 Seidel, Amalie, 455 Seipel, Ignaz, 414 Seitz, Karl, 377 Servaes, Franz, 495 Seydel, Karl Theodor, 55 Siemens, Werner von, 30, 49, 50 Simmel, Georg, 75 Skalweit, August, 222, 233 Sombart, Werner, 495 Stadthagen, Arthur, 106 Stinnes, Hugo, 381 Stockton, Gilchrist Baker, 450 Stonborough, Jerome, 457 Stonborough-Wittgenstein, Margaret, 457 Stresemann, Gustav, 416 Stürgkh, Karl Graf, 113 Szarvasy, Friedrich, 174 T Thieme, Karl, 227, 367 Thomas, Theodor, 228 Thomas, Wilbur, 437 Tietz, Oscar, 235 Tisza, István, 154 U Umbreit, Paul, 235 Unger, Richard, 227 W Wallot, Paul, 38 Walterskirchen, Gerta Gräfin, 312 Weiskirchner, Berta, 119, 255 Weiskirchner, Richard, 55, 103, 114, 117, 118, 122, 126, 147, 148, 160, 254, 280, 284, 286, 305, 317, 325, 326, 331, 332, 346, 369, 394 Wendorff, Hugo, 426, 427 Wermuth, Adolf, 56, 103, 107, 108, 141, 166, 172, 194, 195, 197–199, 202,
573
574
Kriegsküchen in Wien und Berlin
203, 205, 208, 212–214, 222, 230, 233, 241, 243, 245, 250, 346, 351, 363, 394, 396, 397, 399, 419, 420 Wex, Else, 122 Weyl, Hermann, 106, 197, 212, 226, 229, 396, 399, 400 Weyl, Klara, 438–441 Wiernik, Lucian, 236–239 Wilhelm ii., deutscher Kaiser und König von Preußen, 56, 349, 378 Wilson, Woodrow, 375, 378 Winter, Max, 442
Wolff, Theodor, 152, 198 Wolfring, Lydia von, 268 Wronsky, Siddy, 121, 417, 428 Wurm, Emanuel, 106, 146, 172, 423 Z Zahn-Harnack, Agnes, 185 Zepler, Wally, 481 Zietz, Luise, 109 Zita, Kaiserin von Österreich, 313, 320, 327 Zobeltitz, Martha von, 481 Zweig, Stefan, 27, 28, 62, 409, 410, 413
Geschichtswissenschaft Manuel Gogos
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