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German Pages [322] Year 2002
ANDREAS RESCH
Industriekartelle in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg
Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbeet Matis herausgegeben von Wolfram Fischer
Band 74
Industriekartelle in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg Marktstrukturen, Organisationstendenzen und Wirtschaftsentwicklung von 1900 bis 1913
Von Andreas Resch
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-10823-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @
Vorwort Das vorliegende Werk wurde nicht in der Absicht geschrieben, eine umfassende Darstellung der Österreichischen Wirtschaft vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg vorzulegen. Mit der Untersuchung der Industriekartelle von 1900 bis 1914 wird ein Teilaspekt herausgearbeitet, der für die wirtschaftliche Entwicklung charakteristisch war, in seinen konkreten Ausprägungen und Auswirkungen jedoch bisher weitgehend unerforscht blieb. Durch die Anwendung aktueller ökonomischer Analysemuster soll die historische Entwicklung von kartellierten Industrien und ihren Märkten verständlich gemacht werden und damit ein über diese hinausweisender Beitrag zur Österreichischen Wirtschaftsgeschichte geleistet werden. Der Studie liegen umfangreiche Vorarbeiten zugrunde, die ich ohne die Unterstützung zahlreicher Kolleginnen und Kollegen nicht hätte leisten können. Insbesondere danken möchte ich den beiden Ordinarien am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Wirtschaftsuniversität Wien, o. Univ.-Prof. Herbert Matis und o. Univ.-Prof. Alois Mosser. Zahlreiche Anregungen für die endgültige Gestaltung des Manuskripts verdanke ich meinen Institutskollegen und -kolleginnen. Stellvertretend für alle möchte ich insbesondere Dr. Ingo Andruchowitz, Prof. Karl Bachinger, Prof. Peter Berger und Dr. Charlotte Natmeßnig namentlich erwähnen, die Teile des Textes in verschiedenen Entstehungsstadien gelesen und kommentiert haben. Weiters bin ich Univ.-Prof. Alice Teichova (Cambridge) sowie Univ.Prof. Dieter Stiefel und Prof. Peter Eigner (beide Universität Wien) für ihr stetes Interesse an der Arbeit und ihre Diskussionsbereitschaft verbunden. Wichtige Anregungen für einzelne Abschnitte verdanke ich Prof. Mikulas Teich (Cambridge), Prof. Martin Pesendorfer (Yale University) und Dr. Max-Stephan Schulze (London School of Economics). Ich hatte in den vergangeneo Jahren die Gelegenheit, Vorüberlegungen zu dieser Arbeit bei internationalen wissenschaftlichen Tagungen in Wien, Budapest und London zu präsentieren. Ich möchte mich für die anregenden Diskussionen bei den Organisatoren und Teilnehmern dieser Veranstaltungen bedanken. Nicht zuletzt gilt mein Dank den Professoren Wolfram Fischer und Herbert Matis für die Aufnahme des vorliegenden Textes in die Reihe der "Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte".
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Vorwort
Selbstverständlich bin ich für im Text verbliebene Fehler und Irrtümer trotz der inspirierenden Diskussionsbereitschaft all der genannten Experten und Expertinnen selbst verantwortlich. Andreas Resch
Inhalt A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kartellgeschichte - Kartellforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. II. Geschichtswissenschaftlicher Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wirtschaftswissenschaftliche Grundlagen für eine historische Kartellstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Die traditionelle Typologie von Kartellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neoklassische Mikroökonomie und von der "vollkommenen Konkurrenz" abweichende Marktformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Transaktionskostenansatz und Theorie der Firma . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schumpeters Theorie von monopolistischer Marktmacht, Wettbewerbsprozeß und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Structure-Conduct-Performance-Approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Determinanten der Marktstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Conduct: Verhalten und Organisationsentwicklung im Zeitablauf . . a) Organisierter Kapitalismus und die historische Rolle der Finanzintermediäre bei der Entwicklung wettbewerbsbeschränkender Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mancur Olsons Logik des kollektiven Handeins . . . . . . . . . . . . . c) Spieltheoretische Analysemuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Stellenwert der ökonomischen Vorüberlegungen für die Strukturierung der wirtschaftsgeschichtlichen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Anmerkungen zur Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens unter den zeitgenössischen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Entwicklungstendenzen und Ausbildung des KartellI. wesens bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Österreichische Kartellrecht vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . 2. Juristische Diskussionen und Gesetzesinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 18 20 21 23 28 32 35 36 47
49 52 57 64 67 70
72 72 80 81 84
3. Das Zolltarifgesetz 1906 und der Ausgleich 1907 ............... 100
C. Ausgewählte Fallstudien ........... ... ...... .... ........ .. . ... ...... 105 Typologischer Überblick .. .. . .. . .. . . .. . . . .. . .. . . . . .. . .. . . .. . . . . . 105 I. li. Die Eisen- und Stahlerzeugung- eine Industrie, die eine starke Marktmacht zu organisieren vermochte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Inhalt
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Homogene Massenmärkte, die nur schwache Kartellorganisationen hervorbrachten ...................... ...................... ..... 1. Baumwollindustrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Papierindustrie ...................... ...................... .. IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle ................ I. Brauindustrie ...... . ...................... . . ................ 2. Zuckerindustrie ...................... ...................... . V. Organisation bei massiver Staatsintervention ...................... . 1. Mineralölindustrie ...................... ..................... 2. Zündhölzchenindustrie ............ .... . . ... ... ............... VI. Karteliierung als vorübergehendes Stadium im Konzentrationsprozeß: Die Maschinenbauindustrie ...................... ................ VII. Radikale Konzentration nach Phasen scharfer Konkurrenz und mäßiger Gewinne als Voraussetzung für Karteliierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bugholzmöbelindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leim ...................... ...................... ........... VIII. Technische Eintrittsbarrieren (Patente, Know-how) als kennzeichnendes Strukturmerkmal ........ . ... .. ...................... ........ 1. Owens-Patent - Glasflaschenindustrie ...................... .... 2. Glühlampen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III.
D. Resümee .................. .. ............. . ...................... ... Karteliierung und Typen der Kartellentwicklung in Österreich bis I. 1914 Konjunkturschwankungen, Krisenbewältigung und Karteliierung . . . . . II. III. Wohlfahrts- und Verteilungswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0
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Quellen- und Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Personen- und Firmenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Verzeichnis der Tabellen und Diagramme Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Auszahlungsmatrix für ein Wettbewerbsspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Tabelle 2: Auszahlungsmatrix für das Gefangenendilemma . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Tabelle 3: Anzahl der Kartellgründungen in den Jahren 1878 bis 1909 . . . . . . 76 Tabelle 4: Anzahl und Typen von Industriekartellen im Jahr 1909 . . . . . . . . . . 77 Tabelle 5: Geschätzte Anzahl von Industriekartellen in Österreich im Jahr 1912 . ............ . . . .. . . ..... . ......... ... . .......... . . . . . 78 Tabelle 6: Index der Österreichischen Verbraucherpreise 1900 bis 1914 . . . . . . 91 Tabelle 7: Charakteristische Marktstrukturen und Organisationsformen von Kartellen in wichtigen Österreichischen Industrien vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Tabelle 8: Die vier größten Aktiengesellschaften in der Eisenindustrie im Jahr 1912 (gemessen an der Bilanzsumme) .............. . .. .... 109 Tabelle 9: Unternehmensdaten der Aktiengesellschaften in der Eisenindustrie von 1907 bis 1912 ... . .. . ........ .. ......... . ....... . ....... 122 Tabelle 10: Roheisenproduktion, Anzahl der Arbeiter, Preisentwicklung und Hochofenstatistik von 1900 bis 1912 ...... . ................... 123 Tabelle 11: Lieferungen der Österreichischen Kartellwerke an Gießereiroheisen im Inland 1903 bis 1911 . . .. ... . ....... . . . . ...... . ... ...... .. 127 Tabelle 12: Stabeisen- und Trägerverkauf der kartellierten Eisenwerke im Inland 1903 bis 1911 .. . . .................. . ................... 128 Tabelle 13: Die vier größten Aktiengesellschaften in der Textilindustrie im Jahr 1912 (gemessen an der Bilanzsumme) . . ................... 135 Tabelle 14: Unternehmensdaten der Österreichischen Baumwollspinnerei-Aktiengesellschaften von 1907 bis 1912 ..... ... .. . . . ....... . ... . . 139 Tabelle 15: Unternehmensdaten der Österreichischen Aktiengesellschaften, die Baumwollwebereien und zum Teil auch -Spinnereien betreiben 1907 bis 1912.. . . . .............. . .. . ............... . .. ..... . 139 Tabelle 16: Vom Verein der Baumwollspinner gesammelte Daten für die Jahre 1902 bis 1913 ... . .......... . ...... ... .................. .... 140 Tabelle 17: Die vier größten Aktiengesellschaften in der Papierindustrie im Jahr 1912 (gemessen an der Bilanzsumme) ..... .. ............ . . 143 Tabelle 18: Daten zur performance der Österreichischen Aktiengesellschaften in der Papierindustrie 1907 bis 1912 ... .. .. ... ............ . ... 148
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Verzeichnis der Tabellen und Diagramme
Tabelle 19: Die Produktion von Papier und Pappe in den Jahren 1905 bis 1912 .................................................... . . 149 Tabelle 20: Die vier größten Brauaktiengesellschaften in Österreich im Jahr 1912 (gemäß der Bilanzsumme) .............................. 152 Tabelle 21: Unternehmensdaten der Österreichischen Brauindustrieaktiengesellschaften 1907 bis 1912 ...................................... 156 Tabelle 22: Gesamtanzahl der Brauereien, Produktionsmengen, Arbeiterzahlen und Produktion pro Arbeiter in der Österreichischen Brauindustrie von 1904/05 bis 1911/12 .................................... 158 Tabelle 23: Die vier größten Aktiengesellschaften in der Österreichischen Zukkerindustrie im Jahr 1912 .................................... 161 Tabelle 24: Unternehmensdaten der Österreichischen Zuckerindustrieaktiengesellschaften 1907 bis 1912 ........... . . . .................. . .. 172 Tabelle 25: Erzeugungsstätten, Produktivitäts- und Preisentwicklung in der Österreichischen Zuckerindustrie von 1903/04 bis 1912113 ....... 173 Tabelle 26: Die vier größten Aktiengesellschaften in der Österreichischen Mineralölindustrie im Jahr 1912 (gemessen an der Bilanzsumme) ... 179 Tabelle 27: Unternehmensdaten der Aktiengesellschaften in der Mineralölindustrie 1907 bis 1912 ... . ...................................... 195 Tabelle 28: Entwicklung der Fördermengen und Preise von Rohöl 1902 bis 1912 . . . ...... ............ .. ............ . ........... . ...... 196 Tabelle 29: Die zwei Österreichischen Zündhölzchen-Aktiengesellschaften im Jahr 1912 ..................... . .................... . ....... 203 Tabelle 30: Unternehmensdaten der Aktiengesellschaften in der Österreichischen Zündhölzchenindustrie 1907 bis 1912 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Tabelle 31: Die größten Maschinenbau-Aktiengesellschaften 1912 (nach der Bilanzsumme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Tabelle 32: Die großen Mitgliedsfirmen des Maschinenbaukartells von 1907 .. 219 Tabelle 33: Unternehmensdaten der Österreichischen Maschinenbau-Aktiengesellschaften 1907 bis 1912 ......... . . . .... . .......... . . . . . .. . 228 Tabelle 34: Österreichische Maschinenbauindustrie 1900 bis 1913 - Bruttoproduktion zu Preisen von 1913, reales Wachstum, Bruttoproduktion zu laufenden Preisen und Maschinenpreisindex (1913 = 100) ..... 229 Tabelle 35: Die zwei Österreichischen Bugholzmöbel-Aktiengesellschaften im Jahr 1912 ........................ . . . .... . . ...... . ... . .. . .. . 235 Tabelle 36: Unternehmensdaten der beiden Bugholzmöbel-Aktiengesellschaften in den Jahren 1907 bis 1912 ....................... . . . .... 240 Tabelle 37: Bilanzdaten der AG für chemische Industrie, Wien (gegr. 1903) .. 246 Tabelle 38: Europäischer Verband der Aasehenfabriken GmbH in DüsseldorfMitglieder und Kontingente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Tabelle 39: Strukturmerkmale ausgewählter österreichischer Märkte für Industriegüter im Jahr 1912 .......... . . . . .. . .. . ... ... ... .. ... . . 273 Tabelle 40: Daten zurperformance ausgewählter Industrien im Jahr 1912 . . . . 274
Verzeichnis der Tabellen und Diagramme
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Verzeichnis der Diagramme Diagramm 1: Marktgleichgewicht bei vollkommener Konkurrenz und Monopolsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramm 2: Steigerung der Österreichischen Verbraucherpreise in den Jahren 1900 bis 1914 (in Prozent gegenüber dem Vmjahr) . . . . . . . . . . . . Diagramm 3: Gießereiroheisen - Wiener Großhandelspreise und deutsche Importware 1900 bis 1913 ........... .. .. ................ .. . . . Diagramm 4: Stabeisen - Wiener Großhandelspreise und deutsche "Paritäten" 1900 bis 1911 .. .. ................ . .................. . ... . Diagramm 5: Träger - Wiener Großhandelspreise und deutsche "Paritäten" 1900 bis 1911 . . . . ............... . . . ................ .... . . Diagramm 6: Gießereiroheisen - nominale und reale Preise 1900 bis 1913 (Wiener Großhandelspreise) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramm 7: Stabeisen- nominale und reale Preise 1900 bis 1911 ...... .. .. Diagramm 8: Träger - nominale und reale Preise 1900 bis 1911 ............ Diagramm 9: Erdölförderung 1902 bis 1912 in lOOOq ............... .. ....
26 92 124 125 126 127 128 129 197
A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen I. Kartellgeschichte - Kartellforschung Adam Smith stellte bereits im späten 18. Jahrhundert fest, daß Gewerbsleute, stets wenn sie aufeinander treffen, über die gemeinsame vorteilhafte Gestaltung von Preisen zu sprechen pflegen und daß ihnen ein Hang zu Monopolen zu eigen sei. 1 Die Anreize, die Bildung von Preisen beeinflussen zu wollen, haben sich, seitdem der schottische Ökonom und Moralphilosoph diese Beobachtung niedergeschrieben hat, noch wesentlich ausgeweitet. Dazu trugen die Entwicklung der industriellen Massenproduktion und die Anfänge der modernen Konsumgesellschaft2 im 19. Jahrhundert bei, die eine Zunahme des Gesamtvolumens der Markttransaktionen um ein Vielfaches mit sich gebracht haben. Damit vergrößerte sich auch das Potential, Extraprofite durch eine Einflußnahme auf die Marktpreisbildung zu erzielen, in einem analogen Ausmaß. Somit vermag es nicht zu überraschen, daß die Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert, die von der letzten dynamischen Wachstums- und Industrialisierungswelle der europäischen Ökonomien vor dem Ersten Weltkrieg geprägt war, auch als Entstehungsphase des modernen Kartellwesens zu erachten ist. 3 Diese Periode war von wirtschaftlichen Konzentrationsprozessen und damit im Zusammenhang von der Ausbildung von Kartellen und Konzernen gekennzeichnet. Daher bilden die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg eine besonders interessante Zeitspanne für die historische Kartellforschung. 1 Vgl. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, Oxford, New York 1993 (erstmals veröffentlicht 1776), Introduction von Kathryn Sutherland und Book I, Chapter VII, Of the natural and market Price of Commodities und Book IV, Of the Principle of the commercial, or mercantile System. 2 Vgl. Roman Sandgruber, Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, 15), Wien 1982. 3 Zur langfristigen Entwicklung der Kartelle und ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung siehe etwa: Harm G. Schröter, Cartelization and Decartelization in Europe, 1870-1995: Rise and Decline of an Economic Institution, in: The Journal of European Economic History, 25 (1996), 129-153; derselbe, Karteliierung und Dekartellierung 1890-1990, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 81 (1994), 457-493.
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A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
Neben dem Wilhelminischen Deutschland gilt die späte Habsburgermonarchie als Paradebeispiel für hochgradig kartellierte Ökonomien.4 Ab dem späten 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche Kartelle, die auf einen immer größeren Teil der Gesamtwirtschaft Einfluß zu erlangen trachteten. Zahlreiche zeitgenössische Autoren (insbesondere Ökonomen und Juristen) wurden von dieser Entwicklung angeregt, Studien über Kartelle anzustellen. So stammt das erste systematische wirtschaftswissenschaftliche Buch über die moderne Kartellbewegung von einem Österreichischen Autor, nämlich von Friedrich Kleinwächter, der im Jahr 1883 sein Werk "Die Kartelle"5 veröffentlichte. Ab der Jahrhundertwende folgte eine Fülle weiterer Publikationen. Nicht zuletzt maß auch Rudolf Hilferding in seinem bekannten Werk "Das Finanzkapital"6 dem Phänomen der Karteliierung eine signifikante Bedeutung für die moderne Wirtschaftsentwicklung seiner Zeit zu. Weitere bekannte Monographien verfaßten Josef Gruntzel7 , Markus Ettinger8 und Max Freiherr von Allmayer-Beck9 . In Deutschland traten insbesondere Autoren wie Robert Liefmann und Siegfried Tschierschky hervor.10 4 Vgl. z.B.: Hans-Heinrich Bamikel, Kartelle in Deutschland. Entwicklung, theoretische Ansätze und rechtliche Regelungen, in: Hans-Heinrich Barnikel (Hrsg.), Theorie und Praxis der Kartelle (Wege der Forschung, CLXXIV), Darmstadt 1972, 16. 5 Friedrich Kleinwächter, Die Kartelle. Ein Beitrag zur Frage der Organisation der Volkswirtschaft, Innsbruck 1883. 6 Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital (erstmals publiziert 1910), Frankfurt am Main, Köln 1974. 7 Josef Grun(t )zel, Über Kartelle, Leipzig 1902. 8 Markus Ettinger, Die Regelung des Wettbewerbes im modernen Wirtschaftssystem, I. Teil, Die Kartelle in Österreich, Wien 1905. 9 Max Freiherr von Allmayer-Beck, Materialien zum Österreichischen Kartellwesen, Wien 1910. 10 Robert Liefmann, Schutzzoll und Kartelle, Jena 1903; derselbe, Kartelle, Konzerne, Trusts, zahlreiche Auflagen, z.B. 8. Auflage, Stuttgart 1930; Richard Passow, Kartelle (Beiträge zur Lehre von den Unternehmungen, 13), Jena 1930; Siegfried Tschierschky, Kartell und Trust, Göttingen 1903; derselbe, Kartell-Organisation (Bücherei der praktischen Betriebsführung, 2), Berlin 1928; derselbe, Kartellpolitik. Eine analytische Untersuchung, Berlin 1930; Tschierschky fungierte auch als Herausgeber der seit 1903 erscheinenden Kartell-Rundschau; Horst Wagenführ, Kartelle in Deutschland, Nürnberg 1931; Paul Th. Fischer, Horst Wagenführ, Kartelle in Europa (ohne Deutschland), Nürnberg 1929; Kurt Wiedenfeld, Kartelle und Konzerne. Bericht für den Vorbereitungs-Ausschuß der Weltwirtschafts-Konferenz, mit Anhang: Gegenwartsfragen industrieller Organisation (Moderne Wirtschaftsgestaltungen, Heft 10), Berlin, Leipzig 1927. Zu einer Periodisierung der (deutschen) Kartellforschung bis 1930 siehe Hans Merten, Die Perioden der Kartellforschung in Deutschland, Dissertation, Kiel 1933 und Amold Wolfers, Das Kartellproblem im Lichte der deutschen Kartelliteratur (Schriften der Vereins für Sozialpolitik, 180. Band, zweiter Teil), München, Leipzig 1931.
I. Kartellgeschichte - Kartellforschung
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Die in Deutschland vorherrschende Historische Schule der Nationalökonomie stand den Kartellen tendenziell positiv gegenüber, weil man sie als Ordnung schaffenden Faktor im anarchischen Marktgeschehen erachtete. So formulierte zum Beispiel Gustav von Schmoller im Jahr 1905: "Ich habe seit langem betont, daß die wirtschaftliche Freiheit nur an bestimmten Stellen Segen bringe, daß nur die maßvolle, da und dort mannigfach regulierte Konkurrenz anregend wirke, neue Kräfte entbinde und die vorhandenen steigere, daß eine überspannte Konkurrenz vielfach lähme, zerstöre und wirtschaftliche Vergeudung bedeute." 11 Vor allem Liefmann und Tschierschky blieben Propagandisten der Meinung, daß Kartelle gegen die destruktiven Auswüchse unkontrollierter Konkurrenzwirtschaft notwendige Bestandteile einer Wirtschaftsordnung seien. Zwar machte sich angesichts der Erfahrungen mit Kartellen vor dem Ersten Weltkrieg unter deutschen Nationalökonomen bereits eine gewisse Ernüchterung breit, 12 doch bestimmte unter den "Experten" weiterhin die positive Einschätzung der Kartelle den Diskurs. 13 In Österreich brachen, nachdem in der Zwischenkriegszeit noch einige Werke erschienen, 14 die einschlägigen Forschungsaktivitäten zur Kartellgeschichte weitgehend ab. 15 Dies, obwohl auch in neueren Publikationen zur 11 Gustav von Schmoller, Das Verhältnis der Kartelle zum Staate, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik 116 (1906), 249, zitiert nach David F. Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750--1914, Wien, Köln, Graz 1986, 204. 12 Vgl. Klaus Herrmann, Die Haltung der Nationalökonomie zu den Kartellen bis 1914, in: Hans Pohl, Kartelle und Kartellgesetzgebung in Praxis und Rechtsprechung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Nassauer Gespräche der Freiherrvom-Stein-Gesellschaft, 1), Wiesbaden 1985, 42-48. 13 Vgl. Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches, 203 ff. 14 Z.B.: Hans Bayer, Strukturwandlungen der Österreichischen Wirtschaft nach dem Kriege (Wiener staatswissenschaftliche Studien, NF 14), Wien 1927; Josef Gruntzel, Die wirtschaftliche Konzentration, Wien 1928; derselbe, Konkurrenz und Monopol, Turin 1929; Josef Dobretsberger, Konkurrenz und Monopol in der gegenwärtigen Wirtschaft mit besonderer Berücksichtigung der Österreichischen Industrie (Wiener staats-und rechtswissenschaftliche Studien, NF 12), Leipzig, Wien 1929. 15 Mit Ausnahme der Studie von Jurij Kfii ek, Beitrag zur Geschichte der Entstehung und des Einflusses des Finanzkapitals in der Habsburger Monarchie in den Jahren 1900--1914, in: Die Frage des Finanzkapitals in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1900--1918. Mitteilungen auf der Konferenz der Geschichtswissenschaftler, Budapest, 4.-9. Mai 1964, Hukarest 1965, 5-51 und Tabellenanhang. Weiters wurde 1969 in Graz eine einschlägige Dissertation approbiert, die jedoch im wesentlichen nur eine Zusammenfassung der alten Literatur bietet: Gerhard Erlacher, Kartelle in Österreich in der Zeit zwischen 1848-1938, Dissertation, Graz 1969. Allerdings wurde in zahlreichen breiteren wirtschaftshistorischen Studien dem Kartellwesen doch einige Aufmerksamkeit zuteil, etwa in: Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches; Eduard März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs 1., Wien, Frankfurt, Zürich 1968; derselbe,
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A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
Österreichischen Wirtschaftsgeschichte immer wieder auf die Bedeutung der Kartelle für die ökonomische Struktur und Entwicklung hingewiesen wird. Insbesondere David F. Good hebt hervor, daß Geschichtswissenschaftler noch kaum zur Österreichischen Kartellbewegung gearbeitet haben, obwohl "die meisten Wirtschaftshistoriker der wirtschaftlichen und politischen Macht, die diese Kartelle ... ausübten, großes Augenmerk schenken." 16 Auch in den Arbeiten von Ivan T. Berend und György Ranki, Herbert Matis, Roman Sandgrober u. a. finden sich Hinweise auf dieses Desiderat der Österreichischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung.17 Auf internationaler Ebene hat die Kartellgeschichtsforschung seit den 1970er Jahren wieder erheblich an Dynamik gewonnen. Wichtige Impulse dafür gingen von der Studie von Alice Teichova über den Einfluß von nationalen und internationalen Kartellen, Konzernen und Investoren auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Tschechoslowakei bis zu ihrer Zerschlagung durch das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 aus. 18 Der Autorin gelingt es, durch die Rekonstruktion gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen verbunden mit beispielhaften Fallstudien über einzelne Konzerne, Kartelle und Branchen ein dichtes Bild von den untersuchten Vorgängen zu zeigen. Seit dem Erscheinen des Werkes im Jahr 1974 haben sich lebhafte internationale Aktivitäten zur Kartellforschung etabliert, deren Ergebnisse in zahlreichen Sammelbänden dokumentiert sind. Auch aus dem Bereich der deutschen unternehmensgeschichtlichen Forschung wurden vielfältige Arbeiten zur Kartellgeschichte publiziert. 19 Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913-1923. Am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe, Wien 1981 ; Peter Eigner, Die Konzentration der Entscheidungsmacht Die personellen Verflechtungen zwischen den Wiener Großbanken und Industrieaktiengesellschaften, 1895-1940, Dissertation, Wien 1997; Birgit Leuchtenmüller, Die Investitions- und Industriepolitik der Österreichischen Großbanken bis zum Jahre 1914, Dissertation, Wien 1973. 16 Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches, 189 f. 17 Vgl. etwa Iwin T. Berend, György Ranki, Ungarns wirtschaftliche Entwicklung 1849-1918, in: Alois Brusatti (Hrsg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, 1), Wien 1973, 516 ff.; Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs 1., Berlin 1972, 367 ff.; Herbert Matis, Karl Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in: Brusatti (Hrsg.), Die wirtschaftliche Entwicklung, 134 ff.; Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte, hrsg. von Herwig Wolfram (10)), Wien 1995, 292 ff. 18 Alice Teichova, An Economic Background to Munich. International Business and Czechoslovakia 1918-1938, Cambridge 1974. Als ein Beispiel für zahlreiche weitere einschlägige Werke der Autorin sei noch genannt: dieselbe, Internationale Großunternehmen. Kartelle und das Versailler Staatensystem in Mitteleuropa (Institut für Europäische Geschichte Mainz, Vorträge, Nr. 82), Stuttgart 1988.
I. Kartellgeschichte - Kartellforschung
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Häufig behandelte Themenbereiche und Fragestellungen sind allgemeine (teilweise vergleichende) Überblicke über die Kartellbewegung, 20 sowie die Organisationsmacht von Kartellen, ihr Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung,21 und, ausgehend von der Sichtweise der Kartelle "als Kinder der Not'.zz, ihre Eignung als Institution zur Krisenbewältigung?3 Weiters liegen Arbeiten zum Entstehen der Kartelle im Zusammenhang mit der Ausbreitung der modernen industriellen Großunternehmen vor, 24 und insbesondere 19 Vgl. z.B.: Alice Teichova, Maurice Uvy-Leboyer, Helga Nussbaum (Hrsg.), Multinational Enterprise in Historical Perspective, Cambridge u. a. 1986; Kudo Akira, Terushi Hara (Hrsg.), International Cartels in Business History (The International Conference on Business History, 18), Tokyo 1992; Dominique Barjot (Hrsg.), International Cartels Revisited/Vues Nouvelles Sur Les Cartels Internationaux (1880-1980), Caen 1994; Hans Pohl (Hrsg.), Kartelle und Kartellgesetzgebung in Praxis und Rechtsprechung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, 1), Stuttgart 1985; derselbe (Hrsg.), Wettbewerbsbeschränkungen auf internationalen Märkten (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 46), Stuttgart 1988; derselbe (Hrsg.), The concentration process in the entrepreneural economy since the late l91h century (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 55), Wiesbaden 1988; Hans Pohl, Wilhelm Treue (Hrsg.), Die Konzentration der deutschen Wirtschaft seit dem 19. Jahrhundert (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft II), Wiesbaden 1978; Geoffrey Iones (Hrsg.), Coalitions and Collaboration in International Business, Aldershot 1993. 20 Neben den bereits genannten Arbeiten von Schröter etwa Franz Mathis, Kartelle, Fusionen und multinationale Unternehmen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, den USA und den wichtigsten Staaten der übrigen Welt bis 1914, in: H. Pohl, Wettbewerbsbeschränkungen auf internationalen Märkten, 79-96; Ulrich Wengenroth, Die Entwicklung der Kartellbewegung bis 1914, in: H. Pohl, Kartelle und Kartellgesetzgebung, 15-27; Hans Pohl, Die Konzentration in der deutschen Wirtschaft vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1945, in: Pohl, Treue, Die Konzentration in der deutschen Wirtschaft, 4-44. 21 Rainer Fremdling, Jochen Krengel, Kartelle und ihre volks- bzw. einzelwirtschaftliche Bedeutung bis 1914, in: H. Poh1, Kartelle und Kartellgesetzgebung, 28-41. 22 Diese zieht sich seit Kleinwächter 1883 durch die einschlägige Literatur. 23 Ulrich Wengenroth, Krisen in der deutschen Stahlindustrie im Kaiserreich und in der Zwischenkriegszeit, in: Friedrich-Wilhelm Henning (Hrsg.), Krisen und Krisenbewältigung vom 19. Jahrhundert bis heute, Frankfurt am Main u.a. 1998, 4969; Harm G. Schröter, Kartelle als Versuch der Krisenbewältigung, in: Henning, Krisen und Krisenbewältigung, 161-187. 24 Vgl. etwa Alfred D. Chandler, Jr., Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge, Mass., London 1994; Alice Teichova, A Legacy of FinDe-Siede Capitalism: The Giant Company, in: MikuhiS Teich, Roy Porter (Hrsg.), Fin de Sieeie and its Legacy, Cambridge 1993, 10-27; Ulrich Wengenroth, Germany: Competition abroad - cooperation at home, in: Alfred D. Chandler, Jr., Franeo Amatori, Takashi Hikino, Big Business and the wealth of nations, Cambridge 1997, 139-175; Hannes Siegrist, Deutsche Großunternehmen vom späten 19. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik. Integration, Diversifikation und Organisation bei den hundert größten deutschen Industrieunternehmen (1887- 1927) in
2 Resch
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A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
die Kartellierung im zwanzigsten Jahrhundert wurde auch unter dem Gesichtspunkt der Verflechtung von internationalen wirtschaftlichen Beziehungen und (Wirtschafts-)Diplomatie gesehen. 25 Österreich - obgleich ein Paradebeispiel für frühe Kartellentwicklungen blieb von all diesen Forschungsbemühungen bisher jedoch weitgehend ausgespart. Diese Lücke soll mit der vorliegenden Arbeit geschlossen werden.
II. Geschichtswissenschaftlieber Zugang Wirtschaftsgeschichte ist per Definition eine interdisziplinäre Wissenschaft. Sie ist zum einen den Traditionen der Geisteswissenschaften bzw. der Hermeneutik verpflichtet, zum anderen inkorporiert sie Methoden der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Wirtschaftsgeschichte als Geschichts- und Sozialwissenschaft stellt sich als pragmatische Anwendung eines Methodendualismus verstehender und erklärender Zugangsweisen dar. 26 Einige Überlegungen dazu seien hier in knapper Form skizziert. Beide Zugänge weisen spezifische Qualitäten auf. Hermeneutische Wissenschaft versucht Äußerungen menschlichen Handeins in ihrem Kontext zu verstehen. Eine derartige holistische Zugangsweise vermeidet eine Verengung des Blickes durch allzu einschränkende Vorannahmen und ist offen für eine assoziative Weiterentwicklung der Erkenntnisse und auch der Fragestellungen. Damit vermag eine hermeneutische Deutung von geschichtlichem Handeln einem Verständnis von Geschichte als einem komplexen, offenen Entwicklungsprozeß gerecht zu werden.
international vergleichender Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft, 6 (1980), 60-102. 25 Dieser Gesichtspunkt wurde schwerpunktmäßig insbesondere bei Arbeiten zur Zwischenkriegszeit hervorgehoben. Als kleine Auswahl der einschlägigen Arbeiten sei genannt: Clemens A. Wunn (Hrsg.), Internationale Kartelle und Außenpolitik. International Cartels and Foreign Policy (Veröffentlichungen des Institutes für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 23), Stuttgart 1989; derselbe (Hrsg.), Industrielle Interessenpolitik und Staat. Internationale Kartelle in der britischen Außen- und Wirtschaftspolitik während der Zwischenkriegszeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 71 ; Beiträge zu Inflation und Wiederaufbau in Deutschland und Europa 1914--1924, Bd. 10), Berlin, New York 1988. Als aktuellen Überblick siehe: Dominique Barjot, Un nouveau champ pionnier pour Ia recherche historique: Les cartels internationaux (18801970), in: Revue d' Allemagne et des Pays de Iangue allemande, 30 (1998), 3-32. 26 Als instruktive Überblicksdarstellungen dazu vergleiche zum Beispiel Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einftihrung in die Geschichtstheorie, Köln, Weimar, Wien 1997 und Herta Nagl-Docekal, Die Objektivität in der Geschichtswissenschaft. Systematische Untersuchungen zum wissenschaftlichen Status der Historie (Überlieferung und Aufgabe, XXII), Wien, München 1982.
II. Geschichtswissenschaftlicher Zugang
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Die Sozialwissenschaften werden gängiger Konvention gemäß eher den positivistischen und theoriegeleiteten Wissenschaften zugerechnet, die Fakten in Kausalzusammenhängen analysieren. Ein derartiger Zugang erlaubt eine eindeutigere Darlegung der jeweils zugrundegelegten Theorie, der Auswahlkriterien für die Fakten, die in die Analyse einbezogen werden, und der Verknüpfungs- und Analyseregeln, die zu den Ergebnissen führen. Dadurch sollen intersubjektive Überprüfbarkeit und "Objektivität" der Ergebnisse gewährleistet werden. Gegen beide Vorgangsweisen lassen sich aber aus der Sicht der jeweils anderen grundlegende Vorbehalte formulieren. Heuristisches Verstehen ist im "hermeneutischen Zirkel" befangen, das heißt in den Erkenntnismöglichkeiten, die im verstehenden Subjekt von vornherein angelegt sind. Aus der Position der Natur- und Sozialwissenschaften werden den verstehenden Wissenschaften irrationaler Dezisionismus, Willkür und Unverbindlichkeit vorgeworfen. Am Beispiel der älteren deutschen Geschichtswissenschaft wurden gemäß dieser Logik insbesondere auch ideologiekritische Vorbehalte formuliert. 27 Geschichtswissenschaft als theoriegeleitete Sozialwissenschaft verstanden läuft hingegen Gefahr, sich des Potentials einer grundsätzlich offenen Erkenntnisweise hermeneutischer Wissenschaft zu berauben. Starre theoretische Vorannahmen bestimmen, was als "Daten" bzw. "Fakten" in die Analyse einbezogen wird und limitieren daher die möglichen Erkenntnisse auf die Aspekte, die in den theoretischen Vorannahmen angelegt sind. Dafür können Wahrnehmungs- und Analysemuster klar und intersubjektiv nachvollziehbar offengelegt werden. Aber auch aus den "objektiven" Wissenschaften ist das erkenntnissuchende Subjekt selbst nicht gänzlich zu eliminieren, weil ja die erkenntnisleitende Fragestellung nicht logisch aus den Erkenntnisobjekten ableitbar ist, sondern an sie herangetragen wird. Nicht zuletzt verwies Joseph A. Schumpeter darauf, daß auch theoriegeleitete Wissenschaft stets von der ihr zugrundeliegenden "Vision" gefärbt sei. 28 In der Wirtschaftsgeschichte ist es als pragmatischer Ausweg gängige Praxis, Theorien und modellhafte Vorannahmen als heuristische Werkzeuge nutzbar zu machen.29 Derartige Konzeptionen spiegeln sich zum Beispiel in Max Webers Zugangsweise im Wege von "Idealtypen" sowie in der Verwendung von Theorien "mittlerer Reichweite" wider. Auch Schumpeters 27 Vgl. z. B. Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschiehtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien, Köln, Weimar 1997. 28 Joseph A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse (Grundriß der Sozialwissenschaft, 611) Göttingen 1965, 79. Siehe dazu Robert Heilbronner, Hatte Schumpeter doch recht?, in: Herbert Matis, Dieter Stiefel (Hrsg.), Ist der Kapitalismus noch zu retten?, Wien 1993, 39-52. 2*
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A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
Ansatz einer Sozialökonomik30, bei der Geschichte, (ökonomische) Theorie, Statistik und Soziologie eng verwoben sind, weist in diese Richtung. 31 In diesem Sinne seien im nächsten Abschnitt einige grundlegende Muster für die Analyse von Kartellen, die von den Wirtschaftswissenschaften entwikkelt wurden, skizziert.
111. Wirtschaftswissenschaftliche Grundlagen für eine historische Kartellstudie Die Wirtschaftswissenschaften wenden den Kartellen große Aufmerksamkeit zu. Sowohl in der zeitgenössischen als auch in der rezenten Literatur finden sich äußerst unterschiedliche Einschätzungen der Wirkungen von Kartellen. Diese reichen von der Verurteilung der Kartelle als monopolistische Organisationen, die sich Extraprofite auf Kosten der Gesamtwirtschaft aneignen wollen und innovative neue Unternehmen behindern bis zur Argumentation, daß Kartelle dem Fortschritt dienen, Kosten senken, Konjunkturschwankungen dämpfen und Arbeitsverhältnisse verstetigen. Eine gängige Definition des Begriffs "Kartell" lautet wie folgt: Kartelle sind "vertragliche Vereinbarungen zwischen rechtlich selbständig bleibenden Unternehmern, die dem Ziel dienen und/oder die Wirkung haben, den Wettbewerb auf den jeweils relevanten Märkten durch Beschränkung der Handlungsfreiheit der Beteiligten zu verringern und dadurch ihre Ertragslage zu verbessern"? 2 In der hier vorliegenden Arbeit wird ein etwas weiterer Kartellbegriff verwendet, der dem Terminus collusion in der englischsprachigen Literatur entspricht. Während obige, engere Kartell-Definition nur den Spezialfall der Kooperation auf der Basis einer formell-vertraglichen Vereinbarung zwischen selbständigen Unternehmen zur Wettbewerbsreduktion meint, können Kollusionen auch stillschweigende Abstimmungen des Verhaltens oder gentlemen's agreements sein. Es können somit sämtliche Formen der Kooperation von Firmen darunter subsumiert werden, die dem Zweck dienen, den Wettbewerb zu beschränken und gemeinsam die Ertragslage zu verbessern. Je nach Definition kann man auch durch Kapitalbeteiligungen verknüpfte 29 Jürgen Kocka, Karl Marx und Max Weber im Vergleich, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Geschichte und Ökonomie. 2., durchgesehene Auflage, Königstein, Ts. 1985, 54-84. 30 Diesen Terminus hat er seinerseits von Max Weber entlehnt. 31 Vgl. dazu Richard Swedberg, Kann der Kapitalismus weiterleben?, in: Herbert Matis, Dieter Stiefel (Hrsg.), Ist der Kapitalismus noch zu retten?, Wien 1993, 5388; Richard Swedberg, Schumpeter- A Biography, Princeton 1991. 32 Egon Tuchfeldt, Kartelle, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Vierter Band, Stuttgart u. a. 1978, 447.
III. Wirtschaftswissenschaftliche Grundlagen
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Strukturen (Konzerne, Trusts, etc.) zu den Kollusionen rechnen, also jedenfalls Formen, die in der Intensität der Verflechtung über einen Vertragsabschluß unter selbständigen Firmen hinausgehen. In zeitgenössischen Darstellungen und in der wissenschaftlichen Literatur werden diese Begriffe zumeist nicht säuberlich getrennt. Und es wird in der Tat nicht sinnvoll sein, ein Kartellforschungsprojekt nur auf die zuerst vorgestellte, am engsten definierte Form von Kartellen zu beschränken. Das heißt aber, daß bei der empirischen Forschung stets die konkreten strukturellen Ausprägungsformen mit darzustellen und zu berücksichtigen sind. 1. Die traditionelle Typologie von Kartellen
Gleichzeitig mit dem Aufkommen des modernen Kartellwesens um 1900 schufen zeitgenössische Autoren eine Typologie von Kartellorganisationen?3 Als Einteilungskriterien wurden zwei Kategorien von Unterscheidungsmerkmalen herangezogen: zum einen die Aktionsparameter der Mitgliedsfirmen, die vertraglich geregelt werden, zum anderen der Grad, in dem die Durchführung der Markttransaktionen der Mitgliedsfirmen im Rahmen der Kartellorganisation zentralisiert ist. Gemäß der ersten Kategorie von Eigenschaften der Kartelle können Konditionenkartelle, Preiskartelle, Marktaufteilungskartelle und Mengenkartelle unterschieden werden. Konditionenkartelle regeln die Geschäftsbedingungen wie Zahlungsziele, Lieferungsbedingungen etc. Sie sind auch bei sehr heterogenen Gütern der Anbieter möglich. Preiskartelle geben den Mitgliedsfirmen gemeinsame Verkaufspreise vor. Diese können genau definiert sein, in vielen Fällen sind jedoch nur Mindestpreise vorgeschrieben, die nicht unterschritten werden dürfen. Unter die Marktaufteilungskartelle fallt die räumliche Regelung von Absatzmärkten (Rayonierungskartelle), die Festschreibung von Beziehungen zu bestimmten Kunden (Kundenschutzkartelle) sowie die Aufteilung des Marktes in spezifische Untergruppen der Waren (Spezialisierungskartelle). 33 Siehe zu den folgenden Ausführungen Max Freiherr von Allmayer-Beck, Materialien zum Österreichischen Kartellwesen, Wien 1910, 10 ff.; Josef Grun(t)zel, Über Kartelle, Leipzig 1902, 36 ff.; Robert Liefmann, Kartelle, Konzerne und Trusts, 8. Auflage, Stuttgart 1930, 39 ff.; Egon Tuchfeldt, Kartelle, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Vierter Band, Stuttgart u. a. 1978, 447 ff.; Kurt Wiedenfeld, Kartelle und Konzerne (Modeme Wirtschaftsgesta1tungen, Heft 10), Berlin, Leipzig 1927, 2 ff.; Amold Wolfers, Das Kartellproblem im Lichte der deutschen Kartelliteratur (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 180. Band, Zweiter Teil), München, Leipzig 1931, 80 f.
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A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
Mengenkartelle können fixe Produktionsmengen festlegen und diese anteilsmäßig den Mitgliedern zuweisen, oder je nach der erzielbaren Absatzmenge, Quoten an die Mitglieder aufteilen. Mengenkartelle, die in einer Situation gegründet werden, in der durch sehr große Angebotsmengen die Preise unter die Rentabilitätsgrenze gedrückt sind, werden in der Literatur auch als Sanierungskartelle bezeichnet. Gemäß dem Ausmaß der Zentralisierung der geregelten Aktionsparameter unterscheidet man zwischen Kartellen niederer und höherer Ordnung. In Kartellen niederer Ordnung bleibt die Durchführung der Geschäfte gänzlich den Firmen selbst überlassen. Ein Kartellkontrolleur oder ein zentrales Kontrollbüro nimmt allenfalls Einsicht in die Bücher der Mitgliedsfirmen, um das vertragsgemäße Geschäftsgebaren zu überprüfen. Eine innigere Zentralisierung und stärkere Kontrollmöglichkeit sind bereits gegeben, wenn das Kartellbüro das Inkasso für die Mitgliedsfirmen übernimmt. Als Kartelle höherer Ordnung werden Organisationen angesehen, bei denen ein zentrales Verkaufsbüro die Kundenkontakte für die Mitgliedsfirmen übernimmt. Diese Form wird auch als Syndikat bezeichnet. In der Literatur gelten üblicherweise Konditionen- oder Preiskartelle, die kaum zentralisierte Strukturen ausgebildet haben, als "weich", während Syndikate, die viele Aktionsparameter zentral regulieren und ausüben, als besonders "harte" Kartelle angesehen werden. Diese Typologie bietet brauchbare Kategorien zur Beschreibung von Kartellen, daher ist sie nach wie vor nützlich für die Kartellforschung. Ihr Wert für Analysen, warum manche Kartelle erfolgreich als festgefügte Organisationen von Anbietern funktionieren und andere nicht, ist jedoch recht eingeschränkt. Denn wenn die jeweilige Organisationsform die kausale Ursache für den Erfolg bzw. Mißerfolg eines Kartells wäre, müßten ja bestimmte Formen stets organisatorische Mißerfolge erbringen und daher als Handlungsalternative ausscheiden und andere stets erfolgreich sein. Würde man zum Beispiel annehmen, daß der Erfolg von Kartellen stets von der Intensität der organisatorischen Integration abhinge, müßten generell Konditionenkartelle als die loseste Form die geringste Wirkung entfalten und Syndikate als die engste Form, den größten Organisationserfolg gewährleisten. Somit müßten sich Unternehmen, denen am Erfolg ihrer Kartellorganisation gelegen ist, stets zu Syndikaten zusammenschließen. Aber schon Zeitgenossen im frühen zwanzigsten Jahrhundert erkannten, daß sich manche Industrien bzw. Branchen besser für die Karteliierung eignen, andere weniger, ganz unabhängig von der Form der Kartellorganisation. Zielsetzung von Kartellen ist es, die Profilabilität ihrer Mitgliedsfirmen im Rahmen der Marktwirtschaft zu verbessern. Daher wird sich der Ansatz, die Funktionslogik von Kartellen als Organisationen, die die Gegebenheiten eines Marktes beeinflussen wollen, zu untersuchen, als analytisch ertragrei-
III. Wirtschaftswissenschaftliche Grundlagen
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eher erweisen als der Zugang, einen fixen Kausalzusammenhang zwischen Organisationsform und Kartellerfolg herstellen zu wollen. Als Grundlage dafür seien in den nächsten Abschnitten zuerst einige Grundlagen gängiger Markt-Theorie bzw. Mikroökonomie zusammengefaSt Diese Erwägungen werden um Grundzüge der Transaktionskostentheorie und der Schumpeterschen Innovationstheorie ergänzt. Danach folgt die Darstellung eines etablierten Analysemodells, das systematisch die Organisierbarkeit von Kartellen im Zusammenhang mit strukturellen Gegebenheiten von Märkten, Verhaltensweisen von Unternehmen und den von ihnen erzielten wirtschaftlichen Erfolgen sieht, nämlich das "Structure-Conduct-Performance"-Paradigma34 in seiner rezenten Ausprägung.
2. Neoklassische Mikroökonomie und von der "vollkommenen Konkurrenz" abweichende Marktformen Als Referenzfolie zur Beurteilung monopolistischer Organisationen dient üblicherweise das idealtypische Modell vom vollständigen Wettbewerb im Rahmen einer freien Marktwirtschaft, wie es in gängigen Ökonomie-Textbooks vorgestellt wird. Dieses Modell entspricht in etwa dem Bild von der Marktregulierung durch die "invisible hand" nach Adam Smith. Dabei haben alle Güter und Dienstleistungen einen Preis, der sich dadurch bildet, daß sie auf Märkten gehandelt werden. Kein Konsument und kein Produzent ist so mächtig, daß er den Marktpreis zu beeinflussen vermag und alle Teilmärkte sind dem Ausgleich durch den vollständigen Wettbewerb unterworfen. Unter diesen Umständen führt der Markt zu einer effizienten Ressourcenallokation, so daß sich die Wirtschaft auf ihrer Produktionsmöglichkeitenkurve befindet. Wenn alle Wirtschaftszweige diesen Prüfungs- und Ausgleichsmechanismen des vollständigen Wettbewerbs unterworfen sind, produzieren die Märkte gemäß den theoretischen Annahmen, die dem Modell zugrunde liegen, das effizienteste Bündel an outputs35 bei effizientestem Einsatz der möglichen inputs?6 Auf Märkten mit vollkommener Konkurrenz sind die einzelnen Anbieter reine Mengenanpasser an gegebene Preise - die individuellen Nachfrage34 Der Terminus "Paradigma" ist hier in seiner Bedeutung, die er im englischsprachigen Raum trägt, verwendet. Es werden damit nicht ausschließlich elementare Systeme wissenschaftlichen Denkens bezeichnet, sondern auch Teilsysteme, wie Modelle, idealtypische Vorannahmen, etc. 35 Im deutschsprachigen Text werden, wo dies angebracht erscheint, der Einfachheit halber auch englischsprachige Fachbegriffe verwendet, jedoch, sofern sie (noch) nicht als Lehnwort allgemein üblich sind, in kursiven Buchstaben geschrieben. 36 Paul A. Samuelson, William D. Nordhaus, Volkswirtschaftslehre. Übersetzung der 15. Auflage, Wien, Frankfurt 1998, 59 f.
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kurven verlaufen horizontal. Weiters ist jeder einzelne Teilnehmer für das Gesamtgeschehen am Markt von so geringer Relevanz, daß Entscheidungen einzelner Akteure nicht die Marktbedingungen für die anderen verändern. Neben Märkten mit vollkommener Konkurrenz werden in ÖkonomieLehrbüchern auch andere Marktformen beschrieben. 37 All die Märkte, auf denen keine vollkommene Konkurrenz herrscht, eröffnen den Anbietern eine gewisse "Marktmacht", das heißt, Spielräume, in einem gewissen Bereich selbst nicht nur Mengen sondern auch Preise gemäß eigenen Gewinnoptimierungsstrategien zu gestalten. Oligopole weisen eine geringe Zahl von Anbietern auf, so daß deren Handeln auch Preisbildung und Absatzmöglichkeiten für die anderen Marktteilnehmer beeinflußt. Im Falle von Monopolen tritt überhaupt nur ein Anbieter auf. Dieser vermag die Preise bzw. Mengen entsprechend der gegebenen Nachfrage gemäß seinen Gewinninteressen optimal zu gestalten. Einen Sonderfall von Monopolen bilden sogenannte "natürliche Monopole", die in Branchen entsteht, in denen das Absatzvolumen eine Größenordnung aufweist, das gemäß den economies of scale nur von einer Firma allein kosteneffizient bereitgestellt werden kann. Auch Märkte mit einer großen Zahl von Anbietern können durch eine Differenzierung der angebotenen Güter (das heißt, daß sie keine vollständigen Substitute sind), in eine Vielzahl von kleinen, eng miteinander verbundenen Märkten aufgeteilt sein. In derartigen Strukturen wird sich ein "monopolistischer Wettbewerb"38 ergeben; jeder einzelne Anbieter wird in seinem geringfügig vom Gesamtmarkt abgeschotteten Teilmarkt gewisse Spielräume für eigene Preis- und Mengenentscheidungen haben. Kartelle werden von der neoklassischen Ökonomie als Organisationen von Unternehmern angesehen, deren Zielsetzung es ist, diesen Marktmacht zu verschaffen und so eine Abweichung vom ökonomischen Idealzustand der vollkommenen Konkurrenz herbeizuführen. Daher werden sie tendenziell mit großen Vorbehalten beurteilt. 39 Die Zielsetzung, durch Kooperation die Ertragslage zu verbessern, können kollusive Firmen verfolgen, indem sie trachten, gemeinsam die Kosten 37 Samuelson, Nordhaus, Volkswirtschaftslehre, 191 ff.; F. M. Scherer, David Ross, Iudustrial Market Structure and Economic Performance, Third Edition, Boston u.a. 1990, 15 ff. 38 Edward Chamberlin, The theory of monopolistic competition, Cambridge 1933. 39 Die folgenden Überlegungen habe ich bereits präsentiert in: Andreas Resch, Kartelle und Kollusionen in Österreich von der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre - Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt, in: Alice Teichova, Herbert Matis, Andreas Resch (Hrsg.), Business History. Wissenschaftliche Entwicklungstrends und Studien aus Zentraleuropa, Wien 1999, 147 ff.
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zu senken und/oder indem sie versuchen, als kollektives Monopol40 zu agieren, das heißt, indem sie trachten, die Verkaufspreise vom Wettbewerbspreis in Richtung des gemeinsamen Monopolpreises zu verschieben. Zur negativsten Bewertung der ökonomischen Wirkung von Kartellen gelangt man, wenn man die neoklassische Logik von Marktgleichgewichten bei vollkommener Konkurrenz als Idealbild wirtschaftlicher Zustände heranzieht.41 Seit Alfred Marshall wird ein Preis- und Mengendiagramm mit üblicherweise fallender Nachfragekurve und steigender Angebotskurve verwendet, um Märkte mittels einer graphischen Darstellung zu analysieren. Anband dieses Basiskonzeptes der Mikroökonomie sei in knapper Form die neoklassische Kritik an Organisationen, die Marktmacht erlangen, dargestellt. Man kann zeigen, daß Gleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage bei einem Mengen- und Preisniveau entstehen, wo sich die Angebots(= Grenzkosten-)Kurve und die Nachfragekurve schneiden. Dies ist im folgenden Diagramm bei dem Punkt G der Fall. Aus der Logik dieses Systems läßt sich ableiten, daß ein derartiges Gleichgewicht ein Optimum an Wohlfahrt erbringt und sich der Wohlfahrtsgewinn, der durch die Markttransaktionen entsteht, auf die Konsumentenrente (Fläche zwischen den Punkten G, B und D) und die Produzentenrente bzw. den Profit der Anbieter (Fläche zwischen den Punkten G, B und A) aufteilt. Die Fläche zwischen den Punkten A, G und D stellt den Wohlfahrtsgewinn dar, der durch die Transaktionen geschaffen wird, die bei vollkommener Konkurrenz zustande kommen. Kategorisiert man Kartelle bzw. Kollusionen als "kollektive Monopole", so kann man ihnen unterstellen, daß sie trachten werden, als Monopolist ihren Ertrag zu optimieren, selbst wenn dies auf Kosten der Gesamtwirtschaft vor sich geht. Der Monopolpreis entspricht nicht dem Konkurrenzpreis am Schnittpunkt der Angebots- und Nachfragekurve, sondern er stellt sich bei jener Menge ein, bei der die Angebotskurve die Grenzerlöskurve schneidet (Punkt F).42 Der Preis wird vom Y-Wert der Nachfragekurve bei dieser Mengenausbringung bestimmt (Punkt E). Durch diese Monopolpreisbildung eignen sich die Anbieter zusätzlich Profite im Ausmaß des Rechteckes C, E, B und H an, auf Kosten der Nettokonsumentenrente bei voll40 Vgl. Kar[ Pribram, Cartel Problems. An Analysis of Collective Monopolies in Europe with American Application, Washington, D.C. 1935. 41 Zur Logik der folgenden Ausführungen siehe etwa Jean Tirole, Industrieökonomik, München, Wien 1995, 143 ff. 42 Die Grenzerlöskurve wird bei jenem Y-Wert negativ, bei dem die Nachfrage inelastisch wird, das heißt bei linearen Nachfragekurven schneidet die Grenzerlöskurve genau unter dem mittleren Punkt zwischen den Schnittpunkten der Nachfragekurve mit der Preis-Achse und der Mengen-Achse die Mengen-Achse.
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0
Nettokonsumentenrente C'(q) = Grenzkosten
P(q)
A
=Nachfrage
Grenzerlös
q
Quelle: geringfügig überarbeitete Darstellung nach Jean Tirole, Industrieökonomik, München, Wien 1995, 147. Diagramm I: Marktgleichgewicht bei vollkommener Konkurrenz und Monopolsituation
kommener Konkurrenz. Überdies schrumpft durch das höhere Preisniveau das Gesamtvolumen wohlfahrtsmehrender Transaktionen, weil die Menge von qc auf qm zurückgeht. Dadurch büßen zwar auch die Anbieter Profite im Ausmaß des Dreiecks F, G und H ein, die Gesamtwirtschaft erleidet aber einen wesentlich größeren Wohlfahrtsverlust im Ausmaß des Dreiecks F, E und G, die sogenannten dead weight losses. Gemessen am Modell eines statischen Marktgleichgewichtes erbringen somit Monopole und Kartelle erhebliche gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsverluste und eine "unfaire" Umverteilung von Konsumentenrente zu den Profiten der Anbieter. Die denkbar ungünstigste Marktstruktur wäre nach dieser Analyse-Logik eine Abfolge von nicht kooperierenden Monopolen in Industrien, die aufeinanderfolgende Verarbeitungsschritte im Rahmen einer komplexen Wertschöpfungskette durchführen. Das Monopol der Erzeuger des Grundstoffes würde gegenüber dem nächsten Weiterverarbeiter die Mengen reduzieren und die Preise erhöhen, dadurch würde dessen Angebotskurve nach links oben verschoben werden, wodurch von vornherein schon das Wohlfahrts-
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mehrende Dreieck zwischen dem Schnittpunkt der Angebots- und Nachfragekurve und den beiden Schnittpunkten dieser zwei Kurven mit der YAchse verkleinert würde (in obigem Diagramm das Dreieck A, D, und G). Überdies würde diese Verarbeitungsindustrie selbst wieder gemäß der Logik monopolistischen Verhaltens gegenüber dem Marktpreisgleichgewicht ihre Angebotsmenge reduzieren und ihre Preise erhöhen und damit beim nächsten Weiterverarbeiter wiederum die Angebotskurve nach links oben verschieben, und so weiter. Eine derartige "pyramided chain of monopoly power"43 bewirkt durch einen "Domino-Effekt" der jeweiligen Monopolmacht der einzelnen Verarbeitungsstufen die denkbar stärkste Beeinträchtigung der Effizienz einer Marktstruktur. Die Folgewirkung ist eine erhebliche Einschränkung der wohlfahrtsmehrenden Effizienz eines Konkurrenzmarktes und überdies eine Umverteilung von Konsumentenrente zu den Profiten. Die statische, neoklassische Sichtweise weist jedoch gravierende Schwächen bei der Analyse von monopolistisch beherrschten Märkten auf. Sie kann das Bestehen von Monopolen nicht erklären. Gemäß der ihr zugrundeliegenden Logik müßten auf Teilmärkten, in denen das Preisniveau über dem Kostenniveau liegt, stets neue Anbieter auftreten, bis sich die Preise und Mengen wieder bei dem Marktgleichgewicht eingependelt haben. Das neoklassische Idealbild von Wirtschaft im Zustand eines statischen Gleichgewichtes bei vollkommener Konkurrenz wird zum Beispiel durch Argumente der Institutionellen Ökonomie und der Österreichischen Schule(n) der Nationalökonomie wesentlich in Frage gestellt. Vor allem relativieren diese Sichtweisen das Argument von der wohlfahrtsmindernden Wirkung der Zusammenballung von wirtschaftlicher Macht und gewisser Einschränkungen der vollkommenen Konkurrenz. Diese Zugangsweisen gehen von realistischeren Grundannahmen aus,44 wie etwa, daß Konkurrenzwirtschaft nicht einen stabilen Idealzustand erreiehe, sondern sich in einem fortlaufenden evolutionären Entwicklungsprozeß befinde. Als wichtige Grundlage dafür werden Innovationen angesehen, die sich gemäß den jeweils bestehenden Wabimöglichkeiten und Selektionsmechanismen durchsetzen können, die wiederum durch die jeweilige Vorgeschichte determiniert seien. Unter diesen Voraussetzungen setzen sich Innovationen in Entwicklungspfaden durch, deren Beschränkungen sowohl durch ökonomische Faktoren (vor allem Preise und Wettbewerb) als auch institutionelle Faktoren bestimmt sind.
Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 536. Vgl. Paul R. Ferguson, Glenis Ferguson, Industrial Economics. lssues and Perspectives, Second Edition, Basingstoke, London 1994, 108 ff. 43
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A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
Konkret weist die Neue Institutionelle Ökonomie darauf hin, daß das Handeln am Markt mit sogenannten Transaktionskosten belastet ist, die zusätzlich zu den von der neoklassischen Ökonomie traditionell berücksichtigten Kostenfaktoren einbezogen werden müssen. Deswegen kann nicht generell für alle Transaktionen der vollkommene Konkurrenzmarkt als die effizienteste Form zur Gestaltung von Wirtschaftsaktivitäten gesehen werden. Auf den österreichisch-amerikanischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter geht die Sichtweise zurück, daß unter Umständen ein gewisses Ausmaß an monopolistischem Verhalten sogar als förderliches Element eines dynamischen Innovationsprozesses angesehen werden kann und folglich der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt dient. 3. Transaktionskostenansatz und Theorie der Firma
Im Jahr 1937 warf der Ökonom Ronald H. Coase in einem inzwischen klassisch gewordenen Artikel die Frage auf, warum ein so großer Teil der wirtschaftlichen Transaktionen im Rahmen von hierarchisch organisierten Firmen stattfindet, wenn doch gemäß der neoklassischen Sichtweise der Konkurrenzmarkt die größte Effizienz gewährleiste.45 Seither ist ein umfangreiches Schrifttum erschienen, das sich mit der Thematik befaßt, daß auch die Inanspruchnahme des Marktmechanismus' Kosten verursacht, weswegen vielerlei Transaktionen günstiger im Rahmen von mehr oder weniger festgefügten Organisationen durchgeführt werden können. 46 Die Transaktionskostentheoretiker bzw. institutionellen Ökonomen übernehmen von den Neoklassikern die Annahme, daß die Wirtschaftsakteure rational im Sinne einer möglichst effizienten Zielerreichung handeln wollen. Sie leiten davon jedoch zwei Verhaltensannahmen ab, die es als fragwürdig erscheinen lassen, ob die Akteure tatsächlich im Rahmen einer Marktwirtschaft mit vollkommener Konkurrenz auch die effizientesten Verhaltensweisen herausfinden und praktizieren können. Diese Verhaltensannahmen sind das Konzept von der eingeschränkten Rationalität und die Unterstellung von sogenanntem "Opportunismus". 45 Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, zuerst veröffentlicht in Economica (1937), 386-405, wieder abgedruckt in: Oliver E. Williamson, Sidney G. Winter (Hrsg.), The Nature of the Firm. Origins, Evolution, and Development, New York, Oxford 1993, 18-33. 46 Siehe etwa die Beiträge in Williamson, Winter, The Nature of the Firm sowie Oliver E. Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Unternehmen, Märkte, Kooperationen, Tübingen 1990; derselbe, Transaction Cost Economics, in: Richard Schmalensee, Robert D. Willig (Hrsg.), Handbook of Industrial Organization (Handbooks in Economics, 10), Band 1, Amsterdam u.a. 1990, 135181 und Siegfried G. Schoppe u.a., Modeme Theorie der Unternehmung, München, Wien 1995.
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Eingeschränkte Rationalität besagt, daß die Akteure nur unvollkommenes Wissen über den Markt und zukünftige Entwicklungen haben und daß jegliche Bemühungen, dieses Wissen zu verbessern, Kosten verursachen. Daher werden vernünftige Akteure ihren Entscheidungen nicht ein maximal mögliches Ausmaß an Wissen, Vorbereitung und Informationen zugrunde legen, sondern dieses nur in einem Ausmaß erwerben, das in einem vernünftigen Verhältnis zur Tragweite der jeweiligen Entscheidung steht. Deswegen werden aufgrund der bounded rationality Handlungsentscheidungen im Rahmen von Marktsituationen nur selten der Annahme von Rationalität im Sinne der neoklassischen Theorie, daß wirklich alle Möglichkeiten des Marktes ausgeschöpft werden, entsprechen können. 47 Mit der Verhaltensannahme des Opportunismus ist gemeint, daß die Akteure in allen Stadien einer Transaktion eigennützig handeln werden, und wenn es ihnen als vorteilhaft erscheint, auch vor List, Lüge und Ausnützen von Schwächen der anderen Marktteilnehmer nicht zurückschrecken werden.48 Gemäß diesen Verhaltensmaßnahmen fallen als Transaktionskosten für wirtschaftliche Vorgänge im Rahmen des Marktes zum Beispiel Suchkosten, Informationskosten, Verhandlungskosten, Tauschkosten, Absicherungskosten und Kosten mangelhafter bzw. fehlender Koordination an. 49 Welches Ausmaß diese Transaktionskosten erreichen, hängt von verschiedenen Dimensionen der Transaktionen ab, vor allem von deren Häufigkeit, der mit ihnen verbundenen Unsicherheiten und der Spezifizität der jeweiligen Investitionen. Unter hoher Spezifizität von Investitionen versteht man, daß sie auf einen bestimmten Zweck festgelegt sind und gar nicht oder nur unter großen Einbußen für andere Zwecke genutzt werden können. Spezifische Investitionen sind somit eine Art von sunk costs. 50 Zusammen mit der Häufigkeit ist auch das finanzielle Volumen von Transaktionen zu berücksichtigen. Folglich wird sich zum Beispiel für sehr häufige aber geringfügige Transaktionen keine individuelle Abwicklung jeder dieser Transaktionen über den Markt lohnen, weil die Transaktionskosten in keinem vernünftigen Verhältnis zum Transaktionsvolumen bzw. zum erwartbaren Nutzen der Transaktion stehen. 51 Vgl. Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, 50 ff. Schoppe u. a., Moderne Theorie der Unternehmung, 149; Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, 53 ff. 49 Schoppe u.a., Moderne Theorie der Unternehmung, 150. 50 Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, 59 ff. 51 Zum Beispiel ist es für die Chefin bzw. den Chef einer Firma nicht sinnvoll, für jeden Brief, den sie/er diktieren will, am Markt jene Schreibkraft zu suchen, die gerade bereit wäre, diesen Text am billigsten zu schreiben. Denn dafür würden immense Suchkosten in Form von Zeitaufwand, Honoraren für Vermittlungsinstitutio47
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Das Problem des Opportunismus kann insbesondere im Zusammenhang mit sehr spezifischen Investitionen schlagend werden. Zum Beispiel kann ein Unternehmen, das große spezifische Investitionen auf sich nimmt, um einen Liefervertrag möglichst effizient erfüllen zu können, nach erfolgter Durchführung derselben, vom Käufer erpreßt werden, weitere Preisnachlässe zu gewähren. Es steht vor der Situation, entweder den Forderungen nach einer ursprünglich nicht vereinbarten Preissenkung nachzugeben, oder die soeben getätigten Investitionen nicht nutzen zu können. Derartige Situationen der Erpreßbarkeit können in entsprechenden Konstellationen sowohl von Seiten der Käufer als auch von Seiten der Lieferanten ausgenutzt werden. 52 Eine mögliche Strategie, solche Opportunismusrisiken auszuschalten, wäre die vertikale Fusion von Lieferant und Käufer in einer Firma, und damit die Internalisierung der Transaktion in die Unternehmensorganisation anstatt der Abwicklung am Markt. Allerdings verursacht eine Aufblähung von Unternehmensorganisationen ab einem bestimmten Ausmaß überproportional zunehmende Kosten, da Kostenprobleme auftreten, wenn die Bürokratie über ein gewisses Ausmaß anwächst und es außerdem kaum möglich sein wird, gleich effiziente Leistungsanreize wie auf dem Markt zu schaffen. 53 Gemäß diesen Erwägungen befaßt sich die Institutionelle Ökonomie mit der wichtigen Managementfrage "make or buy" und beantwortet sie mit der (tautologischen) Feststellung: Ein Unternehmen soll von seinem Kern, der durch spezifische Investitionen in Sachanlagen, Know-how und Humankanen etc. sowie andere Kosten für Vertragserstellung, Qualitätssicherung etc. anfallen. In diesem Fallliegt es nahe, sich nicht für jede einzelne Transaktion des Marktmechanismus' zu bedienen, sondern einmalig auf dem Arbeitsmarkt fest eine Schreibkraft anzustellen, das heißt die häufige Transaktion organisatorisch in das Unternehmen zu internalisieren. Ähnlich wird es für eine Firma, die mechanische Apparate erzeugt, nicht sinnvoll sein für jede einzelne Schraube, die sie zukauft, individuell Markterhebungen anzustellen und den günstigsten Lieferanten auszuwählen. Vielmehr wird sie längerfristige Lieferbeziehungen eingehen, die allerdings nachverhandelt werden können, oder, wenn zum Beispiel Verbundvorteile dafür sprechen, die Schraubenerzeugung selbst aufnehmen. 52 In der Literatur wird etwa das Beispiel eines Stahlwerkes angeführt, das errichtet wird, nachdem die Kostenkalkulation Gewinne erwarten ließ, wobei dieser Berechnung bestimmte Energiekosten aufgrund eines langfristigen Liefervertrages mit einem naheliegenden Kraftwerk zugrundelagen. Die Errichtung des Stahlwerks ist eine sehr spezifische Investition, das heißt sie kann kaum anders als für den ursprünglichen Zweck genutzt werden. Dadurch wird sich aber das Stahlunternehmen nach erfolgter Investition als sehr erpreßbar erweisen. Die Energielieferfirma wird nach der Fertigstellung des Stahlwerks versucht sein, sich nicht mehr an den Stromlieferungsvertrag zu halten, sondern die Tarife erheblich erhöhen und dem Stahlwerk wird nichts anderes übrig bleiben, als zähneknirschend zu zahlen, weil es ansonsten die spezifische Investition abschreiben müßte. 53 Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus, 149 ff.
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pital definiert ist, so lange weitere Funktionen internalisieren, bis der Punkt erreicht ist, an dem die marginalen Organisationskosten einer zusätzlichen Aktivität gleich den marginalen Kosten der Nutzung des Marktes sind. Klar zu unterscheiden von den transaktionskostenorientierten Erwägungen der Fragestellung "make or buy" sind Strategien zur Kostensenkung gemäß möglichen economies of scale oder (technologisch bedingten) Unteilbarkeiten, die ebenfalls effiziente Mindestgrößen von Unternehmen und Kostenvorteile von (vertikaler bzw. horizontaler) Integration aufzeigen können.54 Die Institutionelle Ökonomie geht bei der Analyse von Transaktionskosten nicht allein von einer Dichotomie "Markt versus unternehmensinterne Produktion" aus, sondern sie berücksichtigt eine breite Palette von dazwischen liegenden Abstufungen der Organisation von Kooperation und Kontrolle. Oliver E. Williamson schlägt etwa in einer Systematik von Transaktionen je nach ihrer Spezifizität und Häufigkeit vor, daß gelegentliche, nichtspezifische Investitionen über den Markt abgewickelt, gelegentliche Transaktionen mit gemischt spezifischen Investitionen im Weg von langfristigen Verträgen mit zusätzlichen Kontrollmechanismen durchgeführt werden sollen. Vor allem bei wiederholten Transaktionen, denen hochspezifische Investitionen zugrundeliegen, müssen Kontrollen, die eine verläßliche Kooperation gewährleisten, vorgesehen werden. Die stärkste Form dafür ist zweifellos die Internalisierung in die eigene Unternehmensorganisation. Generell können neben der Internalisierung von Aktivitäten auch glaubwürdige Formen der Kontrolle und Kooperation dazu beitragen, daß Transaktionskasten reduziert werden und daß spezifische Investitionen getätigt werden, wenn sie für bestimmte Leistungserstellungen die effizientesten Voraussetzungen bieten. Somit liefert die Institutionelle Ökonomie Argumente dafür, daß Abkommen zwischen Firmen, die ihre Entscheidungsfreiheit am Markt beeinträchtigen - und folglich kokurrenzbeschränkend wirken - zu einer größeren wirtschaftlichen Effizienz beitragen können als sie unter den Rahmenbedingungen vollkommenen Wettbewerbs zustande kommen würde. In diesem Sinne ist es auch möglich, daß Formen von Kollusionen zwischen Firmen, selbst wenn sie Marktmacht erlangen, wohlfahrtsökonomisch positive Auswirkungen erbringen.
54 Während die Internalisierung der Stromversorgung eines Stahlwerkes in die eigene Unternehmenstätigkeit damit argumentierbar sein könnte, daß man sich vor dem Opportunismus eines Energielieferanten schützen will, ohne entsprechend teure vertragliche Sicherungskonstruktionen implementieren zu müssen (Einsparung von Transaktionskosten), sprechen für die Integration von Hochofen und Stahlerzeugung in einem Betrieb technologische Effizienzvorteile, insbesondere hinsichtlich der effizienten Nutzung thermischer Energie.
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4. Schumpeters Theorie von monopolistischer Marktmacht, Wettbewerbsprozeß und Innovation
Es ist einsichtig, daß ein mäßiges statisches output handicap, das durch eine Abweichung vom Zustand der vollkommenen Konkurrenz bedingt ist, auf Dauer die Ökonomische Wohlfahrt einer Volkswirtschaft weniger schmälern wird, als eine langfristige Beeinträchtigung des Wirtschaftswachstums.55 In welchem Ausmaß Wirtschaftswachstum auftreten kann, hängt insbesondere davon ab, inwieweit von den Unternehmen erfolgreiche Innovationen implementiert werden können. 56 Speziell Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie betonen seit langem, daß ein erfolgreicher evolutionärer Wachstums- und Entwicklungsprozeß längerfristig für die wohlfahrtsmehrende Effizienz einer Ökonomie von größerer Bedeutung ist als irgendein Idealzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt.57 Mit dieser Sichtweise wird vor allem der Name Joseph A. Schumpeter verbunden. Schumpeter wies bereits in seinem Buch "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" auf die Bedeutung innovativer Unternehmer für die wirtschaftliche Entwicklung hin. 58 In seinem Werk "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie"59 (zuerst 1942 in den USA publiziert) weitet Schumpeter seine Argumentation um eine explizite Legitimierung von Marktmacht und strategischem Verhalten aus und er hebt hervor, daß der Begriff Konkurrenz nicht allein auf die Variablen Preis und Menge zu beschränken sei, wie dies im traditionellen neoklassischen Modell der Fall ist. 55 Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Econornic Performance, 15 ff. und 613 ff. 56 Robert Solow wies bereits in den 1950er Jahren nach, daß ein erheblicher Teil der in der Wirtschaftsgeschichte beobachtbaren Produktivitätszuwächse auf verbesserte Produktionsanlagen, Organisationsstrukturen und Fähigkeiten der Beschäftigten zurückzuführen ist. Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 613. 57 Ferguson, Ferguson, lndustrial Economics, 112 ff. 58 Darin hebt er neben der Rolle innovativer Unternehmer auch die Bedeutung des Kreditwesens hervor, das durch Kreditschöpfung Spielräume für Investitionen in Innovationen schafft, auch wenn die bestehende Ökonomie in einem Gleichgewichtszustand alle Ressourcen auslastet. Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und Konjunkturzyklus, 2. Auflage, München, Leipzig 1926. Zuvor präsentierte er das Argument von den Unternehmern als das eigentliche Agens wirtschaftlicher Entwicklung bereits in seinem Beitrag Joseph A. Schumpeter, Über das Wesen von Wirtschaftskrisen, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung 19 (1910), 691-789. 59 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1975.
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Schumpeter führt aus, daß somit der "überlieferte Begriff des modus operandi der Konkurrenz" weichen muß. "Die Ökonomen entwachsen nun endlich dem Stadium, wo sie nur Preiskonkurrenz sahen und nichts sonst. Sobald die Qualitätskonkurrenz und der Kundendienst in die geheiligten Gefilde der Theorie zugelassen werden, ist die Preisvariable aus ihrer beherrschenden Stellung vertrieben. Es ist jedoch immer noch Konkurrenz innerhalb eines starren Systems unveränderter Bedingungen - namentlich der Produktionsmethoden und der Formen der industriellen Organisation -, die praktisch alle Aufmerksamkeit monopolisiert. In der kapitalistischen Wirklichkeit jedoch, im Unterschied zu ihrem Bild in den Lehrbüchern, zählt nicht diese Art von Konkurrenz, sondern die Konkurrenz der neuen Ware, der neuen Technik, der neuen Versorgungsquelle, des neuen Organisationstyps (zum Beispiel der gräBtdimensionierten Unternehmungseinheit) - jene Konkurrenz, die über einen entscheidenden Kosten- oder Qualitätsvorteil gebietet und die bestehenden Firmen nicht an den Profit- und Produktionsgrenzen, sondern in ihren Grundlagen, ihrem eigentlichen Lebensmark trifft. Diese Art der Konkurrenz ist um so viel wirkungsvoller als die andere, wie es ein Bombardement ist im Vergleich zum Aufbrechen einer Tür, und sie ist so viel wichtiger, daß es verhältnismäßig gleichgültig wird, ob die Konkurrenz im gewöhnlichen Sinne mehr oder weniger rasch funktioniert; der mächtige Sauerteig, der auf lange Sicht die Produktion ausdehnt und die Preise herunterdrückt, ist auf jeden Fall aus einem anderen Stoff gemacht. Es ist kaum nötig zu erwähnen, daß die Konkurrenz von der Art, wie wir sie nun im Sinne haben, nicht nur wirkt, wenn sie tatsächlich vorhanden, sondern auch wenn sie nur eine allgegenwärtige Drohung ist. Sie nimmt in Zucht, bevor sie angreift. Der Geschäftsmann hat das Gefühl, sich in einer Konkurrenzsituation zu befinden, selbst wenn er allein auf seinem Gebiet ist oder selbst wenn er, obzwar nicht allein, doch solch eine Stellung einnimmt, daß kein Regierungsexperte bei seiner Enquete eine wirksame Konkurrenz zwischen ihm und irgendwelchen anderen Firmen auf dem gleichen oder einem benachbarten Gebiet entdeckt, woraus der Schluß gezogen wird, daß sein Gerede über Konkurrenzsorgen sich bei näherer Prüfung als Spiegelfechterei entpuppt. In vielen Fällen, wenn auch nicht in allen, wird dies auf die Dauer ein Verhalten erzwingen, das sehr ähnlich dem der vollkommenen Konkurrenz ist. " 60 Für Schumpeter ist "Kapitalismus ... von Natur aus eine Form oder Methode der ökonomischen Veränderung und ist nicht nur nicht stationär, sondern kann es auch nicht sein."61 Der Unternehmer setzt Innovationen um 60 61
Ebenda, 139 f. Ebenda, 136.
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und ist somit Hauptträger der Dynamik. "Der fundamentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält, kommt von den neuen Konsumgütern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden, den neuen Märkten, den neuen Formen der industriellen Organisation, welche die kapitalistische Unternehmung schafft."62 Den Prozeß, wie sich das Neue durchsetzt und ältere, weniger gewinnträchtige Lösungen verdrängt, beschreibt Schumpeter mit dem Terminus der "schöpferischen Zerstörung". 63 Diese schöpferische Zerstörung wird sowohl im Rahmen unternehmensinterner Entwicklung wirksam, indem effizientere Lösungen und profitablere Geschäftsfelder ältere Unternehmenspraxis und damit verbundene Kapitalgüter obsolet machen können, als auch im Rahmen des Konkurrenzprozesses zwischen verschiedenen Unternehmen. Schumpeter erachtet einen Zustand der vollkommenen Konkurrenz, in dem alle Unternehmen nur zu ihren Grenzkosten verkaufen können, geradezu als abträglich für die Fähigkeit der Firmen, in Innovationen investieren zu können. Sie werden nur sehr wenig Spielräume für innovative Strategien haben, wenn sie im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit nur ihre Kosten decken können. Nach Schumpeters Ansicht werden Innovationen und somit Wirtschaftswachstum wahrscheinlicher, wenn Unternehmen durch Marktmacht höhere Profite und mehr Bewegungsfreiheit für strategisches Verhalten gewinnen. Überdies werden derartige Unternehmen auch in Phasen externer Schocks (etwa in Rezessionen) stabiler weiterfunktionieren können, als jene Firmen, die lange Zeit hindurch nur am Kostenlimit arbeiten. Damit sei eine Wirtschaft, die nicht generell im äußersten Konkurrenzkampf am Kostenlimit arbeiten muß, widerstandsfähiger gegen externe Schocks und könne besser auf Änderungsimpulse reagieren. Zugleich wird aber auch für Unternehmen, die aufgrund von Innovationen eine temporäre monopolistische Position erlangen, diese Marktmacht kein Ruhekissen sein. Die Konkurrenz drängt gemäß den Prozessen von Imitation und Diffusion nach, und auch andere Firmen könnten Innovationen umsetzen, die ihnen wiederum Vorsprünge sichern. Mit aktueller und potentieller Konkurrenz ist zu rechnen. Daher stehen führende Firmen unter dem Druck, ihre Position laufend durch Forschungs- und Entwicklungsarbeit erhalten zu müssen und so insgesamt zur Effizienz der Wirtschaft beizutragen. Selbst mächtige Großunternehmen oder sogar in Kartellen zusammengeschlossene Firmen können sich dieser Logik nicht entziehen. Tatsächlich Ebenda, 137. Dieter Stiefel, Die Ästhetik des Untergangs: Schumpeter und das Ende des Kapitalismus, in: Herbert Matis, Dieter Stiefel (Hrsg.), Ist der Kapitalismus noch zu retten?, Wien 1993, 127 ff. 62
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verstanden es zum Beispiel um 1900 führende deutsche und amerikanische Konzerne (etwa der Elektroindustrie oder der Chemieindustrie), durch gezielte unternehmensinterne Forschung ihre Produktivität laufend zu steigern und damit ihre Marktposition zu stärken. 64 Sofern grundsätzlich funktionierende Rahmenbedingungen für eine Konkurrenzwirtschaft gewährleistet und nicht "künstliche" Wettbewerbshindernisse durch den Staat (z. B. aus fiskalischen Interessen) errichtet sind, wird daher selbst bei einer Beeinträchtigung der vollkommenen Konkurrenz durch die Marktmacht von großen Unternehmen oder kollusiven Organisationen deren monopolistische Praxis durch aktuelle und potentielle Konkurrenz begrenzt werden. Eine derartige Wettbewerbssituation wird die Großunternehmen zugleich in die Lage versetzen und zwingen, ihr Innovationspotential auszuschöpfen und so das Wirtschaftswachstum zu fördern. Schumpeter bestreitet nicht, daß Firmen mit Marktmacht und Kartelle unter Umständen Strategien zur Profitmehrung gemäß der neoklassischen Monopolkritik verfolgen können. Die möglichen negativen ökonomischen Effekte werden aber durch zusätzliche Spielräume und Zwänge für innovatives effizienzsteigerndes Verhalten konterkariert. Folglich sind selbst Kartelle nicht generell abzulehnen, sondern es kommt auf ihren "Nettoeffekt"65 an. 5. Der Structure-Conduct-Performance-Approach Die bereits angeführten Argumente legen nahe, daß für eine einigermaßen realitätsnahe Analyse monopolistischer Strukturen differenziertere Zugangsweisen als ein statisches, neoklassisches Gleichgewichtsmodell erforderlich sind. Seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich zum Beispiel der sogenannte "Structure-Conduct-Performance-Approach" etabliert und seither wesentlich weiterentwickelt. Autoren, die dieses Paradigma ursprünglich prägten, waren etwa J. S. Bain sowie Carl Kaysen und Donald Turner. 66 Die Grundannahmen für dieses Modell gehen davon aus, daß bestimmte strukturelle Eigenschaften von Märkten die 64 Man denke etwa an die Labors von Thomas A. Edison in Menlo Park oder die Bell Laboratories. Siehe dazu Thomas P. Hughes, Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, München 1991; Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 614 ff. 65 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 150. 66 Zur Etablierung des Structure-conduct-performance-Paradigmas siehe etwa: Dennis C. Mueller, Lessons from the United States's antitrust history, in: International Journal of Industrial Organization, 14 (1996), 417 ff.; Ferguson, Ferguson, Industrial Economics, 5 f. und 13 ff. Als grundlegende Arbeiten der oben genannten Autoren seien angeführt: J. S. Bain, Relation of Profit Rate to Industrial Concentration: American Manufacturing 1936-40, in: Quarterly Journal of Economics, 65 3*
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Ausbildung von Monopolmacht ermöglichen. Daraus folgt, daß von diesen strukturellen Eigenschaften auch das Verhalten der Unternehmen auf den betreffenden Märkten determiniert wird, und dieses wiederum ein bestinuntes Ausmaß an Profilabilität mit sich bringt. In dieser ursprünglichen Konzeption gestattete das Modell jedoch ebenfalls nur eine statische Sichtweise, derzufolge Verhalten und peiformance von gegebenen Strukturmerkmalen determiniert werden. Bald bezog man jedoch in die Überlegungen ein, daß das Verhalten (conduct) auch Rückwirkungen auf die Marktstruktur ausüben kann und diese somit im Zeitablauf verändert, wodurch sich neue strukturelle Bedingungen für das weitere Verhalten herausbilden. Auch von der peiformance gehen Rückwirkungen auf conduct und auf structure aus, so daß neuere Formulierungen des Paradigmas eine dynamische Interdependenz zwischen diesen drei Bereichen berücksichtigen. Weiters bezieht das Paradigma in seiner aktuellen Ausprägung auch die Wechselbeziehungen zwischen dem Verhalten der Firmen und ihrer Umwelt außerhalb des Marktes, insbesondere die Wechselbeziehungen mit der Regierung bzw. Staatsmacht ein. Denn der Staat kann mittels gesetzlicher Bestinunungen in erheblichem Ausmaß die Entwicklungsmöglichkeiten von Monopolmacht beeinflussen.67 In den nächsten Abschnitten sei auf wesentliche Determinanten für structure, conduct und peiformance von Industrien eingegangen, wobei auch Überlegungen einbezogen werden, die erheblich über dieses Konzept im engeren Sinne hinausgehen. 6. Determinanten der Marktstruktur
Die Beeinflussung der Profitabilität einer Branche durch verschiedene Faktoren der jeweiligen Marktstruktur wird in der Literatur häufig durch eine Regressionsgleichung wie folgt dargestellt: 68 II; =f(CR;,BE;, ... ). Dabei bezeichnet i die Branche oder Industrie, Il; ist ein Maß für die Profilabilität der Firma oder der gesamten Branche, die durch die Marktkonzentration CR;, die entry barriers69 BE;, das heißt die Hindernisse, die eine neue Firma überwinden muß, um in den jeweiligen Markt eintreten zu können, und durch andere Determinanten bestinunt ist. (1951), 293-324; derselbe, Barriers to New Competition, Cambridge, Mass. 1956; Carl Kaysen, Donald F. Turner, Antitrust Policy, Cambridge, Mass. 1959. 67 Als umfassende Darstellung des Ansatzes in seiner aktuellen Ausprägung sei auf Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Econornic Performance verwiesen. 68 Vgl. etwa Tirole, Industrieökonornik, 1; Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 411 ff.; George Symeonidis, Are Cartel Laws Bad for Business? Evidence from the UK, in: rnimeo, University of Essex 1999.
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In nicht-mathematischer Formulierung ausgedrückt, wird in der Literatur vor allem auf folgende sieben Merkmale von Marktstrukturen, die conduct und peifonnance bestimmen, hingewiesen: 70 1. Größe des Marktes 2. Konzentration 3. Differenzierung 4. Eintrittsbarrieren 5. Organisationsmacht von Banken, Konzernen, etc. 6. Staatliche Regulierung 7. Strukturelle Merkmale der Nachfrage ad 1. Größe des Marktes Zum Zusammenhang des Merkmals "Größe des Marktes" mit der Organisierbarkeil von Marktmacht finden sich in der ökonomischen Literatur (so wie übrigens auch zu den meisten anderen Merkmalen der Marktstruktur) gegensätzliche Annahmen und Erklärungen. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit ist ein negativer Zusammenhang zwischen der Größe eines Marktes und der Organisierbarkeil von Marktmacht zu erkennen. Das heißt, es ist auf großen Märkten (mit einem sehr großen Gesamtumsatz oder Produktionswert) tendenziell weniger wahrscheinlich, daß sich eine monopolistische oder Oligopolistische Struktur herausbildet, die die Organisation von Marktmacht gestattet, als auf kleinen Märkten. Auf einem sehr großen Markt beeinflussen Entscheidungen einzelner Unternehmen nur in einem relativ geringen Ausmaß die Gesamtsituation und das Verhalten der anderen Firmen. Sehr große Märkte werden daher tendenziell eher dem Leitbild der vollkommenen Konkurrenz entsprechen als kleine Märkte.71 Wenn es allerding trotzdem gelingt, daß auf großen Märkten Monopolstrukturen errichtet werden, so werden diese naheliegenderweise tendenziell größere Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche peifonnance ausüben, als Monopole auf kleinen Märkten. Somit sind für eine Kartellforschung, die an gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen interessiert ist, große 69 Dieser Terminus wird manchmal bereits im Deutschen als Lehnwort verwendet. Im weiteren Text wird er gegebenenfalls auch mit den Begriffen "Eintrittsbarrieren" bzw "Zutrittschranken" umschrieben. 70 Vgl. Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance; Ferguson, Ferguson, Industrial Economics, 14 und 84; Symeonidis, Are Cartel Laws Bad for Business? 71 Vgl. Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 277 f.
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Märkte, auf denen sich Marktmacht herausgebildet hat, von besonderer Bedeutung. Weiters wird der tendenzielle Zusammenhang zwischen der Größe eines Marktes und der Wahrscheinlichkeit des Aufkommens von Marktmacht noch durch eine Beobachtung von John Sutton relativiert. Dieser beschreibt in seinem Werk "Sunk Costs and Market Structure"72 Szenarios von großen Märkten, in denen es kleinen Gruppen von führenden Firmen durch das Aufbringen von hohen sunk costs für Werbung und/oder Forschung und Entwicklung gelingt, sich dauerhaft einen hohen Marktanteil und ein gewisses Ausmaß an Marktmacht zu sichern, wobei sie von einem competitive /ringe von nonadvertisers umgeben sind. Als Beispiel für einen derartigen großen Markt nennt Sutton etwa die Soft-Drink-Industrien, von denen sich Coca Cola und Pepsi dauerhaft einen hohen Marktanteil sichern konnten, umgeben von einer großen Anzahl kleinerer Anbieter, die ähnliche Getränke zu niedrigeren Preisen verkaufen. ad 2. Konzentration Dieses Merkmal ist eng mit der Marktgröße verbunden. Es liegt nahe, daß sich auf kleinen Märkten mit größerer Wahrscheinlichkeit eine hohe Konzentration der Anbieter entwickeln wird. Wenn um einen bestimmten Markt nur eine geringe Anzahl von Konkurrenten im Wettbewerb steht, so kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß sich diese zu einem kollusiven Vorgehen zusammenfinden. Hingegen wird die Rivalität bei einer hohen Anzahl von Konkurrenten tendenziell stärker ausgeprägt sein.73 Empirische Forschungen haben ergeben, daß es sehr schwierig ist, längerfristig stabile Kartelle zwischen mehr als fünf Anbietern zu organisieren.74 Die Konzentration stellt somit ein wichtiges Merkmal für die Einschätzung dar, ob Märkte für kollusive Organisationen anfällig sind oder nicht. Aus diesem Grunde wurden verschiedene Verfahren entwickelt, wie man die Konzentration messen kann. 75 72 lohn Sutton, Sunk Costs and Market Structure. Price Competition, Advertising, and the Evolution of Concentration, Cambridge, Mass., London 1991. 73 Michael E. Porter, Wettbewerbsstrategie. Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten, Frankfurt am Main 1999, 50 ff. 74 Vgl. als aktuellen Beitrag dazu etwa Jacek Prokop, Process of dominant-cartel forrnation, in: International Journal of Industrial Organization, 17 (1999), 241-257. 75 Vgl. etwa Peter K. Häni, Die Messung der Unternehmenskonzentration. Eine theoretische und empirische Evaluation von Konzentrationsmaßen (Beiträge zur empirischen Wirtschaftsforschung, 4), Zürich 1987; Hans Otto Lenel, Konzentration, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften (HdWW), Vierter Band, Stuttgart, New York 1978, 540-565; Ferguson, Ferguson, Industrial Econornics, 38-59.
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Als gängige Maße werden insbesondere der Anteil der x Größten am Gesamtmarkt (Konzentrationsrate x) und der Herfindahl-Konzentrationsindex (Summe der quadrierten Anteilswerte der Merkmalsträger) vorgeschlagen. Weiters läßt sich die relative Konzentration mithilfe der sogenannten Lorenz-Kurven darstellen. Die Konzentrationsrate x gibt nur Auskunft über den Anteil der in die Berechnung Einbezogenen x Größten, beinhaltet jedoch keine Informationen über die anderen Marktteilnehmer. Der Herfindabi-Index ist bei nur einem Merkmalsträger gleich eins, bei absoluter Gleichverteilung auf eine größere Zahl entspricht er dem Kehrwert der Anzahl der Konkurrenten auf einem Markt. Die Lorenz-Kurve stellt den kumulierten Marktanteil der nach der Größe ihres Marktanteils geordneten Wettbewerber dar. Hat jeder Mitbewerber den gleichen Anteil am Gesamtmarkt, so liegen die kumulierten Anteile auf der sogenannten Gleichverteilungsgeraden. Die fläche zwischen dieser Gleichverteilungsgeraden und der Lorenz-Kurve ist ein Maß für die Ungleichverteilung. Der Quotient aus dieser Fläche und der gesamten fläche unter der Gleichverteilungsgeraden wird Gini-Koeffizient genannt. Im Rahmen der historischen Forschung liegen notorisch nur sehr unvollständige Daten über Märkte und Firmen vor. Daher ist es kaum möglich, Konzentrationsmaße anzuwenden, für deren Berechnung Daten über jeden individuellen Marktteilnehmer erforderlich sind. Aus diesem Grund wird im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit hauptsächlich der Anteil der größten Unternehmen am jeweiligen Markt herangezogen. Sehr gebräuchlich ist die Konzentrationsrate 476, weswegen weiter unten versucht werden soll, diese für die untersuchten Märkte zu berechnen. Als Daten-Substitute, die ebenfalls Hinweise auf die Konzentration auf Märkten geben, können auch die unterschiedliche Verteilung von Kapital oder von Arbeitskräften auf die Firmen in einer Industrie herangezogen werden.77 ad 3. Differenzierung Eine Voraussetzung dafür, daß Märkte weitgehend dem "Idealbild" von vollkommener Konkurrenz entsprechen können, ist, daß große Mengen hoScherer, Ross, Industrial Market Structure and Econornic Performance, 422. Zum Beispiel entschied Franz Mathis nach dem Kriterium, daß eine Firma in Laufe ihrer Geschichte irgendwann mehr als 1000 Arbeitskräfte beschäftigt haben muß, welche Unternehmen er als Großunternehmen in seiner Studie Big Business in Österreich berücksichtigte. Franz Mathis, Big Business in Österreich. Österreichische Großunternehmen in Kurzdarstellungen, Wien 1987; derselbe, Big Business in Österreich li. Wachstum und Eigentumsstruktur der Österreichischen Großunternehmen im 19. und 20. Jahrhundert. Analyse und Interpretation, Wien, München 1990. 76
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mogener Waren angeboten werden. Durch Differenzierung können solche Märkte in kleinere Teilmärkte, die untereinander im "monopolistischen Wettbewerb" stehen, umgewandelt werden. Das heißt, die Waren am Markt sind nicht homogen, sondern mehr oder weniger enge Substitute und die Anbieter sind nicht reine Preisnehmer und Mengenanpasser gemäß ihren Kostenstrukturen, sondern sie haben auch einen gewissen Spielraum für die Preisgestaltung. Sie werden daher nicht zum Grenzkostenpreis anbieten, sondern versuchen, im Rahmen ihres eingeschränkten Gestaltungsspielraumes die Preise in Richtung ihres individuellen Monopolpreises zu verschieben. Eine derartige Differenzierung der angebotenen Waren kann auf verschiede Weise auftreten bzw. bewerkstelligt werden. Zu nennen sind vor allem die räumliche Differenzierung des Angebotes, die Differenzierung nach Qualität der Produkte sowie die Möglichkeit, durch Werbung und Markenbildung zusätzliche Differenzierung zu schaffen. Räumliche Differenzierung wirkt sich besonders stark bei solchen Produkten aus, deren Transportkosten im Verhältnis zu ihrem Wert sehr hoch sind. Diese werden von den Nachfragern üblicherweise bei dem ihnen am nächsten liegenden Anbieter bezogen werden, um Transportkosten zu sparen. Das Verhältnis von Transportkosten zu Warenwert bestimmt die Spielräume, die regionale Anbieter gegenüber weiter entfernten Konkurrenten bei der Gestaltung ihrer Preise ausnützen können.78 Würde man diesen Ansatz verabsolutieren, so würde daraus eine räumlich gleichmäßige Verteilung der Anbieter über einen Marktraum resultieren, ihre Dichte würde gemäß den theoretischen Überlegungen zum monopolistischen Wettbewerb so lange zunehmen, bis sich auf all diesen regionalen Märkten die Preise bei den Durchschnittskosten eingependelt hätten. 79 Faktoren, wie ungleiche Ressourcenverteilung und Konzentration der Nachfrage, bewirken, daß diese Verteilung nicht in einer geometrisch streng regelmäßigen Weise zustandekommen wird. Überdies wirken manche positive Extemalitäten einer gleichmäßigen Streuung von Produzenten entgegen. Zum Beispiel kann die Ballung von gleichartigen Industrien an einem Ort der Entwicklung des regionalen Angebots entsprechend ausgebildeter und spezialisierter Arbeitskräfte förderlich sein und die Ausbildung spezialisierter Zulieferindustrien und produktionsnaher Dienstleistungen begünstigen. 80 Derartige positive 78 Zu diesen Fragestellungen der Industrieökonomie und Wirtschaftsgeographie wurden vielfältige Modelle und Theorien entwickelt. Vgl. etwa Tirole, Industrieökonomik, 210 ff. und 611 ff. 79 Vgl. Samuelson, Nordhaus, Volkswirtschaftslehre, 192 f. und 210 ff. 80 Tirole, Industrieökonomik, 611 ff.
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Externalitäten von räumlicher Zusammenballung werden etwa in der Theorie von Produktions-Clusters und Agglomerationseffekten berücksichtigt. 81 Die Differenzierung des Angebots in unterschiedliche Qualitäten erlaubt es, einen möglichst hohen Anteil der Konsumentenrente abzuschöpfen. Würde nur ein homogenes Einheitsprodukt angeboten werden, müßten alle Konsumenten dafür den einheitlichen Marktpreis bezahlen, ganz gleich, ob ihnen das Produkt - oder ein Produkt dieser Gattung - auch -mehr wert wäre oder nicht. Differenziert man das Angebot in unterschiedliche Qualitäten, so kann man bei Nachfragern, denen der entsprechende Konsum sehr wichtig ist, für eine höhere Qualität einen deutlich höheren Preis erzielen. Auf diese Weise kann die Profitabilität von Industrien erhöht werden. 82 Eine derartige Produktdifferenzierung kann durch Werbung und zielgerichtete Investitionen in Forschung und Entwicklung weiter vorangetrieben werden. ad 4. Eintrittsbarrieren Die Zutrittsschranken zu Märkten für neue Wettbewerber werden von vielen Markttheoretikern als zentrale Variable angesehen, die darüber entscheidet, ob sich Marktmacht der Anbieter organisieren kann oder nicht. Jedenfalls ist das Vorhandensein derartiger Barrieren eine conditio sine qua non für Monopole und Oligopole. 83 Zutrittsschranken verhindern, daß neue Mitbewerber auftreten, sobald in einer Branche die Preise über die Kostenpreise steigen, und somit dafür sorgen, daß das Preisniveau wieder auf das Marktpreisniveau absinkt. Niedrige oder gar nicht wirksame entry barriers sind somit die wichtigste Voraussetzung dafür, daß auf einem Markt zumindest warkable competition84 herrscht, das heißt nicht unbedingt vollkommener Wettbewerb, aber doch ein Zustand der diesem in seinen Wirkungen sehr nahe kommt. Ein wichtiger Faktor dafür ist, daß neben der bereits manifesten Konkurrenz stets 81 Gunther Maier, Franz Tödtling, Regional- und Stadtökonomik. Standorttheorie und Raumstruktur, Wien, New York 1995, 108 ff. 82 Vgl. z.B. Porter, Wettbewerbsstrategien, 37 ff. ; Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 279. 83 Ebenda, 17. 84 Ferguson, Ferguson, Industrial economics, 29 f. Wichtige strukturelle Voraussetzungen für eine warkable competition sind eine erhebliche Anzahl von Firmen, von denen nicht eine einizige den Markt dominiert, mäßige Differenzierungen und das Nichtvorhandensein von erheblichen entry barriers. Das Konzept der warkable competiton wurde in den 1930er Jahren von J. M. Clark entwickelt. Vgl. J. M. Clark, Towards a Concept of Workable Competition, in: American Economic Review, 30 (1940), 241-256; derselbe, Competition as a Dynamic Process, Washington, DC, 1961.
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auch mit der potentiellen Konkurrenz gerechnet werden muß, die hinzutreten würde, wenn die Preise erhöht oder andere Determinanten unternehmecischer Entscheidungen verändert werden würden. Zu den in der Literatur immer wieder genannten wichtigsten Eintrittsbarrieren gehören hohe Errichtungskosten, insbesondere im Zusammenhang mit der Ausnutzung von Skaleneffekten, hohe sunk costs, Nachteile von newcomers bei der Aufbringung der erforderlichen Finanzierung, absolute Kostennachteile für Neueinsteiger, Kostennachteile aufgrund von Lernkurveneffekten und Akkumulation von Know-how bei den Altsassen, von den staatlichen Institutionen errichtete Hindernisse, wie Patentrechte, Konzessionszwänge, restriktive Qualifizierungserfordernisse sowie Zölle und andere Formen protektionistischer Außenhandelspolitik und nicht zuletzt Starrheilen in den Beziehungen zu den Kunden. Wenn in einer Industrie die economies of scale sehr stark ausgeprägt sind, und folglich bis zu einer sehr großen Dimension der Betriebe zunehmende Skalenerträge erzielt werden können, sind damit Zutrittsschranken für neue Anbieter verbunden, die unvollkommene Konkurrenz bedingen. 85 Neu eintretende Wettbewerber müssen sehr hohe Errichtungskosten (set up costs) aufbringen, weil bei ausgeprägten economies of scale die minimale effiziente Größe86 von Betrieben sehr groß ist. Wenn die hohen Errichtungskosten eine sachkapitalintensive Produktion mit sich bringen, so werden die Fixkosten einen sehr hohen Anteil an den Gesamtkosten der etablierten Firmen ausmachen. Dies wiederum hat zur Folge, daß die bestehenden Unternehmen mit großem Einsatz ihre Marktanteile gegen Neueinsteiger verteidigen werden, um selbst eine dauerhafte hohe Auslastung erzielen zu können und dadurch ihre Fixkosten auf ein großes Produktionsvolumen aufteilen zu können. Überdies bedingt eine derartige Kostenstruktur, daß gemäß der Betriebsschließungsregel87 die Altsassen ihre Betriebe im Falle eines Preiswettkampfes bis zu einem sehr niedrigen Preisniveau in Betrieb halten werden. Laut dieser Regel ist es erst dann vorteilhafter, einen Betrieb zu schließen als ihn mit Verlusten weiter zu betreiben, wenn die Preise unter die variablen Kosten sinken. Daraus resultiert in Industrien mit einem sehr hohen Fixkostenanteil, daß die etablierten Firmen gemäß dieser Betriebsschließungsregel (zumindest in kurzfristiger Perspektive) einen Preiswettkampf gegen Neueinsteiger bis zu einem äußerst niedrigen Preisniveau durchhalten werden. Folglich verfügen sie über ein höchst eindrucksvolles Drohpotential gegen Vorhaben potentieller Konkurrenten, tatsächlich in derartige Märkte einzudringen. Bei hohen Fixkosten sind dem85 86 87
Tirole, Industrieökonomik, 671. Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 96 ff. Siehe z.B. Samuelson, Nordhaus, Volkswirtschaftslehre, 171.
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gemäß Vergeltungsmaßnahmen gegen Eindringlinge in bereits besetzte Märkte sehr wahrscheinlich. 88 In Industrien, die gemäß der Logik der spezialisierten Massenproduktion Skalenvorteile zu erzielen vermögen, kann in besonders beeindruckendem Ausmaß die Wachstumslogik und kompetitive Überlegenheit von Großunternehmen gemäß dem Konzept des "Modem Industrial Enterprise" von Alfred D. Chandler jr. ausgespielt werden. Chandler führt Wachstumsdynamik und Wettbewerbsstärke derartiger Unternehmen auf drei miteinander eng verbunden Bereiche, in die sie investieren, zurück: große Fabrikationsanlagen für moderne, kostengünstige Massenproduktion, Marketing auf nationalen und internationalen Märkten und den Aufbau eines effizienten, hierarchisch strukturierten Managements, das ein reibungsloses Zusammenspielen der verschiedenen operativen Einheiten eines Großunternehmens gewährleistet. Eine derartige Unternehmensstruktur erlaube es, das Potential der economies of scale voll auszuschöpfen. Weiters sei es damit möglich, economies of scope (Verbundvorteile durch die Erzeugung verwandter Produkte sowie das gute Zusammenspielen verschiedener Untemehmensbereiche) zu erzielen. 89 Diese Palette von möglichen Wettbewerbsvorteilen großer Unternehmen mit hohen Errichtungskosten und hohen Fixkosten führt in den entsprechenden Industrien dazu, daß sich nur eine relativ kleine Zahl von Firmen etabliert, die ihrerseits motiviert sind, gemeinsam in kollusiver Weise ihren Markt gegen entrants zu verteidigen, weil sie selbst zwar effiziente Strukturen aufweisen, aber wegen ihrer Fixkostenbelastung auf eine gute Auslastung ihrer Anlagen angewiesen sind. Dieses Argument gehört zum Standardrepertoire für Untersuchungen, ob Märkte strukturelle Determinanten aufweisen, die es gestatten, Marktmacht zu organisieren. Aus eben diesem Tatbestand lassen sich aber auch gegensätzliche Konsequenzen ableiten. Gerade in jenen Industrien, die mit hohen Fixkosten belastet sind, kann es auch zwischen den Altsassen sehr leicht zu einem scharfen Wettbewerb kommen, eben weil alle eine hohe Auslastung ihrer großen Sachanlagen sicherstellen wollen. Das kann vor allem in Phasen beginnender Rezession dazu führen, daß einzelne Firmen bestehende KartellabkomPorter, Wettbewerbsstrategien, 426. Allgemein zur Chandlerschen Wachstumslogik gemäß den drei miteinander verbundenen Investitionsbereichen siehe Alfred Chandler, Jr., Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge, Mass., London 1994. Speziell zur Bedeutung der Etablierung komplexer Management-Strukturen: derselbe, The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business, Cambridge, Mass., London 1977. 88
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men brechen und vereinbarte Preise unterbieten, um zu einem Zeitpunkt, zu dem das Preisniveau dank bis dahin bestehender Absprachen noch relativ hoch ist, einen möglichst großen Marktanteil zu erobern. Vorhersehbare Strafaktionen in Form eines ungehemmten Preiskrieges durch die anderen Kartellfirmen folgen dann erst in einer Phase des Konjunkturzyklus, in dem das Geschäft ohnehin schon schlechter gehen würde, so daß der kurzfristige Nutzen die längerfristigen Einbußen überwiegt. 90 Dadurch kann die Tendenz von starken Kartellen, konjunkturelle Schwankungen zu glätten, in das genaue Gegenteil kippen. Die Barrierewirkung, die von einer großen minimum efficient scale gegen neue Marktteilnehmer ausgeht, wird vielfach noch durch die größeren Schwierigkeiten bei der Finanzierung derartiger Großinvestitionen für newcomers verstärkt. Wohletablierte Firmen werden in vielen Fällen leichter neues Eigen- und Fremdkapital aufbringen können bzw. Investitionen aus ihren Geschäftsergebnissen finanzieren können, während Neueinsteiger zumeist als weniger kreditwürdig gelten werden und noch nicht über laufende Einnahmen verfügen können. Sie werden tendenziell, sofern es ihnen überhaupt gelingt, ihre Engagements zu ungünstigeren Bedingungen finanzieren müssen. 91 Weitere Kostenvorteile der etablierten Firmen können aus ihrer bisherigen Geschichte resultieren. Sie besitzen womöglich bereits die kostengünstigsten Ressourcen, haben bereits Erfahrungen gesammelt, wodurch sie dank Lernkurveneffekten, unternehmensspezifischen Technologievorsprüngen und dem Aufbau von hochqualifiziertem Humankapital für die Erzeugung von Spezialprodukten einen Vorsprung gegenüber konkurrierenden Anfängern erlangt haben. Auf diese Weise können im Laufe der Geschichte eines Unternehmens alternativ zu den Strategien gemäß den economies of scale auch Wettbewerbsvorteile gemäß den economies of specialization92 akkumuliert werden. 90 Zu dieser Logik, warum insbesondere Kartelle in fixkostenintensiven Industrien zumeist am Beginn einer Rezession zerbrechen siehe etwa Kyle Bagwell, Robert W. Staiger, Collusion Over the Business Cycle, in: The RAND Journal of Economics, 28 (1997), 82-106; Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 285 ff. Zum Druck, wegen hoher Fix- und Lagerkosten die Kapazitäten auslasten zu müssen, siehe auch Porter, Wettbewerbsstrategie, 50 ff. 91 Das heißt, die "Altsassen" werden sich tendenziell eines Wettbewerbsvorteils dank lower-cost finance erfreuen. Ferguson, Ferguson, Industrial Economics, 20. 92 Siehe dazu etwa Nathan Rosenberg, Exploring the black box. Technology, economics, and history, Cambridge, Mass. 1994; derselbe, Capital Goods, Technology, and Economic Growth, in: derselbe, Perspectives on Technology, Cambridge, Mass. 1976, 141-150. Zur Bedeutung von "Flexibler Spezialisierung" als Alternative zur Strategie der Stückkostensenkung durch spezialisierte Massenproduktion gemäß den economies of scale siehe insbesondere Michael J. Piore, Charles F. Sabel,
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Jedenfalls können für die bereits etablierten Firmen aus ihrer Geschichte diverse first mover advantages93 resultieren. Neben den bereits erwähnten Lerneffekten können insbesondere auch Vorsprünge gemäß der Logik der Produktdifferenzierung erreicht worden sein. Für Neueinsteiger kann es sich als äußerst schwierig erweisen, gegen bereits etablierte Marken anzutreten. Dafür werden besonders große Werbeaufwendungen erforderlich sein, die überdies der Kategorie der sunk costs zuzurechnen sind, das heißt jenen Kosten, die bei einem erfolglosen Eintrittsversuch als verloren angesehen werden müssen. ad 5. Organisationsmacht von Banken, Konzernen, etc. Aus finanziellen und personellen Verflechtungen verschiedenster Art zwischen Unternehmern bzw. Unternehmen können organisatorische Zwänge und Anreize resultieren, die wettbewerbsbeschränkendes Verhalten zwischen bereits etablierten Marktteilnehmern fördern, nicht kollusives Verhalten bestrafen sowie Abschreckungswirkungen gegen mögliche neue Wettbewerber entfalten. Als relevante Arten von Verbindungen zwischen Firmen, die ein Vorgehen im gemeinsamen Interesse wahrscheinlich machen, sind vor allem Familiengruppen, mächtige Positionen von zentralen Finanzintermediären, Eigentumsverflechtungen und Strukturen von interlocking directorates zu nennen.94 So können etwa Banken einem Kartell von mehreren Firmen, an denen sie beteiligt sind, oder die sie finanzieren, Festigkeit verleihen, indem sie mittels des Einflusses, den sie als Finanzdienstleister auf diese Unternehmen haben, deren Kartelldisziplin erzwingen. Eigentumsbeteiligungen in verschachtelten Strukturen von Kapitalgesellschaften können es ermöglichen, daß mit einem vergleichsweise geringen Anteil am Gesamtkapital ganze Gruppen von Firmen auf die Verfolgung gemeinsamer Monopolinteressen festgelegt werden. 95 Diese verschiedenen Arten von Einflußnahme auf Firmengruppen manifestieren sich für gewöhnlich auch in einer personellen Verflechtung der Aufsichtsräte und Vorstände. 96
Das Ende der Massenproduktion. Studien über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989. 93 Vgl. etwa Marvin B. Liebennan, David B. Montgomery, First-Mover Advantages, in: Strategie Management Journal, 9 (1988), 41-58. 94 Scherer, Ross, Iudustrial Market Structure and Economic Performance, 65 ff. 95 Resch, Kartelle und Kollusionen, 150. 96 Zu den interlocking directorates in der Österreichischen Industrie- und Bankenwelt vom späten 19. Jahrundert bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts liegt eine umfangreiche neue Untersuchung vor: Peter Eigner, Die Konzentration der Entscheidungsmacht Die personellen Verflechtungen zwischen den Wiener Großbanken und lndustrieaktiengesellschaften, 1895-1940, Dissertation, Wien 1997.
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ad 6. Staatliche Regulierung Auf gesetzlicher Grundlage können Patentrechte, mehr oder weniger restriktive Erfordernisse von Eignungsnachweisen und Konzessionsregelungen erlassen werden. Nicht zuletzt vermögen Schutzzölle und andere Formen protektionistischer Außenhandelspolitik den Konkurrenzdruck auf Märkten spürbar zu vermindern. Bezüglich der Regelung des Patentwesens gibt es eine umfangreiche Literatur, in der abgewogen wird, inwiefern durch die gesetzliche Gewährung von Patentschutz individuelle Anreize für Firmen geschaffen werden, in Innovationen zu investieren und inwieweit gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsverluste dadurch entstehen, daß durch Patentrechte die rasche Diffusion von Innovationen gebremst wird. 97 Gesetze, die Konzessionen oder die Erbringung von formalen Qualifikationsnachweisen als Zugang zu Märkten bzw. für die Ausübung von wirtschaftlichen Aktivitäten verlangen, bilden eine massive Zugangsbarriere. Organisierte Gruppierungen innerhalb der Wirtschaft und Gesellschaft werden daher großes Interesse daran haben, auf diese Kategorien staatlicher Regulierung im eigenen Interesse Einfluß zu nehmen. 98 Genauso verhält es sich bei der Außenhandelspolitik Schon Adam Smith geißelt merkantilistische Außenhandelspolitik als wirtschaftlich schädlich, Monopole als "great enemy to good management" und den "monopolizing spirit of merchants" als "mean rapacity". 99 ad 7. Strukturelle Merkmale der Nachfrage Von der Struktur der Nachfrage bzw. Lieferanten-Kunden-Beziehungen können weitreichende Konsequenzen für die Wettbewerbsintensität auf einem Markt ausgehen.
97 Vgl. Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 246 und 621 ff. mit weiteren Literaturangaben. Klassische Arbeiten dazu sind Fritz Machlup, An Economic Review of the Patent System, Study No. 15 of the Senate Committee on the Judiciary, Subcommittee on Patents, Trademarks, and Copyrights, Washington DC 1958 und Erich Kaufer, The Economics of the Patent System, Chur 1988. 98 Dieser Aspekt der Etablierung von Monopolmacht mag im historischen Kontext allerdings für die Gewerbegeschichte einen größeren Stellenwert gehabt haben als für die Industrie. 99 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, Oxford, New York 1993, Book I, Chapter XI, Part II, 149 und Book IV, Chapter III, Part II, 307.
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Zum Beispiel sind in Industrien, in denen für die Kunden bei einem Wechsel des Lieferanten hohe Umstellungskosten anfallen, die etablierten Firmen in einem gewissen Ausmaß vor neuer Konkurrenz geschützt. 100 Weiters können sich Loyalitäten von zufriedenen Kunden gegenüber ihren langjährigen Lieferanten entwickeln, so daß sie nicht wegen geringfügiger Preisvorteile anderer Bezugsmöglichkeiten sofort die Unsicherheit von Geschäftsbeziehungen mit noch nicht bekannten Partnern auf sich nehmen. Von großem Einfluß auf die Organisierbarkeit von Kollusionen ist die Frage, ob auf einem Markt kleine Verkäufe in großer Zahllaufend abgewikkelt oder sehr große Geschäfte selten getätigt werden. 101 Märkte, in deren Rahmen eine große Anzahl von kleinen Transaktionen stattfindet, von denen jede für sich genommen für keine Firma von wesentlicher ökonomischer Bedeutung ist, werden tendenziell einem vollkommenen Wettbewerb relativ nahe kommen. Von selten und unregelmäßig stattfindenden, sehr großen Transaktionen gehen hingegen ähnliche Wirkungen hinsichtlich der Organisation des Marktes aus, wie von hohen Fixkosten und Skalenerträgen. Die etablierten Firmen werden zum einen geneigt sein, untereinander die seltenen großen Aufträge so aufzuteilen, daß sie ihre Anlagen auslasten können und sie werden trachten, den Markt gegen Neueinsteiger zu verteidigen. Zum anderen wird die Versuchung groß sein, Kartellabkommen zu brechen, ja vielleicht sogar Auftraggeber zu korrumpieren, um einzelne besonders große Aufträge für sich zu gewinnen. Als Beispiel für einen derartig strukturierten Markt ist die Bauindustrie zu nennen. 7. Conduct: Verhalten und Organisationsentwicklung im Zeitablauf
Märkte, auf denen nicht vollkommene Konkurrenz herrscht, sondern die von Oligopolistischen Strukturen oder monopolistischem Wettbewerb gekennzeichnet sind, bieten für die jeweiligen Akteure Spielräume für strategisches Verhalten. Das heißt, die Anbieter sind nicht allein Preisnehmer und Mengenanpasser, sondern sie können vielerlei strategische Entscheidungen hinsichtlich ihrer Unternehmerischen Praxis treffen. Dabei haben sie etwaige Reaktionen ihrer Konkurrenten abzuschätzen und mitzuberücksichtigen, weil das eigene Verhalten in einem unvollkommenen Wettbewerb auch die Rahmenbedingungen für die Mitbewerber beeinflußt. 102
Porter, Wettbewerbsstrategie, 38. Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 306 ff. 102 Als einführende Darstellung dazu siehe Samuelson, Nordhaus, Volkswirtschaftslehre, 189 ff. 100 101
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Wichtige Dimensionen des Verhaltens sind zum Beispiel die Preisgestaltung, Entscheidungen über Investitionen in Produktionskapazitäten, Produktstrategien und Werbung, Entwicklung und Innovationen sowie über juristische Taktiken im Umgang mit den Mitbewerbern, Lieferanten und Kunden.103 Angesichts der strategischen Situation bei nicht vollkommenem Wettbewerb stellt sich überdies die grundsätzliche Entscheidung, ob man mit den anderen Unternehmen im gemeinsamen Interesse der jeweiligen Industrie kooperieren soll, oder ob eine Strategie individueller Profitmaximierung ohne Kooperation mit den anderen Marktteilnehmern vorzuziehen ist. Im Abschnitt über die Marktstruktur wurden bereits die Merkmale, die kollusive Strategien erleichtern, genannt, vor allem hohe Konzentration, Eintrittsbarrieren gegen Neueinsteiger und kooperationsfördernde staatliche Rahmenbedingungen. Die Analyse möglicher Kostenstrukturen hat widersprüchliche Konsequenzen von hohen Fixkosten und ausgeprägten economies of scale für die Neigung zu Kollusionen ergeben. Weiters kann der Bestand von Kollusionen gefährdet sein, wenn es für einzelne Mitglieder leicht möglich und somit verlockend ist, Verstöße gegen Kartellabkommen im Geheimen zu begehen (zum Beispiel kartellvertragswidrige Preisunterbietungen) oder wenn Strafmaßnahmen gegen derartige Verstöße nur mit großer Zeitverzögerung implementiert werden können. Dadurch können Entscheidungssituationen entstehen, in denen der kurzfristige zusätzliche Profit durch Verstöße gegen Kartellreglements die langfristigen Nachteile durch die zu erwartenden Sanktionen (etwa ein Preiskrieg) überwiegen. Gemäß der Annahme, daß Firmen ihren Profit maximieren, muß in derartigen Szenarien mit dem Zerfall von Kartellen gerechnet werden. Weiters können sich unterschiedliche Stadien des Produktzyklus auf die Wahrscheinlichkeit kollusiven Verhaltens auswirken. Insbesondere die sogenannten "kranken Industrien", das sind jene Branchen, die von einem strukturellen Schrumpfungsprozeß erfaßt sind, deren Firmen bei einem Ausscheiden aus dem Markt hohe exit costs zu erleiden hätten und deren Produktionskosten einen hohen Fixkostenanteil enthalten, neigen dazu, anstelle kollusiven Verhaltens eine geradezu mörderische Konkurrenz zu entwikkeln.104 Somit können von Entscheidungen einzelner sowie von internen und externen Veränderungen weitreichende Wirkungen auf das Verhalten der 103 Zu den Dimensionen strategischen Verhaltens auf oligopolistischen Märkten siehe Scherer, Ross, Iudustrial Market Structure and Economic Performance, 4 f. und 412. 104 Porter, Wettbewerbsstrategien, 324 ff.
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Marktteilnehmer und folglich auch auf die strukturellen Rahmenbedingungen einzelner Märkte ausgehen. Wegen all dieser Unsicherheitsfaktoren und Interdependenzen im Zeitablauf reicht es nicht aus, die organisatorischen Strukturen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beschreiben, um das Verhalten der Unternehmen in einer Branche zu analysieren. Vielmehr ist es erforderlich, Verhalten und Organisationsstrukturen über einen längeren Zeitraum hinweg zu untersuchen. Genauso wie die Marktteilnehmer Informationen über das Verhalten ihrer Konkurrenten im Zeitablauf sammeln um diese einschätzen zu können, ist es auch für eine wissenschaftliche Erforschung des Verhaltens von Unternehmen in Marktstrukturen und der Entwicklung allfälliger Kollusionen notwendig, Beobachtungen über einen längeren Zeitraum hinweg anzustellen. Dies ist einer von mehreren guten Gründen, warum in angloamerikanischen wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlungen so häufig die Exclamatio "history matters" zu finden ist. 105 Es liegt eine geradezu unüberschaubar gewordene Fülle von Managementliteratur vor, die sich mit grundsätzlichen strategischen Entscheidungen von Unternehmen befaßt. Die weiteren Ausführungen seien hier aber auf analytische Zugangsweisen konzentriert, die versuchen, aus volkswirtschaftlicher Perspektive die Kalküle von Akteuren im Rahmen von Oligopolistischen Märkten und wettbewerbsbeschränkenden Organisationen systematisch darzulegen. In knappen Zügen seien die zentralen Argumente der Konzeption vom "organisierten Kapitalismus", der "Logik kollektiven Handelns" nach Mancur Olson und einige Grundmuster spieltheoretischer Analyse dargestellt. a) Organisierter Kapitalismus und die historische Rolle der Finanzintermediäre bei der Entwicklung wettbewerbsbeschränkender Strukturen
Das hier knapp präsentierte Analysemuster wurde im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert von Ökonomen, die unter dem Eindruck der damaligen Welle von Kartellierungen, Konzernbildungen und Fusionen standen, formuliert. Sie entwickelten das Paradigma vom Organisierten Kapitalismus aus der Perspektive einer marxistisch inspirierten Sichtweise. Als Begründer dieser Zugangsweise kann der Österreichische Ökonom Rudolf Hilferding genannt werden, der in seinem Buch "Das Finanzkapital" 106 Konzentrations- und Monopolisierungstendenzen unter ausführlicher Berücksichtigung des Kartellwesens untersuchte. Dabei wird den finanzierenden Instituten 105 106
4 Resch
Vgl. z. B. Sutton, Sunk Costs and Market Structure, 205. Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Frankfurt am Main, Köln 1974.
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eine wichtige Rolle im Konzentrationsprozeß zugeschrieben, weil sie im Gegensatz zu individuellen Industriebetrieben nicht an der Maximierung des Profits eines einzelnen Unternehmens selbst, sondern ganzer (möglicherweise branchenbeherrschender) Gruppen interessiert sind. Wenngleich viele spezifisch marxistische Argumente im Werk Hilferdings (wie zum Beispiel die Be- bzw. Verurteilung von Gründergewinnen bei der Umwandlung von Firmen in Aktiengesellschaften 107) von nichtmarxistischen Ökonomen gewiß nicht geteilt wurden, so fanden seine analytischen Argumente hinsichtlich der Konzentrationsprozesse und der übergreifenden ökonomischen Interessen, monopolistische Strukturen zu organisieren, weit über den Kreis marxistischer Wirtschaftswissenschaftler und Historiker hinaus breite Beachtung. 108 Die Vertreter und Vertreterinnen der Schule vom organisierten Kapitalismus beschreiben den Konzentrationsprozeß des Kapitals während der Industrialisierungsphase um 1900 und die Rolle, die die großen Universalbanken dabei gespielt haben. Als grundlegende Beobachtung halten sie fest, daß die neuen Großunternehmen der Industrialisierungswelle um 1900 überwiegend in Form von Aktiengesellschaften gegründet worden sind, die eine erhebliche Ausweitung der Produktionsmenge und der Produktionstiefe im Vergleich zu älteren Unternehmensformen und Betriebsstrukturen ermöglicht haben. Im Zuge der damit verbundenen Zusammenballung von Kapital sei eine neue "Finanzaristokratie" entstanden. 109 In diesem Prozeß ist laut Hilferding die "Befreiung des industriellen Kapitals von der Funktion des industriellen Unternehmers" erfolgt. Diese Beobachtung entspricht ungefähr der in der amerikanischen Literatur beschriebenen "Managerial Revolution", das heißt der Trennung von Eigentümerfunktion und Unternehmerfunktion im Zusammenhang mit der Aufbringung des Eigenkapitals auf Aktienmärkten. 110 Zugleich erlangen Inhaber von Aktienmehrheiten die Kontrolle über das gesamte in Aktiengesellschaften investierte Kapital. Auf diese Weise vermögen relativ kleine Gruppen von Investoren und Finanzdienstleistern die Kontrolle über ausgedehnte Strukturen von Kapitalgesellschaften zu erlangen. Im Interesse dieser Gruppierungen werde die KonzenVgl. ebenda, 136 ff. Vgl. z. B. Heinrich A. WinkZer (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 9), Göttingen 1974. 109 Paul M. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung. Eine analytische Studie über die Prinzipien der Marxschen Sozialökonomie (edition suhrkamp 433), Frankfurt am Main 1970, 300 ff. 110 Vgl. dazu die klassische Studie von Adolf A. Berle, Gardiner C. Means, The Modern Corporation and Private Property. With a New Introducdon by Murray L. Weidenbaum and Mark Jensen, New Brunswick, London 1991. Dieses Werk wurde erstmals 1932 publiziert. 107 108
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tration der Betriebe und Kapitalien immer weiter vorangetrieben, in der Absicht, Organisationsformen zu errichten, die "bewußt auf den Zweck abgestellt sind, die Profite mittels Marktkontrollen monopolistischen Charakters zu erhöhen". 111 Im Zusammenhang mit diesen Organisationsansätzen werden in der einschlägigen Literatur die unterschiedlichen Organisationsformen zur Einschränkung des Wettbewerbes und zur Errichtung von Barrieren gegen outsiders, wie gentelemen 's agreement, Pool, Kartell, Trust, Konzern und Fusion eingehend besprochen. 112 Insbesondere Hilferding schreibt den beteiligten Banken eine zentrale, initiative Rolle bei diesen Organisationsansätzen zu. Er hebt hervor, daß die Banken vielfach an mehreren Unternehmen einer Branche interessiert sind. Aus diesem Grunde entspreche es ökonomisch rationalem Verhalten der Institute, Bestrebungen zur Ausschaltung der Konkurrenz zwischen den betreffenden Unternehmen zu entfalten, damit diese gemeinsam monopolistische Strategien verfolgen und so ihre Profitabilität erhöhen. Daraus resultiere generell eine Tendenz der Banken, in ihren Einflußsphären Monopole zu organisieren. 113 Hilferding schlägt als Terminus für die Bezeichnung der Akteure dieses Monopolisierungsprozesses unter der Vorherrschaft der Banken den Begriff "Finanzkapital" vor. Spätere Autoren teilten grundsätzlich die Sichtweise von der Monopolisierungstendenz im Interesse des konzentrierten Großkapitals. Sie waren aber skeptisch, ob dabei die Banken tatsächlich eine Vormachtstellung gegenüber den Industriellen auf Dauer etablieren würden, wie Hilferding das angenommen hatte. Daher schlug man den allgemeineren Begriff "Monopolkapital" vorY 4 Weiters erkannten die Autoren die zentrale Rolle des Staates bei der Implementierung von Regelungen zur Stärkung der Monopolmacht von inländischen Firmengruppen, speziell durch eine restriktive Regulierung des Außenhandels. Angesichts der Einbeziehung des Staates in die monopolistischen Tendenzen wurde auch der Terminus ,,Staatsmonopolkapitalismus" geprägt. 115 Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, 310. Vgl. Hilferding, Das Finanzkapital, III. Abschnitt und Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, 310 f. 113 Hilferding, Das Finanzkapital, 306 ff. 114 Dieser Terminus wurde von Lenin eingeführt. Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Berlin 1952, 52. Auch Sweezy präferiert den Terminus "Monopolkapital". Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, 316 f. 115 Vgl. Heinrich A. Wink/er, Einleitende Bemerkungen zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus, in: Winkler, Organisierter Kapitalismus, 9-18; sowie Jürgen Kocka, Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? Begriffliche Vorbemerkungen, in: Winkler, Organisierter Kapitalismus, 1935. Es ist hier nicht der Ort, um auf weitere Folgerungen aus diesen Ansätzen, wie die Krisentheorie und Imperialismustheorie der einschlägigen Autoren und Autorinnen einzugehen. 111
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b) Mancur Olsons Logik des kollektiven Handeins
Mit einer gänzlich anderen Sichtweise nähert sich Mancur Olson in seinen Werken "Logik des kollektiven Handelns" und "Aufstieg und Niedergang von Nationen" dem Thema der Entwicklung von kollusiven "Sonderinteressengruppen". Seine Analyse geht aus von einer Mikroökonomie der Entscheidung, ob sich einzelne Akteure in kollusiven Organisationen engagieren oder nicht. Olson wendet sich in seinen Werken gegen einen allzu schlichten Strukturrealismus, gegen die naive Vorannahme, daß Gruppen von Trägem gemeinsamer Interessen tatsächlich plausiblerweise im Sinne dieses gemeinsamen Interesses agieren werden. Er meint vielmehr, es sei realistisch anzunehmen, daß Gruppenmitglieder sich bei der Verfolgung kollektiver Interessen vor allem auf die anderen verlassen oder ihre individuellen Interessen sogar dadurch am besten verfolgen können, daß sie selbst entgegen dem Gruppeninteresse handeln. Als zentralen Ansatz für seine Analyse zieht Olson die Logik von öffentlichen oder kollektiven Gütern heran. 116 Darunter versteht man Nutzen, der für die Nutznießer bereitgestellt wird, ohne daß diejenigen ausgeschlossen werden können, die nichts dazu beigetragen haben. So profitieren etwa vom guten Lohnabschluß einer Gewerkschaft alle Arbeiter und Arbeiterinnen der entsprechenden Branche, egal ob sie selbst Gewerkschaftsbeiträge gezahlt haben oder nicht. Und im Falle von Kartellen profitieren alle Angehörigen einer Industrie davon, wenn von Kartellfirmen das Angebot reduziert und dadurch die Preise erhöht werden, ganz gleich ob die jeweilige nutznießende Firma selbst bei der Angebotsreduktion mitgewirkt hat oder nicht. Aus der Natur der public goods resultiert das sogenannte freerider-Problem. Träger von identischen Interessen werden, wenn sie rationale, individuelle Nutzenmaximierer sind, keine Kosten für ein Verhalten im Sinne des gemeinsamen Interesses auf sich nehmen wollen, wenn sie vom kollektiven Nutzen nicht ausgeschlossen werden können, selbst wenn sie nichts dazu beitragen. So wird auch bei Projekten, ein Kartell zu errichten, jede Firma sich selbst nur des kollektiven Gutes der erhöhten Preise erfreuen wollen und darauf hoffen, daß die Konkurrenten die Lasten der Produktionseinschränkung auf sich nehmen werden. Daher wird tendenziell der zu erwartende gemeinsame Nutzen der Preissteigerung keine hinreichende Grundlage dafür bieten, daß die dafür in Frage kommenden Firmen selbst bei einer ge116 Vgl. Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 10), Tübingen 1968.
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meinsamen Angebotsreduktion mitwirken. In anderen Worten, der kollektive Nutzen wird keine hinreichende Motivation für rationales, freiwilliges Verhalten im Sinne dauerhafter Kollusionen darstellen. Eher werden über den kollektiven Nutzen hinausgehende zusätzliche Vorteile oder Zwänge gegen nichtkooperatives Verhalten bewirken können, daß tatsächlich kollusive Organisationen entstehen. Olson nennt derartige Vorteile, die über den kollektiven Nutzen hinausgehen, "selektive Anreize". Als solche können zum Beispiel Gewerkschaften den beitragzahlenden Mitgliedern Beratungsdienste und günstige Versicherungen anbieten. Bei Kartellen wäre denkbar, daß im Sinne der These vom "Organisierten Kapitalismus" von großen Universalbanken auf von ihnen finanzierte Unternehmen Anreize und Druck ausgehen, erwünschtes Verhalten in puncto Kartelldisziplin zu praktizieren. Manchmal finden sich in der ökonomischen Literatur auch Definitionen des Begriffes "public good", die neben der Aussage, daß Konsumenten nicht von der Nutzung ausgeschlossen werden können, selbst wenn sie nichts dazu beigetragen haben, überdies beinhalten, daß öffentlichen Gütern eine "non-rivalry in consumption" zu eigen sei. Das bedeutet, daß der Konsum des Gutes durch einen Nutznießer nicht den Nutzen für die anderen reduziere. 117 Dies wäre zum Beispiel beim Nutzen eines Leuchtturmes der Fall. Der wird für andere Schiffe nicht dadurch schlechter sichtbar, daß sich bereits ein Schiff an ihm orientiert. Im Falle des Kartellnutzens in Form erhöhter Preise sind diejenigen, die zu dessen Zustandekommen beitragen, aber sogar noch schlechter gestellt, als Bereitsteller eines öffentlichen Gutes im zuletzt genannte Sinn. Die Kartell-Außenseiter können nämlich nicht nur nicht vom Nutzen (Preiserhöhung) ausgeschlossen werden, sondern sogar selbst, indem sie den Markt beliefern, die preissteigemde Wirkung des Verhaltens der Kartellmitglieder mehr oder weniger zunichte machen. Die Problematik, Träger von gemeinsamen Interessen zu motivieren, nicht als freerider zu agieren, sondern sich im Sinne der Gruppe zu engagieren, wird somit noch dadurch verschärft, daß sich individuelle Akteure durch Handeln gegen das Gruppeninteresse einen besonders großen Teil des kollektiven Gutes auf Kosten derer aneignen, die dieses Gut bereitstellen und zugleich auch die Generierung des kollektiven Gutes beeinträchtigen. Für die Organisierbarkeit von Kollusionen spielt laut Olson auch die Gruppengröße eine entscheidende Rolle. 118 In sehr kleinen Gruppen vermag eher der zu erwartende kollektive Nutzen als Anreiz für Verhalten im kolFerguson, Ferguson, Industrial Economics, 140 f. Mancur Olson, Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 42), Tübingen 1991 , 36 ff. 117 118
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lektiven Interesse ausreichen. Bei sehr kleinen Gruppen bringt das Verhalten jedes einzelnen Gruppenmitgliedes wahrnehmbare Auswirkungen auf den gesamten Nutzen mit sich, und folglich auch auf den Teil des Nutzens, der auf das einzelne Mitglied selbst entfällt. Daher geht in dieser Konstellation von der Generierung des kollektiven Nutzens ein relativ großer individueller Anreiz auf jedes einzelne Mitglied aus, sich gruppenkonform zu verhalten. In großen Gruppen hingegen wird der relative Beitrag jedes einzelnen Mitgliedes zum kollektiven Nutzen so gering sein, daß es keinen erkennbaren Unterschied macht, ob es diesen Beitrag leistet oder nicht. Umso mehr fällt der Anteil zusätzlichen Nutzens durch kooperatives Verhalten, der auf das gruppenkonform handelnde Mitglied selbst entfällt, in einer großen Gruppe verschwindend klein aus. Aus diesen Gründen geht insbesondere in großen Gruppen vom kollektiven Nutzen kaum ein Anreiz für individuelles Engagement aus. In kleinen Gruppen kann hingegen selbst der Anteil eines einzigen Gruppenmitgliedes am kollektiven Nutzen so groß sein, daß es, auch wenn die anderen Gruppenmitglieder sich als freerider verhalten, alleine die gesamten Kosten für die Bereitstellung dieses Nutzens trägt. In kleinen Gruppen wird es aber auch leichter möglich sein, die Ausübung von sozialem Druck als selektiven Anreiz einzusetzen und so durch Regeln der Achtung und Ehre die Einhaltung von Spielregeln im Sinne des Gruppeninteresses durchzusetzen. Überdies ist es in kleinen Gruppen eher möglich, so lange mit allen zu verhandeln, bis ein im Gruppeninteresse akzeptables Ergebnis erzielt wird, zu dem alle Mitglieder in einem annehmbaren Ausmaß beitragen. Als Organisationsstruktur, in der die Vorteile der effizienteren Organisierbarkeit kleiner Gruppen mit der potentiell größeren Macht großer Gruppen verbunden werden können, weist Olson auf die sogenannten "föderativen Gruppen" hin.119 Das sind große Organisationen mit vielen Mitgliedern, die in zahlreiche kleinere Untergruppen unter einer gemeinsamen Dachorganisation gegliedert sind. Auf diese Weise können in den Untergruppen die Vorteile kleiner Gruppen genutzt werden (Handhabbarkeit von Verhandlungsprozessen, mehr Motivation für individuelles Engagement) und zugleich kann für übergreifende Anliegen die Macht der gesamten Großorganisation ausgespielt werden. Bei ungleichen Größen der Gruppenmitglieder kann auf wenige oder sogar einzelne große Mitglieder ein so erheblicher Anteil des kollektiven Nutzens entfallen, daß für sie womöglich die Übernahme der gesamten Kosten für das Gruppenhandeln rationalem Verhalten entspricht. Dies ist auch für 11 9
Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, 61.
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kleine Gruppenmitglieder erkennbar. Diese werden somit, wenn sie rational handeln, selbst nichts zu diesem Gruppennutzen beitragen und trotzdem das kollektive Gut mitkonsumieren. Olson nennt das paradoxe Phänomen, daß in derartigen Konstellationen die starken großen Gruppenmitglieder nicht verhindem können, daß die kleinen sich auf ihre Kosten als freerider verhalten, die "Ausbeutung der Großen durch die Kleinen"Y0 Angesichts der vielfaltigen Hindernisse, die der Kartellbildung aus den Widersprochen zwischen individuellem Gewinnstreben und Gruppeninteresse gegenüberstehen, gestalten sich Verhandlungsprozesse zur Gtündung von Kartellen äußerst schwierig. Speziell für kleinere Marktteilnehmer mit einigermaßen kompetitiven Kostenstrukturen besteht der Anreiz, einem Kartell fernzubleiben und zu hoffen, daß es trotzdem von den anderen Konkurrenten gegtündet wird. Wenn diese dann trachten, die Preise zu erhöhen, können die Außenseiter zu Preisen, die über den Kostenpreisen aber unter den Kartellpreisen liegen, große Marktanteile erobern. Den Kartellfirmen bleiben danach nur noch reduzierte Marktanteile, womöglich so kleine Absatzmengen, daß sie diese gemäß den economies of scale nicht mehr kostengünstig erzeugen können. Gemäß dieser Logik werden sich kleinere Marktteilnehmer insbesondere in Spätphasen von Kartellverhandlungen zieren, Lasten für das Funktionieren der im Entstehen begriffenen Kollusion auf sich zu nehmen. Die letzten, die noch nicht beigetreten sind, können mit der Drohung, ein schon weitgehend ausgehandeltes Kartell noch platzen zu lassen, große Zugeständnisse einfordern. Unter diesen Bedingungen wird es eine rationale Verhandlungsstrategie sein, einen unverhältnismäßig großen Anteil an den Vorteilen zu fordern und besonders wenig zum Funktionieren des Kartells beizutragen (z. B. kaum Absatzbeschränkungen zu akzeptieren). 121 Je größer die Zahl der Konkurrenten in einem Oligopol ist, desto schwieriger werden sich die Verhandlungen gestalten. Wenn die Kartellverhandlungen an Details zu scheitern drohen, werden die Verhandler auch dazu neigen, eher unscharfe Bestimmungen zu akzeptieren, und erst später Konflikte auszutragen, um nicht sofort das Vorhaben scheitern zu lassen. Daher werden Kartelle, die von Beginn an nicht sehr fest gefügt sind, nicht allen Firmen genau definierte Produktionsmengen oder -quoten zuweisen, sondern eher nur gemeinsame Preisregelungen vorsehen. 122 Kartelle als kollektive Monopole versuchen die Profitabilität der Mitgliedsunternehmen zu erhöhen, indem sie die Konsumentenrente durch monopolistische Preispolitik reduzieren, wobei sie auch gesamtwirtschaftliche 120 121 122
Ebenda, 26 ff. Olson, Aufstieg und Niedergang, 70 ff. Ebenda, 74.
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A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
Einbußen in Kauf nehmen. Olson bezeichnet generell Organisationen mit dem Ziel, durch Umverteilung von der Gesamtwirtschaft und auf Kosten der Effizenz der Gesamtwirtschaft Vorteile für die eigene Gruppe zu erlangen, als Sonderinteressengruppen. Gemäß dieser Definitionen sind Kartelle typische Beispiele für Sonderinteressengruppen. Da sich kleine Gruppen leichter und somit rascher als große organisieren können, werden diese als Sonderinteressengruppen eine überproportionale Wirkung entfalten können. Dies steht im Einklang mit der Beobachtung, daß Oligopolistische Märkte mit nur wenigen Teilnehmern tendenziell am leichtesten als kollektives Monopol organisiert werden können. Sonderinteressengruppen werden, sobald sie groß genug sind, um ihre Ziele erreichen zu können, trachten, den Zutritt weiterer Mitglieder zu unterbinden, um den gemeinsamen Umverteilungsnutzen nicht mit mehr Mitgliedern als unbedingt notwendig teilen zu müssen. Das heißt, sie werden zu einer "exklusiven Gruppe". Oligopolisten, die in einem Kartell organisiert sind, werden gemäß dieser Logik, zumindest wenn sie gemeinsam den jeweiligen Markt kosteneffizient bedienen können, versuchen, entry barriers gegenüber möglichen neuen Konkurrenten zu errichten. Da Sonderinteressengruppen nicht primär an der Effizienz der Gesamtwirtschaft, sondern vor allem an ihrem eigenen Vorteil interessiert sind, werden sie auch trachten, durch entsprechendes Lobbying Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihrem Gruppenegoismus dienen. Wegen all dieser Gründe wird eine Wirtschaft, die in einem starken Ausmaß von Sonderinteressengruppen geprägt ist, weniger effizient sein, als eine Wirtschaft im vollkommenen Wettbewerb. Und einmal bestehende Sonderinteressengruppen werden unter stabilen Rahmenbedingungen eine relativ große Beharrungskraft entwickeln. Ist erst einmal die schwierige Phase der Gründung überwunden, so wird sich durch die Ausbildung von Bürokratie, feststehende Geschäftsusancen, akzeptierte Faustregeln des Zusammenwirkens etc, tendenziell eine zunehmende Festigkeit kollusiver Strukturen herausbilden. Die Beeinträchtigung der gesamtwirtschaftlichen Effizienz durch Sonderinteressengruppen wird allerdings durch zwei gewichtige Argumente in 01sons Analyse wiederum ganz erheblich relativiert. Zum einen durch die dargestellten großen Schwierigkeiten, derartige Organisationen überhaupt zu etablieren. Zum anderen durch die Beobachtung, daß sich die negativen, effizienzmindernden Wirkungen umso mehr verringern, je größer und umfassender die Sonderinteressengruppen werden. Zum Beispiel wird eine kleine Gewerkschaft, wenn sie nur im Interesse einer sehr spezifischen Arbeitergruppe agiert, zur Erzielung von Umverteilungswirkungen zugunsten ihrer Gruppe auch Maßnahmen, die für die Gesamtwirtschaft sehr abträg-
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lieh sind, nicht ausschließen. Da die eigene Gruppe sehr klein ist, wird auch der Anteil von negativen gesamtwirtschaftlichen Folgewirkungen etwaiger Maßnahmen, der auf sie selbst entfällt, sehr klein sein. Ihrem gruppenspezifischen Nutzenkalkül kann es somit durchaus entsprechen, erhebliche gesamtwirtschaftliche Schäden in Kauf zu nehmen, wenn die erzielten Umverteilungswirkungen den auf die eigene Gruppe entfallenden kleinen Anteil der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsverluste überwiegen. Eine Gewerkschaft, die hingegen alle unselbständigen Erwerbstätigen eines Landes vertritt, muß bei ihren Maßnahmen stets die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen mitberücksichtigen. Auf die große Gruppe der von ihr Vertretenen entfällt nämlich ein sehr großer Teil der negativen Konsequenzen einer allfälligen Störung der Gesamtwirtschaft durch etwaige Kampfmaßnahmen. Diese können daher leicht die erzielbaren Umverteilungserfolge überwiegen. Daher wird zum Beispiel eine Lastwagenfahrergewerkschaft eher bereit sein, die Wirtschaft eines Landes vorübergehend lahmzulegen, um für sich selbst Zugeständnisse durchzusetzen, auch wenn dadurch Lohnarbeiter in anderen Industrien durch Betriebsschließungen vom Verlust ihrer Arbeit bedroht werden, als eine Gewerkschaft, die alle unselbständig Erwerbstätigen eines Landes umfaßt. Analog zu diesem Beispiel läßt sich zeigen, daß auch bei Monopolen von Anbietern die negativen Effizienzeffekte umso geringer werden, je umfassender die Organisationen sind. Es wurde schon anband der neoklassischen Kritik an Monopolen gezeigt, daß zum Beispiel Industrien in aufeinander abfolgenden Verarbeitungsschritten besonders ineffizient arbeiten werden, wenn jede Stufe für sich in einem Monopol, das mit den anderen Stufen nicht kooperiert, organisiert ist. Erfolgt hingegen die Zusammenfassung in einem vertikal integrierten, umfassenden Monopol, so werden die Effizienzverluste im Vergleich zur vollkommenen Konkurrenz weitgehend reduziert. c) Spieltheoretische Analysemuster
Wie am Beginn der Ausführungen über conduct bereits bemerkt wurde, sind oligopolistische Marktkonstellationen Strukturen, die Spielräume für strategisches Verhalten der Akteure offenlassen, die mit ihren Handlungen die Rahmenbedingungen für ihre Konkurrenten mit beeinflussen und bei ihren Entscheidungen etwaige Reaktionen der Mitbewerber abschätzen und mitberücksichtigen müssen. Die Spieltheorie befaßt sich mit der Art und Weise, wie zwei oder mehr Akteure im Rahmen von strategischen Situationen ihre Handlungen und Strategien wählen, die auf alle Teilnehmer Auswirkungen haben. Es liegt daher nahe, die Spieltheorie für die Analyse des Verhaltens von Akteuren auf Märkten mit unvollkommenem Wettbewerb zu verwenden. 123
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Die Grundmuster der Spieltheorie lassen sich auf einfachste Weise anband eines Spiels mit zwei Spielern und einem Durchgang bzw. einer Runde illustrieren. Als Mittel zur Darstellung möglicher Spielergebnisse dient eine Auszahlungsmatrix (Payoff table). In diese Matrix werden die möglichen Ausgänge des Spieles für alle möglichen Strategien, die die Spieler wählen können, eingetragen. Die Zahlenwerte geben die Auszahlung der beiden Spieler bei jedem möglichen Ausgang des Spieles an, die erste Zahl für den Spieler I, die zweite Zahl für den Spieler II. Die Summe der beiden Auszahlungsergebnisse in jeder Zelle der Auszahlungsmatrix ist gleich dem Gesamterfolg, den beide Spieler zusammen erzielen. Tabelle 1 Auszahlungsmatrix für ein Wettbewerbsspiel
Spieler I
Spieler II
A
B
A
515
0/6
B
6/0
111
Dieses Beispiel ist entnommen: Davis, Spieltheorie für Nichtmathematiker, 92.
Die Auszahlungsmatrix gibt Auszahlungswerte an, die etwa einem Spiel von zwei symmetrischen Konkurrenten auf einem duopolistischen Markt entsprechen könnten. Beiden Anbietern steht die strategische Entscheidung offen, entweder die Waren zum Monopolpreis anzubieten (= Strategie A) oder zu einem Preis nahe den eigenen Kosten (= Strategie B). Die Auszahlungsmatrix, die aus vier Feldern besteht, beinhaltet alle möglichen Kombi123 Deshalb findet sich auch eine knappe Einführung in die Spieltheorie in Samuelson, Nordhaus, Volkswirtschaftslehre, 236 ff. Eine wesentliche Grundlage für die Anwendung der Spieltheorie als Analyseinstrumentarium für ökonomische Fragestellungen wurde mit dem Werk von lohn v. Neumann, Oskar Morgenstern, The Theory of Games and Economic Behaviour, Princeton 1944 geschaffen. Vgl. dazu Urs Rellstab, New lnsights into the Collaboration between John von Neumann and Oskar Morgenstern on the Theory of Games and Econornic Behaviour, in: Roy Weintraub (Hrsg.), Toward a History of Game Theory (Annual Supplement to Vol. 24, History of Political Economy), Durham, London 1992, 77-93. Als allgemeine Einführungen in die Spieltheorie, die auch die Grundlagen für die hier folgenden Ausführungen bilden, seien genannt: Avinash Di.xit, Barry Nalebuff, Thinking Strategically, New York 1991; Morton D. Davies, Spieltheorie für Nichtmathematiker, München 1999; Christian Rieck, Spieltheorie. Einführung für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Wiesbaden 1993.
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nationen von Strategien der beiden Konkurrenten und die jeweiligen Auszahlungen (= Geschäftsetfolge). Das Feld links oben gibt die Auszahlungsetfolge der Spieler an, wenn sich beide dafür entscheiden, ihre Waren zum Monopolpreis anzubieten. Sie würden dann beide fünf Einheiten, zusammen 10 Einheiten ausbezahlt bekommen. Beiden Spielern steht aber die Möglichkeit offen, wenn sich der andere für den Monopolpreis entschieden hat, selbst nur den niedrigeren Preis zu verlangen (Strategie B) und so den Markt weitgehend für sich zu erobern (Strategie B bei Strategie A des Gegners). Entsprechende Auszahlungsergebnisse sind in den Feldern links unten und rechts oben angegeben. Dabei würde jeweils der Konkurrent, der sich für Strategie B entschieden hat, eine noch höhere Auszahlung erlangen, als wenn beide zu Monopolpreisen verkaufen. Derjenige, der sich darauf einläßt, zu Monopolpreisen anzubieten, würde seine Marktanteile weitgehend verlieren, seine Auszahlung würde auf null abfallen. Dadurch wäre zwar die Gesamtauszahlung für beide Spieler geringer als im Falle des Monopols, derjenige, der den Monopolpreis unterschreitet, würde aber selbst eine noch höhere Auszahlung erzielen. Nimmt man an, daß die Spieler gewinnoptimierende Unternehmer sind, so werden sie allein an einer möglichst hohen eigenen Auszahlung und nicht an der Gesamtauszahlung interessiert sein. Ein derartiges Spiel nennt man ein nicht kooperatives Spiel. Gemäß den Auszahlungsverteilungen, wie sie die Auszahlungsmatrix enthält, schneidet jeder der beiden Spieler in allen möglichen Fällen besser ab, wenn er sich für die Strategie B (Preis nahe dem Kostenpreis) entscheidet als wenn er Strategie A (Monopolpreis) wählt. Für beide Spieler ist somit Strategie B die dominante Strategie. Daraus resultiert, daß dieses Spiel eine stabile Lösung hat, die den dominanten Strategien beider Spieler entspricht, nämlich das Feld rechts unten mit der Auszahlung I für jeden der beiden Spieler. Diese Lösung ist zugleich ein nicht-kooperatives Gleichgewicht oder Nash-Gleichgewicht - kein Spieler kann bei gegebener Strategie des anderen Spielers seine eigene Auszahlungsfunktion verbessern. Die Spielkonstellation, in der das nutzenmaximierende, nichtkooperative Verhalten jedes einzelnen Mitspielers zu einem Ergebnis führt, das für die Spieler schlechter ist als das kooperative Spielergebnis, nennt man nach einem berühmten Gedankenexperiment, in dem eine derartige Spielsituation formuliert wurde, Gefangenendilemma. 124 124 Diese Spielsituation heißt deswegen Gefangenendilemrna, weil es anband von folgendem Gedankenexperiment entwickelt wurde: Zwei Gefangene sitzen in getrennten Räumen und werden wegen eines Raubüberfalles, bei dem jemand getötet wurde, verhört. Jeder Beschuldigte hat die Wahl, alles zu bestreiten oder die Teilnahme zuzugeben, aber zu behaupten, der andere habe den Mord verübt. Wenn beide alles bestreiten, werden beide nur zu einem Jahr Gefangnis wegen unerlaub-
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Nach der Logik, Auszahlungsergebnisse für die Beteiligten bei den möglichen Strategien zu berechnen, wurden zahlreiche spieltheoretische Modelle für oligopolistische Märkte entwickelt. Man griff dafür zum Beispiel Zugangsweisen auf der Grundlage des Cournotsehen Dyopols (Mengenanpasser), des Bertrand-Gleichgewichts (Preisanpasser, wie im obigen Beispiel) und einer Kostenführerschaft gemäß den Überlegungen von Stackelberg auf. Davon ausgehend wurden komplexe modellhafte mathematische Überlegungen konstruiert, die es erlauben, eine Vielzahl von zum Teil nur geringfügig unterschiedlichen Vorannahmen durchzuspielen. A priori erscheinen viele dieser spieltheoretischen Modelle als gleich plausibel. Allerdings erbringen oft selbst sehr ähnliche Modelle gänzlich unterschiedliche Ergebnisse, die als Gleichgewichte angesehen werden können. Die Gleichgewichtsergebnisse bei verschiedenen Spielen mit Preisanpassung reichen zum Beispiel vom Wettbewerbspreis bis zum Monopolpreis. Somit erweisen sich spieltheoretische Analysen zwar als sehr nützlich, um eine große Bandbreite von beobachtbaren Phänomenen analysieren zu können. Zugleich trifft jedoch nach wie vor wegen der instabilen Ergebnisse spieltheoreti-
ten Waffenbesitzes verurteilt. Wenn einer der beiden gesteht, aber den Mord dem anderen zuschreibt und der andere alles bestreitet, so wird der Geständige als Zeuge der Anklage freigelassen, der andere zu 20 Jahren Haft verurteilt. Gestehen beide, so kann man nicht bestimmt einem von ihnen den Mord zuweisen, und beide fassen je fünf Jahre Gefängnis aus. Die Auszahlungsmatrix dieses "Gefangenendilemmas" sieht also wie folgt aus: Tabelle 2 Auszahlungsmatrix für das Gefangenendilemma Gefangener I
Gefangener II
gestehen
nicht gest.
gestehen
5 J./5 J.
20 J./Freilassg.
nicht gest.
Freilassg./20 J.
1 J./1 J.
Bei dieser Spielkonstellation wäre das kooperative Spielergebnis jenes mit der besten Gesamtauszahlung (nämlich der geringsten Zahl an Jahren Gefängnisstrafe für beide Gefangene) das Resultat im Feld rechts unten. Wenn beide nicht gestehen, müßte jeder nur ein Jahr lang sitzen, die Zahl an Jahren Haftstrafe, zu der beide zusammen verurteilt würden, läge nur bei zwei Jahren. Diese Strategie birgt aber für jeden die Gefahr, zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt zu werden, wenn der andere doch gesteht. Gleichzeitig würde der jeweils andere durch die Nicht-Kooperation seine "Auszahlung" weiter verbessern, nämlich zu gar keiner Haftstrafe verurteilt werden. In diesem Fall wäre somit die dominante Strategie, zu gestehen. Diese hätte aber für beide Gefangenen eine Verurteilung zu fünf Jahren anstelle von einem Jahr Gefängnisaufenthalt zur Folge.
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scher Modeliierungen für diesen Zugang die etwas spöttische Anmerkung zu, "With oligopoly, anything can happen" 125 . Trotzdem lassen sich für eine wirtschaftshistorische Untersuchung von Kartellen wertvolle Amegungen aus der spieltheoretischen Analyse gewinnen. Es erscheint grundsätzlich als plausibel, gemäß der Spieltheorie Kartelle bzw. alle Formen von Kollusionen als Versuche anzusehen, das Gefangenendilemma durch Kooperation zu überwinden. Kartelle sind demgemäß für die beteiligten Firmen zusammen stets vorteilhaft, 126 für jede einzelne Firma kann es aber noch vorteilhafter sein, selbst nicht am Kartell teilzunehmen oder es zu beschummeln. Besonders interessiert für die historische Untersuchung, wie es unter Firmen im Laufe der Zeit doch zu Kooperation, also kollusivem Verhalten, kommen kann. Dabei ist davon auszugehen, daß sie individuelle Gewinnmaximierer, somit von vomherein nicht kooperativ sind und daß die Spiele im permanenten Wirtschaftsprozeß oft wiederholt bzw. über viele Runden hinweg ausgetragen werden. Gemäß der Spieltheorie befinden sich die players auf einem Oligopolistischen Markt in einer strategischen Situation mit asymmetrischer Information. Über sich selbst verfügen sie über alle relevanten Informationen, bei der Einschätzung der anderen Spieler müssen sie hingegen mit Unsicherheiten und mangelnder Information umgehen. In derartigen Spielsituationen senden alle Teilnehmer bewußt an die anderen Informationen über sich selbst aus. Überdies sind auch ihre Spielhandlungen (im Falle von Kartellen die Entscheidungen der Kartellfirmen) für das Geschehen nicht nur gemäß der kaufmännischen Wirkung für die jeweiligen Unternehmen selbst von Relevanz, sondern sie beinhalten auch informative Signale über die Spieler und werden daher von den anderen in dieser Hinsicht interpretiert. Alle Spieler sammeln auf diese Weise im Laufe der Geschichte des Spieles Informationen über die Konkurrenz, im Bestreben die Unsicherheit hinsichtlich des Verhaltens der anderen zu reduzieren. Wichtige Grundlagen, nach denen die players einander beurteilen, sind die reputation, die die einzelnen Teilnehmer aufgrund ihres bisherigen Verhaltens erworben haben, und das commitment, das sie eingegangen sind, das heißt, die Selbstbindung, vereinbarte oder angedrohte Strategien tatsächlich durchzuhalten, beziehungsweise bestimmte Strategien nicht anzuwenden. Sutton, Sunk Costs and Market Structure, XIII. Wilhelm Krelle, Volkswirtschaftliche Kriterien zur Beurteilung von Kartellen, in: Hans-Heinrich Barnikel, Theorie und Praxis der Kartelle (Wege der Forschung, CLXXIV), Darmstadt 1972, 251 . 125 126
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Eine gewisse Berechenbarkeil der Mitspieler ist für kooperative Strategien unerläßlich, denn bei der Zusammenarbeit in einem Szenario gemäß dem Gefangenendilemma setzen sie sich dem Risiko aus, daß Konkurrenten das kooperative Verhalten mißbrauchen, um sich selbst auf Kosten des kooperativen Spielers durch Schwindel oder vereinbarungswidriges Verhalten noch größere Vorteile zu verschaffen. So können sie zum Beispiel Kartellverträge brechen. Es sei hier an das Opportunismusproblem erinnert, das bereits im Abschnitt über die Transaktionskosten behandelt wurde. Empirische Untersuchungen im Rahmen von kontrollierten Experimenten haben ergeben, daß sich in oft wiederholten Spielen, die nach der Logik des Gefangenendilemmas aufgebaut sind, unter Umständen doch auch Strategien der Kooperation durchsetzen können. Zum Beispiel lud der Politikwissenschaftler Robert Axelrod für ein Forschungsprojekt Theoretiker ein, Strategien für das Verhalten in derartigen Spielen auszuarbeiten. 127 Das Ziel der Spieler war, im Rahmen eines Wettbewerbes in einem Spiel mit sehr vielen Runden die größte gesamte Auszahlung zu erzielen. Als erfolgreichste Strategie erwies sich Anatol Rapoports "Tit-for-Tat"-Strategie: Kooperiere bei dem ersten Zug, danach tue, was der andere Spieler beim jeweils vorhergehenden Zug getan hat. Gemäß dieser Strategie geht ein Spieler somit auf jedes Kooperationssignal selbst mit Kooperation ein, antwortet aber auf ein Abgehen davon selbst auch mit nichtkooperativem Verhalten. 128 Beginnt der Spieler mit der Tit-for-Tat-Strategie, so wird er zuerst mit einem kooperativen Zug eröffnen. Setzt sein Gegenspieler grundsätzlich auf eine nichtkooperative Strategie ("always defect"), so wird sich der Tit-forTat-Spieler ab der zweiten Runde auch stets nicht kooperativ verhalten. Seine Gesamtauszahlung wird nur geringfügig niedriger sein als jene des grundsätzlich nicht kooperativen Spielers, dafür hat er sich immerhin in der ersten Runde die Möglichkeit für kooperatives Vorgehen offengehalten. Erweist es sich, daß der andere Spieler darauf einsteigt, so werden beide höhere Auszahlungen als bei nichtkooperativer Spielweise erzielen können. Gemäß der Tit-for-Tat-Logik in wiederholten Spielen können zum Beispiel Firmen auf oligopolistischen Märkten mit vorsichtigen Signalen eine Verschiebung der Preise in Richtung Monopolpreise andeuten, daß sie zu einem kooperativen, monopolistischen Verhalten bereit wären. Andere können darauf einsteigen, ohne daß es zu formellen Preisabsprachen kommen muß. Dadurch können sich tacit collusions (eine Praxis spontaner, stillschweigender Kooperation) ergeben. Die Erfolgsaussichten der Tit-for-Tat-Strategie sind jedoch recht eingeschränkt. Sie wird nur in relativ kleinen Schritten zur Kooperation führen 127 128
Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Economic Performance, 216 ff. Vgl. Dixit, Nalebuff, Thinking Strategically, lOS ff.
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können und auch nur in Fällen, bei denen die Zusammenarbeit nicht mit allzu großen Risiken des Mißbrauchs verbunden ist, funktionieren. Damit risikoreichere, somit ergebnisrelevantere Kooperationen zustande kommen können, sind ausreichende Vertrauensbildung und Drohpotentiale zur Durchsetzung von Vereinbarungen erforderlich. Die Firmen in einem Oligopol werden nachhaltig eine reputation als verläßliche Kooperationspartner aufbauen müssen. Und vor allem werden sie Selbstbindungen vorweisen müssen, die ihr commitment glaubwürdig machen, daß sie kooperativ handeln werden, Strafmaßnahmen gegen abweichende Konkurrenten mittragen und eine hinreichende Abschreckungswirkung gegen Außenseiter entfalten können. Selbstbindung zur Kooperation kann zum Beispiel erfolgen, indem man sich im Rahmen eines Kartells einem gemeinsamen Schiedsgericht unterstellt oder erhebliche Geldsummen bzw. Wechsel hinterlegt, auf die die Konkurrenten im Fall eines Regelverstoßes zugreifen. Auch von einer intensiven Verflechtung der Geschäftstätigkeit, z. B. durch gemeinsamen Verkauf in einem Syndikat oder durch einen Technologiepool, wird eine gewisse Bindewirkung im Hinblick auf vereinbarungsgemäßes Verhalten ausgehen. Als commitment im Hinblick auf Strafmaßnahmen gegen vertragsbrüchige Partner und zur Abschreckung von Außenseitern werden zum Beispiel große spezifische Investitionen in Produktionskapazitäten wirken. Diese versetzen die Altsassen technisch in die Lage, jederzeit einen Preiskrieg aufnehmen zu können. Große spezifische Investitionen bedingen auch, daß bei einem Marktaustritt erhebliche sunk costs verlorengehen. Dadurch brechen die Unternehmen praktisch die Brücken für einen Rückzug aus ihrem Markt ab, wodurch eine erhebliche Bindewirkung gegeben ist, diesen in jedem Fall verteidigen zu müssen. Weiters werden auch in den Bilanzen ausgewiesene erhebliche flüssige Mittel, die man jederzeit als "Kriegskasse" einsetzen könnte, eine Droh- und Abschreckungswirkung entfalten. Wegen der strategischen Zwänge, die dem Unternehmerischen Handeln in derartigen "Spielen" auferlegt sind, können die Firmen nicht allein gemäß wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit im engsten Sinne agieren. Vielmehr müssen sie immer die Signalwirkungen ihrer Entscheidungen und ihres Handeins mitberücksichtigen und auch in diese investieren. Neben Investitionen gemäß den Erfordernissen der Unternehmensentwicklung müssen weiters Investitionen in reputation und commitment und damit zusammenhängende Informations- und Desinformationsbemühungen getätigt werden. Dadurch werden die entsprechenden Kapitalien jedoch alternativen Verwendungen, in denen sie mehr zur Wohlfahrtsmehrung beitragen würden, entzogen.
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Zusammenfassend ist somit festzuhalten, daß Kollusionen nach Sichtweise der Spieltheorie wegen der Risiken, die mit Kooperation gemäß dem Gefangenendilemma verbunden sind, nur sehr schwer zustandekommen und tendenziell fragil sein werden. Vermögen sie sich trotzdem zu etablieren, so können sie positive Auswirkungen auf die Effizienz der beteiligten Firmen durch Kosteneinsparungen im Rahmen der Kooperation mit sich bringen (etwa durch Technologiepools, die Mehrfachentwicklungen ersparen, durch kostengünstige Aufteilung von Märkten oder die Einsparung von Transaktionskosten durch Austauschbeziehungen im Rahmen von festgefügten Organisationen). Auf der Seite der negativen Einschätzungen sind neben den bekannten wohlfahrtsmindernden Auswirkungen von monopolistischen Kollusionen für die Gesamtwirtschaft als weitere effizienzmindernde Faktoren die erforderlichen unproduktiven Investitionen in reputation und commitment anzuführen, die der Aufrechterhaltung von Kooperationen und der Abschreckung von potenziellen Konkurrenten dienen. 8. Performance
Unter dem Begriff performance im weitesten Sinne versteht man, inwieweit die Aktivitäten der Unternehmen auf einem Markt die ökonomische Wohlfahrt fördern oder nicht. 129 Um diese Fragestellung operationalisieren zu können, muß man sie in mehrere Teilaspekte unterteilen. 130 Damit man von einer wohlfahrtsmehrenden perfonnance sprechen kann, muß eine Industrie erstens effizient produzieren, das heißt Ressourcen müssen ökonomisch eingesetzt werden und der output hat den Markt- bzw. Konsumbedürfnissen zu entsprechen. Zweitens soll sie zum langfristigen Wachstum beitragen, drittens die Vollbeschäftigung und Auslastung der Ressourcen gewährleisten und viertens eine gesellschaftlich als gerecht empfundene Einkommensverteilung mit sich bringen. Der Begriff perfonnance in diesem Sinne urnfaßt somit sowohl unternehmens- und industriespezifische Merkmalsausprägungen als auch gesamtwirtschaftliche Wirkungen. Zur Messung von performance gehört die Erhebung des wirtschaftlichen Erfolges von Unternehmen einer Branche, aber auch die Einschätzung, wie weit diese Industrie gemäß ihren Voraussetzungen und Potentialen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beiträgt. Eine wesentliche Grundlage für die Beurteilung der performance einer Industrie ist die Untersuchung ihrer Profitabilität. Dafür bieten sich laut der einschlägigen Fachliteratur vier Zugangsweisen 131 an: Erstens die UntersuFerguson, Ferguson, Industrial Econornics, 15. Zu den folgenden vier Punkten siehe Scherer, Ross, Industrial Market Structure and Econornic Performance, 4. 129
130
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chung, inwieweit exzessive Profite, gemessen am Umsatz, erzielt werden, zweitens Erhebungen der Profitabilität anband von Bilanzdaten, drittens Untersuchungen gemäß dem Lerner-Index 132 oder dem price-cost margin 133 und viertens eine Darstellung der Entwicklung des Marktwertes von Firmen (Börsenwertes ihrer Aktien) im Vergleich zum Wiederbeschaffungswert ihrer Vermögensbestandteile 134. Die Anwendung der empirischen Zugangsweisen ist vor allem durch das Problem limitiert, zuverlässige, aussagekräftige Daten zu finden. Diese Einschränkung ist bei historischen Arbeiten in einem noch schwerer wiegenden Ausmaß gegeben als bei ökonomischen Untersuchungen von aktuellen Entwicklungen, für die die Ergebnisse des modernen statistischen Erhebungswesens zur Verfügung stehen. Sowohl für ökonomische als auch für wirtschaftshistorische Untersuchungen erweist sich die Interpretation von Unternehmensbilanzen als gangbarer Weg. Die historische Bilanzanlayse gehört zu den etablierten Werkzeugen wirtschaftsgeschichtlicher Forschung. 135 Freilich kann man dabei nicht einfach Methoden der Auswertung, wie sie auf aktuelles Material angewandt werden, unkritisch heranziehen; vor allem deswegen, weil sich die Methoden der Bilanzierung und die Vorschriften für die Bilanzerstellung in den letzten 150 Jahren weitgehend gewandelt haben. Trotz dieser Einschränkungen können Bilanzen Auskunft über die Profitabilität geben, indem man zum Beispiel den Gewinn in Relation zum Aktienkapital oder zum Eigenkapital setzt. Weiters wäre es denkbar, sofern die entsprechenden Daten zur Verfügung stehen, eine Gesamtkapitalrentabilität zu bestimmen, indem man das Verhältnis des Gewinns und der Zinszahlungen zum Gesamtvermögen bzw. Gesamtkapital berechnet. Empirische Untersuchungen haben ergeben, daß die unterschiedlichen, auf verschiedene Weisen aus Bilanzen errechneten Ergebnisse der Profitabilität zueinander sehr hoch karreliiert sind. 136 131 Vgl. z. B. Richard Schmalensee, lnter-lndustry Studies of Structure and Performance, in: Richard Schmalensee, Robert D. Willig (Hrsg.), Handbook of Industrial Organization (Handbook in Economics, 10), Band 2, Amsterdam u. a. 1990, 960 f. 132 Der Lerner-Index gibt den Quotienten aus dem Preis minus Grenzkosten zum Preis an. Ist der Preis identisch mit den Grenzkosten (wie dies für Märkte mit vollkommener Konkurrenz angenommen wird), so beträgt der Indexwert null, nähert er sich dem Wert eins, so kann dies als Indiz für Marktmacht und monopolistische Umverteilung gedeutet werden. 133 Verkaufserlöse abzüglich variable Kosten (Material- und Lohnkosten) dividiert durch die Verkaufserlöse. 134 Diese Berechnung wird auch Tobin's q genannt, nach dem bekannten Ökonomen James Tobin. 135 Siehe dazu insbesondere Alois Mosser, Die Industrieaktiengesellschaft in Österreich 1880-1913. Versuch einer historischen Bilanzanalyse, Wien 1980.
5 Resch
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Das legitimiert, daß man für wirtschaftshistorische Arbeiten angesichts der notorisch prekären Datenlage nach Möglichkeit jene Berechnungsmethoden wählt, für die für einen möglichst großen Anteil der zu untersuchenden Fälle gleichartiges Datenmaterial zur Verfügung steht, um zu vergleichbaren Ergebnissen zu gelangen; dies selbst um den Preis, daß man nur einfache Berechnungen anstellen kann. Eine auf zuverlässigen Daten beruhende Berechnung des Lerner-Index, von price-cost margins oder auch des Marktwertes (Börsewertes) von Unternehmen im Verhältnis zum Wiederbeschaffungswert ihrer Vermögen wird angesichts der Datenlage nicht möglich sein. Allerdings wäre denkbar, als Substitut für die Berechnung eines Lerner-Index einen Vergleich der Irrlandspreise mit den Exportpreisen heranzuziehen. Bei aller gebotenen Vorsicht der Interpretation können Exportpreise als (gewiß unscharfe) Indikatoren für die Weltmarktpreise und somit womöglich auch für weltweite Kostenpreise angesehen werden. 137 Als interpretationsbedürftige Indikatoren für die gesamtwirtschaftliche Effizienz einer Industrie können Entwicklungen von Preisen und Mengen im Zeitablauf herangezogen werden. Steigen zum Beispiel die Verkaufspreise einer Industrie nach der Gründung eines Kartells meßbar an, so wird dies ein starkes Indiz dafür sein, daß das gegenständliche Kartell Marktmacht zur Durchsetzung monopolistischer Preissetzung erlangt hat. Es bietet sich auch an, gemäß den präsentierten Überlegungen zu Marktmacht, Strukturdeterminanten und strategischem Verhalten die möglichen Konstellationen der Variablen Profitabilität, Preis- und Mengenentwicklung zu interpretieren. Ein Markt, dessen Teilnehmer es bei Preisen, die in etwa den "Weltmarktpreisen" entsprechen, zu einer Profitabilität im gesamtwirtschaftlich üblichen Ausmaß und durchschnittlichem Wachstum bringen, wird relativ unverdächtig sein, was die Ausübung von Monopolmacht auf Kosten der Gesamtwirtschaft betrifft. Mit relativ großer Sicherheit ist das Vorhandensein einer effizienzbeeinträchtigenden Marktmacht anzunehmen, wenn eine Industrie auffallend hohe Profite bei hohen Preisen aber bei einer nur mäßigen Wachstumsentwicklung erzielt. Dies deutet darauf hin, daß durch Preissenkungen in Richtung Marktpreis das Volumen der wohlfahrtsmehrenden Transaktionen erheblich zunehmen würde, wodurch die Industrie wachsen würde, die Käufer Schmalensee, Inter-Industry Studies of Structure and Performance, 961. Wenn man bei aller gebotenen Skepsis davon ausgeht, daß sich am "Weltmarkt" Konkurrenzpreise bilden. 136 137
IV. Stellenwert der ökonomischen Vorüberlegungen
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zu günstigeren Preisen bedient würden und einen größeren Anteil des Gesamtnutzens als Konsumentenrente lukrieren könnten. Hohe Profitabilität und hohe Preise in Verbindung mit einem überdurchschnittlichen Wachstum bedürfen einer differenzierenden Interpretation. Sie können schlicht das Ergebnis von monopolistischer Praxis in einer Wachstumsbranche sein oder auch einen vorübergehenden und somit eher unerheblichen Zustand im Entwicklungsprozeß einer jungen Industrie hin zu einem Gleichgewichtszustand anzeigen. Denkbar wäre aber auch, daß Industrien mit sehr hohen Fixkostenbelastungen in Phasen des Wachstums ausreichendes Kapital für effizienzsteigemde Investitionen nur zu attrahieren vermögen, wenn sie überdurchschnittliche Renditen erwarten lassen, weil die Investoren antizipieren, daß gerade solche Branchen in Perioden der Rezession zu "kranken Industrien" werden können. In derartigen Industrien können daher überdurchschnittliche Gewinne, selbst wenn sie durch kollektive Monopole erzielt werden, zu einer Optimierung der perfonnance beitragen. Industrien, die nur eine sehr schwache Profilabilität und mäßige Preise zu erzielen vermögen, können offenbar keine nennenswerte Marktmacht organisieren und sie sind nicht attraktiv für weitere entrants. Es ist somit anzunehmen, daß sie nicht mehr erheblich wachsen werden. Denkbar ist jedoch auch der Fall, daß die im erbitterten Wettstreit stehenden Firmen angesichts hoher Fixkosten ihre Produktionsmengen im wahrsten Sinne des Wortes "um jeden Preis" ausdehnen wollen, um ihre Durchschnittskosten zu senken. Sie werden daher trachten, ihre Kapazitäten auszulasten und, wenn Erweiterungen nicht kostspielig sind, womöglich sogar ihre Produktionsanlagen ausbauen. Dadurch kann selbst bei Preisen, die nur noch geringfügig über den variablen Kosten liegen, die Produktionsmenge zunehmen, obwohl die Unternehmen Verluste erzielen. In einer derartigen Situation wird das investierte Kapital allmählich aufgezehrt, die Konsumenten profitieren dafür von besonders niedrigen Preisen.
IV. Der Stellenwert der ökonomischen Vorüberlegungen für die Strukturierung der wirtschaftsgeschichtlichen Arbeit Ausgangspunkt für die Untersuchung ist die erkenntnisleitende Fragestellung, in welchem Ausmaß sich in der Formierungsphase des modernen Kartellwesens vor dem Ersten Weltkrieg bereits kollusive Organisationen etablierten und welchen Stellenwert sie für die wirtschaftliche Entwicklung erlangten. Eine sehr konventionelle Zugangsweise, als Historiker die Österreichischen Kartelle in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu erforschen, würde 5*
68
A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
darin bestehen, sich auf Archivstudien zu stützen, die bisher dazu verfaßte Fachliteratur zu studieren und auf dieser Grundlage zu versuchen, das Wirken der Kartelle zu "verstehen". Wie bereits ausgeführt, würde aber eine derartige Vorgangsweise allein, also Quellen zu interpretieren und kumulativ auf bisherige Arbeiten aufzubauen, die Gefahr in sich bergen, Ergebnisse zu erbringen, die von Ressentiments und Vorurteilen der Akteure bzw. zeitgenössischen Autoren verzerrt sein könnten. Eine mögliche Strategie, um aus den Gefahren des hermeneutischen Zirkels zumindest in einem begrenzten Maße auszubrechen, ist die Heranziehung von theoretischen Vorüberlegungen als heuristische Muster, mittels derer man sich das Vertraute fremd macht und die Sprache der Quellen in eine wissenschaftsspezifische Sprache übersetzt. Die ökonomischen Erwägungen ergeben eine Fülle von teilweise in gegensätzliche Richtungen weisenden Argumenten. Sie vermögen angesichts der komplexen Wirkungszusammenhänge nicht, einen: eindeutigen, stabilen Zusammenhang zwischen structure, conduct und performance herzustellen. Somit erweist sich gerade ein derart komplexer Themenbereich wie die historische Kartellforschung auch aus der Perspektive der Ökonomie als Gebiet, das eine Zugangsweise erfordert, die von offenen, prozeßhaften Entwicklungen ausgeht, wie dies die Geschichtswissenschaft tut. 138 Mit der Fülle von Argumenten und einander widersprechenden Tendenzen können die Wirtschaftswissenschaften keine allgemeinen, stabilen Aussagen über die ökonomische Wirkung von Kollusionen machen. Trotzdem oder gerade deshalb vermögen sie sehr wohl zur Klarheit einer offenen, wirtschaftsgeschichtlichen Herangehensweise beizutragen, indem sie auf wichtige Aspekte, die man als Variablen und Zusammenhänge in die Forschungsarbeit einbeziehen kann, hinweisen. Die ökonomischen, modellhaften Vorstellungen machen plausibel, auf die Marktstruktur, Eintrittsbarrieren, Organisationsstrukturen, dynamischen Effekte und deren Wechselwirkungen einzugehen. Außerdem weisen die Überlegungen auf den grundsätzlich begrenzten Rahmen allfälliger Marktmacht von Kollusionen hin, wodurch manchen zeitgenössischen Einschätzungen, die in geradezu verschwörungstheoretischer Manier vor geheimer unkontrollierbarer Macht von Kartellen warnen, von vomherein mit Skepsis entgegengetreten werden kann. Die plausible erhebliche Bedeutung der entry barriers für die Wirkungsmacht von Kollusionen und die überragende Rolle der Politik als 138 Die hier zusammengefaSten Überlegungen habe ich bereits präsentiert in Andreas Resch, Kartelle und Kollusionen in Österreich von der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre - Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt, in: Alice Teichova, Herbert Matis, Andreas Resch (Hrsg.), Business History. Wissenschaftliche Entwicklungstrends und Studien aus Zentraleuropa, Wien 1999, 152 ff.
IV. Stellenwert der ökonomischen Vorüberlegungen
69
wichtigster Faktor für die Gestaltung der Zutrittsbarrieren (z. B.: Importzölle) legt nahe, daß bei der Kartellforschung der einschlägigen Wirtschaftspolitik und den dahinterstehenden Interessenkonstellationen ein großes Augenmerk geschenkt werden muß. Bei der historischen Analyse des Verhaltens in Kartellstrukturen und Kooperationen werden neben den unmittelbar beteiligten Firmen auch Banken und Interessenvertretungsorganisationen zu berücksichtigen sein. Zu erwägen ist, ob die Kartelle von übermächtigen, großen players beherrscht wurden, oder ob die Großfirmen sogar zu überproportionalen Opfern bereit waren, um das Zustandekommen von Organisationen zu ermöglichen - im Sinne von Olsons These von der "Ausbeutung der Großen durch die Kleinen". Weiters ist zu beachten, daß das Verhalten von Kartellfirmen nicht nur von unmittelbar aus der eigenen Unternehmenslogik resultierenden Entscheidungen bestimmt wurde, sondern auch von der Notwendigkeit strategischen Verhaltens. Auf unvollkommenen Märkten mit einer überschaubaren Zahl von Teilnehmern wirkt jede Entscheidung nicht nur auf das eigene Unternehmen, sondern sie verändert auch die wirtschaftlichen Bedingungen für die anderen players und sie wird als Signal hinsichtlich des weiteren Verhaltens wahrgenommen. All diese Aspekte müssen sich daher gleichsam leitmotivisch durch die Analyse und Darstellung des Verhaltens (conduct) der Unternehmen in den untersuchten Industriebranchen ziehen. Bei der Darstellung der Forschungsergebnisse wird zunächst auf allgemeine Entwicklungstendenzen und ökonomische Hintergründe der Kartellbildung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eingegangen. Darauf folgt ein Abschnitt über die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen für das Kartellwesen und die damit verbundenen zeitgenössischen Diskussionsprozesse. Nach diesen beiden Kapiteln wird eine tabellarische Übersicht über die typischen historische Erscheinungsformen der Kartelle gegeben, gegliedert nach der Ausprägung von Merkmalen der jeweiligen Marktstruktur, der Organisationsentwicklung und der peiformance. Die systematische Überblicksdarstellung bildet die Grundlage für detaillierte Spezialstudien zu ausgewählten, typischen Kartellen, die im Anschluß daran präsentiert werden. Abschließend wird in einem Resümee noch einmal den Fragestellungen nachgegangen, inwieweit sich die Karteliierung tatsächlich durchgesetzt hat, welche Wechselwirkungen zwischen structure, conduct und peiformance bei den unterschiedlichen Entwicklungstypen zu erkennen sind, inwiefern die Kartellbildung ein Instrument der Krisenbewältigung gewesen sein kann und welche Auswirkungen das Kartellwesen auf die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt gehabt haben mag.
70
A. Theoretische und methodische Vorüberlegungen
1. Anmerkungen zur Quellenlage
Abschließend zu den Vorüberlegungen seien noch einige Anmerkungen zur Quellenlage für das Forschungsvorhaben zusammengefaßt. In die Untersuchung sind gemäß den Fragestellungen die Unternehmen bzw. Unternehmer in ihrem Handeln und in ihren Beziehungen untereinander einzubeziehen. Weiters sind ihre Interaktionen mit dem Staat beziehungsweise der Legislative zu berücksichtigen, weil diese Instanzen wesentliche Rahmenbedingungen für die Karteliierung definieren. Als prozeßproduzierte Quellen der Unternehmen, die insbesondere über die performance Auskunft geben, können die veröffentlichten Bilanzen herangezogen werden. Diese Quellengattung liegt allerdings nur für die Aktiengesellschaften vor, da nur diese zur Publikation ihrer Bilanzen gesetzlich verpflichtet waren. Dadurch ist eine gewisse Verzerrung der Einbeziehung von Unternehmen in die Beobachtung bedingt. Diese relativiert sich aber durch das Faktum, daß in den Kartellen überwiegend eher größere Firmen organisiert waren und diese häufiger als kleine Unternehmen als Aktiengesellschaften firmierten. Auf die Notwendigkeit, bei der Verwendung von historischen Unternehmensausweisen die zeitgenössische Bilanzierungspraxis zu berücksichtigen, wurde bereits oben bei den Berechnungsmethoden für die Profitabilität hingewiesen. Trotz aller quellenkritischer Vorbehalte, die zur Aussagekraft von historischen Bilanzen anzumelden sind, bilden diese doch eine wichtige Grundlage für vergleichbare Aussagen über Unternehmen in der Geschichte. Wichtige Dimensionen der performance können weiters durch die Heranziehung diverser amtlicher und nicht-amtlicher Statistiken über Produktionsmengen, Preise etc. eruiert werden. Auseinandersetzungen innerhalb von Kartellen oder auch Verhandlungen zur Kartellgründung fanden in der zeitgenössischen Publizistik breiten Widerhall. Da es keinerlei gesetzliche Verbote von Kartellen gab und die Karteliierung als neues, interessantes Phänomen empfunden wurde, für das noch keine allgemeingültigen, feststehenden Bewertungen ausgebildet waren, wurde über sie in der Presse in großem Umfang berichtet. Allerdings ist auch bei der Auswertung dieser Quellen stets ihr Kontext zu berücksichtigen, da Veröffentlichungen häufig einer taktischen bzw. strategischen Absicht dienten. Die Quellenlage bei staatlichen Institutionen stellt sich etwas enttäuschend dar. Es gab weder ein Kartellgesetz noch ein Kartellregister, daher schuf man staatlicherseits keine vollständigen Übersichten und Materialsammlungen zum Kartellwesen.139 Vor allem in Phasen intensivierter öffentlicher Diskussionen über das Kartellwesen wurden aber auch staatliche
IV. Stellenwert der ökonomischen Vorüberlegungen
71
Instanzen aktiv, sammelten Informationen und bereiteten sie für Entscheidungsprozesse auf. Felder staatlichen Handeins waren die Interventionen in Marktprozesse und Ansätze, eine gesetzliche Regelung des Kartellwesens zu schaffen. Im Zentrum von derlei Bemühungen standen immer wieder das Handelsministerium und der dem Handelsministerium beigeordnete Industrierat. Daher werden die einschlägigen Unterlagen im Bestand "Allgemeines Verwaltungsarchiv, Handelsministerium" des Österreichischen Staatsarchivs als wichtigster Dokumentenbestand über die staatlichen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Kartellwesen herangezogen. Zusätzlich erfolgt auch die Auswertung von Parlamentsprotokollen über Diskussionen zum Kartellrecht sowie von Unterlagen diverser Ausschüsse, die die Grundlagen für die parlamentarische Arbeit erstellten. Weil sich diese Aktivitäten im Rahmen eines interessierten öffentlichen Diskurses abspielten, wurden viele der wichtigsten Materialien publiziert, so daß sie als gedruckte Quellen vorliegen. Als umfangreichster derartiger Bestand ist die zwölfbändige Veröffentlichung aus Anlaß der großen Kartellenquete im Jahre 1912 140 zu nennen.
139 In den 1920er Jahren wurden vom Österreichischen Handelsministerium einige Erhebungen im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbundes im Jahr 1927 vorgenommen, bei der auch die Kartellfrage thematisiert wurde. Die erste systematische Vollerhebung aller Österreichischen Kartelle erfolgte erst nach dem "Anschluß" im Jahr 1938 durch die nationalsozialistischen Machthaber. 140 Verhandlungen der vom k. k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, 12 Bände: Einleitung, I. Zuckerindustrie, II. Spiritusindustrie, III. Mineralölindustrie, IV. Brauindustrie, V. Milch, VI. Kohle, VII. Portlandzement, VIII. Eisenindustrie, IX. Kunstdünger, X. Bauindustrie, XI. Rübenrayonierung und Vereinbarungen der Rübenproduzenten, alle Wien 1912.
B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens unter den zeitgenössischen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen I. Wirtschaftliche Entwicklungstendenzen und Ausbildung des Kartellwesens bis 1914 Die Österreichische Wirtschaft befand sich um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert in einem dynamischen Wachstums- und Veränderungsprozeß, der auch die Rahmenbedingungen für die Ausbildung des Kartellwesens bestimmte. Daher seien hier eingangs einige Grundlinien der zeitgenössischen Österreichischen Wirtschaftsentwicklung präsentiert. Das Thema "Wirtschaftswachstum in Österreich bis 1914" wurde seit den 1970er Jahren teilweise recht kontroversiell diskutiert. 1 Vor allem be1 Als Überblicksdarstellungen siehe z.B. Herbert Matis, Introduction, in: Herbert Matis (Hrsg.), The Economic Development of Austria since 1870, Aldershot 1994, XIII- XX; David F. Good, Issues in the Study of Habsburg Economic Development, in: East Centra1 Europe/L'Europe du Centre-Est, 1 (1979), 47-62; derselbe, The Economic Lag of Central and Eastem Europe: Income Estimates for the Habsburg Successor States, 1870-1910, in: The Journal of Economic History, 54 (1994), 867891; Michael Pammer, Wachstum, in: Historicum, Winter 94/95, 12-19; Peter Eigner, Die wirtschaftliche Entwicklung der Habsburgerrnonarchie: Ein Modellfall verzögerter Industrialisierung?, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde, 27 (1997), 112-122. Als größere Arbeiten seien etwa genannt: Scott M. Eddie, Economic policy and economic development in Austria Hungary, 1867- 1913, in: Peter Mathias, Sidney Pollard (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Europe, Bd. 8, Cambridge u. a. 1989, 814-885; David F. Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750-1914, Wien, Köln, Graz, 1986; Nachum T. Gross, Die industrielle Entwicklung im Habsburgerreich 1750-1914, in: Carlo M. Cipolla, Knut Borchardt, Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften (Europäische Wirtschaftsgeschichte, 4), Stuttgart, New York 1985; Thomas Huertas, Economic Growth and Economic Policy in a Multinational Setting, New York 1977; Anton Kausel, Österreichs Volkseinkommen 1830 bis 1913, in: Geschichte und Ergebnisse der Amtlichen Statistik in Österreich 1829-1979 (Österreichisches Statistisches Zentralamt, Heft 550), Wien 1979, 689-720; John Kom/os, Die Habsburgermonarchie als Zollunion. Die Wirtschaftsentwicklung Österreich-Ungarns im 19. Jahrhundert, Wien 1986; Eduard März, Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913-1923. Am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe, Wien 1981 ; derselbe, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs 1., Wien, Frankfurt, Zürich 1968; Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913.
I. Ausbildung des Kartellwesens bis 1914
73
stimmte die Frage, inwieweit man die Zeit nach dem Börsenkrach von 1873 bis zur Mitte der 1890er Jahre als eine Phase der "Großen Depression" einzuschätzen habe, den Fachdiskurs. Je nach herangezogenen Indikatoren und verwendeten Methoden gelangten die Autoren zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zum Beispiel ist evident, daß Indikatoren wie der Eisenverbrauch, die Produktion der Maschinenbaufirmen und die Emissionstätigkeit der Banken die These unterstützen, daß die Jahre 1873 bis 1895 als weitgehend stagnative Phase anzusehen seien.2 Manche Versuche einer Rückrechnung des Brutta-Inlandsproduktes relativieren jedoch die Wahrnehmung einer "Großen Depression".3 Alois Mosser gelangte in seiner historischen Bilanzanalyse österreichischer Industrieaktiengesellschaften zu dem Ergebnis, daß die 1880er Jahre nicht gänzlich als Phase des Stillstands abgetan werden können. Die Investitionsquoten lagen jedoch meßbar unter jenen der späteren Jahre und für die Finanzierung der Investitionen mußte von den Unternehmen überwiegend eine Innenfinanzierung gefunden werden; die Aufbringung von zusätzlichem Eigen- oder Fremdkapital am Kapitalmarkt war nur in recht bescheidenem Ausmaß möglich.4 In dieses Bild Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs 1., Berlin 1972; Herbert Matis, Kar! Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in: Alois Brusatti (Hrsg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, 1), Wien 1973, 105-232; A/ois Mosser, Die Industrieaktiengesellschaft in Österreich 1880-1913. Versuch einer historischen Bilanz- und Betriebsanalyse, Wien 1980; Richard L. Rudolph, Quantitative Aspekte der Industrialisierung in Cisleithanien, in: Brusatti, Die wirtschaftliche Entwicklung, 233249; derselbe, Banking and Industrialization in Austria-Hungary, Cambridge, Mass. 1976. 2 Vgl. zu dieser Position etwa März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I, 215 und 218 ff.; Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913; Max-Stephan Schulze, Engineering and Economic Growth. The Development of Austria-Hungary's Machine-Building Industry in the late Nineteenth Century (Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 3), Frankfurt am Main u. a. 1996, 57 ff. 3 Den Daten von Anton Kausei zufolge fiel der Index des realen Brutto-Inlandsproduktes (1913 = 100) von 38,8 im Jahr 1872 auf um 2,3% auf 37,9 im Jahr 1873 zurück. Danach lag der Wachstumstrend von 1873 bis 1880 bei 2,1% (Spannweite der Wachstumsraten: --0,7% im Jahr 1879 bis 4,5% 1874). In den Jahren 1881 bis 1895, die im allgemeinen ebenfalls noch der "Großen Depression" zugerechnet werden, lag der Wachstumstrend gemäß den Daten von Kausei bei 2,6% (Spannweite: --0,9% 1894 bis 6,9% 1889). Für die Periode von 1896 bis 1913 weisen seine Daten hingegen einen Wachstumstrend von 2,5 % aus (Spannweite: --0,3 % 1909 bis 6,2% 1907). Nach dieser Berechnung hat sich das Wachstum also sogar verlangsamt, wenngleich etwas verstetigt. Die Indexzahl für das Brutto-Inlandsprodukt (1913 = 100) erhöhte sich vom Tiefpunkt bei 37,9 im Jahr 1873 auf 66,6 1896 und schließlich auf 100,5 im Jahr 1912. Berechnet nach: Kausel, Österreichs Volkseinkommen 1830 bis 1913, 695. 4 Mosser, Industrieaktiengesellschaft, 171 ff., 249 und passim; derselbe, Finanzierungsvorgänge und Strukturprobleme in der Österreichischen Großindustrie vor dem Ersten Weltkrieg, in: Investitionen in Industrie und Gewerbe. Finanzierungsformen
74
B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
fügt sich die Feststellung von John Komlos ein, daß in jenen Jahren die Wiener FinanzdienstleisteT in einem großem Ausmaß Kapitalien in Ungarn veranlagten. 5 Der zwiespältige Befund über die 1880er Jahre deckt sich in etwa mit der Einschätzung von Herbert Matis und Karl Bachinger, die dieses Jahrzehnt als "Effikazitätsphase" bezeichnen, die den "Durchbruch der industriellen Struktur" angebahnt habe, ohne selbst bereits das Produktions- und Wachstumsniveau späterer Perioden zu erreichen.6 Es ist hier jedoch nicht erforderlich, diese Diskussion im Detail zu rekapitulieren, da die Bildung des Kartellwesens erst in den 1890er Jahren mit voller Intensität einsetzte. Die Zeit ab den späten 1890er Jahren wird hingegen unbestritten als dynamische Entwicklungsphase angesehen, in der auch eine gewisse Verstetigung des Wachstums eintrat. Die Einschätzung von Alexander Gerschenkron, daß die Österreichische Wirtschaftsentwicklung bis 1914 als "An Economic Spurt that Failed"7 zu bewerten sei, wird von der neueren Forschung einhellig abgelehnt. 8 Trotzdem lassen sich doch auch innerhalb der Wachstumsperiode von der Mitte der 1890er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg einige rezessive Rückschläge identifizieren. Laut den Berechnungen von Anton Kausel9 ging das reale Wachsturn des Brutto-Inlandsprodukts im Jahr 1903 auf 0,9 Prozent zurück, für 1909 errechnet er eine reale Schrumpfung um 0,3 Prozent und für 1913 um 0,5 Prozent. Wachsturnsspitzen traten gemäß seinen Daten 1905 mit 5,6 Prozent und 1912 mit 5,0 Prozent auf. 10 Die industrielle Entwicklung trug in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zweifellos überproportional zum Wirtschaftswachstum bei. Diverse Rückrechnungen ergeben, daß die Österreichische Industrieproduktion vom Jahr 1900 bis 1910 real um etwa ein Drittelll, somit durchschnittlich jährlich um ungefahr drei Prozent gewachsen ist. (Veröffentlichungen des Vereins der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiete der Unternehmerbiographie und Firmengeschichte, 7), Wien 1978, 11. 5 Kom/os, Die Habsburgermonarchie als Zollunion, 108 ff. 6 Matis, Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, 131 ff. 7 Alexander Gerschenkron, An Economic Spurt that Failed, Princeton N. J. 1977. 8 So gelangte David F. Good zu folgendem Urteil: "Versagte die Wirtschaft der Monarchie? ... Das empirische Material, das ich vorgelegt habe, läßt diese Frage mit einem eindeutigen Nein beantworten." Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches, 207. 9 Die Daten von Kausei wurden zwar in der Literatur in manchen Details kritisiert, sie erscheinen aber doch geeignet, um grundlegende Entwicklungen und Größenordnungen zu illustrieren. 10 Kausel, Österreichs Volkseinkommen 1830 bis 1913, 695. 11 Vgl. Richard Rudolph, The Pattern of Austrian lndustrial Growth from the Eighteenth to the Early Twentieth Century, in: Austrian History Yearbook 11
I. Ausbildung des Kartellwesens bis 1914
75
Dadurch erhöhte sich auch der Beitrag des sekundären Sektors zum Brutto-Inlandsprodukt. Nach den Berechnungen von Kausei stieg der Anteil von Industrie und Gewerbe am Brutto-Inlandsprodukt in der Österreichischen Reichshälfte von etwa einem Drittel im Jahr 1900 auf beinahe zwei Fünftel im Jahr 1912 anY Diese Daten spiegeln einen deutlichen Strukturwandel in Richtung Industriegesellschaft wider. Die Jahre von 1896 bis 1905 werden von Eduard März als die Ära des Gründungsgeschäftes bezeichnet und die Periode von 1906 bis 1913 kategorisiert er als den Höhepunkt der Entwicklung des Österreichischen Credit-Mobilier. 13 Die vorherrschende Narratio vom Durchbruch der Großindustrie in Verbindung mit den Universalbanken wäre - nicht zuletzt auch am Österreichischen Beispiel - zweifellos gemäß neueren Ansätzen noch durch eine intensivere Erforschung davon abweichender Entwicklungswege zu ergänzen. Gewiß trugen neben der spezialisierten Massenproduktion auch flexible, innovative Strukturen von gewerblicher Produktion und entstehenden produktionsnahen Dienstleistungen zum Wirtschaftswachstum bei. 14 Dieser Aspekt muß hier aber weitgehend ausgeklammert werden. Die vorliegende Arbeit zielt ja vor allem auf die Entwicklung von Organisationsstrukturen zur Er(1975), Tabelle 1; Komlos, Die Habsburgennonarchie als Zollunion, Tabelle E6. Eine tabellarische Zusammenstellung diverser Berechnungsergebnisse bietet Pammer, Wachstum, 15. 12 Berechnet nach Kausel, Österreichs Volkseinkommen 1830 bis 1913, 693. 13 März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs 1., 289 ff. und 325 ff.; derselbe, Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende; Eduard März, Karl Socher, Währung und Banken in Cisleithanien, in: Brusatti, Die wirtschaftliche Entwicklung, 358 ff. Vgl. dazu auch Peter Eigner, Die Konzentration der Entscheidungsmacht Die personellen Verflechtungen zwischen den Wiener Großbanken und lndustrieaktiengesellschaften, 1895- 1940, Dissertation, Wien 1997; Birgit Leuchtenmüller, Die Investitions- und Industriepolitik der Österreichischen Großbanken bis zum Jahre 1914, Dissertation, Wien 1973; Werner Schicklgruber, Die Konzernverflechtung der Wiener Großbanken mit der Wirtschaft Österreich-Ungarns und seiner Nachfolgestaaten auf der Grundlage einer Feldstudie 1913 und einer Feldstudie 1935, Dissertation, Wien 1980; Peter Eigner, Michael Wagner, Andreas Weigl, Finanzplatz: Wien als Geld- und Kapitalmarkt, in: Günther Chaloupek, Peter Eigner, Michael Wagner, Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740-1938, Teil 2: Dienstleistungen (Geschichte der Stadt Wien, Band V), Wien 1991 , 978 ff.; Herbert Matis, Fritz Weber, Kaisertum Österreich - Donaumonarchie, in: Hans Pohl (Hrsg.), Europäische Bankengeschichte, Frankfurt am Main 1993, 328 ff. Zur Bigenturnsstruktur siehe Franz Mathis, Big Business in Österreich II. Wachstum und Eigentumsstruktur der Österreichischen Großunternehmen im 19. und 20. Jahrhundert, Wien, München 1990, 188 ff. 14 Vgl. dazu allgemein etwa: Michael Storper, Robert Salais, Worlds of Production. The Action Frameworks of the Economy, Cambridge, Mass., London 1997; Micheal J. Piore, Charles F. Sabel, Das Ende der Masse~?produktion. Studien über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Okonomie in die Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989.
76
B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
langung von Marktmacht ab, die ihrerseits tendenziell eher auf Märkten mit konzentrierten Untemehmensstrukturen, die von einer überschaubaren Zahl von Großbetrieben dominiert wurden, entstehen konnten. Um in den weiteren Kapiteln dem ökonomischen Stellenwert des historischen Kartellwesens nachgehen zu können, sei an dieser Stelle vorerst ein Überblick über seine quantitative Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg gegeben. Als erstes modernes Kartell in Österreich gilt die Vereinbarung der Schienen-Walzwerke aus dem Jahre 1878. Max Freiherr von Allmeyer-Beck hat eine Zahlenreihe über die Neugründung von Kartellen von diesem Zeitpunkt bis 1909 zusammengestellt: Tabelle 3 Anzahl der Kartellgründungen in den Jahren 1878 bis 1909 Jahr
1878
1883
1885 2
1886
1888
1892
1893 1
1894 2
1895
1896
1898 3
1899
1900 4
1901 2
1902 5
1903 3
1904
1905 12
1906 21
1907 38
1908 14
1909 7
Gründungen Jahr Gründungen Jahr Gründungen Jahr Gründungen
10
3
Quelle: Allmayer-Beck, Materialien zum Österreichischen Kartellwesen, 4.
Die Tabelle ist gewiß nicht vollständig, sie gibt aber die plausible Tendenz wieder, daß sich in den 1890er Jahren erstmals die Kartellierung beschleunigt hat, mit ersten Höchstwerten in den Jahren 1898 bis 1900. 1901 und 1903 ging die Zahl der Neugründungen gegenüber dem V01jahr jeweils deutlich zurück, von 1904 bis 1908 wuchs sie rasch an, das Jahr 1909 scheint hingegen wiederum einen Rückschlag der Kartellierungsbewegung gebracht zu haben. Die Zahl der Neugründungen allein erlaubt keinen Überblick über die Anzahl der jeweils bestehenden Kartelle, weil ja immer wieder auch Organisationen aufgelöst wurden. Daher seien auch noch Erhebungen über die Gesamtzahl von Kartellen in verschiedenen Jahren zusammengestellt. Diese Spezialstudien zu einzelnen Jahren erfassen wahrscheinlich den Entwicklungsstand des Kartellwesens in den jeweiligen Jahren vollständiger als der
77
I. Ausbildung des Kartellwesens bis 1914
Langzeitüberblick von Allmayer-Beck. Sie gelangen daher zu höheren Zahlen als man sie nach den Gründungsdaten in der obenstehenden Tabelle erwarten würde. Die Entwicklungstendenz im Zeitablauf tritt jedoch in gleicher Verlaufsform zutage: Laut Josef Gruntzel bestanden im Jahr 1900 ungefähr 35 Kartelle, allerdings von äußerst unterschiedlichem gesamtwirtschaftlichem Stellenwert. Darunter befanden sich regionale Abmachungen kleiner Branchen, wie das Kartell der Steinnußknöpfeerzeuger aber auch umfassende Organisationen gewichtiger Industrien, wie das EisenkartelL 15 In der aus dem Jahr 1905 stammenden Studie über Österreichische Kartelle von Markus Ettinger 16 werden im Anhang 104 Organisationen genannt, Allmeyer-Beck 17 berichtet, daß 1909 etwa 120 Kartelle bestanden haben. Gemäß der damals schon gebräuchlichen Typologie nach den Aktionsparametern geschäftlicher Tätigkeiten, die von den Kartellen geregelt werden, stellte Allmayer-Beck für das Stichjahr 1909 folgende Übersicht zusammen: Tabelle 4 Anzahl und Typen von Industriekartellen im Jahr 1909 Von 120 Kartellverträgen Nahrungs- Textil- Papier- Glas- Kerami- Metall- u. Chemi- Diverse Indubeinhalten in den nebenmittelindustrie industrie industrie sehe In- Masehisehe stehenden Industrien industrie dustrie nenind. Industrie strien 22
5
5
2
9
3
4
16
7
8
16
15
8
10
Kontingentierungskartelle
7
3
2
16
13
9
5
Reduktionskartelle
2
Konditionskartelle Preiskartelle
Kundensehutzübereink.
5
6
Zentralverkauf
2 7
2
2
Rayonierung Vereinbarg. m. Händlern
4
3
Internat. Übereinkommen Gesamtzahl
9
27
10
10
3
4
3
19
19
12
davon m. Sitz im Ausland
14 2
Quelle: Allmayer-Beck, Materialien zum Österreichischen Kartellwesen, 6. Josef Grun(t)zel, Über Kartelle, Leipzig 1902, 197 ff. Markus Ettinger, Die Regelung des Wettbewerbes im modernen Wirtschaftssystem, I. Teil, Die Kartelle in Österreich, Wien 1905, 267. 17 Max Freiherr von Allmeyer-Beck, Materialien zum Österreichischen Kartellwesen, Wien 1910, 6. 15
16
B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
78
Ab 1910 hat sich der Prozeß der Neugründung von Kartellen neuerlich erheblich beschleunigt, für 1912 wurde ihre Zahl von mehreren Autoren bereits auf mehr als 200 18 geschätzt. Auf der Grundlage einer genauen Auswertung von zeitgenössischen und neueren wissenschaftlichen Arbeiten, der zeitgenössischen Wirtschaftspublizistik und diverser Archivquellen kann folgender tabellarischer Überblick über das Österreichische Kartellwesen im Jahr 1912 gegeben werden: Tabelle 5
Geschätzte Anzahl von Industriekartellen in Österreich im Jahr 1912 Anzahl*
Industrie Untergruppe
Anzahl in der Untergruppe**
Glasindustrie Z. B. Kartell der Glasflaschenfabrikanten als Teil des europ. Kartells (Owens Patent) Ziegel, Steine, Keramik Zementkartell Regionale Ziegelkartelle Regionale Kartelle für Kalk Andere Eisen & Stahl Eisen Regionale Kartelle der Wiener Eisenhändler Andere (Röhren, Draht und Drahtstiften, etc. ) Eisen- und Metallwaren, Maschinenbau Maschinenbaukartell (Rest des Kartells nach 1911) Waggonkartell Lokomotivkarteil Brückenbaukartell (Bleche und Drähte) aus Kupfer, Zinn und Zink Internat. und österr. Kartell für Emailwaren Andere
15
26 (29)
1 (4) 9 6 ca. 10 9 (26)
1 (18) 3 ungefähr 5
33
1
1 3 ungefähr 25
18 Vgl. etwa Friedrich Hertz, Die Produktionsgrundlagen der Österreichischen Industrie vor und nach dem Kriege, 4. Auflage, Wien, Berlin (1919), 217; Kurt W. Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte der Österreichischen Wirtschaftsstruktur, in: Wilhelm Weber (Hrsg.), Österreichs Wirtschaftsstruktur gestern - heute - morgen, Erster Band, Berlin 1961, 39.
79
I. Ausbildung des Kartellwesens bis 1914
Anzahl*
Industrie Untergruppe Elektroindustrie Glühlampen Kabel Industrie für Starkstromgeräte Organisation von Elektrizitätswerken Fabriken für Bleikabel Holz, Möbel Regionale Sägewerkskartelle Möbel (z. B. Bugholzmöbelkartell) Andere (div. Produkte, Holzhändlerkartell, ... )
Anzahl in der Untergruppe** 5 (7)
1 I (etwa 3) 1
1 1 14 3 2 etwa 9
Papier, Druck Packpapier (Papierunion) Div. Sorten von Papier (Karton, Rotationsdruckpapier, ... ) Andere
etwa 4
Chemische Industrie Leim Magnesit Mineralöl Div. Produkte (z. B. Sauerstoff, Salzsäure, ... )
1 1 2 etwa 25
Leder, Textilien, Bekleidung Baumwollspinner Baumwollwebereien Div. Baumwollprodukte Bleicher, Färber, Drucker, Appreteure, etc. Andere Nahrungsmittel Zucker Bier Süßwaren Spiritus Zusammen
10
1 5
29
50
1 I 10 13 etwa 25 10 (12)
1 (3) 3 1 5 201 (225)
(Fortsetzung Seite 80)
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Fortsetzung Tabelle 5
* In Klammem:
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Anzahl einschließlich der Unterorganisationen für bestimmte Regionen oder Untergruppen von Waren. In Klammem: Anzahl der Unterorganisationen für bestimmte Regionen oder Untergruppen von Waren.
Quellen für die Erstellung dieser Tabelle: Max Freiherr von Allmeyer-Beck, Materialien zum Österreichischen Kartellwesen, Wien 1910; lvdn T. Berend, György Rdnki, Ungarns wirtschaftliche Entwicklung 1849-1918, in: Alois Brusatti (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band 1), Wien 1973, 462-526; Peter Eigner, Die Konzentration der Entscheidungsmacht, Dissertation, Wien 1997; David F. Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches, Wien, Köln, Graz 1986; Birgit Leuchtenmüller, Die Investitions- und Industriepolitik der Österreichischen Großbanken bis zum Jahre 1914, Dissertation, Wien 1973; Eduard März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I., Wien, Frankfurt, Zürich 1968; derselbe, Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende, Wien 1981; Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913, Berlin 1972; Herbert Matis, Karl Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in: Brusatti, Die wirtschaftliche Entwicklung, 105-233; Jurij Kfii.ek, Beitrag zur Geschichte der Entstehung und des Einflusses des Finanzkapitals in der Habsburger Monarchie in den Jahren 1900-1914, in: Die Frage des Finanzkapitals in der österreichisch-ungarischen Monarchie 1900-1918, Hukarest 1965, 5-52; Verhandlungen der vom k. k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, Wien 1912, 12 Bände Zeitgenössische Periodika: Kartell-Rundschau, Der Österreichische Volkswirt, Neue Freie Presse, Compass und darüber hinaus einschlägige Zeitungsausschnitte aus dem Tagblattarchiv in der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien. Herrn Dr. Eckhard Früh sei für seine freundliche Unterstützung gedankt. Archivquellen: ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1209 und 1211, div. Unterlagen vom Industrierat für die Vorbereitung der Kartellenquete 1912 und zur Erstellung des 31. und 32. Heftes über die Verhandlungen und Beschlüsse des Industrierates, herausgegeben vom k.k. Handelsministerium, Wien 1912.
Diese Tabelle weist eine intensive Kartellierung aller wesentlichen Industriezweige in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg aus. Die meisten Kartelle bestanden in der Textilindustrie, gefolgt von Eisen- und Metallwaren und Maschinenbau sowie von der chemischen Industrie und der Eisen- und Stahlerzeugung. Der Funktionsweise ausgewählter Kartelle wird im Abschnitt C. nachgegangen.
II. Rechtliche Rahmenbedingungen Gemäß den theoretischen Vorüberlegungen zählen die vom Staat gesetzten Rahmenbedingungen zu den bedeutendsten Faktoren, die die Entwicklungsmöglichkeiten von Kartellen determinieren. Daher sei, ehe auf einzelne beispielhafte Kartelle näher eingegangen wird, die Entwicklung ihrer rechtlichen Grundlagen aufgezeigt.
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1. Das Österreichische Kartellrecht vor dem Ersten Weltkrieg Gemäß den Bestimmungen des Strafgesetzbuches von 1852 konnten auf Kartelle die Strafbestimmungen des Wuchergesetzes angewandt werden. Der § 479 Strafgesetzbuch sah vor: "Verabredungen von Gewerbsleuten, Fabriks- oder Arbeitsunternehmern oder Dienstgebern, um eine Umänderung in den Arbeits- oder Lohnverhältnissen zu erwirken, oder um den Preis einer Ware oder einer Arbeit zum Nachteil des Publikums zu erhöhen oder zu ihrem eigenen Vorteil herabzusetzen, oder aus Mangel zu verursachen, sind als Übertretungen zu bestrafen."19 Im Jahr 187020 wurde diese Bestimmung aufgehoben. Dafür integrierte man in das damals neugeschaffene Koalitionsgesetz21 Bestimmungen, die Verabredungen von Gewerbsleuten, die eine Erhöhung von Preisen zum Nachteil des Publikums bezweckten, als rechtsunwirksam erklärten. Die entsprechenden Textpassagen lauteten: "§ 1 Die Bestimmungen der §§ 479, 480 und 481 des allgemeinen Strafgesetzbuches vom 27. Mai 1852 RGBl. Nr. 117, treten außer Wirksamkeit.
§ 2 Verabredungen von Arbeitgebern (Gewerbsleuten, Dienstgebern, Leitern von Fabriks-, Bergbau-, Hüttenwerks-, landwirtschaftlichen oder anderen Arbeitsunternehmungen), welche bezwecken, mittels Einstellung des Betriebes oder Entlassung von Arbeitern diesen eine Lohnverringerung oder überhaupt ungünstigere Arbeitsbedingungen aufzuerlegen, - sowie Verabredungen von Arbeitnehmern (Gesellen, Gehilfen, Bediensteten oder sonstigen Arbeitern um Lohn), welche bezwecken, mittels gemeinschaftlicher Einstellung der Arbeit von den Arbeitgebern höheren Lohn oder überhaupt günstigere Arbeitsbedingungen zu erzwingen; - endlich alle Vereinbarungen zur Unterstützung derjenigen, welche bei den erwähnten Verabredungen ausharren, oder zur Benachteiligung derjenigen, welche sich davon lossagten, haben keine rechtliche Wirkung. § 3 Wer, um das Zustandekommen, die Verbreitung oder die zwangsweise Durchführung einer der in dem § 2 bezeichneten Verabredungen zu bewirken, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer an der Ausführung ihres freien Entschlusses, Arbeit zu geben oder zu nehmen, durch Mittel der Einschüchterung oder Gewalt hindert oder zu hindern versucht, ist, sofern seine Hand19 Zitiert nach Helmut Schulte, Das Österreichische Kartellrecht vor 1938, Münster 1980, 35. 20 Rudolf /say, Die Geschichte der Kartellgesetzgebung, Berlin 1955, 22 f. ; Heinrich Friedländer, Die Rechtspraxis der Kartelle und Konzerne in Europa, Zürich 1938, 127 ff. 21 Gesetz vom 7. April 1870, Reichsgesetzblatt Nr. 43. 6 Resch
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lung nicht unter eine strengere Bestimmung des Strafgesetzes fallt, einer Übertretung schuldig und von dem Gerichte mit Arrest von acht Tagen bis zu drei Monaten zu bestrafen. § 4 Die in den §§ 2 und 3 enthaltenen Bestimmungen finden auch auf Verabredungen von Gewerbsleuten zu dem Zwecke, um den Preis einer Ware zum Nachteile des Publikums zu erhöhen, Anwendung."
Infolge dieses Gesetzes konnte die Einhaltung von Kartellverträgen kaum noch vor Gericht durchgesetzt werden. Wenn Vertragskonflikte zwischen Kartellmitgliedern zivilrechtlich ausgetragen wurden, kam der § 4 des Koalitionsgesetzes zur Anwendung und Kartellverträge wurden als ungültig erklärt. Dagegen versuchten sich Kartelle abzusichern, indem sie in ihr Vertragswerk die Bestimmung aufnahmen, daß für Streitigkeiten aus den Verträgen ausschließlich ein von den Mitgliedern bestimmtes Kartellschiedsgericht zuständig sein sollte und alle Mitglieder auf die Anrufung ordentlicher Gerichte zur Austragung zivilrechtlicher Konflikte verzichteten. Diese Praxis wurde vom Gesetzgeber im Jahr 1895 durch eine Reform der Zivilprozeßordnung unmöglich gemacht. Der § 595 wurde um Ziffer 6 ergänzt, unter der man festsetzte: "Ein Schiedsspruch darf nicht gegen zwingendes Recht verstoßen." Zusätzlich nahm man in den § 599 auf: "Der § 595 darf nicht ausgeschlossen werden." Damit entzog man den Vertragsklauseln der Kartellvereinbarungen, die eine alleinige Unterwerfung der Kartellmitglieder unter die Urteile eines Kartellschiedsgerichtes und den Verzicht auf die Anrufung ordentlicher Gerichte vorsahen, die Rechtswirksamkeit Kartelle waren demnach in Österreich nicht von vomherein verboten, sobald jedoch Konflikte zwischen Kartellmitgliedern vor Gericht kamen, wurden die Verträge mit großer Wahrscheinlichkeit als nicht rechtswirksam erkannt. Die vagen Bestimmungen der Paragraphen 2 und 4 des Koalitionsgesetzes ließen den Gerichten einen großen Spielraum zur faktischen Rechtssetzung durch Auslegung des Gesetzestextes frei. Dabei war im Zeitablauf eine gewisse Änderung der Spruchpraxis zu erkennen. Bis zur Jahrhundertwende wurden im Streitfall praktisch alle Kartellverträge als unwirksam erklärt. Man erachtete nicht nur Abkommen, die ausdrücklich der Absicht dienten, Preise zu erhöhen, als ungültig, sondern auch Vereinbarungen über Produktionsmengen, die räumliche Aufteilung von Absatzgebieten, etc., weil man auch diesen die Intention und Wirkung zuschrieb, Preiserhöhungen mit sich zu bringen. Nach 1900 änderte sich die Spruchpraxis allmählich etwas. Der Oberste Gerichtshof begann zwischen gültigen Kartellverträgen, die nicht die Preise
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erhöhen wollten, und rechtsunwirksamen Preiskartellabsprachen zu unterscheiden. Zum Beispiel entschied er in einem Urteil vom 7. Mai 1912 über Absprachen von Industriellen, die Bastbänder erzeugten, daß die Bestimmungen zur gemeinsamen Regelung der Produktion und des Absatzes, somit zur Einschränkung der Konkurrenz eindeutig als Kartell zu qualifizieren waren. Daraus leitete er jedoch nicht ihre automatische Ungültigkeit ab, sondern daß zu prüfen war, ob sie der Preiserhöhung dienten und somit aufgeund des § 4 des Koalitionsgesetzes unwirksam waren. Weiters nahm man in die Rechtsprechung Argumente auf, daß manche Kartelle der Sanierung oder Rationalisierung einer Branche dienten und somit nicht "zum Nachteil des Publikums" wirkten. In einem OGH-Urteil von 1909 wurde sogar ein Kartell, das faktisch eine Preiserhöhung beschlossen hatte, nicht als rechtsunwirksam erklärt. Der Oberste Gerichtshof hatte über den Zusammenschluß von Bierbrauereien zu urteilen, die sich organisiert hatten, um verlustbringende Konditionen aufzuheben. Er übernahm die Ausführungen der Vorinstanz, die festgestellt hatte, daß der § 4 Koalitionsgesetz offenbar unter einer Preiserhöhung "zum Nachteile des Publikums" nur eine solche Preissteigerung verstehe, welche durch die wirtschaftliche Lage (Steigerung der Preise der Rohmaterialien, Arbeitslöhne, der Transportkosten, kurz der Regiekosten) nicht begründet sei, sondern über die Höhe normalen Unternehmergewinns hinausgehend, eine Ausbeutung des Publikums bezwecke.22 Die zunehmend "kartellfreundlichere" Spruchpraxis des Obersten Gerichtshofes war gewiß auch von einer analogen Entwicklung in Deutschland beeinflußt, nachdem dort das Deutsche Reichsgericht im Jahr 1897 in einer vielzitierten Entscheidung einen Kartellvertrag als rechtsverbindlich eingestuft hatte. Es handelte sich dabei um ein Urteil über eine Vereinbarung unter sächsischen Holzstoffabrikanten, in dem das Reichsgericht zwar festhielt, daß ein Kartell gegen die Gewerbefreiheit verstoße, "wenn es ersichtlich auf die Herbeiführung eines thatsächlichen Monopols und die wucherische Ausbeutung der Konsumenten abgesehen ist", Kartelle, denen das nicht nachgewiesen werden konnte, wurden jedoch nicht generell als rechtsunwirksam angesehen. Demgemäß bestätigte es im beurteilten Fall die Rechtswirksamkeit des Kartellvertrages.23 22 Schulte, Kartellrecht, 60 f. Aufstellungen zeitgenössischer kartellrechtlicher Entscheidungen finden sich bei Gustav Weiß-Wellenstein, Gutachten für den 35. Deutschen Juristentag: Empfiehlt sich die Änderung und Vereinheitlichung der deutschen und Österreichischen Kartellgesetzgebung?, in: Verhandlungen des 35. Deutschen Juristentages, 1. Band, Berlin, Leipzig 1928, 182 ff. sowie bei Schulte, Kartellrecht, 175 ff. 23 Fritz Blaich, Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914 (Bei-
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Angesichts der gesetzlichen Lage und der im Einzelfall kaum vorhersehbaren Spruchpraxis der Gerichte entwickelten sich die Kartelle in Österreich unter äußerst unsicheren rechtlichen Rahmenbedingungen. Sie waren nicht von vornherein verboten, doch die zivilrechtliche Einklagbarkeit der Vertragsbestimmungen blieb fraglich. 2. Juristische Diskussionen und Gesetzesinitiativen
Nachdem in den USA bereits 1890 mit dem Sherman-Act24 ein bemerkenswerter kartellgesetzlicher Schritt vollzogen worden war, führte man im deutschen Sprachraum vom späten 19. Jahrhundert an eine intensive juristische und ökonomische Diskussion über die Regelung des Kartellwesens. 25 Dabei war man sich weitgehend einig, daß Kartelle positive volkswirtschaftliche Auswirkungen mit sich bringen konnten, wie eine Stabilisierung der Wirtschaftsentwicklung und Vermeidung von "Überproduktion". Andererseits sah man die Notwendigkeit, allfällige "Auswüchse" des Kartellwesens hintanzuhalten. In der Diskussion herrschten Vorstellungen vor, dieses Ziel durch eine verwaltungsrechtliche Regelung und Überwachung zu erreichen. Als interessante Alternative, die jedoch nicht weiterverfolgt wurde, schlug der Österreichische Jurist Pranz Klein26 vor, die zivilrechtliehen Instrumente in einer Weise auszubauen, daß die Kartellmitglieder und von ihnen betroffene Konsumenten selbst Interessenkonflikte auf privatrechtliebem Wege austragen konnten. Klein lehnte sowohl ein Verbot der Kartelle als auch ihre regelmäßige staatliche Überwachung ab, "weil der Staat nicht ihre Leitung beanspruchen könne, wenn die Industrie die Verantwortung zu tragen habe. ,m Dieser Vorschlag wurde jedoch in der weiteren Diskussion kaum mehr beachtet.28 träge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 50), Düsseldorf 1973, 45. Zuvor war bereits 1890 ein Buchhändlerkartell als rechtswirksam erkannt worden. Ebenda, 43 ff. 24 Anne Mayhew, How American Economists Came to Love the Sherman Antitrust Act, in: From Interwar Pluralism to Postwar Neoclassicism, hrsg. von Mary S. Morgan, Maleolm Rutherford (Annual Supplement to vol. 30, History of Political Economy), Durham, London 1998, 179-201; lsay, Kartellgesetzgebung, 27 ff. 25 Als zeitgenössischen internationalen Überblick über das Kartellrecht siehe etwa Ferdinand Baumgarten, Arthur Meszleny, Kartelle und Trusts. Ihre Stellung im Rechtssystem der wichtigsten Kulturstaaten, Berlin 1906. 26 Franz Klein übte von 1906 bis 1908 und 1916 das Amt des Justizministers aus und er war Verfasser der Zivilprozeßordnung von 1898. 27 Karl-Heinz Fezer, Die Haltung der Rechtswissenschaften zu den Kartellen bis 1914, in: Hans Pohl (Hrsg.), Kartelle und Kartellgesetzgebung in Praxis und Rechtsprechung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Nassauer Gespräche d~~ Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, 1), Stuttgart 1985, 61. Klein präsentierte seine Uberlegungen anläßlich des Deutschen Juristentages 1904. Franz Klein, Referat über die
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In Österreich entfalteten sich insbesondere um die Jahrhundertwende und ab 1910 vielfältige Aktivitäten, um zu einer gesetzlichen Regelung des Kartellwesens zu gelangen. Diesen Initiativen nachzugehen ist auch von Interesse, weil sich in den einschlägigen Diskussionen um die Entwicklung eines spezifischen Kartellrechts der zeitgenössische Diskurs über die Wirkungen von Kartellen widerspiegelt. In den Jahren 1897/98 arbeitete das Finanzministerium eine Regierungsvorlage für ein Gesetz aus, das nur für Industrien gelten sollte, deren Produkte einer indirekten Besteuerung unterlagen (Zucker, Branntwein, Bier, Mineralöl, Salz).29 Für die verwaltungsrechtliche Überwachung gerade dieser Kartelle sprachen aus der Sicht des Finanzministeriums sowohl fiskalische als auch volkswirtschaftliche Überlegungen. Der Gesetzesentwurf sah in § 1 eine Registrierungspflicht für einschlägige Kartelle vor. Dafür sollten eingetragene Kartelle von der Wirksamkeit des § 4 Koalitionsgesetz ausgenommen werden. Bei Verstoß gegen die Anzeigepflicht waren Ordnungsstrafen vorgesehen (§§ 14 und 15 der Regierungsvorlage). Kartelle sollten verwaltungsrechtlich für ungültig erklärt werden können, wenn sie "geeignet sind, in einer durch die objektive wirtschaftliche Sachlage des betreffenden Industriezweiges ... nicht begründeten und das Erträgnis der ... Abgaben oder die Steuer- oder Konsumtionskraft der Bevölkerung offenbar schädigenden Weise die Preise einer Ware oder Leistung zum Nachteile der Abnehmer oder Besteller zu steigern, oder zum Nachteile der Erzeuger oder Leistenden herabzudrücken" (§ 8). Als Instanz zur Beurteilung, ob eine "objektive wirtschaftliche Sachlage" Maßnahmen und Bestimmungen eines Kartells als gerechtfertigt erscheinen ließ oder nicht, sollte eine Kommission von zwölf Mitgliedern gebildet werden (§ 11). Für den Fall, daß ein Kartell trotz seiner Untersagung weiter beibehalten wurde, drohte man ArKartellfrage vor dem 27. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 27. Deutschen Juristentages, Bd. 4, Berlin 1905, 467 ff. 28 Zur juristischen und ökonomischen Diskussion vgl. z. B. Fezer, Rechtswissenschaften; Hans Pohl, Die Entwicklung der Kartelle in Deutschland und die Diskussion im Verein für Socialpolitik, in: Helmut Coing, Walter Wilhelm, Eigentum und industrielle Entwicklung, Wettbewerbsordnung und Wettbewerbsrecht (Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert. Studien zur Rechtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, 4), Wiesbaden 1979, 206 ff.; Bemhard Großfeld, Zur Kartellrechtsdiskussion vor dem Ersten Weltkrieg, in: Coing, Wilhelm, Eigentum und industrielle Entwicklung, 255 ff.; Erich Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Tübingen 1964, 10 ff.; Hans Karl Brössler, Studien über Probleme des Österreichischen Kartellrechts, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht (Grünhuts Zeitschrift), 42, Wien 1916, 457-496. 29 Der Text von 1898 ist abgedruckt in Verhandlungen der vom k. k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, Einleitung, Wien 1912, 9- 16. Beide Entwurfsvarianten (von 1897 und 1898) finden sich bei Josef Grun(t)zel, Über Kartelle, Leipzig 1902, 173-185.
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reststrafen von bis zu sechs Monaten an, die von einem ordentlichen Gericht zu verhängen waren. Geringfügigere Ordnungsstrafen wegen der Mißachtung der Anzeigepflicht sollten von den politischen Landesbehörden ausgesprochen werden (§ 18). Der Gesetzesentwurf sah vor, daß Elemente des Anzeige- und Verbotssystems zu einer verwaltungsrechtlichen Regelung verbunden werden sollten, die durch strafrechtliche und zivilrechtliche Bestimmungen abgesichert wurde. Mit dem Vorschlag betrat das Finanzministerium in Europa juristisches Neuland. Die Regierungsvorlage war nicht nur der erste Entwurf für ein Kartellgesetz in Österreich sondern auch in Europa. Der Text wurde zwar als Pionierleistung bezeichnet, doch erntete er auch vielfache Kritik. Dem Parlament wurde er zuerst am 12. Oktober 1897 und dann mit geringfügigen Abänderungen noch einmal am 29. März 1898 vorgelegt. Allerdings verhinderte auch die deutsche Obstruktion während der Regierung Badeni, die zu einer Lahmlegung des Parlaments führte, daß der Entwurf als Gesetz verabschiedet wurde.30 Um die Initiative fortzusetzen, wurde im Jänner 1901 der Industrierar3 1 vom Handelsministerium beauftragt, eine Stellungnahme zur Regelung des Kartellwesens zu erarbeiten. 32 Im Handelsministerium hatte auch eine gewisse Reserve gegen den Entwurf aus dem Finanzministerium geherrscht, weil man das eigene Haus eher für zuständig für die Entwicklung dieser Rechtsmaterie hielt. Der Industrierat gründete ein Subkomitee für Kartellwesen, das sich am 24. Jänner 1900 konstituierte. Als Referenten wurden Dr. Carl Urban und Julius Alois Reich33 gewählt34• Für die nächste Sitzung am 26. Juni 190035 30 Schulte, Kartellrecht, 126 und 134 ff. Allerdings hatte der Österreichische Jurist Adolf Menzel bereits bei einer Tagung des Vereins für Socialpolitik im Jahr 1894 einen Gesetzesentwurf präsentiert. Adolf Menzel, Referat über die wirtschaftlichen Kartelle und die Rechtsordnung, in: Verhandlungen von 1894 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, 61), Leipzig 1895, 23 ff. 31 Der Industrierat war ein Beirat des Handelsministeriums, der von den Handelsund Gewerbekammern und anderen Interessenvertretungen beschickt wurde. Max Layer, Beiräte, in: Ernst Mischler, Josef Ulbrich (Hrsg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten Österreichischen öffentlichen Rechtes, Erster Band, Wien 1905, 447 f. 32 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Handelsrninisterium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe: Industrierat VI Abt., VI 57/1 Cartellfrage, II. Plenarversamrnlung des Industrierates, 13.1.1899. Die wichtigsten Unterlagen zum Diskussionsprozeß im Industrierat sind auch abgedruckt in Regelung des Kartellwesens, I. und II. Teil (Verhandlungen und Beschlüsse des Industrierates, 31. und 32. Heft), Wien 1912. 33 ÖStA, AVA, Handelsrninisterium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe: Industrierat VI Abt., VI 57/I Cartellfrage, 1. Sitzung des Cartellcornites vom 24. Jänner 1900. 34 Ebenda.
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erhielten die Mitglieder des Komitees vom Handelsministerium eine schriftliche Unterlage, die Informationen über die "Vortheile und Nachtheile der Kartelle", über "Begriff und Erscheinungsform der Kartelle" sowie über die "rechtliche Stellung und wirtschaftspolitische Behandlung der Kartelle" in Europa und den USA enthielt. 36 Als Fragen, die behandelt werden sollten, gab man vor, ob Kartellverträge rechtswirksam sein sollen, ob Kartelle öffentlich sein sollen und welche Mittel zur Bekämpfung eines volkswirtschaftlich nachteiligen Kartellgebarens in Anwendung zu bringen seien. In langwierigen Sitzungen am 26. Juni 1900, 19. Jänner 1901 und 24. September 1901 beriet das Kartellkomitee des Industrierates über eine gesetzliche Regelung des Kartellwesens. Referent Reich sandte im Jänner 1901 an die Komiteemitglieder einen Entwurf für ein Kartellgesetz aus, 37 der in seiner Grundstruktur an die Regierungsvorlage von 1898 erinnerte. Referent Urban legte in der Sitzung am 19. Jänner 1901 einen Bericht mit Vorschlägen für eine gesetzliche Regelung vor. 38 Unter den Ratsmitgliedern wurden Stimmen laut, die insbesondere auf die Notwendigkeit des Schutzes vor Kartellübergriffen hinwiesen, 39 andere mahnten, daß man vor allem auf die eventuellen negativen Auswirkungen eines "volkswirtschaftlich unzweckmäßigen Gesetzes" Bedacht nehmen müsse. 40 Manche Experten äußerten überhaupt ihre Skepsis, ob gerade Österreich zuerst in Europa mit einem speziellen Kartellgesetz vorangehen 35 Dem Kartell gehörten folgende Mitglieder an: Vorsitzender: Julius R. von Kink, Mitglieder: Leopold Baczewski, Robert R. v. Biedermann, Friedrich Böhler, Dr. Wilfried Gintl, Fritz Hanisch, Georg Jaeger, Gustav Josephy, Rudolf Kitschelt, Arthur Krupp, Paul Mühlbacher, Wenzel Nekwasil, Alois Neumann, Josef PallmeKönig, Franz Frh. v. Ringhoffer, Gustav R. v. Schoeller, Dr. Carl Urban, Michael Zeitlinger, Ersatzmitglieder: Camillo Feldmann, Moriz Führmann, Sigmund Hayek, Oskar v. Klinger, Casimir Lipurski, Ludwig Neurath, Julius Reich, N. Valentin, vom Handelsministerium: Dr. Stibral, Dr. R. v. Rössler, Dr. Karminski, Dr. Wolf. Vgl. Ebenda, Protokoll über die 2. Sitzung des Cartellcomites vom 26. Juni 1900. 36 ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe: Industrierat VI Abt., VI 57 /I Cartellfrage, Einleitende Bemerkungen zur Beurtheilung der in der Kartellfrage in Betracht kommenden Gesichtspunkte. 37 Ebenda, Referentenentwurf eines Gesetzes, betreffend die Regelung des Cartellwesens sowie Erläuternde Bemerkungen zu dem Referentenentwurf von Julius A. Reich, Jänner 1901. 38 Regelung des Kartellwesens, I. Teil (Verhandlungen und Beschlüsse des Industrierates, 31. Heft), Wien 1912, 38 ff. 39 ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe: Industrierat VI Abt., VI 57/1 Cartellfrage, Stenographisches Protokoll. Cartell-Comite des Industrierathes, 4. Sitzung, am 17. April 1901, Ministerialrat Dr. Ritter v. Roehsler und Mitglied Josephy. 40 Ebenda, Protokoll über die 3. Sitzung des Cartellrates vom 19. Jänner 1901, Wortmeldung Referent Reich.
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sollte, oder ob es nicht klüger wäre, entsprechende Schritte in industriell höher entwickelten Staaten, wie insbesondere in Deutschland, abzuwarten. 41 Bei den Beratungen erwies es sich als sehr schwierig, die Anliegen, den Kartellen ausreichende Rechtssicherheit zu gewähren und gleichzeitig Vorkehrungen gegen den Mißbrauch von Kartellmacht zu treffen, juristisch exakt zu formulieren. Schon bei der Definition von Kartellen traten Probleme auf. Verstand man darunter, "daß mehrere Unternehmen derselben Branche Productionsoder Preis-, Bezugs- oder Absatzverhältnisse nach bestimmten einheitlichen Normen regeln", wie dies in den Informationsmaterialien des Handelsministeriums vorgesehen war, so wären unter diese Definition auch alle Landwirtschafts-, Konsum- und Handelsgenossenschaften gefallen. 42 Besonders heikel war die Definitionsfrage für den Fall, daß man eine obligatorische Anzeige von Kartellen vorsah und Kartelle, die nicht der Registrierungspflicht nachkamen, Strafen androhte. Das hätte eine große Rechtsunsicherheit für alle Geschäftsleute, die irgendwelche Lieferahkommen oder ähnliches getroffen hätten, zur Folge gehabt. Als gangbaren Weg schlug Referent Reich in seinem Gesetzesentwurf eine freiwillige Registrierung vor. Als Anreiz für die Anmeldung sah er ähnlich wie die Regierungsvorlage - vor, daß eingetragenen Kartellen mehr Rechtssicherheit bei der zivilrechtliehen Durchsetzung ihrer Verträge gewährt werden sollte, indem man diese von der Anwendung des § 4 Koalitionsgesetz ausnahm. 43 Eine Erhöhung der Rechtssicherheit war auch dem Mitglied des Industrierates, Ludwig Neurath, ein dringendes Anliegen. Er meinte, daß der gegenwärtige Zustand, in dem die Einhaltung von Kartellverträgen praktisch nicht einklagbar war, "geradezu eine Prämie auf kaufmännische Unmoral" gewährte, weil sich Kartellmitglieder zwar des gemeinsamen Nutzens einer Organisation erfreuen konnten, jedoch ihren Beitrag zum Funktionieren derselben nicht zu leisten brauchten.44 41 Ebenda, Stenographisches Protokoll. Cartell-Comite des Industrierathes, 4. Sitzung, am 17. April 1901. Der Industrielle Krupp brachte dieses Argument im Zusammenhang mit dem Faktum, daß er Mitglied in mehreren internationalen Kartellen sei und durch eine einseitige Österreichische Regelung Probleme befürchtete. Ludwig Neurath mahnte: "Selbstverständlich dürfte keinesfalls ein Kartellgesetz in Österreich geschaffen werden, welches nicht gleichzeitig in Ungarn eingeführt wird." Ebenda, Schriftliche Äußerung zu den Referentenberichten. 42 Ebenda, Protokoll über die 2. Sitzung des Cartellrates vom 26. Juni 1900, Wortmeldung Referent Urban. 43 Ebenda, Referentenentwurf Reich, § 3. 44 Ebenda, Stenographisches Protokoll. Cartell-Comite des Industrierathes, 4. Sitzung, am 17. April 1901, schriftliche Äußerung zu den Referentenberichten.
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Als schwierig erwies sich auch die Frage einer Sanktionierung des Mißbrauchs von Kartellmacht Referent Urban bezweifelte, ob es überhaupt möglich wäre, ,juristische Kriterien, ob ein Kartell gemeinschädlich ist", aufzustellen. 45 Mitglied Neumann befürchtete, daß die Behörden "kaum in der Lage sein" werden, bezüglich der Schädlichkeit von Kartellen "ein vollkommen sachgemäßes Urteil" zu fällen. 46 Für den Fall, daß ein gesetzliches Beschwerderecht für Kunden, die sich von einem Kartell geschädigt fühlten, vorgesehen würde, sah Neurath das Entstehen einer "Kartellanfechtungsindustrie" voraus, "welche entweder abgefunden werden muß oder die Kartelleitung (wird) täglich mit der Inszenierung von Massenklagen behelligt", da ja den 80 bis 100 Großproduzenten viele Millionen Konsumenten gegenüberstünden. 47 Um amtlicherseits Maßnahmen gegen "gemeinschädliche" Kartelle durchführen zu können, sah der Gesetzesentwurf von Referent Reich im § 7 die Staatsaufsicht über die Kartelle und die kartellierten Unternehmer vor. Dafür sollte ein "Kartellrat" bestimmt werden, der seinerseits einen "Einigungssenat" (§ 10) bilden sollte. Beschwerden waren dem Einigungssenat vorzulegen, konnte dieser nicht vermitteln, sollte der Kartellrat über die Beschwerde urteilen (§ 11) und gegebenenfalls dem Kartell auftragen, das schädigende Verhalten einzustellen. Weigerten sich Kartell-Unternehmer, dem Spruch des Kartellrates Folge zu leisten, so sollten Sanktionen verhängt werden (§§ 15-18). Reich dachte an die Aufhebung des Zollschutzes für die betreffenden Industrien, die Förderung von Konkurrenzunternehmen durch Steuerbegünstigungen und die Verhängung von Ordnungsstrafen. Bei näherer Betrachtung erwiesen sich diese Sanktionsmöglichkeiten als äußerst problematisch. Zölle konnten nicht einfach reduziert werden, weil sie ja im gemeinsam mit Ungarn festgelegten Zolltarif8 samt Vertragszollregelungen festgeschrieben waren. 49 Außerdem hätten diese Maßnahmen ja nicht nur die Kartellfirmen, sondern auch die Außenseiter getroffen. 45 Ebenda, Stenographisches Protokoll. Cartell-Comite des Industrierathes, 4. Sitzung, am 17. April 1901, Wortmeldung Referent Dr. Urban. 46 Ebenda, Protokoll über die 2. Sitzung des Cartellrates vom 26. Juni 1900, Wortmeldung Neumann. 47 Ebenda, Stenographisches Protokoll. Cartell-Comite des Industrierathes, 4. Sitzung, am 17. April 1901, schriftliche Äußerung zu den Referentenberichten von Ludwig Neurath. 48 Auf den Problemkreis "Ausgleich" und Zolltarif wird im nächsten Kapitel eingegangen. 49 Ebenda, Stenographisches Protokoll. Cartell-Comite des Industrierathes, 4. Sitzung, am 17. April 1901, schriftliche Äußerung zu den Referentenberichten von Ludwig Neurath. Gerade die für die Industrie so wichtige Zollunion befand sich ohnehin von 1899 bis 1907 in einem äußerst prekären Zustand, wie oben ja bereits angedeutet wurde.
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Auch über die Natur der eventuell zu schaffenden Kartellbehörde herrschte Unklarheit. Referent Reich sah in seinem Gesetzesentwurf einen Kartellrat als verwaltungsrechtliche Instanz an. Referent Urban plädierte für die Schaffung eines Kartellamtes, das als "Gerichtsbehörde gedacht ist", das auch als "Gerichtsinstanz zur Austragung aller aus dem Bestande und der Tätigkeit der Kartelle entstandenen privatrechtliehen Streitigkeiten" fungieren sollte.50 In der Diskussion erläuterten beide Referenten, daß sie sich eine Regelung analog dem Patentamt und dem Patentgericht vorstellen konnten. Dadurch sah sich Ministerialsekretär Dr. Karrninsky veranlaßt, den Unterschied zwischen einem ordentlichen Gericht und einer ad hoc gebildeten Verwaltungsbehörde zu erläutern. "Das Patentamt ist ... keine Gerichtsbehörde, sondern ganz dezidiert eine Verwaltungsstelle, was nach der demselben von dem Patentgesetze vom 11. Jänner 1897 gegebenen Organisation . . . und nach der diese Organisation durchführenden Verordnung vom 15. September 1898 ganz außer Streit erscheinen dürfte." Daher wies Karminski das Ansinnen, das "Kartellgericht" solle auch als Instanz zur Austragung zivilrechtlicher Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Kartellen fungieren, entschieden zurück. 51 Angesichts des mühsamen Fortgangs der Diskussion äußerte Karrninsky in der vierten Sitzung des Kartellkomitees am 17. April 1901 zu fortgeschrittener Stunde die Ansicht, daß wohl noch weitere Diskussionen notwendig sein würden. Er brachte zum Ausdruck, daß der bisher erreichte Diskussionsstand wohl kaum als Grundlage für das "endgültige Gutachten" anzusehen sei. Daraufhin wurden die beiden Referenten beauftragt, unter Mitwirkung des Büros des Industrierates anband der Ergebnisse der bisherigen Beratungen die Grundzüge eines zukünftigen Kartellgesetzes festzustellen, und die Sitzung wurde geschlossen. Fünf Monate später, am 24. September 1901 , richtete Karrninsky in seiner Funktion als Chef des Büros des Industrierates an alle Mitglieder des Rates ein Schreiben, in dem er vorschlug, als weitere Grundlage für den von den Referenten zu erstellenden Kartellgesetzentwurf eine Sammlung von "richtunggebenden Statuten" von Kartellen zusammenzustellen, um die "lebendige Entwicklung der Kartelle in ihren mannigfachen Erscheinungsformen feststellen" zu können. Er ersuchte die Mitglieder des Industrierates, bei der Beschaffung der Unterlagen behilflich zu sein und sicherte zu, daß der "vertrauliche Charakter" nicht öffentlich bekannter Kartellstatuten "selbstredend gewahrt" wird. 52
Ebenda, Bericht des Referenten Dr. Karl Urban, vorgelegt am 19. Jänner 1901. ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe: Industrierat VI Abt., VI 57 /I Cartellfrage, Stenographisches Protokoll. Cartell-Comite des Industrierathes, 4. Sitzung, am 17. April 1901, Ministerialsekretär Dr. Karminsky. 50
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Nach dieser Aktion zur Beschaffung von Informationen über den Stand der Kartellentwicklung in Österreich legte das Büro des Industrierates 1904 einen umfangreichen "Cartellbericht"53 vor. Damit schliefen aber vorerst die Aktivitäten zur Formulierung eines Kartellgesetzentwurfes wieder ein.54 Etwa ab dem Jahr 1910 trat die Regelung des Kartellwesens erneut in das Blickfeld des öffentlichen Interesses. Eine spürbare Preissteigerung erregte den Unwillen der Öffentlichkeit. Tabelle 6 Index der Österreichischen Verbraucherpreise* 1900 bis 1914 Jahr
1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914
Indexzahl 80,4 78,0 78,6 79,9 81,4 85,6 86,8 90,3 90,8 91,8 95,4 99,5 100,8 101 ,2 100 (1914 = 100)
* Für den Gebietsstand des heutigen Österreich. Quelle: Mühlpeck, Sandgruber, Woitek, Index der Verbraucherpreise 1800-1914, 678 f.
Nach einer relativ geringen Preissteigerung in den Jahren 1908 und 1909 erhöhten sich die Indexwerte 1910 und 1911 um jeweils ungefähr vier Prozent. Der Index für Ernährung und Getränke stieg in Wien im Jahr 1911 sogar um 9,9 Prozent.55 Davon wurden die zahlungsschwachen Arbeiterschichten, die nahe am Existenzminimum lebten, massiv betroffen. Insbesondere in Wien, wo die sozialen Probleme durch die prekäre Wohnungssituation verschärft wurden, weil der Wohnbau mit der massiven Bevölkerungszuwanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei weitem 52 Ebenda, Bureauschreiben an die Mitglieder des Industrierates, betreffend Einsendung von Cartellstatuten, vom 24. September 1901. 53 Ebenda, Industrierath. Cartellbericht. Der Bericht setzt sich zusammen aus einem beschreibenden Textteil von 19 Seiten und einer Aufstellung in Tabellenform über 51 Kartelle auf 102 Seiten. Er stellt eine wertvolle, bisher von der Forschung nicht verwendete Unterlage dar. 54 Siehe ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211 , Industrierat, Mappe: Industrierat VI Abt., VI.119, Übersicht über die im Industrierate im Jänner 1909 anhängigen Beratungsgegenstände. Unter der Ordnungsnummer 57, Regelung des Kartellwesens, sind nach der Zusammenstellung des Kartellberichts durch das Büro des Industrierates im Jahr 1904 keinerlei Aktivitäten mehr verzeichnet. 55 Vera Mühlpeck, Roman Sandgruber, Bannelore Woitek, Index der Verbraucherpreise 1800-1914, in: Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829- 1979, Ernährung und Getränke (Wien), 678 f.
B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
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Berechnet anband von Mühlpeck, Sandgruber, Woitek, Index der Verbraucherpreise, 678 f. Diagramm 2: Steigerung der Österreichischen Verbraucherpreise in den Jahren 1900 bis 1914 (in Prozent gegenüber dem Vorjahr)
nicht Schritt gehalten hatte, kam es 1910/11 zu sozialen Massenprotesten, die zum Teil blutig niedergeschlagen wurden. 56 In der öffentlichen Diskussion waren bald die Kartelle als Hauptschuldige für die Preissteigerung ausgemacht. Im Handelsministerium langten zahlreiche Petitionen und Interventionen von Interessenvertretungsorganisationen und Einzelpersonen ein, die Maßnahmen gegen das "Kartellunwesen" forderten. 57 56 Peter Eigner, Herbert Matis, Andreas Resch, Sozialer Wohnbau in Wien, in: Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 1999, Wien 1999, 56. Diese Unruhen sind auch eingehend geschildert in Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München u. a. 1996. 57 Vgl. z. B.: ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 738, Z. 1.342112, Denkschrift des Verbandes österr. Metallwarenproduzenten in Wien; Fasz. 1094, Z. 18.345/09, Proteste des Landesvereins der Maschinen-, Metallwaaren-Fabriken und Eisengiessereien Böhmens, Prag, 2. Juli 1909 und der Genossenschaft der Mechaniker, Wien, 2. Juli 1909; Fasz. 1074, Z. 21.239/08, Protest des Landesgewerberates für die Markgrafschaft Mähren gegen das Brauereikartell; Fasz. 1074, Z. 30.920/08, Z. 36.693/08, Z. 31.349/08, Z. 35.368/08, Z. 33.495/08, Eingaben der Handels- und Gewerbekammern Lemberg, Laibach, Krakau, Brody, Olmütz und Pilsen mit Beschwerden gegen "Übergriffe" von Kartellen und der Forderung nach einem Kartellgesetz; Wirtschaftskammer Wien, IV 1047, Petition um gesetzgebensehe Maßnahmen zum Schutze der Industrie gegen Koalitionen von Rohmaterialproduzenten, überreicht dem hohen Abgeordnetenhaus von den Zuckerindustriellen in Böhmen, Prag 1909.
II. Rechtliche Rahmenbedingungen
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Für Aufsehen und das Aufkommen einer Anti-Kartell-Stimmung sorgten auch Probleme, die bei Beschaffungsmaßnahmen seitens der öffentlichen Hand auftraten. Dabei geriet insbesondere das Eisenkartell in das Blickfeld kritischer Wahrnehmung. Zum einen sorgten im Jahr 1908 Auseinandersetzungen bei der Beschaffung von Eisenrohren für die zweite Wiener Hochquellwasserleitung und das Prager Wasserleitungssystem für negative Schlagzeilen. In diesen beiden Fällen bot das französische Werk Pont a Mousson trotz Schutzzoll und höherer Frachtspesen Röhrenlieferungen zu konkurrenzfähigen Preisen an. Daraufhin besserten zwar die kartellierten Österreichischen Eisenwerke ihr Angebot so weit nach, daß sie für Wien doch den Zuschlag erhielten, in Prag bezog man hingegen einen Teil der Rohre aus Frankreich. Bei der Entscheidung in Prag spielten neben den günstigeren Preisen auch Ressentiments tschechischnationaler Mitglieder in der Prager Stadtverwaltung gegenüber den von deutschsprachigen Unternehmensleitungen geführten Österreichischen Eisenwerken eine gewisse Rolle. 58 Zum anderen trat bei Beschaffungen von neuem Material für Heer und Marine zutage, daß das Preisniveau für Produkte der Eisenindustrie in Österreich deutlich über den Weltmarktpreisen lag und daß überdies für Heereslieferungen zusätzliche Preisaufschläge verrechnet wurden. Die Eisenindustrie rechtfertigte dies mit höheren Qualitätsanforderungen des Staates bei seinen Militärausrüstungen. Besonders empfindlich traten die Preisdifferenzen in der Phase internationaler Flottenaufrüstungen vor dem Ersten Weltkrieg bei der Anschaffung von Dreadnoughts zutage. Weiters waren Militärausgaben auch ein heikles Politikum, weil sie zu den gemeinsamen Angelegenheiten der im Reichsrat vertretenen Länder und Königreiche und der Länder der Ungarischen Krone gehörten. Somit wurden sie auch in den Delegationen59 oft hitzig diskutiert.60 58 ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1074, Z. 3.017/08, Interpellation des Landtagsabgeordneten Dr. Richard Weiskirchner und Genossen gegen das Eisenkartell; Fasz 1074, Z. 8.776, Eingabe der Stadtgemeinde Prag, betreffend die schädlichen Wirkungen des Eisenkartells. Zum Konflikt der Prager Stadtverwaltung mit dem Eisenkartell siehe auch: Kartell-Rundschau 6 (1908), 758 f. und 841 f. Zu den Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit der Röhrenlierferung für die zweite Wiener Hochquellwasserleitung vgl. Kartell-Rundschau 6 (1908), 213 und 382 f. 59 Die pragmatisch oder formell gemeinsamen Angelegenheiten der Doppelmonarchie wurden legislatorisch mittels der von den Reichsvertretungen der beiden Staaten (Reichsrat und Reichstag) entsendeten Delegationen simultan gemeinsam behandelt. Zu den gemeinsamen Angelegenheiten gehörten die Auswärtigen Angelegenheiten, das Kriegswesen mitsamt der Kriegsmarine und das Finanzwesen rücksichtlich der gemeinsam zu bestreitenden Auslagen. Stanislaus Ritter von Starzynski, Gemeinsame Angelegenheiten, in: Ernst Mischler, Josef Ulbrich (Hrsg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten Österreichischen öffentlichen Rechtes, Zweiter Band F- 1, Wien 1906, 352-356; Wenzel Lustkandl, Gesetz, in:
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B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
All diese Entwicklungen führten dazu, daß das Kartellwesen zu einem Politikum wurde. Politiker aus dem sozialdemokratischen, christlich-sozialen, deutsch- und tschechisch-nationalen Lager meldeten sich zu Wort, wobei häufig in populistischer Manier pauschale Verurteilungen der Kartelle als Preistreiber und Wucherer mit allgemein antikapitalistischen und oft auch antisemitischen Invektiven einhergingen. Im Abgeordnetenhaus wurden Teuerungsdebatten abgehalten und allein in der Zeit von Juli bis Oktober 1911 wurden nicht weniger als 16 Anträge, betreffend eine Regelung des Kartellwesens eingebracht, die dem Teuerungsausschuß61 beziehungsweise dem volkswirtschaftlichen Ausschuß zugewiesen wurden.62 Der volkswirtschaftliche Ausschuß bildete ein Subkomitee unter dem Vorsitz des sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Wilhelm Ellenbogen63 , das sich mit der Kartellfrage befaßte. Zum Referenten für das Subkomitee beMischler, Ulbrich, Österreichisches Staatswörterbuch, 2, 409 f.; Stanislaus Ritter von Starzynski, Delegationen, in: Mischler, Ulbrich, Österreichisches Staatswörterbuch, Erster Band A-E, Wien 1905, 666-668; Eva Somogyi, Die Delegation als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien, in: Verfassung und Parlamentarismus. l. Teilband. Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, VII/I), Wien 2000, ll07-1176. 60 Vgl. Neue Freie Presse, 10.11.1910 und 16.11.1910 (Artikel über eine Enquete in Sachen Eisenpreise, die der Heeresausschuß der Delegationen im November 1910 abhielt); Kartell-Rundschau 8 (1910), 909 f. und 1004-1006. 61 Der Teuerungsausschuß lieferte 1912 drei Berichte zum Themenbereich Kartellwesen ab, nämlich über die Frage der Zuckerteuerung, der Kohlenteuerung und die Frage administrativer Maßregeln gegen die Kartelle. 841, 873 und 975 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten des Reichsrates, -XXI. Session, 17. Juli 1911 bis 25. Juli 1914. 62 Ebenda, Beilagen Nr. 65, 78, 230, 278, 300, 552, 555, 556, 557, 559, 565, 566, 596, 602, 650 und 670. In den Sitzungen am 17. Oktober und 7. Dezember 1911 wurden diese Anträge dem volkswirtschaftlichen Ausschuß beziehungsweise dem Teuerungsausschuß zugewiesen. Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten (12. Wahlperiode) XXI. Session, 17. Juli 1911 bis 25. Juli 1914, 15. Sitzung, 17.10.1911, 39. Sitzung, 7.12.1911. Außerdem erfolgten von Juli bis Oktober 1911 acht Interpellationen zu dem Thema. Ebenda, 6. Sitzung, 27.7.1911, 9. Sitzung, 5.10.1911, 10. Sitzung, 6.10.1911 und 11. Sitzung, 10.10.l9ll, jeweils Anhang III. Zu einschlägigen Interpellationen war es aber auch schon früher gekommen, vgl. z. B.: Interpellation des Abgeordneten Anton Seidel und Genossen an Ihre Excellenzen den Herrn Ministerpräsidenten als Leiter der k. k. Regierung und den Herrn Finanzminister, eingebracht in der 479. Sitzung des Hauses der Abgeordneten am 21. Jänner 1907. Ein Exemplar dieser Interpellation übermittelte man auch dem Handelsministerium, ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1054, Z. 3.280/07. Auch in den Landtagen wurde die Kartellfrage thematisiert und man leitete entsprechende Anträge und Beschlüsse an die Wiener Behörden weiter. Vgl. z.B.: ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1074, vom Kärntner Landtagspräsidenten übermitteltes Protokoll, Kämtnerischer Landtag, IX. Landtagsperiode, IV. Session. 28. Sitzung am 23. September 1908, Antrag des Abgeordneten Weiß und Genossen, betreffend die Schaffung eines Kartellgesetzes wegen Auswucherung durch die Kartelle.
II. Rechtliche Rahmenbedingungen
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stimmte man Dr. Johann Krek, der im Oktober 1911 einen umfangreichen Bericht und einen Gesetzesentwurf vorlegte. 64 Er nahm in seinen Ausführungen auf die zahlreichen Anträge bezug, referierte in knapper Form die Gesetzeslage für Kartelle in anderen Staaten sowie die wissenschaftliche Diskussion und die bisherigen Aktivitäten zur Erarbeitung eines Kartellgesetzes in Österreich. Besonders ausführlich ging er auf die Diskussionen und Referentenentwürfe des Industrierates ein. Krek war selbst den Kartellen gegenüber offenbar sehr negativ eingestellt. Er zitierte zum Beispiel zustimmend aus einem bekannten zeitgenössischen Werk über Kartellverträge folgende Passage: "Solange nicht Konkurrenzierungsverbote, Preisunterbietungsverbote, die Untersagung des sogenannten Dumpings usw. gegen die kartellierten Unternehmungen mit positiver Gesetzeskraft erlassen sein werden, insolange kann auf Grund der bestehenden anzuwendenden Gesetzesvorschriften die scharfe und in den meisten Fällen direkt wirtschaftlich vernichtende Kampfesweise der Kartellunternehmungen von Rechts wegen nicht geächtet und bestraft werden."65 Daraus leitete Krek die Notwendigkeit ab, ein Kartellgesetz zu schaffen, und er legte einen Entwurf vor, der an die bisherigen Vorschläge angelehnt war. Er sah eine obligatorische Registrierung für Kartelle vor und eine Bestrafung für Organisationen, die dieser Pflicht nicht nachkamen. Als Kartellbehörde wollte Krek eine "Volkswirtschaftliche Kommission" einrichten, die befinden sollte, ob Kartelle oder Kartellbeschlüsse "geeignet sind, in einer durch die objektive wirtschaftliche Lage des betreffenden Unternehmungszweiges nicht begründeten und die Bevölkerung oder einzelne Berufskreise offenbar schädigenden Weise die Preise zum Nachteile der Abnehmer oder Besteller zu steigern, oder zum Nachteile der Erzeuger oder Leistenden herabzudrücken ... "66 Derartige Kartelle sollten verboten werden. Sowohl für eine Nichterfüllung der Anmeldepflicht als auch für eine Nichtbefolgung eines Aufhebungsbeschlusses sah Krek empfindliche Strafen vor, die von den politischen Behörden der Länder verhängt werden sollten. Zu Kreks Stellungnahme lieferte der Abgeordnete Dr. FreiBier ein Koreferat. Er wandte sich überhaupt dagegen, in einem so frühen Diskussionsstadium schon einen konkreten Gesetzesentwurf zu diskutieren. FreiBier 63 Ellenbogen war bereits mehrmals in Parlamentsdebatten als Befürworter eines Kartellgesetzes hervorgetreten. Vgl. z. B. Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten des Reichsrates, XX. Session, 24. Juli 1909 bis 16. Juli 1911, Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 24.6.1910. 64 Verhandlungen der vom k. k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, Einleitung, Wien 1912, 65-96 und 103-111. Dem Subkomitee gehörten weiters die Abgeordneten Bauchinger, Denk, Diamand, Halban, Hrasky, Licht, Lubomirski, Spacek und Wüst an. 65 Georg Pick, Der Kartellvertrag nach österreichischem Recht, Wien 1909, 61. 66 Kartellenquete, Einleitung, 107.
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B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
war überzeugt, daß die "Diskussion über einen Gesetzentwurf, der sämtliche Kartellprobleme in seinen Wirkungskreis einbezieht, ... eine fruchtlose bleiben und bleiben müssen (wird), weil jede Kodifikation durch das Feststehen gewisser Grundbegriffe bedingt zu sein scheint." Diese Grundbegriffe erachtete der Koreferent aber noch "keineswegs als feststehend und genügend vorbereitet. " 67 Ebenso, wie früher schon einige Mitglieder des Industrierates, bezweifelte er, daß es einer Volkswirtschaftlichen Kommission überhaupt möglich sein könne, Entscheidungen aufgrund der "objektiven wirtschaftlichen Lage" zu treffen, insbesondere weil sich diese ja laufend ändere. Die Kommission würde daher, "selbst wenn sie mit göttlicher Einsicht begabt wäre, immer und unter allen Umständen zu spät kommen, die Schnelligkeit des geschäftlichen Entschlusses der Kartelle nie erreichen und darum auch die Wirkungen auf die Volkswirtschaft nie aufheben". 68 FreiBier mochte auch nicht von vomherein zustimmen, daß eine wirksame Regelung des Kartellwesens unbedingt durch ein administratives Einschreiten zu erfolgen hatte. Für den Fall, daß doch eine Regelung durch Verwaltungsbehörden vorgesehen werden sollte, lehnte er ganz entschieden eine "differentielle" Handhabung geltender Gesetze, wie dies in manchen bisherigen Gesetzesentwürfen vorgesehen war (z. B. ungleiche Behandlung von Kartellfirmen und Außenseitern in Fragen der Besteuerung, bezüglich der Vorzugstarife bei den Staatsbahnen, des Veredelungsverkehrs etc.), ab. Das erschien ihm als nicht vereinbar mit einer gebotenen Kultur von Rechtsstaatlichkeit. FreiBier schlug vor, in einer schrittweisen Vorgangsweise zuerst einmal nur die freiwillige Registrierung von Kartellen, denen dafür Rechtssicherheit durch die Außerkraftsetzung der §§ 2 und 4 des Koalitionsgesetzes gewährt werden sollte, einzuführen. In den weiteren Diskussionen im Subkomitee des Volkswirtschaftlichen Ausschusses konnte man sich nicht darüber einigen, ob sofort ein Gesetz anzustreben war, das auch Repressivmaßnahmen gegen Kartelle beinhaltete, oder nur die Registrierung und Anerkennung. Ähnlich wie im Industrierat im Jahr 1901 kam in dieser Situation der Gedanke auf, in einer großen Enquete mehr aktuelles Material über die Kartellfrage zu sammeln, ehe weitere Schritte angegangen werden sollten. 69 Parallel zu den Aktivitäten im Abgeordnetenhaus wurde der Industrierat zu Beginn des Jahres 1910 vom Handelsministerium eingeladen, sich neuerlich mit der Frage der Regelung des Kartellwesens zu befassen. Als RefeEbenda, Korreferat (sie) des Abgeordneten Dr. FreiBier, 97 f. Ebenda, Korreferat des Abgeordneten Dr. FreiBier, 99. Zu den Vorschlägen der beiden Referenten siehe auch Kartell-Rundschau 9 (1911), 985-988. 69 Kartellenquete, Einleitung, Vorbericht des Subkomitees des Volkswirtschaftlichen Ausschusses für das Kartellwesen an den Ausschuß (11. März 1912), 113-116. 67
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II. Rechtliche Rahmenbedingungen
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renten wurden der Textilindustrielle Artbur Kuffler sowie Alois Reich, der sich schon 1900/01 in die Materie eingearbeitet hatte, bestellt. Anläßlich der Wiederaufnahme der Diskussion resumierte Sektionschef Dr. Brosche die bisherigen Aktivitäten des Industrierates: "Die Regelung des Kartellwesens ist dem Industrierate vor mehr als elf Jahren zur Behandlung zugewiesen worden. Er hat sich damals sehr intensiv mit der Angelegenheit beschäftigt ... Im Jahre 1901 ist aber der Faden der Verhandlungen plötzlich abgerissen ...". Als Grund dafür nannte Brosche, "daß sich in bezug auf den Wunsch nach einem Kartellgesetz ein Stimmungswechsel vollzogen hat. Die Anschauungen, welche nach dem Jahre 1901 in den Vordergrund getreten sind, möchte ich folgendermaßen charakterisieren: Wir stehen in Österreich in bezug auf die industrielle Entwicklung nicht an der Spitze aller Staaten. Ein wesentliches Requisit der industriellen Organisation ist aber doch zweifellos das Kartellwesen und auch in dieser Richtung stehen wir nicht auf jener Entwicklungsstufe, auf welcher sich andere Staaten befinden, die eine hervorragende, eine gekräftigte Industrie und ein äußerst ausgebildetes Kartellwesen besitzen. Es war daher die Frage gerechtfertigt, ob es notwendig ist, daß Österreich gerade in bezug auf die Regelung des Kartellwesens vorangehe ... Mittlerweile ist aber aus Kreisen, die der Industrie nicht angehören, der Ruf nach einer Kartellgesetzgebung, sagen wir vielleicht richtiger, nach einer Antikartellgesetzgebung lauter und lauter geworden.... Ich hebe nur hervor, daß die Lebensmittelteuerung weite Kreise bestimmt hat, sich dem Rufe gegen die Kartelle anzuschließen."70 Die Referenten Reich und Kuffler faßten in ihren Berichten im Oktober 1911 noch einmal die schon bekannten Argumente zur Kartellfrage zusammen. Sie neigten eher der Vorgangsweise zu, vorerst nur eine freiwillige Registrierung und Gewährung von Rechtssicherheit für eingetragene Kartelle anzustreben, und sie begrüßten das Vorhaben des Handelsministeriums, eine Kartellenquete zu organisieren.71 70 ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe: Industrierat VI Abt., VI 57111 Kartellfrage, III. Abteilung, 5. Sitzung am 15. Februar 1910. 71 Regelung des Kartellwesens, II, 5-16 und 17-20. Kuffler arbeitete auch einen Entwurf eines Fragebogens für die vom k. k. Handelsministerium einzuberufende Enquete aus, ebenda, 21-25. Referent Alois Reich kritisierte in seinem Bericht vom Oktober 1911 den Gesetzesentwurf von Johann Krek, speziell die Rolle der Volkswirtschaftlichen Kommission als Preisrichter und er schloß sich der Meinung an, daß es zweckmäßig wäre, vorerst nur eine freiwillige Registrierung von Kartellen und die Außerkraftsetzung der §§ 2 und 4 des Koalitionsgesetzes für registrierte Organisationen anzustreben. Referent Kuffler, selbst ein Textilindustrieller, verteidigte in seinem Bericht bestehende Kartelle gegen seiner Meinung nach ungerechtfertigte Angriffe. Er befürwortete das Vorhaben des Handelsministeriums, eine Kartellenquete abzuhalten, ehe weitere Schritte getan werden sollten. Kuffler verwahrte sich auch in einer Debatte der III. Abteilung des Industrierates gegen oft unqualifizierte, untergriffige Stellung7 Resch
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B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
Der Industrierat beschloß in mehreren Sitzungen im Herbst 1911, die Abhaltung einer Kartellenquete durch das Handelsministerium zu unterstützen, und er wirkte gemeinsam mit dem Gewerberat und dem Landwirtschaftsrat an der Erstellung eines Fragebogens mit, der an Verbände und Experten verschickt wurde, um Informationen über das Kartellwesen zu sammeln.72 Die Kartellenquete fand schließlich in der ersten Jahreshälfte 1912 statt. Zahlreiche Vertreter von Produzenten- und Verbrauchergruppierungen, diversen Interessenvertretungsorganisationen und Ministerien diskutierten in ein- bis dreitägigen Sitzungen über die Karteliierung der Zucker-, Spiritus-, Mineralöl-, Brau-, Kohlen-, Zement, Eisen-, Kunstdünger und Bauindustrie sowie über die Organisation des Milchgeschäfts und die Rübenrayonierung. Für die einzelnen Sitzungen wurden Materialien über Preisentwicklungen und Organisationsstrukturen gesammelt und bei den Besprechungen konzentrierte man sich schwerpunktmäßig auf die Frage der Relation von Produktionskosten und Preisgestaltung, gleichsam gemäß einem moralischen Prinzip vom "gerechten Untemehmerlohn". Die Materialien und Besprechungsprotokolle wurden noch im Jahr 1912 veröffentlicht. 73 Zugleich verlor die Sache der Regelung des Kartellwesens im Parlament an Schwung. 1912 erfolgten noch einige Interpellationen, die jeweils nur ganz spezifische Themen, wie etwa das Spirituskartell, oder die Bildung eines "Haferringes" betrafen?4 Allein die Abgeordneten Choc und Genas-
nahmen gegen das Kartellwesen und die Rolle der Industrie dabei. Insbesondere wandte er sich gegen Beschimpfungen des christlichsozialen Abgeordneten Dr. Anton Jerzabek, der angeblich gesagt hatte, "die Zuweisung der Frage der Regelung des Kartellwesens an den Industrierat, beziehungsweise die Befragung des Industrierates in dieser Angelegenheit scheine ihm gleichbedeutend mit der Einberufung eines Kongresses der Plattenbruder behufs Stellungnahme zur Abschaffung des Plattenunwesens." Regelung des Kartellwesens, II, Auszug aus dem Protokolle über die Sitzung der III. Abteilung des Industrierates vom 25. Oktober 1911, 27, Wortmeldung von Referent Kuffler. 72 Ebenda; ÖStA, AV A, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe: Industrierat VI Abt., VI 57 /II Kartellfrage, Plenarversammlung des Industrierates am 4. Dezember 1911. 73 Verhandlungen der vom k. k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete; Einleitung; I. Zuckerindustrie. 27., 28. und 29. Februar 1912; II. Spiritusindustrie. 11., 12. und 13. März 1912; III. Mineralölindustrie. 26. und 27. März 1912; IV. Brauindustrie. 22. April 1912; V. Milch. 7. und 8. Mai 1912; VI. Kohle. 20. und 21. Mai 1912; VII. Portlandzement. 3. Juni 1912; VIII. Eisenindustrie. 17., 18., 19. und 20. Juni 1912; IX. Kunstdünger. 2. Juli 1912; X. Bauindustrie. 4. Juli 1912; XI. Rübenrayonierung und Vereinbarungen der Rübenproduzenten. 8. Juli 1912, Wien 1912. 74 Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten (12. Wahlperiode) XXI. Session, 17. Juli 1911 bis 25. Juli 1914, 64. Sitzung, 28.3.1912, 83. Sitzung, 23.5.1912, 84. Sitzung, 30.5.1912, 107. Sitzung, 23.10.1912, jeweils Anhang III.
II. Rechtliche Rahmenbedingungen
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sen und Prisehing und Genossen interpellierten noch einmal wegen einer allgerneinen Reglementierung des Kartellwesens. 75 Als neuen Ansatz, die Attraktivität der Kartellbildung einzudämmen und zugleich dem Staat Fiskaleinnahmen zu erschließen, präsentierte der Abgeordnete Pantz im Juni 1912 die Idee, Kartelle mit einer Umsatzsteuer zu belegen. 76 In der 164. Sitzung des Abgeordnetenhauses arn 25. Oktober 1912 wurde schließlich ein Bericht des volkswirtschaftlichen Ausschusses über die Regelung des Kartellwesens behandelt, der weitgehend identisch mit dem Vorbericht des Subkomitees vorn März 1912 war. Gemäß den Ergebnissen der bisherigen Beratungen endete der Bericht mit einem Antrag, das hohe Haus wolle vor der Schaffung eines Gesetzes zuerst grundsätzlich entscheiden, ob bloß der Register- und Auskunftszwang oder auch die Möglichkeit der Repression von schädlichen Maßnahmen der Kartelle in das zu beschließende Gesetz aufzunehmen sei.77 Danach kamen die Aktivitäten weitgehend zum Stillstand. 1913 wurden an das Abgeordnetenhaus noch zwei Anträge und zwei Anfragen in Sachen Regulierung des Kartellwesens gerichtet,78 die konkreten Bemühungen, ein Kartellgesetz zu formulieren, schliefen jedoch ein. Offenbar vermochte man einerseits nicht ein Gesetz zu verfassen, das ausreichend exakt definierte, welche Organisationen unter seine Wirksamkeit fallen sollten, andererseits wollte man angesichts der negativen Stimmung in der Öffentlichkeit keine Regelung vorschlagen, die nur eine Registrierung und rechtliche Anerkennung von Kartellen vorsah, ohne zugleich Repressionsmaßnahmen gegen "Kartellrnißbräuche" anzudrohen. Ein Kartellgesetz wurde in Österreich erst im Jahr 1951 beschlossen. 79 75 Ebenda, 88. Sitzung, 5.6.1912, Anhang III, 2175/1 und 106. Sitzung, 22.10.1912, Anhang III, 2491/1. 76 Anfrage Pantz an den Obmann des volkswirtschaftlichen Ausschusses und den Präsidenten, betreffend die Einführung einer Kartellumsatzsteuer. Ebenda, 91. Sitzung, 12.6.1912; Die Steuerfragen im Zusammenhang mit Kartellen wurden auch diskutiert in in Carl Satzinger, Kartelle und Personalsteuergesetz, Wien 1911. 77 Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten (12. Wahlperiode) XXI. Session, 17. Juli 1911 bis 25. Juli 1914, 164. Sitzung, 25.10.1912; 1665 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten, XXI. Session, 17. Juli 1911 bis 25. Juli 1914. 78 Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten (12. Wahlperiode) XXI. Session, 17. Juli 1911 bis 25. Juli 1914, 139. Sitzung, 6.3.1913; 1870 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten, - XXI. Session, 17. Juli 1911 bis 25. Juli 1914. Vgl. auch Neue Freie Presse, 26.10.1912. 79 Fritz Schönherr, Das Kartellgesetz (Bundesgesetz vom 4. Juli 1951, Bgbl. Nr. 173 über die Regelung des Kartellwesens samt Materialien). Mit erläuternden Anmerkungen von F. S., Wien 1952.
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B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
3. Das Zolltarifgesetz 1906 und der Ausgleich 1907
Zum Abschluß der Ausführungen über die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Kartellwesen vor dem Ersten Weltkrieg sei kurz auf das Zolltarifgesetz von 1906 und den Ausgleich 1907 eingegangen. Diese beiden Materien waren auf das engste miteinander verflochten. Die Festlegung der Außenzölle gehörte zu den "quasi gemeinsamen Angelegenheiten"80 der beiden Staaten der Habsburgermonarchie. Die Regelung des Zollwesens wurde nicht allein, ja gewiß nicht primär im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf das Kartellwesen vorgenommen. Man war sich jedoch sehr wohl bewußt, daß das Ausmaß des Zollschutzes für einzelne Wirtschaftsbereiche auch die Möglichkeit, wirksame Kartelle zu etablieren, mitbestimmte. Schutzzölle hielten ja die ausländische Konkurrenz auch dann noch vom Inlandsmarkt fern, wenn inländische Kartelle ihre Marktmacht ausnützten, um Preise im Ausmaß des Zollschutzes zuzüglich der Frachtspesen für den Transport aus dem Ausland, anzuheben. Somit entsprach die Gleichzeitigkeit der einander verstärkenden Schutzzollund Kartellbewegung dem bekannten Motto "Competiton abroad - cooperation at home"Y Primär ging es bei den Verhandlungen um einen neuen Zolltarif der Habsburgermonarchie jedoch um die Interessenwidersprüche zwischen den 80 Die "quasi gemeinsamen Angelegenheiten" wurden im Gegensatz zu den "gemeinsamen Angelegenheiten" nicht gemeinsam verwaltet, jedoch nach gleichen von Zeit zu Zeit zu vereinbarenden Grundsätzen behandelt. Zu den "quasi gemeinsamen Angelegenheiten" zählten a) die kommerziellen Angelegenheiten, insbesondere Zollgesetzgebung; b) die Gesetzgebung über die mit der industriellen Produktion in engerer Verbindung stehenden indirekten Abgaben; c) die Festsetzung des Münzwesens und des Geldfußes; d) Verfügungen bezüglich jener Eisenbahnlinien, welche das Interesse beider Reichshälften berührten und e) die Feststellung des Wehrsystems. Die Behandlung dieser Gegenstände nach gleichen Grundsätzen wurde dadurch sichergestellt, daß die betreffenden Verwaltungsgebiete durch materiell übereinstimmende Gesetze in beiden Staaten normiert wurden. Starzynski, Gemeinsame Angelegenheiten, 355 f. 81 Ulrich Wengenroth, Germany: Competition abroad - cooperation at home, 1870-1900, in: Alfred D. Chandler, Jr., Franeo Amatori, Takashi Hikino, Big Business and the wealth of nations, Cambridge 1997, 139. Allgemein zur Handelspolitik siehe Paul Bairoch, European trade policy, 1815- 1914, in: Peter Mathias, Sidney Pollard (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Europe, Band VIII, Cambridge u.a., 1989, 1-167; Fritz Blaich, Protektionismus und Unternehmerische Wirtschaft (bis 1945), in: Hans Pohl (Hrsg.), Protektionismus. Fortschritt oder Rückschritt? (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 37), Stuttgart 1985, 8-55; Rainer Fremdling, Die Zoll- und Handelspolitik Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, in: Hans Pohl (Hrsg.), Wettbewerbsbeschränkungen auf internationalen Märkten (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 46), Stuttgart 1988, 25-62.
II. Rechtliche Rahmenbedingungen
101
Produzenten, die den Zollschutz wünschten, und den Käufergruppen, die von der verteuernden Wirkung der Zölle betroffen waren. Auf der einen Seite standen die ungarischen Agrarier und zahlreiche Industrielle, die sich seit den 1880er Jahren grundsätzlich in einer Schutzzöllnerischen Haltung einig waren, 82 auf der anderen die Konsumenten und die weiterverarbeitenden Industrien, die Verbrauchsgüter und Halbfertigwaren zu Preisen kaufen mußten, die über den Weltmarktpreisen lagen. Diese Konfliktlage war überdies von nationalen Strömungen in beiden Staaten der Zollunion überlagert, die jeweils von ihren Verhandlern der Ausgleichsbestimmungen und der gemeinsamen Außenhandelsbestimmungen forderten, Stärke gegenüber den Vertretern der jeweils anderen Seite zu zeigen. 83 Unter diesen Rahmenbedingungen war die Doppelmonarchie seit dem späten 19. Jahrhundert vom Zerfall bedroht. Zeitgenössische Beobachter sprachen davon, daß die Monarchie "auf Kündigung" (seit dem Ausgleich von 1867) zu einer Monarchie "von heute auf morgen" geworden sei, als es 1899 auf österreichischer Seite wegen der schon erwähnten deutschen Obstruktion nicht gelang, den Ausgleich einer parlamentarischen Erledigung zuzuführen. 84 82 Zur sprichwörtlichen "Ehe" zwischen Getreideproduzenten und Textilindustriellen siehe etwa David F. Good, Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750-1914, Wien, Köln, Graz 1986, 199 f. 83 Zur österreichisch-ungarischen Zoll- und Handelspolitik siehe Scott M. Eddie, Economic policy and economc development in Austria-Hungary, 1867-1913, in: Peter Mathias, Sidney Pollard (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Europe, Band VIII, Cambridge u. a., 1989, 824 ff.; Herbert Matis, Leitlinien der Österreichischen Wirtschaftspolitik, in: Alois Brusatti (Hrsg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, I), Wien 1973, 45 ff. und 64 ff.; Marcel Descombes, Der Zolltarif von 1906 für das oesterreichisch-ungarische Zollgebiet, Hausarbeit, Bem 1977, 13 ff.; Nachum Th. Cross, Die Stellung der Habsburgermonarchie in der Weltwirtschaft, in: Brusatti, Die wirtschaftliche Entwicklung, 12 f. 84 1899 wurden die beiden Ministerpräsidenten Badeni und Banffy durch nationalistische Demagogie gestürzt. Ihre Nachfolger Thun und Szell einigten sich noch im gleichen Jahr über die Inkraftsetzung des Ausgleichs, der unter ihren Vorgängern ausgehandelt worden war. In Österreich konnten die Bestimmungen aber nur mittels kaiserlicher Notverordnungen auf Grundlage des § 14 der Verfassung in Kraft gesetzt werden. Nach dem ungarischen Ausgleichsgesetz konnte das Zoll- und Handelsbündnis jedoch nur durch parlamentarischen Beschluß abgeschlossen werden, so daß aus ungarischer Sicht 1899 kein rechtsgültiges Bündnis zustande kam. Demgemäß verkündete die ungarische Regierung, daß damit die Rechtslage des selbständigen Zollgebietes eingetreten sei, was in der Praxis bedeutete, daß, wenn bis 1903 kein reguläres Zoll und Handelsbündnis abgeschlossen werden sollte, von diesem Datum an gemeinsame Handelsverträge nur noch mit einer Gültigkeitsdauer bis 1907 vereinbart werden konnten, weil in diesem Jahr das bestehende Bündnis ablief. Akos Paulinyi, Die sogenannte gemeinsame Wirtschaftspolitik Österreich-Ungarns, in: Brusatti, Die wirtschaftliche Entwicklung, 589 f. ; Krisztina Maria Fink,
102
B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
Die meisten Handelsverträge der Habsburgermonarchie liefen im Jahr 1903 aus. Daher gerieten die Regierungen unter Zugzwang, bis zu diesem Jahr die Grundlinien für die zukünftige Außenhandelspolitik neu festzuschreiben. In die vorbereitende Diskussion waren in beiden Staaten zahlreiche Beiräte und Interessenvertretungsorganisationen eingebunden, in Österreich zum Beispiel der Industrierat sowie eine neu geschaffene Handelspolitische Zentralstelle der Handels- und Gewerbekammern. 85 Am 31. Dezember 1902 führten die Verhandlungen zu einer Einigung über den Zolltarif,86 der in einer Regierungsvorlage dem Österreichischen Parlament vorgelegt wurde. 87 Dieses Mal war das ungarische Parlament durch Obstruktion lahmgelegt, während in Österreich der neue Zolltarif nach langen Diskussionen im Jahr 1906 Gesetzeskraft erlangte. Die Regierungsvorlage wurde in der 194. Sitzung des Abgeordnetenhauses am 28. Jänner 1903 vorgelegt und in erster Lesung in vier Sitzungen im März 1903 behandelt. Am 26. März wurde die Vorlage dem Zollausschuß zur weiteren Behandlung zugewiesen, der drei Jahre daran weiterarbeitete, ehe im Mai 1905 im Plenum eine Spezialdebatte stattfand, bei der 22 Resolutionsanträge eingebracht wurden. Auf die Auswirkungen der Zollregelungen für das Kartellwesen bezogen sich zum Beispiel die Resolutionsanträge Die österreichisch-ungarische Monarchie als Wirtschaftsgemeinschaft Ein historischer Beitrag zu aktuellen Integrationsproblemen, München 1968; Jozsef Galantai, Der österreichisch-ungarische Dualismus 1867-1918, Budapest, Wien 1990; Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (Österreichische Geschichte, hrsg. von Herwig Wolfram, 1804-1914 (8)), Wien 1997, 510 ff.; derselbe, Parlament und Regierung CisIeithaniens 1867 bis 1914, in: Verfassung und Parlamentarismus, 1. Teilband, Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, VII/1), Wien 2000, 831 ff.; Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918: Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: Verfassung und Parlamentarismus, 1. Teilband, 11771230. 85 Bericht über die Industrie, den Handel und die Verkehrsverhältnisse in Niederösterreich während des Jahres 1906. Dem k.k. Handelsministerium erstattet von der Handels- und Gewerbekammer in Wien, Wien 1907, XIX f. Gerald Stunnayr, Industrielle Interessenpolitik in der Donaumonarchie (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, 22), Wien, München 1996, 184 ff. 86 Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa, 518 f. 87 Regierungsvorlage zum Zolltarifgesetz und Zolltarif nebst Vergleich dieser Entwürfe mit den geltenden Bestimmungen: Entwurf des Zolltarifgesetzes mitsamt dem Allgemeinen Zolltarife. 1622 d. Heiagen zu den stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten, -XVII. Session, 31.1.1901-30.1.1907. Die umfangreiche Regierungsvorlage bestand aus sechs Bänden: Bd. 1, Begründung; Bd. 2-5, Statistische Materialien über den österr.-ung. Außenhandel 1891-1901, nebst Vergleich der Zollsätze von 1878-1901; Bd. 6, Statistische Materialien über den Zwischenverkehr der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder mit den Ländern der ungarischen Kronen.
II. Rechtliche Rahmenbedingungen
103
der Abgeordneten Glabii'iski, Ebenhoch und Ofner. Glabifiski forderte eine Ermäßigung der Eisenzölle, Ebenhoch tarifarische Begünstigungen für die Einfuhr von Roheisen und Ofner "die Herabsetzung der Zölle bei Ausschreitungen der Kartelle". Die ersten beiden Anträge wurden angenommen, jener von Ofner abgelehnt. In dritter Lesung wurde der Regierungsentwurf in der 331. Sitzung des Abgeordnetenhauses am 12. Mai 1905 behandelt und verabschiedet. Im Herrenhaus erfolgte die Zustimmung am 23. Juni 1905 und die Kaiserliche Sanktion wurde zu Jahresbeginn 1906 erteilt, so daß das neue Zolltarifgesetz im RGBl. Nr. 20 vom 13. Februar 1906 publiziert wurde. 88 In Ungarn legte erst die Regierung Wekerle 1906 den gemeinsamen Zolltarif als autonomen ungarischen Zolltarif zur Behandlung vor. Daraufhin zog die Österreichische Regierung alle Ausgleichsvorlagen der Vereinbarungen, die zuvor zwischen den Regierungschefs Szell und Koerber vereinbart worden waren, zurück; neue Vorlagen wurden erst nach erneuten harten Verhandlungen zwischen den Ministerpräsidenten Beck und Wekerle im Herbst 1907 zur parlamentarischen Verhandlung eingereicht und auch verabschiedet. Wesentlicher Bestandteil des Ausgleiches von 1907 war der "Vertrag betreffend die Regelung der wechselseitigen Handels- und Verkehrsbeziehungen" zwischen Österreich und Ungarn, der auch den Vertragszolltarif umfaßte. In mancherlei Hinsicht erfolgte im Ausgleich von 1907 eine Lokkerung des Wirtschaftsbündnisses zwischen den beiden Staaten. Zum Beispiel war von nun an eine unterschiedliche Gestaltung der Konsumsteuern grundsätzlich möglich. Der Vertrag wurde wiederum auf eine Frist von zehn Jahren, also bis 1917, abgeschlossen. 89 Das Zollregime und das Wirtschaftsbündnis der beiden Staaten der Habsburgermonarchie gehörten zu den wesentlichen Rahmenbedingungen, welche die Kartelle bei den Abschlüssen ihrer Verträge zu berücksichtigen hatten. Die Außenhandelsbarrieren bildeten eine wichtige Kalkulationsgrundlage für die Festlegung von Kartellpreisen. Mit der Klärung der Verhältnisse im österreichisch-ungarischen Wirtschaftsbündnis mit dem neuen Ausgleich 1907 waren nach der Phase der Ungewißheit über die weitere Entwicklung seit 1899 im Jahr 1907 wieder stabile Grundlagen für die Periode bis 1917 geschaffen worden. Insgesamt hatten sich bei den Verhandlungen um den Zolltarif von 1906 noch einmal die Schutzzollanhänger durchgesetzt. Die durchschnittlichen Zolleinnahmen gemessen am Gesamtwert 88 Stenographische Protokolle des Hauses der Abgeordneten des Reichsrates, XVII. Session, 31.1.1901-30.1.1907, 194. Sitzung, 28.1.1901, 214.-218. Sitzung, März 1903, 329.-331. Sitzung, Mai 1905, 339. Sitzung, 23.6.1905, 384. Sitzung, 21.2.1906. 89 Vgl. Paulinyi, Gemeinsame Wirtschaftspolitik, 591 ff.
104
B. Die quantitative Entwicklung des Kartellwesens
der Importwaren erhöhten sich von 6,6 Prozent in den Jahren 1888 bis 1906 auf 7,1 Prozent in den Jahren 1907 bis 1913. Zugleich ging der Anteil Österreich-Ungarns an den gesamten europäischen Ausfuhren von sieben Prozent im Jahr 1900 auf 5,6 Prozent 1910 zurück. 90
90
Eddie, Economic policy, 829 und 843.
C. Ausgewählte Fallstudien I. Typologischer Überblick Im Abschnitt über das Structure-Conduct-Performance-Paradigma wurden sieben wichtige Merkmale zur Kennzeichnung der Struktur von industriellen Märkten hervorgehoben. Gemäß den theoretischen Vorannahmen ist davon auszugehen, daß sich die strukturellen Merkmale im Zeitablauf in einer Wechselbeziehung mit den jeweiligen Ausprägungen von conduct und performance der einzelnen Industrien entwickeln. In der folgenden Tabelle werden sieben Verlaufstypen der Entwicklung von Marktstrukturen, conduct und peiformance nach jeweils spezifischen Ausprägungen der charakteristischen Strukturmerkmale unterschieden. Alle bedeutenden Österreichischen Industrien der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lassen sich diesen sieben Typen zuordnen. Vorerst sei ein entsprechender tabellarischer Überblick gegeben. In den Kategorien eins bis vier finden sich jeweils (auch) Industrien, die als "große Industrien" kategorisiert werden, das heißt, daß sich ihr Umsatz beziehungsweise Bruttoproduktionswert im Jahr 1912 auf mehr als hundert Millionen Kronen belief. Tabelle 7
Charakteristische Marktstrukturen und Organisationsformen von Kartellen in wichtigen Österreichischen Industrien vor dem Ersten Weltkrieg Kennzeichen der Marktstruktur
Charakteristisehe Organisationsform
Industriebranchen (Beispiele)
1. Märkte mit idealen Bedingungen für die Entfaltung von Marktmacht in Wachstumsphasen: I. Großer Markt, 2. hoher Konzentrationsgrad, 3. Entweder mittelgroßer Markt für nicht substituierbare Güter oder großer Markt mit Differenzierung in mehrere nicht substituierbare Teilmärkte, Kostenersparnis durch Spezialisierung auf Teilmärkte, 4. Hohe Eintrittsbarrieren durch Kapitalintensität, economies of scale und Ressourcenabhängigkeit, 5. Über den kollektiven Nutzen des Kartells hinausgehende Anreize und Zwänge, etwa finanzierende Banken, 6. Protektionistische Politik durch den Staat, 7. feste Beziehungen zu einer übersehaubaren Anzahl von Abnehmern
Stabiles Kartell (bei guter Konjunkturlage) mit starker zentraler Kontrolle
Eisen- und Stahlindustrie, Waggonbau, Lokomotivbau, ...
(Fortsetzung Seite 106)
106
C. Ausgewählte Fallstudien
Fortsetzung Tabelle 7 Kennzeichen der Marktstruktur
Charakteristisehe Organisationsforrn
Industriebranchen (Beispiele)
2. Märkte, die kaum eine Organisation von Marktmacht erlauben: 1. Großer Markt, 2. Mäßige Konzentration, 3. Differenzierung in Teilmärkte, aber Substitution möglich, 4. Mäßige Kapitalintensität, Kapazitätsausbau in kleinen Schritten möglich, 5. Wegen der mäßigen Kapitalintensität mäßige übergreifende, organisierende Bankenmacht, 6. Zollschutz, 7. zahlreiche Abnehmer
Zahlreiche, instabile und wenig einflußreiehe Kartelle, zumeist nur Konditionenkartelle
Textilindustrie, Papierindustrie, Emailindustrie, Gummi,
3. Marktmacht durch räumliche Differenzierung: 1. Großer Gesamtmarkt, 2. Mäßige Konzentration am Gesamtmarkt, 3. Gewisse regionale Marktdifferenzierung wegen des Verhältnisses von Transportkosten zum Warenwert, 4. Mäßige Eintrittsbarrieren, mäßige set up costs, 5. Tw. Bankeneinfluß und etablierte Unternehmerdynastien, 6. Interesse des Staates an umsatzabhängigen Steuereinnahmen, Zollschutz, 7. Tw. einflußreicher Großhandel im Bereich der Banken
Föderativ organisiertes Kartell
Bier, Zucker, Spiritus, Zement, Ziegel,
4. Entwicklung massiv von Staatsintervention beeinßußt: 1. Großer Massenmarkt, 2. Mäßige Konzentration, 3. Homogene Massenprodukte, 4. Mäßige Eintrittsbarrieren, 5. Bankeneinfluß, 6. Massive staatliche Intervention zur Organisation des Marktes, 7. Im Fall der Erdölindustrie: kaum Preiselastizität des Angebotes und der Nachfrage
Massive Staats- Mineralölintervention industrie, Zündhölzchenindustrie
5. Kartell als Übergangsstadium vor Unternehmenskonzentration: 1. Großer Markt, 2. Hohe Konzentration, 3. Starke Produktdifferenzierung, individuelle Fertigung, 4. Überdurchschnittlich kapitalintensiv daher hohe set up costs und sunk costs, 5. Einfluß der finanzierenden Banken, 6. Zollschutz, 7. Unstetiger Verkauf von großen Werteinheiten
Instabile Kartellierungsansätze, allmählieh fortschreitende Konzentration
Maschinenbau
6. Wirksame technologische Eintrittsbarrieren: 1. Mittelgroßer Markt, 2. Hoher Konzentrationsgrad, 3. Homogener Massenmarkt, 4. Know-how und Lizenzen als Eintrittsvoraussetzung, 5. Teilweise in internationale Strukturen eingegliedert, 6. Wegen 4. und 5. politische Protektion nicht erforderlich, 7. Massenhafter Absatz
Quotenkartell das Know-how bewirtschaftet, tw. im Rahmen internationaler Kartelle
Glühlampen, Glasflaschen (OwensPatent)
7. Radikale Unternehmenskonzentration als Voraussetzung für Kartellierung: 1. Kleinerer Markt, 2. Rascher radikaler Konzentrationsprozeß nach langjähriger, geringer Konzentration, 3, Großräumiger Absatzmarkt, auch Exportmarkt, 4. Spezifisches technisches Know-how, 5. Banken betreiben den Konzentrationsprozeß; 6. Staatseinfluß für Organisation nicht entscheidend, 7. Massenhafter Absatz, aber nach der Konzentration in Händen weniger Firmen
Phasenweise Karteliierung, radikale Konzentrationsentwicklung
Bugholzmöbel, Leimindustrie
...
...
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
107
In den folgenden Kapiteln II bis VIII wird auf beispielhafte Märkte der obenstehenden Tabelle näher eingegangen. Gemäß der Logik des StructureConduct-Perforrnance-Paradigmas werden dabei jeweils zuerst Angaben zur Markt- beziehungsweise Industriestruktur gemacht. Als Stichjahr dafür wird, sofern nicht gute Gründe dagegen sprechen, das Jahr 1912 herangezogen. Darauf folgt eine knappe Darstellung der Organisationsentwicklung und des Verhaltens der Marktteilnehmer während eines mehrjährigen Zeitraums vor dem Ersten Weltkrieg und abschließend folgen Daten zur peiformance, das heißt zum wirtschaftlichen Erfolg der Firmen in den jeweiligen Branchen sowie zur Entwicklung des Angebots für die Nachfrager der Waren.
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung - eine Industrie, die eine starke Marktmacht zu organisieren vermochte Structure
Die Österreichische Eisenindustrie blickte um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert bereits auf eine lange Geschichte zurück. Im Spätmittelalter hatte sie durch einen technologischen Modernisierungsschub europaweite Bedeutung erlangt. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war zum Beispiel allein die steirische Eisenproduktion höher als die Englands. Ab dem 18. Jahrhundert setzten dann allerdings in anderen europäischen Regionen Wachstumsprozesse ein, mit denen die alpenländische Eisenindustrie nicht mehr mithalten konnte. Im späten 19. Jahrhundert fiel sie in ihrem Stellenwert auch innerhalb der Österreichischen Reichshälfte hinter die Eisenindustrie in den Ländern der Böhmischen Krone zurück, obwohl sich auch in den Alpengebieten umfassende Restrukturierungs- und Modernisierungsmaßnahmen durchsetzten. 1 Die gesamte Österreichische Roheisenproduktion belief sich im Jahr 1912 auf einen Wert von ungefähr 144 Millionen Kronen? Der Gesamtwert der 1 Vgl. Karl-Heinz Ludwig, Technik im hohen Mittelalter zwischen 1000 und 1350/1400, in: Karl-Heinz Ludwig, Volker Schmidtchen, Metalle und Macht 1000 bis 1600 (Propyläen Technikgeschichte, 2), Berlin 1992, 86 ff.; Ludwig Beck, Geschichte des Eisens in technischer und kulturgeschichtlicher Beziehung, passim, z.B. Band I, Braunschweig 1884, 816 ff., Band 2, Braunschweig 1893-95, 168 f . und 498 ff.; Theodor Haerdtl, Die Eisen-Industrie, in: Die Gross-Industrie Österreichs, I, Wien 1908, 59-67; Adelheid Jesse Handtmann, Der technische Fortschritt im Eisenhüttenwesen der Steiermark und Kärntens von 1750 bis 1864, Marburg/ Lahn 1980; Michael Mitterauer (Hrsg.), Österreichisches Montanwesen (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien), München 1974; Otto Hwaletz, Die Österreichische Montanindustrie im 19. und 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2000; Friedrich Schuster, Materialien zur Eisenkartell-Enquete, Mährisch-Ostrau 1912.
108
C. Ausgewählte Fallstudien
kartellierten Walz und Gießereiprodukte kann auf etwa 180 Millionen Kronen geschätzt werden. 3 In Österreich bestanden vor dem Ersten Weltkrieg in der Eisen- und Stahlbranche 23 Aktiengesellschaften. Sie verfügten im Durchschnitt über ein Aktienkapital von 9,7 Millionen Kronen. 4 Weiters gehörte zu den größten Eisen- und Stahlunternehmen die Witkowitzer Bergbau- und Eisenhütten-Gewerkschaft. Diese Firma, die keine Aktiengesellschaft war, befand sich im Eigentum der Familien Rothschild und Gutmann. 2 Zum Vergleich: Friedrich von Fellner schätzt den durchschnittlichen jährlichen Gesamtwert der Hüttenproduktion in Österreich in den Jahren 1911 bis 1913 auf 172 Millionen Kronen. Friedrich von Fellner, Das Volkseinkommen Österreichs und Ungarns, Sonderabdruck aus dem September-Oktober-Heft der Statistischen Monatsschrift, XXI, Wien 1917, 49. 3 Detailliertere Informationen zum Österreichischen Eisenmarkt Roheisenproduktion 1912: 1,759.900t (überwiegend für die Weiterverarbeitung zu Stahl) Stahlproduktion 1912: 1,953.214t (davon 1,497.206t Martinstahl) Hwaletz, Österreichische Montanindustrie, 166; Compass 1914, II, 33 ff.; Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik. Zusammengestellt im Auftrage des k. k. Handelsministeriums vom k. k. Österreichischen Handelsmuseum, Wien 1916, 318. Eisensorten, die im Jahre 1911 von Kartellfirmen verkauft wurden: Stahlroheisen: I ,87 Mio. q (Der Preis belief sich laut Compass 1914, II, 35 auf ungefahr 7,78 Kronen per q, so daß der Wert des Roheisens, das von den Firmen verkauft (und nicht von ihnen selbst weiterverarbeitet) wurde, auf ungefähr 15 Mio. Kronen geschätzt werden kann). Gießereiroheisen: 1,55 Mio.q (Der Preis belief sich laut Compass 1914, II, 35 auf etwa 8,99 Kronenper q, so daß der Wert des Gießereiroheisens, das von den Kartellfirmen verkauft (und nicht selbst verarbeitet) wurde, ungefähr 14 Mio. Kronen betragen hat. Halbfabrikat (Ingots, Rohschienen, gewalztes Eisen für die Röhrenproduktion, etc.): 2,03 Mio.q Kartellierte Walz-, Guß- und Schmiedeproduktion 1911: a) 4,56 Mio. q Stabeisen (Preis ca. 18,3 K per q, Preisangaben für Wiener Grossisten, franko Wien) b) 1,60 Mio.q Träger (Preis ca 21,6K per q) c) 0,52 Mio.q Grobbleche (Preis ca. 23,65K per q) d) 0,75 Mio.q Schwarzbleche (Preis ca 28,40K per q) e) 0,31 Mio.q verzinkte Bleche (Preis ca 44,90K per q) t) 0,77 Mio.q Schienen (Preis ca. 17,45K per q) g) weiters: Stahlguß (Formguß): 0,152 Mio.q, Gußrohre: 0,683 Mio.q, Schmiederöhren: 0,479 Mio. q Wert der Verkäufe aus den Kategorien a) bis t): ca. 180 Mio. Kronen. Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 318 f. 4 Berechnet nach Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 308.
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
109
Tabelle 8
Die vier größten Aktiengesellschaften in der Eisenindustrie im Jahr 1912 (gemessen an der Bilanzsumme) Aktienkapital Sachanlagevermögen
Firma
Bilanzsumme
Österreichisch-Alpine Montangesellschaft
123 Mio. K
72 Mio. K
89,7 Mio. K
Oesterr. Berg- u. HüttenWerksgesellschaft
85 Mio. K
35 Mio. K
60,0 Mio. K
Prager Eisen-IndustrieGesellschaft
77 Mio. K
36 Mio. K
27,0 Mio. K
Poldihütte
20 Mio. K
11 Mio. K
8,7 Mio. K
Quelle: Compass 1914, II.
Die wenigen sehr großen Gesellschaften verzerrten die Durchschnittsgröße des Aktienkapitals nach oben. Neben ihnen existierten zahlreiche Firmen mit einem Aktienkapital zwischen einer und fünf Millionen Kronen. Die wichtigsten Erzeuger von Roheisen waren die Österreichisch-Alpine Montangesellschaft (ÖAMG) 5 , die Witkowitzer Bergbau- und EisenhüttenGewerkschaft, die Prager-Eisenindustrie-Gesellschaft (PEG) und die Oesterreichische Berg- und Hüttenwerksgesellschaft Der Anteil dieser vier Firmen an der gesamten Österreichischen Roheisenproduktion (Konzentrationsrate 4) lag bei mehr als 95 Prozent6 Insgesamt teilten sich sieben Unternehmen den Roheisenmarkt 7
5 Zur ÖAMG und zum steirischen Eisenwesen siehe: Österreichisch-Alpine Montangesellschaft (Hrsg.), Die Österreichisch-Alpine Montangesellschaft 1881-1931, Wien 1931; Helmut Fiereder, Die Österreichisch-A1pine Montangesellschaft (OeAMG) von 1881 bis 1938, in: Scripta Mercaturae, 15 (1981), 59-84; Otto Hwaletz, Die steirische Montanindustrie 1871-1917, unpubl. Manuskript; derselbe, Die Österreichische Montanindustrie, 202 ff.; Hans Jörg Köstler, Die Hochofenwerke in der Steiermark von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Wiederaufnahme der Roheisenerzeugung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Radex-Rundschau, 1/2 (1982), 789-852; Heinrich Mejzlik, Probleme der alpenländischen Eisenindustrie. Vor und nach der im Jahre 1881 stattgefundenen Fusionierung in die Österreichisch-Alpine Montangesellschaft (OEAMG) (Dissertationen der Universität Wien, 61), Wien 1971. 6 Daten aus Compass 1914, II und IV. 7 Bei den sieben Firmen handelte es sich um: Österreichisch-Alpine Montangesellschaft, Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft, Oesterreichische Berg- und Hüttenwerks-Gesellschaft, Steirische Stahl- und Eisenwerke Schoeller & Co., Witkowitzer Bergbau- und Eisenhütten-Gewerkschaft, Zöptauer und Stefanauer Bergbau- und Ei-
110
C. Ausgewählte Fallstudien
Der Eisenmarkt wies sehr hohe Barrieren gegenüber Neueirrsteigern auf. Die Produktion war äußerst kapitalintensiv und sachanlagenintensiv. Während bei den Österreichischen Industrieaktiengesellschaften 1912 im Durchschnitt die Sachanlagen 46,5 Prozent des gesamten Vermögens ausmachten, belief sich ihr Anteil in der Montanindustrie auf 72,0 Prozent. 8 Die minimale effiziente Größe der Fabriksanlagen erforderte von Beginn an eine enorme Kapitalbindung. Weiters erschwerte auch die Ressourcenabhängigkeit (insbesondere für die Erzeugung von Roheisen) Neugründungen. Angesichts der Kapitalintensität des Industriezweiges war die Eisenindustrie eng mit den Finanzdienstleistern verbunden. Die Banken spielten eine wichtige Rolle. Alle Unternehmen hatten enge Beziehungen zu ihnen nahestehenden Instituten. Die Eisenindustrie wurde traditionellerweise durch hohe Zölle von der Auslandskonkurrenz abgeschirmt. Die neuen Tarife von 1906 behielten das hohe Niveau an Importabgaben bei, in manchen Fällen wurden diese sogar noch weiter gesteigert.9 Die Nachfrage am Eisenmarkt wurde von einigen großen Käufern, wie den Eisenbahngesellschaften, den Wiener Großhändlern und dem Staat (Militär- und lnfrastrukturinvestitionen) bestimmt. Conduct
Das Verhalten der Firmen am Eisenmarkt war durch die Ausbildung einer starken Kartellorganisation geprägt. Erste Ansätze zur Karteliierung tauchten bereits in den 1870er Jahren auf. Das erste Kartell war ein Abkommen für gewalzte Eisenbahnschienen im Jahr 1878. Nachdem bereits zu Beginn der 1880er Jahre die alpenländische Eisenwirtschaft zu einem Großteil in der Österreichisch-Alpine Montangesellschaft zusammengefaßt worden war, setzte 1886 auch in Böhmen ein Konzentrationsprozeß ein. Die Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft wurde mit der Teplitzer Walzwerk und Bessemerhütte fusioniert, deren Direktor Karl Wittgenstein 10 bereits 1883 die Böhmische Montangesellschaft gekauft hatte. Die Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft ging als führende Firma der "Wittgensteingruppe" 1886 senhütten-AG, Krainische Industrie-Gesellschaft. Verhandlungen der vom k.k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, Wien 1912, 445. 8 Alois Mosser, Die Industrieaktiengesellschaft in Österreich 1880-1913, Wien 1980, 209 und 211. Der Gesamtdurchschnitt ist aufgrund eines sample von 64 Gesellschaften berechnet, jener für die Montanindustrie gibt den Durchschnitt von 7 Firmen an. 9 Der Vertragszoll für lOOkg Roheisen und Stahl belief sich auf 1,5 Kronen, für Stabeisen auf 6 bis 15 Kronen, für Grobbleche, je nach Stärke, auf 9 bis 14 Kronen. Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, 532 ff.
Il. Die Eisen- und Stahlerzeugung
111
auch vertragliche Bindungen mit der Witkowitzer Bergbau- und Eisenhüttengesellschaft ein, die unter dem Einfluß der Familien Rothschild und Gutmann stand. Diese Gruppierung wurde zum Kern des ersten umfassenden Österreichischen Eisenkartells, das von 1886 bis 1901 bestand. Die Konzentrationsbewegung schritt auch unter den im Kartell organisierten Unternehmen weiter voran. 1891 erwarb die Prager Eisen-IndustrieGesellschaft gemeinsam mit der Böhmischen Montangesellschaft die Aktien der Schlesischen Kohlen und Coaks Werke zu Gottesberg, und 1897 kaufte die Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft einen substanziellen Anteil der Aktien der Österreichisch-Alpine Montangesellschaft. Im späten 19. Jahrhundert kam auch in Ungarn ein Eisenkartell zustande, und die beiden Organisationen einigten sich auf Reglements für den Eisenmarkt der gesamten Habsburgermonarchie. Im Jahre 1901 zerbrach jedoch das ungarische Kartell, was den Zerfall der Österreichischen Organisation und schließlich eine Phase eines erbitterten Preiskriegs nach sich zog. Den Ausgangspunkt für den Konflikt bildete der gescheiterte Versuch eines newcomer, sich am ungarischen Markt zu etablieren. 11 Deutsche Montanindustrielle hatten mit Unterstützung der Deutschen Bank in Ungarn die Hernadthaler ungarische Eisenindustrie-AG errichtet, ein großangelegtes Hüttenwerk zur Ausbeutung des Krompacher Eisenerzbaues. Sie versuchten dem Kartell in einem scharfen Konkurrenzkampf gegenüberzutreten, um ihre Aufnahme in die Organisation zu erzwingen. Es erwies sich jedoch das Erzlager als unzureichend, um diese Konfliktstrategie durchhalten zu können, und das neue Unternehmen arbeitete mit großen Verlusten. Als der wirtschaftliche Zusammenbruch bereits absehbar war, erwarb die Rimamurany-Salg6-Tarjaner Eisenwerks-ActienGesellschaft von der Deutschen Bank sämtliche Aktien des outsider, ohne das Einverständnis des Österreichischen Kartellverbandes. Sie versorgte das Außenseiterwerk mit eigenen Erzen und führte nach wie vor den in Ungarn nicht verkauften Anteil der Produktion zu Preisen, die unter den Kartellpreisen lagen, nach Österreich aus. Gleichzeitig erwarb die Rimamuranyer Gesellschaft auch sämtliche Aktien der "Union"-Blechfabrik, einer Österreichischen Außenseiterfirma, die notorisch die Blechpreise gedrückt hatte. Die Rimamuranyer beabsichtige, zwar selbst Kartellmitglied zu bleiben, aber die beiden übernommenen Unternehmen weiterhin als Außenseiterfirmen zu betreiben und somit für diese beiden Werke den kollektiven Kartellnutzen erhöhter Preise als freies Gut zu lukrieren, ohne an die Kartelldisziplin ge10 Zu Wittgenstein siehe z. B. R. Granichstaedten-Cerva, Josef Mentschl, Gustav Otruba, Altösterreichische Unternehmer, Wien 1969, 134 ff.; Jom K. Bramann, Karl Wittgenstein- ein Amerikaner in Wien, in: Zeitgeschichte 2 (1974), 29-40. 11 Compass 1913, li, 41 f. ; JosefGrun(t)zel, Über Kartelle, Leipzig 1902, 212 ff.
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C. Ausgewählte Fallstudien
bunden zu sein. Noch vor der außerordentlichen Generalversammlung der Rimamuninyer Gesellschaft vom 17. Februar 1900, in welcher diese Erwerbungen beschlossen wurden, teilte das Österreichische Eisenkartell mit, daß das Unternehmen die Hernactthaler Gesellschaft nach dem Erwerb nicht als selbständige, außer Kartell stehende Firma weiter betreiben könne. Um die Entschlossenheit zum Kampf gegen ein derartiges Vorgehen zu demonstrieren, setzte das Österreichische Kartell die Preise für Eisenträger von 20,5 Kronen auf 19,5 Kronenper 100kg herab. Trotzdem führte die Rimamuninyer die Transaktion durch, trat an das Kartell mit der Forderung eines Mehrabsatzes von 300.000q heran und ließ die Hernadthaler den Konkurrenzkampf fortsetzen. Daraufhin kündigte der Österreichische Kartellverband mit Schreiben vom 20. Oktober 1900 das Übereinkommen mit dem ungarischen Kartellverband auf. Kurz zuvor hatte auch die Privilegirte österreichisch-ungarische Staats-Eisenbahn-Gesellschaft als Besitzerin des Eisenwerkes Resicza das in Ungarn separat organisierte Schienenkartell gekündigt und erklärte, nunmehr das ungarische Eisenkartell als nicht mehr bestehend zu betrachten. Es setzte ein heftiger Kampf zwischen den Österreichischen und ungarischen Werken ein. Den Auftakt dazu machten die Österreichischen Werke mit einer Ausbietung von Stabeisen a 18 Kronen franko Budapest. Schließlich sanken die Stabeisenpreise 1902 bis auf 16,75 Kronen, die Preise für Träger bis auf 16 Kronen und für Grobbleche auf 23 Kronen per I 00 kg. Das noch bestehende Österreichische Kartell war bis 1901 befristet und wurde in der Phase des Preiskrieges ebenfalls nicht erneuert. Nachdem einzelne kleinere Werke höhere Quotenforderungen stellten, wurde das Kartell von der ÖAMG und den Albert Hahn-Werken ausdrücklich nicht verlängert, so daß es 1901 auslief. Die großen Österreichischen Werke, das heißt die Wittgenstein-Gruppe (PEG, Böhmische Montangesellschaft 12, ÖAMG) sowie die Witkowitzer Gewerkschaft und die Erzherzog Friedrich Werke (Teschen) gründeten in der Phase des Preiskrieges ein gemeinsames Syndikat, um das herum sich schließlich ein neues österreichisches Eisenkartell bildete. 13 Im Dezember 1902 wurden zwischen dem Österreichischen und dem ungarischen Exekutivkomitee Verträge unterzeichnet, nachdem auch in Ungarn wiederum eine Organisation entstand, wenngleich mit großen Schwierigkeiten. Die beiden Gruppen einigten sich erneut auf Reglements für den gesamten österreichisch-ungarischen Markt. Bereits in den ersten Monaten seines Bestehens 12 Die Böhmische Montangesellschaft wurde 1904 mit der PEG fusioniert und schon vor dieser Verschmelzung besaßen die beiden Firmen gemeinsame Eigentumsrechte an Erzvorkommen und sie hatten bereits Abkommen für den Verkauf von Roheisen getroffen, ein gemeinsames Verkaufsbüro errichtet und zusammen die Schlesischen Kohlen und Coaks-Werke erworben. 13 Campass 1914, li, 44 und 882.
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
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wäre das Kartell jedoch beinahe gleich wieder zerfallen, danach funktionierte es dann in relativ großer Stabilität bis zum Ersten Weltkrieg. Die ersten Wochen und Monate nach Unterzeichnung der Kartellverträge bildeten gleichsam eine zweite Runde im "Spiel" um möglichst vorteilhafte Positionen der einzelnen Unternehmen in der regulierten österreichisch-ungarischen Eisenwirtschaft Es ging einerseits von den wenigen verbliebenen Außenseitern eine stark destabilisierende Wirkung auf die Gesamtorganisation aus, andererseits sahen manche Kartellfirmen gute Chancen, in der Allfangsphase ihre Interessen nachträglich noch weitergehend durchsetzen zu können, als ihnen dies bei den Vertragsverhandlungen vor Abschluß des Kartells gelungen war. Für das Entstehen des Kartells hatte sich insbesondere der Zentraldirektor der Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft, Wilhelm Kestranek, engagiert. Die großen Firmen der Wittgensteingruppe waren daran interessiert, wieder zu geregelten Marktverhältnissen zurückzukehren. Bei Preisen, mit denen die marginalen Produzenten gerade überleben konnten, vermochten sie sichere Gewinne zu erwirtschaften. Erst wenn Außenseiter massiv diese Rahmenbedingungen in Frage stellten, wäre von Seiten der Großen ein Preiskrieg gegen die marginalen Produzenten eine rationale Handlungsalternative gewesen. Zugleich mußten die großen Kartellmitglieder das commitment signalisieren, daß sie nicht gewillt waren, fortwährende geringe Verstöße und Abstriche von ihren Rechten zugunsten der kleineren players zu tolerieren, selbst um den Preis, daß ihnen auch selbst eine neuerliche Periode des verschärften Konkurrenzkampfes großen finanziellen Schaden zufügen würde. All diese strukturell angelegten Reaktionsmuster waren in den ersten Monaten des neuen Kartells deutlich zu beobachten. In der Tat sahen gemäß diesem Kalkül manche Konkurrenten noch einen Spielraum für einen weiteren Poker um für sie noch bessere Bedingungen. Im Jänner 1903 erklärte die Nadniger Eisenindustrie-Gesellschaft, sich nicht an die Kartellvereinbarungen gebunden zu fühlen - diese seien vom ungarischen Verhandlungskomitee zwar vereinbart worden, man habe die Verträge selbst aber (noch) nicht unterschrieben. 14 Die Firma konnte auf diese Weise trachten, zwar den für alle Eisenwerke durch das Kartell geschaffenen Nutzen höherer Preise mitlukrieren zu können, selbst dafür aber keinen Beitrag leisten zu müssen. Zum Ärger des Österreichischen Kartells schien das ungarische Exekutivkomitee diese Haltung zu akzeptieren. Überdies vermochten sich die ungarischen Feinblechwerke nicht auf die im Abkommen mit dem Österreichischen Kartell vorgesehene Organisation ihres Produktionszweiges zu einigen - einerseits wegen des Kartellaustritts der Nadniger Werke, andererseits, weil die Kalaner Werke (hinter denen die Allgemeine Depositenbank und die Berliner Handelsgesellschaft standen) 14
Kartell-Rundschau, 1 (1903), 212.
8 Resch
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C. Ausgewählte Fallstudien
von vomherein deklariert hatten, der Organisation nicht angehören zu wollen. 15 Vielmehr begannen die Kalaner Werke während der Kartellverhandlungen im Jahr 1902 ein massives Ausbauprogramm, um nachher als Außenseiter am erhöhten Preisniveau in großem Umfang partizipieren zu können. Dem wollte man nicht Vorschub leisten, daher sollte aus ungarischer Sicht die Karteliierung des Feinblechmarktes (noch) nicht erfolgen. Die beiden outsider Nadniger- und Kalaner Werke erzeugten immerhin mehr als ein Drittel der gesamten ungarischen Feinblechproduktion. Am 17. Februar teilte man den Österreichern mit, daß von der Errichtung eines Feinblechkartells Abstand genommen werde. Dies veranlaßte bei der Plenarversammlung des Österreichischen Eisenkartells am 3. März 1903 den Direktor der Eisen- und Blechfabriksgesellschaft "Union", Wilhelm Radwaner, für seine Gesellschaft den Austritt aus dem Eisenkartell zu erklären, da diese nur unter der Voraussetzung beigetreten wäre, daß sich die ungarischen Werke in einem Feinblechabkommen zusammenschlossen.16 Sowohl das Österreichische Kartellkomitee als auch der Österreichische Feinblechverband sandten an das ungarische Kartell am 3. März Schreiben mit der ultimativen Aufforderung, die strittigen Punkte zu klären. In einem von Zentraldirektor Kestranek unterzeichneten Brief der PEG vom 3. April versuchte man noch mehr Druck auf die ungarischen Vertragspartner auszuüben. Kestranek drohte, das Kartell überhaupt platzen zu lassen, wenn nicht alle Verabredungen eingehalten würden. Er sah offensichtlich selbst die Situation im Sinne der oben ausgeführten Analyse, indem er schrieb: Wir müssen "auf der strikten Einhaltung der . . . Verabredung bestehen, weil andernfalls die ganze Kartellvereinbarung auf eine labile, den Bestand in keiner Weise sichernde Grundlage gestellt würde. Es kann nämlich nicht zugegeben werden, daß ein Teil willkürlich von einer Vereinbarung zurücktritt, mit dem Gedanken, daß sich der andere Teil darein fügen werde, ehe er es auf die gewiß alle schädigenden Konsequenzen ankommen lasse." 17 Damit versuchte Kestranek das commitment der Wittgensteingruppe zu unterstreichen, tatsächlich gegebenenfalls einen scharfen Konkurrenzkampf wieder aufzunehmen, selbst wenn dieser allen Eisenwerken, auch den ihm selbst nahestehenden, Schaden zufügen würde. Der Konflikt lief nicht alleine als Spiel rationaler, auf ihren ökonomischen Vorteil bedachter players ab, sondern er war auch von der Ebene persönlicher Beziehungen und Auseinandersetzungen geprägt. Einerseits war die Gruppe um die PEG sozial sehr fest gefügt, weil die führenden Persönlichkeiten auch privat eng miteinander verbunden waren. 18 Andererseits nahmen manche Konflikte auch durchaus auf der persönlichen Ebene lie15
16 17
Neue Freie Presse, 24.7.1903. Kartell-Rundschau 1 (1903), 251 ff. Ebenda, 465 f.
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
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gende Züge an, etwa jener zwischen Kestranek und dem Generaldirektor der Rimamuniny-Salg6-Tatjaner Eisenwerks-AG, Armin von Bir6, der zugleich ein Spitzenrepräsentant des ungarischen Kartells war. Unter den vielen Vorwürfen, die die Österreicher an die ungarische Organisation richteten, fand sich auch jener, daß die Ungarn dadurch, daß sie es verabsäumten, den vereinbarten Unterverband für Feinblech zu konstituieren, auch die Neigung der Eisen- und Blechfabriksgesellschaft "Union" zum Austritt aus dem Kartell verschuldet hätten. Darauf reagierte das ungarische Kartellkomitee, dem auch Bir6 angehörte, in einem Antwortschreiben spitz mit der belehrenden Bemerkung, daß diese Gesellschaft der Österreichischen und nicht der ungarischen Gruppe angehöre, daher auf dieselbe "keine Ingerenz genommen werden könne". 19 Bir6 und seine Kollegen bedachten Kestranek mit dieser Erklärung, obwohl der Erwerb der "Union" seitens der Rimamuranyer Eisenwerksgesellschaft bereits eine der Hauptursachen für den Zerfall des alten Eisenkartells gewesen war und die ungarische Firma nach wie vor mehr als 95 Prozent der Anteile der "Union" besaß. Somit verfügte der Generaldirektor der Rimamuranyer Eisenwerksgesellschaft sehr wohl über einen bestimmenden Einfluß auf das Österreichische Blechwerk. Dieses Schreiben gab offenbar den Ausschlag, daß Kestranek, der sich selbst als Hauptinitiator des Kartells exponiert hatte, Anfang April 1903 die Auflösung der Organisation androhte. Schließlich einigte man sich doch auf einen Kompromiß, der eigentlich jedoch die Schwäche der großen Kartellbefürworter gegenüber widerspenstigen, kleineren Mitgliedern widerspiegelte. Am 16. April 1903 wurden die Differenzen offiziell beigelegt und die nun von allen unterfertigten Kartellverträge zwischen dem Österreichischen und dem ungarischen Kartellkomitee ausgetauscht. Die Blechfabrik "Union" nahm ihre Austrittserklärung zurück, die Österreichischen Gesellschaften verzichteten auf den Beitritt der Nadrager Gesellschaft und begnügten sich mit der zwischen den ungarischen und Österreichischen Werken vereinbarten Verpflichtung, von Ungarn nach Österreich und umgekehrt nur bestimmte Mengen auf Grund des Durchschnittes der drei letzten Jahre zu liefern. Diesem Übereinkommen gemäß wurde zwar ein österreichisches Feinblechkartell gebildet, aber wegen des Nichtbeitrittes der Kalaner und der Nadrager Gesellschaft kein ungarisches. Man einigte sich darauf, daß die beiden outsider vom Kartell bekämpft werden sollten. 20 18 Peter Eigner, Die Konzentration der Entscheidungsmacht, Wien 1997, 286 ff.; Georg Günther, Lebenserinnerungen, Wien 1936, 53 ff. 19 Kartell-Rundschau 1 (1903), 466. 20 Zu den Verträgen und Nachtragsverträgen siehe: Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, 219 ff.; Kartell-Rundschau, I (1903), 464 ff. Neben den Konflikten um das Feinblechkartell traten auf ungarischer Seite auch im Bereich des Brückenbaukar8*
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C. Ausgewählte Fallstudien
Damit war nach einem viermonatigen Nachjustierungsprozeß das Kartell im April 1903 perfekt. Es wies folgende Struktur auf. 21 Die ungarische und die Österreichische Gesamtorganisation beriefen je ein Exekutivkomitee, das das Kartell nach außen repräsentierte. Als Vorsitzender des Österreichischen Exekutivkomitees amtierte der kommerzielle Direktor der ÖAMG, Oskar Rothballer, ein enger Vertrauter Kestraneks?2 Der zentralen Organisation waren Unterverbände für die einzelnen regulierten Warengruppen angegliedert. In Österreich waren ursprünglich zehn Unterorganisationen in Aussicht genommen 23, wovon die meisten im Rahmen der Verhandlungen 1902/03 neukonstituiert wurden, einige aber aus der Zeit davor weiterbestanden. Durch Neugründungen und weitere Ausdifferenzierungen ergaben sich schließlich im Österreichischen Kartell 18 Unterverbände für folgende Warengruppen: 24 1. Roheisen 2. Halbfabrikate 3. Stab- und Fassoneisen einschließlich Schienen bis 13 Kilogramm Gewicht pro laufenden Meter 4. Träger und U-Eisen 5. Grobbleche 6. Eisenbahnschienen, das sind Schienen von mehr als 13 Kilogramm Gewicht pro laufenden Meter 7. Gewalztes Eisenbahnkleinmaterial 8. Eiserne Schwellen
teils und auf österreichischer Seite im Rahmen des Drahtkartells Probleme auf. Die Königlich ungarischen Staatseisenwerke wollten nachträglich ihre Quote im Brükkenbaukartell von 27 auf mehr als 40 Prozent erhöhen. Für Verstimmung sorgte insbesondere, daß das aerarische Unternehmen die hinter ihm stehende Autorität in das Spiel um die Kartellanteile zumindest andeutungsweise einzubeziehen suchte. So soll sich das ungarische Finanzministerium die Stellungnahmen der Brückenbaufirmen, die sich gegen die Quotenausweitung geäußert hatten, als "zuchtlos" abqualifiziert haben. Vgl. Kartell-Rundschau, 1 (1903), 212. Weiters wurde auch das Kartell für schmiedeeiserne Röhren bei seinem vertragsgemäßen Ablauf im Jahr 1903 nicht verlängert. Es bestand aber aus der Zeit vor dem neuen Eisenkartell und außerhalb der umfassenden Organisation, so daß sein Zerfall das eigentliche Eisenkartell nicht unmittelbar berührte. Kartell-Rundschau, 1 (1903), 163. 21 Vgl. ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe Industrierat VI. Abt., VI-57 /Cartellfrage, Z. 67 Cartellbericht (erstellt vom Büro des Industrierats im Jahr 1904); Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie. 22 Eigner, Konzentration der Entscheidungsmacht, 270. 23 Kartell-Rundschau, 1 (1903), 29 f. 24 Die Darstellung gibt den Stand wieder, wie er bei der Kartellenquete 1912 präsentiert wurde. Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, 414.
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
117
9. Wechsel und Weichen 10. 11 . 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.
Eisenbahnachsen Eisenbahnradreifen Eisenbahnräderpaare Nägel, Schrauben und Nieten Feinblech einschließlich Wellblech Gewalzte, gezogene, geschweißte und nahtlose Rohre Gezogener Draht und Drahtstiften Gußrohre Stahlguß
Die Gruppen eins bis acht wurden durch den Kartellvertrag von 1902 geregelt, für die Gruppen neun bis 18 bestanden bereits ältere Kartellvereinbarungen, die die Kartellkrise von 1901/02 überdauert hatten. 25 25 Dem Kartell (das heißt einem oder mehreren der Unterverbände) gehörten 1912 folgende Unternehmen an: Österreichisch-Alpine Montangesellschaft; Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft, Teschen; Temitzer Stahl- und Eisenwerke von Schoeller & Co.; Steirische Stahl- und Eisenwerke Schoeller & Co.; Berg- und Hüttenwerk Store; Witkowitzer Bergbau- und Eisenhütten-Gewerkschaft; Zöptauer und Stefanauer Bergbau- und Eisenhütten AG; Albert Hahn Röhrenwalzwerk, Oderberg; Kabelfabrik und Drahtindustrie AG; Fürstbischöfliche Hüttenverwaltung in Buchbergsthal; Aktiengesellschaft Eisenwerk Libschitz; Krainische Industrie-Gesellschaft; Eisenwerke AG Rothau-Neudek; Zbirover Eisenwerke Max Hopfengärtner, Holoubkan; C. T. Petzold & Co. in Wien (für das Eisenwerk Janowitz); Schwarz & Beck, Pilsen; Feiten & Guillaume, Fabrik elektrischer Kabel, Stahl- u. Kupferwerke AG; Fried. v. Neumann, Markt!; Joh. E. Bleckmann, Mürzzuschlag; Kar! Steiner & Co., Salzburg; Rohrböck's Söhne, Wien; Poldihütte Tiegelgußstahlfabrik; Rudolf Bächer in Raudnitz; Steirische Gußstahlwerke Danner & Co. in Wien; Elbertzhagen & Glassner in Mähfisch Ostrau; Fischer'sche Weicheisen- und Stahlgießerei-Gesellschaft in Traisen; Karbitzer Stahlgußhütte Arnolds & Kreß in Karbitz; ElektrizitätsAG vormals Kolben & Co., Prag; Jac. Raubitschek in Prag-Bubna; Skodawerke, AG in Pilsen; lgnaz Storek in Brünn; Teudloff & Dittrich Armaturen- und Maschinenfabrik GmbH in Wien; Maschinenbau AG vorm. Breitfeld, Danek & Co., Prag für das Eisenwerk Blansko; J. & Th. Reitlinger, Jenbach; Eisenwerke C. T. Petzold & Co., Komorau; König!. Stadt Rokycaner Eisenwerke Rokycan; AG R. Ph. Waagner - L. & J. Bir6 und A. Kurz, Wien; Österreichische Mannesmannröhren-Werke GmbH, Wien; Erste galizische Waggon- und Maschinenbau AG, Sanok; Leobersdorfer Maschinenfabriks AG, Leobersdorf; Prager Maschinenbau AG (vorm. Ruston, Bromovsky & Ringhoffer) Prag; Orenstein & Koppel, Wien; Schienenwalzwerk K. k. priv. Südbahn-Gesellschaft, Graz; Adolf Bayer in Mürzzuschlag; Eisenwerk Krieglach, C. T. Petzold & Co.; Brüder Lapp, Rottenmann; Blech- und Eisenwerk "Styria", Löwenthal, Schmid & Co.; Tlach & Keil, Troppau; Österreichische Werke der k.k. priv. Eisen- und Blechfabriksgesellschaft "Union"; Vogel & Noot, Wartberg; G. Winiwarter, Wien; Kärntnerische Eisen- und Stahlwerks-Gesellschaft; Eisen- und Drahtindustrie-Genossenschaft, Krakau; Freistädter Stahl- und Eisenwerke AG, Freistadt; Kupferwerke Österreich; Erste galizische Schrauben-, Nie-
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C. Ausgewählte Fallstudien
Der Verkauf wurde von einem Zentralbüro überwacht. Den Mitgliedern stand es frei, ihre Produkte selbst zu vertreiben, sie mußten jedoch detaillierte Verkaufsdaten an das Zentralbüro melden. Die Organisation fungierte nicht formell als Preiskartell; dies hätte ja die Kartellverträge gemäß dem Koalitionsgesetz höchst anfechtbar gemacht. Die zentrale Koordination und das Quotensystem brachten trotzdem faktisch eine gemeinsame Festlegung der Preise mit sich. 26 Ähnlich wie in Österreich - allerdings in größerem Maßstab - kam es auch in Deutschland nach der Jahrhundertwende zu einer Neuformierung der Organisationsstrukturen in der Stahlindustrie.27 Vor allem ist die Gründung des Stahlwerkverbandes im Jahr 1904 zu erwähnen. Darüber hinaus entstanden auch internationale Abkommen, zum Beispiel für Schienen28 und für Draht29 . Eine volle Eingliederung der Österreichischen Stahlindustrie in die westeuropäischen Kartellstrukturen, 30 wie etwa den deutschen Stahlwerksverten- und Muttern-Fabriks AG in Oswi~cim; Erste Nägel- und Eisenindustrie-Genossenschaft in Kropp und Steinbüchel; Gewerkschaft Hohenmautben in Hohenmauthen; Georg Magusar in Kropp und Steinbüchel; Schrauben- und Schmiedewarenfabriks AG Brevillier & Co. u. A. Urban & Söhne, Wien; Moritz Bartelmus, Bielitz; Fürstbischöfliche Berg- und Hüttenwerke, Friedland. Ebenda, 445 f. 26 ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe Industrierat VI. Abt., VI-57 /Cartellfrage, Z. 67 Cartellbericht, 2; Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, 412. 27 Zur Entwicklung bis 1895 siehe Ulrich Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt. Die deutsche und britische Stahlindustrie, 1865-1895, Göttingen 1986. Zur hier besprochenen Zeit vgl. Gerald D. Feldman, Iron and Steel in the German Inflation, 1916-1923, Princeton, N.J. 1977; Alfred D. Chandler, Jr., Scale and Scope. The Dynarnics of Industrial Capitalism, Cambridge, Massachusetts, London, 1994, 488 ff.; Wilfried Feldenkirchen, The Banksand the Steel Industry in the Ruhr: Developments and Relations from 1873 to 1914, in: Wolfram Engels, Hans Pohl (Hrsg.), German Yearbook on Business History, 1981, Berlin 1982, 28-34; Alfred Reckendrees, Das ,,Stahltrust"-Projekt (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 5), München 2000, 59 ff.; Steven B. Webb, Tariffs, Cartels, Technology, and Growth in the German Steel Industry, 1879 to 1914, in: The Journal of Economic History, XL (1980), 309-329; Ulrich Wengenroth, Krisen in der deutschen Stahlindustrie im Kaiserreich und in der Zwischenkriegszeit, in: Friedrich-Wilhelm Henning, Krisen und Krisenbewältigung vom 19. Jahrhundert bis heute, Frankfurt am Main u.a. 1998, 49-69. 28 Für Schienen hatte bereits 1883 bis 1896 ein internationales Syndikat bestanden. 1904 wurde nach der Errichtung des Deutschen Stahlwerksverbandes eine neue internationale Organisation gegründet. Ervin Hexner, The International Steel Cartel, Chapel Hili 1946, 18 f.; Kartell-Rundschau, 2 (1904), 535, 756 und 879, 10 (1912), 693 ff. 29 Ebenda, 6 (1908), 149, 7 (1909), 278, 577. 30 Vgl. Carl Graeff, Die internationalen Eisenverbände. Werdegang und Bedeutung, Düsseldorf 1935.
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
119
band oder das internationale Schienensyndikat erfolgte formell noch nicht, aber mittels mancher Abkommen arrangierte man sich doch mit der ausländischen Konkurrenz. Auf verschiedene Weise gelangte man insbesondere zu Übereinkünften mit der deutschen Industrie. Diese internationale Organisationstendenz entwickelte sich vor dem Ersten Weltkrieg allerdings bei weitem nicht so weit, wie später in der Zwischenkriegszeit Es entstanden regionale, grenzüberschreitende Vereinbarungen zwischen den Witkowitzer und Rimamuninyer Werken auf der einen Seite und den deutschen, oberschlesischen Werken auf der anderen Seite. Man regelte den Schutz der jeweiligen Heimmärkte, aber auch Abkommen für gemeinsame Exportmärkte wurden getroffen. So sollen Abkommen für den Verkauf von Fassoneisen und Blech nach Rumänien, Bulgarien und Serbien bestanden haben? 1 1903 gingen auch vom internationalen Walzdrahtverband, in dem insbesondere die deutsche und die nordamerikanische Industrie eine starke Position innehatten, Signale an die Österreicher aus, sich anzuschließen. Es kam aber nicht zu einem formellen Abkommen mit dem Verband, sondern zu einem agreement mit dem deutschen Walzdraht-Syndikat, wodurch die Österreichische Produktion indirekt an des internationale Kartell angebunden war. 32 Mit dem internationalen Schienensyndikat fanden ab 1906 immer wieder Besprechungen statt, die schließlich ab 1908 zu agreements führten? 3 Wie bereits erwähnt, wurde die Österreichische Roheiseproduktion zu 100 Prozent von der Regulierung seitens des Kartells erfaßt und auch die anderen Produktionszweige waren zu ungefahr 90 Prozent kartelliert. Obwohl der Pakt nach der anfänglichen Krise ein hohes Ausmaß an Stabilität erlangte, war er doch nicht frei von weiteren Phasen der Destabilisierung. Im Jahre 1905 wurden die Erzherzog Friedrich Werke in Teschen, die zu den größten Österreichischen Roheisenproduzenten gehörten, in eine Aktiengesellschaft namens Oesterreichische Berg- und Hüttenwerksgesellschaft umgewandelt. Als Akteur dieser Transaktion kamen nicht die Wittgensteingruppe und ihre Banken (Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft, Berliner Handelsgesellschaft, Böhmische Escompte-Bank, etc.) zum Zug, sondern die k. k. priv. allg. österr. Boden-Credit-Anstalt wurde damit beauftragt, die ihrerseits bereits in der Eisenindustrie engagiert war und die als "Bank des Kaiserhauses" über glänzende Beziehungen zur Hocharistokratie verfügte. Auf der Grundlage einer verbesserten Kapitalversorgung nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft sollte der stark veraltete Betrieb 31 32
33
Kartell-Rundschau, 1 (1903), 92 f . Ebenda, 93. Ebenda, 10 (1912), 693 ff.
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C. Ausgewählte Fallstudien
modernisiert und vergrößert werden. Die Restrukturierung dieses starken player am Eisenmarkt hatte sofort Gerüchte vom bevorstehenden Zerfall
des Eisenkartells und einen Kurssturz der Eisenwerte an der Wiener Börse zur Folge. Die Wittgensteingruppe34 und die Gesterreichische Berg- und Hüttenwerksgesellschaft einigten sich jedoch rasch auf einen Kompromiß in Bezug auf die Kartellvereinbarungen. Der neuen Aktiengesellschaft wurde grundsätzlich eine Quotenerhöhung zugestanden, jedoch nicht mit sofortiger Wirkung, sondern erst ab dem Jahr 1912, in dem ohnehin Verlängerungsverhandlungen des 1902 auf eine Dauer von zehn Jahren abgeschlossenen Kartells fallig werden würden. Das war auch für die Gesterreichische Bergund Hüttenwerksgesellschaft akzeptabel, weil es ohnehin noch einige Jahre dauerte, bis die in Angriff genommenen Restrukturierungsmaßnahmen ihre praktischen Ergebnisse zeitigten?5 Dieser Konflikt konnte relativ rasch bewältigt werden, da vor allem die großen Marktteilnehmer darin verwickelt waren, die alle an einem einigermaßen reibungslosen Weiterbestehen des Kartells interessiert waren. Schwieriger und langwieriger gestalteten sich Auseinandersetzungen, die in der Periode von 1908 bis 1910 auftraten und zu einer neuerlichen Phase von Preiskriegen führten. Im Jahr 1908 schickten sich drei neue Firmen an, in den Eisenmarkt einzutreten, eine Kartellfirma plante eine weitgehende Ausweitung ihrer Produktionstätigkeit und die deutsche Konkurrenz drängte wegen Absatzproblemen auf dem Heimmarkt in die habsburgische Zollunion. Die deutsche Eisenindustrie war ab Jänner 1908 nicht mehr gewillt, weiterhin die mehr oder weniger informellen Gebietsschutzübereinkommen mit den Österreichischen Werken zu beachten, mit Ausnahme des Trägermarktes. Insbesondere die Österreichischen Stabeisenpreise gerieten durch die billigeren Angebote unter Druck. An vielen frachtmäßig günstig gelegenen Orten Österreichs konnten die inländischen Eisenhändler trotz Zollschutz nicht mehr mit den deutschen Preisen mithalten?6 Um die Marktanteilsverluste an die ausländische Konkurrenz in Grenzen zu halten, mußte das Kar34 Rechnet man der Wittgensteingruppe neben der PEG, der Böhmischen Montangesellschaft und der ÖAMG auch die lose verbundene Witkowitzer Eisengewerkschaft (Rothschild, Gutmann) und die Schöllerschen Eisenwerke hinzu, so stellte sie 70 Prozent der Österreichischen Eisenproduktion dar. Kartell-Rundschau, 3 (1905), 690. 35 Ebenda, 689. 36 Laut Neue Freie Presse vom 15. Dezember 1908 machten zum Beispiel die "Titaniawerke KG E. Haake & Co." in Wels die Erfahrung, daß sie deutsches Stabeisen franko Wels einschließlich Zoll um 19,40K per Zentner angeboten erhielten, während ihnen Österreichische Händler und Eisenwerke lediglich die Auskunft geben konnten, daß sie mit diesem Preis nicht mithalten konnten. Ihr billigstes Offert kam auf 19,80K per lOOkg.
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
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tell - regional differenziert - 1908 und 1909 wiederholt die Preise empfindlich nach unten anpassen. Zugleich trachtete man durch die Preissenkungen auch die neu auftretende Konkurrenz im Inland zu bekämpfen. In Freistadt (Karvimi) übernahm die 1907 neu konstituierte Freistädter Stahl- und Eisenwerke AG die aus der Konkursmasse von H. Thiels Nachfolger stammenden Werksanlagen und erweiterte den Betrieb um neues Stahlwerk. Somit war ,die Gesellschaft in der Lage, das Halbmaterial für ihre Fertigprodukte groBteils selbst aus Roheisen darzustellen. Das Roheisen wurde überwiegend aus dem Ausland bezogen. In Traisen (Niederösterreich) begann das Lenz'sche Werk Stabeisen zu erzeugen und auch die unweit von Pilsen gelegenen Königliche Stadt Rokycaner Eisenwerke Rokycan traten als neuer Konkurrent auf?7 Am bedrohlichsten mußten dem Kartell die Ausbaupläne der Firma Albert Hahn erscheinen. Dieses deutsch-österreichische Unternehmen mit Standorten in Berlin und Oderberg stand bereits in einem bis 1912 befristeten Vertragsverhältnis mit dem Österreichischen Kartell. Während sich die Österreichischen Kartellfirmen einig waren, daß sie das 1912 ablaufende Übereinkommen bis 1917 verlängern wollten, war das deutsch-österreichische Werk gewillt, bereits anläßlich der Neuverhandlungen bis 1912 die Unternehmensstruktur den zukünftigen, veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, die man für die Zeit nach 1917 erwartete. Die Fa. A. Hahn stand in engen Beziehungen zur deutschen Montangruppe, hinter der wiederum die Deutsche Bank stand. 1917 war deswegen ein wichtiges Datum, weil in diesem Jahr wieder Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn und neuerliche Handelsvertragsverhandlungen fällig wurden, wodurch sich die Rahmenbedingungen für eine allfällige weitere Fortsetzung des Kartells ändern würden. Allgemein erwartete man eine Reduktion des Zollschutzes. Performance
Bereits bei den Ausführungen zu den Diskussionen um ein Kartellgesetz wurde darauf hingewiesen, daß das Eisenkartell mit massiver Kritik seitens der Öffentlichkeit konfrontiert war. Man warf den Industriellen vor, daß sie ihre organisierte Marktmacht mißbrauchten, um ungebührliche Extraprofite auf Kosten der eisenverarbeitenden Industrien und der Gesamtwirtschaft zu erzielen. In der folgenden Tabelle sind Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung der Aktiengesellschaften in der Eisenindustrie zusammengestellt:
37
Vgl. Kartell-Rundschau, 7 (1909), 268 und 567.
C. Ausgewählte Fallstudien
122
Tabelle 9 Unternehmensdaten der Aktiengesellschaften in der Eisenindustrie von 1907 bis 1912 1907
1908
1909
1910
1911
1912
22
21
22
23
23
23
Aktienkapital aller Firmen zusammen in Mio. K
201
199
209
206
220
224
Durchschnittliches Aktienkapital in Mio. K
9,1
9,5
9,5
9,0
9,6
9,7
Anzahl der Firmen, deren Bilanzen berücksichtigt werden konnten
21
21
21
21
22
22
Prozentsatz der Firmen, die Verluste auswiesen
9,5
9,5
14,3
9,5
13,6
9,1
Gewinn in% des Aktienkapitals aller Firmen
19,8
20,3
18,1
18,3
20,1
24,9
Dividende in% des Aktienkapitals aller Firmen
16,8
17,1
15,7
15,4
17,0
20,4
Jahr
Anzahl der Firmen
Quelle: Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 308.
Im Vergleich zu den weiter unten besprochenen Industrien wies die Eisenindustrie in der Tat einen niedrigen Anteil von Aktiengesellschaften auf, die Verluste ausweisen mußten. Die Dividenden und die Gewinne in Prozent des Grundkapitals fielen vergleichsweise sehr hoch aus. Als Indikator für die Entwicklung der Eisenindustrie seien einige Datenreihen zur Roheisenproduktion wiedergegeben. Die Angaben zur Mengenentwicklung zeigen, daß das Wachsturn der Produktionsmenge 1901 in eine Rezession umschlug, die bis 1903 andauerte. Gemäß den theoretischen Vorüberlegungen vermag es nicht zu überraschen, daß angesichts der hohen Fixkostenbelastungen und der ausgeprägten Skaleneffekte das Eisenkartell just in dieser Phase zerbrochen ist. Hohe Fixkosten, die während einer guten Geschäftslage eine Kartellorganisation stärken, weil sie als entry barrier gegen neue Konkurrenten wirken, können insbesondere am Beginn einer Rezessionsphase zum Zerfall einer kollusiven Organisation führen. Wenn die Einträge in die Auftragsbücher nachzulassen beginnen, die Preise aber noch relativ hoch sind, sind Unternehmen versucht, die Kartelldisziplin nicht mehr einzuhalten.
123
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung Tabelle 10 Roheisenproduktion, Anzahl der Arbeiter, Preisentwicklung und Hochofenstatistik von 1900 bis 1912
Jahr
Roheisen- Prod. wachst. Anzahl der Wertjet Anzahl der Anzahl der in Kronen Hochöfen Hochöfen geg. Vorjahr Arbeiter prod. in Betrieb in% in 1000t
1900
1000,2
0,4
6357
82,3
74
50
1901
1030,2
2,9
6294
78,1
75
48
1902
991,8
-3,7
5104
76,2
71
40
1903
970,8
-2,1
5140
73,4
67
38
1904
988,4
1,8
5283
74,1
65
36
1905
1119,6
13,3
6160
74,3
62
37
1906
1222,3
9,2
6424
77,0
59
37
1907
1383,5
13,2
6720
79,3
61
42
1908
1466,9
6,0
7009
79,9
59
37
1909
1465,1
--0,1
6447
79,9
50
33
1910
1504,8
2,7
5709
79,9
44
29
1911
1596,1
6,1
5786
79,8
44
31
1912
1759,9
10,3
5931
81,8
42
28
Quelle: Daten aus dem Statistischen Jahrbuch des k. k. Ackerbauministeriums und der Statistik des Bergbaues in Österreich, nach Hwaletz, Österreichische Montanindustrie, 144 und 146.
Von 1904 bis 1912 erfreute sich die Industrie dann eines sehr hohen und relativ stabilen Wachstums. Der Wachstumstrend von 1900 bis 1912 lag bei 5,3 Prozent, bei einer Spannweite der jährlichen Veränderungsraten zwischen -3,7 Prozent (1902) und 13,3 Prozent (1905)?8 Insbesondere die Jahre 1902, 1903 und 1909 brachten eine fühlbaren Produktionsstockung. Das tendenziell hohe Wachstum und die zunehmende Eigentumsverflechtung in der Eisenindustrie erleichterten es aber, ab 1904 die 1902/03 neu gebildete Kartellorganisation stabil aufrecht zu erhalten. Um die performance aus der Sicht der weiterverarbeitenden Industrien einschätzen zu können, seien noch einige Daten zu Eisensorten, die insbesondere auch von der Maschinenbauindustrie benötigt wurden, analysiert. 39 Berechnet nach der Tabelle über die Roheisenproduktion. Vg1, Max-Stephan Schulze, Engineerig and Economic Growth. The Development of Austria-Hungary's Machine-Building Industry in the late Nineteenth Cen38
39
C. Ausgewählte Fallstudien
124 130 120
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110 100 90
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1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 94 92 90 91 90 92 92 78 82 85 84 94 86 93 120
113
81
81
85
91
97
91
88
87
87
84
96
96
Quelle: Schulze, Engineering and Economic Growth, 254.
Diagramm 3: Gießereiroheisen- Wiener Großhandelspreise und deutsche Importware 1900 bis 1913
Im einzelnen wird auf die Preisbildung für Gießereiroheisen, Stabeisen und Träger eingegangen. Im Diagramm sind der Österreichischen Preisentwicklung die deutschen Notierungen zuzüglich Vertragszoll gegenübergestellt. Bezog man in Österreich deutsche Waren, so kamen zu diesem Vergleichswert noch Frachtspesen hinzu. Die Österreichischen Preise konnten somit geringfügig höher als die hier dargestellten deutschen Vergleichswerte sein und trotzdem für die Käufer noch günstiger zu stehen kommen als die ausländische Ware. Dem Diagramm ist zu entnehmen, daß die Österreichischen Preise zumeist den Spielraum, den ihnen der Zollschutz gewährte, weitgehend ausnutzten. Dabei ist jedoch anzumerken, daß die durch die Ressourcenlage gegebenen Wettbewerbsnachteile der Österreichischen Eisenindustrie im Bereich der Roheisenerzeugung am stärksten spürbar waren, weil zum Beispiel die Kohle für die steirische Eisenerzeugung über weite Strecken aus Böhmen, Mähren oder Schlesien herantransportiert werden mußte. Dieser Nachteil in tury (Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 3), Frankfurt am Main u.a. 1996, 141 ff.; Stephan Koren, Die Industrialisierun~ Österreichs- Vom Protektionismus zur Integration, in: Wilhelm Weber (Hrsg.), Osterreichs Wirtschaftsstruktur gestern- heute- morgen, Erster Band, Berlin 1961, 260 f.; Friedrich Hertz, Die Produktionsgrundlagen der Österreichischen Industrie vor und nach dem Kriege, Wien, Berlin 1919, 148 ff.
125
li. Die Eisen- und Stahlerzeugung
der Urproduktion mag sich bei Produkten, denen man durch weitere Verarbeitung noch eine weitere Wertschöpfung angedeihen ließ, wie etwa stählernen Walzwaren, etwas relativiert haben. Doch auch bei Stabeisen und Trägern ist das Muster deutlich erkennbar, daß sich deren Preisgestaltung an der sogenannten deutschen "Parität" orientierte, das heißt an den deutschen Preisnotierungen plus Zoll und Frachtspesen: 360 340 320
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300 280
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260 240 220 200 180
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160 140
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1900 1901
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1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911
205
170
176
191
193
195
203
215
208
187
184
187
325
238
234
235
237
236
260
274
231
228
236
231
Quelle: Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, Tabelle XI. Diagramm 4: Stabeisen - Wiener Großhandelspreise und deutsche "Paritäten" 1900 bis 1911
Deutlich ist die Preissteigerung im Jahr 1903, in dem nach den kartellosen Jahren 1901 und 1902 die Organisation des Marktes wieder in Kraft trat, zu erkennen. Danach hielten die Stabeisenpreise bis 1907 einen etwa gleichbleibenden Abstand zu den deutschen Notierungen, ja sie blieben sogar etwas hinter der deutschen Preisentwicklung zurück. In diesen Jahren kam dem Kartell zugute, daß auch die Preise der ausländischen Konkurrenz merklich anstiegen. Im Stabeisengeschäft machten sich 1908 aus der Sicht des Österreichischen Kartells zwei Störfaktoren bemerkbar. Der Konkurrenzdruck aus Deutschland nahm zu, was sich in einer spürbaren Senkung der deutschen Parität niederschlug, und gleichzeitig brachen in Österreich Konflikte des Kartells mit newcomers und outsiders aus. In dieser Situation setzte das Kartell die Preise 1909 empfindlich herab und reduzierte sie 1910 in der Endphase der Kartellkonflikte noch einmal etwas.
C. Ausgewählte Fallstudien
126 280 260
4 h.,
240 220 200 180 160 140
1- - • - - Preislt (nom.) 1- · -fr- -Dt. Parität
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1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 200 164 170 198 200 205 212 225 225 216 216 216 268 236 228 229 229 229 240 251 239 233 233 233
Quelle: Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, Tabelle XIV. Diagramm 5: Träger- Wiener Großhandelspreise und deutsche "Paritäten" 1900 bis 1911
Die Trägerpreise entwickelten sich bis 1907 analog zu den Stabeisenpreisen, von der Preissenkung ab 1908 wurden sie jedoch weniger berührt. Oben wurde ja darauf hingewiesen, daß in dieser Zeit die meisten grenzüberschreitenden Abkommen mit der deutschen Industrie nicht mehr eingehalten wurden, mit Ausnahme des Trägergeschäfts. Auf die deutschen Preissenkungen 1908 reagierte man daher in Österreich vorerst überhaupt nicht und erst 1909 paßte man sich in einem geringfügigen Ausmaß an, wobei jedoch 1909 bis 1911 die Preise näher bei der deutschen Parität blieben als zuvor. Nach diesen Darstellungen der nominalen Preisentwicklung im Vergleich zu den deutschen Preisen sei auf die reale Preisentwicklung eingegangen und diese der Entwicklung der Verkaufsmengen gegenübergestellt. Wenn man die Preisreihen mit dem Verbraucherpreisindex von Mühlpeck, Sandgrober und Woitek deflationiert, lassen sich folgende Entwicklungsverläufe rekonstruieren. Die Preise für Gießereiroheisen sanken auch nach der Karteliierung 1903 noch weiter. Dies war zweifellos eine Folge der starken Verbilligung des deutschen Konkurrenzproduktes ab 1902, deren Auswirkungen für die Preiserstellung in Österreich auch vom Kartell nicht gänzlich ausgeschaltet werden konnten. 1906 bis 1908 stiegen die Preise an, obwohl die Absatzmengen zurückgingen. Offenbar erschien es der Eisenindustrie angesichts der Verwertungsmöglichkeiten anderer Eisensorten nicht als vordringlich,
127
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung 130 120
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1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 191 2 1913 Jahr
· • 0 · · Preis/t (nom.)
··* ··Preis/t (real)
Quelle: Schulze, Engineering and Economic Growth, 254.
Diagramm 6: Gießereiroheisen- nominale und reale Preise 1900 bis 1913 (Wiener Großhandelspreise)
Tabelle 11 Lieferungen der Österreichischen Kartellwerke an Gießereiroheisen im Inland 1903 bis 1911
Jahr
1903
Verkaufte Menge in Mio. q
0,833 1,086 1,284 1,228 1,150 1,079 1,164 1,424 1,550
Veränderung geg. Vorjahr in%
1904
30,4
1905
18,2
1906
--4,4
1907
--6,4
1908
--6,2
1909
7,9
1910 1911
22,3
8,8
Wachstumstrend: 5,1 %, Spannweite: --6,4% (1907) bis 30,4 % (1904) Quelle: Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, Tabelle VII, 454.
den Gußroheisenmarkt unbedingt gegen die deutsche Konkurrenz zu verteidigen. Dies artikulierte man ja auch bei den Kartellverhandlungen mit der Freistädter Stahl- und Eisenwerke-AG im Jahr 1908, die ihr Roheisen überwiegend aus dem Ausland bezog.
C. Ausgewählte Fallstudien
128
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1900
1901
1902
1903
1904
1905
1906
1907
1908
1909
1910
1911
Jahr • • 0 • • Preis/1 (nom.) •• •
• • Preis/1 (real)
Quelle: Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, Tabelle XI. Reale Preise errechnet nach Mühlpeck, Sandgruber, Woitek, Index der Verbraucherpreise, 678 f. Diagramm 7: Stabeisen- nominale und reale Preise 1900 bis 1911
Tabelle 12 Stabeisen- und Trägerverkauf der kartellierten Eisenwerke im Inland 1903 bis 1911 1904
1905
1906
1907
1908
1909
1910
1911
Jahr
1903
Stabeisenverkauf in Mio. q
2,231 2,652 2,745 3,192 3,589 3,748 3,329 4,001 4,340
Veränd. geg. Vorjahr in% Trägerverkauf in Mio. q Veränd. geg. Vmjahr in%**
18,9
3,5
16,3
12,4
4,4
-11,2
20,2
8,5
0,942 1,090 1,143 1,403 1,295 1,306 1,396 1,410 1,595 15,7
4,9
22,7
-7,7
0,8
6,9
1,0
13,1
Wachstumstrend für die Stabeisenverkäufe: 7,7%, Spannweite zwischen -11,2% (1909) und 20,2% (1910) Wachstumstrend für die Trägerverkäufe: 5,5%, Spannweite zwischen -7,7% (1907) und 22,7% (1906) Quelle: Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, Tabelle VIII a, 456.
129
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
140+-~--~--+---~-+--~--+--4--~--+---~~
1900 1901
1902 1903 1904 1905
1906 1907 1908
1909
1910 1911
Jahr
-- 0- - Preislt (nom.) - - .,. - - Preis/t (real)
Quelle: Kartellenquete, VIII, Eisenindustrie, Tabelle XIV. Reale Preise errechnet nach Mühlpeck, Sandgruber, Woitek, Index der Verbraucherpreise, 678 f.
Diagramm 8: Träger- nominale und reale Preise 1900 bis 1911
Die beiden Diagramme für Walzprodukte zeigen einen deutlich anderen Verlauf als die Entwicklung des Roheisenverkaufs. Auf ein gedrücktes Preisniveau während der Konkurrenzkämpfe 1901 und 1902 folgt eine sprunghafte Preiserhöhung im Jahr 1903, nach der Neuetablierung des Kartells. Daraufhin entwickeln sich die Preise bis 1907/08 etwa im Einklang mit der Inflation, das heißt, die realen Preise blieben weitgehend stabil, während die nominalen alljährlich etwas erhöht wurden. Bei den Stabeisenpreisen machen sich die diversen preisdämpfenden Faktoren ab 1908 in einem so großen Ausmaß bemerkbar, daß die Preise real ab 1909 unter den "Kampfpreisen" der kartellosen Periode von 1901 und 1902 liegen, bei den Eisenträgem ist dieser Effekt schwächer ausgeprägt. Wie schwer der Stabeisenmarkt unter Druck geriet, wird auch durch den Rückgang der verkauften Menge im Jahr 1909 um 11,2 Prozent deutlich erkennbar. Im Jahr 1907 endete der nominale Preisauftrieb in beiden Zeitreihen, wobei in dieser Periode auf dem Trägermarkt ein Verkaufsrückgang von 7,7 Prozent hingenommen werden mußte. Sowohl die Daten zu den Unternehmenserfolgen als auch die deutlich erkennbare Orientierung an den deutschen Paritäten sind Hinweise darauf, daß das Eisenkartell über erhebliche Marktmacht verfügte und insbesondere 9 Resch
130
C. Ausgewählte Fallstudien
dank des Zollschutzes in der Lage war, die Preise in Richtung Monopolpreis zu verschieben. Zweifellos wies der Eisenmarkt Strukturmerkmale auf, die eine wirksame Organisation von Marktmacht erlaubten. Zugleich wirkte gerade die deutsche Konkurrenz als Faktor, der dieser Marktmacht doch auch ein oberes Preislimit entgegensetzte.40 Überdies zeigt der Preisverfall bei Stabeisen ab 1908, daß zusätzlich auch die inländische Organisation des Marktes trotz der festgefügten Strukturen nicht jegliche Turbulenzen und preisdämpfenden Effekte durch newcomers und Kapazitätsausweitungen zu unterbinden vermochte. Die Preise sanken in der kartellosen Zeit auf einen Tiefstand, von dem aus sie bis 1907 wieder anstiegen um danach wieder zurückzugehen. In der Phase des verschärften Konkurrenzkampfes 1901/02 waren die Firmen vermutlich aus strategischen Gründen bereit, mit ihren Preisen tiefer nach unten zu gehen, als es kurzfristige betriebswirtschaftliche Überlegungen nahegelegt haben würden. Damit konnten sie die Absicht verfolgen, durch besonders große Verkaufserfolge im nächsten Kartell größere Quoten zu erlangen. Somit mochten angesichts für später in Aussicht stehender vergrößerter Verkaufsvolumina zu Kartellpreisen auch vorübergehend Abschlüsse zu Verlustpreisen ein unternehmerisch rationales Verhalten gewesen sein. Daher ist anzunehmen, daß die Preise 1901 und 1902 sogar unter ein hypothetisches dauerhaftes Gleichgewichtspreisniveau bei uneingeschränkter Konkurrenz gefallen sind. Trotzdem war das reale Preisniveau für Gießereiroheisen und Stabeisen 1911 sogar niedriger als 1902 und für Träger nur unwesentlich höher. Dazu trugen zweifellos jene bereits genannten Faktoren bei, die selbst die Marktmacht des Eisenkartells begrenzten. Weiters sind der technische Fortschritt und Rationalisierungserfolge zu nennen, die zu einer Kostensenkung beitrugen.41 Die Entwicklung der Betriebsstruktur in der Eisenindustrie war von 40 So verzichtete man zum Beispiel bei einer Plenarversammlung des Eisenkartells am 6.2.1912 auf Preiserhöhungen, die angesichts der Geschäftslage in Österreich als möglich erschienen, weil zu dieser Zeit gerade Verhandlungen wegen der Erneuerung des Deutschen Stahlwerksverbandes im Gange waren und man befürchtete, daß sich ein allfälliger Preiskampf im Nachbarstaat auch auf Österreich auswirken würde. Vgl. Kartell-Rundschau 10 (1912), 314 f.; Neue Freie Presse, 7.2.1912. Die Verhandlungen 1912 erbrachten als Ergebnis, daß im deutschen Stahlkartell in Hinkunft für die Verarbeitungsprodukte "Klasse B" keine zentrale Regelung der Preise und der Produktionsmengen mehr vorgesehen wurde. Nur die Regulierung des Marktes für "Klasse A"-Produkte (halbverarbeiteter Stahl, Schienen und Walzwaren) wurde beibehalten. Somit regelte der Verband von nun an nur noch weniger als ein Drittel des Ausstoßes der deutschen Stahlindustrie; ein "Rumpfkartell" war übriggeblieben. Feldman, Iron and Steel, 30. 41 Steven B. Webb weist darauf hin, daß gerade eine Struktur, die von Schutzzöllen auf Eisen und der Karteliierung der Industrie geprägt war, eine Rückwärtsinte-
II. Die Eisen- und Stahlerzeugung
131
Konzentration und Produktivitätssteigerung gekennzeichnet.42 Schon die in der Tabelle über die Roheisenproduktion angegebenen Kennzahlen geben deutliche Hinweise darauf. Während die Produktionsmenge von 1903 bis 1912 von 971.000t auf 1,760.000t anwuchs nahm die Zahl der Hochöfen von 67 auf 42 ab und die Zahl der Beschäftigten nur geringfügig zu. Durch Investitionen in neue, größere Produktionsanlagen stieg die Produktivität erheblich an. Bemerkenswert ist, daß stets erhebliche Reservekapazitäten bestanden. Zumeist waren nur ungefähr drei Fünftel bis zwei Drittel der Hochöfen in Betrieb. Das zeigt zum einen die Dynamik, mit der laufend in neue, produktivere Anlagen investiert wurde, andererseits aber auch das Potential für Preiskriege und Mengenerhöhungen, das trotz Wachsturn als abschreckende entry barrier gegen neue Konkurrenten wirkte, zugleich aber in rezessiven Phasen zu einem Umschlagen der Kartelldisziplin in einen Preiskrieg beitragen konnte. Diese Gefahr wurde jedoch durch die zunehmende Unternehmensverflechtung wiederum gemildert. Neben den ausgeprägten Effekten der economies of scale erscheinen innerhalb der Kartell- und Konzernstrukturen auch gewisse Kostenersparnisse dank einer rationelleren Unternehmensorganisation als plausibel. So fand zum Beispiel innerhalb des Wittgensteinkonzems eine Schwerpunktsetzung für die Produktion der einzelnen Standorte gemäß den regional unterschiedlichen Produktionsbedingungen statt. Die für schlichte Massenproduktion von Roheisen ungünstig gelegenen Werke der ÖAMG konzentrierten sich schwerpunktmäßig auf Walzwaren, in der besser mit kostengünstiger Kohle versorgten PEG hingegen wurde die Roheisenproduktion forciert (auch mit steirischen Erzen) und die Oesterreichische Berg- und Hüttenwerksgesellschaft übernahm für den gesamten Konzern eine wichtige Funktion bei der Kohlenversorgung.43 gration von Stahlwerken förderte. Für die weiterverarbeitenden Walzwerke, die leichte Güter erzeugten, konnte aus dem Zollreglement ein negativer Zollschutz resultieren, weil die Verteuerung der von ihnen verarbeiteten Vorprodukte den Schutz, den sie für ihre Produkte durch das Zollregime erhielten, überwiegen konnte. Insbesondere für Erzeuger schwerer Walzwaren, wie zum Beispiel Schienen, war es sinnvoll, eine Rückwärtsintegration bis zur Urproduktion anzustreben. Der Entschluß zu einer derartigen Kapitalbindung wurde dadurch erleichtert, daß der Markt kartelliert war, man also relativ feste Kalkulationsgrundlagen für zukünftig erwartbare Preise und Absatzmengen hatte. Somit entstanden Betriebe für integrierte Verbundwirtschaft, die insbesondere hinsichtlich der thermischen Effizienz (Wärmewirtschaft) große Fortschritte erlaubten. Bei leichteren Walzwaren sowie im Maschinenbau spielten diese Vorteile eine geringere Rolle. Diese Zweige neigten daher weniger zur Rückwärtsintegration. Webb, Tariffs, Cartels, Technology, and Growth, 309 ff. 42 Vgl. die detaillierten Untersuchungen von Otto Hwaletz anband der Statistik des Bergbaues und der Betriebs- und Unternehmensentwicklung der ÖsterreichischAlpine Montangesellschaft Hwaletz, Österreichische Montanindustrie 21 ff. und 225 ff. 9*
132
C. Ausgewählte Fallstudien
Neben diesen kostensenkenden Effekten der Organisation bestanden durchaus auch industrieübergreifende Interessen, die einer zu starken Kostenbelastung der anderen Industrien durch die Eisenindustrie in einem gewissen Ausmaß entgegenwirkten. Zum Beispiel überschritten manche Firmen selbst durch entsprechende vertikale Integration die Grenzen zwischen Eisenindustrie und Maschinenindustrie (etwa die Gesterreichische Bergund Hüttenwerksgesellschaft44 und die Skodawerke AG in Pilsen45 ). Außerdem waren die Großbanken, die hinter der Eisenindustrie standen (z. B.: Niederösterreichische Escomptegesellschaft, k. k. priv. Gesterreichische Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, Bodencreditanstalt, Böhmische Escompte-Bank, etc.) auch an Industriezweigen interessiert, die durch überhöhte Eisenpreise Kostennachteile erlitten, wie die Maschinenbauindustrie und deren Kunden, so daß die Banken vermutlich im Rahmen ihrer weitverzweigten Konzernbeziehungen einen gewissen Ausgleich der Interessen gefördert haben. Trotzdem ist zu konstatieren, daß die Österreichischen Eisenpreise signifikant höher waren als in Deutschland und die Industrie von der Jahrhundertwende an florierte. Langjährige Aktionäre mögen dies allerdings auch als gerechte Entschädigung für die lange Phase teurer Umstrukturierungen und niedriger Erträge, die von den 1870er bis in die 1890er Jahre gedauert hatte, 46 empfunden haben.
111. Homogene Massenmärkte, die nur schwache Kartellorganisationen hervorbrachten Der Prozeß der Industrialisierung brachte mit dem Aufkommen der Fabriksindustrie, die nach dem Prinzip der spezialisierten Massenproduktion47 43 Vgl. Kartell-Rundschau, 3 (1905), 102 f.; Birgit Leuchtenmüller, Die Investitions- und Industriepolitik der Österreichischen Großbanken bis zum Jahre 1914, Dissertation, Wien 1973, 247; Jurij Kfizek, Beitrag zur Geschichte der Entstehung und des Einflusses des Finanzkapitals in der Habsburger Monarchie in den Jahren 1900--1914, in: Die Frage des Finanzkapitals in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1900--1918, Hukarest 1965, 30. 44 Vgl. Compass 1914, II, 388 ff. Die Maschinenerzeugung wurde jedoch 1912 aufgelassen. 45 Vgl. ebenda, 458 ff. 46 Vgl. Hwaletz, Die steirische Montanindustrie 1871-1917. 47 Vgl. dazu etwa Michael J. Piore, Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion. Studien über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989. Zum damit verbundenen Entstehen von neuen Massenmärkten und entsprechender Konsumnachfrage vgl. Roman Sandgruber, Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, 15), Wien 1982.
III. Homogene Massenmärkte
133
organisiert war, große Märkte für homogene Massengüter hervor. Als zwei von vielen möglichen Beispielen für derartige Märkte sei hier auf die Baumwollindustrien und die Papierindustrie näher eingegangen. 1. Baumwollindustrien Structure
Die Textilindustrien gehörten zu den größten und ältesten Industriezweigen in Österreich.48 Erste Anfänge der Baumwollverarbeitung reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück. Die mechanisierte Baumwollspinnerei setzte sich ab etwa 1800 allmählich durch, Fabriken mit mechanischen Webstühlen angesichts der billigen Heimweberei erst später. Die Zentren der Baumwollindustrie etablierten sich im Wiener Becken, in Böhmen und in Vorarlberg. Die Garnproduktion der Baumwollspinnereien betrug vor dem Ersten Weltkrieg pro Jahr ungefähr 122 Millionen kg (270 Millionen englische Pfund). Mehr als 70 Prozent davon entfielen auf Sorten mit der Nummer 29 oder niedriger. Gemäß den Importstatistiken lag der Preis für importiertes Garn bei etwa 190 Kronen pro 100 kg - demgemäß kann man den Wert der Österreichischen Jahresproduktion auf mehr als 230 Millionen Kronen schätzen.49 Der Wert der Jahresproduktion aller Baumwollwebereien wurde von zeitgenössischen Experten mit ungefähr 700 Millionen Kronen veranschlagt. 50 48 Vgl. Joseph Grun(t)zel, Die Österreichische Baumwoll-Industrie, in: Die GrossIndustrie Österreichs, IV, Wien 1898, 193 ff.; Artur Kuffler, Zur Geschichte der Baumwoll-Industrie, in: Die Gross-Industrie Österreichs, I, Wien 1908, 201 ff.; Ernst Oberhummer, Die Baumwollindustrie Österreich-Ungarns (Wirtschaftsgeographische Karten und Abhandlungen zur Wirtschaftskunde von Österreich-Ungarn, 14), Wien 1917; Amold Schwarz, Die Lage der Österreichischen Baumwollspinnerei, Wien 1913; Herbert Matis, Karl Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in: Alois Brusatti (Hrsg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, 1), Wien 1973, 201 ff. 49 Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik. Zusammengestellt im Auftrage des k. k. Handelsministeriums vom k. k. Österreichischen Handelsmuseum, Wien 1916, 145 ff.; Compass 1914, li, 225 ff. 50 Artur Lemberger, Die Geschäftslage in der Baumwollweberei, in: Zeit, Wien, 2.8.1913, nach Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 152. Friedrich von Fellner kommt sowohl für den Wert der Baumwollgarnproduktion als auch der Baumwollgewebeproduktion zu stark abweichenden Schätzergebnissen. Er wendet die unzuverlässige Methode an, daß er von der Gesamtsumme der Arbeitslöhne, die den Unfallversicherungen bekannt gegeben wurden, mittels eines Faktors "Prozent der Kapitalisierung" auf den Bruttoproduktionswert schließt. Diesen schätzt er für die gesamte Baumwollgarnproduktion auf mehr als 300 Millio-
134
C. Ausgewählte Fallstudien
Trotz der weit zurückreichenden Tradition der industriellen Baumwollverarbeitung in Österreich war der Konzentrationsprozeß auch in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie noch nicht weit vorangeschritten. Im Jahr 1912 bestanden im Bereich der Baumwollspinnerei etwa 130 Firmen, die um die 200 Fabriken mit etwa 42.000 Arbeitern und Arbeiterinnen und 4,4 Millionen Spindeln betrieben. Die diversen Zweige der Baumwollweberei beschäftigten 82.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in 550 Fabriken mit zusammen 160.000 mechanischen Webstühlen. 51 Erst während der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg machte sich eine gewisse Konzentrationsbewegung in der Baumwollindustrie bemerkbar. Die großen Österreichischen Universalbanken begannen sich erst relativ spät in der Textilindustrie zu engagieren. Als größte Einzelaktion ist die Fusion von neun Baumwollwebereien zur Vereinigte Österreichische Textilindustrie AG durch die Bodencreditanstalt im Jahr 1912 anzuführen. Weitere relativ große Textilfirmen, die nach der Jahrhundertwende gebildet wurden, waren zum Beispiel Cosmanos Vereinigte Textil- und Druckfabriken (vormals Leitenberger, in Verbindung mit der Bodencreditanstalt), Gesterreichische Textilwerke AG (vormals I. Mautner & Sohn; Bodencreditanstalt) und die Vereinigte Färbereien AG (Creditanstalt). Die AG der Vöslauer Kammgarnfabrik wurde nach 1900 von den Familien Rothschild und Gutmann sowie der Creditanstalt saniert und erheblich erweitert.52 Im Bereich der Baumwollspinnerei gehörten die Vereinigte Österreichische Textilindustrie AG, die Gesterreichische Textilwerke AG, die k. k. priv. Pottendorfer Baumwoll-Spinnerei und Zwirnerei sowie die AG der k.k. priv. Harlander Baumwollspinnerei und Zwirnfabrik zu den größten Produzenten. Sie verfügten zusammen über mehr als 670.000 Spindeln.53 Gemessen an der oben angegebenen Zahl von 4,4 Millionen Spindeln in Österreich lag die Konzentrationsrate 4 auf Unternehmensebene somit nur
nen Kronen, für die Baumwollgewebeproduktion hingegen nur auf rund 340 Millionen Kronen. Das würde aber bedeuten, daß die Baumwollweberei gegenüber der Garnerzeugung nur eine äußerst geringfüg~~e Wertschöpfung erzielen würde. Friedrich von Fellner, Das Volkseinkommen Osterreichs und Ungarns, Sonderabdruck aus dem September-Oktober-Heft der Statistischen Monatsschrift, XXI, Wien 1917, 143. Angesichts dieser unwahrscheinlichen Relationen erscheinen die im Text zitierten Schätzwerte realistischer. 51 Daten der Arbeiter-Unfallversicherungen, nach Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 145. 52 Zu den genannten Firmen siehe Franz Mathis, Big Business in Österreich. Österreichische Großunternehmen in Kurzdarstellungen, Wien 1987, 103 f., 332 f. sowie Compass 1914, II. 53 Compass 1914, II, 675 ff.
III. Homogene Massenmärkte
135
bei 15 Prozent. Die Produktionskonzetration in Betriebsstätten war noch wesentlich niedriger, weil die Großfirmen ja mehrere Spinnereien betrieben. Der Markt für die Erzeugnisse der Textilindustrie wies eine vielfaltige Produktdifferenzierung auf. Das bedeutete aber nicht, daß er in eine größere Zahl von kleinen, monopolistischen Märkten aufgesplittert gewesen wäre. Die Spezialmärkte boten keine von der übrigen Konkurrenz abgeschotteten Marktnischen, weil zwischen den verschiedenen Erzeugnissen leicht eine Produktsubstituierung möglich war. Man konnte zum Beispiel, wenn Leinen sehr teuer war, Hemden aus Baumwollstoffen erzeugen, oder umgekehrt. Schmückende Seidenbänder wurden, wenn sie unerschwinglich waren, durch Baumwollbänder substituiert, etc. Hinsichtlich der Kapitalausstattung hatte sich durch die Konzentrationsprozesse vor dem Ersten Weltkrieg doch eine gewisse Polarisierung ergeben. Die vier größten Unternehmen wiesen in der Jahresbilanz 1912 folgende Daten auf. Tabelle 13 Die vier größten Aktiengesellschaften in der Textilindustrie im Jahr 1912 (gemessen an der Bilanzsumme) Firma
Bilanzsumme
Aktienkapital Sachanlagevermögen
Oesterreichische Textilwerke AG
27,2 Mio. K
7,0 Mio. K
9,0 Mio. K
Cosmanos
22,2 Mio. K
12,0 Mio. K
6,9 Mio. K
AG der Vöslauer Kammgarnfabrik
21,3 Mio. K
8,3 Mio. K
7,9 Mio. K
Vereinigte Österreichische Textilindustrie AG
in Gründung
10,0 Mio. K
in Gründung
Quelle: Compass 1914, II.
Bei den größten Textilfirmen belief sich das nominale Aktienkapital auf Beträge in der Größenordnung von 10 Millionen Kronen und die Bilanzsumme auf mehr als 20 Millionen Kronen. Damit erreichten diese Werte jedoch nur ein Viertel bis ein Sechstel der entsprechenden Kennzahlen für die "Großen" in der Eisenindustrie. Die durchschnittliche Ausstattung mit Aktienkapital der sieben Aktiengesellschaften in der Textilindustrie, die sich auf die Baumwollspinnerei konzentriert hatten, belief sich nominal nur auf drei Millionen Kronen, der Durchschnittswert für die 16 Aktiengesellschaften, die Webereien und teilweise auch Spinnereien betrieben, lag bei 3,5 Millionen Kronen. 54 Neben
136
C. Ausgewählte Fallstudien
diesen im Interessenbereich der Banken agierenden Unternehmen bestand eine große Zahl viel kleinerer Firmen. Markteintritte neuer Konkurrenten waren mit einem relativ geringen Kapitalaufwand möglich. Die minimale effiziente Größe war nicht sehr groß und die Sachanlageintensität der Unternehmen war vergleichsweise gering. Alois Mosser errechnete, daß für ein sample von sieben Textilindustrieaktiengesellschaften der Anteil der Sachanlagen am Gesamtvermögen in den Jahren 1904 bis 1913 zwischen 31 und 39 Prozent lag. 55 Die Erweiterung bestehender Fabriken konnte in kleinen Einheiten und relativ kontinuierlich erfolgen. Die Produktivitätsvorteile der größeren gegenüber den kleineren Werken hielten sich in Grenzen, wenn allein additiv mehr oder weniger Maschinen nebeneinander aufgestellt waren. Einer der wenigen Faktoren, der die Marktmacht der Textilindustrie unterstützte, die Preise etwas in Richtung Monopolpreise zu verschieben, war die österreichisch-ungarische Tradition der hohen Schutzzölle für Textilprodukte. Die Importzölle für Baumwollgarne der Nummern 12 bis 29 (wie sie überwiegend in Österreich erzeugt wurden) lagen bei 19 Kronen pro 100 kg, für "gewöhnliche" Stoffe aus Garn Nr. 50 waren je nach Sorte Zölle von 76 bis 177 Kronen pro lOOkg zu entrichten. 56 Conduct
Wegen der dargestellten strukturellen Merkmale konnten in der Textilindustrie Versuche, eine starke Marktmacht zu organisieren, nicht erfolgreich umgesetzt werden, obwohl die Tabelle, in der ein zahlenmäßiger Überblick über die Karteliierung der Österreichischen Industrien gegeben wird, die größte Anzahl von Organisationen in der Textilindustrie ausweist. Vielmehr ist gerade diese große Anzahl von Kartellen ein Anzeichen ihrer Schwäche. Die meisten von ihnen waren nur zahnlose Konditionenkartelle zur Regelung von Zahlungsfristen und Kreditusancen, sie konnten jedoch weder Preise noch Produktionsmengen bestimmen oder gar einen zentralisierten Verkauf durchsetzen. Viele dieser zahlreichen Kartelle umfaßten auch nur kleine Gruppen von Produzenten, so daß sie für den Gesamtmarkt der Textilindustrie nur von geringer Bedeutung waren (zum Beispiel die zahlreichen Kartelle in Warnsdorf, einem nordböhmischen Textilort, oder das Kartell der Lohn- und Streichgarnspinnereien von Tenter, Swoboda und Consorten.57) 54 Berechnet nach Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 148 f. 55 Alois Mosser, Die Industrieaktiengesellschaft in Österreich 1880-1913, Wien 1980, 214. 56 Allgemeiner und vertragsmäßiger Zolltarif für das österr.-ung. Zollgebiet. Nach dem Stande vom 12. März 1906, Wien 1906, 111 und 118.
III. Homogene Massenmärkte
137
Eines der ersten Kartelle in der Baumwollindustrie war der Verband der Vigogne-Spinner von 1895. Diese Organisation fungierte nur als loses Konditionenkartell. Ähnlich verhielt es sich mit dem Kartell der Maco-Spinner. 1895 entstand in Wien eine Export- und Verkaufsvereinigung österreichischer und ungarischer Baumwollspinner reg. Genossenschaft mbH, mit dem Zweck, im gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb Baumwollgarne im In- und Ausland zu verkaufen, sowie den Genossenschaftern Kredite im Wege der Belehnung von Waren zu beschaffen. 58 Die Weber roher Baumwollstoffe riefen 1907 ein Konditionenkartell ins Leben. Diese Organisation umfaßte immerhin 134 Mitgliedsfirmen mit 64.000 Webstühlen (ungefahr 95 Prozent der gesamten Produktion). 59 Auch die Baumwollspinner bildeten eine derartige Organisation. Ungefähr ab 191060 versuchten diese Kartelle beziehungsweise die Interessenvertretungsvereine, die hinter ihnen standen (Verein der Baumwollspinner, Verein der Baumwollweber) immer wieder, Reduktionskartelle zu bilden. Zum Beispiel einigten sich 1912 die Baumwollspinner auf ein Preiskartell, und sie beschlossen auch eine kollektive Einschränkung der Produktion, um die Preise auf ein auskömmliches Maß erhöhen zu können. 61 Die Aktion wurde vom Verein der Baumwollspinner organisiert. Besitzer von 3,6 Millionen Spindeln traten dem Kartell bei, und die Eigentümer von weiteren 180.000 Spindeln verpflichteten sich zu einem kollusiven Verhalten mit der Organisation. Diese Initiative erregte natürlich den Widerspruch der Baumwollweber. Daher versuchten Funktionäre des Vereins der Baumwollspinner und des Vereins der Baumwollweber ein gemeinsames, ambitioniertes Projekt zu realisieren, um für beide Zweige der Baumwollindustrie neue Wachstumsmöglichkeiten zu erschließen. Sie trachteten auf der Grundlage der bestehenden Kartelle eine gemeinsame Exportsubvention durch die Spinner und Weber zuwege zu bringen, um Auslandsmärkte zu erobern, dadurch die Auslastung der Fabriken zu erhöhen und so die Stückkosten zu senken. Als mögliche Exportmärkte, wo man die Verkäufe noch auszuweiten erhoffte, erachtete man den Balkan, China, Japan, Indien und Südamerika. Man dachte an ein Volumen von etwa 40 bis 60 Millionen englische Pfund (etwa 18 bis 27 Millionen kg) Garn pro Jahr. 57 ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe Industrierat VI. Abt., VI-57 /Cartellfrage, Z. 67 Cartellbericht, 7. 58 Compass 1914, II, 269. 59 Ebenda, 269 ff. 60 Vgl. Neue Freie Presse, 1.12.1910; Kartell-Rundschau 8 (1910), 341. 61 Ebenda, 10 (1912), 862 ff.; Neue Freie Presse, 26.5.1912.
C. Ausgewählte Fallstudien
138
Die Verhandlungen begannen im Jahr 1911. Die Spinner sollten den Webern bestimmte Kontingente von Garn zu besonders günstigen Preisen überlassen, diese sollten daraus Stoffe erzeugen, mit denen zu kompetitiven Preisen Auslandsmärkte erobert werden sollten. In den Besprechungen gelangte man 1912 zum Entwurf konkreter Bestimmungen, wie das gemeinsame Kartell funktionieren sollte. Man plante, pro Webstuhl eine Abgabe von 10 Kronen pro Jahr für einen Exportsubventionsfonds einzuheben. Aus diesem sollte die Preisreduktion für die Exportgame finanziert werden. Dadurch hoffte man den Preis für Exportstoffe um etwa sechs Prozent herabzusubventionieren. Die Weber gingen davon aus, daß sie im Inland im Durchschnitt bestenfalls einen Preis von etwa 34 Heller je Meter erzielen konnten. Sie errechneten für sich, daß sie bei diesen gegebenen Inlandspreisen eine Belastung des Inlandsabsatzes von 0,15 Heller je Meter Stoff in Kauf nehmen mußten, um damit den Verkauf der Exportstoffe zu Preisen, die ihre Kosten trotz der ermäßigten Gambezüge nicht ganz deckten, zu subventionieren.62 Nachdem im Jahr 1913 bereits verlautbart wurde, daß eine "prinzipielle Verständigung" erreicht worden sei, mit dem Ziel, bei allen Beteiligten die Auslastung zu verbessern und dadurch die Durchschnittskosten zu senken, scheiterte das Projekt schließlich doch. Die Weber verlangten zu große Preiszugeständnisse für die Game, die zur Exportproduktion verwendet werden sollten, und außerdem hatten sie Vorbehalte, sich einer engmaschigen Kontrolle der Spinner zu unterwerfen. Diese wollten naheliegenderweise zuverlässig überprüfen können, ob die Game, für die sie große Preiszugeständnisse gewährten, tatsächlich zu Exportprodukten verarbeitet wurden. 63 Überdies wiesen beide beteiligten Verbände nicht die zuverlässige Festigkeit und umfassende Organisationsbreite auf, daß sie wirklich die Einhaltung der Vertragsbedingungen nachhaltig hätten garantieren können. Peiformance
Die Strukturmerkmale des Textilmarktes, die die Bildung stabiler Organisationsformen erschwerten, wirkten sich auch auf die ökonomische performance der Branche aus. Die Kennzahlen weisen für die Textilindustrie wesentlich schwächere wirtschaftliche Erfolge aus, als sie in der Eisenindustrie zu konstatieren waren. Insbesondere die Perioden ab 1910 wurden geradezu zu Katastrophenjahren. Der Anteil von Firmen, die in ihrer Bilanz Verluste eingestehen mußten, war sehr instabil, in manchen Jahren lag er bei mehr als 50 Pro62 63
Kartell-Rundschau 10 (1912), 1224 f. Ebenda, ll (1913), 1035 f.
III. Homogene Massenmärkte
139
Tabelle 14 Unternehmensdaten der Österreichischen BaumwollspinnereiAktiengesellschaften von 1907 bis 1912 1907
1908
1909
1910
1911
1912
6
6
6
7
7
7
16,9
15,4
16,3
18,3
20,3
20,8
Durchschnittliches Aktienkapital in Mio. K
2,8
2,6
2,7
2,6
2,9
3,0
Anzahl der Firmen, deren Bilanzen berücksichtigt werden konnten
6
6
6
6
7
7
Prozentsatz der Firmen, die Verluste auswiesen
0
0
0
16,7
42,9
42,9
Jahr Anzahl der Firmen Aktienkapital aller Firmen zusammen in Mio. Kronen
Gewinn in% des Aktienkapitals aller Firmen
14,8
7,6
10,2
6,4
2,4
5,6
Dividende in% des Aktienkapitals aller Firmen
11,1
7,2
9,1
6,2
5,1
5,9
Quelle: Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 148 f. Tabelle 15 Unternehmensdaten der Österreichischen Aktiengesellschaften, die Baumwollwebereien und zum Teil auch -spinnereien betreiben 1907 bis 1912 1907
1908
1909
1910
1911
1912
Anzahl der Firmen
14
13
13
13
13
16
Aktienkapital aller Firmen zusammen in Mio. Kronen
34,3
39,3
39,1
40,3
40,3
55,9
2,4
3,0
3,0
3,1
3,1
3,5
Jahr
Durchschnittliches Aktienkapital in Mio. K Anzahl der Firmen, deren Bilanzen berücksichtigt werden konnten Prozentsatz der Firmen, die Verluste auswiesen Gewinn in% des Aktienkapitals aller Firmen Dividende in % des Aktienkapitals aller Firmen
14
11
0
0
13
13
12
11
15,4
30,8
58,3
18,2
10,9
6,7
6,1
3,5
-4,4
0,1
9,3
5,5
4,9
2,6
0,7
1,7
Quelle: Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 149.
140
C. Ausgewählte Fallstudien
zent. 1911 war gar das Gesamtergebnis aller Baumwollwebereien zusammen negativ, das heißt die Gewinne jener Betriebe, die überhaupt noch welche ausweisen konnten, waren in Summe kleiner als die Verluste jener Firmen, die bereits in der Bilanz eingestehen mußten, daß sie rote Zahlen schrieben. Die Dividenden in Prozent des Aktienkapitals mußten sich angesichts dieser schlechten Ergebnisse auf einem sehr bescheidenen Niveau bewegen. Die Krise ab 1910 wurde dadurch verschärft, daß zu den strukturellen Problemen unbeeinflußbare externe Effekte, nämlich die Balkankonflikte traten. Diese bewirkten Absatzstockungen im Inland, weil das Publikum in Phasen der Unsicherheit vielfach mit einem Aufschub von Käufen reagierte und im Ausland, weil der Export in die Balkanregion erheblich behindert wurde. Diese schwachen Unternehmenserfolge verhinderten aber nicht ein bemerkenswertes Wachstum der Branche. Tabelle 16 Vom Verein der Baumwollspinner gesammelte Daten für die Jahre 1902 bis 1913 Jahr
Zahld. SpindelFirmen anzahl v.denen dieser Daten Firmen vorlagen
Davon Jahresprod. Spindeln von Garn f. d. eig. bis Nr. 12 Gebrauch in lOOOkg
Jahresprod. von Garn Nr. 12-29 in lOOOkg
Jahresprod. Gesamt- Veränd. von Garn prod. in derProd. über Nr. 29 1000kg menge in 1000kg in%
1902
75
2,283.114
485.000
17800
36300
15800
69900
1903
76
2,477.345
494.800
18200
38100
17600
73900
5,7
1904
80
2,542.875
501.000
18300
40200
19100
77500
4,9
1905
82
2,666.000
501.100
19000
42500
21000
82600
6,6
1906
81
2,566.000
455.000
17500
42100
21100
80600
-2,4
1907
87
2,901.075
490.000
17600
47800
21300
86800
7,7
1908
88
2,953.000
495.000
20100
50100
23200
93400
7,6
1909
89
3,524.000
600.000
20400
52900
24900
98200
5,1
1910
100
3,796.000
735.000
22300
58800
29800
111000
1911
93
3,645.000
625.000
19300
54200
25900
13
99400 - 10,5
1912
99
3,965.729 1,300.000
21600
63300
31100
116000
16,7
1913
91
4,173.552 1,262.972
21700
65000
32700
119400
2,9
Quelle: Berechnet nach Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 152. Diese Daten weisen eine gewisse Unschärfe auf, weil sie nicht auf einer konsequenten Vollerhebung beruhen. Da aber doch der überwiegende Teil der Produzenten erfaßt wurde und die Erhebungen alljährlich in gleicher Manier stattfanden, vermitteln sie einen zuverlässigen Eindruck von der Entwicklung im Zeitablauf.
III. Homogene Massenmärkte
141
Der Wachstumstrend der Garnerzeugung lag in den Jahren 1902 bis 1913 bei 5 Prozent und die Spannweite der Veränderungsraten zwischen -10,5 Prozent (1911) und 16,7 Prozent (1912). Zum Vergleich: das durchschnittliche reale Wachsturn der gesamten Industrien lag bei ungefähr drei Prozent. 64 Angesichts der niedrigen Eintrittsbarrieren und vor allem angesichts der laufend möglichen geringfügigen Vergrößerung von bestehenden Produktionskapazitäten fanden immer wieder Ausweitungen der Produktion statt. Offenbar erschien es vielen Produzenten als praktikable Strategie, bei schlechten Preisen mit wenig Kapitalaufwand die Produktion immer noch mehr zu erhöhen, in der Hoffnung daß der damit erzielte Grenzertrag doch entsprechende Deckungsbeiträge abwerfen werde. Das erwähnte Engagement der Großbanken schlug sich ab 1912 in einer erneut deutlich erhöhten Spindelanzahl nieder, wobei die vertikale Integration erheblich voranschritt Dafür ist ein Indiz, daß sich die Anzahl der Spindeln, die der Produktion für die eigene Verwendung der Firmen dienten, von 625.000 im Jahr 1911 auf mehr als 1,3 Millionen 1912 erhöhte. Trotz der doch etwas voranschreitenden Konzentration und vertikalen Integration vermochten sich keine stabilen Organisationen zu etablieren, die über ausreichende Marktmacht verfügt hätten, um die Preise sanieren zu können. Neben den niedrigen entry barriers ist vor allem auch die Tatsache zu bedenken, daß der Absatzmarkt zwar differenziert war, aber eine Substitution der Teilmärkte leicht möglich war, so daß sich der Gesamtmarkt nicht in beherrschbare Teilmärkte aufgliederte. Selbst der einzige Faktor, der monopolistische Bestrebungen unterstützte, nämlich die hohen Schutzzölle, reichte nicht aus, um eine spürbare Verschiebung der Preise in Richtung Monopolpreise durchzusetzen. Ganz im Gegenteil, das Publikum erfreute sich tendenziell sinkender Preise. 2. Papierindustrie Structure
Die Papiertechnologie entwickelte sich im 19. Jahrhundert rasant weiter. Zum einen wurden immer größere und leistungsfähigere Papiermaschinen konstruiert, zum anderen gelang es, die Rohstoffversorgung auf eine neue Grundlage zu stellen. Anstelle der knappen und teuren Hadern konnte man in zunehmendem Ausmaß Holz als Ausgangsmaterial heranziehen. Die entscheidenden Voraussetzungen dafür bildeten die Erfindung des Holzschliffs, der in Österreich ab den 1850er Jahren fabrikmäßig durchgeführt wurde, 64 Zum Industriewachstum vgl. den Überblick in Michael Pammer, Wachstum, in Historicum, Winter 94/95, 12-19.
142
C. Ausgewählte Fallstudien
und die Herstellung von Holzzellstoff, die ebenfalls nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zur großtechnischen Anwendbarkeit entwickelt wurde. Als besonders effizient erwies sich das von Dr. Karl Kellner entwickelte Bisulfitverfahren.65 Die Österreichische Papierindustrie erzeugte im Jahr 1912 3,6 Millionen Zentner Papier, 0,46 Millionen Zentner Pappe, 2,58 Millionen Zentner Holzstoff und Holzdeckel sowie 1,99 Millionen Zentner Zellulose. Der Fakturenwert der gesamten Produktion wurde vom Papierindustrieexperten Pranz Krawany 66 auf 247,1 Millionen Kronen geschätzt.67 Gemäß den Daten der Arbeiterversicherungen waren 1912 in Österreich 231 Holzstoffabriken mit zusammen 6.301 Arbeitern, 174 Papier- und Pappefabriken mit 20.892 Arbeitern und sechs "gemischte" Werke, die beide Produktionsschritte vollzogen, mit 1.141 Arbeitern in Betrieb. 68 Die Fabriken waren räumlich auf die holzreichen Regionen verteilt. Die größten Produktionskapazitäten bestanden in Böhmen, Niederösterreich, Steiermark und Oberösterreich. Auch in Galizien, Tirol, Schlesien, Kärnten, Krain, Görz und Salzburg waren Großbetriebe entstanden.69 Gemessen am Papierausstoß führten die Leykam-Josefsthal AG, die Neusiedler Papierfabriks AG, die Firma lgnaz Spiro & Söhne, Krumau und die AG der k.k. priv. Papierfabrik Schlöglmühl die Rangfolge der größten Produzenten an. Daneben ragte die Kellner Partington Paper Pulp. Co., Hallein als mächtigster Zelluloseerzeuger heraus. Die vier größten Papierfabrikationsunternehmen erzeugten zusammen im Jahr 1912 etwa eine Million Zentner (10.000 Waggons) Papier. Die Konzentrationsrate 4 in der Papierindustrie lag somit bei rund 28 Prozent. Diese Konzentrationsrate fällt zwar höher aus als jene in der Textilindustrie, im Vergleich zu stark konzentrierten Industrien wie der Eisen65 Franz Krawany, Die Papierindustrie Österreich-Ungarns (Wirtschaftsgeographische Karten und Abhandlungen zur Wirtschaftskunde der Länder der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, 9a), Wien 1919, 11 ff.; derselbe, Die Entstehung der Österreichischen Papier-Industrie und ihre heutige Bedeutung, in: Die Grass-Industrie Österreichs, I, Wien 1908, 235 ff.; Erich Pistor, Die Volkswirtschaft Österreich-Ungarns und die Verständigung mit Deutschland, Berlin 1915, 87 ff. 66 Franz Krawany war Direktor der "Papier-Union". 67 Compass 1914, li, 210 f. Friedrich von Fellner zitiert ebenfalls eine Angabe von Krawany. Danach habe sich der Gesamtwert der Papiererzeugung auf 123,829.977 Kronen, der Wert der Pappeerzeugung auf 26,803.402 Kronen, der Wert der Zigarettenpapier- und sonstigen Papierkonfektion auf 16,406.400 Kronen und der Wert der Zellulose- und Holzstofferzeugung auf 80,572.920 Kronen belaufen. Die Summe dieser Beträge ergibt ziemlich genau den oben nach dem Compass zitierten Gesamtwert. Fellner, Volkseinkommen, 143. 68 Weiters wurden 4 Papiermühlen ohne maschinellem Betrieb, 16 Bunt- und Glacepapierfabriken, 1 Pergamentpapierfabrik und 9 Tapetenfabriken betrieben. Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 216 f. 69 Krawany, Die Entstehung der Österreichischen Papier-Industrie, 244 ff.; Compass 1914, II, 211.
III. Homogene Massenmärkte
143
industrie erweist sie sich jedoch als eher mäßig. Überdies ist sie angesichts der Tatsache, daß alle Großfirmen in der Papierindustrie mehrere Fabriken70 betrieben, noch weiter zu relativieren. Die 23 Österreichischen Papierfabriksaktiengesellschaften, die im Jahr 1912 bestanden, verfügten im Durchschnitt über ein nominales Aktienkapital von 4,1 Millionen Kronen. Die vier größten Aktiengesellschaften wiesen folgende Daten auf: Tabelle 17 Die vier größten Aktiengesellschaften in der Papierindustrie im Jahr 1912 (gemessen an der Bilanzsumme) Firma
Bilanzsumme Aktienkapital Sachanlagevermögen
Leykam-Josefsthal, AG für Papier- und Druckindustrie
32,43 Mio. K 20,00 Mio. K
Neusiedler AG für Papierfabrikation
22,97 Mio. K
6,75 Mio. K
5,93 Mio. K**
"Steyrermühl", Papierfabriksund Verlagsgesellschaft
14,40 Mio. K
7,40 Mio. K
6,58 Mio. K
AG der k. k. priv. Papierfabrik Schlöglmühl
9,09 Mio. K
6,00 Mio. K
6,37 Mio. K
13,32 Mio. K*
* sowie Aktien von anderen Papierfabriken, die in der Bilanz mit 6,511 Millionen Kronen ausgewiesen werden. ** sowie Aktien von anderen Papierfabriken, die in der Bilanz mit 4,305 Millionen Kronen ausgewiesen werden.
Quelle: Compass 1914, II.
Daneben bestanden zahlreiche Unternehmen mit einem Aktienkapital von einer Million Kronen oder weniger. Die Kapitalausstattung der Papierunternehmen bewegte sich nicht auf einer Höhe, die als übermäßig große Zutrittsbarriere angesehen werden muß. Von jenen Papierindustriellen, die an einer Karteliierung interessiert gewesen wären, wurde daher immer wieder der Umstand beklagt, daß die Errichtung fester Organisationen äußerst schwierig war, "angesichts der Leichtigkeit, mit der neue Etablissements sich ein Absatzgebiet in Österreich verschaffen können. ,m Allerdings bestanden für einmal errichtete Papierfabriken erhebliche exit barriers. Sie mußten rohstofforientiert an Standorten situiert werden, die für eine alternative industrielle Nutzung der Fabriksgebäude schlechte Bedingungen boten. 70
71
Siehe ebenda, 646 ff. Warrens Wochenschrift, 10.10.1907, nach Kartell-Rundschau, 5 (1907), 870.
144
C. Ausgewählte Fallstudien
Überdies war ein höherer Anteil der Unternehmensvermögen in Form von Sachanlagen gebunden als in der Textilindustrie.72 Im Falle einer Betriebseinstellung mußte man also davon ausgehen, daß die Aufwendungen der Investoren groBteils als sunk costs verloren gingen. Diese Standortsituation erschwerte auch bei einer schlechten Marktlage für bereits etablierte Firmen jegliche Austrittsszenarien, weil alternative Verwertungsmöglichkeiten für die Betriebe nur in sehr geringem Ausmaß vorhanden waren. Der Papiermarkt gliederte sich nach Materialbeschaffenheit und Verwendungszweck zwar in zahlreiche Teilmärkte auf, etwa in holzfreies Papier, Schreibpapier, Packpapier, (Rotations-)Druckpapier, Zigarettenpapier, Spezialpapiere, Hadern-, Strohpappen und Preßspäne, etc.73 Diese Teilmärkte erreichten jedoch alle für sich große Volumina, so daß sie nicht von einzelnen oder wenigen Anbietern leicht beherrscht werden konnten. Überdies war eine Substitutionen mancher Sorten durch andere Papierarten möglich. Die Voraussetzungen für die Bildung von Kartellen für Spezialbranchen innerhalb der Papierindustrie waren aber in dieser Hinsicht gewiß geringfügig besser als in der Textilindustrie. Im Gegensatz zur Textilindustrie war die Papierindustrie international wettbewerbsfähig. Sie erzielte erhebliche Exporterfolge. Aus der Habsburgermonarchie wurde ungefähr ein Fünftel der Gesamtprodukton ausgeführt, mehr als drei Viertel davon stammten aus der Österreichischen Reichshälfte.74 Trotzdem wurde der Inlandsmarkt durch spürbare Importzölle geschützt. Zum Beispiel belief sich selbst der ermäßigte Vertragszoll75 für die Einfuhr von glattem Schreib- und Druckpapier, das in Österreich je nach Sorte zwischen 36 und 48 Kronen pro Zentner kostete, 76 auf neun Kronen. 72 Laut Mosser lag der Anteil der Sachanlagen am Gesamtvermögen bei sechs Papierfabriksgesellschaften, die er in seine Berechnungen einbezog, bei etwa 45 Prozent des Gesamtvermögens. Mosser, Industrieaktiengesellschaft, 215. 73 Krawany, Die Entstehung der Österreichischen Papier-Industrie, 242. 74 Exporte aus der Habsburgermonarchie 1913: 607.989q Papier (im Wert von 25,519.000 K), 358.113q Pappe und Holzdeckel (5,929.000 K) und 1,012.407q Zellulose, Holz- und Strohstoff (21,167.000 K). Davon stammten aus Österreich 571.442q Papier, 348.652q Pappen und Deckel und 606.176q Zellulose und Holzstoff, somit 77% der gesamten Papierausfuhr aus der Zollunion. Insgesamt wurden 14,2% der Papierproduktion, 21,7 % der Pappen und Deckel und sogar 22,1% der Holzstoff- und Zelluloseerzeugnisse aus der gesamten Monarchie ausgeführt. Krawany, Die Papierindustrie Österreich-Ungarns, 21. Der Preis für exportiertes Papier und Pappen lag 1912 bei rund 34K pro Zentner (berechnet nach Compass 1914, Il, 208) die Preise für diverse Papiersorten im Inland bewegten sich zwischen 26 K pro q für "ordinäres, ungeglättetes Druckpapier" und 48 K pro q für holzfreies, geglättetes Schreibpapier. Krawany, Die Papierindustrie Österreich-Ungarns, 19. 75 Zolltarif 1906, 150. 76 Preisangaben nach Krawany, Die Papierindustrie Österreich-Ungarns, 19.
III. Homogene Massenmärkte
145
Conduct
In der Papierindustrie kam es, ähnlich wie in der Textilindustrie, im Lauf der Jahre zu zahlreichen Ansätzen einer Organisation des Marktes. Als der Industrierat im Jahr 1904 eine Übersicht über das Kartellwesen in Österreich erstellte und dafür um Informationen aus Kreisen der Industrie ersuchte, langten acht Berichte über aktive Kartelle in der Papierbranche ein. 77 Gewiß das einflußreichste und stabilste Kartell, das damals bestand, war die Organisation der Zellulosepackpapierproduzenten. 12 Firmen dieser Branche hatten 1901 ein Preis- und Konditionenkartell für den Inlandsmarkt abgeschlossen. Als zentrale Kartellfirma wurde die Papier-Union reg. Genossenschaft mbH ins Leben gerufen.78 1910 wurde der Kreis der Mitglieder nach langwierigen Verhandlungen79 auf 14 Firmen erweitert, die zusammen über 37 Papiermaschinen und eine Jahresproduktion von 375.000 Zentner Packpapier verfügten. 80 Im folgenden Jahr konnten sich dann jedoch die Gesellschaften auf keine Verlängerung des Kartells mehr verständigen, weil die Firma Kellner & Partington Paper Pulp. Co., Hallein austrat81 und eine ungarische Firma Kontingentforderungen stellte, die so hoch waren, daß sie für die anderen Kartellunternehmen unakzeptabel waren. 82 Daneben war bereits 1894 bei der Anglo-Oesterreichischen Bank eine zentrale Verkaufsstelle für sogenanntes Patentpackpapier eingerichtet worden, die als Zentralstelle für den Verkauf von 21 Fabriken Österreich-Ungarns fungierte. Diese mußten jedoch schon bald enttäuscht resumieren, daß "die erhofften günstigen Wirkungen ausgeblieben seien. " 83 Doch blieb die Anglo-Oesterreichische Bank weiterhin im Papiergeschäft engagiert. Als die langlebigste Organisation erwies sich das Zentralverkaufsbüro der Holzpappenfabriken, das 1895 gegründet worden war und in enger Zusammenarbeit mit dem Wiener Bank-Verein agierte. 84 Diesem Kartell gehörten zirka 70 Prozent der Gesamtproduktion an, durch den Beitritt einer Gruppe 77 Berichte langten von folgenden Kartellen ein: Cartell der Patentpackpapier-Fabrikanten, Papierhülsen-Cartell, Cartell der Kunstdruck-, Chromo-, Glace- und Buntpapierfabrikanten, Papier-Union, Holzpappen-Cartell, Buntpapier-Cartell, Strohpapier-Cartell und Pergament-Cartell. ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe Industrierat VI. Abt., VI-57 /Cartellfrage, Z. 67 Cartellbericht (1904), 4--6 und 5~3. 78 JosefGrun(t)zel, Über Kartelle, Leipzig 1902,241. 79 Neue Freie Presse, 10.2.1909. 8 Compass 1914, II, 212. 81 Diese stellte jedoch überhaupt die Produktion von Packpapier ein. 82 Kartell-Rundschau 9 (1911), 819 und 909. 83 Grun(t)zel, Über Kartelle, 240.
°
10 Resch
146
C. Ausgewählte Fallstudien
von Kärntner Fabriken im Frühjahr 1908 erhöhte sich der Organisationsgrad noch weiter.85 Trotzdem erwies es sich, daß einige Firmen hartnäckig die Position eines Außenseiters bevorzugten. 1910 verhandelte man ergebnislos mit jenen Firmen, die von Beginn an dem Kartell ferngeblieben waren, oder erst nach der Kartellgründung als newcomers aufgetreten waren. 86 1911 versuchte die k.k. priv. Österreichische Länderbank, diese Außenseiter gleichsam zu einem Gegenkartell zusammenzufassen, doch scheiterte schließlich auch dieser Anlauf. Das Holzpappenkartell selbst wurde aber 1911 auf weitere vier Jahre verlängert.87 Eine äußerst wechselvolle Geschichte erlebten Organisationsbestrebungen in der Feinpapierbranche. 1907 löste sich ein kurz zuvor gebildetes Kartell wieder auf. 88 Um den Jahreswechsel 1908/09 einigten sich die bedeutendsten Fabriksfirmen wieder auf ein Übereinkommen. 89 Das neue Kartell regelte aber nur Preise und Konditionen für den Abverkauf der bestehenden Lagerwaren. 90 Selbst das relativ fest gefügte Rotationspapierkartell, dem bei seiner Gründung im Jahr 1905 Fabriken beitraten, die zusammen über 75 Prozent des Produktionsvolumens verfügten, mußte seine Machtlosigkeit gegen newcomers erfahren. 1911 teilte die Firma Spiro mit, daß sie von nun an in ihrer Fabrik in Krumau die Produktion von Rotationspapier in großem Maßstab betreiben werde. Dem Kartell blieb nichts anderes übrig, als dem Unternehmen ein Kontingent von 1000 Waggons (100.000 Zentner) jährlich zuzugestehen91 - das war beinahe ein Viertel der gesamten Österreichischen Rotationspapiererzeugung. 92
84 Campass 1914, II, 213; Birgit Leuchtenmüller, Die Investitions- und Industriepolitik der Österreichischen Großbanken bis zum Jahre 1914, Dissertation, Wien 1973, 271; ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, Industrierat, Mappe Industrierat VI. Abt., VI-57 /Cartellfrage, Z. 67 Cartellbericht (1904), 4 und 56-63. 85 Neue Freie Presse, 3.4.1908. 86 Ebenda, 29.10.1910. 87 Campass 1914, li, 213. 88 Reichspost, 8.11.1907. 89 Zwanzig Fabriksfirmen, unter ihnen die maßgebendsten, meldeten ihren Beitritt an. In Ungarn führte man erst Unterhandlungen darüber, ob man ebenfalls ein Kartell bilden sollte, das dann eventuell mit der Österreichischen Organisation zu Vereinbarungen gelangen konnte. Neue Freie Presse, 22.1.1909. 90 1911 führten die Mitglieder Verhandlungen, das Abkommen bezüglich Preisen und Konditionen von Lagerwaren auch auf Bestellungswaren auszudehnen. KartellRundschau 9 (1911), 819. 91 Ebenda, 909. 92 Die gesamte Erzeugung von Rotationspapier in Österreich belief sich 1911 auf 431.650 Zentner.
III. Homogene Massenmärkte
147
Sowohl von den Banken93 als auch von Funktionären der Papierindustrie gingen immer wieder Initiativen zur Organisation des Marktes aus. AngloOesterreichische Bank, Wiener Bank-Verein, Länderbank, Creditanstalt und andere unterhielten selbst Verkaufsbüros für einzelne Branchen der Papierindustrie und sie versuchten immer wieder Vorstöße, umfassendere Abkommen und weitergehende Organisationsformen zu realisieren. 94 Auch der Direktor der Papier-Union, Krawany, trat immer wieder mit derartigen Vorschlägen hervor. Zum Beispiel präsentierte er 1904 in einem umfangreichen Expose ein Kartellprojekt, mit dem er "in radikaler Weise" den "Übelständen" in der Papierindustrie abhelfen wollte. Er schlug vor, daß sich alle Fabriken in Österreich-Ungarn einem zentral geleiteten Syndikat einordnen sollten, untergliedert in Gruppierungen nach Produkten. Für Österreich sah er fünt-9 5 , für Ungarn zwei96 derartige Untergruppen vor. Alle Mitgliedsfabriken sollten im Syndikat aufgehen und entsprechend daran beteiligt werden. Als Vorteile dieses radikalen Schrittes der Unternehmenskonzentration malte Krawany Effizienzgewinne aus, wie sie im theoretischen Abschnitt über kostensenkende Effekte rationaler Organisation dargestellt sind: Kostenersparnis durch technische Verbesserungen und Spezialisierung der einzelnen Betriebe auf wenige Produkte der gesamten möglichen Palette, Ersparnis von Transportspesen, indem vom Zentralverkauf Aufträge den jeweils frachtengünstigsten Betrieben zugewiesen werden sollten und Herabsetzung der Regien. Krawany schätzte das Kostensenkungspotential auf 10 bis 15 Prozent und er meinte, damit wäre das Syndikat auch vor Außenseitern sicher, weil diese ja derartige Kostenvorteile nicht hätten. Es sollen sich auch mehrere Firmeninhaber spontan bereit erklärt haben, ein Komitee zu bilden, das diesen Vorschlag weiter verfolgte. Wie andere ähnliche Projekte auch, verlief die Initiative nach einer ersten Phase der Begeisterung rasch im Sande.97
93 Die Banken waren finanziell in Gesellschaften der Papierindustrie engagiert und sie entsandten in einigen Fällen auch Vertreter in deren Verwaltungsräte. Im Jahr 1908 war die Anglo-Oesterreichische Bank im Verwaltungsrat der Lenzirrger Papierfabrik AG, die Creditanstalt bei der Papierindustrie AG Olleschau und der Kronstädter Papierstoffabrik AG, die Länderbank bei Waldheim-Eberle und der Universal Edition AG und der Wiener Bank-Verein bei Leykam Josefsthal AG für Papier- und Druck-Industrie, der Galizischen Papierfabriks AG, der AG der Pittener Papierfabrik und der Heinrichsthaler Papierfabriks AG vertreten. Peter Eigner, Die Konzentration der Entscheidungsmacht, Wien 1997, 96 ff. 94 Vgl. zum Beispiel Kartell-Rundschau 3 (1905), 422, 5 (1907) 870. 95 1. Feinpapierfabriken, 2. Mittelfeinpapierfabriken, 3. Seidenpapierfabriken, 4. Zellulosepapierfabriken, 5. Packpapierfabriken. 96 1. Feinpapierfabriken, 2. Mittelfein- und Packpapierfabriken. 97 Kartell-Rundschau 2 (1904), 368 f. Vgl. auch ebenda 3 (1905), 314. 10*
C. Ausgewählte Fallstudien
148
Performance
Obwohl die Papierindustrie keine umfassende, stabile und marktbeherrschende Kartellorganisation hervorbrachte, weisen die Indikatoren für den wirtschaftlichen Erfolg auf eine bessere und stabilere Entwicklung als in der Textilindustrie hin. Die günstige Ressourcenlage ermöglichte es, die Fabriken international wettbewerbsfähig zu betreiben. Mit den Preisen, die im Inland und auf den Exportmärkten erzielt werden konnten, vermochte die Industrie gut zu leben - und dies, obwohl gewisse Rationalisierungsspielräume gewiß noch nicht ausgeschöpft waren. So arbeitete man in Österreich im Durchschnitt noch mit kleineren Papiermaschinen als in manchen anderen Zentren der Papiererzeugung. Die durchschnittliche jährliche Erzeugung pro Maschine belief sich vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich auf 14.900 Zentner Papier, hingegen in Norwegen, Finnland, Kanada und den USA auf mehr als 30.000 Zentner. 98 Eine gewisse Zuspitzung der im allgemeinen recht stabilen Lage scheint sich allerdings 1912 ergeben zu haben. Im Jahr davor war das ZelluloseTabelle 18
Daten zur performance der Österreichischen Aktiengesellschaften in der Papierindustrie 1907 bis 1912 Jahr Anzahl der Firmen Aktienkapital aller Firmen zusammen in Mio. Kronen Durchschnittliches Aktienkapital in Mio. K
1907
1908
1909
1910
1911
1912
14
16
17
18
21
23
60,050 64,350 67,400 73,400 77,700 93,910 3,700 4,083
4,289
4,022
3,965
4,078
Anzahl der Firmen, deren Bilanzen berücksichtigt werden konnten
13
16
16
17
20
20
Prozentsatz der Firmen, die Verluste auswiesen
0
12,5
6,25
5,88
10
20
11,1
8,4
8,2
9,5
9,6
9,3
6,3
5,4
5,6
6,0
6,7
6,2
Gewinn in % des Aktienkapitals aller Firmen Dividende in% des Aktienkapitals aller Firmen
Quelle: Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 222 f.
98
Krawany, Die Papierindustrie Österreich-Ungarns, 36.
III. Homogene Massenmärkte
149
packpapierkarteil gesprengt worden und das Rotationspapierkartell hatte die enorme Produktionsausweitung der Fabrik in Krumau tatenlos hinnehmen müssen. Trotz der geringen Organisationserfolge vermochten die Unternehmen ungefähr gleichbleibende Dividenden auszubezahlen. Auch der Gewinn in Prozent des Stammkapitals verharrte auf einem Niveau, das jenem gleichkam, wie es die Textilindustrie im Rahmen der hier betrachteten Jahre nur 1907, vor Beginn ihrer ausgeprägten Krisenphase, erreichte. Allein der Anteil von Firmen, die rote Zahlen schreiben mußten, nahm 1912 merklich zu, blieb aber weit entfernt von den Kennzahlen der Baumwollindustrien im "Katastrophenjahr" 1911. Das Wachstum der jährlichen Gesamtproduktion verlief in der Periode von 1905 bis 1912 langsamer aber gleichförmiger als in der Textilindustrie. Tabelle 19
Die Produktion von Papier und Pappe in den Jahren 1905 bis 1912 Jahr
Hadern pappe in q
Holzpappe in q
Papier in q
Gesamt prod. in q
1905
239.200
477.000
3,463.050
4,179.250
1906
237.400
516.500
3,536.050
4,289.950
2,6
1907
237.980
578.750
3,285.030
4,101.760
-4,4
1908
332.020
761.820
3,176.350
4,270.190
4,1
1909
361.040
727.600
3,069.270
4,157.910
-2,6
1910
382.430
762.140
3,444.946
4,589.516
10,4
1911
411.899
917.545
3,483.174
4,812.618
4,9
1912
459.460
1,066.570
3,627.365
5,153.395
7,1
Wachstum in%
Quelle: Berechnet nach Angaben von Franz Krawany, wiedergegeben in Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 230.
Die Wachstumstrend des Gesamtausstoßes der Papier- und Pappefabriken lag in der Zeit von 1905 bis 1912 bei 2,8 Prozent, die Spannweite der Veränderungsraten zwischen -4,4 Prozent (1907) und 10,4 Prozent (1910). Das Wachstum entsprach nur knapp jenem der gesamten Industrieproduktion. Insgesamt erhöhte sich der Gesamtausstoß von 4,179 Millionen Zentner im Jahr 1905 auf 5,153 Millionen Zentner 1912. Als Erklärung für die Wachstumsschwankungen sind neben allfälligen konjunkturellen Einflüssen auch Unwägbarkeiten der Natur, insbesondere eine unterschiedliche Wasserführung der Flüsse in den einzelnen Jahren zu erwähnen.
C. Ausgewählte Fallstudien
150
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle Die Organisationsfonn föderativer Kartelle entwickelte sich in mehreren Branchen, die hinsichtlich ihrer Absatz- und/oder Beschaffungsmärkte regional gegliedert waren. Derartige Strukturen entstanden zum Beispiel in der Brauindustrie, Zementindustrie, Ziegelindustrie, Zuckerindustrie und Spiritusindustrie. Als zwei beispielhafte Fälle seien die Brauindustrie und die Zuckerindustrie dargestellt. 1. Brauindustrie Structure
Die meisten Darstellungen der Industriegeschichte konzentrieren sich vor allem auf die Schwerindustrie, die Chemie und die Elektrotechnik. Der Stellenwert der landwirtschaftsnahen Industrien wird oft zu wenig beleuchtet. Dabei trugen zum Beispiel die Tabak- und Lebensmittelindustrien gemäß Berechnungen von Nachum T. Gross im Jahr 1841 18 Prozent und 1911 25 Prozent zur Industrieproduktion im Habsburgerreich bei.99 Zum Vergleich: Der Anteil der Erzeugung von Metallen und Metallwaren lag nach dieser Darstellung 1841 bei 14 und 1911 bei 20 Prozent. Die Brauindustrie erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Phase dynamischer Entwicklung. 100 Die Produktion von Bierwürze stieg allein in Österreich von 7,037 Millionen hl im Jahr 1890/91 auf 19,628 Millionen hl 1901/02 an. 101 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erzeugten die Österreichischen Brauereien mehr als 20 Millionen hl Bier pro Jahr.102 Mehr als die Hälfte davon wurde in Böhmen produziert, 17 Prozent entfielen auf Niederösterreich, neun Prozent auf Mähren, sieben Prozent auf Galizien und jeweils fünf Prozent auf Oberösterreich und die Steiennark. Etwa 95 Prozent der 99 Nachum T. Gross, Die industrielle Entwicklung im Habsburgerreich 17501914, in: Carlo M. Cipolla, Knut Borchardt, Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften (Europäische Wirtschaftsgeschichte, 4), Stuttgart, New York 1985, 233. 100 Mikultis Teich, Bier. Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland 1800-1914, Wien, Köln, Weimar 2000; Kar! Urban, Die Brau- und Malz-Industrie Oesterreichs, in: Die Gross-Industrie Österreichs, V, Wien 1898, 197 ff. 101 Daten nach Herbert Matis, Karl Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in: Alois Brusatti (Hrsg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, 1), Wien 1973, 208. 102 1909110: 20,8 Mio. hl, 1910111: 22,1 Mio. hl, 1911/12: 22,7 Mio. hl. Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik. Zusammengestellt im Auftrage des k. k. Handelsministeriums vom k. k. Österreichischen Handelsmuseum, Wien 1916, 73.
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
151
Produktion wurden aus einer 10 bis 14-grädigen Bierwürze hergestellt (überwiegend "Mittelbier" und "Lagerbier"). Diese Sorten wurden zumeist zu Preisen zwischen 19 und 20 Kronen 103 per hl (exkl. Steuern und Abgaben) verkauft. Der Wert der gesamten Produktion kann somit auf einen Betrag von etwas weniger als 400 Millionen Kronen geschätzt werden. Friedrich von Fellner zitiert in seiner Berechnung des Österreichischen Volkseinkommens die Angabe eines nicht namentlich genannten Bierbrauers, der ihm mitteilte, daß Bier zu einem durchschnittlichen Großhandelspreis von 16,70 Kronen per Liter verkauft wurde. Demzufolge beziffert er den Gesamtwert der Produktion mit 352 Millionen Kronen. 104 Dieser Wert scheint aber nach den Daten, die bei der Bierkartellenquete 1912 erhoben wurden, etwas zu niedrig gegriffen zu sein, so daß selbst eine Schätzung des Bruttoproduktionswertes auf knapp 400 Millionen Kronen als eher vorsichtig anzusehen ist. Die Anzahl der Brauereien hatte zwar im Laufe des 19. Jahrhunderts stark abgenommen (1851 bestanden in Österreich 2957, im Jahr 1913114 nur noch 1080 Betriebe105), trotzdem wies die Branche auch vor dem Ersten Weltkrieg noch keine sehr hohe Konzentration auf. Zahlreiche Betriebe unterschiedlichster Größe existierten nebeneinander. Im Jahr 1911112 bestanden in Österreich 1111 Brauereien, 421 von ihnen brachten es auf einen Ausstoß von mehr als lO.OOOhl Bier pro Jahr. Die Arbeiterzahl aller Betriebe lag im Jahresdurchschnitt bei 29.681 Personen. 106 Die vier größten Brauereien im Jahr 1912 waren: 107 Bürgerliche Brauerei, Pilsen (Jahresproduktion: 981.400hl) Aktienbrauerei in Smichow (Prag) (624.000hl) Brauerei Schwechat (594.865 hl) Brauerei St. Marx (Wien) (583.427hl) Die Konzentrationsrate 4 belief sich auf 13 Prozent. Im Jahr 1913 erfolgte eine weitreichende Fusion in der Wiener Brauindustrie. Die Brauereien A. I. Mautner & Sohn (St. Marx), Th. & G. Meichl (Simmering) und Dreher (Schwechat, Triest, Michelob) wurden zur Vereinigte Brauereien in 103 Vgl. Verhandlungen der vom k. k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, IV, Brauindustrie, Wien 1912, 134 ff. 104 Friedrich von Fellner, Das Volkseinkommen Österreichs und Ungarns, Sonderabdruck aus dem September-Oktober-Heft der Statistischen Monatsschrift, XXI, Wien 1917, 79. 105 Matis, Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, 208. 106 Kartellenquete, IV, Brauindustrie, 157; Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 73. 107 Vgl. Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums, XX (1914), 524 ff.; Compass 1914, li, 110.
C. Ausgewählte Fallstudien
152
Schwechat, St. Marx, Sirurnering - Dreher, Mautner, Meichl AG fusioniert. Damit entstand die größte Braugesellschaft in Österreich mit einer Gesamtproduktion von mehr als 1,5 Millionen hl Bier pro Jahr. Zu diesem Zweck wurde das Aktienkapital von Dreher 1913 auf 36 Millionen Kronen erhöht.108 Die im Stichjahr 1912 bestehenden 71 Brauaktiengesellschaften verfügten im Durchschnitt über ein nominales Aktienkapital von 2,3 Millionen Kronen. Die vier größten Gesellschaften wiesen folgende Kennzahlen auf: Tabelle 20 Die vier größten Brauaktiengesellschaften in Österreich im Jahr 1912 (gemäß der Bilanzsumme) Firma
Bilanzsumme Aktienkapital Sachanlagevermögen
Dreher
42,5 Mio. K
20 Mio. K
16,8 Mio. K
Brüder Reininghaus, AG für Brauerei und Spiritus-Industrie
17,1 Mio. K
10 Mio. K
10,2 Mio. K
Kuffner - Ottakring
16,0 Mio. K
10 Mio. K
7,1 Mio. K
AG d. Liesinger Brauerei
11 ,0 Mio. K
9Mio. K
5,5 Mio. K
Quelle: Compass 1914, II.
Die Braufirma mit der größten Jahresproduktion 1912, die Bürgerliche Brauerei in Pilsen, fehlt in der obigen Liste, weil sie nicht als Aktiengesellschaft firmierte. Das Sachanlagevermögen machte bei den Brauereien im Durchschnitt ungefahr 60 Prozent ihres Gesamtvermögens aus.109 Der Biermarkt war von zwei Arten der wirksamen Marktdifferenzierung gekennzeichnet. Einerseits erzeugten die Brauereien unterschiedliche Qualitäten von Bier, die etwa von der Gradation der Bierwürze abhingen. Wie bereits erwähnt, wurden 95 Prozent der Produktion aus einer Bierwürze von 10 bis 14 Grad gebraut, überwiegend mittelpreisiges Bier für den Massenabsatz. Daneben bestanden höherpreisige Spezialsorten. Andererseits war der Gesamtmarkt in räumlicher Hinsicht sehr stark differenziert. Wegen der Relation von Bierpreis zu Transportkosten wurde der überwiegende Teil 108 Compass 1914, II, 517 f.; Pranz Mathis, BigBusiness in Österreich. Österreichische Großunternehmen in Kurzdarstellungen, Wien 1987, 267; Conrad Seidl, Bier. Deutsche und europäische Braukunst, Weyarn 1997, 312. 109 Vgl. Alois Mosser, Die Industrieaktiengesellschaft in Österreich 1880-1913, Wien 1980, 217.
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
153
des Bierausstoßes in den umliegenden Gebieten der jeweiligen Brauereien verkauft. Nur manche hochpreisige Extraqualitäten, wie die beliebten Sorten aus Pilsen, Budweis oder von den Schwarzenbergsehen Brauereien wurden in der gesamten Monarchie vertrieben und auch in das Ausland exportiert. Somit wurde der überwiegende Teil des Bieres (nämlich die Mittelbiere) für einen insgesamt sehr großen Massenmarkt erzeugt, der räumlich jedoch durch die Transportkosten erheblich differenziert war. Damit wurde faktisch der Wettbewerb unter den Brauereien, die diesen großen Teilmarkt belieferten, nicht von der gesamten Österreichischen Brauindustrie, sondern nur von der räumlich nahegelegenen Konkurrenz bestimmt. Insgesamt gelang es der Industrie, die unterschiedliche Zahlungsbereitschaft diverser Gruppen von Konsumenten für den Bierkonsum gut abzuschöpfen, indem sie ein preislich differenziertes Angebot von billigerer Massenware und teureren Spezialsorten anbot. Der Biermarkt war zu den gegebenen Preisen gesättigt. Er vermochte damit bei den gegebenen Kostenstrukturen keine wesentlichen Neueintritte zu attrahieren. Strategien der Gewinnsteigerung mußten auf betriebliche Konzentration und Kostensenkung ausgerichtet sein. Daneben bestanden aber durch die Marktstruktur durchaus auch Existenzmöglichkeiten für kleinere Produzenten. Viele kleine ländliche Gasthausbrauereien, deren Sachanlagevermögen bereits abgeschrieben war, konnten dank relativ bescheidener laufender Kosten überleben. Der Investitionsbedarf für die Errichtung neuer, kompetitiver Betriebe lag zweifellos wesentlich niedriger als etwa in der Schwerindustrie. 110 Die staatlichen Instanzen waren am Biergeschäft in höchstem Ausmaß interessiert, weil der Konsum erheblich besteuert wurde. Die Steuern, die an das k. k. Finanzministerium abzuführen waren, beliefen sich auf vier Kronen pro hl und auch die Länder und Gemeinden hoben regionale Abgaben in einem Ausmaß von ungefähr 5,5 Kronen pro hl ein. 111 Wegen dieser Steuerabgaben führten die Finanzbehörden genaue Statistiken über die Bierverkäufe, 112 was auch die Organisation von Kartellen erleichterte, weil das Verhalten der Mitglieder anband der amtlichen Statistiken überwacht werden konnte. Am Biermarkt entwickelte sich eine enge Verbindung zwischen den Brauereien und den Gasthäusern. Die Brauereien waren oft nicht nur Getränkelieferanten, sondern in vielen Fällen auch Finanziers der Gastwirte. Dadurch entstand ein stabiles Beziehungsgeflecht zwischen den Produzen-
° Kartellenquete, IV, Brauindustrie, passim.
11
111
ll2
Vgl. ebenda, 133 ff. Vgl. z.B. Mitteilungen des k.k. Finanzministeriums, XX (1914), 493 ff.
154
C. Ausgewählte Fallstudien
ten und den Detailverkäufern. Diese Struktur war eine wichtige Grundlage für die Entwicklung des Bierkartells bzw. der Bierkartelle. Conduct
Ansätze zur Karteliierung entwickelten sich am Österreichischen Biermarkt seit den 1880er Jahren. Während der Krise ab 1873 verschuldeten sich immer mehr Gastwirte bei den Brauereien. Unter diesen setzte ein Wettbewerb darum ein, wer den Wirten die besten Kreditbedingungen bot, und sie dadurch als Abnehmer an sich binden konnte. Die Brauereien begannen, einander gegenseitig Kunden "auszukaufen", das heißt, ihnen eine Umschuldung zu besseren Konditionen anzubieten, als die Konkurrenz, der sie den Kunden abjagen wollten. Dieser Wettstreit erwies sich als sehr teuer für die Brauereien. Oft mußten sie ihren Kunden Kredite zu Konditionen gewähren, die nicht einmal ihre eigenen Refinanzierungskosten deckten. Andererseits wurde aus den Reihen der Gastwirte in zunehmendem Maße Kritik an den Brauereien laut. Diese empfanden jene als Ausbeuter, weil sie die Rückzahlungen der Kredite in Form von Preisaufschlägen auf die Bierlieferungen zu leisten hatten und, so lange sie ihre Schulden nicht getilgt hatten, kein Bier von der Konkurrenz ihres Kreditgebers beziehen durften. Im Jahr 1912 sollen die Österreichischen Gastwirte den Brauereien insgesamt mehr als 400 Millionen Kronen geschuldet haben, allein die Wiener Wirte etwa 40 Millionen Kronen. 113 Um das teure "Auskaufen" von Kunden zu beenden, entstanden seit den 1880er Jahren sogenannte Kundenschutzabkommen zwischen Brauereien. Die Mitglieder verpflichteten sich für den Fall, daß sie einem Kunden einer Konkurrenzbrauerei Bier verkauften, an den betroffenen Konkurrenten Entschädigungszahlungen zu leisten. Diese Zahlungen waren höher als die zusätzlichen Gewinne, die sie durch den Verkauf erzielten. Dadurch sollte dem "Auskaufen" von Kunden der ökonomische Boden entzogen werden. Die ersten derartigen Kundenschutzabkommen entstanden für städtische Massenmärkte, etwa für Brünn, Wien, Linz, Salzburg etc. Aus den lokalen Abkommen gingen allmählich überregionale Organisationen hervor. Im Jahr 1907 gründeten die Brauereien in der Steiermark, in Kärnten, Krain und Küstenland den Schutzverband alpenländischer Brauereien. Diese Organisation sollte sowohl die Intensität des Wettbewerbs um Kunden durch ein Kundenschutzabkommen reduzieren als auch die Kooperation der Brauer im Falle von Konflikten mit ihren Arbeitnehmern organi-
113
Kartellenquete, IV, Brauindustrie, 48 und 53.
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
155
sieren, also etwa Maßnahmen wie Aussperrungen während Streiks etc. ermöglichen. 114 Im Jahr 1910 traten die ihrerseits bereits lokal organisierten Bierbrauer aus Niederösterreich, Oberösterreich und·Salzburg, 1911 jene aus Tirol dem alpenländischen Schutzverband bei. In Niederösterreich waren mehr als 90 Prozent der Brauereien organisiert. Der Verband richtete ein Zentralbüro in Graz und regionale Büros in allen Mitgliedsländern ein. Im Königreich Böhmen entstand ebenfalls ein Schutzverband, dem 1912 375 Brauereien mit einer Gesamtproduktion von 7,6 Millionen hl angehör-
ten. Das waren ungefähr drei Viertel des böhmischen Bierausstoßes.115 Die Brauereien in Schlesien und Mähren waren in analoger Weise organisiert.116 In enger Verbindung mit den Kartellorganisationen entwickelten sich in der Brauwirtschaft auch Organisationen, die in allgemeinerer Weise die Interessen ihrer Branche zu vertreten suchten und als Gegengewicht der entstehenden Arbeiterorganisationen auftraten. Zu nennen sind insbesondere die "Brauherrenvereine", die schon auf eine lange Tradition in Böhmen, Mähren, Wien etc. zurückblicktenY 7 Als deren gemeinsame Dachorganisation fungierte der "Zentralverein der Österreichischen Brauerei-Industriellenvereine in Wien".
Insgesamt traten die Brauindustriellen föderativ organisiert auf, mit einer Vereinsstruktur, in der die regionalen Gruppierungen das Geschehen auf den regionalen Märkten regelten und die gemeinsamen Dachorganisationen als starke Interessenvertretungen zu wirken trachteten. Die Zenttalorganisationen waren aus einem Prozeß von unten entstanden. Angesichts der großen Zahl von Brauereien und der vielschichtigen Strukturierung der Brauwirtschaft, was Betriebsgrößen, Finanzstärke, etc. betraf, entstanden neben diesen mehr oder weniger gemeinsamen Organisationen auch Gruppierungen, die nur bestimmte Segmente der Brauer repräsentierten. So stand etwa dem mächtigen Brauherrenverein für Wien und Umgebung, in dem einige der größten Brauereien der Monarchie das Sagen hatten, der Bund niederösterreichischer Provinzbrauer in Zwettl gegenüber.118 114 Compass 1914, II, 104. Ebenda. ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, lndustrierat, Mappe Industrierat VI. Abt., VI-57/Cartellfrage, Z. 67 Cartellbericht (1904), 10. 117 Vgl. ebenda, 10 f. 118 Kartellenquete, IV, Brauindustrie, 6. 115 116
156
C. Ausgewählte Fallstudien
Als gemeinsame Dachorganisation fungierte der Zentralverein der Österreichischen Brauerei-Industriellenvereine in Wien. Insgesamt stellten sich die Braukartelle als föderative Gruppe dar, die zum einen zentrale Organisationseinheiten besaß, in der aber die für die Mitgliedsunternehmen relevante Regulierung der räumlich differenzierten regionalen Märkte in den kleineren Unterorganisationen stattfand. Somit wirkten die Aktivitäten der einzelnen Mitglieder jeweils spürbar auf ihr eigenes Geschäftsumfeld ein und verloren sich nicht in einem homogenen Gesamtmarkt Das war gewiß eine Grundlage für die relative Beständigkeit der Kundenschutzkartelle, zumindest im alpenländischen Raum. Performance
Die kollektiven Unternehmensdaten der Österreichischen Brauindustrieaktiengesellschaften weisen einen recht ruhigen Geschäftsgang aus. Tabelle 21 Unternehmensdaten der Österreichischen Brauindustrieaktiengesellschaften 1907 bis 1912 Jahr Anzahl der Firmen Aktienkapital aller Firmen zusammen in Mio. Kronen Durchschnittliches Aktienkapital in Mio. K
1907
1908
1909
1910
1911
1912
62
62
64
64
68
71
142,1
143,3
146,6
146,3
152,8
166,3
2,3
2,3
2,3
2,3
2,2
2,3
Anzahl der Firmen, deren Bilanzen berücksichtigt werden konnten
62
60
63
62
66
67
Prozentsatz der Firmen, die Verluste auswiesen
3,2
8,3
17,5
11,3
6,1
14,9
Gewinn in% des Aktienkapitals aller Firmen
6,9
4,0
3,8
5,8
7,5
6,7
Dividende in% des Aktienkapitals aller Firmen
4,6
3,8
4,8
5,0
5,2
5,2
Quelle: Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 69 f.
Der Anteil von Firmen mit Verlusten nahm bis 1909 laufend zu, ging dann wieder etwas zurück und erhöhte sich 1912 erneut. Er lag stets relativ niedrig. Die durchschnittlichen Gewinne in Prozent des nominalen Aktien-
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
157
kapitals bewegten sich innerhalb kleinerer Schwankungsbreiten, und in der Dividendenpolitik waren die Brauereien offenbar auf maßvolle Stabilität orientiert. Angesichts der zwei vergleichsweise schlechteren Geschäftsjahre 1908 und 1909 sowie der gehäuft auftretenden roten Zahlen 1912 wurden in der Brauwirtschaft etwa ab 1908 Stimmen laut, die Bierpreiserhöhungen forderten. Auch das relativ dichte Netz von Kartellorganisationen schien dafür gute Voraussetzungen zu bieten. Im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts waren die Bierpreise weitgehend gleich geblieben, 119 obwohl sich die Verbraucherpreise von 1900 bis 1910 um mehr als 18 Prozent 120 erhöht hatten und auch die Materialien für die Biererzeugung entsprechend teurer geworden waren. 121 Auch durch ein Mengenwachstum konnte die Schere zwischen zunehmenden Kosten und dahinter zurückbleibenden Bierpreisen nicht geschlossen werden. Der Markt war gesättigt, und die Absatzmenge hätte auch durch allfällige geringfügige Preissenkungen nicht wesentlich erhöht werden können. Der Wachstumstrend für die Verkaufs- bzw. Produktionsmenge lag für den Zeitraum von 1901/02 bis 1911112 nur bei 1,4 Prozent. Das größte Wachstum gegenüber dem Vorjahr trat 1905/06 mit einem Zuwachs von 6,9% auf, die stärkste Schrumpfung 1908/09 mit -9,8%. 122 In den Jahren 1911/12 setzten die Brauer allmählich in allen Regionen eine Bierpreiserhöhung um ungefähr 10 Prozent durch. Sie beteuerten bei der Kartellenquete 1912, daß diese Preissteigerung im Ausmaß von etwa zwei Kronen pro hl gerade der Erhöhung der Gestehungskosten entsprach.123 Die Bilanzstatistik zeigt für 1911 und 1912 eine gewisse Verbesserung der Gewinnsituation sowie etwas höhere Dividenden. Die augenscheinlich etwas gesteigerte durchschnittliche Ertragslage 1912, bei einem Vgl. ebenda, 134 ff. Berechnet nach Vera Mühlpeck, Roman Sandgruber, Bannelore Woitek, Index der Verbraucherpreise 1800-1914, in: Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829-1979 (Beiträge zur Österreichischen Statistik, 550), Wien 1980, 678 f. Der Generalindex (1914 = 100) stieg von 80,4 (1900) auf 95,4 (1910). 121 An der Wiener Börse stiegen die Notierungen für Gerste von 1900 bis 1910 um 9,5 bis 13,4%, in Prag um 2,7 bis 6,2%, in Czernowitz um 13,8 bis 34,6%. Die Malzpreise an der Wiener Börse nahmen von durchschnittlich 12,5K im Jahr 1902 um sieben Prozent auf durchschnittlich 13,38 K 1910 zu. 1909 und 1911 bewegten sie sich aber zumeist bei mehr als 15 Kronen. Berechnet nach Kartellenquete, IV, Brauindustrie, 144 ff. Die Hopfenpreise schwankten in jeder Saison ganz erheblich, und auch die Jahresdurchschnittspreise differierten je nach Ernte sehr stark. 122 Berechnet nach Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 73. 123 Kartellenquete, IV, Brauindustrie, 22, Experte Dr. Richter. 119
120
158
C. Ausgewählte Fallstudien
zugleich erhöhten Prozentsatz von Firmen mit negativen Ergebnissen, mag eine gewisse Polarisierung zwischen kompetitiven Braufirmen und Unternehmen, die während der zunehmenden Fusions- und Konzentrationsaktivitäten zurückfielen, widerspiegeln. Generell hielten sich die Produktivitätsfortschritte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in recht engen Grenzen, wie folgende Tabelle erkennen läßt: Tabelle 22 Gesamtanzahl der Brauereien, Produktionsmengen, Arbeiterzahlen und Produktion pro Arbeiter in der Österreichischen Brauindustrie von 1904/05 bis 1911/12 Jahr
1904/05 05/06 06/07 07/08 08/09 09110 10/11 11112
Gesamtzahl der Brauereien
1285
1271
Gesamtproduktion in Mio. hl
19,10
20,42 20,92 21,88 19,73 20,85 22,15 22,71
Durchschn. Arbeiterzahl in sämtl. Betr.
27932 26886 28490 29460 28617 28643 30201 29681
hl pro Arbeiter (Arbeiterproduktivität)
684
760
1260
734
1217
743
1199
690
1183
728
1146
1111
733
765
Quelle: Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 73.
Gemäß diesen Daten schwankte die Arbeiterproduktivität wenig systematisch (offenbar von Natureinflüssen und Ernteergebnissen abhängig) zwischen einer Produktion von 684hl und 765hl pro Arbeiter und Jahr. Allein die Tatsache, daß sich der niedrigste Wert am Beginn der Zeitreihe und der höchste an deren Ende befindet, deutet doch auf gewisse tendenzielle Produktivitätsfortschritte hin. Angesichts der strukturell festgefügten Kartellorganisation mag es verwundem, daß die Preiserhöhungen der Brauindustrie von 1900 bis 1912 hinter dem Ansteigen des Verbraucherpreisindex' zurückblieb. Trotz der praktizierten maßvollen Preispolitik wurden die Bierproduzenten zu Objekten heftigster Angriffe. Bier war ein Massenkonsumgut, das einen wichtigen Bestandteil der Ernährung bildete. 124 Vor allem einkommensschwache Schichten waren von einer Hinaufsetzung des Bierpreises in ihrer Lebenshaltung massiv betrof124 Roman Sandgruber, Die Anfänge der Konsumgesellschaft (Sozial und wirtschaftshistorische Studien, Band 15), Wien 1982, 187 ff.
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
159
fen. Daher riefen Preissteigerungen regelmäßig Boykottaktionen 125 und sogenannte Bierkrawalle hervor. Häufig waren die im Entstehen begriffenen Arbeiterbewegungen dabei beteiligt. 126 Überdies galt der Bierpreis offenbar als eine Größe, in deren Regelung sich staatliche Behörden einzumengen hatten - machten die Steuern und Abgaben doch etwa die Hälfte des Endverbraucherpreises aus. Daher stellten sich auch Politiker, in oft vordergründig populistischer Manier, an die Seite von Protestbewegungen gegen Bierpreiserhöhungen. Bierpreiserhöhungen wurden somit mehrere Male auch zu Anlässen, daß im Reichsrat restriktive Kartellgesetze gefordert wurden. 127 Den Brauern wurde ihre festgefügte Organisationsstruktur zum Vorwurf gemacht. Deren Bestehen allein genügte den Gegnern von Bierpreiserhöhungen, um die Braukartelle als ausbeutensehe Vereinigungen anzuprangern. Daß sich die Branche nur eher mäßiger - wenngleich recht stabiler - Renditen erfreute, spielte im Diskurs keine große Rolle. Die staatliche Obrigkeit war angesichts der Steuerbelastung des Bierpreises eher geneigt, die Gegner von Preiserhöhungen zu unterstützen und selbst einschlägige Krawalle mit unüblicher Nachsicht hinzunehmen. 2. Zuckerindustrie
Structure Erste Versuche einer fabriksmäßigen Erzeugung von Rübenzucker wurden in Österreich bereits im frühen 19. Jahrhundert angestellt. Nach 1848 investierten zahlreiche aristokratische Großgrundbesitzer in den intensiven Anbau von Zuckerrüben und vorwiegend bürgerliche Unternehmer gründeten Zuckerfabriken. 128 Auf diese Weise bildete sich eine räumliche Separierung des zweistufigen Produktionsprozesses heraus. Der Rohzucker wurde vielfach von den landwirtschaftlichen Unternehmern selbst in entsprechenden Anlagen aus den Rüben gewonnen, die Erzeugung des marktgängigen raffinierten Zuckers daraus erfolgte in einer weiteren Verarbeitungsstufe in 125 Zum Beispiel rief das Exekutivkomitee der tschechischen sozialdemokratischen Partei im August 1913 nach einer Bierpreiserhöhung zum Bierboykott auf. Duxer Zeitung, 6.8.1913; Kartell-Rundschau 10 (1913), 698. 126 Vgl. etwa: Helmut Konrad, Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich, Wien, München, Zürich 1981, passim. 127 Zum Beispiel Anfrage der christlichsozialen Abgeordneten Doblhofer und Genossen im Abgeordnetenhaus am 2. Juli 1908 an den Ministerpräsidenten wegen Verteuerung der Bierpreise. Darin forderte man, daß "ein die Regelung des Kartellwesens betreffender Gesetzesentwurf der Regierung mit tunliebster Beschleunigung vorzulegen" sei. Kartell-Rundschau 6 (1908), 668 f. 128 Als Pioniere der Zuckerindustrie sind zum Beispiel Alexander Schoeller und die Brüder Alfred und August Skene zu nennen.
160
C. Ausgewählte Fallstudien
speziell dafür errichteten Fabriken. In den 1860er Jahren ermöglichten technische Innovationen, insbesondere das Diffusionsverfahren, ein rasches Wachstum der Industrie. 129 Die Gesamtproduktion in Österreich erhöhte sich von 642.000t im Jahr 1890/91 auf 939.000t 1901102. 130 Im Jahr 1909/10 produzierten die Österreichischen Zuckerfabriken etwa 8,4 Millionen Zentner raffinierten Zuckers, erzeugt aus rund 9,3 Millionen Zentner Rohzucker. 131 Im Inland wurden mehr als vier Millionen Zentner versteuert verkauft. Der vom Kartell festgesetzte Großhandelspreis für Zukker lag 1909/10 bei knapp 80 Kronen pro Zentner. Zieht man davon 38 Kronen Konsumsteuer 132 und die Kartellabgabe ab, so resultiert daraus ein Preis exklusive Steuern von ungefähr 40 KronenY 3 Der Wert der im Inland verkauften Menge kann somit (exklusive Steuer) auf knapp 160 Millionen Kronen geschätzt werden. 134 Die Exporte im Ausmaß von rund 4,14 Millionen Zentner Raffinade 135 brachten zu Preisen von ungefähr 35 Kronen pro Zentner 136 beiläufig weitere 145 Millionen Kronen ein. Der Inlandspreis (exkl. Steuer) lag um ungefähr 10 bis 15 Prozent höher als der Export-(= Weltmarkt-)Preis. In der Zuckerindustrie war die Unternehmens- und Betriebskonzentration in ähnlich geringem Ausmaß wie in der Textilindustrie vorangeschritten. 129 Vgl. Jakob Baxa, Studien zur Geschichte der Zuckerindustrie in den Ländern des ehemaligen Österreich, Wien 1950; derselbe, Die Zuckererzeugung 1650--1850, Jena 1937; Gustav Mikusch, Die Zuckerindustrie, ihre Lage im alten Österreich, während des Weltkrieges und ihre Aussichten in Deutschösterreich, Wien, Leipzig 1921; Edmund Kutschera, Die Rübenzucker-Industrie, in: Die Gross-Industrie in Österreich, I, Wien 1908, 263 ff. 130 Statistische Rückblicke aus Österreich. Der XIV. Tagung des Internationalen Statistischen Institutes übereicht von der k. k. Statistischen Zentralkommission, Wien 1913, 42. 131 Für die Angaben zur Zuckerindustrie wird nicht die Saison 1911112 und auch nicht 1910/11 als Stichjahr genommen, weil beide Perioden als Ausreißer aus der langjährigen Entwicklung zu werten sind; die erste wegen ungewöhnlich guter Ernten nach oben, die nächste wegen einer Mißernte nach unten. Vgl. Compass 1914, II, 276. 132 Mitteilungen des k.k. Finanzministeriums, XX (1914), 472. 133 Verhandlungen der vom k. k. Handelsministerium abgehaltenen Kartellenquete, I, Zuckerindustrie, Wien 1912, 109 und 178. 134 Friedrich von Fellner kommt in seiner Berechnung des Österreichischen Volkseinkommens zu einer krassen Fehlbewertung der Zuckerproduktion, weil er die Menge des raffinierten Zuckers mit dem Preis für Rohzucker multipliziert. Auf diese Weise errechnet er für die Jahre 1911112 und 1912113 nur einen durchschnittliehen Gesamtwert der Zuckerproduktion von rund 238 Millionen Kronen. Er liegt damit um 60 Millionen Kronen zu niedrig. Fellner, Das Volkseinkommen Österreichs und Ungarns, 80. 135 Kartellenquete, I, Zuckerindustrie, 161. 136 Exportpreis geschätzt nach Compass 1914, II, 277.
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
161
Sie war in den verschiedenen Stufen der Industrie unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Rohzuckererzeugung erfolgte stark verstreut, die Raffineriestufe war in einer kleineren Anzahl von Fabriken konzentriert und im Handel, insbesondere dem Außenhandel, hatten die Großbanken eine wichtige Rolle erlangt. Vor dem Ersten Weltkrieg arbeiteten in Österreich 20 reine Zuckerraffinerien, mehr als 40 kombinierte Betriebe, die sowohl Rohzucker als auch Raffinade erzeugten, und mehr als 140 reine RohzuckerfabrikenY7 Das bedeutete jedoch nicht, daß der Großteil des Rohzuckers den Weiterverarbeitern marktmäßig angeboten worden wäre. Vielmehr befanden sich zahlreiche Rohzuckerfabriken im Eigentum von vertikal integrierten Großfirmen, die Betriebe für alle Stadien der Erzeugung besaßen. Das Österreichische Zuckerkartell teilte den Mitgliedsfirmen im Jahr 1906 für den Inlandsabsatz eine Gesamtquote von 3,69 Millionen Zentnern zu. Insgesamt waren 41 Raffinerien beteiligt. Die vier größten Betriebe vereinten aufeinander gemeinsam einen Anteil von 18,6 Prozent der Gesamtmenge. 11 Fabriken hatten Quoten von mehr als 100.000 Zentner RaffinadeY8 Im Jahr 1912 bestanden in Österreich 74 Aktiengesellschaften im Bereich der Zuckerindustrie. Im Durchschnitt waren sie nur mit einem nominalen Aktienkapital von 1,9 Millionen Kronen ausgestattet (weniger als in der Baumwollindustrie). Die größten Aktiengesellschaften (nach der Bilanzsumme) waren: Tabelle 23
Die vier größten Aktiengesellschaften in der Österreichischen Zuckerindustrie im Jahr 1912 Firma
Bilanzsumme Aktienkapital Sachanlagevermögen
Schoeller & Co AG
33,1 Mio. K
14 Mio. K
10,9 Mio. K
Chropiner Zuckerfabriks-AG
22,2 Mio. K
9 Mio. K
?
Galizisch-Bukowinaer ZuckerIndustrie AG in Przeworsk
19,2 Mio. K
7 Mio. K
4,7 Mio. K
Nestornitzer Zucker Raffinerie
16,2 Mio. K
6,72 Mio. K
8,2 Mio. K
Quelle: Compass 1914, II.
137 Vgl. Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 17; Compass 1914, II, 280. 138 Ebenda, 285 f.; Kartell-Rundschau 4 (1906), 467.
II Resch
162
C. Ausgewählte Fallstudien
Zucker gelangte als homogenes Massengut auf den Markt. Die Produktion war in Böhmen, Mähren, Schlesien, Niederösterreich und Galizien konzentriert. Diese regionale Allokation hatte sich ressourcenorientiert ausgebildet, denn man verarbeitete in den Fabriken nach Möglichkeit Rüben bzw. Rohzucker aus der näheren Umgebung. Das regionale Muster der Fabriksstandorte bestimmte bis zu einem gewissen Grad auch die räumliche Struktur des Absatzes, da frachtenmäßig zu den jeweiligen Abnehmern günstiger gelegene Firmen natürlich gegenüber den anderen gewisse Kostenvorteile hatten. Dieser Zusammenhang war jedoch nicht so stark ausgeprägt wie in der Brauindustrie. Jedenfalls wies das große Raffinerienkartell von 1906 drei regionale Untergruppierungen auf, nämlich a) Böhmen, b) Mähren, Schlesien und Niederösterreich sowie c) Galizien. Die Zutrittsschranken für neue Marktteilnehmer waren wohl etwas höher als in den Textilindustrien, insbesondere weil die etablierten Firmen in engmaschige Netzwerke von Lieferanten, Handel und Banken eingebunden waren. Die Rohzuckerfabrikanten schlossen untereinander Verträge ab, sich nicht die Rüben von Bauern gegenseitig wegzukaufen und mit den Bauern gingen sie feste Lieferverträge ein, so daß bestimmte landwirtschaftliche Gebiete bestimmten Rohzuckerfabriken als Beschaffungsrayons zugeordnet waren. 139 Aber diese Netzwerke umfaßten so viele "Mitspieler", daß Neueinsteiger für gewöhnlich doch Partner innerhalb der etablierten Strukturen finden konnten. Das Investitionsvolumen für die Neuerrichtung von kompetitiven Betrieben mag sich in einer ähnlichen Größenordnung wie in der Textilindustrie bewegt haben. Experten gaben bei der Kartellenquete 1912 an, daß für den Bau einer Fabrik mit einer Jahresproduktionskapazität von 200.000 Zentnern Zucker etwa drei Millionen Kronen erforderlich waren. 140 Der Anteil der Sachanlagen am Gesamtvermögen lag im Jahr 1912 im Durchschnitt bei 38 Prozent. 141 Für das Organisationsverhalten in der Zuckerbranche spielte eine gewichtige Rolle, daß sich die Industrie in enger Kooperation mit den großen Universalbanken entwickelte. Sowohl die hocharistokratischen Familien, die auf ihren Gütern die Rübenproduktion in großem Maßstab einführten, als auch die bürgerlichen Dynastien der Zuckerindustrie, wie etwa die Familie Schoeller 142, bildeten zugleich auch jene sozialen Gruppen, aus denen die Initiativen zur Entwicklung des Österreichischen Universalbanksystems her139 Vgl. Kartellenquete, I, Zuckerindustrie und XI, Rübenrayonierung und Vereinbarungen der Rübenproduzenten. 140 Kartellenquete, I, Zuckerindustrie, 30 ff. und 187. 141 Mosser, Industrieaktiengesellschaft, 214. 142 Vgl. etwa Josef Mentschl, Gustav Otruba, Österreichs Industrielle und Bankiers, Wien 1965, 96 ff.
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
163
vorgingen. 143 Von einem sehr frühen Stadium an war die Zuckerindustrie eng mit den Banken verflochten. Besonders Creditanstalt, Länderbank, Anglo-Oesterreichische Bank, Bodencreditanstalt, Zivnostenska banka und Ungarische Allgemeine Credit-Bank waren intensiv im Zuckergeschäft engagiert. Die Banken gründeten zusammen mit einigen einflußreichen Industriellen-Familien große Zuckerkonzerne, die sowohl Rohzuckerfabriken als auch Raffinerien und Verkaufsorganisationen urnfaßten. Die Banken unterhielten große Verkaufsabteilungen für das Zuckergeschäft Trotz der wettbewerbsfähigen Position der Österreichischen Zuckerindustrie am Weltmarkt schützte der Staat den Inlandsmarkt durch einen Importzoll von 5,2 Kronen pro 100kg Rohzucker und 5,7 Kronen pro lOOkg Raffinade.144 Conduct
In der Zuckerindustrie entstanden Kartellorganisationen seit den 1890er Jahren. Damals herrschte zwischen den zuckerexportierenden Ländern in merkantilistischer Manier ein Wettlauf bei der Subventionierung der Zukkerausfuhren. Die Kartelle organisierten die Zuteilung von Marktanteilen und Subventionen an die Mitgliedsfirmen. Das österreichisch-ungarische Kartell der Rohzuckerfabrikanten und Raffineure, das unter diesen Voraussetzungen entstanden war, wurde zuletzt 1897/98 bis zum 31 . Oktober 1902 verlängert. 145 Danach wurden die Rahmenbedingungen für die Organisationen durch die Brüsseler Konvention von 1903 grundlegend geändert. Die Konvention trat am 1. September 1903 in Kraft. Dieses internationale Abkommen kam auf Initiative von Großbritannien zustande. Die Briten waren beunruhigt, weil der Absatz des Rohrzuckers aus ihren Kolonien von den rübenzuckerproduzierenden Ländern mittels Exportsubventionen immer mehr zurückgedrängt wurde. Da das Vereinigte Königreich selbst für die Rübenzuckerexporteure einen Absatzmarkt von überragender Bedeutung darstellte, konnte es mit der Androhung diskriminierender Behandlung ein internationales Abkommen durchsetzen, das am Leitgedanken der Liberalisierung des Handels 143 Vgl. Peter Eigner, Die Konzentration der Entscheidungsmacht, Wien 1997, 286 ff. 144 Allgemeiner und vertragsmäßiger Zolltarif für das österr.-ung. Zollgebiet, Wien 1906, 78. 145 ÖStA, AVA, Handelsministerium, Fasz. 1211, lndustrierat, Mappe Industrierat VI. Abt., VI- 57/Cartellfrage, Z. 67 Cartellbericht (1904), ll; Compass 1914, II, 284 f.; Ern. Hromada, Kartelle in der oesterreichisch-ungarischen Zuckerindustrie, Zürich, Brüx 1911, 51 ff. ; Anton Hlawitschka, Das Wesen und die schädliche Wirkung des Zuckerkartells und der Rübenkartelle in Österreich-Ungarn, Wien 1902.
II*
164
C. Ausgewählte Fallstudien
und einer Reduktion des Staatseinflusses orientiert war. Das Brüsseler Abkommen verbot die Praxis der staatlichen Exportsubvention und außerdem mußten die Importzölle für Zucker in den zuckerexportierenden Staaten drastisch reduziert werden. Die Zölle wurden auf maximal sechs französische Francs (ca. 5,7 Kronen) begrenzt. Damit sollte den jeweiligen nationalen Kartellen die Möglichkeit genommen werden, mittels überhöhter Inlandspreise die Belieferung des Auslands zu Dumping-Preisen zu finanzieren. Für den Fall von Vertragsverletzungen seitens eines Exportstaates sah das Übereinkommen vor, daß der Importstaat eine Surtaxe im Ausmaß der unerlaubten Exportförderung auf die betreffenden Importe einzuheben hatte. Die Brüsseler Konvention wurde von Belgien, Deutschland, Frankreich, Holland, Großbritannien, Österreich-Ungarn, Italien und Schweden angenommen. Die Schweiz trat 1906 bei. 146 In Österreich versuchte man angesichts des Wegfalles der staatlichen Exportsubventionen ein starkes Auftreten der Industrie auf den Exportmärkten durch eine staatliche Rübenrayonierung und die individuelle Zuteilung von Erzeugungskontingenten an die einzelnen Firmen zu organisieren. Das entsprechende Gesetz vom 31. Jänner 1903 wurde jedoch von der permanenten Kommission, die in Brüssel zur Überwachung der Einhaltung der Konventionsregeln eingerichtet worden war, als vertragswidrig erkannt und mußte daher aufgehoben werden. Danach handelten der ungarische und der Österreichische Finanzminister aus, daß die Kartellbildung wenigstens dadurch gefördert werden sollte, daß man den Gesamtmarkt der Zollunion für Zucker wieder in einen Österreichischen und einen ungarischen Teilmarkt separierte. Um dies zu erreichen und zugleich fiskalisch zu profitieren, sollte für den Zwischenverkehr eine Surtaxe von 3,5 Kronen pro Zentner eingeführt werden. Diesem Gesetzesentwurf versagte jedoch das Österreichische Parlament die verfassungsmäßige Genehmigung. 147 Das alte Zuckerkartell war im Oktober 1902 zerfallen, doch bildeten die Raffineure für den Zeitraum bis zum lokrafttreten des Brüsseler Abkom146 Kartell-Rundschau, 1 (1903), passim; Der Österreichische Volkswirt, 27.1. 1912, 322; Hronwda, Kartelle in der oesterreichisch-ungarischen Zuckerindustrie, 104 ff. Die Konvention wurde 1907 um weitere sechs Jahre verlängert. Damals erfolgte aber eine gewisse Lockerung mancher Bestimmungen. Vor allem ließ England die Strafzölle gegen Exportsubventionen auf. Rußland trat 1907 der Konvention bei. Die russische Zuckerindustrie verpflichtete sich, bis 1910 nur eine Million Tonnen nach England und der Levante auszuführen und nach Österreich-Ungarn und Deutschland überhaupt nicht zu exportieren. Im Jahr 1911 erlitten jedoch Deutschland und Österreich einen starken Ernteausfall, während Rußland eine glänzende Rübememte erzielte. Daher erhielt Rußland ein außerodentliches Exportkontingent von 150.000t Zucker für 1912/13 und 50.000t für 1913/14 zugewiesen. Im Gegenzug war Rußland bereit, einer Verlängerung der Konvention ab 1. September 1913 auf weitere fünf Jahre zuzustimmen. 147 Compass 1914, II, 288 f.
IV. Regional differenzierte Märkte -föderative Kartelle
165
mens ein Zentralverkaufsbüro für den Inlandsmarkt, um bis dahin noch den höheren Zollschutz voll ausnützen zu können. 148 Für die Zeit danach war die staatliche Rayonierung und Kontingentierung vorgesehen, die dann allerdings nicht zustande kam. 149 Somit kam es ab dem Sommer 1903 zu Verhandlungen wegen einer Neubildung des umfassenden Zuckerkartells (Rohzuckerfabrikanten und Raffineure). Diese blieben vorerst ergebnislos, das Zentralverkaufsbüro bestand bis 1904 noch weiter, doch gehörten ihm nicht mehr alle Raffinerien an. Von 1904 bis 1906 bestanden keinerlei Kartelle, obwohl immer wieder Verhandlungen geführt wurden. 150 Es erwies sich als äußerst schwierig, in einem umfassenden Verhandlungsprozeß eine Lösung zu finden, auf die sich alle Österreichischen Zukkerraffinerien einigen hätten können. In dieser sehr großen Gruppe wurden immer wieder von einzelnen Raffinerien zusätzliche Kontingentforderungen gestellt. Sie konnten individuell für sich anführen, daß durch ihre Mehrforderung ja das Gesamtvolumen an verkauftem Zucker nur unwesentlich gesteigert und somit der Zweck des Kartells, durch eine Regulierung des Absatzes auskömmliche Preise zu garantieren, nicht gefährdet werde. Überdies konnte man bei Nichterfüllung einer Forderung androhen, Außenseiter zu bleiben und als solcher die preissteigernde Wirkung des Kartells als freerider zu nutzen, ohne sich selbst irgendwelche Beschränkungen auferlegen zu müssen. Weil aber allen Verhandlern diese individuelle Sichtweise und Strategie möglich war, konnte daraus ein Verhalten resultieren, das es insgesamt unmöglich machte, eine Organisation zustandezubringen. Setzten einzelne Raffinerien Zugeständnisse durch, so konnten diese von anderen als Argumente verwendet, selbst ebenfalls eine höhere Quote zu fordern. Ein wichtiger Schritt dahin, den allgemein diffus vorhandenen Wunsch nach Kartellbildung doch umsetzen zu können, war, daß die entscheidenden Detailverhandlungen nicht im Rahmen des Gesamtkartells, sondern von drei kleineren Regionalgruppen geführt wurden. Dadurch gelang es, den Verhandlungsprozeß in leichter handhabbaren Gruppengrößen durchzuführen. Vor allem konnte man in Relation zu den kleineren Gesamtkontingenten, 148 Ebenda, 285. Die Zentralverkaufsstelle firmierte unter der Bezeichnung "Zentralverkaufsbureau der Chropiner Zuckerfabriks-Aktiengesellschaft für Zuckerverkäufe der Österreichischen Zuckerraffinerien". Zu ihren Aufgaben gehörte, bis zum lokrafttreten der Brüsseler Konvention den Zollschutz voll auszunützen, Frachtersparnisse durch die Zuweisung von Aufträgen an die jeweils am frachtgünstigsten gelegenen Fabriken zu erzielen und eine Vereinheitlichung der Verkaufskonditionen durchzusetzen. 149 Wirtschaftskammer Wien, Sign. Nr. IV 1047, Petition um gesetzgebensehe Maßnahmen zum Schutze der Industrie gegen Koalitionen von Rohmaterialproduzenten, überreicht dem hohen Abgeordnetenhaus von den Zuckerindustriellen in Böhmen, Prag 1909. 1so Compass 1914, II, 285.
166
C. Ausgewählte Fallstudien
die zu verteilen waren, leichter zusätzliche Einzelforderungen als unakzeptabel ablehnen. Bei dem Kartellbildungsprozeß spielten die interessierten Banken eine wichtige Rolle. Die meisten Zuckerfabriken waren mit bestimmten Großinstituten verbunden. Somit waren die FinanzdienstleisteT in hohem Maße am Erfolg interessiert. Sie konnten sich zwar der Logik der Kartellverhandlungen, die die Einigung so schwierig machte, auch nicht gänzlich entziehen, aber weil sie jeweils an mehreren Firmen interessiert waren, agierten sie doch eher im Sinne des Nutzens für die gesamte Gruppe als im Sinne der Nutzenmaximierung für eine einzige Firma. Als zum Beispiel die Raffinerie Schönpriesen (Böhmen), die dem Konzern der Länderbank angehörte, im September 1906 eine Erhöhung ihres Kontingents gegenüber der früheren Kartellregelung von 90.000 auf 150.000 Zentner Inlandsabsatz forderte, hatte dies sofort enstprechende Mehrforderungen der Raffinerien Nestomitz und Aussig zur Folge, die beide zum Einflußbereich der Creditanstalt gehörten. Und bei den Verhandlungen wegen des mährisch-schlesisch-niederösterreichischen Teilkartells erhoben drei der Ungarischen Allgemeinen Creditbank und der Creditanstalt nahestehende Firmen Mehrforderungen. Sie betonten jedoch zugleich ihre Kompromißbereitschaft. Neben den strukturellen Problemen konnten sich auch auf der Ebene der handelnden Personen Konstellationen ergeben, die den Kartellierungsprozeß gefährdeten oder aber sehr förderten. Zum Beispiel wurde von Insidern allgemein der Tatsache, daß im Jahr 1906 der Zentraldirektor der Raffinerie Schönpriesen, Franz Fischek, in den Ruhestand trat, zugeschrieben, daß diese Fabrik schließlich doch zum Einlenken bereit war, was in der Folge auch ein Abrücken der Nestomitzer Fabrik von ihren Mehrforderungen nach sich zog. 151 Schließlich kam es am 24. September 1906 zur Unterzeichnung des Abkommens152, das eine sehr ähnliche Quotenaufteilung wie das alte Kartell, das bis 1903 bestanden hatte, vorsah. Der Inlandsabsatz von 42 Raffinerien wurde reguliert, der Export blieb frei. Vom Gesamtkontingent von 3,69 Millionen Zentner Inlandsverkauf153 wurden 1,785 Millionen Zentner auf 17 Kartell-Rundschau 4 (1906), 462 ff. Der Vertragstext des Kontingentübereinkommens ist abgedruckt in: Kartellenquete, I, Zuckerindustrie, 144 ff. 153 Im Detail wurde 1906 laut Compass 1914, II, 286 und Kartell-Rundschau 4 (1906), 467 folgende Quotenaufteilung festgelegt: Gruppe Böhmen (zus. 1,785.150q): Aussig: 105.000q, Böhmisch Leipa: 35.200q, Cakowitz: l49.270q, Caslau: 59.270q, Daudleb: 75.820q, Dobrowitz und Wlkawa: 169.840q, Elbekosteletz: 104.500q, Kuttenberg: 80.050q, Modra: 114.730q, Nestomitz: 105.000q, Pecek: 120.340q, Rossitz-Pardubitz: 121.000q, Schönpriesen: 105.000q, Skfiwan: 156.530q, Taus: 91.850q, Wrdy: 90.000q, Zleb und Slatinan: 101.750q. Gruppe 151 152
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
167
böhmische Raffinerien, 1,715 Millionen Zentner auf 24 mährisch-schlesisch-niederösterreichische Raffinerien aufgeteilt und die galizische Fabrik des Fürsten Lubomirski in Przeworsk erhielt ein Kontingent von 190.000 Zentnern Raffinade. Die galizische Fabrik erhielt als einzige ein Inlandskontingent zugewiesen, das ihrer gesamten Produktanskapazität entsprach, da sie aufgrund ihrer geographischen Lage nicht zu konkurrenzfähigen Preisen in das westliche Ausland exportieren konnte. Den exportgünstig gelegenen Großfabriken an der Elbe wurden hingegen teilweise nur Inlandskontingente für etwa die Hälfte ihrer Erzeugung zugesprochen, den Rest mußten sie im Ausland absetzen. Der Kartellverkauf wurde nicht zentralisiert, jedoch der Kontrolle durch ein Evidenzbüro unterworfen. Die Kartellmitglieder bestellten ein neunköpfiges Komitee, das mit der Befugnis ausgestattet war, alle zur Durchführung des Abkommens erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Ihm gehörten Baron Alfred Liebieg als Vorsitzender, Vertreter der Firmen Schoeller, Benies, Bloch und der Schönpriesener Zuckerraffinerie als Repräsentanten der böhmischen Zuckerindustrie und Vertreter der Leipnik-Lundenburger, der Zborowitz-Kojeteiner und der Troppauer Raffinerie sowie der Firma von Leopold von May als Repräsentanten der mährisch-schlesisch-niederösterreichischen Zuckerindustrie an. 154 Am 29. September 1906 folgte auf den Österreichischen Kartellabschluß die Unterzeichnung eines Abkommens mit der ungarischen Organisation. Der Vertrag beinhaltete einen Gebietsschutz für beide Zuckerindustrien in ihren jeweiligen Reichshälften; den Österreichern wurden allerdings Verkäufe im Ausmaß von 225.000 Meterzentnern nach Ungarn gestattet. 155 Damit war jedoch keineswegs eine gänzlich festgefügte Regulierung des Konsumzuckermarktes für die nächsten Jahre festgeschrieben. Zum Beispiel kündigte die einflußreiche Zuckerfabrik Ferdinand Bloch in Elbekosteletz, die selbst sehr stark auf das Exportgeschäft ausgerichtet war, im Frühjahr 1910 ihre Mitgliedschaft im Inlandskartell auf. Offenbar wollte sie damit aber nur ihre Entschlossenheit dokumentieren, keinerlei weitere Zugeständnisse mehr für das Funktionieren des Kartells zu gewähren, denn sie ließ Mähren, Schlesien, Niederösterreich (zus. 1,715.000q): Altbrünn: 75.900q, Austerlitz: 87.230q, Chropin: 100.760q, Chybi: 87.230q, Freiheitsau: 42.350q, Göding: 59.950q, Grusbach: 36.300q, Hatschein: 66.623q, Hohenau: 68.420q, Hradisch: 66.623q, Kojetein: 120.780q, Kuffner-Lundenburg: 64.570q, Kunzendorf: 50.000q, Laudegg: 20.000q, Leipnik-Lundenburg: 170.170q, Luzan: 66.000, Osslawan: 21.670q, Ostra: 66.624q, Prerau: 94.050q, Rohatetz-Bisenz: 90.750q, Rohrbach: 112.310q, Troppau: 89.210q, Verein mähr. Zuckerfabriken: 82.500q, Wawrowitz: 25.000q. Galizien: Przeworsk: 190.000q. 154 Neue Freie Presse, 25.9.1906. 155 Ebenda, 30.9.1906.
168
C. Ausgewählte Fallstudien
sich im Sommer von den Kartellfunktionären und Banken überreden, die Vertragskündigung zurückzuziehen. 156 Von 1907 bis 1911 wurden immer wieder Anläufe unternommen, auch die Rohzuckerproduktion in das Kartellabkommen miteinzubeziehen, also eine ähnliche Organisationsstruktur wiederherzustellen, wie sie vor dem Brüsseler Abkommen bestanden hatte. 157 Dadurch komplizierten sich die Interessenstrukturen jedoch noch viel mehr. War es schon schwierig genug, im Raffineriekartell das kollektive Interesse der gemeinsamen Marktregelung mit den teilweise widerstrebenden individuellen Interessen zu verbinden, und hintanzuhalten, daß sich freerider dieses kollektiven Nutzens als Außenseiter erfreuten, ohne dazu etwas beizutragen, so wurde die Lage jetzt noch komplizierter und widersprüchlicher. Sowohl in der Gruppe der Rohzuckererzeuger als auch bei den Raffineuren war mit dem Widerspruch zwischen individuellem und Gruppeninteresse zu rechnen und darüber hinaus bestanden noch Interessenwidersprüche zwischen den beiden Gruppen bezüglich ihres jeweiligen Anteils an den gesamten Verkaufserlösen. Daher waren trotz der zweifellos auch bestehenden gemeinsamen Interessen erhebliche Hindernisse zu überwinden, ehe es wieder zu einer umfassenden Organisation kam. Die Widerstände und Schwierigkeiten äußerten sich auf vielfältige Wiese. Zum Beispiel trat im Jahr 1911 eine Gruppe von 17 böhmischen Rohzukkerfabriken, die zusammen ein Viertel der böhmischen Rohzuckerproduktion hervorbrachten, mit dem Projekt hervor, selbst zwei Raffinerien auf genossenschaftlicher Basis zu gründen, um sich von den Raffineuren ökonomisch unabhängig zu machen. Die Gruppierung bestand überwiegend aus Angehörigen der Hocharistokratie (z. B.: Graf Clam-Martinitz, zwei Fürsten Lobkowitz, die Verwaltung der kaiserlichen Zuckerfabriken, etc.). Dem Plan lag offenbar ein ökonomischer Interessenwiderspruch zugrunde, gewiß aber auch das Unbehagen der traditionellen hocharistokratischen Elite, in wirtschaftlicher Hinsicht immer stärker von bürgerlichen Unternehmern, wie den Schoellers, Blochs etc. abhängig zu werden. An diesem Konflikt änderte die Tatsache nichts, daß die erfolgreichen Raffineure selbst teilweise durch Anpassung ihres Lebensstils an feudale Vorbilder und Nobilitierungen zu niedrigeren aristokratischen Rängen (Freiherrn, Ritter, Barone) aufgestiegen waren - dieser "Bagatelladel" oder "Geldadel" wurde weiterhin keineswegs der "ersten Gesellschaft" zugerechnet. 158 Man beabsichtigte Kartell-Rundschau 8 (1910), 88 und 484. Vgl. Hromada, Kartelle. 158 Die Sozialgeschichte des Wirtschaftsbürgertums und der aristokratischen Elite ist nicht Thema dieser Arbeit, doch wirkten die sozialen und kulturellen Konstellationen massiv in die Sphäre der wirtschaftlichen Entwicklungen und Entscheidungen herein. V gl. etwa: Ernst Bruckmüller, Hannes Stekl, Zur Geschichte des Bürger156 157
IV. Regional differenzierte Märkte- föderative Kartelle
169
mit dem Plan, eigene Raffinerien zu errichten, entweder die Sprengung des bestehenden Raffineriekartells oder die Aufnahme der neuen, eigenen Fabriken in die Organisation zu erzwingen. 159 Als weiteres Potential, von Seiten der Rohzuckerfabriken die Machtposition des bestehende Raffineriekartells zu unterminieren, wurde die Produktion von sogenanntem "Sandzucker" ins Spiel gebracht. Das war nicht vollständig raffinierter aber doch für Endverbraucher verwendbarer Zucker, den die Rohzuckerfabriken selbst herstellen konnten. Diese Ware konnte insbesondere zahlungsschwachen Konsumentenschichten als preisgünstige Alternative zum raffinierten, weißen Zucker angeboten werden. Am unmittelbarsten trat der Interessenwiderspruch zwischen den Rohzukkerfabriken und den Raffineuren bei der Frage der sogenannten "Preisspannung" zutage. Die "reinen" Rohzuckerfabriken waren bei den Kartellverhandlungen daran interessiert, daß die Preisspannung 160, das heißt die Differenz zwischen dem Preis für den Rohzucker und dem Verkaufspreis des daraus erzeugten Konsumzuckers möglichst gering sein sollte, so daß ein möglichst großer Anteil des erzielten Verkaufspreises auf die Rohzukkererzeuger entfiel. Die Raffineure nahmen naheliegenderweise eine genau entgegengesetzte Haltung ein. Das Konfliktpotential zwischen den Gruppen und innerhalb der Gruppen war jedoch zugleich durch gewichtige Faktoren begrenzt. Eine wesentliche Rolle spielte vor allem, daß zahlreiche Rohzuckerfabriken und Raffineriebetriebe gemeinsamen Unternehmen bzw. Konzernen angehörten. Die Großbanken, die hinter diesen Firmen standen, waren an Betrieben auf allen Stufen der Zuckerfabrikation interessiert. Durch diese Struktur vertikaler Integration gelangte nicht einmal ein Viertel des Rohzuckers auf den Markt, ehe daraus Raffinade erzeugt wurde, drei Viertel wurden innerhalb tums in Österreich, in: Jürgen Kocka, Ute Frevert (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Band 1, München 1988, 160-192; Ernst Bruckmüller u. a. (Hrsg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Wien, Köln 1990; Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates (Österreichische Geschichte, hrsg. von Herwig Wolfram, 1890-1990 (9)), Wien 1994, 70 ff.; Josef Mentschl, Das Österreichische Unternehmertum, in: Alois Brusatti, (Hrsg.), Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848-1918, 1), Wien 1973, 250-277. 159 Kartell-Rundschau 9 (1911), 243. 160 Wurde die "Preisspanne" für die Basis von 100kg Rohzucker berechnet, so mußte man vom Preis für 111 kg Raffinade (exkl. Steuern und Abgaben) den Preis von 100kg Rohzucker subtrahieren, weil bei der Verarbeitung zum Fertigprodukt mengenmäßige Verluste im Ausmaß von etwa 10 Prozent auftraten. In manchen Publikationen findet sich aber auch der Berechnungsmodus, daß vom Preis für 100 kg Raffinade 88 % des Preises für 100kg Rohzucker subtrahiert wurden. Vgl. Hromada, Kartelle, passim und Kartellenquete, I, Zuckerindustrie, 107 ff. und 111.
170
C. Ausgewählte Fallstudien
von Firmen und Konzernen selbst zur marktgängigen Konsumware weiterverarbeitet.161 Der Einfluß der vertikal integrierten Großunternehmen und der Banken spielte eine entscheidende Rolle, daß es schließlich doch zu einer umfassenden Einigung kam. Die Großbanken waren durch Eigenkapitalbeteiligungen (Aktienbesitz), Kreditvergabe, Kommissionsverkauf und personelle Verflechtungen (wechselseitige Beschickung der Verwaltungsräte 162) mit der Zuckerindustrie eng verflochten. Der Konzentrationsprozeß ging auch während des Bestehens des Raffineriekartells weiter voran. Zum Beispiel wurde in der zeitgenössischen Presse die Umwandlung der Gödinger Zuckerfabriken Brüder Redlich und Berger in eine Aktiengesellschaft mit einem Aktienkapital von sechs Millionen Kronen als "Meisterstück" des Hauses Schoeller und der Bodencreditanstalt sowie ihres Direktors Alfred Herzfeld bezeichnet. 163 Im Bereich der Zuckerraffinerien entwickelten sich folgende Banken-Industrie-Gruppierungen: Die Bodencreditanstalt verfügte über die Schoellerschen Raffinerien (Cakowitz, Lundenburg) und Göding. Die Blochsehe Raffinerie Eibekosteletz war ebenfalls dieser Einflußsphäre zuzurechnen, Ferdinand Bloch war 1910 dem Verwaltungsrat der Bodencreditanstalt beigetreten. Die Nestomitzer Raffinerie gehörte zum Konzern der Creditanstalt, die außerdem in engen Geschäftsbeziehungen zur Peceker Zuckerraffinerie, den Fabriken Grusbach, Rohrbach und Primavesi stand. Der Inhaber der Firma May, Leopold von May, war Verwaltungsrat bei der Creditanstalt und zugleich Besitzer der Zuckerfabriken in Ostra und Hradisch. Die Länderbank hatte sich u. a. bei den Raffinerien Schönpriesen und Dobrowitz engagiert. Zur Gruppe Anglo-Oesterreichische Bank-Benies waren die Fabriken Rossitz-Pardubitz sowie Kuttenberg zu rechnen. Die Zivnostenska banka hatte seit der Jahrhundertwende ihre industriellen Engagements erfolgreich ausgeweitet. Im Bereich der Zuckerproduktion waren ihrem Einflußbereich u. a. die Böhmische Zuckerindustriegesellschaft (Taus), sowie die Raffinerien Modrany, Laun und Laun II zuzurechnen. Die Organisation der Rohzuckerbasis für die Raffinerien war ebenfalls durch die Banken gefördert worden. Dem Einflußbereich der Bodencreditanstalt waren sieben, der Creditanstalt 15, der Länderbank 24, der AngloEbenda, Tabelle e) Zuckererzeugung, 159. Vgl. Eigner, Konzentration der Entscheidungsmacht, 96 ff. 163 Kartell-Rundschau 8 (1910), 683; Vgl dazu auch Alexander Spitzmüller, " ... und hat auch Ursach, es zu lieben", Wien u.a. 1955, 88 f. 16 1 162
IV. Regional differenzierte Märkte - föderative Kartelle
171
Oesterreichischen Bank 20, der Landwirtschaftlichen Kreditbank drei und der Zivnostenska banka zirka 20 Rohzuckerfabriken zuzurechnen. 164 Sowohl die vertikal integrierten Firmen als auch die Banken waren an einem optimalen, gemeinsamen kommerziellen Erfolg beider Verarbeitungsstufen interessiert. Die Banken übten überdies, da sie mit zahlreichen Firmen eng verbunden waren, tendenziell dahingehend Druck aus, daß doch kooperative Lösungen zustandekamen, die der Gesamtbranche und nicht Einzelinteressen auf Kosten der Gesamtbranche dienten. So kam es nach langwierigen Verhandlungen im Frühjahr 1911 wiederum zur umfassenden Karteliierung der Österreichischen Zuckerraffinerien und der Rohzuckererzeugung. Am 29. April 1911 wurde zwischen dem bestehenden Raffineriekartell 165 und der Genossenschaft der Österreichischen Zuckerfabriken, der die meisten Rohzuckerfabriken angehörten, ein "Gemeinsames Übereinkommen" abgeschlossen. Darin regelten die beiden beteiligten Organisationen die Abgrenzung der beiderseitigen Arbeitsgebiete. Die Rohzuckerfabriken verzichteten auf die Erzeugung von Konsumzucker und die Errichtung von Raffinerien, und sie verpflichteten sich, ihre Rohzuckerprodukte ausschließlich entweder den Vereinigten Österreichischen Raffinerien zu verkaufen oder zu exportieren. Die Raffineure verzichteten auf eine Ausdehnung ihrer Geschäftstätigkeit in den Bereich der Rohzuckererzeugung. Weiters verpflichteten sie sich, Rohzucker ausschließlich von der Genossenschaft der Österreichischen Zuckerfabriken zu beziehen und für jeden Zentner versteuerter166 Inlandsraffinade einen Betrag von 3,50 Kronen (abzüglich 1,5% Skonto) auf ein Konto der Rohzuckerfabrikanten abzuführen. Die einlangenden Summen wurden auf die Rohzuckerfabriken gemäß deren Anteilsberechtigungsquoten aufgeteilt. Diese wurden nach der Rohzuckererzeugung der Mitgliedsfirmen in den Jahren 1904/05 bis 1908/09 berechnet. Mit diesen Zahlungen sollte gewährleistet werden, daß ein gerechter Teil des durch den Zollschutz für Zucker erhofften Mehrerlöses an die Rohzuckerfabrikan164 Eine detaillierte Auflistung, für welche Firmen die Banken den Zuckerverkauf übernommen haben, findet sich in Compass 1914, II, 289 f. Vgl. auch Hromada, Kartelle, 145. 165 Vorher war noch das Kontingentabkommen der Raffinerien zwei Mal (am 17. September 1909 und am 20. März 1911) erweitert worden. Dieses regelte nun den Inlandsverkauf für 52 Raffinerien mit einem Gesamtkontingent von 4,071.070q Raffinade. Beigetreten waren im Herbst 1909 bzw. Frühjahr 1910 die Fabriken MeziRe (mit einem Kontingent von 55.000q) und Groß-Seelowitz (25.000q) und im März 1911 die Fabriken Brunnerdort (mit einem Kontingent von 50.000q), Cerhenitz (70.000q), Gestüthof (22.300q), Wrschowitz (9.600q), Zako1an (15.000q), Littau (24.000q) und Selletitz (40.000q). Auch der Verkauf von Sand- und Rohzucker an Endverbraucher wurde in die Regelung miteinbezogen. Compass 1914, Il, 286 f. 166 Das heißt, raffinierter Zucker, der an Konsumenten im Inland verkauft wurde.
172
C. Ausgewählte Fallstudien
ten ging. 167 Zur Durchführung des Übereinkommens wurde ein Komitee bestellt, das sich aus Vertretern der Firmen Zuckerfabriken Schoeller & Co. AG, Peceker Zuckerraffinerie, Troppauer Zuckerraffinerie AG und LeipnikLundenburger Zuckerfabriken AG für die Raffineure und vier Vorstandsmitgliedern der Genossenschaft der Zuckerfabriken zusammensetzte. Gemäß der föderativen Strukturierung entsandten beide Seiten zwei Mitglieder aus der böhmischen und zwei aus der mährischen Gruppe. Performance
In der Zuckerindustrie bestand während des größten Teils des hier betrachteten Zeitraumes ein Kartell der Raffineure, aber erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde es wieder zu einer Organisation für beide industrielle Verarbeitungsstufen. Unter diesen Voraussetzungen entwickelten sich die Kennzahlen zur Profitabilität der Zuckerindustrieaktiengesellschaften wie folgt: Tabelle 24
Unternehmensdaten der Österreichischen Zuckerindustrieaktiengesellschaften 1907 bis 1912 Jahr
1907
1908
1909
1910
1911
1912
74
71
74
78
75
74
90,7
87,7
95,5
114,0
127,4
138,3
Durchschnittliches Aktienkapital in Mio. K
1,2
1,2
1,3
1,5
1,7
1,9
Anzahl der Firmen, deren Bilanzen berücksichtigt werden konnten
74
70
71
72
73
64
Prozentanteil der Firmen, die Verluste auswiesen
6,8
2,9
0
5,6
21,9
6,3
Gewinn in % des Aktienkapitals aller Firmen
7,2
12,5
12,3
8,6
9,8
14,8
Dividende in % des Aktienkapitals aller Firmen
4,7
6,8
8,1
6,2
7,2
8,7
Anzahl der Firmen Aktienkapital aller Firmen zusammen in Mio. Kronen
Quelle: Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 20.
167 Das Übereinkommen vom 29. April 1911 ist abgedruckt in Kartellenquete, I, Zuckerindustrie, 132 ff.
76,09
81,6
-25,1
6.090,9
74.598
200
1904/05
63,25
144,4
80,9
11.017,5
76.294
200
1905/06
69,03
124,0
-16,4
9.214,1
74.280
194
1906/07
74,00
141,5
12,7
10.386,0
73.397
191
1907/08
74,38
138,2
-3,4
10.037,2
72.642
190
1908/09
80,76
117,4
-15,5
8.480,3
72.205
191
1909110
77,60
143,1
24,7
10.578,9
73.908
191
1910111
97,55**
91,2
-38,8
6.469,1
70.907
185
1911/12
I
162,4
83,1
11.847,3
72.960
186
1912113
* Durchschnittlicher Preis inkl. 38 K Steuer, laut Wochenschrift des Zentralvereines für Rübenzuckerindustrie. ** Wert für Dezember 1911. Quellen: Materialien zur Österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik, 22; Kartellenquete, I, Zuckerindustrie, 107 ff. und Compass 1914, II, 279.
68,10
Preis/q*
I
Veränd. geg. Vorjahr in %
106,4
8.129,0
Nettoerzeugg. in 1000 q
Zentner/ Arbeiter
76.426
209
11903/04
Arbeiter
Erzeugungsstätten
Jahr
Tabelle 25 Erzeugungsstätten, Produktivitäts- und Preisentwicklung in der Österreichischen Zuckerindustrie von 1903/04 bis 1912/13
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