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German Pages 270 Year 1993
MADELEINE HERREN
Internationale Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg
Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer
Band 41
Internationale Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg Die Anfänge europäischer Kooperation aus der Sicht Frankreichs
Von
Madeleine Herren
DUßcker & Humblot . Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Herren, Madeleine: Internationale Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg: die Anfänge europäischer Kooperation aus der Sicht Frankreichs / von Madeleine Herren. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 41) Zug\.: Bern, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07767-9 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-07767-9
Vorwort Die hier vorgelegte Arbeit wurde im Wintersemester 1989/90 von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen und anschließend stark gekürzt. Die Arbeit enthält die bis zu diesem Zeitpunkt greifbare Literatur und versucht, die Entwicklung einer internationalen Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg nachzuzeichnen. Ich habe vielen Freunden zu danken, die mich bei der Dissertation und der mühseligen Phase der Textkürzung unterstützt haben. Mein besonderer Dank geht an meine Doktormutter, Frau Prof. Dr. Judit Garamvölgyi, die dieser Arbeit viel Zeit gewidmet und großes Interesse entgegengebracht hat, an Frau Elisabeth Schenk Jenzer, die fiir aufmunternde Stilkritik gesorgt hat, und an Prof. Dr. Dr. Wolfram Fischer, der diese Arbeit in seine Publikationsreihe aufzunehmen bereit war.
Sommer 1992
Madeleine Herren
Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................................................................................. 1 1
A. Sozialpolitik In der Zelt vor dem Enten Weltkrieg I.
Sozialpolitik und historische Forschung ....................................................................................... 15 1. Anmerkungen zum sozialpolitischen Diskurs ....................................................................... 15 2. Ein internationaler Verein als Indikator sozialstaatlicher Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg .................................................................................................................... 24 3. Die IVGA als Ausdruck transnationaler Politik ................................................................... 27 4. Internationale Sozialpolitik - Abgrenzung und Synthese ...................................................... 31
II.
Französische Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ............................................... .32 1. Rahmenbedingungen und Schwerpunkte der französischen Sozialgesetzgebung ................ 32 2. Französische Sozialpolitik im internationalen Vergleich ...................................................... 34 3. Sozialpolitik in Frankreich - Versuche zur Schaffung der "Republique des Travailleurs" .......................................................................................................................... 41
III.
QuellenbestAnde zur Darstellung internationaler Sozialpolitik................................................... .43 1. Staatliche sozialpolitische Publizistik und schweizerische QuellenbestAnde ...................... .44 2. Bestände zur Sozialpolitik der Dritten Republik .................................................................. 46
B. Intemationalislenmgsbestrebungen vor der Grilndung der IVGA I.
Internationalisierungsbestrebungen von den ausgehenden siebziger Jahren bis zur Einberufung der Berliner Konferenz .................................................................................................. 52 1. Internationale Sozialpolitik als Wissenschaftsbereich .......................................................... 52 2. Offizielle Vorschläge zur zwischenstaatlichen Regelung sozialpolitischer Maßnahmen ..... 55 3. Sozialpolitik und Öffentlichkeit ............................................................................................ 59
II.
Die Zeit der Konferenzen und Kongresse ..................................................................................... 62 1. Die Berliner Konferenz .......................................................................................................... 62 2. Gouvernementale Institutionalisierungskonzepte und deren Scheitern ................................ 69 3. Private Institutionalisierungsbemilhungen ............................................................................ 78
c. Die Intemationale Vereinigung fIlr lesetzlichen Arbeiterschutz I.
Die Grilndung der IVGA am Pariser Kongreß ............................................................................. 83 1. Die Ralunenbedingungen....................................................................................................... 83 2. Der Kongreß .......................................................................................................................... 90
11.
Die IVGA - Strukturen, Ziele W1d Funktionen............................................................................. 98 1. Die Ralunenbedingungen. ......................................................................................................98 2. Die französische Sektion der IVGA ................................................................................... 102
III.
Zielsetzung W1d Träger der ANF ............................................................................................... 106 1. Die Entwicklung der ANF in der VorXriegszeit................................................................. 106 2. "Le milieu de conversations et d'etudes" ............................................................................ 109
8
Inhaltsverzeiclmis D. Internationale Konferenzen und Vertrage - g renzllbergrelfende sozlalpolitiKhe Abkommen ab BecJnn einer "Diplomatie nouveDe"
I.
Die Vorbereitung der internationalen Abkommen und die IVGA .......................................... 133 I. Das Programm der IVGA ................................................................................................... 133 2. Die Basler Kommission ...................................................................................................... 135
11.
Der französisch-italienische Vertrag .......................................................................................... 140 I. Die Vertragsvereinbarungen und deren Bedeutung ........................................................... 140 2. Das außenpolitische Gewicht des Vertrages ...................................................................... 144
III.
Der Weg ZII den ersten multilateralen Abkommen.................................................................... I. Die Rolle der IVGA in der Phase der informellen Vorgespräche ...................................... 2. Die teclmische Vorkonferenz .............................................................................................. 3. Die Fonnalisierung der ersten sozialpolitischen Abkommen. ............................................ 4. Bedeutung und Rezeption der Bemer Konventionen .........................................................
146 147 152 155 158
IV.
Internationale Sozialpolitik zwischen 1906 und 1914 .............................................................. I. Die Realisierung der Bemer Konventionen........................................................................ 2. Die Rolle der IVGA nach dem Abschluß der Bemer Konventionen ................................. 3. Die teclmische Vorkonferenz von 1913 .. .......... ........................... .............. ........... .............
162 162 165 168
E. Die nationale 8edeutunglnternationaler Sozialpolitik In Frankreich I.
Sozialpolitik und Öffentlichkeit - der Handlungsspielraum der ANF ...................................... 173 I. Sozialpolitik und die Schwierigkeiten parlamentarischer UmsetZlJng............................... 174
11.
Die Öffentlichkeitsarbeit der ANF ............................................................................................. 180 I. Die sozialpolitischen Deb..tten der ANF: Randgebiete und Ulcken ................................. 180
111.
Frauen- und Kinderarbeit ........................................................................................................... 189 I. Frauenarbeit ........................................................................................................................ 189 2. Kinderarbeit und die Arbeit Jugendlicher .......................................................................... 195
IV.
Die RegJementation du Travail... ............................................................................................... 201 I. Das Scheitern der Gesamtvorlage (1906-1908) ................................................................. 203 2. Die Aufteilung der RegJementation du Travail... ............................................................... 209 3. Die RegJementation du Travail- ein Fazit... ...................................................................... 212
V.
Vom Arbeiterschutz ZIIr KodifIZierung der Arbeitsbeziehungen............................................... 214 I. Das Engagement der ANF in der Arbeitslosendebatte ....................................................... 215 2. Die ANF und die Revision des Arbeitsvertragsrechts ........................................................ 218 3. Die Debatte um die Arbeitsbeziehungen - ein Mißerfolg unter vielen? ............................. 222
VI.
Arbeitsinspektion, Minimallohn und Heimarbeit - Noten rum Requiem des Arbeiterschutzkonzeptes? .................................................................................................................................. 226 1. Die Arbeitsinspektoren ....................................................................................................... 226 2. Heimarbeit: Vom Arbeiterschutz ZIIr Minimallohnpolitik ................................................. 231
Schlußbetrachtungen ............................................................................................................................. 239 Bibliographie ......................................................................................................................................... 248 Anhang .................................................................................................................................................. 265
Abkürzungen AM
Außenministerium
AN
Association du Nord
ANF
Archives nationales, Bestand F
ANF
Association nationale fran~aise pour la protection legale des travailleurs
BAR
Bundesarchiv, schweizerisches
BIT
Bureau International du Travail, Geneve
BOT
Bulletin de I'Office du Travail, Paris
Dict.biogr.
Dictionnaire de Biographie Fran~aise
Dict.rnouv.ouvr.
Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier Fran~ais
HM
Handelsministerium
lLO
International Labour Organisation
IVGA
Internationale Vereinigung filr gesetzlichen Arbeiterschutz
10
Journal ofliciel
MdAE
Ministere des Affaires etrangeres
RPP
Revue politique et pariementaire
SBB
Schweizerisches Bundesblatt
SL
Section de Lyon
SWA
Schweizerisches Wirtschaftsarchiv
Einleitung 1903 trafen sich Vertreter der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (IVGA) in Basel, um über die Vorbereitung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz zu diskutieren. Die Vereinigung bestand erst seit zwei Jahren, das zugehörige Internationale Arbeitsamt hatte mit Hilfe staatlicher Subventionen eben den ersten Jahrgang seines Bulletins herausgegeben, und das Ziel, internationale Übereinkommen zu initiieren, war hoch gesteckt. Bis auf einige Klauseln in bilateralen Verträgen waren sozialpolitische Forderungen nämlich bisher nicht Gegenstand internationaler Politik gewesen. Trotz dieses weit gespannten Programms setzte der zur Begrüßung entsandte Vertreter der Regierung von Basel-Stadt, Wullschleger, große Erwartungen in die junge Vereinigung. "Der Wucht der Tatsachen vermag sich auf Dauer Niemand zu entziehen. Gewiß wird die Zeit kommen, wo internationale Vereinbarungen zum Zwecke des Arbeiterschutzes allseitig als ebenso notwendig und natürlich angesehen werden, wie die bestehenden Staatsverträge zur Förderung des Verkehrs" 1. 1906 gelang auf Betreiben der IVGA in Bern der Abschluß zweier internationaler Konventionen, die in Europa die Verwendung des giftigen Phosphors in der Zündhölzchenproduktion und die Nachtarbeit der Frauen in der Industrie verboten. Damit waren die ersten multilateralen Konventionen mit sozialpolitischem Gehalt abgeschlossen worden. Im Rahmen dieser Arbeit soll geprüft werden, ob die beiden Konventionen und die sie initiierende IVGA bereits vor dem Ersten Weltkrieg dem Prinzip internationaler Sozialpolitik zum Durchbruch verholfen hatten. Immerhin war ein Prozeß von langfristiger Dauer in Gang gesetzt worden: Die von Wullschleger prophezeite Ausbreitung internationaler Sozialpolitik ist bis zum heutigen Tag nicht abgeschlossen. Im Rahmen des EG-Binnen1 Protokoll der Sitzungen der durch die zweite Generalversanunlung des Komitees der Internationalen Vereinigung filr Arbeiterschutz eingesetzten Kommission am 9., 10. und 11. September 1903 zu Basel, BAR 23/2.
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Einleitung
marktes stellen sich vielmehr sozialpolitische Kompatibilitätsfragen mit neuer Dringlichkeit. Das Frauennachtarbeitsverbot wurde von der 1919 neu geschaffenen und schließlich in die UNO integrierten Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) übernommen und ist als Abkommen Nr. 89 seit 1948 bis zum heutigen Tag in Kraft. Zur Zeit steht allerdings die Revision dieses Abkommens zur Debatte. Befürworter und Gegner bedienen sich dabei einer Argumentation, die, wenn auch nicht in ihrer wirtschaftlichen, auf die Folgen der dritten industriellen Revolution verweisenden Dimension, so doch in ihrem allgemeinen sozialpolitischen Gehalt bereits in der Zeit der Entstehung dieser Konvention Verwendungfand 2. Die Gegner einer Lockerung des Frauennachtarbeitsverbotes pflegen zuweilen auch auf sozialpolitische Traditionen zu verweisen 3, so daß die kritische Beleuchtung sozialpolitischer Errungenschaften sich auch aus aktuellem Anlaß begründen läßt. Das Ziel der hier vorliegenden Untersuchung besteht allerdings nicht in der Darstellung einer mit den Anfängen internationaler Bemühungen zu begründenden Entwicklung heutiger ILO-Politik. Die in der Vorkriegszeit entwikkelte Form internationaler Sozialpolitik war vielmehr das Resultat tiefgreifender struktureller Veränderungen, die bisher zuwenig berücksichtigt wurden. Bevor die bei den internationalen Konventionen nämlich abgeschlossen werden konnten, mußte eine sich nicht auf staatliche Akteure beschränkende Form greßZÜbergreifender Kontakte etabliert werden, die im folgenden, der theoretischen Konzeptualisierung gewidmeten Kapitel als transnationale Politik erläutert wird. Die Beschreibung der IVGA als Forum transnationaler Politik bedingt den Einbezug der nationalen Sektionen und deren Rezeption im nationalen Kontext. Die hier vorgelegte Arbeit beschränkt sich auf die französische Sektion der IVGA, der "Association fran~aise pour la protection legale des travailleurs" (ANF) und versucht, Wirkung und Rezeption internationaler Sozialpolitik in Frankreich nachzuzeichnen. 2 Das Argument, ein Sonderschutz filr Frauen widerspreche der Gleichberechtigung am Arbeitsplatz, wurde bereits 1908 im schwedischen Parlament zur Begn1ndung der NichtratifIkation des Frauennachtarbeitsverbotes verwendet.
3 "Was sie (die Arbeitgeber, roh) abschaffen woIlen, sind hundertjlhrige - teuer erkAmpfte - Gesetze, wie die, die 1844 in England, 1877 in der Schweiz, 1885 in Oesterreich und 1892 in Frankreich die Nachtarbeit filr Frauen verboten". Internationales Arbeits- oder ProfItamt? Flugblatt des Komitees fiIr das Symposium gegen Nachtarbeit, 1989.
Einleitung
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Das Beispiel der Dritten Republik ist in mehrerer Hinsicht reizvoll: Wie das der Vorgeschichte der IVGA gewidmete Kapitel B zeigen wird, waren staatsinterventionistische Maßnahmen in diesem Land besonders erklärungsbedürftig, da der Wirtschaftsliberalismus als Errungenschaft der großen Revolution verteidigt wurde. Andererseits wies Frankreich eine aktive sozialpolitische Administration auf, aus der sich für europäische Verhältnisse sehr früh, nämlich bereits 1906 ein eigenes Arbeitsministerium entwickelte. Schließlich fielen die hier diskutierten Internationalisierungsbestrebungen in Frankreich an der lahrhundertwende mit einem sozialpolitischen Innovationsschub zusammen, der von Millerand, dem ersten sozialistischen Minister Europas geprägt wurde. Die französische Regierung zeigte sich denn auch an einer Internationalisierungspolitik interessiert und versuchte, an und mit dem im Rahmen der Weltausstellung in Paris stattfindenden Gründungskongreß der IVGA eine Führungsrolle im Bereich internationaler Sozialpolitik zu übernehmen. Frankreich läßt sich demnach als demokratisches Gegenbild zur obrigkeitsstaatlichen, noch von Bismarck geprägten deutschen Sozialpolitik diskutieren. Kapitel B will aber nicht weniger einen Überblick über die Internationalisierungsbestrebungen vor der Gründung der IVGA bieten und die verschiedenen wissenschaftlichen, politischen und gouvernementalen Vorstöße zur Etablierung internationaler Sozialpolitik erläutern. Teil C ist der Bedeutung der IVGA und ihrer französischen Sektion gewidmet. Die französische Sektion der 1901 schließlich gegründeten IVGA kann zwar im Rahmen dieser Arbeit nicht einem umfassenden Vergleich mit den anderen Sektionen unterzogen werden. Immerhin lassen sich die Charakteristika der ANF - insbesondere deren Parlaments- und Öffentlichkeitsbezogenheit - auf dem Hintergrund der Entwicklung der österreichischen Sektion schärfer konturieren. Die Mitgliederstruktur der Pariser Zentrale und der regionalen Sektionen zeigt das Bild einer bürgerlichen Vereinigung mit radikalsozialistischer Beteiligung auf der einen und den Exponenten der katholischen Sozial reform auf der anderen Seite. Kapitel D ist der Umsetzung der von der IVGA propagierten Internationalisierungsbestrebungen gewidmet. Dabei sollen nicht nur die beiden bereits erwähnten Konventionen vorgestellt, sondern auch auf die die Berner Konventionen begleitenden bilateralen sozialpolitischen Verträge verwiesen und die machtpolitischen Implikationen dieser neuen Form sozialpolitischer Vertragsabschlüsse einbezogen werden. Neben Frankreich steht dabei die Schweiz im
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Einleitung
Zentrum des Interesses, die sich, wie bereits in Teil B erläutert wird, in der Vorkriegszeit als Garantiernacht internationaler Sozialpolitik durchsetzte. Im Kapitel E werden die konkreten Auswirkungen jenes Konzepts transnationaler Politik diskutiert und die Bedeutung der von der französischen Sektion der IVGA eingebrachten Stellungnahmen in der französischen Sozialgesetzgebung untersucht. Die ANF wandelte sich mehr und mehr zu einern von Regierung und Parlament genutzten Vernehmlassungsorgan 4, das sich auch in arbeitsrechtliche Debatten einschaltete. Zwar sollte sich bereits vor Ausbruch des Krieges zeigen, daß die Möglichkeiten einer privaten Vereinigung, an der sich vornehmlich Nationalökonomen und Juristen, Parlamentsvertreter links und rechts der Mitte sowie einige wenige Unternehmer und Arbeitervertreter beteiligten, beschränkt waren. Die tripartistische Struktur der ILO erwies sich bereits vor deren Gründung als erfolgversprechendere Form internationaler Sozialpolitik. Dennoch ist die Wirkung der französischen Sektion ebenso wenig zu unterschätzen wie die Bemühungen der IVGA. IVGA und ANF debattierten über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung und leisteten im Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung einen wesentlichen Beitrag zur sozialpolitischen Umgestaltung des liberalen Verfassungsstaates. Zudem ist der Aufbau einer sozialpolitischen, vornehmlich bürgerlichen 'Gegeninternationale' ebenso bemerkenswert wie der Umstand, daß internationale Sozialpolitik als neuer Bereich der Außenpolitik entdeckt und - mit langfristiger Wirkung! - bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg durchgesetzt wurde. Die hier vorgelegte Arbeit versucht demnach, ein möglichst breites Bild vorn allmählichen Wandel des liberalen Noninterventionsstaates zum Wohlfahrtsstaat zu entwerfen. Die politischen Mechanismen stehen dabei im Vordergrund, während die zweifellos nicht minder wichtige, aber bisher besser erschlossene sozioökonomische Dimension nur als Referenzgröße einbezogen wird.
4 "Vemehmlassung" verweist als Begriff auf ein Charakteristikum des schweizerischen politischen Systems und meint die Verpflichtung zur Konsuhation außerparlamentarischer Interessengruppen. In diesem strikten Sinn war die ANF kein Vemehmlassungsorgan. Der dennoch verwendete Begriff soll aber deutlich machen, daß der Vereinigung im parlamentarischen Entscheidungsfmdungsprozeß eine nicht unwesentliche Rolle zugestanden wurde.
A. Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg L Sozialpolitik und historische Forschung 1. Anmerkungen zum sozialpolitischen Diskurs Die "offizielle Proklamation des Wohlfahrtsstaates" I nach 1945 hat die Debatte um Stellenwert, Wandel und Funktion sozialpolitischer Konzepte weder entschieden noch beendet. In den siebziger Jahren fuhrte eine von unterschiedlicher Seite diagnostizierte Krise des Sozialstaates 2 vielmehr zu einer "Repolitisierung dieses Themas" 3 und in der Folge zu einer Ausweitung des wissenschaftlichen Interesses 4. Die "Krise des Wohlfahrtsstaates" wird zwar in jüngster Zeit weit weniger thematisiert. Die Debatte hat sich verlagert und wohl auch an Bedeutung gewonnen. So wirft die Konstituierung des EG-Binnenmarktes Fragen nach der Internationalisierung der Sozialgesetzgebung auf s. Zudem wird der Wandel in Osteuropa Grundsatzentscheidungen bedingen, die ihrerseits die Bedeutung sozialpolitischer Normen als Merkmal moderner Staatlichkeit zu reflektieren haben. Die wissenschaftliche Diskussion zeichnet sich durch eine Vielfalt unterschiedlichster Ansätze aus, ein Umstand, der sich auf die Beteiligung mehrerer Disziplinen, auf die Schwierigkeiten einer begrifflichen Abgrenzung und auf die Einbeziehung eines gleichzeitig wissenschaftliche Bedeutung erhebenden Politikbereiches zurückfuhren läßt. Heinz Lampert hebt hervor, daß Sozialpolitik einerseits politisches Handeln und andererseits "die der Darlegung 1 Theodor Schieder, Europa im Zeitalter der Weltrnichte, in: Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 7/1, hrsg. Theodor Schieder, Stuttgart 1979, S. 94. 2 Vgl. P. F1ora, Krisenbewältigung oder Krisenerzeugung? Der Wohlfahrtsstaat in historischer Perspektive, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Sozialer Wandel in Westeuropa, Verhandlungen des 19. Soziologentages Berlin 1979, FrankfurtlNew York 1979, S. 82-137. 3
Tim Guldimann I Marianne Rodenstein I Ulrich RtJdell Frank Stille, Sozialpolitik als soziale
4
ibo S. 14.
Kontrolle, Frankfurt a.M. 1978, S. 13.
5 Vgl. Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat, Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, S. 191.
A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
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und Erforschung dieses Bereiches dienende Wissenschaft" 6 beinhaltet. Beide Bereiche hätten aber "trotz jahrzehntelanger, intensiver Bemühungen ( ... ) noch keinen allgemein anerkannten, präzis abgegrenzten Inhalt" 7 gefunden. Auf definitorische Debatten wurde daher mehrheitlich verzichtet 8. Erst in jüngster Zeit wurden wiederum begriffsgeschichtliche Analysen verlangt. Diese Umorientierung reflektiert nicht zuletzt die wachsende Historisierung der Sozialpolitik 9. Historische Konzepte hatten in dem von Soziologen und Politologen, Nationalökonomen und Juristen geprägten Diskurs bis in die siebziger Jahre eine eher marginale Bedeutung. In der von beiden Disziplinen gefiihrten Debatte um die Abgrenzung von Geschichte und Soziologie 10 fand ein fiir die sozialpolitische Theoriebildung bemerkenswerter Wandel statt. Am 18. Deutschen Soziologentag forderte von Ferber, daß ein soziologischer Ansatz von einer "historische(n) Theorie" 11 der Sozialpolitik begleitet werden müsse. Sozialpolitik sei als "selber ... historisch sich entfaltender und wandelnder Gesellschaftsprozeß" 12 zu verstehen. Die fächerübergreifende Debatte wurde durch eine historische Analyse der österreichischen Sozialpolitik weitergefiihrt. Emmerich Talos kontrastierte seine Ergebnisse mit den von Lenhardt und Offe vorgestellten staatstheoretischen Konzepten 13. Die Auseinandersetzung zwischen Talos und Offe 14 dem einen war der theoretische Ansatz zu abstrakt, dem anderen das empi-
6 Heinz Lampert, Sozialpolitik. 1., staatliche, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 7, hrsg. W. Albers et a1., Stuttgart/New York 1977, S. 60.
8 Vgl.
F1ora, Krisenbewältigung, S. 84.
9 Ritter unterstreicht die Bedeutung einer historischen Aufarbeitung sozialstaatlicher Entwicklung und warnt davor, "die Kontinuitäten in der Entwicklung der sozialen Aufgaben des Staates und der ihnen zugrunde liegenden Ideen, Kräfte und Institutionen" zu vernachlässigen. Riner, S. 10. 10 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Geschichte und Soziologie, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 53, Köln 1976.
11 Christian von Ferber / Franz-Xaver Kaufinann (lIn;g.), Soziologie und Sozialpolitik. in: Kölner Zeitschrift !Ur Soziologie und Sozialpsychologie (Sonderheit), Opladen 1977, S. 13.
2
12
ibo
13
Emmerich Talos, Staatliche Sozialpolitik in Oesterreich, Rekonstruktion und Analyse, Wien
1981, S. 403ff 14 ibo
I. Sozialpolitik und historische Forschung
17
risch gewonnene Bild zu harmonisch - machte letztlich auch die Notwendigkeit international vergleichender Studien deutlich. Die im Rahmen des HIWED-Projektes von Flora und Alber geleisteten Untersuchungen gingen den internationalen Vergleich mit der verlangten historischen Tiefenschärfe an 15. Eine breit abgestützte, die Zeit zwischen 1815 und 1979 umfassende Datensammlung 16 dokumentierte einen Ansatz, der sozialpolitische Innovationen als Folge des Modernisierungsprozesses darstellte, dabei aber auch die politische Umsetzung und administrative Verarbeitung berücksichtigte 17. Albers beeindruckende Arbeit setzt mit einer Typisierung der theoretischen Ansätze ein 18, die vier Konzepten zugeordnet werden. Demnach gilt es, zwischen "pluralistischen und marxistischen Erklärungsmodellen" und zwischen "funktionalistische(n) und konflikttheoretischen Ansätze(n)" 19 zu unterscheiden. Das von Alber vorgestellte Konzept berücksichtigt Bevölkerungsdruck und Verstädterung, unterstreicht die Folgen der Herausbildung kapitalistischer Arbeitsmärkte und geht auf den sich in der 'sozialen Frage' manifestierenden krisenhaften Übergang vom Agrar- zum Industriestaat ein. Wahlrechtserweiterungen werden als Indikatoren der politischen Mobilisierung ebenso einbezogen wie der Wandel der staatlichen Verwaltungen, die zunehmend sozialpolitische Aufgaben zu übernehmen hatten. Dieser breite Ansatz zeigt, daß funktionalistische Erklärungsversuche zu kurz greifen. Zwischen 1880 und 1914 entwickelten nämlich alle westeuropäischen Staaten sozialpolitische Aktivitäten, "obwohl sie sehr unterschiedliche Niveaus der Industrialisierung und Urbanisierung erreicht hatten" 20. Albers Analyse bestätigt demnach die Bedeutung der politischen Durchsetzung, der Begründung und der administrativen Bewältigung sozialpolitischer Maßnahmen, die letztlich als wesentlicher Indi15 Peter Flora I Amold J. Heidenheirner (Eds.), The Development of Welfare States in Europe and America, New BrunswicklLondon 1981, Jens Alber, Vom Annenhaus zum Wohlfalu1sstaat, Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt a.M. 1982. 16 Peler Flora, State, Economy and Society in Western Europe 1815-1975, A Data Handbook, Vol. I: The Growth of Mass Dernocracies and Welfare States, FrankfurtlLondoniChicago 1983, Vol. II: The Growth ofindustrial Societies and Capitalist Economies, FrankfurtlLondoniChicago 1987. 17 Alber, 18
S. 84.
ibo S. 73ff. vgl. auch Guldimann et al.
19 Alber, S. 73f. Funktionalistische Modelle betonen die Bedeutung der sozioökonomischen Entwicklung, konflikttheoretische Ansätze unterstreichen die Bedeutung der politischen Durchsetzung sozialpolitischer Forderungen und deren legitimatorische Funktion. 20
ibo S. 195
2 Herren
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
kator für das sich wandelnde Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft erscheinen.
Sozialversicherung contra Arbeiterschutz Angesichts der breit gefaßten Untersuchungen sei die Frage erlaubt, ob die Sozialversicherungen, insbesondere in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, dem Anspruch eines sozialpolitischen Paradigmas genügen. Die Sozialversicherungen bieten zwar nicht zu unterschätzende Vorteile, zurnal, wie Schrnidt feststellt, "nur rur diese Dimensionen der Sozialpolitik ... Datenlage und Forschungsstand einen historischen und internationalen Vergleich erlauben" 21. Dennoch seien einige Vorbehalte angebracht. Zum einen mißt ein auf das Versicherungswesen ausgerichtetes Konzept sozialpolitische Fortschrittlichkeit am Modell der erst nach dem zweiten Weltkrieg unter ganz anderen Voraussetzungen etablierten Wohlfahrtsstaaten 22. Alternativen zum Versicherungssystem, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine bedeutende Rolle spielten, werden ausgeblendet. Der hier vertretene Ansatz geht davon aus, daß fehlende Versicherungen nicht mit sozialpolitischer Rückständigkeit gleichgesetzt werden sollten. Vielmehr gilt es auch jene Maßnahmen zu berücksichtigen, die den von den Versicherungen abgedeckten Ausschluß aus den Arbeitsbeziehungen mit einer sozialpolitischen Regelung der Arbeitsbedingungen zu verhindern suchen. Demnach müßten Arbeiterschutzbestimmungen als notwendiges Gegenstück zur Unfallversicherung, die Errichtung von Arbeitsvermittlungsstellen als paralleles Unternehmen zu den Arbeitslosenkassen, Schutzmaßnahmen bei gefährlichen Arbeitsprozessen wie auch erste Einschränkungen der Arbeitszeit als präventive Ergänzung der Krankenversicherungen verstanden werden.
21 Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik, Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Grundwissen Politik 2, Opladen 1988, S. 15. Neben den Arbeiten von Flora und A1ber sind sowohl in DeutsChland wie in Frankreich entsprechende Untersuchungen veröffentlicht worden. Vgl. Peter A Köhler / Hans F. Zacher (Hrsg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Oesterreich und der Schweiz, Berlin 1981, Hans F. Zacher (Hrsg.), Bedingungen filr die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, Berlin 1979, Henri Hatzfeld, Du paupensme a la securite sociale. Essai sur les origines de la securite sociale en France 1850-1940, Paris 1971, !rene Bourquin, "Vie ouvriere" und Sozialpolitik: Die Einfilhrung der "Retraites ouvrieres" in Frankreich um 1910, Ein Beitrag zur Geschichte der Sozialversicherung, BernlFrankfurt a.M./Las Vegas 1977 u.a.
22 Schmidt geht denn auch von dem von der lLO konzipierten Mindestnormenk.atalog der sozialen Sicherheit aus. Schmidt, S. 15.
I. Sozialpolitik und historische Forschung
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Der Einbezug von Arbeiterschutzmaßnahmen als Indikator staatlicher Sozialpolitik hat weitreichende Folgen. Eine an der Einfiihrung von Versicherungssysternen gemessene sozialpolitische Entwicklung orientiert sich letztlich am deutschen Muster der Bisrnarckschen Sozialversicherungen. Die Vorkriegszeit wird denn auch als eine von den Obrigkeitsstaaten dominierte "Phase der Sozialpolitik 'von oben'" 23 charakterisiert. Ob sich das im deutschen Falle stimmige Modell für einen internationalen Vergleich eignet, bleibt fraglich, zumal bisher keine genaueren Angaben über den Einfluß des deutschen Modells auf die Sicherungssysteme anderer Länder gemacht werden konnten 24. Ein Vergleich zwischen einer am Sozialversicherungsmodell und einer an der Einfiihrung von Arbeiterschutzbestimmungen orientierten Rangliste mag die Konsequenzen des unterschiedlichen Ansatzes verdeutlichen: Schmidt greift zur Darstellung sozialpolitischer Fortschrittlichkeit auf die von Alber erarbeitete Liste zurück, die zusätzlich mit Rangplätzen versehen wurde. In diesem Modell, das auf der Einfiihrung von Unfall-, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung basiert und einen "Gesamtrangplatz fiir die Einfiihrung der Sozialversicherung" präsentiert 2.5, erscheint Deutschland als Pioniernation, gefolgt von Oesterreich und Italien. Die Schweiz belegt den letzten Platz und wird als "Nachzügler-Nation" aufgefiihrt 26. Eine 1911 vom Internationalen Arbeitsamt veröffentlichte Studie verteilte mit der gleichen Methode chronologischer Zuordnung Rangplätze, die allerdings nach der Errichtung "besondere(r) staatliche(r) Aufsichtsorgane über die Durchfiihrung der Arbeiterschutzgesetze" 27 vergeben wurden. Der hier gewählte Indikator sozialpolitischer Innovationsfahigkeit basiert auf der Voraussetzung, daß staatliche Sozialpolitik zwar auf unterschiedliche Weise realisiert wurde, aber dennoch auf einen gemeinsamen Nenner zurückgefiihrt werden kann: Sozialpolitische Maßnahmen bedurften der Kontrolle, die sich in der Schaffung von Arbeits- resp. Fabrikinspektoraten ausdrückte. Die nach der Einfiihrung von sozialpolitischen Kontrollinstanzen konzipierte Liste wird von 23 Alber, S. 196. 24 Ritter, S. 99. 25
Tabelle I: Die Einfilhrung sozialer Sicherungssysteme in Westeuropa, Schmidt, S. 118.
26
ibo
27 Erster vergleichender Bericht ober die zur Durchfllhrung der Arbeiterschutzgesetze getroffenen Maßnahmen, Die Gewerbeaufsicht in Europa, Der Internationalen Vereinigung filr gesetzlichen Arbeiterschutz vorgelegt von ihrem Bureau, Jena 1911, S. 1.
A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
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Großbritannien angefiihrt - bei Schmidt im Mittelfeld auf Platz sechs 28 - gefolgt von Dänemark und Frankreich, die in der Versicherungsliste Platz zehn respektive Platz acht einnehmen. Die Nachzügler-Nation Schweiz befindet sich auf dem vierten Platz, noch vor dem von Schmidt als Pioniernation gefeierten Deutschen Reich. Arbeiterschutzmaßnahmen verweisen demnach auf ein anderes Entwicklungsmuster. Ein wesentlicher Nachteil dieses Zugriffs besteht allerdings in der unscharfen Begrifilichkeit. Wie Stephan Bauer in seinem Definitionsversuch betonte 29, umfaßt der zeitgenössisch relevante Begriff des Arbeiterschutzes eine ganze Reihe unterschiedlicher Maßnahmen. Das Ziel des Arbeiterschutzes bestehe in der "Erhaltung und Förderung der Produktivität des Arbeitsfaktors .... Der Arbeiterschutz sichert erstens die Instandhaltung und die Ausbildungsmöglichkeiten der körperlichen und geistigen Kräfte (Verbot der Erwerbsarbeit vor einem bestimmten Alter, Nachweis des Schulbesuches, Höchstarbeitszeit usw.); er gewährleistet zweitens ein Mindestmaß wirtschaftlicher Sicherheit (Truckverbot, Mindestlöhne, Koalitionsrecht); er schafft drittens in einer besonderen Arbeitsverwaltung Organe, die rechtliche und gesellschaftliche Bürgschaften rur den Vollzug des Arbeiterschutzes und sodann die Möglichkeiten des wirtschaftlichen, geistigen und sozialen Aufstieges innerhalb der Arbeiterklasse gewähren (Arbeitsnachweis, Gewerbeaufsicht, Betriebsräte)" 30. Die 1911 veröffentlichte Liste stellt die Verwendbarkeit des vielschichtigen Begriffs unter Beweis. Als wichtiger Indikator des Arbeiterschutzes gilt hier die Etablierung von Fabrikinspektoraten. Der Einwand, daß das Datum der Errichtung von Inspektorendiensten nichts über deren Effizienz aussagt, gilt in vollem Maß auch rur die im Sozialversicherungsbereich gewählte "Gesetzgebungschronologie" 31. Der Zeitpunkt des Erlaßes ist nur bedingt aussagekräftig, da Jahre dauernde Übergangsfristen, juristische und administrative Eingriffe berücksichtigt werden müssen.
28
ibo S. 118
29 St. Bauer, Arbeiterschutzgesetzgebung. in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsgg. L. Elster, A Weber, F. Wieser, Jena 4 1923, S. 401ff. 30
ibo S. 401f.
31
Schmidt, S. 122.
I. Sozialpolitik und historische Forschung
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Sozialpolitik als Merkmal moderner Industriegesellschaften Das dennoch nicht unproblematisch breite Spektrum erschwert zwar eine sozialpolitische Quantifizierung, kommt aber der jüngst geforderten Ausweitung sozialpolitischer Recherchen entgegen. So plädiert Ritter für einen Ansatz, der "die Herausbildung des Sozialstaates oder doch wesentlicher Elemente desselben als universale Tendenz moderner Industriegesellschaften zu bestimmen und seinen Charakter, seinen Formenreichtum und seine Auswirkungen auf das Leben des einzelnen und der Gesamtheit zum Gegenstand vergleichender historischer Forschung zu machen" 32 versucht. Bisher seien "quantitative Untersuchungen und die Frage nach den Determinanten des Wachstums von Sozialleistungen ... eindeutig im Vordergrund" gewesen 33. Nun müßten weitere Faktoren berücksichtigt werden. Insbesondere "die Rolle von Ideen, Personen, von sozialen und politischen Institutionen, die Frage von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, von älteren und neueren Einrichtungen der Wohlfahrtsförderung wie auch der ökonomische und der politische Kontext wichtiger sozialpolitischer Entscheidungen zum Ausbau des Sozialstaates sowie die weitgehend aus den spezifischen Traditionen einzelner Länder zu erklärende Phasenverschiebung in dessen Entstehung und Entwicklung ... " 34. Diese Desiderata greüen letztlich wiederum auf die im angelsächsischen Raum gepflegten institutionengeschichtlichen Ansätze zurück 35. Rimlinger 36, Heclo 37 und Ashford 38 präsentierten international vergleichende Arbeiten, die den Einfluß sozialstaatlicher Intervention auf die jeweiligen politischen Systeme untersuchten 39.
32 Ritter,
S. 23.
33
ibo S. 27.
34
ibo S. 27E
35
Deren Bedeutung wird auch von Alber, S. 117E hervorgehoben.
36 G. V. Rimlinger, Welfare Policy and Industrialization in Europe, America, and Russia, New York!London/Sidneyrroronto 1971. 37 Hugh Hec/o, Modem Social Politics in Britain and Sweden, From Reliefto Incorne Maintenance, New HavenlLondon 1974.
38 Douglas E.
Ashford, The Emergence ofthe Welfare States, OxfordlNew York 1986.
39 Zu dem bei diesen Arbeiten weit gefaßten Begriff der Sozialpolitik vgl. insbesondere Hec/o, S. 2, Ashford, S. 2f.
A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
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Rimlinger geht von drei sozioökonomisch unterschiedlichen Industrialisierungsmodellen aus, die jeweils die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme prägen. Für unsere Fragestellung ist vor allem der Vergleich des liberaldemokratischen Modells französischer, britischer und amerikanischer Prägung mit dem vom Zarenreich und dem Deutschen Reich repräsentierten obrigkeitsstaatlichen Muster von Bedeutung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als der zu diesem Zeitpunkt erreichte Industrialisierungsgrad eine Neueinschätzung des Faktors 'Arbeit' bedingte, mußten beide Systeme einen tiefgreifenden, sozialpolitischen Wandel bewältigen. Während ein liberales Staatsverständnis auf der Unvereinbarkeit von Schutz und Freiheit basierte, galt es nun, staatliche Schutzmechanismen zu legitimieren. Autoritäre Systeme setzten sozialstaatliche Maßnahmen zur Fixierung gesellschaftlicher Hierarchien ein, liberal-demokratische Staaten versuchten mit sozialpolitischen Maßnahmen das krisenanfaIlige Gefalle zwischen politischer Gleichstellung und sozialer Ungleichheit auszubalancieren. "In one case, protectionjustified inequality, in the other, equality justified protection" 40. Heclo beschränkte zwar seinen auf Arbeitslosen- und Rentenversicherung bezogenen Vergleich auf Großbritannien und Schweden, setzte sich aber grundsätzlich mit den Rahmenbedingungen des sozialpolitischen Gesetzgebungsprozesses auseinander. Er untersuchte die Bedeutung von Wahlen, Parteien und Interessengruppen und stellte fest, daß Wahlen als Anstoß zur sozialpolitischen Neuerung nicht überschätzt werden sollen. Den Parteien wurde zuweilen eine öffentlichkeitsmobilisierende Wirkung zugestanden, auch sie kommen aber nur in beschränktem Maß als Träger sozialpolitischer Innovationen in Frage. Letztlich verfügte nämlich keine Partei über das Monopol eines sozialpolitischen Programms 41. Die Verwaltungen spielten dagegen eine wesentliche Rolle. In Schweden vermittelte die Verwaltung bereits in der Vorkriegszeit, in Großbritannien seit der Zwischenkriegszeit wichtige, sozialpolitische Impulse 42. Der Einfluß der Interessengruppen konnte, zumal in der Vorkriegszeit, nicht eindeutig festgelegt werden. Heclo verweist allerdings auf die Bedeutung eines nur schwer greifbaren, aber konstanten bargaining-Prozesses, an dem sich neben Parteien, Interessengruppen und Administrationen auch Individuen mit schwankender Gruppenzugehörigkeit beteiligten 43.
40 Rimlinger, 41
Heclo, S. 296.
42 ibo S. 302. 43
S. 339.
ibo S. 308.
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Ashford folgte noch dezidierter den von Heclo und Rimlinger vorgezeichneten Weg. Statt Gehalt und Reichweite sozialpolitischer Programme zu untersuchen, fragte Ashford nach den Rahmenbedingungen, die eine Sozialgesetzgebung begünstigten oder verhinderten. Ein systemtheoretischer Ansatz führte in diesem Falle zur Feststellung der sozialpolitischen Adaptationsfahigkeit demokratischer Staaten. Die sozialpolitische Anerkennung des ökonomisch Benachteiligten als Staatsbürger drückt sich dabei nicht nur in den schließlich auch verabschiedeten Sozialgesetzen aus. Das Beispiel Frankreichs unterstreicht vielmehr die Bedeutung des sozialpolitischen Diskurses: "Measuring social reform only by results can be politically misleading. The results in France werc meagre untill945, but the direction was quite clear in 1910" 44.
Fazit: Arbeiterschutz als Alternative Die historische Situierung sozialpolitischer Entwicklung weist einige grundsätzliche Schwierigkeiten auf. Quantifizierende Modelle, die staatliche Sozialpolitik als Ausdruck des Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesses verstehen, bieten den Vorteil eines greßZÜbergreifenden Konzeptes. Sie vernachlässigen allerdings die unterschiedlichen politischen Voraussetzungen und blenden den nicht immer quantifizierbaren sozialpolitischen Diskurs aus. Die Sozialversicherungen vermögen als international gültiges Beispiel sozialstaatlicher Entwicklung nicht zu überzeugen, da dieser am deutschen Muster orientierte Indikator den sozialpolitischen Weg der Obrigkeitsstaaten zum Normalfall erhebt. Der Arbeiterschutz erlaubt zwar den Einbezug der bisher vernachlässigten Frage, wie liberal-demokratische Systeme zur sozialpolitisch motivierten Staatsintervention fanden. Er beinhaltet aber ein dermaßen breites Spektrum unterschiedlicher Maßnahmen, daß deren Vergleichbarkeit in Frage gestellt wird. Die Operationalisierbarkeit dieses Ansatzes bedingt daher die Wahl eines Indikators, der international anwendbar bleibt und sich nicht auf partielle Arbeiterschutzmaßnahmen beschränkt. Die Sozialpolitik der Vorkriegszeit wird daher im Rahmen dieser Arbeit an der Konstituierung und der Tätigkeit der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz gemessen.
44 Ashford,
s. 101.
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Enten Weltkrieg
2. Ein internationaler Verein als Indikator sozialstaatlicher Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg
Die Wahl der IVGA als sozialpolitischer Indikator bietet einige Vorteile: - Definitorische Schwierigkeiten lassen sich umgehen, die Zielsetzung der Vereinigung zeigt sich bereits in deren Namen. Die IVGA diskutierte punktuelle Fragen des Arbeiterschutzes (etwa die Gesundheitsgefährdung durch einzelne Stoffe oder Produktionsprozesse), beschäftige sich mit verschiedenen Arbeitnehmerkategorien (Frauen und Jugendlichen), thematisierte aber auch einzelne Aspekte der im Entstehen begriffenen Sozialversicherungen (v.a. die Arbeitslosenversicherung). - Die IVGA setzte sich als internationale Vereinigung mit jenen Themen auseinander, denen eine greDZÜbergreifende Bedeutung zugestanden wurde. Fragen der Komparatistik waren demnach Teil des sozialpolitischen Diskurses. - Zusammensetzung und Funktion der IVGA erlauben Rückschlüsse auf die Entwicklung bürgerlicher Sozialpolitik. In und mit der Vereinigung bildete sich eine 'sozialpolitische Intelligenz', die durch ihren internationalen Zusammenschluß Sozialpolitik als Wissenschafts-, Politik- und Verwaltungsbereich zu legitimieren suchte. - Die Vereinigung hatte einen ausgeprägt legitimatorischen Charakter, da der von ihr repräsentierte Politikbereich erst im Entstehen begriffen war. Das Konzept der IVGA war demnach nicht auf eine Eingrenzung, sondern auf eine möglichst breite Ausweitung des Zielpublikums ausgelegt. Dadurch ergibt sich ein weites Spektrum sozialpolitischer Ansätze. Die Öffentlichkeitsarbeit der IVGA macht zudem die politische Instrumentalisierbarkeit sozialpolitischer Forderungen deutlich. - Die beiden wichtigsten, von der IVGA initiierten Ergebnisse internationaler Sozialpolitik, die beiden Abkommen über das Verbot der Frauennachtarbeit in der Industrie und das Verbot der Verwendung des giftigen Phosphors in der Zündhölzchenproduktion, machen die allmähliche Ausweitung eines bisher nationalen Politikbereiches in die Domäne der Außenpolitik sichtbar. Die IVGA wurde zwar von offizieller Seite immer wieder an ihren privaten Status erinnert. Doch die Regierungen Europas benützten die Vereinigung als Plattform zur Vorbereitung internationaler Abkommen, für die im Rahmen der herkömmlichen Außenpolitik noch kein Instrumentarium zur Verfügung stand. Mit Hilfe der IVGA läßt sich
I. Sozialpolitik und historische Forschung
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demnach die Entstehung eines neuen Bereiches der Außenpolitik und die Einflüsse der konventionellen Machtpolitik auf sozialstaatliche Interventionen nachzeichnen. - Da die internationale Vereinigung aus nationalen Sektionen bestand, gerät auch die jeweils unterschiedliche nationale Umsetzung sozialpolitischer Forderungen ins Blickfeld der Untersuchung. Die IVGA bietet demnach vielseitige Möglichkeiten, die im Rahmen dieser Arbeit nicht alle ausgeschöpft werden konnten. Der hier vorgeschlagene Ansatz untersucht die Wechselwirkungen zwischen sozialpolitischen Internationalisierungsbestrebungen und nationaler Umsetzung. So wird keine Geschichte der IVGA angestrebt, sondern deren Funktion aus der Perspektive der Dritten Französischen Republik aufgezeigt. Damit beschränken sich die hier präsentierten Ergebnisse zwar auf einen Staat. Die anderen, in der IVGA vertretenen Sektionen und Länder bedürfen weiterer Untersuchungen. Dennoch kommt dem französischen Beispiel eine nicht nur national begrenzte Bedeutung zu. Zum einen werden die internationalen Rahmenbedingungen rnitreflektiert, zum anderen kann der bisher schwergewichtig auf die obrigkeitsstaatliche Entwicklung ausgerichteten Forschung die Entwicklung liberal-demokratischer Sozialstaatlichkeit entgegengehalten werden.
Die IVGA - vom verbesserungsbedürftigen Vorläufer der ILO zum Indikator der Vorkriegssozialpolitik Die bisher zur Geschichte der IVGA veröffentlichte Literatur beginnt erst allmählich die in der Zwischenkriegszeit vorgelegten Feststellungen zu hinterfragen. Mit Ausnahme einer im Entstehen begriffenen breiteren Studie 45 wird die internationale Vereinigung nach wie vor als ergänzungsbedürftige Vorgängerin der 1919 gegründeten Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verstanden. Die für diesen Ansatz entscheidende Studie wurde in den dreißiger Jahren von der Camegie-Stiftung herausgegeben 46. Das als kommentierte 45 Vgl. Judit Garamvolgyi, Die internationale Vereinigung filr gesetzlichen Arbeiterschutz, das Beispiel eines transnationalen Vereins, in: Quirinus Reichen, Nicolai Bemard (Hrsg.), Gesellschaft und Gesellschaften, Festschrift zum 65.Geburtstag von Prof. Dr. Ulrich Im Hof, Bem 1982, S. 626-646. Unter der Leitung von Prof.Garamvölgyi entstanden in der Folge einige den nationalen Sektionen der IVGA gewidmete Lizentiatsarbeiten: Peter Faller, Die NVwB, Die niederlandische Sektion der IVGA, Bem 1987, Antonio Sommavilla, Modernisierung und Arbeiterschutz in Italien vor dem Ersten Weltkrieg. Bem 1988, Madeleine Oeseh, Aspekte cisleithanischer Sozialpolitik, Bem 1984.
46 James
1934.
T. Shotwell (Ed.), The Origins ofthe International Labor Organization, 2 Vols., New York
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
Dokumentensammlung konzipierte Werk berichtete über die Entstehung des mit "Arbeit" überschriebenen Teils der Friedensverträge und erschien im gleichen Jahr, in dem die USA der ILO beitrat. Die Vorkriegszeit fand im Rahmen dieses Konzeptes aus naheliegenden Gründen nur geringe Beachtung, obwohl sich auch ehemalige IVGA-Aktivisten unter den Autoren befanden. Spätere, der ILO verpflichtete Studien 47 übernahmen diesen Ansatz und unterstrichen wie Alcock, "the unofficial nature" und die mangelnde Repräsentativität der IVGA 48. Allerdings wird diese Einschätzung in den neuesten Arbeiten zur ILO relativiert. Victor-Yves Ghebali betont zwar den privaten Charaleter der IVGA, verweist aber gleichzeitig auf die nicht zu unterschätzende Beteiligung der europäischen Regierungen 49. Während die IVGA als Vorläuferorganisation der ILO rezipiert wird, haben deren nationale Sektionen - von bereits erwähnten Ausnahmen abgesehen so bisher als Zweigstellen einer internationalen Organisation wenig Beachtung gefunden. Die deutsche Sektion der IVGA, die Gesellschaft für Soziale Reform, wurde in einer verbandsgeschichtlichen und damit vornehmlich am innenpolitischen Kontext orientierten Studie vorgestellt SI. Die gleiche Einschränkung gilt für jene Ansätze, die die Landessektionen der IVGA als Illustration für den innenpolitischen Bedeutungszuwachs sozialreformerischer Bewegungen verwenden. Dabei wird oftmals nicht zwischen der internationalen Vereinigung und der jeweiligen Landessektion unterschieden. So untersucht Judith F. Stone in ihrer überzeugenden Studie die Bedeutung sozialreformerischer Aktivitäten in Frankreich. Bei der Darstellung der IVGA wird zwar nicht zwischen der internationalen Gesellschaft und der nationalen Sektion unterschieden, diese aber auch nicht unterschätzt. Obwohl Stone der internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung in der Vorkriegszeit kein großes
47 Vgl. 1. W. Fol/ows, Antecedents ofthe International Labour Organisation, Oxford 195 I, Antony A/cock, History ofthe International Labour Organisation, LondonlBasingstoke 1971.
48 Alcock, S. 12. 49
Victor-Yves Ghebali, L'Organisation internationale du Travail, Geneve 1987, S. 25f.
so Vgl. Anmerkung 45 51 Ursu/a Ratz, Sozialreform und Arbeiterschaft, Die "Gesellschaft fi1r Soziale Reform" und die s0zialdemokratische Arbeiterbewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Berlin 1980.
I. Sozialpolitik und historische Forschung
27
Gewicht beimißt, wird die IVGA als "an important meeting place for like-minded reformers from industrialized nations" vorgestellt 52. Eine ähnliche, wiederum innenpolitisch begründete Würdigung wird auch der erst 1906 konstituierten 53, amerikanischen Sektion zuteil. Die American Association for Labor Legislation spielte demnach in der Sozialversicherungsdebatte eine wichtige Rolle 54. Schließlich sei noch an jene Untersuchungen erinnert, die einer anderen Thematik verpflichtet sind, aber auf Arbeiten zurückgreifen, die von der IVGA respektive von deren Landessektionen veröffentlicht wurden 55.
3. Die IVGA als Ausdruck transnationaler Politik
Die bisherige Rezeption beurteilte die IVGA entweder einseitig als noch nicht funktionstüchtige internationale Organisation oder aber als eine vornehmlich aus innenpolitischer Sicht zu beurteilende sozialreformerische Bewegung. Beide Interpretationsmuster vernachlässigen die innen- wie außenpolitisch innovative Bedeutung der IVGA, die letztlich in der grenzüberschreitenden Ausweitung eines bisher auf die nationale Gesetzgebung beschränkten Themenbereiches besteht. Daher ist jenen Ansätzen beizupflichten, die die IVGA vor allem aus der Perspektive internationaler Bezugssysteme interpretiert sehen wollen 56. Die Lehre der internationalen Beziehungen bietet seit den späten sechziger Jahren Konzepte an, die das herkömmliche Muster der zwischenstaatlich definierten Außenpolitik um die Dimension der transnationalen Beziehungen erweitert haben. Der transnationale Bereich ist zwar. wie Merle betont. in Er52
Judith F. Stone, The Search for Social Peace, Reform Legislation in France, 1890-1914, New
York 1985, S. 51.
53 Da die amerikanische Sozialpolitik in den Kornpetenzbereich der einzelnen BundesHlnder fiel, bot die zentralistische Struktur der IVGA einige Schwierigkeiten. Zur Gtiindungsgeschichte der amerikanischen Sektion vgl. IVGA 1906, S. 72ff. 54 Rim1inger erwähnt nicht, daß es sich dahei um die Zweigsektion einer internationalen Vereinigung handelt. Rimlinger, S. 68. Vgl. auchAshford, S. 42. 55 So verweisen Rohert Salais et al. in einer Studie Ober die Arbeitslosigkeit auf die Bedeutung der von der französischen Sektion publizierten Arbeiten. Robert Salais et al., L'invention du chömage, Histoire et transformations d'une categorie en France des annees 1890 aux annees 1980, Paris 1986, S.72.
56
Vgl. Garamv6lgyi.
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltlcrieg
mangelung einer konzisen Begriffiichkeit "a difficult area of study" 57 geblieben. Transnationale Beziehungen sind nach einer Definition von Bühl "Kontakte, Koalitionen und Interaktionen, die über die Staatsgrenze hinweggehen, jedoch nicht durch die zentralen außenpolitischen Organe der Staatsregierungen kontrolliert werden können" 58. An transnationalen Kontakten sind zwar vor allem nichtstaatliche Akteure beteiligt, und "der Begriff transnational (weist) eindeutig gesellschaftliche Komponenten auf' 59. Das Konzept beschreibt aber auch transgouvernementale Beziehungen 60. Keohane und Nye, die das Transnationalismuskonzept wesentlich mitbestimmt haben, verstehen Staaten nach wie vor als wichtige Akteure 61. Die an der IVGA beteiligten Regierungsvertreter und die Rolle der im Entstehen begriffenen sozialpolitischen Administrationen sind demnach analytisch greifbar. Die Theorie der transnationalen Politik wurde zur Beschreibung der internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert. Als Beispiel transnationaler Kontakte werden vor allem multinationale Unternehmen vorgestellt. Für den hier gewählten Ansatz bietet aber ein transnationales Konzept bereits für die Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges heuristisch bedeutende Vorteile. Als transnational tätige Vereinigung interpretiert, läßt sich die IVGA den in der Vorkriegszeit zunehmenden greDZÜbergreifenden Kontakten zuweisen. Sie erscheint demnach nicht länger als Ausnahmefall, sie ist vielmehr Ausdruck jenes Internationalisierungsprozesses, der als wesentliches Merkmal des beginnenden 20. Jahrhunderts diskutiert wird: So verweist Schieder auf das durch den Ausbau der Kommunikationsmittel und die Entstehung der Weltwirtschaft geförderte Anwachsen internationaler Konferenzen, Kongresse und
51
Marcel Merle, lbe Sociology of International Relations, Leamington SpafHamburgfNew York
1987, S.305.
511 Walter L. Bühl, Transnationale Politik, Internationale Beziehungen zwischen Hegemonie und interdependenz, Stuttgart 1978, S. \08. 59 Urs Altermatt, Entwicklunglliinien der internationalen Politik: vom souveränen Nationalstaat zur transnationalen Weltgesellschaft?, in: Urs A1termatt I Judit Gararnvölgyi (Hrsg.), Innen- und Außenpolitik, Primat oder Interdependenz? Festschrift zum 60. Geburtstag von Walther Hofer, BernlStuttgart 1980, S. 49. 60 Damit werden "Untereinheiten von Regierungen" bezeichnet, "die (in bezug auf bestimmte Probleme) relativ unabhängig von der höchsten Staatsautoriw und ihrer Position in der internationalen Politik agieren". Bühl, S. 116. 61 Robert O. Keohane I Joseph S. Nye Jr. (Eds.), Transnational Relations and World Politics, Cambridge 1972, S. XXIV.
I. Sozialpolitik und historische Fon;chung
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Organisationen 62. Pohl leitet aus der transnationalen Vernetzung sogar eine historische Zäsur ab: "Die internationale politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so weit, daß man vom Beginn einer neuen Phase der Weltgeschichte sprechen kann, seit der die Staaten weniger isolierte nationale Politik betreiben können" 63. Dieser Ansatz erleichtert den Zugang zur komplizierten, sich über Jahre hinziehenden Entstehungsgeschichte der IVGA. Aus transnationaler Sicht wird nämlich klar, daß deren Konstituierung nach zwei unterschiedlichen Konzepten erfolgen mußte, die sich im Falle der IVGA gegenseitig beeinflußten und überlagerten. Zum einen ließ sich die Internationalisierung sozialpolitischer Normen nach dem Vorbild der bereits vorhandenen internationalen Organisationen lösen. So gesehen, erschien eine entsprechende, sozialpolitische Organisation als nicht sonderlich spektakuläre Fortsetzung jener bereits mit dem Weltpostverein und der Telegraphenunion eingeschlagenen Entwicklung. Diese Organisationen standen unter staatlicher Aufsicht und unterscheiden sich in diesem Punkt grundlegend von der zweiten Möglichkeit einer greDZÜbergreifenden Institutionalisierung internationaler Sozialpolitik: In diesem Fall wurde der sozialpolitische Diskurs nicht von offizieller Seite bestimmt. Das Gelingen dieser Variante hing von der Mobilisierung einer interessierten Öffentlichkeit ab, die an Kongressen und Konferenzen, insbesondere aber durch die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts veranstalteten Weltausstellungen angesprochen wurde 64. Weltausstellungen boten eine geeignete Plattform zur Veranstaltung der fiir die Konstituierung internationaler Sozialpolitik bedeutenden Kongresse und überdies wurde Sozialpolitik als Ausstellungsthema präsentiert. Die Weltausstellungen erlauben demnach auch eine Gegenprobe zu dem bisher nur an den interessierten Kreisen gemessenen Bedeutungszuwachs internationaler Sozialpolitik. Die oben beschriebenen Wechselwirkungen zwischen staatlichen und privaten Bemühungen bestimmten die Entwicklung der IVGA. Die transnationale 62
Schieder, S. l3I.
63 Hans Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft, Geschichte der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 356. 64 Utz Hallern, Die "Welt als Schaustellung", zur Funktion und Bedeutung der internationalen Industrieausstellung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift fllr Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 60, Heft 1, Wiesbaden 1973.
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
Bedeutung der Vereinigung beruhte vornehmlich auf einem Kreis von Mitgliedern, bei dem die an der Industriearbeit beteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber zwar präsent, aber deutlich in der Minderzahl waren. Die IVGA präsentierte demnach das bürgerliche Gegenstück zur sozialistischen Internationale. Die IVGA versammelte hauptsächlich Juristen und Nationalökonomen, die teils als Beamte oder Politiker, vor allem aber als Wissenschaftler auftraten. Die IVGA gehörte daher zu jenem alten Typus wissenschaftlicher Vereinigungen, die seit dem 17. Jahrhundert transnationale Aktivitäten pflegten6 .5 und sich dabei insbesondere um "standardization of data, units, and technique to the organization of international conferences and symposia" 66 bemühten. Zur Bezeichnung der in der IVGA versammelten Elite 67 wird künftig von der 'sozialpolitischen Intelligenz' gesprochen. Der Begriff soll deutlich machen, daß es sich nicht um eine sozial klar umrissene, abgrenzbare Gruppe handelt, sondern um eine prinzipiell offene Vereinigung, die sich vornehmlich wissenschaftlich legitimierte und an jene richtete, die mit wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden zurechtkamen. Transgouvernementale Überlegungen unterstreichen die Bedeutung der verwaltungsgeschichtlichen Hintergründe und thematisieren überdies das Verhältnis zwischen trans gouvernementaler und internationaler Politik: Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden sozialpolitische Verwaltungseinheiten, die in der Vorkriegszeit allerdings nur in Frankreich bis zur Bildung eines eigenständigen Sozialministerium gediehen 68. Diese sozialpolitischen Verwaltungen stellten die offiziellen Ansprechpartner der IVGA dar. Beide Seiten waren an diesen Kontakten interessiert. Die IVGA gewann auf diesem Weg staatliche Anerkennung, und die sozialpolitischen Administrationen legitimierten die internationale Bedeutung dieses neuen Verwaltungsbereiches. Die Außenkontakte der vornehmlich auf einen innenpolitischen Aufgabenkreis bezogenen sozialpolitischen Administrationen führten zu einem nicht 65
Vg1. Diane Crane, Transnational Networks in Basic Sciences, in: Keohane / Nye, S. 23.5.
66
ibo S. 249.
67 Die meisten Mitglieder der IVGA sind nach deutschem Sprachgebr-auch dem Bildungsbürgertum zuzurechnen, sofern darunter Personen zu verstehen sind, "die durchweg höhere, tendenziell akademische Bildung besaßen und sie beruflich verwerteten". JOrgen Kocka, Bürgertum und bOrgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Europäische Entwicklung und deutsche Eigenart, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. I, München 1988, S. 12. 68 Vgl. Jean-Andre Tournerie, Le Ministere du Travail (Origines et premiers developpements), Paris 1971. Vg1. ilhnIiche Bestrebungen in Belgien.
I. Sozialpolitik und historische Forschung
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unproblematischen Konkurrenzverhältnis zu den jeweiligen Außenministerien. Internationale Sozialpolitik erscheint in diesem Kontext als Indikator der sich verändernden Außenbeziehungen. Neue Themen und alte Machtpolitik gingen dabei eine im Zeitalter des Imperialismus besonders bemerkenswerte Verbindung ein. Internationale sozialpolitische Abkommen sind Ausdruck eines bereits in der Vorkriegszeit entstehenden grenzübergreifenden Sozialrechts 69. Aber derartige Verträge wurden auch als Instrumente traditioneller Machtpolitik eingesetzt.
4. Internationale Sozialpolitik - Abgrenzung und Synthese
Die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz wird im Rahmen dieser Arbeit als Gradmesser der Vorkriegssozialpolitik betrachtet. Dennoch soll keine Vereinsgeschichte geboten, sondern deren transnationale Bedeutung, deren Gewicht für Regierung und Öffentlichkeit nachgezeichnet werden. Die von der IVGA aufgebrachten Themen werden nicht in ihren sozialpolitischen Dimensionen ausgelotet, vielmehr steht deren Funktion im sozialpolitischen Diskurs im Vordergrund. Weder kann eine Geschichte der sozialpolitischen Administrationen noch eine Prosopographie der in der IVGA zusammengeschlossenen Intelligenz vorgelegt werden. Dagegen stehen Beanspruchung und Zuweisung von sozialpolitischen Kompetenzen und deren Formalisierung im Zentrum des Interesses. Transgouvernementale Beziehungen und die machtpolitische Bedeutung sozialpolitischer Verträge sollen näher beleuchtet, nicht aber eine Geschichte schweizerischer Außenpolitik oder eine Darstellung des internationalen Sozialrechts angestrebt werden. Das Konzept der transnationalen Politik bedingt die Verzahnung der internationalen mit den nationalen Bereichen. Neben der mit der machtpolitischen Umsetzung sozialpolitischer Verträge befaßten Schweiz wird internationale Sozialpolitik aus der Perspektive der Dritten französischen Republik vorgestellt. Die beiden Länder präsentieren ein bisher wenig berücksichtigtes Gegenbild zu dem am deutschen Vorbild orientierten, obrigkeitsstaatlichen Modell, das auf dem Ausbau nationaler Sozialversicherungen basiert.
69 Vgl. Guy Perrin, Die Ursprunge des internationalen Rechts der sozialen Sicherheit, in: Vierteljahresschrift filr Sozialrecht, Beiheft 3, München 1983.
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
II. Französische Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg 1. Rahmenbedingungen und Schwerpunkte der französischen Sozia/gesetzgebung
Nach der Darstellung von Stephan Bauer flUlt die sozialpolitisch bedeutendste Phase in der französischen Vorkriegsgeschichte mit der Regierungszeit des Ministeriums Waldeck-Rousseau und der Tätigkeit von Handelsminister Millerand zusammen I. Millerands Leistung bestand allerdings nicht in der Verabschiedung einer Vielzahl von Sozialgesetzen. Der erste Sozialist im Range eines Ministers präsentierte vielmehr eine Synthese zwischen den sozialpolitischen Forderungen der Arbeiterbewegung und den bereits vorhandenen Sozialgesetzen, die vornehmlich auf Frauen und Kinder beschränkt waren. Das Gesetz vom 30. März 1900 stellte das Glanzstück von Millerands sozialpolitischer Synthese dar. Das Gesetz regelte die Frauen- und Kinderarbeit und ging auf Bestimmungen zurück, die seit 1892 Geltung hatten. Die für Frauen und Kinder verbindliche Arbeitszeit wurde auf zehn Stunden festgelegt und diese Bestimmung auf erwachsene männliche Arbeitnehmer ausgeweitet, sofern diese im gleichen Betrieb arbeiteten 2. Somit galt für einen Teil der erwachsenen Männer ein gesetzlich festgelegter Zehnstundentag, der stufenweise eingeführt wurde 3. Die sozialpolitische Gleichbehandlung von Männern und Frauen signalisierte den definitiven Bruch mit der liberalen Noninterventionspolitik, die den Staatsbürger mit dem Hinweis auf dessen politische Mündigkeit von der Schutzgesetzgebung ausgenommen hatte. Das Gesetz ist aber noch in weiterer Hinsicht bemerkenswert. Die allmähliche und stufenweise Einführung des Zehnstundentages entsprach Millerands Konzept der 'kleinen Schritte', von dem im Verlauf dieser Arbeit noch die Rede sein wird. Dieses Vorgehen hatte nicht nur die evolutionäre Erweiterung bereits bestehender Sozialgesetze im Sinn. Vielmehr glaubte man davon ausI St. Bauer, ArbeitenlChutzgesetzgebung, III. Die ArbeitenlChutzgesetzgebung in Frankreich, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, S. 475-490. 2 Loi en date du 30 mars 1900, portant modifiction de la loi du 2 novembre 1892 sur le travail des enfants, des fi1les mineures et des femmes dans les etablissements industrieis, BOT 1900, S. 385.
3 Mit der Inkraftsetzung dieser Bestimmungen galt ein Elfstundentag, der 1902 auf 10 1/2 Stunden und 1904 schließlich auf 10 Stunden reduziert wurde. ibo
H. Französische Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
33
gehen zu können, daß eine partiell auf bestimmte Personen oder Produktionsprozesse eingeschränkte Sozialgesetzgebung sich alsbald ausweitet und zum Ausgleich der Produktionsbedingungen auch ursprünglich ausgeschlossene Arbeitsbereiche umfassen werde. Das Gesetz vom März 1900 war demnach ein Schritt zu einer generellen, nicht nur auf die sogenannten, gemischten Betriebe beschränkten Arbeitszeitverkürzung und kam in diesem Sinne als Etappe zum Achtstundentag den Forderungen der Linken entgegen. Das Gesetz war als sozialpolitischer Komprorniß daher auch das Resultat der zur Liquidation der Dreyfus-Affäre berufenen radikal-sozialistischen Koalitionspolitik 4, die bekanntlich im linken Lager auch auf der Ebene der sozialistischen Internationale nicht unwidersprochen blieb. Aus einer innerfranzösischen Perspektive betrachtet, enthielt Millerands Gesetz allerdings auch ein sozialistisches Identifikationspotential : Immerhin verfügte der Zehnstundentag über eine revolutionäre Tradition. Am 2. März 1848 wurde ein Dekret verabschiedet, in dem die von Louis Blanc präsidierte Commission du Luxembourg die Arbeitszeit für männliche Erwachsene in Paris auf zehn Stunden festlegte 5. Das Dekret wurde am 9. September widerrufen und die Arbeitszeit auf jene zwölf Stunden fixiert, die Millerand 52 Jahre später wenigstens für einen Teil der Arbeiter zu revidieren suchte. Auch die von Millerand durchgesetzten, administrativen Neuerungen knüpften an die sozialpolitischen Forderungen der 48iger Revolution an. Die damals verlangte Errichtung eines "Ministere du Progres" ließ sich zwar nicht durchsetzen 6. Millerand wertete aber die sozialpolitische Verwaltung des Handelsministeriums zur eigenständigen "Direction du Travail" auf 7. Arthur Fontaine übernahm die Leitung der neuen Direction und war fortan als einer der profiliertesten Beamten der hohen Administration um den sozialpolitischen Fortschritt der Dritten Republik bemüht. Der von Millerand initiierte sozialpolitische Aufschwung überdauerte seine Tätigkeit als Handelsminister. Der Prozeß der Arbeitszeitverkürzung wurde in
4 Ashford,
S. 99.
S Maurice Bouvier-Ajam, Histoire du travail en France depuis la Revolution, Paris 1969, S. 127. 6
Vgl. dazu Tournerie, Section 2: Louis Blanc et le Ministere du Travail, S. 27ff.
7 Zur Verwaltungsstruktur vgl.
3 Herren
ibo S. 448.
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
kleinen Schritten fortgesetzt 8. Da die beiden Berner Konventionen wie auch der französisch-italienische Vertrag der Ratifikation bedurften, waren die internationalen Abkommen an der Fortführung der französischen Sozialgesetzgebung beteiligt. Die Frage nach dem Ende des sozialpolitischen Aufschwungs wird wiederum kontrovers beantwortet. Haupt geht von einer zwischen 1890 und 1906 andauernden "Hochzeit staatlicher Sozialpolitik" aus, "bevor dann wie in Deutschland - die Sozialgesetzgebung stagnierte" 9. Die nicht nur von Millerand, sondern auch von Viviani geprägten sozialpolitischen Fortschritte können demnach vor allem dem Bloc des Gauches gutgeschrieben werden. Im Gegensatz zu Haupt setzte Bauer das Ende der Koalitionspolitik nicht mit der Stagnation der Sozialgesetzgebung gleich. Bauer stellte vielmehr fest, daß 1910 eine neue Phase in der Geschichte der französischen Sozialpolitik einsetzte. Das entscheidende Merkmal dieser Ära bestand nicht in der im gleichen Jahr verabschiedeten Rentenversicherung, sondern in der Schaffung eines Code du Travail, der nun auch auf der Ebene der Rechtsprechung mit den antiinterventionistischen Traditionen brach und der Sozialpolitik einen eigenständigenjuristischen Status zuerkannte 10.
2. Franz15sische Sozialpolitik im internationalen Vergleich
Die Dritte Republik weist im internationalen Vergleich eine Sozialgesetzgebung auf, die den Schutz von Frauen und Kindern betont. Eine deutliche familienpolitische Ausrichtung gilt bis heute als Merkmal des französischen Sozialstaates 11. Im Bereich der Sozialversicherungen zeigte sich dagegen ein deutlicher Rückstand. In Oesterreich, einem in seiner wirtschaftlichen Entwicklung ähnlich gebremsten Latecomer, erfolgte die Konstituierung einer staatlichen Sozialpolitik bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts l2 , während in Frankreich Kranken- und Unfallversicherung erst 1898 und zudem auf bloß freiwilliger Basis eingeführt wurde. 8 Das am 13.5.1905 verabschiedete Gesetz legte die Arbeitszeit bei Untertagsarbeiten in den Minen auf acht Stunden fest (BOT 1905, S. 647f.). Das Gesetz vom 13.6.1906 beinhaltete fiir Arbeiter und Angestellte eine wöchentliche Ruhezeit, die im Nonnalfall auf den Sonntag fallen sollte (BOT 1906, S.732ff.). 9 Heinz-Gerhard Haupt, 10 Bauer,
Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt a.M. 1985, S. 278.
Arbeiterschutzgesetzgebung, S. 477
11 Vgl. dazu: Franz &hultheis, Sozialgeschichte der französischen Familienpolitik, Frank.furt a.M./New York 1988. 12
Talos, S. 411f
11. Französische Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten We1tkrieg
35
Die sozialpolitische Lage wurde den Eigenarten des französischen Systems und der politischen Situation zugeschrieben. Nach den von Bouvier-Ajam und Hatzfeld bereits vor einiger Zeit vorgelegten Grundlagewerken hat Haupt 13 die französische Sozialgesetzgebung erneut thematisiert. Haupt schlägt vor, von der Entwicklung der Klassenstrukturen auszugehen und nach Klassenbildung sowie den damit verbundenen Konflikten zu fragen. Er distanziert sich vom Bild einer "blockierten Gesellschaft", "in der der Solidarprotektionismus des kleinen und mittleren Bürgertums, eine schwache staatliche Autorität und ein unterentwickeltes Vereinswesen für ein Parallelogramm der Kräfte sorgten, in dem die eine die andere bedingte und stabilisierte" 14. Die integrative Wirkung des alle Divergenzen überwölbenden, "republikanische(n) Minimalkonsensus" 15 wird zwar nicht negiert, aber als Ausgangspunkt, statt wie bisher als Fazit sozialwissenschaftlicher Analysen verstanden. Die stabilen Verhältnisse erscheinen demnach als Synthese, als Resultat eines dialektischen Prozesses 16. Dennoch wird eine Pattsituation geschildert. Die "Reihe der Gesetzestexte" sei zwar imponierend, ihre Ergebnisse aber dennoch "bescheiden" 17. Bei der staatlichen Regelung der Arbeitsbeziehungen sei Frankreich "sozialpolitisch inaktiv" 18 geblieben, die Armenpolitik weise Rückstände auf, im Krankenversicherungssystem klafften Lücken. Die staatliche Sozialpolitik hätte sogar "in die Glut der Klassenspannungen (geblasen)" 19. Dieser Ansatz berücksichtigt allerdings nicht, daß Frankreich im internationalen sozialpolitischen Kontext überaus aktiv war. Hochkarätige Beamte und Politiker wie Fontaine und Millerand traten nun aber für die Internationalisierung sozialpolitischer Standards ein, unterstützt von gemäßigten Gewerkschaftern, unter denen sich Keufer, Vertreter der gemäßigten Fooeration du Livre, besonders hervortat. Im Gegensatz zur nationalen Sozialgesetzgebung präsentierte die Dritte Republik im internationalen Be\3 Das im gleichen Jahr erschienene Werk von LeGoff signalisiert ein zunelunendes Interesse an einer nicht nur auf die Sozialversicherungen beschränkten Sozialpolitikforschung in Frankreich. Jacques LeGoff, Du silence a la parole, Droit du travail, Societe, Etat (1830-1985), Paris 1985. 14 Haupr, S. 8. Der Autor wendet sich gegen das VOll S. Hoffinann geprlgte, letztlich an der mobilen Gesellschaft der Vereinigten Staaten gemessene Modell einer "blockierten Gesellschaft".
15
ibo S. 228.
16
ibo S. 261ff.
17
ibo S. 274
18 ibo 19
ibo S. 278.
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
reich konkrete Resultate, die, wie der französisch-italienische Vertrag, eine Pionierleistung internationaler Sozialpolitik darstellen. Das internationale Engagement der Dritten Republik steht demnach in einem auffiilligen Kontrast zur nationalen Sozialgesetzgebung. Der Schluß liegt nahe, die Legitimationsbedürftigkeit der im nationalen Rahmen nur zögernd sich durchsetzenden Sozialgesetzgebung für das internationale Engagement der Dritten Republik verantwortlich zu machen.
Solidarisme, Handelspolitik und Streikverhinderung Frankreich befand sich in dieser Hinsicht in einer besonderen Lage. Liberale Grundsätze erschienen als Errungenschaften der großen Französischen Revolution, deren positive Beurteilung wiederum einen die Parteiengrenzen übergreifenden Konsens darstellte. Befürworter sozialpolitischer Maßnahmen hatten sich demnach nicht nur mit Sachfragen auseinanderzusetzen. Es galt vielmehr, den Vorwand zu entkräften, daß staatsinterventionistische Ansätze die demokratischen Errungenschaften der Revolution gefährdeten. Eine derartige Argumentation, die erst gar nicht auf sozialpolitische Sachfragen eintrat, bedingte die Mobilisierung einer wirksamen Gegenstrategie, die insbesondere in der Sozialphilosophie des Solidarisme formuliert wurde. Der Solidarisme steht in enger Verbindung zu den Bestrebungen internationaler Sozialpolitik und weist in seiner Entwicklung interessante Parallelen auf. In den achtziger Jahren war der Begriff Solidarisme Gegenstand einer u.a. von Gide und Durkheim geführten wissenschaftlichen Debatte. Leon Bourgeois war mit seinem 1897 unter dem Titel "Solidarite" veröffentlichten Werk für die Politisierung des Begriffes besorgt. Bourgeois war zwar nicht Mitglied der IVGA, engagierte sich aber in einer Schwesterorganisation, die sich mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit befaßte. Der Politiker, der mehrmals das Arbeits- und das Außenministerium leitete, Frankreich an den Haager Friedenskonferenzen vertrat und schließlich 1920 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, vertrat mit dem Solidarisme eine für das Milieu der französischen Sozialpolitiker typische Zwischenlösung einer zwar staatsinterventionistischen, aber nicht antiindividualistischen Sozialphilosophie. Der im Rahmen der Weltausstellung 1900 in Paris stattfindende Congres de I'Education sociale machte diese Sozialphilosophie einem internationalen Publikum bekannt 20. Die im sozialpolitischen Programm des Solidarisme vorgesehene staatliche Intervention wurde durch einen individualistischen Ansatz auszugleichen ver20 c. Bougie, Professor filr Sozialphilosophie in Toulouse, machte 1903 auf diese Zusammenhänge aufinerksam. C. Bougie, l'Evolution du Solidarisme, RPP 35/1903, S. 480-505.
H. Französische Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
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sucht. der die demokratischen Rechte des einzelnen betonte 21. Sozialpolitische Maßnahmen erschienen denn auch nicht unter dem Aspekt zunehmender Exekutivgewalt. Vertreter des Solidarisme betonten, daß letztlich nur die Rechtsprechung ausgeweitet werde 22. Während sich der Solidarisme zur Bestätigung der politischen Unbedenklichkeit sozialstaatlicher Maßnahmen eignete, bot die Handelspolitik der Dritten Republik Unterstützung aus anderer Richtung. Die Schutzzollpolitik, Folge der wirtschaftlichen Depression, aber nicht weniger Instrument zur Austragung des französisch-deutschen Gegensatzes 23, stellte eine bereits legitimierte Form staatlicher Intervention dar. Befürworter dieser Argumentationslinie versuchten die Zunahme staatlicher Kompetenz nicht herunterzuspielen. Sie stellten im Gegenteil fest, daß die sozialpolitische Intervention einem bereits im Warenverkehr gültigen Prinzip folgte 24. Der den Waren zugestandene Schutz sollte nun auch jenen zukommen. die mit deren Herstellung betraut waren. Der französisch-italienische Vertrag stellte die politische Durchsetzbarkeit dieses Ansatzes unter Beweis. Er wurde nämlich zu einem Zeitpunkt vorbereitet, in dem sich eine Parlamentskommission mit der Verschärfung der Zolltarife beschäftigte 25. In der Präambel des Vertrages wurde ausführlich darauf hingewiesen, daß der mit den Handelsverträgen angestrebte Schutz der Waren in einem analogen Vertragswerk auch für die Arbeiter gelten sollte 26. Ein dritter Ansatz verwies auf die im Zunehmen begriffene Streikbewegung und hob die konfliktregulierende Wirkung sozialpolitischer Maßnahmen hervor. Ein greßZÜbergreifender Bergarbeiterstreik spielte an der Berliner Konferenz eine wesentliche Rolle. Selbst Bismarck, der von internationalen sozialpolitischen Absprachen nichts hielt, unterstützte eine internationale Zusammenkunft, die sich mit der Eindämmung greßZÜbergreifender Streiks beschäftigen sollte 27. Das französische Beispiel scheint den Zusammenhang zwi21
ibo S. 505.
22
ibo S. 501.
23
Zur Entwicklung der Schutzzoll politik vgl. Pohl, S. 54.
24 Diese Argumentationslinie findet sich im übrigen auch in jenen Debatten, die Staatsinterventionisrnus als Epochenmerkrnal bewerten. vgl. dazu Hermann Dommer, Erich Gruner, Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880-1914, Bd. III, Zürich 1988, S. 614. 2S Vg1. Histoire economique et sociale de la France, 8d. IV, 1. Bouvier et al., Paris 1979, S. 218ft: Pohl, S. 54. 26 Le Traite de Travail Franco-Italien, BOT 1904, S. 518. 27
vgl. S. 56.
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
schen sozialpolitischer Intervention und Streikspitzen zu bestätigen: Die Gründung der IVGA fiel mit einer Streikwelle zusammen, ebenso der Abschluß der beiden internationalen Konventionen im Jahr 1906 28. Obwohl derartige Rahmenbedingungen einer Internationalisierung sozialpolitischer Absprachen förderlich gewesen waren, darf dieser Zusammenhang nicht überschätzt werden, da die jeweilige politische Lage eine entscheidendere Rolle spielte 29. Immerhin läßt sich die der internationalen Ebene zugesprochene legitimatorische Bedeutung auch hier nachweisen. Konfliktlösungsstrategien spielten nach der Darstellung von Haupt in der französischen Sozialpolitik eine wichtige Rolle 30. Millerand versuchte mit dem Einbezug der Arbeiter den Vorwurf der Bevormundung zu entkräften. Der Handelsminister griff dabei auf bereits vorhandene Institutionen zurück 31 und verschaffie den Gewerkschaften über den Verordnungsweg eine Vertretung im bereits 1891 gegründeten Conseil superieur du Travail 32. Allerdings sind die Meinungen über die Funktionsfähigkeit derartiger, pazifizierender Maßnahmen geteilt 33. Umso bedeutender waren demnach jene um einen internationalen Vergleich bemühten Debatten, die an den Versammlungen der französischen Sektion der IVGA zu diesem Thema geführt wurden. Schließlich trug auch der Charakter der französischen Arbeiterbewegung zur Attraktivität einer international abgestützten Sozialpolitik bei. Die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der französischen Arbeiterbewegung 34, ihre schwache nationale Mobilisierungskraft und die Bereitschaft ihres gemäßigten Flügels, Regierungsverantwortung zu übernehmen, erschwerten deren Identifikation mit der sozialistischen Internationale und erleichterten deren Beteiligung an der IVGA. 28 Vgl. 1f7. Woytinsky, Die Welt in Zahlen, Bd. 2, Die Arbeit, Berlin 1926. Fran90is Caron, La France des patriotes, in: Histoire de France, Dir. Jean Favier, Paris 1985.
29 Histoire economique, Bd. IV/I, S. 520. 30 Haupt,
S. 280.
31 Madeleine Reberioux, La Rq,ublique radicale? 1898-1914, Nouvelle Histoire de la France conternporaine, Bd. 11, Paris 1975, S. 77.
32 Bauer,
Arbeiterschutzgesetzgebung. S. 477.
33 Haupt zieht ein eher negatives Fazit, Caron zitiert die Anzah1 der erreichten Kompromißlösungen und schließt daraus, daß der soziale Dialog in Frankreich existierte. Caron, S. 345.
34 Heinz-Gerhard Haupt, Frankreich: Langsame Industrialisierung und republikanische Tradition, in: JOrgen Kocka (Hrsg.), Europäische Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 57. Histoire economique, S. 523.
Ir. Französische Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
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Das internationale sozialpolitische Engagement der Dritten Republik läßt sich nicht allein auf eine engagierte sozialpolitische Administration, die Legitimationsbedürftigkeit der nationalen Sozialpolitik und die disparate Arbeiterbewegung zurückführen. Bei den wirtschaftlichen und demographischen Rahmenbedingungen der Dritten Republik boten greßZÜbergreifende Absprachen im Bereich der Frauenarbeit und der Wanderarbeiter nicht zu unterschätzende Vorteile. Die wirtschaftliche Struktur des Landes war aus sozialpolitischer Sicht ungünstig. Der Agrarsektor beschäftigte vor Ausbruch des Weltkrieges immer noch 41 % der Arbeitnehmer 35, der sekundäre und tertiäre Sektor wies im gesamteuropäischen Vergleich in Frankreich die niedrigste Steigerungsrate auf 36. Zudem dominierten die kleinen Unternehmen 37, die sich nur schwer kontrollieren ließen, obwohl die Arbeitsinspektoren die Einhaltung der Sicherheits- und Gesundheitsbestimmungen in "alle(n) gewerblichen Betrieben, mit Ausnahme der reinen (nichtrnotorischen und ungefährlichen) Familienbetriebe" 38 hätten untersuchen müssen. Die demographische Entwicklung Frankreichs kam wiederum einer sozialpolitischen Intervention entgegen. Die Gründe, die zur niedrigen Fruchtbarkeitsrate fiihrte, sind vielfältig und uneindeutig 39, ihre Folgen dagegen klar: Die Dritte Republik wies die langsamste Bevölkerungszunahme und - zusammen mit der iberischen Halbinsel - die geringste Bevölkerungsdichte Europas auf 40. Dieser Umstand hatte im Rahmen des imperialistischen Bevölkerungsverständnisses ein bedeutendes politisches Gewicht. Das verlangsamte Bevölkerungswachstum legte die Verbesserung der Reproduktionsbedingungen nahe, die man wiederum in einer Korrektur der Frauenarbeit zu erreichen hoffte. Der Anteil der Frauen an der arbeitenden Bevölkerung war mit 39% 41 zwar leicht erhöht, ohne allerdings im gesamteuropäischen Vergleich aufzufal-
3S Pohl,
S. 283.
36
ibo S. 284f.
37
Histoire t!conomique, S. 110.
38 Erster vergleichender Bericht, S. 10. Demnach hltten 139 Inspektoren 548'069 Betriebe kontrollieren müssen.
39
Histoire t!conomique, S. 95ff.
40
ibo S. 100.
41 ibo S. 109. Die Angabe bezieht sich auf das Jahr 1911. Woytinsky gibt filr das gleiche Jahr nur 36,9% an. Woytinsky, S. 71.
A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
40
len42 . Dagegen ist der Anteil der verheirateten Frauen mit 52,2,% 43 und der Prozentsatz der in der Industrie beschäftigten Frauen mit 34,9% in Frankreich deutlich höher als in den anderen europäischen Ländern und den USA 44. Die vergleichsweise hohe Beteiligung der Frauen an der Industriearbeit geht auf die Bedeutung der Textil- und Bekleidungsindustrie zurück. Die Arbeitsbedingongen der Frauen in diesem Industriezweig 45 war Gegenstand einer international zugänglichen Untersuchung 46. Aus diesen Zusammenstellungen ging hervor, daß der Frauenanteil je nach Textilbranche zwischen 27% und 80% variierte. Die vornehmlich auf Frauen und Kinder ausgerichtete französische Sozialgesetzgebung darf demnach nicht unterschätzt werden. Zum einen betraf sie einen Industriezweig, der zwar seine größte Prosperitätsphase bereits hinter sich hatte, aber immer noch ein bedeutendes Gewicht aufwies 47. Zum anderen befaßte sich die Schutzgesetzgebung mit einem nicht unbedeutenden Teil der Arbeiterschaft. Drittens verhinderte Millerands Gesetz über die gemischten Betriebe, daß dieser Ansatz eine sozialpolitische Alibiübung darstellte. Die Textilbranche wies nämlich große Unterschiede auf, die Belegschaft brauchte nur aus 6% Männern zu bestehen, doch dieser Anteil konnte auf 56% ansteigen 48. Es kam daher vor, daß eine Minderheit geschützter Arbeitnehmerinnen die Arbeitszeit für eine Mehrheit von erwachsenen Männern diktierte. Die Frauenarbeit stellte mithin einen sozialpolitisch sensiblen Bereich dar. Die Internationalisie.ung der Frauenschutzbestimmungen betraf aus französischer Sicht nicht nur einen gewichtigen Teil der Volkswirtschaft. Die unter Rohstoffverteuerung und der ausländischen Konkurrenz leidende Branche war zum Ausgleich der Produktionskosten nicht weniger an einer international gültigen Regelung interessiert.
42 File das Deutsche Reich werden 33,8% (1907), flIr Oesterreich 42,2% (1910), filr Südafrika 47,6%(1911) angegeben. vgl. Anteil der Frauen an der erwerbstAtigen Bevölkerung. ibo S. 71 43
Für 1906, ibo S. 77.
44ib. S. 73. 45 So hatte die deutsche Baumwollindustrie die französische von Platz drei der Weltrangliste verdrängt. In der Produktion von Seidenstoffen konnte sich Frankreich allerdin~ an der Spitze behaupten. Pohl, S. 159ff.
46 Reponse de I'Association internationale ~ise pour la protection legale des Travailleurs, All Questionnaire de I'Office international du Travail coocemant la dur6e du travail des fenunes aduhes, Industrie textile, Paris le 30 decembre 1907, BAR 23/5. Später von Henriette Jean Brunhes unter dem Titel "La dur6e du travail des fenunes adultes dans I'industrie du vetement en France" publiziert. vgl. IVGA 1908, S. 7. 47
Histoire economique, S. 297. Pohl, S. 159ff.
48
Reponse, S. 2f.
1I. Französische Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten We1tkrieg
41
Ein zweiter Schwerpunkt des französischen Engagements betraf die internationale Regelung von Migrationsproblemen. Die Fremdarbeiter spielten für die französische Volkswirtschaft eine bedeutende Rolle 49. Frankreich wies niedere Auswanderungsquoten auf und hatte im Rahmen der kontinentaleuropäischen Binnenwanderung eine positive Bilanz. 1850 befanden sich 380'()()() Einwanderer in Frankreich, 1911 waren es bereits 1,1 Millionen so. Die Herkunft der zugewanderten Arbeiter verschob sich zunehmend von den nördlichen auf die südlichen Nachbarländer Frankreichs. 1881 nahmen die Belgier unter den Zugewanderten noch den ersten Platz ein, 1911 arbeiteten vornehmlich Italiener in Frankreich SI. Der französisch-italienische Vertrag befaßte sich demnach mit der wichtigsten und größten Gruppe unter den in Frankreich tätigen Fremdarbeitern. Die Zunahme von Einwanderern aus nur schwach industrialisierten Ländern vergrößerte den sozialpolitischen Handlungsbedarf. Da diese Arbeiter auch unterbezahlte, schwere und geflihrliche Arbeiten zu akzeptieren bereit waren S2, wurde das sozialpolitische Gefalle in aller Schärfe sichtbar und unterstrich die Wichtigkeit der zwischen Frankreich und Italien abgeschlossenen Konvention.
3. Sozialpolitik in Frankreich - Versuche zur Schaffung der "Republique des Travailleurs" Der in diesem Kapitel versuchte Überblick über die Schwerpunkte der französischen Sozialgesetzgebung beschränkte sich darauf, den spezifisch französischen Eigenarten nachzugehen und auf noch zu überprüfende Ansätze zu verweisen, die die Diskrepanz zwischen der marginal ausgebauten Sozialgesetzgebung und dem internationalen sozialpolitischen Engagement Frankreichs erläutern. Dabei wurde festgestellt, daß die am Erbe der französischen Revolution orientierte politische Struktur sozialpolitische Maßnahmen einem besonders deutlichen Legitimationsdruck aussetzte. Umso wichtiger war die Durchsetzung eines internationalen sozialpolitischen Engagements. Aus den gleichen Gründen tendierte der in Frankreich gewählte sozialpolitische Ansatz nicht zur Ausgrenzung nach obrigkeitsstaatlichem Vorbild, sondern zur Eingrenzung des arbeitenden Citoyens. Das Ziel sozialpolitischer Maßnahmen bestand daher nicht nur in der Verminderung sozialer Spannungen. Vielmehr 49
Histoire economique, S. 107.
so Pohl, S. 91. SI
Histoire economique, S. lOS
S2
ibo
42
A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
galt es, den vornehmlich bürgerlichen Staat in eine "Republique des Travail1eurs" 53 umzuformen, zumal eine radikalsozialistische Koalition die Stabilisierung des Staates nach der Dreyfus-Affäre übernommen hatte. Dieser Prozeß sozialpolitischer Akkommodation verlief nicht über den Ausbau sozialer Versicherungssysteme, sondern über die Ausweitung der traditionellen Schutzgesetzgebung. Frauen- und Kinderschutz sind in diesem Kontext denn auch nicht als Beweis sozialpolitischer Rückständigkeit, als Minimallösung oder als Alibiübung zu sehen. Traditionelle Formen des Arbeiterschutzes leiteten vielmehr zur Regelung der Arbeit erwachsener Männer über, und sie verhinderten keineswegs sozialpolitisch relevanten Strukturveränderungen, wie beispielsweise die Schaffung eines Code du Travail und die Institutionalisierung von Konfliktlösungsstrategien bei Arbeitsstreitigkeiten. Die internationale Sozialpolitik leistete aber nicht nur legitimatorische Unterstützung. Frauen- und Wanderarbeit, zwei Bereiche, in denen schließlich internationale Abkommen geschlossen wurden, hatten in Frankreich eine volkswirtschaftlich nicht zu unterschätzende Bedeutung. Die Textilindustrie, immer noch ein wesentlicher Zweig der französischen Wirtschaft, zeichnete sich durch einen vergleichsweise hohen Anteil arbeitender Frauen aus. Die Wanderarbeiter, deren sozialpolitische Rechte in einem bilateralen Vertrag zwischen Italien und Frankreich geregelt wurden, waren im Einwanderungsland Frankreich von großer Wichtigkeit.
S3 Caron berichtet, daß ein im MAtz 1883 festgenormnener Arbeitsloser diese Forderung gestellt habe. Coron, S. 334.
111. QuellenbesUnde zur Darstellung internationaler Sozialpolitik.
43
III. Quellenbestlinde zur Darstellung internationaler Sozialpolitik
Für den hier behandelten Zeitraum ist das sozialpolitische Quellenmaterial überaus reichlich vorhanden, da parlamentarische, private und öffentliche Untersuchungen publiziert wurden. Doch dieses Material kommt einem themenzentrierten Vorgehen weit mehr entgegen. Die Umsetzung eines transnationalen Konzeptes bietet dagegen einige Schwierigkeiten: Transnationale Beziehungen weisen einen hohen Komplexitätsgrad auf, zudem sind "viele Transaktionen nicht offen, sondern verdeckt" 1, die Aktionen einzelner Regierungsabteilungen sind demnach nicht immer als Ausdruck nationaler Politik zu verstehen. "Unbewußte Komponenten, die geschichtlichen Mythen und die kulturellen Botschaften" 2 spielen in der transnationalen Politik eine entscheidende, wenn auch nicht immer klare Rolle3. Die Dokumentation transnationaler Kontakte enthält mithin ein Dilemma: Die Komplexität verbietet die Verwendung eines in sich geschlossenen Quellenbestandes, während Material unterschiedlicher Herkunft notwendigerweise unvollständig und schlecht vergleichbar ist. So besteht ein deutliches Ungleichgewicht zwischen der reichhaltigen sozialpolitischen Publizistik und dem vergleichsweise kargen Material, das aus der Perspektive der staatlichen Administration über transgouvernementale Kontakte berichtet. Transnationale Bezüge waren in der Vorkriegszeit zudem an private Vereinigungen gebunden, die Archivierung derartiger Bestände blieb dem Zufall überlassen. Die Bedeutung der transnationalen Konzepte läßt sich auch im parlamentarischen Bereich nur schwer nachzeichnen. Die thematische Vielfalt sozialpolitischer Vorlagen und der über Jahrzehnte dauernde Legiferierungsprozeß erschwert die Aufarbeitung transnationaler Bezüge. Der hier gewählte Quellenbestand stammt daher aus unterschiedlichen Bereichen, die für sich keine Vollständigkeit beanspruchen.
I
Bühl, S. 123.
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
1. Staatliche sozialpolitische Publizistik und schweizerische Quellenbestände
Die sozialpolitische Publizistik hatte bereits vor der Jahrhundertwende eine Flut von Untersuchungen hervorgebracht 4. Sozialpolitische "Enqueten" erlebten im Zeitalter positivistischer Wissenschaftsgläubigkeit einen Aufschwung, der von den statistischen Ämtern der europäischen Staaten mit eigenen Datensammlungen unterstützt wurde. Diese als Periodika erscheinenden Werke förderten die Institutionalisierung eines internationalen sozialpolitischen Informationsaustausches. Das vom Basler Amt herausgegebene Bulletin 5 richtete sich nach dem Vorbild des 1887 erstmals in Brüssel erschienenen "Annuaire de la legislation du Travail". An der Jahrhundertwende verfügten die meisten europäischen Länder über derartige Periodika, die sich nicht auf die Veröffentlichung nationaler Daten beschränkten. In Frankreich wurde 1894 das "Bulletin de l'Office du Travail" gegründet 6, zwei Jahre nach der englischen "Labour Gazette" und sechs Jahre vor der in Wien herausgegebenen "Socialen Rundschau". 1903 erschien das deutsche "Reichs-Arbeitsblatt", 1904 das italienische "Bolletino deH'Ufficio deI Lavoro".
Quellen zur IVGA Die Bedeutung der IVGA läßt sich mit den gedruckt vorliegenden Protokollen der Generalversammlungen rekonstruieren 7. Ein sich geschlossenes und erschlossenes IVGA-Archiv existiert dagegen nicht. IVGA-Bestände werden sowohl im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel 8 als auch im Archiv des Bureau International du Travail in Genf aufbewahrt.
4 Vgl. JosefStammhammer, Bibliographie der Social-Politik, Bd. I, Jena 1897, Bd. 11, Jena 1912. Der zweite Band enthält die zwischen 1895 und 1911 publizierte Literatur.
S Bulletin des internationalen Arbeitsamtes, BemlJenaIParis 1902ff. 6 Bulletin de I'Office du Travail, hrsg. Ministere du Commerce resp. Ministere du Travail, Paris 1900-1914. 7 L'Association internationale pour la protection legale des travailleurs, Assemblee constitutive, in: Publication de l'Association internationale pour la protection des travailleurs, No. I, BernelParislIena 1901. Seit 1902 erschienen als: Verhandlungsbericht der .. ten Generalversamm1ung des Komitees der Internationalen Vereinigung rur gesetzlichen Arbeiterschutz, in: Schriften der Internationalen Vereinigung fiir gesetzlichen Arbeiterschutz No 2-8, Jena 1902-1912, fortan abgekürzt als IVGA mit entsprechender Jahrzahl.
8
SW A Handschriften 416, Internationale Vereinigung filr gesetzlichen Arbeiterschutz.
III. QuellenbestAnde zur Darstellung internationaler Sozialpolitik
45
Die in Genf gelagerten Bestände umfassen jene Dokumente, die die schweizerische Sektion der Internationalen Vereinigung fiir Sozialen Fortschritt als Nachfolgeorganisation der IVGA übernommen und dem Archiv ausgehändigt hatte 9. Dieser Quellenbestand besteht aus 52 Schachteln, die erst durch ein provisorisches Inventar erschlossen werden mußten 10. Neben diesem nachträglich eingelagerten Quellenbestand tritt die IVGA im Archiv der Internationalen Arbeitsorganisation unter den Beständen der nongouvernementalen Vereinigungen auf 11, allerdings enthält dieses Material keine Dokumente zur Vorkriegszeit. Auch der Fonds Albert Thomas ist vornehmlich auf die Zwischenkriegszeit ausgerichtet, die Korrespondenzdossiers verweisen aber auf einige Mitglieder der französischen Sektion der IVGA 12. Die Basler Bestände haben zwar einen weit geringeren Umfang, enthalten aber wichtiges Material über die Beziehung der einzelnen Landessektionen zum Basler Bureau. Vom heterogenen Nachlaß Stephan Bauers konnte vor allem seine wissenschaftliche Korrespondenz beigezogen werden, um Rückschlüsse auf die Konstituierung transnationaler Kontakte zu erhalten 13.
Schweizerische Quellenbestände zur internationalen Sozialpolitik Die Bemühungen der Schweiz, als Garantiemacht internationaler Sozialpolitik anerkannt zu werden, schlug sich in einern vergleichsweise breiten Aktenbestand nieder. Der im Schweizerischen Bundesarchiv greifbare Bestand E 23, Arbeiterschutz und Bildungswesen, enthält Materialien zu den ersten Internationalisierungsbemühungen zwischen 1855 und 1889, dokumentiert die internationalen Konferenzen und die Versuche zu deren Einberufung seit 1889, präsentiert die zu diesem Thema gefiihrte diplomatische Korrespondenz und erlaubt auch Rückschlüsse auf die Beziehungen zwischen der schweizeri9
Auskunft von Pror A Berenstein.
10 Säle 10400-10452, Bureau International du Travail, Section des Archives, Geneve, fortan abgekOrzt als BIT mit nachfolgender Signatur.
11
BIT NGO 2-01-68 (0-14)
12 BIT Cabinet Albert Thomas (CAT), Dossiers nominaux de correspondance. Der in Paris vorhandene Fonds Albert Thomas (AN 94 AP) enthält - soweit aus dem noch nicht vollständigen Inventar ersichtlich - kein Material zur internationalen Vorkrieg.-;sozialpolitik. 13 Der Nachlaß Pror St. Bauer (SWA Handschriften 417 E 15) wurde nur zum Nachweis transnationaler Kontakte verwendet. Zur Strukturierung des Nachlasses vgl. Marie-Marceline Kurmann, Erste Betrachtungen zur Biographie Stephan Bauers (1865-1934), Seminararbeit UniversitAt Bem, Bem 1986 (Manuskript).
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A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
schen Regierung und dem Basler Arbeitsamt blikation der Konferenzprotokolle besorgt 15.
14.
Zudem war Bern für die Pu-
Die private Konstituierung internationaler Sozialpolitik auf der Ebene transnationaler Kontakte sind dagegen schwierig zu dokumentieren. Immerhin wurden die Unterlagen des Zürcher Kongresses gedruckt 16. Da die Aktivisten internationaler Sozialpolitik sich auffallend häufig im Rahmen der Weltausstellungen trafen und die Konstituierung der IVGA schließlich an der Pariser Weltausstellung erfolgte, wurden die offiziellen Ausstellungsbestände beigezogen, ohne daß allerdings das umfangreiche Aktenmaterial vollständig gesichtet werden konnte 17.
2. Bestände zur Sozialpolitik der Dritten Republik Der Umstand, daß eine von den meisten europäischen Regierungen subventionierte Zentralstelle für internationale Sozialpolitik bestand, bevor nationale sozialpolitische Verwaltungseinheiten geschaffen wurden, sorgte von vornherein für archivtechnische Probleme. In Frankreich werden diese Schwierigkeiten durch den Umstand verstärkt, daß die Struktur des 1906 gegründeten
14 BAR E 23, Arbeitenchutz und Bildungswesen, 1-5. Zwei wichtige, die Einberufung der Konferenz von 1905 und 1913 betreffende Dokumente dieses Bestandes wurden auch in den Diplomatischen Dokumenten der Schweiz 1848-1945, Bd. 5, Bern 1983 publiziert (Nr. 58, Nr. 354). Bei der Zitierung wird fortan auf den Verweis E (Akten des Bundesstaates) verzichtet. 15 Die Schweiz war auch an der Berliner Konferenz mit der ProtokolJfi1hrung beauftragt worden. Diese Protokolle sind daher auch im Schweizerischen Bundesblatt (fortan abgekürzt als SBB) greifbar. Vgl. Bericht des Bundesrathes an die Bundesversamm\ung, betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz, in: SBB 1890, Bd. 3, Bern 1890, S. 685ff. Zu den Konferenzen von 1905/06 vgl. Internationale Konferenz fiIr Arbeitenchutz, Protokoll Nr. 1-5, sowie Schlussakte der internationalen Konferenz filr Arbeitenchutz, in: SBB 1905, Bd. 4, S. 628ff. Actes de la Conference Diplomatique pour la protection ouvriere reunie a Beme du 17 au 26 septembre 1906, Beme 1906. Actes de la ConfCrence Internationale pour la protection Ouvriere, Reunie a Beme du 15 au 25 Septembre 1913, Beme 1913.
16 Congres International pour la protection ouvriere aZurich du 23 au 28 Aout 1897, Circulaire du Comite d'organisation, Rapports et propositions, Liste provisoire des participants au congres, Zurich 1897. 17 BAR E 14, Ausstellungen und Kongresse: 14/27: Weltausstellung in Paris 1889, Gruppe XVI, Staatssozialismus. 14/42: Weltausstellung in Paris, Allgemeines 1895-1900. 14/46: Weltausstellung 1900 in Paris, Hygiene und öffentliche Wohlfahrt. 14/73: Internationaler Kongress filr Arbeitenchutz, Zürich 1897. 14174: Internationale Kongresse anI. der Weltausstellung in Paris 1900. 14177: Bern, internationale Konferenz filr Arbeitenchutz 1905. Archives du Ministere des Affaires Etrangeres: Direction des Affaires Commerciales et Consulaires, Expositions 1900: 486-488.
III. Quellenbestlnde zur Darstellung internationaler Sozialpolitik
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Ministere du Travail mehrmals verändert 18 und große Aktenbestände zerstört wurden 19. Der Bereich der internationalen Sozialpolitik läßt sich in den zentralen Archiven - auf den Beizug regionaler Administrationen wurde verzichtet - nur schwer dokumentieren. Zwar fand sich ein Hinweis auf ein "Dossier association pour la protection legale des travailleurs" 20, ohne daß der dazugehörige Bestand aufgefunden werden konnte. Die Korrespondenz der Direction du Travail gab dennoch einigen Aufschluß über die Verbindungen der sozialpolitischen Administration zur IVGA 21. Das Ministerium selbst verwaltet nach wie vor seine eigenen Archivbestände, die bis in die Vorkriegszeit zurückreichen. Allerdings fanden sich keine Hinweise auf Quellen unseres Themenkreises. Die internationale Sozialpolitik fiel bis zur Gründung des Arbeitsministeriums in den Kompetenzbereich des Handelsministeriums. Der diesem Ministerium zugehörige Bestand F 12 enthielt, so weit ersichtlich, keine die IVGA betreffenden Unterlagen. Das Handelsministerium konnte aber verdiente Bürger zur Aufnahme in die Ehrenlegion vorschlagen und verfügte deshalb über einen großen Bestand an Personaldossiers, die wiederum Rückschlüsse auf einige Aktivisten internationaler Sozialpolitik erlaubten 22. Die Suche nach Materialien zu den internationalen sozialpolitischen Konferenzen fiihrte aus naheliegenden Gründen auch ins Archiv des Außenministeriums. Wiederum erschwerten Strukturveränderungen die Recherchen, da 1901 ein neues Archivierungsprinzip 23 eingefiihrt wurde. Die überdies ausgelagerte Correspondance interministerielle reichte nur bis zum Jahr 1901 und die vielversprechende serie C, Administrative 1876-1907, beinhaltete nur
18 Etienne Guillemot / Suzanne CLemencet-Vine, Etat sonunaire des versements des rninisti:res - F 22 Ministi:re du Travail et Securite sociale, Vol. IIU2, Paris 0.1., S. 239. 19 Eine geregelte Archivübergabe fmdet erst seit 1928 statt. BestAnde der Kabinettsakten wurden beispielsweise während der Besatzungszeit als Heizmaterial verwendet Tournerie, S. 195.
20 Der Hinweis fand sich in einem Inventar der ausgebenden Post des Bureau de I'Office du Travail (AN F 22 639). 21 AN F 22 300-303, Correspondance de la Direction cl du Ministi:re du Travail, 442/443 (Travail de nuit de fernmes), 473 (Securite des travailleurs), 528 (Phosphore), 334 (Projet de loi relatif a la reglernentation du travail). 22 AN F 12 5146ff, F 12 8492ff, Norninations dans l'ordre de la Legion d'Honneur sur la proposition du Ministre de I'Industrie et du Commerce. 23 Les Archives du Ministi:re des relations exterieures depuis les origines, ed. Ministi:re des Relations Exterieures, Tome I et 2, Paris 1985.
48
A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
wenige brauchbare Hinweise 24. Einige die Konstituierungsphase der IVGA und die Berliner Konferenz betreffende Spuren ließen sich in der Serie Affaires div. Comrnerciales sowie in den diplomatischen Berichten aus den Botschaften Italiens und der Schweiz feststellen 25. In den Nachlässen von Millerand, Barrere und Bourgeois fanden sich dagegen keine weiteren Hinweise. Der in den Archives Nationales eingelagerte Nachlaß von Max Lazard, dem Begründer der mit der IVGA fusionierten Association internationale pour la lutte contre le chömage präsentierte schließlich eine einigermaßen solide Quellenbasis. Im 186 Schachteln umfassenden Fonds Max Lazard 26 befinden sich die Überreste des Vereinsarchivs der ANF 27. Die französische Sektion der IVGA gab zudem eine reichhaltige Publikationsreihe heraus. Die darin aufgegriffenen Themen stellten zugleich das Haupttraktandum der jeweiligen Mitgliederversammlung der ANF dar, so daß die anschließenden Debatten auch veröffentlicht wurden 28. Der Einfluß von IVGA und ANF auf die französische Sozialgesetzgebung fand seinen Niederschlag in den leicht zugänglichen Parlamentsdebatten und den dazugehörigen Unterlagen 29. Die ungedruckten Protokolle der parlamentarischen Commission du Travail 30 erlauben wichtige Rückschlüsse auf die Möglichkeiten sozialpolitischer Internationalisierungsstrategien. Die Vielzahl der in der Vorkriegszeit diskutierten Projekte zur Sozialgesetzgebung verlangte ein paradigmatisches Verfahren. Das Projet de loi relatif ä la reglementation du travail erwies sich dabei als besonders aufschlußreiches und von der parlamentarischen wie von der administrativen Seite gut dokumentiertes Beispiel 31. 24 Ministere des Affaires Etrangeres (fortan abgekOrzt als MdAE), C 2124 enthält unter "Projet d'Office international pour la protection du travail" gerade einen einzigen Bericht des französischen Konsuls in ZOrich. 25 MdAE, Affaires diverses commerciales, bes. Direction des Affaires Conunerciales et Consulaires. Italie, Politique etrangere, relations avec la France, NS 19. Suisse, Socialisme et Questions sociales 1897-1914, NS 20.
26
Sandra Dab verfaßt zur Zeit eine Dissertation ober Max Lazard.
27
AN 6 AS 141-143.
28
Zur Publikationsreihe der ANF vgl. das entsprechende Kapitel der Bibliographie.
29 France,
Journal Officiel, 1902-1914, fortan abgekOrzt als JO.
30 AN serie C pariementaire. C 5673/2763: Chambre des Deputes, Commission du Travail, Vol. 1IV (9.11.1898-nov.I902), C 733812934-35: Commission du Travail 1902-1905, C 7414: Commission du Travail, 1906-1910, C 7486: Conunission du Travail, 1910-1914. 31
Unterlagen zu dieser Vorlage fmden sich auch unter AN F 22 334
III. Quellenbestlnde zur Damellung internationaler Sozialpolitik
49
Auf den Beizug weiterer Vereinsquellen wurde dagegen weitgehend verzichtet. Die ANF pflegte zwar enge Kontakte zum Musee social, in dessen Gebäude die französische Sektion auch untergebracht war. Die vom Musee social herausgegebenen Periodika wurden berücksichtigt, auf die Institution selber aber nicht eingegangen 32. Die bemerkenswerte Zunahme sozialpolitischer Literatur in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist auch in Frankreich festzustellen. Eine Flut von Broschüren und Periodika deckten Mikrobereiche sozialpolitischer Fragestellungen ab. Berücksichtigt wurden vor allem jene französischen Periodika, die die internationale Entwicklung reflektierten. Die beiden ANF-Mitglieder Paul Pic und Justin Godart bemühten sich mit der Herausgabe der Zeitschrift "Questions pratiques de la legislation ouvriere et d'Economie sociale" 33 um eine regelmäßige Berichterstattung über den Stand des sozialpolitischen Internationalisierungsprozesses. Die allerdings erst 1911 gegründete Zeitschrift "Le Parlement et I'Opinion" 34 rezipierte die Aktivitäten der ANF und publizierte auszugsweise deren Debatten. Die Zeitschrift hatte sich zudem auf die parlamentarische Umsetzung sozialpolitischer Forderungen spezialisiert und deckte damit einen wesentlichen Aspekt der für diese Thematik zu leistenden Öffentlichkeitsarbeit ab. Die renommierte "Revue politique et parlementaire" 3S, eine der bedeutendsten politischen Zeitschriften Frankreichs, lieferte dabei die Gegenprobe zur Öffentlichkeitswirksamkeit sozialpolitischer Themen. Dabei wurde festgestellt, daß sich unter den Autoren dieser Zeitschrift zahlreiche ANF -Mitglieder befanden. Der transnationale Diskurs beschränkt sich nicht auf die gouvernementalen Kontakte und auch nicht auf die nationalen Auswirkungen der Internationalisierungsstrategien. Um wenigstens ansatzweise die französische Entwicklung aus der Außensicht eines auf diese Thematik sensibilisierten Betrachters darstellen zu können, wurde die "Soziale Praxis" 36 beigezogen. Diese Zeitschrift gehörte zu den "herausragenden Erscheinungen auf dem Presse markt des kai-
32 Le Mus6e social, Circulaires, serie A et B (1896-1898), Le Mus6e social, Annales (1902-1914), Le Mus6e social, Memoires et Documents (1902-1914), Le Mus6e social, ed. Bibliotheque du Musee social, Paris 19001[ 33
QuestiOlL'l pratiques de legislation ouvriere et d'Economie sociale, Paris 190 1I[
34
Le Parlement et l'Opinion, Paris 1911 I[
3S
Revue politique et parlementaire, Paris 19001[ Fortan abgekGrzt als RPP.
36 Soziale Praxis, Centralblatt filr Sozialpolitik (Neue Folge der "Blltter filr soziale Praxis" und des "Sozialpolitischen Centralblatts"), Leipzig 18971[ 4 Herren
50
A Sozialpolitik in der Zeit vor dem Ersten We1tkrieg
serlichen Deutschland" 37 und pflegte ein nahes, wenn auch nicht formalisiertes Verhältnis zur IVGA 38.
37 Ratz,
S. 68.
38 Die Soziale Praxis war faktisch, wenn auch nicht offizien, das Vereinsorgan der deutschen Sektion der IVGA ibo S. 67.
B. Internationalisierungsbestrebungen vor der Gründung der IVGA Der Gründung der IVGA ging eine lange Konstituierungsphase voraus. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts verdichteten sich die vonnals in einzelnen Projekten auftretenden Internationalisierungsbestrebungen zu einer auf mehreren Ebenen gefiihrten Debatte. Internationale Sozialpolitik wurde zum einen von der sich als Wissenschaft profilierenden Nationalökonomie beansprucht. Liberale Ökonomen der alten Schule und die um ihre wissenschaftliche Reputation kämpfenden Staatsinterventionisten bedienten sich dieses Themas. Die einen, um mit dem Hinweis auf die internationale Konkurrenz Sozialpolitik als nationale Gefahr darzustellen, die anderen, um mit greßZÜbergreifenden Konzepten die Beruhigung eben dieser Konkurrenz zu versprechen. Diese Debatte verlief in der traditionellen Fonn eines greßZÜbergreifenden Diskurses und wurde als Literaturstreit, an wissenschaftlichen Kongressen und Zusammenkünften im nationalen wie im internationalen Kreis gefiihrt. In den achtziger Jahren brachte die schweizerische Regierung eine zweite, offizielle Ebene ein. Bern strebte die Zusammenkunft einer Staatenkonferenz an und beabsichtigte die Schaffung einer internationalen sozialpolitischen Zentralstelle. Die Schweiz orientierte sich bei diesem Vorgehen an den bereits in Bern ansässigen internationalen Organisationen. Ein dritter Impuls ging von der parlamentarischen Ebene aus. Die internationale Organisation der Sozialdemokratie regte auch bürgerliche Parteien zur greßZÜbergreifenden Zusammenarbeit an. Internationale Sozialpolitik konnte dabei beide Aspekte annehmen und die Fonnierung einer bürgerlichen Gegeninternationale anstreben, aber auch den Versuch darstellen, dem rechten Flügel der Sozialdemokratie ein neues und ebenfalls internationales Identifikationspotential anzubieten. Dennoch dauerte es Jahrzehnte, bis schließlich die IVGA als Kompromißlösung gegründet wurde. Der langwierige Institutionalisierungsprozeß läßt sich unterschiedlich begründen. Zum einen bedingte die Wandlung des liberalen Noninterventionsstaates in den modemen Wohlfahrtsstaat einen tiefgreifenden politischen Paradigmenwechsel. Sozialpolitische Internationalisierungsstrate-
B. Intemationalisienmgsbestrebungen vor der Gründung der IVGA
52
gien unterstützten diesen Umbruch und waren gleichzeitig von dessen Schwierigkeiten geprägt. Zum anderen lassen sich zwar sozialpolitische Aktivitäten mit internationalem Programm feststellen. Allerdings konnten sich weder die offiziellen, der traditionellen Diplomatie oftmals widersprechenden Bemühungen durchsetzen noch die vergleichsweise kleinen und elitären Kreise kosmopolitisch orientierter Parlamentarier und Nationalökonomen. Eine Institutionalisierung sozialpolitischer Anliegen auf internationaler Ebene gelang erst, als eine greozübergreifende Öffentlichkeit an den Weltausstellungen auf das Phänomen aufmerksam gemacht werden konnte und die im Entstehen begriffenen sozialpolitischen Administrationen der europäischen Staaten transgouvernementale Kontakte zu knüpfen begannen.
L Intemationalisierungsbestrebungen von den ausgehenden siebziger Jahren bis zur Einberufung der Berliner Konferenz 1. Internationale Sozialpolitik als Wissenschaftsbereich
Der junge Nationalökonom Georg Adler veröffentlichte 1888 in den renommierten "Annalen des deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik" einen vielbeachteten Aufsatz über die Notwendigkeit einer internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung I. ZU diesem Zeitpunkt bedurfte das Thema bereits einer wissenschaftsgeschichtlichen Einleitung. Adler griff auf die Ideen des elsässischen Industriellen Daniel Le Grand und die frühe Schutzgesetzgebung des Kantons Glarus zurück. Dieser die Bemühungen Blanquis 2 nicht erwähnende Ansatz entwickelte sich zur gängigen Darstellung internationaler Sozialpolitik. Der Bundesrat sollte der Diplomatenkonferenz von 1906 eine dem gleichen Konzept verpflichtete historische Einleitung vorausschicken 3. Sympathisanten der IVGA betonten nach deren Gründung die Leistungen der englischen Schutzgesetzgebung. Das als Beginn staatlicher Sozialpolitik gefeierte Kinderschutzgesetz von 1802 4 und die Bemühungen I Dr. Georg Adler, Der internationale Schutz der Arbeiter, in: Annalen des deutschen Reiches ftlr Gesetzgebung, VetWaltung und Statistik, hrsgg. Dr. G. Hirth / Dr. M. Seydel, Leipzig 1888, S. 465-
577.
2 Vg1. [wao Frederick Ayusawa, International Labor Legislation, in: Studies in History, Economics and Public Law, ed. by Faculty of political science of Columbia University, Vol. XCI, No 2, New York 1920, S. 23.
3 Actes de la Conference 1906, S. 9. 4 E. Mahaim, Union internationale pour la protection legale des travailleurs, in: Congres international pour la protection legale des travailleurs, hrsg. Ministere du Commerce, Paris 1900.
I. Intemationalisierungsbestrebungen bis zur Berliner Konferenz
53
von Robert Owen 5 sollten den zurückhaltenden Briten den Zugang zur internationalen Sozialpolitik ebnen. Eine über sozialpolitische Einzeltaten hinausgehende "sozialreformerische Epoche" 6 setzte nach Adlers Darstellung erst im Zuge der "Großen Depression" ein und fällt mit dem" Aufstieg des kollektivistischen Protektionismus" 7 zusammen. Der sozialpolitische Diskurs erscheint demnach als Ausdruck jener Veränderungen, die Rosenberg als ein "unter dem Impuls des langen Abschwungs der Konjunktur sich durchsetzende(r) Strukturwandel der wirtschafts- und sozialpolitischen Gedankenwelt" 8 beschreibt. Sozialpolitische Intemationalisierungsstrategien wurden zu diesem Zeitpunkt von unterschiedlichen Schulen gefordert. Die Kathedersozialisten, aber auch christliche Sozialreforrner, die sich in der 1878 von Vogelsang herausgegebenen "Oesterreichischen Monatsschrift für Gesellschaftswissenschaft und christliche Sozialreforrn" 9 äußerten, prägten die Debatte, ohne daß sich eine Unite de doctrine durchsetzen konnte 10. Die Diskussion gewann in den achtziger Jahren zunehmend an politischer Brisanz. Sozialreformerische Nationalökonomen hatten bisher am britischen Beispiel die These bestätigen können, daß die durch Arbeitszeitverkürzungen und Arbeiterschutzmaßnahmen verursachten Kosten durch die Verbesserung der Mechanisierung aufgefangen werden konnten. Zehn Jahre später war eine zur Untersuchung englischer Exportschwierigkeiten eingesetzte Kommission zu ganz anderen Schlüssen gekommen 11. Der Kommissionsbericht stellte fest, daß die britischen Exportschwierigkeiten auf die indische Textilindustrie zurückzufiihren seien, die mit Frauen- und Kinderarbeit billigere Produkte herstellte. Adler ortete einen Teufelskreis: Da nationale Schutzbestimmungen offenbar zu Exportschwierigkeiten führten, war eine vom Modernisierungsgrad unabhängige Erhöhung der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu befürchS Karl-Heinz Metz, Industrialisierung und Sozialpolitik, Das Problem der sozialen Sicherheit in Großbritannien 1795-1911, GöttingenlZOrich 1988, S. 53.
6 Adler, 7 Hans
8 ibo 9
S. 573.
Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967, S. 781I
S. 80.
Gerhard Silberbauer, Oesterreichs Katholiken und die Arbeiterfrage, Wien/KölnlGt"az 1966,
S.85.
10 Reichesberg, S. 133, Adler, S. 531. 11 Reports ofthe Royal Commission appointed to inquire into the Depression ofTrade and Industry, zit. nach Adler, S. 494.
54
B. Internationalisierungsbestrebungen vor der Grilndung der IVGA
ten, die wiederum zur Erschöpfung menschlicher Ressourcen und zu Produktivitätsverlusten führen mußte. Adler empfahl daher in seinem vielbeachteten Aufsatz internationale sozialpolitische Absprachen, denen die Bedeutung einer umfassenden Konfliktlösungsstrategie beigemessen wurde. Mit diesem interventionistischen Instrumentarium sollte verhindert werden, daß hochentwickelte Industriestaaten mit kurzer Arbeitszeit zu Lohnkürzungen greifen mußten, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Sozialpolitische Regelungsmechanismen sollten aber auch Konjunkturzyklen ausgleichen, Überproduktion und Absatzkrisen verhindern und durch die Festsetzung eines international geltenden Zehnstundentages Arbeitslosigkeit vermeiden. Adlers Konzept war daher nicht auf die Regelung der Frauen- und Kinderarbeit beschränkt. Er empfahl die Festsetzung eines Maximalarbeitstages und wollte sozialpolitische Maßnahmen nicht nur auf den Bereich der Industriearbeit beschränkt wissen 12. Adlers Thesen gingen allerdings selbst dem interventionsfreundlichen Verein für Sozialpolitik zu weit. Der zum Korreferent berufenen Industrielle Dr. Franck zweifelte an der Wirksamkeit europäischer Schutzbestimmungen, die die chinesische, japanische und indische Konkurrenz nicht eindämmen könnten. Adler wehrte sich mit einer Zuspitzung von Francks Bedenken: "Damit unsere Industrie in ihrer Konkurrenzfahigkeit sich erhalten kann, muß unser Arbeiter erst auf das Niveau des italienischen Proletariers und dann auf das des indischen und chinesischen Kuli herabgedrückt werden" 13. Immerhin wies Francks Kritik auf eine Schwachstelle in Adlers Darlegungen. Das integrative Konzept konfliktregulierender Maßnahmen blieb auf die sogenannten 'Kulturstaaten' beschränkt, die sich durch eine Zollmauer gegen die außereuropäische Konkurrenz schützen sollten 14. Strikte Interventionsgegner griffen den gleichen Punkt auf. Der Pariser Ökonom Leroy-Beaulieu, von Schumpeter jener Gruppe zugeordnet, die "unbeirrt der bereits sinkenden Fahne des bedingungslosen Freihandels und des laissez-faire die Treue (hielten)" 15, rezipierte Adlers Artikel in seinem Werk "L'Etat modeme et ses fonctions" 16. Auch hier wurde mit einern kulturpessimistischen und rassistischen Ansatz vor einer internationalen Schutzge12
ibo S. 515.
13
ibo S. 543.
14 ibo
S. 570.
15 Joseph
A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. 11, Göttingen 1965, S. 127.
16 Paul Leroy-Beaulieu,
L'Etat modeme et ses fonctions, Paris 1890.
I. IntemationaIisierungsbestrebungen bis zur Berliner Konferenz
55
setzgebung gewarnt und die Gefährdung der westlichen Zivilisation beschworen 17. Leroy-Beaulieu wollte die Internationalisierungsdebatte nicht als ökonomisches, sondern vielmehr als politisches Problem behandelt wissen. Er betonte die Unvereinbarkeit zwischen sozialpolitischen Maßnahmen und dem modemen, auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhenden Staat. Politische Mündigkeit und wirtschaftliche Schutzbedürftigkeit wurden als unaufhebbarer Widerspruch, Sozialpolitik als undemokratische und letztlich deutsche Idee diffamiert 18.
2. Offizielle Vorschlage zur zwischenstaatlichen Regelung sozialpolitischer Maßnahmen
1881 verdichteten sich die sozialpolitischen Internationalisierungsforderungen erstmals zu einem offiziellen Vorstoß. Die schweizerische Regierung beauftragte ihre Vertreter in Paris, Berlin, Wien, London und BIiissel, sich darüber zu informieren, ob man geneigt sei, "zu einem internationalen Übereinkommen betreffend die Arbeit in den Fabriken Hand zu bieten" 19. Diese Aktion erfolgte primär aus innen- und wirtschaftspolitischen Überlegungen. Im Zuge der 1877 erfolgten Verabschiedung des schweizerischen Fabrikgesetzes verlangten Textilindustrielle und Linksliberale zur Wiederherstellung schweizerischer Konkurrenzfähigkeit eine Internationalisierung der sozialpolitischen Auflagen 20. Der abtretende Nationalsratspräsident Oberst Emil Frey, der sich zu einem späteren Zeitpunkt in der schweizerischen Sektion der IVGA engagierte, hatte bereits am 5. Juni 1876 im Parlament den Abschluß internationaler Verträge zur Regulierung der Arbeiterverhältnisse in allen Industriestaaten gefordert 21. Er wiederholte sein Anliegen am 9. Dezember 1880 und reichte eine Motion ein, die den Bundesrat verpflichtete,
17 ib. 18
S. 353.
ibo S. 16, S. 344.
19 Zit in: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversanunlung. betreffend die Frage internationaler Regelung des Arbeitenchutzes und die Berliner Konferenz, SBB 1890, Bd3, S. 696.
20 Auch Adler unterstreicht die Bedeutung des Fabrikgesetzes, (Adler, S. 539). Zum schweizerischen Fabrikgesetz vgl, Gruner / Wiedmer, Bdl, S. 307. 21 N. Reichesberg, Der internationale Arbeiterschutzkongress in Paris, Schweizerische Vereinigung zur Förderung des internationalen Arbeiterschutzes, Heft 2, Bem 1900, S. 3.
56
B. Intemationalisierungsbestrebungen vor der Gründung der IVGA
"mit den hauptsächlichsten Industriestaaten Verhandlungen anzuknüpfen behufs Anbahnung einer internationalen Fabrikgesetzgebung" 22. Doch die daraufhin eingeleitete diplomatische Aktion scheiterte. Wien und Rom zeigten sich interessiert, London, Paris und Berlin lehnten ab 23. Immerhin bestätigte die französische Antwort, daß die Schweiz als Initiantin derartiger Aktivitäten anerkannt wurde. Der Kabinettschef des Handelsministeriums erinnerte an die von der Schweiz unternommene "initiative d'internationaliser les secours aux blesses, les postes, les telegraphes. .. mais il ne faudrait pas aller trop loin ni trop vite de cette voie, parce que toutes les idees ne sont pas egalement mures partout" 24.
Die Aktion von 1889 Acht Jahre später unternahm der Bundesrat einen weiteren Versuch, eine internationale Konferenz mit sozialpolitischer Ausrichtung einzuberufen. Das Unte.nehmen scheiterte diesmal nicht am Programm, sondern daran, daß der deutsche Kaiser aus innenpolitischen Gründen auf der Einberufung einer Arbeiterschutzkonferenz bestand, die 1890 in Berlin eröffnet wurde. Die erste internationale Arbeiterschutzkonferenz fand demnach nicht in der Schweiz statt. Dennoch war das Zustandekommen der Berliner Konferenz letztlich das Resultat schweizerischer Vorarbeiten, die diesmal breiter abgestützt waren als 1881: Die politischen Rahmenbedingungen förderten das Unternehmen. In Deutschland begünstigte der Thronwechsel und die Spannungen zwischen Kanzler und Kaiser die sozialpolitischen Internationalisierungsbestrebungen 25. In Frankreich hatte sich das innenpolitische Klima nach dem Sturz Ferrys, der raschen Folge sich ablösender Regierungen und der BoulangerAffäre dermaßen verschärft, daß wieder - wie in den frühen siebziger Jahren sozialpolitische Stabilisierungsmaßnahmen begrüßt wurden. Dennoch bietet 22 Motion Frey, zit in: Bericht des Bundesrathes, S. 693. 23
Zu den Berichten der schweizerischen Vertreter vgl. BAR 23/1.
24 Legation
de Suisse en France, Paris 20.5.1881, BAR 23/1.
2:1 Zur Rolle der Arbeiterschutzkonferenz bei Bisrnarclcs Entlassung vgl. E. Gagliardi, Bisrnarcks Entlassung, Bd. 1, TObingen 1927, S. 144ft:
I. Internationalisicrungsbestrebungen bis zur Berliner Konferenz
57
der Wechsel des politischen Klimas keine hinreichende Erklärung fiir das Gelingen des von der Schweiz vorgeschlagenen Internationalisierungskonzeptes. Vielmehr unterschied sich die Aktion von 1889 in zwei wesentlichen Punkten von dem 1881 mißlungenen Projekt: zum einen stand ein thematisch redimensioniertes Programm zur Debatte, zum anderen wurde dieses Unternehmen von einer breiteren, transnational mobilisierten Öffentlichkeit gestützt. Das Vorgehen des Bundesrates wurde von einer 1887 eingereichten Motion der beiden Nationalräte Decurtins und Favon bestimmt, die diesen zweiten schweizerischen Vorstoß nicht nur initiierten, sondern auch inhaltlich prägten 26. Das Industriedepartement hatte im Sommer 1888 Decurtins beauftragt, ein Memorial zu verfassen 27, das im Februar 1889 vorlag und das weitere Vorgehen bestimmte. Decurtins legitimierte sein Programm mit den zunehmenden Arbeiterschutzforderungen 28 und präsentierte ein Projekt, das insbesondere auf die Festsetzung eines Normalarbeitstages verzichtete. Es ging nunmehr um die Festsetzung eines Minimalalters fiir die in Fabriken und Minen beschäftigten Kinder, um ein Verbot der Nachtarbeit fiir Frauen und Jugendliche, um ein Frauenarbeitsverbot in gefährlichen Industriezweigen, um ein Verbot der Sonntagsarbeit und die Einfiihrung eines Maximalarbeitstages fiir jugendliche Arbeiter 29. Der Bundesrat übernahm Decurtins Programm mit geringen Änderungen 30 und war im beigefügten Rundschreiben um eine politische Entschärfung des Konferenzvorhabens bemüht. Man sprach nicht mehr länger von einem Kongreß, sondern nunmehr von einer Konferenz 31, die bloß unverbindliche Vorschläge unterbreiten sollte. Das Programm mußte nicht als Gesamtpaket verabschiedet werden, der Bundesrat war auch bereit, Spezialkonventionen zu unterstützen. Zudem wurden die vorgeschlagenen Reformen als Minimalvorschriften verstanden, die allein über die nationale Gesetzgebung geregelt werden sollten.
26
SBB 1890, Bd.3, S. 700.
27 Geschäftsfiihrungsbericht ober das
Jahr 1888, zit nach ibo S. 702.
2S Decurtins verwies u.a. auf Adlers Scluift. Memorial von Herrn Nat Rath Dr. Decurtins ober internationale Arbeiterschutzgesetzgebung 12.2.1889, S. 83, BAR 23/1. 29
Memorial Decurtins, zit. nach SBB 1890, Bd.3, S. 703.
30 Das offizielle Programm enthielt - neben den Ausfiihrungsbestinunungen - zudem ein Verbot der Beschäftigung Jugendlicher in geßhrlichen Betrieben. Bericht des Bundesrathes, S. 706.
31 Zum unterschiedlichen politischen Gewicht von K~erenz und Kongreß vgl. Winfried Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, Darmstadt 1987, S. 8.
58
B. Intemationalisierunl!$bestrebungen vor der Grilndung der IVGA
Diese Forderungen wurden nun erstmals von einer transnationalen Aktion unterstützt. In den meisten europäischen Parlamenten 32 traten sowohl Vertreter katholischer als auch linksliberaler Parteien fiir den Vorstoß des Bundesrates ein 33. Schließlich setzte sich die älteste und größte transnationale Organisation, die katholische Kirche, fiir das schweizerische Internationalisierungskonzept ein 34. Die offiziellen Reaktionen fielen denn auch vielversprechend aus, diesmal lehnte nur Russland ab. Der französische Außenminister bestätigte dagegen vor der Deputiertenkammer, daß dem schweizerischen Gesandten das große Interesse Frankreichs an einer derartigen Arbeiterschutzkonferenz mitgeteilt worden sei 35. Trotz dieser günstigen Kehrtwendung der 1881 noch strikt antiinterventionistischen Haltung der französischen Politik gelang es nicht, die Konferenz wie geplant 1889 in Bern stattfinden zu lassen. Der Bundesrat kündigte im Sommer 1889 in einer Zirkularnote die Verschiebung der Konferenz an. Man brauche mehr Zeit, um ein detailliertes Programm ausarbeiten zu können 36. Nun hatten Großbritannien und Italien tatsächlich schwerwiegende Vorbehalte angebracht, und nur Belgien, Portugal, Oestereich-Ungarn, Frankreich und Luxemburg wollten vorbehaltlos zustimmen 37. Das Konferenzprogramm hätte demnach wohl noch einmal entschärft werden müssen. Dennoch war die Konferenz nicht an ihrer brisanten Thematik, sondern an den als Wohlgemuth-Handel bekannt gewordenen außenpolitischen Spannungen zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich gescheitert 38. Diese Spannungen hatten das Unternehmen allerdings nur verzögert, aber nicht gefahrdet. Das Industriedepartement stellte nämlich bereits im Januar 1890 eine Verbesserung der politischen Lage fest und legte ein an Decurtins Vorschlägen orientiertes Konferenzprogramm vor 39. Danach jagten sich die 32 E. Cheysson, La Ugislation internationale du Travail, S. 6, in: Exposition universelle de 1889, Congres international du Commerce et d'Industrie, Rapport presente sur la demande du Comite d'organisation, MdAE, Aff. div. comm., A1lemagne 296, Conference ouvriere de Berlin 1890. 33 In Paris engagierten sich Lyonnais und Comte de Mun filr den bundesr!t1ichen Vorstoß. JO, Chambre des Deputes, 17.5.1889, S. 996. 34
VgJ. Cheysson, Annexe 3, S. 27.
35
JO, Chambre des Deputes, 17.5.1889, S. 996.
36
Zirkularnote vorn 12.Juli 1889, zit. nach Bericht des Bundesrathes, S. 712f.
37 Das Deutsche Reich, Spanien, DAnernarlc, Schweden und Norwegen hatten sich nicht geäußert. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrathes, 12. Juli 1889, BAR 23/1. 38 Ein deutscher Polizeispitzel war in der Schweiz verhaftet und ausgewiesen worden. Als Folge davon drohte Bisrnarck mit einer Wirtschaftsblockade und gar mit der Aufhebung der NeutralitAtsgarantie. R. Ruffieux, Die Schweiz des Freisinns, in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Bd. 111, Red. B. Mesmer, Basel 1983, S. 69. 39
Industrie- und Landwirthschaftsdeparterne an den Bundesrat, 16.1.1890, BAR 23/1.
1. Intemationalisienmgsbestrebungen bis zur Berliner Konferenz
59
Ereignisse mit einer fiir sozialpolitische Belange ungewohnten Hektik. Am 28. Januar 1890 beschloß der Bundesrat, die Einladungen zu einer Arbeiterschutzkonferenz zu erneuern. Die entsprechenden Unterlagen wurden am 5. Februar verschickt, und einen Tag später nahm man in Bern zur Kenntnis, daß der deutsche Kaiser nun seinerseits zu einer derartigen Konferenz einlud 40.
3. Sozialpolitik und Offentlichkeit
Die bundesrätliche Intervention von 1889 wurde, wie wir bereits festgestellt haben, von transnationalen Aktivitäten begleitet. Adler betrachtete die Mobilisierung der Öffentlichkeit als wesentliche Vorbedingung zur Institutionalisierung internationaler Sozialpolitik und räumte deshalb 1888 den bundesrätlichen Aktivitäten nur wenig Chancen ein. Die öffentliche Meinung sei "noch nicht in dem Grade interessirt, daß sie einen unwiderstehlichen Druck auf die Leiter ihrer Geschicke ausüben könnte" 41. Eine "internationale(.. ) Öffentlichkeit" 42 müsse erst noch geschaffen werden. Adlers Einschätzung sollte sich letztlich bestätigen, denn der Weg zur Berliner Konferenz wurde von einer transnationalen Aktion begleitet. 1889 hatte sich eine Gruppe von Parlamentariern gebildet, die mit parallel geführten Interventionen die Internationalisierungspolitik unterstützte. Damit hatte das Spezialgebiet 'Sozialpolitik' den engen Kreis der Experten verlassen. Doch erst die in immer kürzeren Abständen eröffneten Weltausstellungen boten den Zugang zu einem ebenso breiten wie internationalen Publikum. Die Entwicklung, die von der Präsentation sozialpolitischer Spezialausstellungen begleitet wurde, ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert, auch wenn sich die folgenden Ausführungen auf das Beispiel der französischen Weltausstellungen beschränken.
Die Weltausstellungen als Forum einer transnationalen Öffentlichkeit Erstens gelang an den Weltausstellungen die Visualisierung eines an sich sehr abstrakten Themas, ohne daß sich Popularisierung und Wissenschaftlichkeit gegenseitig ausschlossen. Die französischen Staatsinterventionisten 40
Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrathes, 7. Februar 1890, BAR
41
Adler, S. 571.
23/1.
42 ibo S. 577.
60
B. Intemationalisierungllbestrebungen vor der Grilndung der IVGA
schrieben dem Ausstellungsbereich Economie sociale vielmehr eine wichtige Funktion im wissenschaftlichen Diskurs zu. eharles Gide nutzte seinen Bericht über den sozialpolitischen Teil der Weltausstellung von 1900, um auf die Trennung zwischen Economie politique und Economie sociale zu verweisen. Während die Economie politique sich auf naturrechtlicher Basis mit den Beziehungen "entre les hommes et les choses" auseinandersetze, beschäftige sich die Economie sociale demnach mit den Realitäten des Alltagslebens. Es gehe um die unterschiedlich geregelten Beziehungen zwischen den Menschen, "en vue de s'assurer une vie plus facile, un lendemain plus certain, une justice plus bienveillante et plus haute que celle qui porte pour tout embleme les balances du marchand" 43. Zweitens zelebrierten und symbolisierten die Weltausstellungen den Glauben an Modeme und Fortschritt. Sozialpolitik wurde durch diesen Kontext zu einem Merkmal des kommenden Jahrhunderts aufgewertet und beispielsweise 1889 mit dem betont modernistischen Wahrzeichen dieser Weltausstellung, dem Eiffelturm, verglichen 44. Der Beweis der Fortschrittlichkeit war nicht unbedeutend, da Kritiker wie Leroy-Beaulieu sozialpolitischen Absichten antimodernistische Tendenzen zuschrieben 45. Drittens kompensierte Sozialpolitik als Weltausstellungsthema das Fehlen einer bürgerlichen Internationale. Der sich 1889 eben konstituierenden Zweiten Internationale - auch dieser Kongreß fand im übrigen während der Weltausstellung in Paris statt - wurde eine international beschickte Ausstellung entgegengehalten, die ein bürgerliches Instrumentarium zur Lösung sozialer Spannungen präsentierte. Denn 1889, im Jahr bedeutender Bergarbeiterstreiks, standen an der Weltausstellung nicht die Arbeiter, sondern eine mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Objektivierung der Arbeitsbedingungen im Zentrum des Interesses 46. Die Bedeutung der Weltausstellungen wird dabei durch den Umstand unterstrichen, daß sie transnationale Kontakte ermöglichten, gleichzeitig aber eine staatlich kontrollierte Form des bürgerlichen Internationalismus präsentierten, da der einladende Staat die Zulassung zur Ausstellung bestimmte. Der Aus43 Char/es 44
Gide, Economie sociale, Paris 1905, S. 3f.
Emest Brelay, l'Exposition de I'An 1900, Extrait de la Revue 6conomique de Bordeaux,
1.9.1893.
45 Leroy-Beaulieu, S. 322. 46 Adler legte Wert darauf, daß der von ihm geforderte "Tendenzverein" eine Gründung der "leitenden Klasse" sein sollte. Adler, S. 572.
I. Internationalisierungsbestrebungen bis zur Berliner Konferenz
61
stellungsbereich Economie sociale erlaubt demnach wesentliche Rückschlüsse auf die Akzeptanz sozialpolitischer Internationalisierungsstrategien. Economie sociale wurde bei den in Frankreich stattfindenden Weltausstellungen erstmals 1867 thematisiert. Le Play, ein führender Vertreter der katholischen Sozialreform, veranlaßte ein Preisausschreiben, das vor allem paternalistische Institutionen berücksichtigte 47. 1878, an der nächsten Pariser Weltausstellung, hatte die sozialpolitische Thematik ihre Bedeutung verloren. Der Dritten Republik war daran gelegen, sich vom Kaiserreich zu distanzieren. Umso bemerkenswerter erschien deren Präsentation an der Weltausstellung von 1889. An dieser durch die Zentenarfeier der französischen Revolution politisch brisanten und vielfach boykottierten Veranstaltung erschien Economie sociale als Veranstaltung mit immerhin 1171 Ausstellern 48. Die Schweiz schickte den Arbeiterfiihrer H. Greulich auf Staatskosten zur Berichterstattung nach Paris. Der Arbeitersekretär kritisierte zwar, daß die aus einer mit Druckschriften gefüllten Vitrine bestehende Ausstellung kümmerlich, schwer zugänglich und von der "liberalen Manchesterschule" geprägt sei 49. Gleichzeitig hob Greulich aber hervor, daß die Ausstellung ein sozialpolitisches Informationsdefizit aufgehoben hatte, indem die bisher außerhalb Frankreichs nicht bekannten sozialpolitischen Aktivitäten der Pariser Municipalite vorgestellt worden seien. Schließlich wurde 1889 auch bereits deutlich, daß die Ausstellung den ersten Schritt zur Institutionalisierung internationaler Sozialpolitik darstellte. Der französische Handelsminister berief eine aus Mitgliedern des Conseil superieur du Travail und der Weltausstellungsjury zusammengesetzte Kommission, die aus den Exponaten der Ausstellung ein Musee d'Economie sociale gestalten sollte 50.
47 Gide,
S. 9.
48
ibo S. 10.
49
Bericht Greulichs an das Industriedepartement, 20.9.89, BAR 14/27.
~ E. Cheysson, Le Musee d'Economie sociale, Rapport fait au nom de la cornmission chargee d'en pn\parer I'organisation, AN F 124839.
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B. Intemationalisierungsbestrebungen vor der Gründung der IVGA
IL Die Zeit der Konferenzen und Kongresse 1889 hatte sich zwar eine transnationale Öffentlichkeit konstituiert und sozialpolitische Fragen waren zum Ausstellungsthema avanciert. Doch die offizielle Anerkennung dieses Bereiches als Teil der 'Großen Politik' wurde nicht erreicht. Dem schweizerischen Konferenzvorschlag war kein Erfolg beschieden. Das integrative Vorgehen des Bundesrates, das auf einer greDZÜbergreifenden parlamentarischen Unterstützung beruhte, mißlang und zeigte, daß sich internationale Sozialpolitik nicht aus dem Kontext traditioneller Großmachtpolitik herauslösen ließ. Die Internationalisierungskonzepte der neunziger Jahre zerfielen demnach wiederum in zwei Bereiche, bei denen sich die offiziellen Bemühungen der Regierungen von privaten Unternehmungen unterschieden. Allerdings ist bemerkenswert, daß das Scheitern der Konferenzvorlage von 1889 nicht zur Blockierung sozialpolitischer Internationalisierungskonzepte fiihrte. 1889 endet vielmehr die Vorgeschichte internationaler Sozialpolitik. Mit der Berliner Konferenz 1890 setzt eine neue Phase ein: Internationale Sozialpolitik wurde nun an eigens dafiir veranstalteten Konferenzen und Kongressen thematisiert. Mit der Berliner Konferenz und den beiden 1897 veranstalteten privaten Kongressen in Zürich und Brüssel wurde ein weiterer wesentlicher Schritt zur Institutionalisierung internationaler Sozialpolitik getan.
1. Die Berliner Konferenz
Die Berliner Konferenz wurde am 15. März 1890 von Handelsminister Freiherr von Berlepsch eröffnet, der sich zehn Jahre später auch in der IVGA engagieren sollte 1. Die Konferenz dauerte vierzehn Tage, versammelte Vertreter aus dreizehn europäischen Staaten und endete mit der Unterzeichnung eines Schlußprotokolls, das unverbindliche Wünsche und Empfehlungen zu sechs sozialpolitischen Teilgebieten enthielt: Teil I (Minenarbeit) schlug die Anhebung des Mindestalters fiir Untertagsarbeiten auf 14 Jahre, ein Untertagsarbeitsverbot fiir Personen weiblichen Geschlechts, Arbeitszeitverkürzungen bei erschwerten Arbeitsbedingungen und Arbeiterschutzregelungen sowie sozialpolitische Maßnahmen zur Verhinderung von Streiks vor. Teil 11 enthielt ein Reglement zur Sonntagsarbeit, Teil III-V unterstrich die wünschbare Einschränkung der Arbeit von Kindern, Ju-
I Zu Berlepsch vgl. Hans.JtJrg von Berlepsch, "Neuer Kurs" im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch, 1890-1896, Bonn 1987.
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
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gendlichen und Frauen 2. Teil VI, der die Ausfiihrungsbestimungen enthielt, empfahl zur Überwachung der vorgeschlagenen Maßnahmen die Bereitstellung einer genügenden Anzahl von "fonctionnaires specialement qualifies" 3. Die von derartigen Fabrikinspektoren verfaßten Berichte, statistische Erhebungen sowie die in den Konferenzbereich fallenden Gesetzesvorlagen sollten ausgetauscht werden. Zudem wurde die Möglichkeit erwähnt, der Berliner Konferenz weitere internationale Zusammenkünfte folgen zu lassen. Die unverbindliche Form des Schlußprotokolls und der innenpolitische, dem Machtwechsel im Deutschen Reich verpflichtete Kontext dieser Zusammenkunft legten den Schluß nahe, die Konferenz als sozialpolitisches Nullresultat zu interpretieren. Damit drohen allerdings drei bemerkenswerte Aspekte außer acht gelassen zu werden: - An der ersten offiziellen, international beschickten Konferenz wurde der größte gemeinsame Nenner an sozialpolitischen Maßnahmen festgelegt. Auch wenn die Konferenz sich bloß auf unverbindliche Wünsche einigte, wurden in Berlin sozialpolitische Leitlinien formuliert, die nicht mehr unterschritten werden konnten. Die Berliner Versammlung hatte indirekt eine Internationalisierungsstrategie anerkannt, die über die Reglementierung der Frauen- und Kinderarbeit und die Festlegung von Arbeiterschutzmaßnahmen führte. Dieser Ansatz prägte die internationale Vorkriegssozialpolitik. - Die Berliner Konferenz verhandelte in den herkömmlichen Formen einer Diplomatenkonferenz über einen neuen Politikbereich. Erwartungen und Handlungsspielräurne, die hier am Beispiel der schweizerischen und der französischen Position dargestellt werden, machen die Überschneidungen zwischen machtpolitischen und sozialpolitischen Zielsetzungen deutlich. - Schließlich bot die Konferenz erstmals die Gelegenheit zum internationalen Vergleich und setzte die liberalen Noninterventionsstaaten gegenüber dem obrigkeitsstaatlichen Sozialversicherungsmodell unter Legitimationsdruck.
2 Vgl. Protocole fmal de la Conference Internationale concemant le reglement du travail dans les etablissements industrieIs et dans les mines, in: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die Frage der internationalen Regelung des Arbeiterschutzes und die Berliner Konferenz, S.933ff. 3
ibo S. 937.
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B. Internationalisierungsbestrebungen vor der Grilndung der IVGA
Die Strategien der schweizerischen und der französischen Delegation Die schweizerischen Delegierten hatten zwei Ziele zu verfolgen, die sich als unvereinbar herausstellen sollten. Zum einen galt es, eine Internationalisierung der im europäischen Vergleich fortschrittlichen Bestimmungen des eidgenössischen Fabrikgesetzes durchzusetzen 4. Zum anderen sollte die Konferenz zu einem Erfolg führen und damit letztlich die seit 1881 eingeschlagene bundesrätliche Politik bestätigen. Das formale Gelingen hatte Vorrang. Den Delegierten wurde mitgeteilt, daß es besser sei, Minimalresultate zu akzeptieren, statt Gefahr zu laufen, gar nichts zu erreichen 5. In den Instruktionen der französischen Delegierten dominierten dagegen die Vorbehalte gegen Form und Inhalt der Konferenz. Das Außenministerium legte insbesondere Wert darauf, die Konferenz nicht als herkömmliche Diplomatenkonferenz anzuerkennen. Man habe sich bereits in der Antwort auf die Berner Einladung nur auf eine unverbindliche "enquete internationale" 6 eingelassen. Die deutsche Botschaft habe ihrerseits bestätigt, daß die vorgelegten Fragen "sans portee politique" 7 sei. Dieser Ansatz wurde gleich mehrfach abgesichert. Die Delegierten durften nur über die im Konferenzprogramm aufgeführten Fragen diskutieren - eine im deutschen Einladungsschreiben angebotene Debatte über eine Arbeitszeitbeschränkung fiel demnach außer Betracht 8. Die französischen Delegierten wurden zudem daran erinnert, daß sie keinerlei bindende Erklärungen abgeben konnten und nur ein Verhandlungsprotokoll unterzeichnen durften. Die Verhinderung außenpolitischer Verbindlichkeiten wurde durch die Zusammensetzung der Delegation unterstrichen, zumal keine Diplomaten eingesetzt wurden. An der Eröffnungssitzung der Berliner Konferenz nahmen nur gerade fünf der neun Delegierten teil: drei Vertreter der beiden Kammern - die Senatoren Simon und Tolain, der Deputierte Burdeau -, ein Arbeitervertreter (Delahaye) und der Vizepräsident des Conseil superieur des Mines (Linder) 9. An der zweiten Sitzung waren immerhin auch der fran-
4 VgI. Instructions pour les delegues suisses 15 mars 1890, BAR 23/1.
a la Conference internationale de Berlin se reunissant le
6 Ministere des Maires Etrangeres, Direction des Maires Cornmerciales et Consulaires, Paris 13.3.1890, unterz. Spuller, an die französischen Delegierten, MdAE All div. comm., Allernagne 296.
9
Protocole No 1, in: SBB 1890, Bd. 3, S. 763.
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
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zösische Generalkonsul in Leipzig und zwei Beamte, der Inspecteur divisionnaire, Laporte, und der Ingenieur des Mines, Pelle, anwesend 10 . Zwar wies keine andere Delegation eine vergleichbare Zusammensetzung auf - aber die Vertreter der übrigen Teilnehmerstaaten, auch sie mit durchwegs uneinheitlichem Status, unterstreichen die oben erwähnten Schwierigkeiten. In Berlin trafen demnach Delegationen von unterschiedlichster politischer Bedeutung aufeinander. Die französische Verhandlungsstrategie war darum bemüht, die Sozialgesetzgebung der Dritten Republik als besseres, weil demokratisch abgesichertes, von den Ideen der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit geleitetes Konzept zu präsentieren. Senator Simon erläuterte diesen Ansatz in einer Debatte über die Minenarbeit. Demnach beschränkten sich die sozialpolitischen Maßnahmen auf den Schutz der von der politischen Partizipation ausgeschlossenen Frauen und Kinder, währenddem den erwachsenen männlichen Arbeitern die individuelle Freiheit als Citoyen zu garantieren war 11. Daß dieser Ansatz vergleichsweise wenig Erfolg hatte, war letztlich einer wichtigen, die Brisanz sozialpolitischer Internationalisierungsstrategien unterstreichenden Neuerung zu verdanken. An der Berliner Konferenz, also zu einem Zeitpunkt, als die sozialpolitischen Verwaltungen erst im Entstehen begriffen waren und kein Zugriff auf entsprechende Daten bestand, wurde erstmals ein internationaler Vergleich der bestehenden Sozialgesetzgebung unternommen. Das "Tableau de la legislation des Etats" 12 machte die sozialpolitische Rückständigkeit Frankreichs deutlich. Die französische Sozialgesetzgebung lag mit Ausnahme des Kinderschutzgesetzes von 1874 nicht nur weit hinter der schweizerischen und der deutschen, sondern auch hinter der erstaunlich progressiven österreichischen Gesetzgebung zurück. Die Berliner Konferenz bot der politisch und ökonomisch rückständigen Donaumonarchie die seltene Gelegenheit positiver Legitimation. Im cisleithanischen Teil war die "Notwendigkeit und Dringlichkeit staatlicher Gesetzgebung ... außer Streit gestellt" 13. Die österreichische Sozialpolitik ging über die vornehmlich sozialdisziplinierende Funktion der Bismarck10
Protocole No 2, S. 778.
11 Protocole No 6, S. 879.
12 Tableau de la legislation des Etats, representes a la Conference internationale en ce qui conceme le reglement du travail du dirnanche ainsi que du travail des enfants et des femmes par Tb. Lohmann, ibo S. 939ff. 13 Ta/os,
5 Herren
S. 47.
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B. Intemationalisierungsbestrebungen vor der Gr1lndung der IVGA
schen Sozialgesetzgebung hinaus und hatte auch bereits erwachsene männliche Arbeitnehmer berücksichtigt 14. Die französischen Delegierten befanden sich daher in der wenig komfortablen Lage, bei entscheidenden Fragen die Haltung ökonomisch und sozialpolitisch rückständiger Länder der europäischen Peripherie teilen zu müssen. Sogar das selbstdeklarierte Konzept des Schutzes von Frauen und Kindern wurde im Verlauf der Verhandlungen mehrheitlich als rhetorische Formel entlarvt. Frankreich und Belgien stimmten zusammen mit Spanien, Italien und Portugal gegen ein Nachtarbeitsverbot für erwachsene Frauen 15. Bei der Debatte um die Limitierung der Kinderarbeit mußten sich die französischen Delegierten wiederum zurückhalten. So durfte aus französischer Sicht bei der Festsetzung der Altersgrenze für Minenarbeit auf 14 Jahren die Ausbildung nicht gefährdet werden 16. Das von der Schweiz vorgeschlagene Mindestalter für die Zulassung zur Industriearbeit von 14 Jahren war nur gerade von der österreichischen Delegation unterstützt worden. Eine Mehrheit fand sich erst bei der Fixierung dieser Limite auf 12 Jahre, die in südlichen Ländern erst noch auf 10 Jahre gesenkt werden konnte. Die französischen Delegierten traten zwar in ihrem persönlichen Namen für eine höhere Alterslimite ein 17, mußten sich aber selbst bei dem für die Schweiz enttäuschenden Mehrheitsbeschluß der Stimme enthalten. Die französische Delegation isolierte sich abermals, als die Verabschiedung der Ausführungsbestimmungen anstand. Diese enthielten zwar in dem allemal unverpflichtenden Schlußdokument nunmehr den Wunsch, daß spezielle Funktionäre zur Überprüfung der nationalen Schutzgesetze zu ernennen seien - was in Frankreich bereits der Fall war. Zudem sollten fortan sozialpolitische Informationen ausgetauscht werden. Trotz der Unverbindlichkeit dieser ohne Gegenstimme angenommenen Ausführungsbestimmungen sollte sich Frankreich wiederum der Stimme enthalten. Jules Simon verwies einmal mehr auf seine Instruktionen, die ihn verpflichteten, eine strikte Trennung zwischen der bloß als Gremium von Fachleuten anerkannten Berliner Konferenz und weiteren, der Diplomatie vorbehaltenen Verhandlungen zu machen 18.
14
ibo S. 78.
15
Protocole No 5, S. 861.
16
Protocole No 6, S. 876.
17 Rapport de la Conunission sur le travail des enfants et des jeunes ouvriers dans les etablissements industrieis, ibo S. 807f. 18
Protocole No 6, S. 878.
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
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Die Folgen der Berliner Konferenz Die Konferenz wurde unterschiedlich rezipiert, zumal es ein inhaltlich leichtgewichtiges Resultat gegen die formale Anerkennung eines neuen Politikbereiches abzuwägen galt. Aus schweizerischer Sicht war das Konferenzresultat besonders enttäuschend ausgefallen, doch selbst Reichesberg, ein kritischer Beobachter schweizerischer und internationaler Sozialpolitik, gestand der Konferenz zu, "den Weg für die Unterhandlung von Verträgen dieser Art geebnet (zu haben)" 19. Auch Millerand, wahrlich kein Freund deutscher Konzepte, sicherte der Berliner Konferenz ein nicht zu unterschätzendes Gewicht bei der Vorbereitung der schließlich 1905/06 abgeschlossenen internationalen sozialpolitischen Konventionen zu 20. Aus der Sicht der Entwicklung eines neuen Politikbereiches liegt die entscheidende Bedeutung des Berliner Kongresses nicht nur im Umstand begründet, daß ein neuer Themenkreis in die internationale Politik Einzug gehalten hatte. Die Berliner Verhandlungen zeigten zudem, daß sozialpolitischen Themen mit dem bisherigen außenpolitischen Instrumentarium nicht beizukommen war. Die ungleichgewichtig zusammengesetzten Delegationen signalisierten nicht nur die unterschiedliche außenpolitische Akzeptanz der Berliner Konferenz, sondern machten auch die Notwendigkeit des Beizuges sozialpolitischer Experten deutlich. Aus dieser Sicht hatte die Berliner Konferenz bemerkenswerte Konsequenzen. Sie war die letzte sozialpolitische Gesamtkonferenz, bei der nicht zwischen einer von Experten beschickten technischen Vorkonferenz und einer Diplomatenkonferenz unterschieden wurde, die die Formalisierung der Beschlüsse zu leisten hatte. Die Überforderung der konventionellen Diplomatie hatte für die sozialpolitischen Experten weitreichende Folgen. Die Konferenz unterstützte deren Professionalisierung innerhalb der nationalen Verwaltungen, vor allem aber wurde einer breiteren Öffentlichkeit die Namen jener Fachleute bekannt, die das Vertrauen ihrer Regierungen besaßen und die sich zur Aufnahme trans gouvernementaler Kontakte eigneten. In Berlin zerbrach demnach die innenpolitische Rückbindung sozialpolitischer Professionalisierung. Die Gruppe der Experten konstituierte sich erstmals als transnationale, teils transgouvernementale Kraft. Einer der schweizerischen Institutionalisierungsversuche setzte denn auch bei den Berliner Experten an 21.
19 Reichesberg,
S. 1-43.
20 A. Millerand, La
21 vgl. S. 69ff.
Conference officielle de Beme (Mai 1905), Paris 1905, S. 4.
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B. Internationalisierungsbestrebungen vor der Gründung der IVGA
Die Aufwertung der Experten bleibt aber nicht die einzige wichtige Konsequenz der Berliner Konferenz. Die Zusammenkunft zeigte überdies, daß eine Großmacht schlecht geeignet war, als sozialpolitische Clearingstelle aufzutreten. Die machtpolitischen Bedenken der Teilnehmerstaaten unterstützten dagegen die sozialpolitische Profilierung neutraler Kleinstaaten. Die Schweiz hatte demnach gute Gründe, trotz der blamablen Mißerfolge von 1881 und 1889 am Anspruch festzuhalten, ihre Außenpolitik um die Dimension internationaler Sozialpolitik zu erweitern. Die schweizerische Delegation hatte in Berlin mit dem Vorschlag, eine sozialpolitische Zentralstelle zu gründen 22, eine zweite Ebene internationaler Sozialpolitik durchzusetzen versucht. Obwohl die Schaffung eines derartigen "organe special" 23 nicht gelang, verfolgte die schweizerische Regierung neben der Veranstaltung von Konferenzen fortan auch das Ziel, eine internationale sozialpolitische Zentralstelle zu gründen und in die Reihe der bereits in der Schweiz ansässigen internationalen Büros zu integrieren. Die Bedeutung der Berliner Konferenz läßt sich demnach nicht auf der Ebene ihres sozialpolitischen Gehaltes erschließen. Der Umstand ist bemerkenswert, daß eine sozialpolitisch mehr als bescheidene Konferenz nicht das Ende der angestrebten Internationalisierungsstrategien besiegelte, sondern deren Fortsetzung garantierte. Die Berliner Konferenz legte letztlich die Handlungsspielräume internationaler Sozialpolitik fest und verpflichtete zukünftige Aktionen auf die Ebene staatlicher Politik. In Berlin wurden aber auch Grenzen gezogen. Die Konferenz, bis zur Geheimhaltung der Verhandlungen am Vorbild der Diplomatenkonferenzen orientiert, markierte den vorläufigen Mißerfolg des 1889 von der schweizerischen Regierung gewählten integrativen Konzeptes, das die offizielle Politik auf die Mobilisierung einer transnationalen Öffentlichkeit abzustützen gedachte. Der Preis der offiziellen Anerkennung bestand darin, daß transnationale und gouvernementale Aktionen in zwei getrennte Ebenen zerfielen, die auch unterschiedliche Intentionen aufwiesen: Die gouvernementalen Bestrebungen wurden von dem in Berlin festgestellten sozialpolitischen Informationsdefizit geprägt und von den sich ausdifferenzierenden sozialpolitischen Administrationen getragen. Derweilen bemühten sich die bereits in den siebziger Jahren aktive sozialpolitische Intelligenz auf der einen und die in den achtziger Jahren rur sozialpolitische Aktionen interessierten Politiker auf der anderen Seite um eine Fortsetzung der Internationalisie22 Rapport de la Comrnission pour la mise a I'cxecution des dispositions adoptees par la conference, in: SBB 1890, Bd. 3, S. 836. 23
ibo
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
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rungsbestrebungen. Die gouvernementalen Aktivitäten konzentrierten sich auf die Frage, ob eine internationale sozialpolitische ZentralstelIen eröffnet werden sollte. Die transnationalen Bestrebungen führten zur Durchführung zweier Arbeiterschutzkongresse, die beide 1897, der eine in Zürich, der andere in Brüssel, stattfanden.
2. Gouvernementale Institutionalisierungskonzepte und deren Scheitern
Die Berliner Fachdelegierten als Träger eines halboffiziellen Konzeptes Im November 1890 schien sich zu bestätigen, daß die Gruppe der Berliner Fachdelegierten die von der Berliner Konferenz begonnene Internationalisierungspolitik fortsetzen wollte. Der Anstoß zu dieser neuen Runde internationaler Sozialpolitik erfolgte mit einem zu diesem Zeitpunkt in Berlin erschienenen Flugblatt, das an die Vorstände "einiger für die Frage der Fabrikgesetzgebung interessierter Vereine" 24 gerichtet war. Der Glamer Landammann Blumer, der als schweizerischer Delegierter an der Berliner Konferenz teilgenommen und das Flugblatt erhalten hatte, konnte in Erfahrung bringen, daß diese Aktion aus dem Umfeld des Vereins für Sozialpolitik stammte und durch die Unterstützung von Berlepschs einen zumindest offiziösen Anstrich hatte 25. Im Dezember nahm die Idee durch die Einschaltung interessierter Wissenschaftler konkretere Züge an. Schmoller schlug Blumer vor, den Umstand auszunützen, daß im September 1891 in Wien die Internationale Statistische Gesellschaft zusammenkomme. Diese Gesellschaft wurde nicht nur von den wichtigsten Sozialpolitikern frequentiert, sondern auch von den staatlichen Verwaltungen beschickt und vereinigte demnach die zur Förderung internationaler Sozialpolitik wichtigen Kontaktpersonen. Nach der Tagung sollten die interessierten Sozialpolitiker einen Zwischenhalt in der Schweiz einschalten, um ein internationales Komitee zu gründen 26.
24 Das Flugblatt war von Dr. von Gneist (Zentralverein filr das Wohl der arbeitenden Klasse, Schwartzkopff (Zentralverband deutscher Industrieller), Fritz Kalle (Konkordia), Dr. G. Schmoller (Verein filr Sozialpolitik) und Brandts (Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde "ArbeiterwohI") unterzeic1met, vgl. BAR 23/5. 25 Blumen Kontaktmann Koenig berichtete aus Berlin in einem Briefvom 15. Dezember, daß sich auf Anregung von Berlepschs ein Komitee gebildet habe, das die Beteiligung Deutschlands an einer nächsten internationalen Arbeiterschutzkonferenz anstrebe. Das Komitee wilnsche, daß die Schweiz eine derartige Konferenz organisiere ( BAR 23/5). 26 Schmoller
an Blumer, Berlin 24.12.1890, BAR 23/5.
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B. Intemationalisierungsbestrebungen vor der Grl1ndung der IVGA
Die Aktion stieß in Bern auf Interesse. Am 12. Januar 1891 kursierte bereits das Rundschreiben eines "schweizerischen Initiativ-Comites zur Förderung internationaler Einigung auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes", das von den Bundesräten Droz und Deucher, den beiden Berlin-Delegierten Blumer und Kaufmann und von Fabrikinspektor Schuler unterzeichnet war 27. Das bei dieser Gelegenheit präsentierte Programm orientierte sich an den Vorstellungen Schmollers und beabsichtigte die Einberufung einer nicht-amtlichen Arbeiterschutzkonferenz nach Bern und die Gründung eines internationalen Verbandes samt dazugehörigem Publikationsorgan. Eine Woche später erhielt die Aktion definitiv einen zumindest halboffiziellen Charakter. Die schweizerischen Gesandten wurden beauftragt, das Rundschreiben an die ehemaligen Delegierten der Berliner Konferenz zu verteilen. Diese sollten Länderkomitees gründen, damit alsbald eine Konferenz mit privatem oder halboffiziellem Charakter einberufen werden konnte 28. Die Aktion scheiterte bezeichnenderweise nicht an sozialpolitischen Forderungen. Vielmehr mißlang der Versuch, halboffizielle Verbindlichkeit mit transnationaler Breite zu verbinden. Der österreichische wie der ungarische Delegierte distanzierten sich vom vorgeschlagenen Projekt, weil sie befürchteten, ihre Teilnahme werde als Ausdruck der offiziellen Regierungspolitik verstanden 29. Der von Bern angestrebte Einbezug der Sozialdemokratie erschwerte die Konsensfindung zusätzlich. Die ehemaligen belgischen BerlinDelegierten wollten nur an einer offiziellen Regierungskonferenz teilnehmen, um nicht mit Vertretern der Sozialdemokratie verhandeln zu müssen 30. In Paris führte der diplomatische Vertreter der Schweiz zeitraubende Gespräche mit dem ehemaligen französischen Delegierten in Berlin, Simon. Zwar war Simon bereit, die Gründung eines französischen Komitees an die Hand zu nehmen, doch dieses mußte die komplizierten und instabilen Mehrheitsverhältnisse des französischen Parlamentes repräsentieren. Zudem stellte der schweizerische Gesandte fest, daß Simon vor allem an der Institutionalisie-
27 Schweizerisches lnitiativ-Comite zur Förderung internationaler Einigung auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes, Bem, 12.1.1891, BAR 23/S.
28 So in einem Zirkular des fiIr die Außenbeziehungen verantwortlichen Departementsvorstehers vom 20.1.1891, BAR 23/S. 29 Vgl. Weigelsperg an B1umer, Wien, 7.3.1891, sowie Bericht des schweizerischen Gesandten in Wien, Wien 22.2.1891, BAR 23/S. 30
Der schweizerische Vertreter in Brüssel an Droz, Brüssel, 16.2.1891, BAR 23/S.
H. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
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rung eines sozialpolitischen Gedankenaustausches und mithin eher an einem nationalen als einem internationalen Konzept interessiert war 31. Im Mai 1891 wurde die Aktion abgebrochen. Der schweizerische Gesandte in Berlin wurde beauftragt. Schmoller mitzuteilen. daß die angestrebte Konferenz verschoben werden müsse. Die Bildung der Landeskomitees war entweder, wie in Frankreich, nur sehr langsam zustande gekommen. oder auf Widerstände gestoßen, wie in Oesterreich-Ungam und England. In Belgien und Italien war die Komiteegründung überhaupt mißlungen 32. Immerhin blieb auch diese Aktion nicht folgenlos. Heyde bezeichnete das deutsche Aktionskomitee als Vorläuferorganisation der deutschen Sektion der IVGA, der Gesellschaft für Soziale Reform 33.
Das Internationale Bureau für Arbeiterschutz 1895 setzte die nächste Runde gouvernementaler Bemühungen um eine Institutionalisierung internationaler Sozialpolitik ein. Der Bundesrat war am 21. Juni 1895 vom Parlament einmal mehr beauftragt worden, entsprechende Schritte zu unternehmen. Da die bisherigen Versuche, eine Konferenz einzuberufen, gescheitert waren, strebte die schweizerische Regierung diesmal die Schaffung einer internationalen sozialpolitischen ZentralsteIle an. Diese bereits an der Berliner Konferenz geäußerte Idee bot einige nicht zu unterschätzende Vorteile. Zum einen präsentierte die schweizerische Regierung die Gründung einer derartigen ZentralsteIle als politische Kompromißformel: Es ging um eine "Frage von nicht so großer Tragweite" 34 und nicht mehr um eine von schwierigen Souveränitätsbedenken begleitete Arbeiterschutzgesetzgebung. Zum anderen bot dieses Konzept für die Schweiz nicht zu unterschätzende Vorteile: Mit der Gründung einer offiziellen Zentralstelle ließ sich das Problem transnationaler Einmischung in die Regierungspolitik umgehen. Statt einen neuen Politikbereich institutionalisieren zu müssen, konnten die bereits gegründeten internationalen Bureaus beigezogen werden. Die in Bern ansässi-
31
Zu den Berichten des schweizerischen Gesandten Lardy an Droz vgl. BAR 23/5.
32 So die von Roth an Schmoller zu Qbermittelnde ErklArung. Droz an den schweiz. Gesandten in Berlin, Roth, Bern, 8.5.1891. Schmoller verfaßte daraufhin ein auf den 12.5.91 datiertes Zirkularschreiben (BAR 23/5).
33
Heyde, Ludwig, Internationale Vereinigung fiIr gesetzlichen Arbeiterschutz, in: Internationales
34
Rundschreiben an die schweiz. Vertretungen im Ausland, Bern, 1.6.1896, BAR 23/5.
Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, Berlin 1931, S. 813.
B. Internationalisierungsbestrebungen vor der GrOndung der IVGA
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gen Ämter 3S legitimierten zudem die führende Rolle der Schweiz bei der Schaffung einer sozialpolitischen Zentralstelle. Schließlich schien der Zeitpunkt überaus günstig. Bemühungen ähnlicher Art sicherten dem Konzept einer sozialpolitischen Zentralstelle das Interesse von Diplomatie und Öffentlichkeit zu: 1894 hatte in Bern eine Diplornatenkonferenz zur Schaffung einer Union internationale pour la publication des traites stattgefunden. Der schweizerische Vorschlag, in Bern ein mit der Veröffentlichung internationaler Abkommen und Verträge betrautes Bureau zu eröffnen, war arn Widerstand Belgiens gescheitert. Bcüssel beanspruchte seinerseits die Gründung einer derartigen Union, der aber die wichtigsten europäischen Staaten nicht beizutreten bereit waren 36. Das Scheitern von 1894 hatte die Chancen der Schweiz, ein internationales Bureau zu gründen, wohl eher vergrößert. Das Interesse der Öffentlichkeit an einer sozialpolitischen Zentralstelle war zudem seit der Eröffnung des Musre social in Paris merklich gestiegen. Die in Bern herausgegebene Zeitung "Der Bund" beschrieb das vorn französischen Glasindustriellen Graf Charnbrun gegründete und finanzierte Musee social als "Centralstelle fiir Informationen, eine Art internationales Arbeitsbureau fiir socialpolitische Studien", dessen Wirkungskreis sich nicht auf Frankreich beschränke 37. Das Musre social eignete sich in mehrerer Hinsicht als Vorbild fiir eine internationale sozialpolitische Zentralstelle. Die Pariser Institution führte auch außerhalb Frankreichs Enqueten durch. besaß eine Kollektion von Exponaten, die von Weltausstellungen stammten, und eine gut ausgestattete Bibliothek. Die Idee einer sozialpolitischen Institution, die Bibliothek, wissenschaftliches Institut, KontaktsteIle und Arbeiterbildungszentrale zugleich war, wurde auch außerhalb Frankreichs realisiert. In New York, London, Stockholm und Budapest wurden ähnliche "Museen" eröffnet. Der "Bund"-Artikel beabsichtigte weit mehr als die Information der Öffentlichkeit über eine sozialpolitische Institution Frankreichs. Der Zeitpunkt des an prominenter Stelle auf der Frontseite publizierten Berichtes - das Musre social bestand immerhin bereits seit 1895 - ist ebenso bemerkenswert wie der 35 Sitz in Bem hatten die internationale Telegrafenunion, der We1tpostverein, das Bureau filr das geistige Eigentum und das Zentralbureau der internationalen Eisenbahntransporte. 36 Vgl. Actes de la Conference diplomatique concerrwrt la creation d'une union internationale pour la publication des traites, reunie a Berne du 2S septembre au 3 octobre 1894, Berne 1894, sowie BAR E 22840. 37
Der Bund, Nr. 239, 27./28. August 1896.
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
73
Hinweis, daß die vom Musee social durchgeführten Enqueten "sorgflUtige Nachforschungen" darstellten, "wie sie ein offizielles Bureau zu unternehmen pflegt" 38. Der Artikel versuchte die Öffentlichkeit fiir das vom Bundesrat lancierte Projekt einer internationalen sozialpolitischen Zentralstelle zu mobilisieren. Die schweizerischen diplomatischen Vertretungen waren am 1. Juni 1896 beauftragt worden, die Gründung eines "Internationalen Bureaus fiir Arbeiterschutz" vorzuschlagen 39. Diese Aktion erbrachte wiederum kein ermutigendes Resultat. Der Bundesrat mußte zur Kenntnis nehmen, daß die Gründung einer sozialpolitischen Zentralstelle nicht möglich war, ja daß eine internationale Regelung von Arbeiterschutzfragen "zur Zeit inopportun" sei 40. Die vom Bundesrat angestrebte gouvernementale Regelung internationaler Sozialpolitik ließ sich demnach nicht durchsetzen. Entsprechende Bemühungen verlagerten sich zunehmend auf eine transnationale Ebene, auf die der Bundesrat nunmehr indirekt Einfluß nahm. Sozialpolitisch motivierte Internationalisierungsstrategien waren von der Mitte der neunziger Jahre bis zur Gründung der IVGA von zwei Faktoren geprägt. Nämlich einerseits vom Versuch, die Gründung einer sozialpolitischen Institution über eine transnationale Mobilisierung der Öffentlichkeit doch noch zu erreichen, und andererseits von gouvernementalen Abwehrreaktionen, die immer wieder die politische Brisanz derartiger Internationalisierungsstrategien unter Beweis stellten. Curti, Organisator des Zürcher Kongresses, wollte der gescheiterten Aktion des Bundesrates durch die Mobilisierung der Presse und der Parlamentarier doch noch zum Erfolg verhelfen 41. Das von Curti angestrebte sozialpolitische Amt hatte nicht nur gouvernementale, sondern auch transnationale Funktionen und sollte als "centre de congres" den Informationsaustausch zwischen Staatsvertretern, Parlamentariern und Arbeitnehmerorganisationen erleichtern 42. Auch die im gleichen Jahr in Brüssel versammelten Wissenschaftler 38
ibo
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Rundschreiben an die schweiz. Vertretungen im Ausland vorn 1.6.1896, BAR 23/5.
40 Vgl. Bericht des Bundesrates an die Bundesversanun\ung. betreffend Postulat Nr. 517, SBB 1897, Bd. 1, S. 79f. 41 Th. Curti, Office international pour la protection ouvriere, in: Congres international Zurich 1897, S.135.
42
ibo S. 137.
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begrüßten die Gründung eines "Office international du Travail", wollten aber eine private, am Vorbild des Institut international de statistique orientierte Institution bevorzugten. Die hier eingeschlagene Entpolitisierungs- und Privatisierungsstrategie setzte sich allerdings nicht durch. 1899 beschäftigte sich die europäische Diplomatie gleich mehrmals mit mehr oder minder offiziellen sozialpolitischen Internationalisierungsbemühungen, die sich diesmal nicht auf die Schweiz beschränkten: "Der Bund" hatte im Dezember 1898 über einen Vortrag Curtis in Wien berichtet. Curti hatte im Verlaufe seiner Ausfiihrungen bemerkt, daß sich nun Oesterreich-Ungarn um die Gründung eines internationalen sozialpolitischen Amtes bemühe 43. Ein parlamentarischer Vorstoß im cisleithanischen Reichsrat hatte 1898 die Gründung eines "internationalen social-statistischen Dienstes" verlangt 44. Das österreichische Handelsministerium versuchte diese Ideen in politisch unbedenkliche Formen zu kleiden und hielt fest, daß die fragliche Institution erst gar nicht den offiziösen Titel "Amt" tragen durfte. In Wien stellte man sich vor, daß ein "Internationales Informations-Bureau fiir Arbeiterschutz" 45 gegründet werden sollte. Die Finanzierung von offizieller Seite war mit der Abgrenzung gegenüber privaten Internationalisierungsbestrebungen verbunden - die Veranstaltung nichtgouvernementaler Kongresse wurde ausdrücklich von den Aufgaben des Amtes ausgeschlossen. Neben den Wiener Aktivitäten sorgte ein schweizerischer Pressebericht fiir Aufmerksamkeit. Die "Gazette de Lausanne" hatte unter dem Titel "un cinquieme bureau international" 1899 berichtet, daß ein erneuter Institutionalisierungsversuch unter schweizerischer Leitung unternommen werde 46. Dieser Bericht stützte sich auf die in der "Sozialen Praxis" bestätigte Gründung einer vom Brüsseler Kongreß ausgehenden "internationalen Vereinigung zur Förderung des Arbeiterschutzes", die hinwiederum fiir die Errichtung eines internationalen "Bureaus" mit Sitz in der Schweiz eintrete 47. Dieser Zeitungsartikel veranlaßte die französische Vertretung in Bern zu grundsätzlichen Überlegungen. Das Interesse der schweizerischen Regierung an den internationalen Organisationen wurde nun als machtpolitisch relevantes außenpolitisches Konzept erkannt. Durch die Wahl der Schweiz als Standort verschiedener interna43
Der Bund, 20.12.1898.
44 178 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses. Initiant dieses Vorstoßes war der deutsch-fortschrittliche Dr. 000 Lecher. vgl. Oesch, S. 42ff. 45
Zit. nach Oesch, S. 45.
46 Gazette 47
de Lausanne, 8.5.1899.
Soziale Praxis, 1898/99, Sp. 869.
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
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tionaler Organisationen werde dem kleinen Land Wichtigkeit und Bedeutung zugestanden. Der Profit aus den mehrheitlich von ausländischen Regierungen finanzierten internationalen Bureaus sei ebensowenig zu unterschätzen wie der Umstand, daß die leitenden Posten dieser Ämter "une confortable retraite a ses hommes publics fatigues de la vie politique" 48 darstellten. Der Verdacht, die Schweiz wolle internationale Organisationen als Ersatz ftir die nicht vorhandene Altersversorgung ihrer gestandenen Politiker benutzen, war bereits Camille Barrere gekommen, der 1894-1897 der französischen Botschaft in Bern vorstand 49. Dieser Diplomat zitierte das Beispiel von Bundesrat Droz, der 1892 demissioniert und die gut dotierte Leitung des Zentralbureaus der internationalen Eisenbahntransporte übernommen hatte 50. Barrere war es denn auch, der ftir diesen Ansatz schweizerischer Außenpolitik eine konzise, auch von seinem Nachfolger zitierte Fonnulierung gefunden hatte: '''la marine de la Suisse - c'est l'arbitrage'" 51. Daß die Gründung internationaler Organisationen auch im sozialpolitischen Bereich zunehmend unter machtpolitischen Gesichtspunkten betrachtet wurde, beweisen denn auch entsprechende Versuche anderer Mächte: So beschäftigte sich 1899/1900 die belgische, die französische und die deutsche Diplomatie mit einem Vorschlag Millerands, im Rahmen der Weltausstellung eine internationale Arbeiterschutzkonferenz stattfinden zu lassen. Belgien, das Deutsche Reich und Frankreich sollten nach den Vorstellungen Millerands die Nachtarbeit in den Wollkämmereien regeln und nach den unverbindlichen Wünschen der Berliner Konferenz erstmals ein multilaterales sozialpolitisches Abkommen abschließen 52. Neben diesen ebenso unterschiedlichen wie vielfältigen Versuchen, die von der Berliner Konferenz begonnene Entwicklung weiterzuführen, schien die gespannte soziale Lage eine zusätzliche Garantie ftir ein gutes Gelingen zu bieten. In Wien wurde festgestellt, daß ein Kohlenarbeiterstreik auf das Deutsche Reich überzugreifen drohte 53, und in Frankreich unterstützte eine hohe 48 frz. Botschaft an AM, Bem, 10.5.1899, MdAE, NS, Suisse, Socialisme cl Questions sociales, 20, S.53. 49 Barren: wedISChe anschließend nach Rom, wo er am Abschluß des französisch-italienischen Vertrages beteiligt war. vgl. Annuaire diplomatique cl consulaire de la Rq,ublique Frantraise pour 1901, Paris 1901. .50 Barrere an AM, Bem 19.9.1894, MdAE C, 24 administrative. SI
frz. Botschaft an AM, 10.5.1899.
S2 vgl. S3
S. 85 ff.
Oesch, S. 47.
76
B. Intemationalisierungsbestrebungen vor der Gnlndung der IVGA
Streikrate Millerands sozialpolitisches Internationalisierungskonzept. Dennoch teilten sowohl die österreichischen wie die französischen Institutionalisierungsversuche das Schicksal der schweizerischen Mißerfolge. In beiden Fälle blockierte das Deutsche Reich eine Weiterführung der in Wien und Paris vertretenen Konzepte. Das Scheitern der gouvernementalen Institutionalisierungsversuche hatte deutlich gemacht, daß sich das Interesse an einer grenzübergreifenden, staatlichen Regelung sozialpolitischer Fragen nicht auf die schweizerische Regierung beschränkte, aber auch, daß gouvernementale Vorschläge insgesamt wenig erfolgreich waren. In dieser Situation wurden private Institutionalisierungsversuche aufgewertet. Allerdings ist diese Tendenz nicht mit dem Ende offizieller Einflußnahme gleichzusetzen. Derartige Internationalisierungsversuche blieben vielmehr eng mit der Entstehung sozialpolitischer Verwaltungen verbunden.
Die Rolle der sozialpolitischen Administration Die Errichtung eigenständiger Zentralverwaltungen als Sozial- oder Arbeitsministerien begann sich in Europa vor dem Ersten Weltkrieg erst in einigen wenigen Ländern durchzusetzen. Neben Belgien gehörte Frankreich mit der 1906 erfolgten Gründung eines eigenständigen Arbeitsministeriums zu den Pioniernationen. Wie das Beispiel Oesterreichs und Englands zeigt, deren Arbeitsministerien 1917 geschaffen wurden, spielte der Krieg bei der Entwick1ung sozialpolitischer Zentralverwaltungen keine unwesentliche Rolle. Die Errichtung von Arbeitsministerien stellte den Abschluß einer längeren Entwicklung dar, die, wie das österreichische und das französische Beispiel zeigen, auf zwei unterschiedlichen Ebenen verlief: Einerseits wurden Expertengremien errichtet, die Vertreter der Administration, der sozialpolitischen Intelligenz sowie Arbeitnehmer und Arbeitgeber enthielten. Diese Gremien, in Oesterreich der Arbeitsbeirat, in Frankreich der Conseil superieur du Travail, waren, mit allerdings unterschiedlichem Kompetenzbereich, der sozialpolitischen Debatte verpflichtet. Auf der anderen Seite beschäftigten sich administrative Untereinheiten mit der Sammlung und Auswertung sozialpolitisch relevanter Daten, wie das österreichische arbeitsstatistische Amt und das französische Office du Travail. Obwohl Gremien wie der Arbeitsbeirat in letzter Zeit als Frühformen der Sozialpartnerschaft aufgewertet wurden 54, nahm die Bedeutung dieser gemischt zusammengesetzten Konsultativorgane in der Zeit vor
54
Vg1. G. Stourzh IM. Grandner. Historische Wurzeln der Sozialpartnerschaft, München 1986.
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
77
dem ersten Weltkrieg eher ab 55, während die mit der Legitimation der sozialpolitischen Informationsbeschaffung ausgestatteten Ämter sich durchsetzen konnten. Diese Ämter profilierten sich durch die Herausgabe staatlicher Periodika, konnten in eigener Regie Daten erheben und verfügten daher alsbald über ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes sozialpolitisches Informationsmonopol. Die sozialpolitische Informationsbeschaffung zeigte allerdings Schwachstellen. Die Beschaffung von Informationen aus dem Ausland war wie die Beispiele derartiger Anfragen zeigen 56 - langwierig und schwierig. Zwar wurden die französischen Botschaften nach der Gründung des Office du Travail in einem Rundschreiben aufgefordert, dem Handelsministerium nun auch sozialpolitisch relevante Informationen mitzuteilen 57. Doch diese Aufforderung richtete sich an Diplomaten, die nicht über das nötige sozialpolitische Fachwissen verfügten. Zudem ging der Beantwortung derartiger Fragen ein langwieriger Dienstweg voraus, der eine interministerielle Anfrage bedingte. Die Mängel dieses Informationssystems machten deshalb die Vorteile einer internationalen InformationssteIle mehr als deutlich, zumal die Beamten dieser neu geschaffenen sozialpolitischen Verwaltungseinheiten bereits einen regen, greßZÜbergreifenden Kontakt pflegten. Im französischen Fall dokumentiert der Bestand F 22 302/303 trotz seiner Unvollständigkeit ein weitreichendes Netz persönlicher Beziehungen zwischen sozialpolitischen Beamten verschiedener Länder. Diese transgouvemementalen Kontakte beschränkten sich nicht auf einen Publikationentausch, wie er etwa zwischen Horne office und Office du Travail bestand. Der bereits zitierte Archivbestand belegt die Existenz eines 'sozialpolitischen Tourismus', eine Form der Informationsbeschaffung durch persönlichen Kontakt und B~sichti gung. Die französische Arbeitsinspektion war eine beliebte sozialpolitische Sehenswürdigkeit, für die sich nicht nur Beamte europäischer Herkunft interessierten. Die Entwicklung sozialpolitischer Administrationen trug demnach zur Entstehung transgouvemementaIer Kontakte bei, die wiederum eine wesentliche Voraussetzung für die Weiterführung staatlicher Internationalisierungsstrategien darstellte. Die Beamten der sozialpolitischen Verwaltungsstellen waren eine bedeutende Gruppe der in der IVGA tätigen Sozialpolitiker, und sie sorgten letztlich für die Umsetzung privater Anregungen in staatliche Konzepte. Am Beispiel der Dritten Republik läßt sich zeigen, daß die Geschichte der soSS Zum Conseil
supeneur du Travail vgl. Toumerie, S. 138.
S6
Vg1. MdAE, Aff. div. corrun. et COIlS., France 178.
S7
Circulaire, 18.11.1891, ibo
78
B. Intemationalisierungsbestrebungen vor der Gr1lndung der IVGA
zialpolitischen Verwaltung und die Bemühungen um eine internationale Sozialpolitik personell und institutionell eng verknüpft sind.
3. Private Institutionalisierungsbemühungen Der Zürcher Kongreß: der fehlende Konsens innerhalb der Arbeiterbewegung Das Scheitern der gouvernementalen Institutionalisierungsversuche schien unmittelbar nach der Berliner Konferenz auch auf die nichtstaatlichen Interessenten übergegriffen zu haben. In der Schweiz versuchte der Arbeiterbund erfolglos, 1894 in Zürich einen internationalen Kongreß für Arbeiterschutz einzuberufen. Dem Arbeiterbund wurde zwar die finanzielle Unterstützung des Bundesrates zugesichert 58, aber der Kongreß mußte erst einmal verschoben werden, weil die deutschen und die österreichischen Sozialisten die Beteiligung bürgerlicher Sozialpolitiker ablehnten 59. Das schweizerische Organisationskomitee sicherte daraufhin in einern zweiten Anlauf den Kreis der Beteiligten gegen links und rechts ab. An dem auf den 27. August 1897 nach Zürich einberufenen Kongreß hatten nur Arbeitervertreter in öffentlichen Behörden ein Stimmrecht sowie Abgeordnete von Verbänden, "die in der Mehrzahl aus Lohnarbeitern bestehen" 60. Einzelpersonen wurden ebenfalls eingeladen, wenn auch bloß mit beratender Stimme ausgestattet. Zur Sicherung einer gemeinsamen Diskussionsbasis wurden nur jene Verbände und Personen berücksichtigt, die für einen "staatlichen gesetzlichen Arbeiterschutz" 61 einzutreten bereit waren. Kongreßort und Veranstalter sollten "Eifersüchteleien zwischen Nationalitäten und Richtungen" 62 verhindern. Der Bundesrat verpflichtete die Organisatoren zudem auf die Veranstaltung eines politisch neutralen Kongresses und erhöhte die bereits 1894 zugesi-
58 Dem Antrag des Arbeiterbundes wurde in der Sitzung des Bundesrates vom 27.10.1893 stattgegeben. BAR 23/2. 59
Scherrer an das Industrie-Departement, Winterthur, 23.4.1894, BAR 23/2.
60 Internationaler Kongress filr Arbeiterschutz, ZQrich 23.8.-28.8.1897, unterzeichnet von Scherrer (Präsident) und Greulich (Sekretlr), BAR 14/73. 61
ibo
62
ibo
Rundschreiben,
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
79
cherte finanzielle Unterstützung, da der Kongreß größere Dimensionen anzunehmen schien 63. Der Zürcher Kongreß mobilisierte tatsächlich Sozialpolitiker unterschiedlicher Richtungen. Neben den gemäßigten, sozialistischen Verbänden waren auch Vertreter der katholischen Sozialreform und - wenn auch nur mit beratender Stimme - die wissenschaftlichen 'Väter' internationaler Sozialpolitik vertreten 64. Dennoch standen die Chancen schlecht, mit Hilfe des Zürcher Kongresses die seit 1890 ins Stocken geratene internationale Sozialpolitik wieder in Bewegung zu bringen. Zum einen verhinderten die in der Zweiten Internationale geführten Richtungskämpfe eine geschlossene sozialistische Position, zum anderen führte die Beteiligung von Vertretern der katholischen Sozialreform zu zusätzlichen Problemen, denn der Antiklerikalismus galt beispielsweise der uneinheitlichen französischen Linken als eine der wenigen Konsensmöglichkeiten. Die französische Linke war in Zürich denn auch nur marginal vertreten. Die französische Delegation bestand vornehmlich aus katholischen Sozialreformern und interessierten Wissenschaftlern 65. Der Einbezug katholischer Sozialreformer und bürgerlicher Wissenschaftler vermochte die Staaten hinwiederum nicht dazu zu bewegen, dem Zürcher Kongreß einen zumindest halboffiziellen Charakter zu verleihen. Nur gerade die Schweiz, Belgien und Frankreich hatten Vertreter der sozialpolitischen Administrationen nach Zürich geschickt 66. Dennoch muß unterstrichen werden, daß dem Zürcher Kongreß das Kunststück gelang, einen parteienübergreifenden Dialog zu organisieren. Daß dieser Versuch schließlich doch nicht den erhoffien Erfolg hatte, mag einerseits daran liegen, daß das parteienübergreifende Konzept in den beteiligten politischen Lagern auch Abgrenzungsprobleme schuf. Andererseits zogen es insbesondere die Obrigkeitsstaaten vor, Sozialpolitik als Wissenschafts- und nicht als Politikbereich zu definieren.
63
Industriedepartement, 20.5.1897, BAR 14n5.
64 In ZOrich befanden sich U.a.. die Baronesse von Vogelsang, Georg Adler, Jastrow, Sombart, Stephan Bauer, aber auch Axelrod und Plechanow. vgl. Liste provisoire des participants au congres, Congres international Zurich 1897, S.145ff. 6S A. Lichtenberger, Compte rendu sommaire (du) congres international pour la protection legale des travailleurs, hrsg. Ministe!'e du Commerce, Exposition Universelle Internationale de 1900, Paris 1900, S. 6. Musee social, Serie B, Circulaire No 14, Le Congres de la protection ouvriere aZurich, S.401.
66
Musee social, ibo S. 404.
80
B. Intemationalisierungsbestrebungen vor der Gtilndung der IVGA
Der Briisseler Kongreß - das Treffen der sozialpolitischen Intelligenz Daß die integrativen Absichten der Veranstalter des Zürcher Kongresses schließlich scheiterten, zeigte sich in der Einberufung eines zweiten, gleich betitelten Kongresses nach Briissel. In der belgischen Hauptstadt traten die in Zürich nur als Gäste zugelassenen Wissenschaftler als Kongreßveranstalter auf, während die Arbeiterorganisationen sich nicht beteiligten. Die Teilnehmerliste war in Brüssel von den Veranstaltern offen gehalten worden, orthodoxe Noninterventionisten stritten sich mit dezidierten Interventionisten 67. Der Briisseler Kongreß wurde daher vornehmlich als wissenschaftlich relevantes Ereignis rezipiert. Varlez, belgischer Spezialist rur Fragen der Arbeitslosenversicherung, war sowohl in Zürich als auch in Briissel dabei. Er hob die Bedeutung der Begegnung der französischen liberalen Schule mit der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie hervor, warnte aber gleichzeitig davor, den Gewinn an Wissenschaftlichkeit mit einem Verlust an Öffentlichkeit zu bezahlen 68. Während der Zürcher Kongreß aus französischer Sicht eine eher sekundäre Rolle spielte, waren die Briisseler Debatten dazu angetan, den in Frankreich nur schwach vertretenen Interventionsfreunden den Rücken zu stärken 69. Der in Briissel gepflegte wissenschaftliche Diskurs fiihrte allerdings nicht zu konkreten Ergebnissen. Während der Zürcher Kongreß einen Forderungskatalog verabschiedete, der sich auf die Sonntagsarbeit, auf Frauen- und Kinderarbeit bezog und die Griindung eines internationalen Arbeiterschutzamtes wünschte 70, legten sich die in Briissel versammelten Wissenschaftler nicht auf ein konkretes sozialpolitisches Programm fest. Hier gelang weder die Verabschiedung einer Schlußresolution noch ruhrte die Traktandenliste über den bereits in Berlin erreichten Stand der Debatten hinaus 71. Dennoch war den in 67 Musee social, Serie A, Circulaire No 19, Congres de la Ugislation du Travail, tenu du 27 au 30 septembre 1897, S. 406.
a Bruxelles
68 Varlez, Creation d'une association internationale pour le progres de la legislation ouvriere, Service des Correspondants, Belgique, Musee socia11899, S. 472. 69
Musee social, Circulaire No 19, S. 407.
70 Die christlichen Sozialreformer hatten die Forderung nach der GewAhrung der Sonntagsruhe durchgesetzt, dagegen auf ein Frauenarbeitsverbot auf Verlangen der sozialistischen Vertreter verzichtet. Zudem wurde ein Kinderarbeitsverbot unter 14 Jahren und der Achtstundentag filr Jugendliche, die 48-Stundenwoche filr Frauen sowie als Fernziel der generelle Achtstundentag diskutiert. Dommer / Gruner, Bd. 3, S. 685.
71 Die Traktanden waren als Fragen formuliert worden und beschäftigten sich mit der Entwicklung der Schutzgesetzgebung seit der Berliner Konferenz, mit der Frage, ob Arbeiterschutz auf erwachsene Mlinner auszudehnen sei, ob ein internationaler Arbeiterschutz sinnvoll sei, ob die Gesetzgebung filr gesundheitsgeflihrdende Industrien international koordiniert werden sollte, ob Verbindungen zwischen
11. Die Zeit der Konferenzen und Kongresse
81
Brüssel debattierenden Wissenschaftler ein größerer Erfolg beschieden als den in Zürich versammelten Pragmatikern. Die Gründung der IVGA ging auf Absprachen zurück, die arn Rande des Brüsseler Kongresses stattfanden. Schließlich hatte der Brüsseler Kongreß machtpolitisch nicht minder bemerkenswerte Konsequenzen. Die Konkurrenz zwischen Belgien und der Schweiz um den Sitz internationaler Organisationen war nun auch im sozialpolitischen Bereich aufgebrochen. Der Brüsseler Kongreß fand im Rahmen einer 1897 vom belgischen Staat veranstalteten Weltausstellung statt, die von einer ganzen Reihe sozialpolitisch relevanter Kongresse begleitet wurde. Zwischen Sommer und Herbst 1897 fanden neben dem Arbeiterschutzkongreß auch Kongresse für die Erstellung billiger Wohnungen, für die Propagierung der Sonntagsruhe, gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, ein Handels- und Industriekongreß und - als wichtigste dieser Veranstaltungen - der Congres des accidents du Travail et des assurances sociales statt. Während Paris auch im Falle Belgiens die nationalen Vorteile derartiger Kongresse untersuchte 72, schließlich aber an den meisten dieser Kongresse vertreten war, hielt sich die Schweiz deutlich zurück 73. Die schweizerische Politik wurde in der unterschiedlichen Behandlung des Zürcher und des Brüsseler Kongresses besonders deutlich. Dem Zürcher Kongreß wurde "volle Sympathie" entgegengebracht, man gedachte "an den zu behandelnden wichtigen Fragen den lebhaftesten Anteil (zu) nehmen" 74 und schickte den Fabrikinspektor Schuler als offiziellen Delegierten nach Zürich. Die belgische Einladung wurde dagegen mit einer im Hinblick auf die Unterstützung des Zürcher Kongresses nicht einsichtigen Begründung abgelehnt: Aus dem Programm gehe hervor, daß über Fragen debattiert werde, die schließlich einer Staatenkonferenz vorgelegt werden könnten 75. Die belgischen Erläuterungen klären das Problem. Die Zusammenkunft in Brüssel sollte zwar privaten Charakter
den sozialpolitischen Administrationen und eine internationale Arbeitsstatistik zu schaffen seien und welche Fragen sich bei den Ausfilhrungsbestirnmungen stelhen. Mus6e social, Serie A, Circulaire No 19,5.405f.
n So teilte das Finanzministerium dem Außemninisterium am 28.8.1896 mit, daß es bei der Veranstaltung des Kongresses gegen den Mißbrauch geistiger Getrlnke nur um einen sozialpolitischen Vorwand gehe, um Alkoholabgaben durchzusetzen. MdAE, Dir. des Ai[ comm. et CODS. Ai[ div., Belgique 1893-1899,315. 73 vgl. BAR 14n3. 74lndustriedepartement an den Bundesrat, 5.8.1897, BAR 14n3. 75lndustriedepartement an den Bundesrat, 14.6.1897, BAR 14n3. 6 Herren
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B. Intemationalisierungsbestrebungen vor der GrlIndung der IVGA
haben. aber dennoch eine Staatenkonferenz vorbereiten 76. Belgien war demnach dabei, sich auch die Berliner Nachfolgekonferenz zu sichern - ein Unternehmen, das die Schweiz nach wie vor ftir sich in Anspruch nahm.
76 Legation de Belgique en France an AM, Paris 3U.1897 sowie Congres international de legislation de Travail, Rundschreiben vom 10.2.1897, BAR 14n3.
c. Die Internationale Vereinigung mr gesetzlichen Arbeiterschutz
L Die Gründung der IVGA am Pariser Kongreß Am 25. Juli 1900 wurde in Paris ein Congres international pour la protection legale des travailleurs eröffnet. Der Kongreß dauerte drei Tage und verhandelte über die gesetzliche Limitierung des Arbeitstages, über ein Nachtarbeitsverbot, über Inspektorendienste und die Gründung einer Union internationale pour la protection legale des travailleurs. Im Gegensatz zu den vorangehenden Kongressen gelang dieser Veranstaltung die Gründung einer neuen, internationalen sozialpolitischen Vereinigung.
1. Die Rahmenbedingungen Die Rahmenbedingungen erfüllten die bereits bekannten und mehrfach festgestellten Voraussetzungen: - Eine europäische Streikwelle, die in besonderem Maß das Gastgeberland erschütterte 1, legte pazifizierende Aktionen nahe. - Die Exekutive des Gastgeberlandes stand unter Legitimationsdruck. Der "Neue Kurs", der das Kaiserreich zur Einberufung der Berliner Konferenz geruhrt hatte, läßt sich - wenn auch mit politisch entgegengesetzten Vorzeichen - bei der Gründung der IVGA auch in Frankreich feststellen: Die radikal-sozialistische Koalitionsregierung Waldeck-Rousseau versuchte die durch die Dreyfus-Affäre angeschlagene Republik nicht zuletzt durch sozialpolitische Maßnahmen zu stabilisieren. Die sozialpolitischen Konzepte der Regierung Waldeck-Rousseau wurden maßgeblich von Alexandre Millerand geprägt, der als erster Sozialist in einem bürgerlichen Kabinett seinerseits eine arbeiterfreundliche, gleichzeitig aber nicht koalitionsgeflihrdende Politik durchsetzen mußte. - Die sozialpolitischen Internationalisierungsstrategien wurden in dem bereits als diskussionsfördernden Kontext erkannten Rahmen einer Weltaus1 Vgl.
RPP 26/1900, S. 481.
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c. Die Internationale Vereinigung fi1r gesetzlichen Arbeiterschutz stellung präsentiert, die diesmal ein Palais de I'Economie sociale beinhaltete. - Die französische Regierung hatte die bisher von der Schweiz ausgeübte gouvernementale Leitfunktion übernommen. Staatlicher Einfluß machte sich dabei nicht nur in der Organisation der Weltausstellung bemerkbar. Millerand versuchte zudem, im Weltausstellungsjahr ein multilaterales sozialpolitisches Abkommen zwischen Belgien, dem Deutschen Reich und Frankreich abzuschließen.
Die langwierige Entstehungsgeschichte der IVGA zeigt allerdings, daß dieselben idealen Rahmenbedingungen bisher keinen Erfolg garantierten. Der Umstand, daß einer am Rande des Brüsseler Kongresses gebildeten Gruppe interessierter Sozialpolitiker drei Jahre nicht ausgereicht hatten, um eine internationale Vereinigung zu gründen, ließ nichts Gutes erwarten. Die schließlich gelungene Gründung einer internationalen sozialpolitischen Vereinigung ist demnach erklärungsbedürftig. Der Grund zum Erfolg liegt m. E. in den forcierten gouvernementalen Aktionen der Dritten Republik. Die Regierung war vornehmlich aus innenpolitischen Gründen an einer Internationalisierungsstrategie interessiert, denn die zur inneren Stabilisierung geplanten Sozialgesetze bedurften angesichts der sozialpolitischen Rückständigkeit der Dritten Republik und der zu erwartenden Widerstände im Senat einer internationalen Rückbindung. Zwar gelang es der Großmacht nicht, ein multilaterales sozialpolitisches Abkommen durchzusetzen, und die Vorteile sozialpolitischer Vermittlung durch neutrale Kleinstaaten sollte sich bestätigen. Die angestrebte multilaterale Konferenz war aber einer transnationalen Institutionalisierung förderlich, denn diese erschien den potentiellen Vertragspartnern, insbesondere dem Deutschen Reich, als geringeres Übel. Als Ergänzung zum gouvernementalen Kontext hatte sich auch das transnationale Umfeld verbessert. Die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 war an keine politisch brisanten Zentenarfeier gebunden wie die Ausstellung von 1889. Sie hatte sich zudem von einer Industrieausstellung zu einer auf ein Massenpublikum ausgerichteten Veranstaltung gewandelt. Wichtiger noch die Veranstaltung internationaler Kongresse wurde institutionalisiert und im eigenen Palais des Congres als Teil der Weltausstellung kenntlich gemacht. Diese die Entstehung einer internationalen Öffentlichkeit fördernde Bedingungen fielen für den Bereich der Sozialpolitik in nahezu idealer Weise mit dem Ausbau des Ausstellungsbereiches Economie sociale zusammen. Der enge Zusammenhang zwischen der Etablierung einer internationalen Öffentlichkeit und dem Ausstellungsbereich Economie sociale war auch den Veranstaltern
I. Die Gt1lndung der IVGA am Pariser Kongreß
85
nicht entgangen: Das Palais des Congres war gleichzeitig Palais de l'Economie sociale. Ein dritter Unterschied zu den bisherigen Institutionalisierungsversuchen internationaler Sozialpolitik bezieht sich auf die personelle Ebene. Mit Alexandre Millerand hatte die internationale Sozialpolitik eine Persönlichkeit gewonnen, die nicht nur wie Berlepsch über Exekutivgewalt verfügte, sondern zudem zur Absicherung der eigenen politischen Karriere an der Mobilisierung einer greDZÜbergreifenden Aktion interessiert war. Millerand mußte an der Veranstaltung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz gelegen sein. Der auf September 1900 nach Paris einberufene Kongreß der Internationale gedachte über den Fall Millerand, über die "Eroberung staatlicher Macht und die Bündnisse mit bürgerlichen Parteien" 2 zu verhandeln. Sollte es gelingen, in einem vorausgehenden Arbeiterschutzkongreß bürgerliche und sozialistische Sozialpolitiker an einen Tisch zu bringen, hätte sich das Urteil der Internationale bis zu einem gewissen Grad vorausnehmen lassen. Man konnte nicht gut Millerands Eintritt in ein bürgerliches Kabinett kritisieren, wenn Vertreter der europäischen Linken sich gleichzeitig an einem Arbeiterschutzkongreß mit vornehmlich bürgerlicher Ausrichtung engagierten. Auf die Versuche gouvernementaler Einflußnahme, auf die Bedeutung der Weltausstellung und die Politik Millerands soll im folgenden näher eingegangen werden.
Die Bemühungen um ein internationales Nachtarbeitsverbot in den Wollkämmereien Der Abgeordnete Eugene Motte hatte in der Debatte um das Budget des Handelsministeriums am 8. Februar 1899 die Einberufung einer internationalen sozialpolitischen Konferenz vorgeschlagen. Die Konferenz, die im Weltausstellungsjahr anzusetzen war, sollte über ein internationales Nachtarbeitsverbot in der Textilindustrie beraten. Der damalige Handelsminister leitete diesen Vorschlag an das Außenministerium weiter 3, das nach entsprechenden Vorsondierungen feststellte, daß neun Jahre nach der Berliner Konferenz 2
Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Paris, 23.-27. September 1900, in: KongressprotokoUe,
3
Delombre an AM, Paris 2.5.1899, MdAE, At[ div. cormn., France 178.
S.7.
86
C. Die Internationale Vereinigung flIr gesetzlichen Arbeiterschutz
keine Absicht zur Weiterfiihrung des internationalen Arbeiterschutzes festzustellen war. Das Außenministerium riet deshalb zur Zurückhaltung und schlug vor, die an der Weltausstellung stattfindenden Kongresse zur Vorbereitung der außenpolitischen Aktion zu nutzen. Die Vorteile transnationaler Absicherung wurden bei dieser Gelegenheit mit seltener Deutlichkeit erkannt. Die internationalen Kongresse böten die günstige Gelegenheit, sich über den Stand der Debatte in den wichtigsten Ländern zu orientieren und demgemäß zu handeln 4. Millerand griff dieses Projekt im September 1899 wieder auf und ließ dem Außenministerium mitteilen, daß die Weltausstellung dem Abschluß eines internationalen Abkommens llirderlich sei. Der Handelsminister schlug vor, den Verhandlungsbereich auf die Nachtarbeit in den Wollkämmereien einzuschränken und nur die sich in diesem Bereich direkt konkurrenzierenden Staaten Belgien, Frankreich und das Deutsche Reich zu beteiligen 5. Dem Projekt kam vor allem eine strategische Bedeutung zu. Falls nämlich die Regelung dieses vergleichsweise kleinen Teilbereiches gelang, vergrößerten sich nach den Vorstellungen Millerands die Chance zu einer internationalen Regelung der Nachtarbeit in der Textilindustrie 6. Nach den gescheiterten Versuchen der Schweiz und den unverbindlichen Wünschen der Berliner Konferenz hätte die Dritte Republik mit einem nicht auf die Frauen beschränkten Nachtarbeitsverbot in den Wollkämmereien Deutschland und die Schweiz als Führungsrnacht internationaler Sozialpolitik abgelöst. Doch die wohlüberlegte Aktion scheiterte an der dilatorischen Behandlung der französischen Vorschläge in Belgien und Deutschland. Der belgische Außenminister begrüßte zwar die von Frankreich angestrebte Fortsetzung der in Berlin begonnenen Entwicklung, zeigte sich aber den Interessen der belgischen Industriellen verpflichtet 7. In Berlin konnte man sich erst im Sommer des Ausstellungsjahres zu einer Antwort entschließen, die zwar keine Absage war, aber einer solchen sehr nahe kam. Man war zwar nicht gegen ein derartiges Abkommen, sah darin aber keinen großen Nutzen, zurnal Frauen und jugendliche Arbeiter genügend geschützt seien. Zudem wurde auch hier die Wahrung industrieller Interessen betont 8. Dennoch veranlaßte Millerand, daß das Außenministerium die beiden Botschafter in Brüssel und Berlin mit einer 4 Außeruninisterium an Handelsministerium, Paris 6.5.1899, MdAE France 178.
S Handelsminister an Außeruninister, Paris 18.9.1899, MdAE France 178.
7 Legation de France en Belgique, Direction des Consulats et des Affaires Conunerciales, an AM, Bruxelles 27.9.1899, MdAE France 178.
8 Ambassade de France en Allernagne, Direction des Consulats et des Affaires Commerciales, an AM, Berlin 9.6.1900, MdAE France 178.
I. Die Grilndung der IVGA sm Pariser Kongreß
87
Konferenzeinladung in die jeweiligen Außenministerien schickte 9. Brüssel sagte einen Monat später zu, Berlin verlangte eine Präzisierung der französischen Vorschläge, die am 10. Dezember dem französischen Botschafter in Berlin zugestellt wurden 10. Die von Millerand angestrebte Initiierung eines von der Weltausstellung mit transnationaler Unterstützung versehenen Neubeginns internationaler Sozialpolitik unter französischer Leitung war fehlgeschlagen. Sozialpolitische Internationalisierungsstrategien wurden demnach wieder auf die transnationale Ebene verwiesen. Die gouvernementalen Einflüsse beschränkten sich allerdings nicht auf den mißlungenen Versuch, eine internationale Konferenz einzuberufen. Das Handelsministerium mit Millerand an der Spitze nahm maßgeblich Einfluß auf die Gestaltung einer Weltausstellung, die den transnationalen Kontakten in besonderem Maß förderlich war.
Die Pariser Weltausstellung und das Palais des Congres et de I'Economie sociale 1889 hatten die an der Weltausstellung präsentierten sozialpolitischen Exponate noch in einer Vitrine Platz gefunden 11. Elf Jahre später wurde ein Palais des Congres et de I'Economie sociale errichtet. Das beachtliche Gebäude von 100 Metern Länge und 35 Metern Breite enthielt im Parterre eine Ausstellung zum Themenbereich Economie sociale. Im ersten Stock befanden sich Kongreßräume, die bis zu achthundert Personen Platz boten, und ein Kongreßzentrum, das die Organisation der zahlreichen internationalen Zusammenkünfte erleicherte 12. Das Gebäude machte einen musealen Eindruck. Architekt Ch. Mewes hatte sich von der Funktion des Palais als Kongreßzentrum leiten lassen. Breit angelegte Treppen, Zugänge und Galerien und eine selbst wohlmeinenden Zeitgenossen nicht ganz klare Ornamentik prägten das Bild 13. Dennoch war das Palais in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wurden die im Rahmen der Weltausstellung veranstalteten Kongresse 9
Außeruninister an die Botschaften in Berlin und Brtlssel, Paris 23.7.1900, MdAE France 178.
de France en Allemagne an AM, Berlin 21.9.1900, HM an AM, Paris 4.12,1900, AM an frz. Botschaft in Berlin, Paris 10.12.1900, MdAE France 178. 10 Ambassade
11
vgl. S. 59 ft:
12 Vgl. G. Ador, Die Weltausstellung in Paris 1900, Administrativer und technischer Bericht des Schweizerischen Generalkommissariats, Genf 1901, S. 65. V. Delosiere, Le Palais de l'Economie sociale, in: Encyc10pedie du siec1e, I'exposition de Paris (1900), Bd. III, Paris 1900, S. 304ft: 13 Le Palais des congres et de I'Economie sociale, in: Encyc10pCdie du siec1e, Bd. 11, Paris 1900, S.148.
88
C. Die Internationale Vereinigung fiIr gesetzlichen Arbeiterschutz
als Teil der Weltausstellung anerkannt, dem Transnationalismus im Palais ein Denkmal gesetzt. Daß Weltausstellungen zu einem Aufschwung transnationaler Kontakte führten, ist zwar nicht erst seit der lahrhundertwende 14 festzustellen. Allerdings wurden im Rahmen der Pariser Weltausstellung 1900 besonders viele internationale Zusammenkünfte abgehalten 1S, so daß das Palais de l'Economie sociale schon als Konferenzzentrale beachtlichen Zulauf erhielt. Auch die im Parterre des Gebäudes eingerichtete Ausstellung ist erwähnenswert. Economie sociale, als Gruppe XVI der Weltausstellung klassiert, wurde als weit gefaßter Oberbegriff definiert und zehn Klassen zugeteilt, deren thematische Breite dem Hauptanliegen der Veranstalter verpflichtet war, nämlich nichts Geringeres als ein "inventaire du siecle" 16 vorzustellen. Hygienisierungsbestrebungen, Sozialversicherungen und Genossenschaftsarbeit waren ebenso vertreten wie der Arbeiterwohnungsbau, Kreditgewährungen, Vorsorgeeinrichtungen und Arbeiterschutzmaßnahmen 17. Die Ausstellung war in Ländersektoren aufgeteilt, wobei die französische Abteilung knapp 50% der Aussteller umfaßte. An dieser Ausstellung profilierte sich die machtpolitische resp. ökonomische Peripherie. Die USA und das Zarenreich waren gut vertreten, der Bundesrat hielt sich aus Kostengründen zurück 18. Die Ausstellung war zwar weit umfangreicher als die 1889 präsentierte 'sozialpolitische Vitrine', grundsätzlich neue Formen der Visualisierung wurden aber nicht vorgestellt. Zwar wurden weit mehr Modelle gezeigt, nach wie vor dominierten aber Bibliotheken, Broschüren, Statistiken und nun auch Fotografien 19. Der museale Charakter des Gebäudes bestätigte sich demnach in einer Ausstellung, die sich letztlich doch vor allem an ein Fachpublikum richtete.
14 Vgl. dazu: A. H. Fried, Das Internationale Leben der Gegenwart, Leipzig 1908, Union des Associations Internationales (Ed), Les congres internationaux de 1900 a 1919, Vol. 11, Bruxelles 1964, S. 4.
IS
ibo
16
V. Delosiere, S. 303.
17
Encyclopeme du siede, Bd. 11, S. 148.
18
Der Bundesrat an den Regierungsrat des Kantons ZQrich, Bem 22.6.1898, BAR 14/42.
19
V. Delosiere, S. 304.
I. Die Grilndung der IVGA am Pariser Kongreß
89
Millerand und der gescheiterte Einbezug der Internationale Als Ausdruck nationaler Konkurrenz und wirtschaftlicher Macht waren die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts ein Instrument bürgerlicher Selbstdarstellung 20. Die Weltausstellung des Jahres 1900 trug aber sozialintegrative Züge, die vornehmlich auf Millerands Bemühungen zurückgingen. So war seine Rede zur Eröffnung der Maschinenhalle auf die Integrationsideologie des Solidarisme ausgelegt 21. Arbeiterdelegationen wurde der Besuch der Ausstellung erleichtert 22, und in den aufwendig gestalteten, der Weltausstellung gewidmeten Bände der EncyclopCdie du siecle zeigte ein nicht unwesentlicher Bestandteil des Bildmaterials Arbeiter bei der Erstellung der wichtigsten Ausstellungsbauten 23. Die Einladung der deutschen Linken an den internationalen Arbeiterschutzkongreß paßte demnach ins integrative Gesamtkonzept. Doch sollte es dem Organisationskomitee, in dem sich als enger Vertrauter Millerands Arthur Fontaine befand, trotz gegenteiliger Bemühungen nicht gelingen, die deutsche Sozialdemokratie zur Entsendung einer Delegation zu bewegen. Wilhelm Liebknecht schickte kurz vor seinem Tod eine Absage nach Paris 24. Liebknechts Argumente spiegelten die innerdeutschen Sozialpolitik-Debatte 25. Er erinnerte die französischen Organisatoren daran, daß die deutsche Sozialdemokratie bereits eine Beteiligung am Zürcher Kongreß abgelehnt hatte, obwohl in Zürich die Organisationen und nicht bloß, wie in Paris, einzelne Personen eingeladen worden waren. Des weiteren erklärte sich Liebknecht außerstande, seinen Namen unter jene zu setzen, die er zu bekämpfen habe 26. Das Fernbleiben der Deutschen wurde im "Mouvement socialiste" kritisiert, was wiederum eine Replik von Rosa Luxemburg evozierte 27. Luxemburgs Artikel machte die Bedeutung des Streites deutlich. Letztlich stand nicht der Arbeiterschutzkongreß, sondern die bevorstehende Zusammenkunft der Internationale 20 VgJ.
U. Haltern
21 vgJ. S. 36f 22 VgJ. BOT 1900, S. 502f 23 Encyclopedie du siecle, Bd. 1-111. 24 Liebknecht an einen nicht nAher bezeiclmeten Adressaten, Charlottenburg 11.4.1900, AN 6 AS 142.
2S VgJ. 26
Ratz, S. 37.
Liebknecht, Charlottenburg 11.4.1900
27 Rosa Luxemburg, Bürgerliche Arbeiterschutzkongresse und die Sozialdemokratie, in: Die Neue Zeit 1899/1900, zit nach Rosa Luxemburg, Gesanune1te Werke, Bd. 1/1, Berlin 1982, S. 791-797.
C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetzlichen Arbeiterschutz
90
und die Verhandlung über Millerands Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung zur Debatte. Der Kreis der Arbeiterschützer sei "im besten Falle eine zuflillige Vereinigung mehr oder minder aufrichtiger Ideologen, die nicht im Namen irgendeiner gesellschaftlichen Macht, sondern in ihrem eigenen Namen an uns appellieren" 28. Diese versuchten, die Macht der Linken für ihre eigenen Zwecke einzusetzen, "ihre Macht setzt voraus, daß es ihnen gelingt, unsere Macht zu brechen, der wir jedenfalls alles bis jetzt positiv Errungene verdanken" 29. Für Rosa Luxemburg war Millerands Sozialpolitik keine Errungenschaft der Linken, sondern bloß Ausdruck der herrschenden Regierungspolitik 30. Von Millerands sozialpolitischem Gesamtkunstwerk hatten sich daher wesentliche Teile nicht realisieren lassen. Dennoch zeitigte dieser breite Ansatz positive Konsequenzen. Zwar schmälerte die Absenz der deutschen Linken die Bedeutung der zu gründenden internationalen Vereinigung, doch dieser Mangel ebnete letztlich den Weg zur gouvernementalen Beteiligung an der IVGA. Der Abschluß einer multilateralen Konvention war mißlungen, doch der Umstand, daß die belgische und sogar die deutsche Regierung eine prinzipielle Zusage gemacht hatten, unterstrich die Legitimation des mit der Berliner Konferenz eingeschlagenen Weges.
2. Der Kongreß
Das Bemühen um eine wohlausgewogene Zusammensetzung und die Grenzen der Integrationsfähigkeit Die Zusammensetzung des französischen Organisationskomitees war Ausdruck einer wohlüberlegten Kongreßvorbereitung. Präsident Cauwes sollte für die wissenschaftliche Bedeutung der Veranstaltung einstehen, Vizepräsident Fontaine garantierte die Verbindung zu Millerand und zur sozialpolitischen Administration, und Uopold Mabilleau hielt den Zugang zur Infrastruktur
28
ibo S. 792.
29
ibo S. 794.
5 30 R. Luxemburg, Die sozialistische Krise in Frankreich, in: Gesammelte Werke, Bd. I/2, Berlin 1983, S. 53.
I. Die Grilndung der IVGA sm Pariser Kongreß
91
und Logistik des Musee sodal offen 31. Das Organisationskomitee brachte ein nicht minder ausgewogenes Kongreßpräsidium zusammen. So vertraten Cauwes und Philippovich die wissenschaftlich legitimierte sozialpolitische Intelligenz, Berlepsch sicherte die Verbindung zur Berliner Konferenz, Nyssens war ein Mitinitiant des BIiisseler Kongresses, und Scherrer hatte die Zusammenkunft in Zürich präsidiert. Die erhoffte Partizipation offizieller Regierungsvertreter blieb allerdings aus. Der Kongreß wurde zwar von Millerand, einem regierenden Minister, eröffnet, doch die offiziellen Delegationen zeigten Lücken. Oesterreich hatte eine ausnehmend große Delegation entsandt, da Wien nach wie vor das Projekt einer staatlich kontrollierten, internationalen sozialpolitischen Informationsstelle verfolgte. Belgien und die USA hatten eine Zweierdelegation geschickt, die Niederlande, Russland, aber auch Mexiko, dessen Präsenz wohl der Weltausstellung zuzuschreiben ist, entsandten einen Beobachter 32. Dennoch sorgte die Zusammensetzung des dreihundert Personen umfassenden Kongresses dafür, daß zumindest informelle Kontakte zwischen Angehörigen sozialpolitischer Administrationen zustanden kamen. Lichtenberger stellte "une preponderance visible de l'element universitaire et administratif' 33 fest, da eine bedeutende Anzahl ausländischer Fabrikinspektoren erschienen war. Die bereits in der Vorbereitungsphase aufgebrochenen Probleme hatten sich allerdings durch den Kongreß nicht lösen lassen. Die in der "Revue politique et parlementaire" geIiihmte Integrationsflihigkeit 34 zeigte Risse. Zwar konnten staatsinterventionistische Grundsatzdebatten ausgeschlossen werden, zwar waren Arbeitnehmer und Arbeitgeber vertreten, aber Lichtenberger stellte fest, daß die bürgerlichen Theoretiker dominierten 35. Als Mahaim in der Debatte über die Regierungsbeteiligung an der zu konstituierenden Vereinigung gar
31 Uon de Seilhac und Raoul Jay betreuten das Generalsekretariat. Vgl. A. Lichtenberger, Congres International pour la Protection legale des Travailleurs tenu a Paris du 25 au 29 Juillet 1900, Compte rendu sommaire, in: Ministe.-e du Conunerce, de l'Industrie, des Postes et des Telegraphes, Exposition Universelle Internationale de 1900, Direction generale de l'Exposition, Paris 1900, S. 3. 32
ibo S. 5.
33
A. Lichtenberger, Congres international pour la protection legale des travailleurs, in: Musee
social 1900, S. 265.
34 Die Berichterstattung hatte Uon de Seilhac Qbemommen. RPP 24/1900, S. 765, sowie RPP 25/1900, S. 605f. 3S A.
Lichtenberger, Musee sociall900, S. 293.
92
C. Die Internationale Vereinigung filr gesetzlichen Arbeiterschutz
die Partizipation des Heilgen Stuhles vorschlug Kongresses beinahe gefährdende Debatte statt.
36,
fand eine den Erfolg des
In Paris gelang, was bisher sozialpolitischen Zusammenkünften verwehrt war: Der Kongreß endete mit der Gründung einer internationalen Vereinigung. Das Konzept internationaler Sozialpolitik hatte damit erstmals seine Realisierbarkeit bewiesen. Doch dieser unbestreitbare Erfolg bedingte weitreichende Kompromisse und hatte mithin einen Preis, den die auf diese Weise gegründete Vereinigung zahlen mußte. Die Debatte drehte sich einmal mehr um die Frage, ob die zu schaffende Vereinigung vor allem Öffentlichkeitsarbeit leisten und politischen Druck mobilisieren sollte oder ob durch wissenschaftlich legitimierte Neutralität staatliche Anerkennung zu erreichen sei. Cauwes trat für eine private Vereinigung mit wissenschaftlicher Zielsetzung ein 37. Mahaim war dagegen der Meinung, daß eine auf den sozialpolitischen Fortschritt verpflichtete Vereinigung sich nicht auf die Herausgabe wissenschaftlicher Studien beschränken dürfe 38. Allerdings wollte Mahaim auch nicht für eine international koordinierte Politisierung sozialpolitischer Internationalisierungsforderungen eintreten. Vielmehr galt es, das Vertrauen der Regierungen zu gewinnen und diese als Mitglieder mit Sonderstatus in die internationale Vereinigung einzubinden 39. Dieser schließlich realisierte Ansatz war mit einem Verzicht auf Öffentlichkeit verbunden. Die Verpflichtung, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, blieb zwar in einzelnen Sektionsstatuten erhalten 40, wurde aber im Zweckartikel der internationalen Vereinigung nicht erwähnt 41. Die von Reichesberg als Verlust des Selbstbestimmungsrechtes kritisierte Orientierung an den Regierungen 42 und der von Lichtenberger beklagte Verzicht auf eine zu präzisierende Öffentlichkeitsarbeit 43 verschärften die Problematik des eingeschränkten Mitgliederkreises. Der Jahresbeitrag war so hoch angesetzt, daß die sozialpolitische Elite schon aus finanziellen Gründen unter sich blieb. Mahaim meinte, einzelne Arbeiter würden sich 36 E. Mahaim. L'Union internationale pour la protection legale des travailleurs, in: Congres international, S. 13.
31 Lichtenberger, 38 Mahaim,
Musee socia11900, S. 290.
Union internationale, S. 6.
39
ibo S. 13.
40
vgl. S. 173f.
41
Association internationale pour la protection legale des travailleurs, Statuts, in: Lichtenberger,
Musee sociaI1900, S. 294. 42 N.
Reichesberg, S. 28.
43 Lichtenberger,
Musee socialI900, S. 294.
I. Die Grilndung der IVGA am Pariser Kongreß
93
kaum um eine Mitgliedschaft bemühen, für deren Organisationen sei der Betrag hingegen nicht zu hoch 44.
Brisanz und Funktion des internationalen Vereins Die Hoffnungen auf die Partizipation der Arbeiterorganisationen hatten sich zwar zerschlagen, dennoch brachte der Grundungskongreß die Vorteile der IVGA eindrücklich zur Geltung. Dem Kongreß wurden nationale, sozialpolitische Berichte vorgelegt und deren Schlußfolgerungen in der Debatte überprüft. Zielformulierungen ergaben sich nicht aus der Festlegung eines Soll-, sondern aus dem internationalen Vergleich eines Ist-Zustandes. Man orientierte sich demnach an der fortschrittlichsten nationalen Sozialgesetzgebung. Dieses Vorgehen hatte seine nicht zu unterschätzenden Vorteile: Erstens wurden die Kongreßteilnehmer gezwungen, zuweilen über die Grenzen Europas hinauszublicken. Australien und Neuseeland, die, zumal in ihrer Abhängigkeit vom englischen Mutterland. im eurozentrischen System politisch keine Rolle spielten, gerieten auf diese Weise als Länder der Peripherie bereits am Grundungskongreß ins Zentrum des sozialpolitischen Interesses 45. Zweitens wurde an einer bereits existierenden Sozial gesetzgebung Maß genommen. Damit wurde der Vorwurf hinflUlig, die sozialpolitischen Forderungen seien unrealistisch und utopisch. Zudem ließ sich aus nationaler Fortschrittlichkeit auch innenpolitisch Nutzen ziehen. Der im französischen Parlament angekündigte 46 Grundungskongreß der IVGA diente in erster Linie der Durchsetzung von Millerands umstrittener Sozialpolitik. Die neben der Grundung der IVGA traktandierten Vorlagen die gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages, das Nachtarbeitsverbot und die Fabrikinspektion - stellten jeweils wichtige Themen in der innerfranzösischen Debatte dar. Die Beschränkung des Arbeitstages stellte aus französischer Sicht ein besonders wichtiges Thema dar. Dem internationalen Publikum wurden die Er44 Mahaim, Union internationale, S. 12. 45 A. Metin, La limitation legale de la joumee du travail en Australie et en Nouvelle-Ulande, in: Lichtenberger, Musee social1900, S. 271. 46
Vgl. Mahaim, S. 4.
C. Die Internationale Vereinigung flIr gesetzlichen Arbeiterschutz
94
rungenschaften des von Millerand lancierten Gesetzes vorn 30. März 1900 vorgestellt. Dieses Gesetz schrieb für gemischte, d.h. sowohl Frauen und Kinder wie auch erwachsene Männer beschäftigende Betriebe einen Zehnstundentag vor 47. Diese Arbeitszeit sollte in einer vier Jahre dauernden Übergangsfrist erreicht werden, während der auch für Frauen und Kinder der Arbeitstag noch 11 Stunden dauerte. Das Gesetz war vehementer Kritik ausgesetzt 48 und in hohem Maß legitimationsbedürftig. Ob der Kongreß diese Funktion erfüllte, ist nur schwer festzustellen. Immerhin hatte Millerand in der "sozialen Praxis" eine ausnehmend gute Presse. Der regelmäßig über Frankreich berichtende Schotthöfer stellte fest, daß Waldeck-Rousseau und Millerand zeigten, "wie fortgeschritten in Frankreich das sozialpolitische Denken der hervorragenden bürgerlichen Politiker und wie gemäßigt die Ideen der rechtsstehenden Sozialisten geworden sind" 49. Auch in der Nachtarbeitsdebatte wurde über die Lage in Frankreich gesprochen. Der Kongreß verurteilte die Nachtarbeit aufgrund einer vorn französischen Office du Travail zusammengestellten Dokumentation, die ihren Eindruck nicht verfehlte 50. Der Kongreß beschränkte sich aber auf die Forderung eines auf Frauen und Kinder beschränkten Nachtarbeitsverbotes. Diesem Entschluß ging eine Grundsatzdebatte voraus, die noch vor der Gründung der IVGA klar machte, daß die zu schaffende Vereinigung sich nicht als Plattform für Frauenfragen eignete. Die an diesem Kongreß noch präsente feministische Minderheit protestierte gegen eine Sondergesetzgebung für Frauen. Die deutsche Feministin Käthe Schirrnacher, die arn Pariser Kongreß zum ersten und letzten Mal im Rahmen der IVGA das Wort ergriff, warf den Vertretern des Frauennachtarbeitsverbotes vor, mit sozialpolitischen Mitteln Frauen als unliebsame Konkurrenz ausschalten zu wollen 51. Das Gastgeberland lieferte das passende Beispiel zu dieser These: Die ausschließlich von Frauen hergestellte und mithin auch nachts gedruckte Zeitung "La Fronde" verletzte das bereits bestehende französische Frauennachtarbeitsverbot. Die in Paris geführte Kontroverse ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Für die am Pariser Kongreß konstituierte Vereinigung erwies sich der Frauen47
Loi en date du 30 mars 1900, BOT 1900, S. 385.
48 Vgl. R. Luxemburg, Die sozialistische Krise in Frankreich, S. 45. R. persil, Alexandre Millerand (1859-1943), Paris 1949. 49 F. Schotth6fer, Frankreich und die internationalen Bestrebungen zur Fortbildung des Arbeiterschutzes, in: Soziale Praxis 1899/1900 Sp. 650.
so Lichtenberger, Mush socia11900, S. 282. 51
ibo S. 284.
I. Die GtiIndung der IVGA am Pariser Kongreß
95
schutz als konsensbildende Brücke zwischen Sozialpolitikern unterschiedlicher Richtung. Mit einem Frauennachtarbeitsverbot konnten sich katholische Sozialreformern identifizieren, die mit diesem Ansatz ihr christliches Familienideal verteidigten. Sozialpolitiker Millerandscher Ausrichtung nutzten eine auf Frauen ausgerichtete Schutzgesetzgebung, um diese schließlich auch auf erwachsene Männer übertragen zu können. und selbst die in Frankreich besonders wichtigen Depopulationsängste ließen sich zur sozialpolitischen Konsensbildung beiziehen. Da in den meisten europäischen Staaten bereits eine frauenspezifische Schutzgesetzgebung existierte, konnte hier die von der IVGA verfolgte Internationalisierungsstrategie einsetzen. Der Frauenschutz war demnach vornehmlich aus taktischen Gründen auf die Traktandenliste der IVGA geraten. Für eine Vereinigung, die sich dem gesetzlichen Arbeiterschutz verpflichten wollte, waren Frauen als Angehörige einer von der politischen Partizipation ausgeschlossenen Gruppe zudem von sekundärer Bedeutung. Schließlich war auch die Frauenbewegung in der Frage des Arbeiterinnenschutzes gespalten. Im Rahmen der Weltausstellung fanden zwar zwei feministische Kongresse statt, die eine sozialpolitische Gegenposition markierten und unter anderem für Frauen "la liberte du travail" forderten 52. Im 1901 erschienenen Handbuch der Frauenbewegung wurde allerdings eine anti interventionistische Haltung als Spezialität der französischen Frauenbewegung kritisiert. Anna Pappritz, Autorin des besagten Artikels, begrüßte denn auch ausdrücklich die Gründung der IVGA und des Basler Amtes 53. Die Debatte über die Arbeitsinspektion hatte wiederum eine mehrfach abgestützte Zielsetzung. Fabrikinspektoren waren am Kongreß gut vertreten und nützten die Gelegenheit, sich international Anerkennung zu verschaffen 54. Doch die Debatte beschränkte sich nicht auf die Legitimierung eines sich konstituierenden Berufsstandes. Die Fabrikinspektion wurde vielmehr zum Gradmesser sozialpolitischer Fortschrittlichkeit aufgewertet. Der Kongreß wünschte den Ausbau der Fabrikinspektion und die Anstellung von weiblichen Inspektoren und Medizinalpersonal. Die Verschärfung der Strafbestimmungen und die Zulassung von Arbeitern zum Inspektorendienst sollten die Durchführung einmal verabschiedeter Sozialgesetze garantieren 55. Die Fabrikinspektion wurde demnach zur bedeutendsten sozialpolitischen Kontrollinstanz aufgewertet - ein Ansatz, der letztlich auch der internationalen Vereinigung Ge52 Henriette Jean Brunhes, Les femmes & le mouvement sociaJ, in: Revue des Questions sociales et ouvrieres, cd. Association catholique, Vol. LV, Paris 1903, S. 59-76. 53 Anna PapprilZ, Die Frauenbewegung in Frankreich, in: Helene Lange (Hrsg.), Handbuch der Frauenbewegung. Bd. I, Berlin 1901, S. 387. 54 Lichtenberger,
55
ibo S. 289.
Musee sociaJ 1900, S. 288.
96
C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetz1ichen Arbeiterschutz
wicht und Bedeutung verlieh. Der Kongreß wünschte denn auch den Ausbau transnationaler Kontakte zwischen den nationalen Fabrikinspektoraten 56. Die Debatte über die Beteiligung der Arbeiter an der Fabrikinspektion markierte einerseits die Integrationsbereitschaft der IVGA und stützte andererseits einen weiteren Teilbereich von Millerands sozialpolitischem Reformpaket. Fontaine stellte dem Kongreß das von Millerand vorgeschlagene Konzept vor, Inspektoren zur Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Bourses du Travail aufzurufen 57.
Die Bedeutung des Pariser Kongresses Ein Urteil über den Pariser Kongreß muß notwendigerweise ambivalent ausfallen. Es gilt zu bedenken, daß Zielsetzung und Resultat nicht mehr viel gemein hatten. Der Kongreß war als Teil eines breit abgestützten sozialpolitischen Konzeptes geplant worden, das sich als undurchfiihrbar erwies. Der Kongreß hätte eine transnationale Ergänzung zu gouvernementalen Abmachungen dargestellt und gleichzeitig bewiesen, daß das Engagement der Regierungen nicht notwendigerweise mit dem Ausschluß der Linken verbunden sein mußte. In Paris hätte demnach vor einem weltweiten Publikum ein Kongreß stattfinden sollen, der die sozialpolitischen Ambitionen der drei vorangehenden Kongresse realisieren, mehr noch, eine Synthese der Forderungen von Berlin, Zürich und Brüssel erreichen wollte. Auf dem Hintergrund des sozialpolitischen Gesamtkonzeptes hätte der Pariser Kongreß mit der Gründung einer internationalen Vereinigung und der informellen Festlegung der wichtigsten Arbeitsgebiete seine Bedeutung mehr als deutlich gemacht. Als aber schließlich nur der Kongreß durchgefiihrt werden konnte, als sich nicht nur die Regierungen, sondern auch die Linke gegen Millerands sozialintegratives Konzept sperrten, begannen Anspruch und Leistung notwendigerweise auseinanderzuklaffen. Dem Pariser Kongreß wurde nun die Bedeutung der zwar erstmals gelungenen, aber auf privater und vornehmlich bürgerlicher Basis ruhenden sozialpolitischen Institutionalisierung zuteil. Dieser Erfolg machte nicht nur einen lückenhaften Eindruck, er bedingte zudem den Verzicht auf ein verpflichtendes sozialpolitisches Programm. Die Kongreßleitung verhinderte kontroverse Debatten und beschränkte sich auf die Formulierung unver56
ibo
57 Arthur Fontaine, Notes sur I'inspection du travail au moyen de detegues ouvrien en France, in: Congres international. Zur Bedeutung der Fabrikinspektion in Frankreich: D. Reid, Putting social refonn into practice: labour inspectors in France 1892-1914, in: Journal of Social History, 20( I), 1986, S.67-87.
I. Die GrOndung der IVGA am Pariser KOIlgreß
97
bindlicher Wünsche. Lichtenberger gelang ein Fazit. das nicht nur die Ambivalenz des Kongresses hervorhob, sondern auch auf die verbliebenen Leerstellen verwies: "L'oeuvre du Congres est grande en ce sens qu'a la place du neant il y a maintenant quelque chose. Mais ce que sera ce quelque chose c'est ce que l'avenir seul demontrera" S8.
S8 Lichtenberger,
7 Herren
Musee sociall900, S. 290.
98
C. Die Intemationale Vereinigung fllr gesetzlichen Arbeitenchutz
n. Die IVGA - Strukturen, Ziele und Funktionen J. Die Rahmenbedingungen
Dieses Kapitel will keine Geschichte der IVGA bieten, sondern drei Elemente hervorheben, die für Struktur und Funktion dieser Organisation wesentlich sind: Die Vereinsstatuten erlauben die Darstellung der nationalen Zielsetzungen, die, wie das österreichische und das französische Beispiel zeigen, sehr unterschiedlich definiert wurden. Die Debatte um Funktion und Bedeutung des Internationalen Arbeitsamtes erlaubt eine erste Auseinandersetzung mit dem von offizieller Seite bestimmten Handlungsspielraum der Vereinigung. Schließlich wird auf die unterschiedliche personelle Zusammensetzung der IVGA verwiesen.
Die Zielsetzungen der IVGA Die in den Statuten niedergelegte Zielsetzung der IVGA war reichlich vage gehalten. Die Vereinigung wollte ein internationales Arbeitsamt unterhalten und zudem all jene ansprechen, die in den verschiedenen industrialisierten Ländern für eine Arbeiterschutzgesetzgebung eintraten. Das Studium der Sozialgesetzgebung sollte erleichert und die notwendigen Informationen zugänglich gemacht werden. Schließlich verpflichtete sich die IVGA, für die Einberufung internationaler Arbeiterschutzkongresse einzutreten I. In der Nomenklatur der 1910 gegründeten Union des Associations Internationales erschien die IVGA als typisches Beispiel einer Association mixte, der sowohl Staaten und Organisationen als auch Einzelmitglieder angehörten 2. Die bereits anlässlich des Pariser Kongresses laut gewordenen Befürchtungen, die Regierungen könnten die IVGA bestimmen, waren nicht von der Hand zu weisen. 1901 waren zwar nur vier Regierungsdelegierte anwesend, 1912 aber bereits 83. Die Anzahl der stimmberechtigten Sektionsvertreter nahm von 37 (1901) aufbloß 49 (1912) zu, das Verhältnis zwischen Regierungs- und Sektionsvertreter wandelte sich demnach von 1:9 auf fast 2:1. Die Zunahme der Regierungsdelegierten ist zwar auch dem Umstand zuzuschreiben, daß die IVGA zunehmend von Staaten der europäischen Peripherie beschickt wurde. In diesen Staaten hatten sich noch keine nationalen Sektionen bilden können, 1 Statuts, IVGA 1901, S. 24Sff.
2 Paul Otlet, L'Organisation internationale et les Associations Internationales, in: Congres des Associations internationales (Bruxelles 1910), ed. Office central des Institutions Internationales, Bruxelles 1910.
11. Die IVGA - Strukturen, Ziele und Funktionen
99
die Vereinigung wurde demnach vor allem durch Regierungsvertreter repräsentiert 3.
Das Internationale Arbeitsamt Umfang und Ausmaß staatlicher Partizipation müssen aber als wesentliches Merkmal der Vereinigung diskutiert werden. Das Internationale Arbeitsamt macht die Ambivalenz von staatlicher Förderung und Kontrolle besonders deutlich, zumal dieses Verhältnis von einer gegenseitigen Abhängigkeit bestimmt wurde. Das Arbeitsamt war auf die staatlichen Subventionen angewiesen, leistete aber gleichzeitig jenen sozialpolitischen Informationstransfer, dessen Wichtigkeit seit der Berliner Konferenz anerkannt worden war. Die Verleihung eines zumindest halb-offiziellen Status hatte einen nicht unbeträchtlichen politische Preis. Das Amt sollte Informationen liefern, deren Wertung aber den Regierungen überlassen, also auf eine politische Instrumentalisierung, zu der die IVGA eigentlich gegründet worden war, verzichten. Der zum Direktor des Internationalen Arbeitsamtes berufene Stephan Bauer 4 mußte bereits zu Beginn seiner Tätigkeit feststellen, daß sein Handlungsspielraum nicht allzu großzügig bemessen war. Sein 1901 vorgelegtes sozialpolitisches Programm, das u.a. die Erarbeitung einer internationalen Sozialstatistik beinhaltete 5, wurde abgelehnt und als Bauers persönliche Meinungsäußerung verdankt 6. Im schließlich verabschiedeten Reglement wurde das Arbeitsamt als "wissenschaftliches Institut" vorgestellt, das den "Charakter strengster politischer Neutralität" wahren müsse 7. Dafiir unterstützten die Regierungen die Informationstätigkeit des Basler Amtes. Die schweizerische Regierung beauftragte ihre Gesandten, das Arbeitsamt mit den neuesten sozialpolitischen Vorlagen, Gesetzen und Weisun-
3 Garamv61gyi,
S. 636.
4 Der österreichische Nationalökonom Stephan Bauer gehört zu den interessantesten Vertretern jener in der IVGA aktiven sozialpolitischen Intelligenz. Vgl. Marthias von Bergen.
~ E. Bauer,l'Office international du Travail, SOlI organisation et SOlI but, IVGA 1901, S. 147ff. 6 Resolutionen 7
der konstituierenden Versammlung, Beilage 11, ibo S. 130.
Reglement filr das internationale Arbeitsamt, IVGA 1902, Beilage 7, S. 79.
100
C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetzlichen Arbeiterschutz
gen zu versorgen 8. 190 1 konnte Bauer befriedigt feststellen, daß fünfzehn Staaten das Arbeitsamt als "institution serni-officielle" 9 anerkannt hatten.
Öffentlichkeitsarbeit und personelle Kontinuität Da das Internationale Arbeitsamt einen nur beschränkten und in der Vorkriegszeit immer wieder problematisierten Handlungsspielraum aufwies, war die politische Öffentlichkeitsarbeit umso mehr eine Aufgabe der nationalen Sektionen der IVGA, die allerdings bedeutende, systembedingte Unterschiede aufwiesen. Ein Vergleich zwischen der österreichischen und der französischen Sektion der IVGA zeigt, daß sich das politische Engagement umgekehrt proportional zur internationalen Ausrichtung der Sektion verhält. Diese Differenz wird bereits in den Statuten deutlich. Während die ANF-Statuten im ersten Artikel bloß präzisieren, daß es sich dabei um die französische Sektion der IVGA handelt, wurde die österreichische Sektion in einem längeren Ingreß auf eine apolitische Haltung verpflichtet 10 . Die internationale Ausrichtung gewann auf dem Hintergrund der nationalen politischen Zurückhaltung an Bedeutung, zumal dieser greßZÜbergreifende Ansatz nationalitätenpolitische Debatten verhinderte 11. Die österreichischen Statuten präsentierten dagegen nur wenige konkrete Ziele. Der Vereinszweck, der Schutz der Arbeiterklasse, war ebenso vage formuliert wie die zu diesem Behufe zu unternehmenden Aktivitäten, die sich auf die Organisation sozialpolitischer Veranstaltungen, auf Publikationen und Petitionen beschränkten 12. Die französische Sektion schenkte dagegen den nationalen Zielsetzungen weit größere Aufmerksamkeit 13. Die ANF wollte den sozialpolitischen Gesetzgebungsprozeß durch den Einbezug der französischen Öffentlichkeit fordern. Zudem wurde die Eröffnung eines "bureau de consultations juridi-
8 Le Conseil federal Suisse aux representants de la Suisse a I'etranger, Circulaire, Beme, 31.5.190 I, in: Annexe I, IVGA 1901, S. 167. 9 Bauer,
Office international, S. 156.
Statuts de l'Association nationale ~se pour la protection legale des travailleurs, in: IVGA 1901, S. 259. Statuts de la section autrichienne pour la protection legale des travailleurs, in: ibo S. 2S I. 10
11 Vg1. Rapport de la
Soci& autrichienne pour la protection des travailleurs, ibo S. 210.
12 Statuten der österreichischen Sektion, ibo S. 25 I. 13
Art. 2 der ANF-Statuten, ibo S. 259.
H. Die IVGA - Strukturen, Ziele und Funktionen
101
ques" 14 geplant, das Arbeiter, Unternehmer und Berufsverbände über die Sozialgesetzgebung zu informieren gedachte. Die internationale Ausrichtung des Vereins galt in Paris nicht als innenpolitische Neutralitätsverpflichtung. Ein greDZÜbergreifender Vergleich sollte vielmehr politische Argumentationshilfe leisten 15 und die sozialpolitische Fortschrittlichkeit unter Beweis stellen, denn, so die ANF, es sei wichtig, daß Frankreich nicht hinter den anderen Nationen zurückbleibe 16. Der Handlungsspielraum der IVGA und ihrer nationalen Sektionen wurde aber nicht nur durch internationale Verpflichtungen und Subventionen, nicht nur durch innenpolitisches Engagement oder politische Neutralität bestimmt. Die personelle Kontinuität ist als drittes, die Vorkriegszeit bestimmendes Element zu erwähnen. Die IVGA und ihre nationalen Sektionen waren nach dem gleichen Prinzip konstituiert worden. Hier wie dort bestimmte die Generalversammlung ein Cornite directeur, das seinerseits ein Bureau als ständiges Exekutivorgan wählte. Das Cornite directeur unterlag zwar einem Rotationsprinzip, doch Wiederwählbarkeit, Kooptation und unbeschränkte Mandatsdauer hielten den Kreis der international organisierten Sozialpolitiker konstant. Letztlich bestimmten immer die gleichen Personen den Kurs der IVGA. Fontaine, Mataja, Caspar und Kaufmann waren während der ganzen Vorkriegszeit als Regierungsdelegierte Frankreichs, Oesterreichs, Deutschlands und der Schweiz tätig. Heinrich Scherrer leitete das der Schweiz zugestandene Präsidium der IVGA. Er gehörte als gemäßigter Sozialdemokrat zum Kreis der in der IVGA tätigen Politiker, ebenso wie Millerand und Berlepsch. Die Professoren Philippovich, Jay, Brentano und Francke wahrten die wissenschaftliche Kontinuität der Vereinigung. Auch die wenigen Arbeitervertreter waren über ein Jahrzehnt die gleichen. Briat, Keufer und Herman Greulich waren 1902 auf der Delegiertenliste und sollten es 1912 immer noch sein 17.
Die IVGA - ein Phänomen des Übergangs Die Organisationsstruktur der IVGA macht deutlich, daß der Verein nicht nur transnational wirken wollte, sondern auch selbst ein Phänomen des Über14 Art. 2 und 3, ibo IS Notice sur l'Association internationale pour la protection legale des travailleurs, in: Rapport de l'Association nationale fi'an9aise pour la protection legale des travailleurs, in: ibo S. 221.
16 ibo S. 222. 17
IVGA 1902, S. 11113, IVGA 1912, S. 20/24.
102
C. Die Internationale Vereinigung flIr gesetzlichen Arbeiterschutz
gangs darstellt. Der dem sozialpolitischen Fortschritt verpflichtete Vereinszweck ist das Resultat des fortschreitenden, nach einem Weltmarkt strebenden Industrialisierungsprozesses, die Förderung staatlicher Sozialgesetzgebung und deren greßZÜbergreifende Anwendung sind Merkmale des anbrechenden zwanzigsten Jahrhunderts. Doch das zukunftsträchtige Konzept wurde von einem kleinen Kreis international tätiger Sozialpolitiker getragen, und aus dieser Sicht unterschied sich die IVGA nicht wesentlich von einer gelehrten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Strukturell angelegte Disparitäten unterstreichen allerdings den Übergangscharakter der Vereinigung: Der wachsende Anteil der sozialpolitischen Administrationen veränderte den Gelehrtenklub. Die Beamten mußten die Vereinszugehörigkeit deklarieren, sie blieben kontrollierbar, während es die Umsetzung transnationaler Konzepte in gouvernementale Aktionen nicht war, zumal sich die Interessenvertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern nur marginal am Diskussionszirkel interessiert zeigten. Zwischen den an den Universitäten lehrenden Vertretern der sozialpolitischen Intelligenz und jenen, die in den neu entstandenen sozialpolitischen Verwaltungen aufstiegen, bestand eine national unterschiedlich ausgeprägte Grenze. Schließlich war Internationalität nicht mit kosmopolitischer WeItoffenheit gleichzusetzen. Der nationale Standpunkt spielte, wie das Beispiel der ANF noch zeigen wird, eine wesentliche Rolle, und die IVGA war auch strukturell auf das Modell zentralisierter Nationalstaaten ausgerichtet. Die zentralen sozialpolitischen Administrationen waren die wichtigsten Ansprechpartner in dem vom Basler Büro organisierten Informationentausch. Staaten mit einer föderalistisch aufgebauten sozialpolitischen Verwaltung ließen sich dagegen, wie das Beispiel der USA zeigt 18, nur schwer ins Konzept der IVGA einpassen.
2. Die französische Sektion der IVGA
Die publikumswirksame Darstellung der Sozialpolitik an der Weltausstellung hatte der französischen Sektion keine breite Anhängerschaft eingebracht. Die vereinseigene Gründungsgeschichte betont zwar, daß das Organisationskomitee des Pariser Kongresses bereits am 26. Juni 1900 von einem Teil der französischen Kongreßteilnehmer mit der schließlich am 3. März 1901 ge-
18
Vgl. dazu IVGA 1901, S. 55.
11. Die IVGA - Strukturen, Ziele und Funktionen
103
glückten Vereinsgrundung betraut worden war 19. Doch die ANF wies im Grundungsjahr nur gerade 113 Mitglieder auf - bedeutend weniger als die größte deutsche Sektion mit 673 und die schweizerische Sektion mit 238 Mitgliedern 20.
"Alles in Allem .. trostlos" - die Rolle der sozialpolitischen Intelligenz Der Erfolg ließ auf sich warten. Unter den 1903 verfaßten Rechenschaftsberichten glichen die Klagen aus Paris den düsteren Schilderungen des österreichischen Vereinspräsidenten Eugen von Philippovich. Es sei, so Philippovich, "Alles in Allem... trostlos". "In den Ausschußsitzungen ist noch nie jemand Anderer gekommen, als ein oder zwei Sozialdemokraten und dieselben 3, 4 Herren der Intelligenz" 21. Der Präsident der französischen Sektion, Cauwes, bestätigte, man sei "peu nombreux" geblieben. "L'opinion etait en general indifferente ou hostile" 22. In der Entwicklung der beiden Sektionen sind dennoch bedeutende Unterschiede festzustellen. Die österreichische Sektion erholte sich nicht mehr. Der Rechenschaftsbericht von 1912 wies keine Verbesserung der Lage auf 23. Sie wurde schließlich 1925 mit der Bemerkung aus dem Vereinskataster gestrichen, daß die Organisation "seit Jahren faktisch zu bestehen aufgehört" habe 24. Die französische Sektion existiert heute noch. Sie überstand die 1925 erfolgte Fusion der IVGA mit dem Comite international des assurances sociales und der Association internationale pour la lutte contre le chömage. Die aus dem Zusammenschluß hervorgegangene Association internationale pour le progres social betrachtet sich als Nachfolgeorganisation der IVGA 25. Das Ge-
19 Rapport de I'association nationale fr~ise pour la protection legale des travailleurs, IVGA 190 I, S.219.
20 Rapport du president, IVGA 1901, S. 139. 21 Philippovich an St. Bauer, Wien, 26.4.1903, SWA Handschr. 416 G 4. 22 Cauwes an den Prlsidenten der IVGA, Paris, 15(19?).5.1903, SWA Handschr. 416, G 8.
23 Vgl. Philippovich an Bauer, Tilbingen, 8.3.1912, SWA Handschr. 417 E 15. 24 Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, IM 103182-9/25. 2S A.
Berenstein, in: L'Association internationale pour le Progres social,
passe, ses statuts, ses sections nationales, Liege 1970.
SOll
objet, ses origines, son
C. Die Internationale Vereinigung ftlr gesetzlichen Arbeiterschutz
104
neralsekretariat der neuen Vereinigung wurde während mehrerer Jahre von der französischen Sektion geleitet 26. Die unterschiedliche Funktion der beiden Sektionen hatte deren Entwicklung geprägt. Die österreichische Vereinigung hatte einen dermaßen geringen Rückhalt in der Öffentlichkeit, daß sich die Frage nach dem Grund ihres doch langjährigen Bestehens stellt. Da die österreichischen Regierungssubventionen nicht in Frage standen, liegt die Vermutung nahe, daß die österreichische Verwaltung ein Interesse arn Weiterbestand der Sektion hatte, denn sie garantierte den Zugang zur internationalen Vereinigung und zu den durch das Internationale Arbeitsamt gebotenen Dienstleistungen. Es ist denn auch nicht weiter erstaunlich, daß die Sektion in der Zwischenkriegszeit aufgegeben wurde: Mit der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) bestand ein breiter abgestützter Zugang zur internationalen Sozialpolitik. Die Gründung der ILO zwang auch die französische Sektion zu grundsätzlichen, von einern kritischen Rückblick begleiteten Überlegungen. Albert Thomas und Arthur Fontaine, beide durch ihr Engagement für die ILO in besonderem Maß für einen Vergleich legitimiert, beschrieben die ANF als ein sozialpolitisches Uiskussionsforum, geprägt und geleitet von einer Elite, die sozialpolitische Maßnahmen selber nicht in Anspruch nehmen mußte. Albert Thomas kritisierte in einern Rückblick die mangelnde Breite, die mißlungene Öffentlichkeitsarbeit und die fehlende Integration der Gewerkschaften 27. Artur Fontaine fällte ein weit günstigeres Urteil. Er legitimierte die IVGA als Vorläuferorganisation der ILO, da - wenn auch ohne reglementarisch festgelegte Bestimmungen - bereits an der Bemer Konferenz Arbeitnehmer und Arbeitgeber vertreten gewesen seien 28. Der entscheidene Unterschied zwischen IVGA und ILO bestand auch für Fontaine in dem in der Vorkriegsorganisation greifbaren Engagement der sozialpolitischen Intelligenz. Fontaines Expose liefert dabei die m. E. präziseste Schilderung jener sozialpolitischen Intelligenz und deren Funktion in der Vorkriegszeit. Hier habe sich ein "milieu de conversations et d'etudes" gebildet, bestehend aus "personnalites Iibres et sans mandat qui s'interessent passionement au sort des travailleurs: professeurs de droit, professeurs d'economie, philosophes, philanthropes, individualites patronales et ouvrieres, hommes d'Etat, adrninistrateurs" 29. Diese 26 27
ibo S. 38f. Discours Albert Thomas,
0.1.,
16.1.1924 das Expose von Thomas.
AN 6 A$ 143. Die ANF behandehe in ihrer Sitzung vom
28
A. Fontaine, N6cessite, Methode et Evolution de I'AIT, handschr. Expose, unten. A Fontaine,
29
ibo
o.J, BIT Bäle 10431.
11. Die IVGA - Strukturen, Ziele und Funktionen
105
Gruppe war nach den Vorstellungen Fontaines ein unabdingbarer und letztlich nicht wegzudenkender Bestandteil des sozialpolitischen Diskurses. Dieser Ansatz verweist auf die nach dem Krieg in der Commission de Ugislation Internationale geftihrte Debatte, ob die Gesellschaft als Ganzes durch die Sozialpartner und den Staat hinlänglich vertreten sei. Fontaine vermißte in einem auf die Sozialpartner beschränkten Konzept vornehmlich den Aspekt zivilisatorischer Entwicklung. "Le developpement de la civilisation" könnten aber nur die "penseurs libres" garantieren, die, wenn auch reaiitätsbezogen, über die Freiheit wissenschaftlicher Reflexion verfugten 30. Wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, legitimierte die ANF ihre Arbeit mit eben diesen Ansätzen. Ihre vornehmlich wissenschaftliche Ausrichtung beschränkte und kanalisierte die angestrebte Öffentlichkeitsarbeit, Wissenschaft wurde als Mittel zur Aufhebung politischer Gegensätze verstanden. Dieser Ansatz hatte seinen praktischen Nutzen. Die Vereinigung eignete sich zur politisch unverdächtigen Diskussionsrunde, an der sich Parlamentarier mit unterschiedlicher Parteizugehörigkeit, aber auch Verwaltungsbeamte beteiligen konnten, so daß schließlich jeder wichtige Reformpolitiker in der ANF vertreten war 31. Die kontroverse Beurteilung der Vorkriegssozialpolitik in der Zwischenkriegszeit bestimmt letztlich auch die heutige Debatte. So will Stone die Bedeutung der ANF auf den Umstand beschränkt wissen, daß die Vereinigung die französischen Sozialpolitiker zusammenbrachte und sich dabei nur unwesentlich von anderen, von Reformern frequentierten Zirkeln unterschied 32. Allerdings sind m. E. bisher drei Aspekte nicht berücksichtigt worden: Zum einen gilt es, die nationale Sektion als Teil einer internationalen Vereinigung zu betrachten. Zweitens muß dieses "milieu de conversations et d'etudes" näher spezifiziert werden. Schließlich soll die Bedeutung jenes sozialpolitischen Diskurses näher untersucht und der Einfluß der Vereinigung auf den nationalen Gesetzgebungsprozeß beleuchtet werden.
30
ibo
31
Stone. S. 52.
32
ibo
106
C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetz1ichen Arbeiterschutz
m. Zielsetzung und Triger der ANF 1. Die Entwicklung der ANF in der Vorkriegszeit
Die in den ersten Rechenschaftsberichten beklagte Lage der ANF verbesserte sich. Die Mitgliederzahlen stiegen, und 1907 wies die Vereinigung in einer erstmals publizierten Mitgliederliste ca. 500 Mitglieder aus 1. Damit hatte die ANF ihren höchsten Vorkriegsstand erreicht und war zur drittgrößten Sektion der IVGA geworden 2. Dennoch reichte die steigende Anzahl von Mitgliedern zur ökonomischen Sanierung der ANF nicht aus. Die finanzielle Lage der ANF besserte sich zwar, als 1903 auf Antrag von Barthou, Millerand und Lemire staatliche Subventionen von jährlich 3000 Francs ausbezahlt wurden 3. Doch die Jahre zwischen 1905 und 1910 waren jeweils von einem Defizit bedroht. Die ANF versuchte daher, neben der zeitweise durch lokale Subventionen ergänzten öffentlichen Unterstützung die beiden hauptsächlichen Einnahmequellen - die Mitgliederbeiträge und den Verkauf der Publikationen auszuschöpfen. Ein erster, 1903 unternommener Versuch, durch eine Senkung des Jahresbeitrages von 15 auf 10 resp. von 5 auf 3 Francs eine breitere Mitgliederbasis zu schaffen, scheiterte. Die ANF blieb ein kleiner Kreis sozialpolitisch interessierter Intellektueller. Zudem verunmöglichte nicht nur die geringe Zahl, sondern auch die Einteilung der Mitglieder in zwei unterschiedliche Klassen eine erfolgreiche Beitragspolitik. Die ANF ruhrte teure 10-Francs-Vollmitgliedschaften, die den Bezug des Basler Bulletins einschlossen, und eine billigere Variante rur 3 Francs, die fiir die Sympathisanten der Bewegung gedacht war. Aus finanzieller Sicht waren allerdings nur die Vollmitgliedschaften interessant. Die ANF bezahlte pro Bulletinabonnement in Basel 5,25 Francs und profitierte von der Differenz zwischen reduziertem Bulletinpreis und Mitgliederbeitrag. Doch der sich in der Vorkriegszeit abzeichnende Mitgliederzuwachs fiihrte zu einer deutlichen Zunahme der finanziell weniger rentablen Billigmitglieder. 1901 kamen auf ein Billigmitglied noch fiinf Vollmitglieder, 1902 waren es noch zwei, 1912 stand das Verhältnis eins zu eins 4.
1 Association Nationale Fran~ise pour la Protection Legale des Travailleurs, Paris 1907. Fortan zitiert als Mitgliederliste. Eine zweite, nach dem Krieg zusarnmengestelhe Mitgliederliste befindet sich im Fonds Albert Thomas: Liste des membres pour la protection legale des travaiUeurs, BIT CAT
6 C-1.
2 Berenstein, 3
S. 36.
Vgl. Tournerie, S. 150.
4 Ohne
Lyoner Sektion. Abrechnungen der ANF, AN 6 AS 141.
ßI. Zie1setzung und TrAger der ANF
107
In einem unsignierten, vereinsinternen Papier wurde diese Entwicklung dem Verhalten der Fabrikinspektoren zugeschrieben. Die Direction du Travail, selber Abonnent des Basler Bulletins, stellte diese sozialpolitisch wichtige Publikation ihren Fabrikinspektoren zu Verfügung. Ein wesentlicher Grund, die teure Mitgliedschaft zu wählen, entfiel damit s, die Fabrikinspektoren wechselten zur Billigmitgliedschaft über oder traten aus. Die problematische Beitragspolitik betraf mithin auch die zweite Einnahmequelle der ANF, den Verkauf der Publikationen. Auch hier behinderten vielschichtige Probleme die Einkünfte der ANF. Der Vertrieb des Basler Bulletins wurde durch Spannungen zwischen Bauer und der ANF erschwert. Die ANF setzte zwar durch, daß die französische Ausgabe des Basler Bulletins in Paris und nicht bei Fischer, dem Hausverlag der IVGA, gedruckt wurde. Die mit der Vermeidung von Übersetzungsfehlern und Verzögerungen begründete Festlegung eines frankophonen Gegengewichts ging allerdings nicht problemlos über die Bühne. Bauer verkrachte sich mit Alcan, dem Wunschverleger der ANF, so gründlich, daß das französische Bulletin schließlich bei BergerLevrault erschien 6. Das Verhältnis zwischen der ANF und dem Basler Arbeitsamt blieb gespannt. Das erste, von der ANF ausgewiesene Defizit wurde 1906 jedenfalls mit Fehlern und Verzögerungen bei der Auslieferung des Basler Bulletins begründet 7. Die Herausgabe der eigenen Vereinspublikationen zeigte allerdings, daß diese Form der Öffentlichkeitsarbeit grundsätzlich problematisch war. Die aufwendigen Publikationen unterstrichen zwar die wissenschaftlich fundierte Bedeutung der ANF. Doch das Verhältnis zwischen Druckkosten und Bücherverkauf ließ sich niemals auch nur annähernd ausgleichen. Der Verkauf der ANF-Publikationen betonte letztlich die Abhängigkeit der Vereinigung von staatlichen Subventionen. Die Jahresrechnungen zeigen, daß Administrationen und staatliche Institutionen weit mehr Publikationen erwarben als Private. ANF-Publikationen wurden vom Handels-, Landwirtschafts- und Arbeitsministerium, vom Ministerium für öffentliche Arbeiten, vom neu geschaffenen Service du Travail Algeriens, von der Bibliothek der Deputiertenkammer und verschiedenen Universitätsbibliotheken angeschaffi. Andere Institutionen, wie einige Bourses du Travail, Handelskammern, Gewerkschaften und Unternehmerverbände stellten die Schriften der ANF ihren Mitgliedern zur Verfügung. Diese breite Streuung mag zwar beweisen, daß die Arbeiten der ANF geschätzt S Der 6
Verfasser argumentierte mit den Mitgliederzahlen von 1906. o.N., o.J., AN 6 AS 141.
Cauwes an Monsieur le President (Scherrer, mh), Versail\es, 17.12.03, SWA Handschr. 416 G 8.
7 So in einem Ilingeren, nicht unterzeichneten, aber wahrscheinlich von de Seilhac verfaßten Bericht. AN 6 AS 141.
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wurden. Doch der leichte Zugriff auf die ANF-Publikationen in den Bibliotheken unterschiedlicher Institutionen venninderte die Attraktivität der teuren Vollmitgliedschaften.
Die Gründung lokaler Sektionen Die ANF war demnach eine wichtige, aber unterstützungsbedürftige Vereinigung, die stets einer ambivalenten Interpretation ausgesetzt war, je nach dem, ob ihre Abhängigkeit hervorgehoben oder aber aus ihrer Unterstützung auf deren gesellschaftspolitische Relevanz geschlossen wurde. Diese Situation änderte sich auch durch die Schaffung regionaler Sektionen nicht. Die 1903 gegründete Section de Lyon (SL) erweiterte zwar die bisherigen Propagandamöglichkeiten, war aber vom lokalen sozialpolitischen Netzwerk abhängig, ohne dieses ausweiten oder mitbestimmen zu können. In Lyon prägte die 1900 gegründete Zeitschrift "Revue des questions pratiques de legislation ouvriere et d'economie sociale" die Debatte. Die Zeitschrift, in deren Patronatskomitee Cauwes, Jay und Gide saßen, die aber auch international bekannte Sozialpolitiker zu Wort kommen ließ, fiihrte selber Enqueten durch und hatte sich zudem verpflichtet, über die Arbeit der IVGA zu berichten 8. Die SL befand sich zudem, wie ihr Präsident Paul Pic betonte, "sous les auspices de l'Office social de Lyon" 9. Diese Institution hatte ähnliche Aufgaben wie das Pariser Musee social, veranstaltete Untersuchungen und Diskussionen zu sozialpolitisch relevanten Themen, besaß ein eigenes Publikationsorgan, Vortragsräume und eine Bibliothek. Die Einbindung in die regionale Infrastruktur machte die SL weitgehend unabhängig von der ANF, die auch finanziell nur wenig von ihrer regionalen Sektion profitierte. Das Office social zahlte zwar ein lO-FrancsAbonnement, doch die aus Lyon transferierten Gelder beschränkten sich auf einen Franc pro Mitglied. Die SL wies 1907 nur gerade 77 Mitglieder auf. Als sich de Seilhac 1914 nach dem Mitgliederstand erkundigte, berichtete der Generalsekretär des Office social von einem steten Mitgliederschwund und meinte, Paris solle nunmehr mit dem Office social als Einzelmitglied rechnen 10. Die zweite, im Februar 1906 in Lilie gegründete Lokalsektion, die Association du Nord pour la protection legale des travailleurs (AN), konnte sich zwar behaupten und wies eine interessante Zusammensetzung auf. Doch die AN arbeitete auf eigene Rechnung und lieferte keine Mitgliederbeiträge ab. Aller8 Revue 9
des Questions pratiques de legislation ouvrien: et d'i!conomie sociale, Programme 1903.
Paul Pic an St. Bauer, Lyon, 2.5.1904, SWAHandschr. 416 G 8.
10
Office socia! de Lyon, Secretaire general Jean Vermorel, Lyon, 13.7.1914, AN 6 AS 141.
III. Zielsetzung und TrIger der ANF
109
dings hatte auch die AN die in Paris wohlbekannten Schwierigkeiten: Die Liller Sektion gab eine eigene Publikationsreihe heraus und konnte nicht ganz einen Drittel ihrer Ausgaben mit jenen 200 Francs abdecken, die der Conseil general du Nord alljährlich zur Verfügung stellte ll. 1911 und 1913 geriet auch die AN in ein Defizit, konnte ihre Mitgliederbasis aber stabilisieren. Die Section du Nord wies 1907 116 Mitglieder aus. Im Februar 1914 waren es bloß noch 99, im Sommer aber wieder 126 12.
2. "Le milieu de conversalions el d'eludes"
Die folgenden Ausführungen basieren auf der 1907 von der ANF publizierten Mitgliederliste 13. Diese Liste umfaßt 474 Namen mit zum Teil unterschiedlichen Angaben. Zuweilen fehlen Vorname und Berufsbezeichnung, so daß die hier versuchten Zuordnungen nur als grobe, in den Ortsarchiven zu verifizierende Trends zu verstehen sind.
Die sozialpolitischen Ballungszentren Die Herkunft der auf der Liste aufgeführten Personen zeigt bereits einige charakteristische Merkmale der ANF auf. Sozialpolitisch Interessierte fanden sich vornehmlich in den Universitätsstädten und den industriellen Ballungszentren Frankreichs. Während die Section de Lyon ein vergleichsweise kleines, wenn auch nicht auf die Stadt beschränktes Einzugsgebiet hatte, wies die Section du Nord mehrere Zentren sozialpolitischer Aktivitäten aus: Diese Sektion stieß nicht nur in Lille, sondern auch in Tourcoing, Armentieres und Roubaix auf Interesse. Bezeichnenderweise stammte der größere Teil der in der AN tätigen sozialpolitischen Intelligenz aus der Universitätsstadt Lille. In Tourcoing, Roubaix und Armentieres dominierten dagegen Mitglieder, die direkt am Arbeitsprozeß beteiligt waren, und deren politische Vertreter. Die Pariser Sektion hatte ein weit größeres Einzugsgebiet, allerdings waren die Vertreter der Regionen größtenteils aufEinzelpersonen beschränkt. Ausgesprochen arme Gebiete wiesen keine Interessenten oder - wie im Departement 11 Vgl. Association du Nord pour la Protection legale des Travailleurs. Dieser Fonds enthält neben den Statuten auch das Ausgabenbuch der AN. AN 6 AS 141.
12 Association du 13
Nord an de Seilhac, 8.Juli 1914, AN 6 AS 141.
Vgl. Mitgliederliste.
110
c. Die Internationale Vereinigung fllr gesetz1ichen Arbeiterschutz
du Tarn - nur gerade ein einzelnes, aus beruflichen Gründen engagiertes Mitglied auf, nämlich den Inspecteur departemental de I'Enseignement technique. Die Annahme, daß neben der politischen Zentrale insbesondere Grenzgebiete und Exportindustrien an einem Engagement in einer international tätigen sozialpolitischen Vereinigung interessiert sein mußten, konnte nicht durchwegs bestätigt werden. Im Nordwesten schlossen sich zwar die Vertreter der Textilindustrie zur Section du Nord zusammen. ANF-Mitglieder finden sich zudem im Nordosten, in den Departementen um Maas und Mosel, den Vogesen, in Belfort und Vienne. Die Hafenstädte waren dagegen auffallend schlecht vertreten. Die 1906 angekündigte 14 Gründung einer lokalen Sektion in Bordeaux konnte nicht realisiert werden. In Le Havre vertraten immerhin ein Arbeitsinspektor und der Sekretär der Handelskammer die Interessen internationaler Sozialpolitik. Marseille war dagegen nur gerade durch einen Inspecteur divisionnaire du travail vertreten. Wichtige Hafenstädte wie Calais, La Rochelle oder Cherbourg erschienen dagegen nicht auf der Liste. Die IVGA interessierte sich allerdings in der Vorkriegszeit nur am Rande für Probleme des maritimen Arbeiterschutzes. Die ILO gestand diesem Bereich nach dem Krieg eine weit größere Bedeutung zu. Die 1920 in Genua stattfindende ILO-Konferenz widmete sich ausschließlich den Arbeitsbedingungen der Seeleute 15. Die interessierten Industriezweige lassen sich geographisch nur grob zuteilen. Im Nordwesten dominierte die Textilindustrie, im Nordosten fanden sich einzelne Vertreter der Metallindustrie, in Orleans und Paris fällt eine Gruppe von Verlegern und Druckern auf. Dieser Umstand ist wohl dem Engagement von Keufer, dem profiliertesten Vertreter der Arbeitnehmer in der ANF und Sekretär der Travailleurs du Livre zuzuschreiben. Zudem diskutierten IVGA und ANF die gesundheitlichen Gefahren des für das Druckereigewerbe wichtigen Bleis.
Section du Nord und das "milieu de conversation et d'etudes" ANF und Section du Nord wiesen charakteristische Unterschiede auf. Im Norden war die Gruppe der Unternehmer weit stärker vertreten. In der AN engagierten sich die großen Textilproduzenten, die gleichzeitig die politischen Honoratioren des Nordens darstellten. Trotz dieser bemerkenswerten Differenz
14
IVGA 1906, S. 74.
I~ Paul Devinat, L'Organisation internationale du Travail, Paris 1923, S. 17f.
III. Zielsetzung und TrAger der ANF
111
spielte das "milieu de conversations et d'etudes" aber auch hier eine entscheidende Rolle. Diese Gruppe wurde einerseits durch die Fabrikinspektoren geprägt, die in Tourcoing und Armentieres die sozialpolitische Intelligenz vertraten. Die Inspektoren waren im Norden auch in ihren höheren Chargen vertreten. Der Inspecteur departemental dieses Kreises, Boulin, engagierte sich im Comite der AN und stand zudem fiir die internationale Ausrichtung des Vereins ein. Er trat 1912 an der Delegiertenversammlung der IVGA als Regierungsvertreter Frankreichs auf 16. In Lille dominierte die sozialpolitische Intelligenz juristischer Prägung. Aus dieser Gruppe, die einen Drittel der in der Universitätsstadt Lille wohnenden Mitglieder umfaßte 17, stammte denn auch der 'Vordenker' der Association du Nord, der gebürtige Bulgare Albert Aftalion. Er versah 1900 mit 26 Jahren eine Professur an der Liller Rechtsfakultät und pflegte als Charge de conferences Verbindungen zur Pariser Schwesterfakultät. Von Schumpeter als "erste(r) Vorbote(.) einer neuen Epoche der französischen Volkswirtschaftslehre" 18 gelobt, verfügte Aftalion über die für den Verein charakteristischen Verbindungen zur Pariser Zentralverwaltung. Das Handelsministerium honorierte Aftalions Engagement 1919 mit dem Vorschlag, ihn in die Ehrenlegion aufzunehmen 19. Sein sozialpolitisches Engagement beschränkte sich auch im Rahmen der IVGA nicht nur auf die Section du Nord, der er als Generalsekretär vorstand. Seit 1906 beteiligte sich Aftalion an den Delegiertenversammlungen der IVGA 20. Neben Aftalion prägte Adeodat Boissard das wissenschaftliche Gewicht der AN. Boissard, der an der Faculte catholique in Lille und schließlich am Institut catholique in Paris lehrte, hatte der IVGA bereits 1901 seine Unterstützung zugesagt 21, beteiligte sich aber selten an den Debatten der IVGA 22, wird aber zu den Gründungsmitgliedern gezählt 23. 16 IVGA 1912, S. 20. 17 10 dieser Gruppe waren 15 Professoren, mehrheitlich aus der Faculte de droit, drei Anwälte, ein lic.jur. und ein Jurastudent vertreten. V 81. Mitgliederliste.
18
Schumpeter, Bd. 11, S. 1029.
19
AN F 12 8492, Personalblatt Aftalion, AA
20 IVGA 1906, S. XIII.
21 IVGA 1901, S. 78. 22 Boissard war 1902, 1908, 1910 und 1912 eingeladen worden, erschien aber nur 1908. IVGA 1908, S. 16. 23 Jolly,
Bd. 11, S. 643.
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Arbeitnehmer und Arbeitgeber Während das "milieu de conversations et d'etudes" in den sozialpolitischen Diskurs eingebunden war, akzentuierten die in der AN tätigen Arbeitnehmer und Arbeitgeber die lokalpolitischen Besonderheiten des Nordens. Das Engagement der Unternehmer ist bemerkenswert, da der Norden Frankreichs als sozialpolitisch rückständige Gegend galt. 1904 war eine parlamentarische Untersuchungskommission im französischen Teil Flanderns auf "a totally obstinate and uncorporative textil patronat" 24 gestoßen. Die Unternehmer wußten die Arbeiterschutzgesetze zu umgehen, wiesen hohe Unfallziffern aus 25 und verhinderten die Etablierung von Bourses du Travail 26. Die Gründung der Association du Nord ist allerdings nicht als sozialpolitische Kehrtwende zu werten. Zum einen muß an die vergleichsweise schmale Mitgliederbasis erinnert werden. Zum anderen war der Anteil der Unternehmer mit 24% zwar deutlich höher als in der Pariser Sektion mit 13% 27. Doch die in der Section du Nord tätigen Industriellen repräsentierten vornehmlich die Großunternehmen der Textilbranche. Mittel- und Kleinbetriebe waren dagegen nur marginal vertreten 28. In der AN finden sich demnach vornehmlich die bedeutenden Unternehmerfamilien des Nordens 29. Aus der Unternehmerdynastie Crepy beteiligte sich ein Leinenfabrikant wie auch der mit ihm verschwägerte Unternehmer Bommart aus der gleichen Branche 30. Agache leitete in Perenchie eine Leinenspinnerei mit 1400 Arbeitern, er war ebenso AN-Mitglied wie sein Kollege Conreur, dessen Leinenweberei als eine der bedeutendsten Firmen dieser Branche bezeichnet wird 31. Die in der Association du Nord dominierende 24 Hilden, S. 68. 2S ibo S. 100l[ 26 Peter ScMttler, Die Entstehung der Bourses du Travail, Sozialpolitik und französischer Syndikalismus am Ende des 19.Jahhunderts, FrankfurtlNew Yorlc 1982, S. 83. 27 Mitgliederliste. 2l! Gewerbetreibende, die sich als Negociant oder Pharmacien auswiesen, fmden sich dagegen in der Section de Lyon. ibo
29 Diese sind bereits seit Ilingerer Zeit Gegenstand sozialwissenschaft\icher Forschung. VgJ. Jean Lambert, Essai sur les origines et I'evolution d'une bourgeoisie, Quelques familles du patronat textile de Lille-Armentieres, Lilie 1954, Felix-Paul Codaccioni, Lilie 1850-1914, Contribution a une litude des structures sociales, T ome I et 2, These UniversitIi de Lilie, Lilie 1971.
30 Lambert, S. 344f 31
ibo S. 150
III. Zielsetzung und TrAger der ANF
113
Textilindustrie ist im übrigen vielseitig vertreten. Es finden sich unterschiedliche Verarbeitungsstufen und ebenso die unter schwerem Konkurrenzdruck leidenden Zweige der Leinenverarbeitung wie auch die aufstrebenden Unternehmungen der Baumwollbranche. Cousin schrieb sich als Leinengarnproduzent in die Liste der AN ein 32, Decherf und Duhot besaßen Webereien 33, AN-Mitglied Jeanson spezialisierte sich in seiner mechanischen Weberei auf die zukunftsträchtige Branche der Militärkleidung. Mit Le Blan, dem Inhaber von Le Blan freres, einer Baumwollspinnerei von beträchtlichem Ausmaß 34, beteiligte sich auch der Präsident des Syndicat des filateurs de coton am sozialpolitischen Diskurs. Louis Guerin brachte derweilen das Gewicht des von ihm präsidierten Unternehmersyndikates der Leinenindustrie ein, und Fauchille, Leinen- und Baumwollgarnproduzent, sollte nicht als einziges Mitglied der AN eine vornehme Liller Adresse und die entsprechende Steuerbescheinigung aufweisen 35. Die in der Association du Nord eingeschriebenen Industriellen stellten nicht nur einen vergleichsweise geringen, wenn auch innovationsfreudigen und diskussionsbereiten Teil des Unternehmertums dar, ihr sozialpolitisches Engagement bedarf zudem einiger einschränkender Bemerkungen. Die AN bemühte sich nämlich weniger um die Ausweitung der Sozialgesetzgebung als um die Einfiihrung sozialpolitischer Pazifizierungsstrategien. Die Vereinigung beschäftigte sich in ihrem Gründungsjahr 1906/07 in mehreren Sitzungen mit dem Thema "conciliation dans les conflits entre employeurs et ouvriers". Die Schlichtungsdebatte enthielt im streikgefährdeten Norden ein breites sozialpolitisches Identifikationpotential, für christliche Korporatismusvorstellungen 36 ebenso wie für grüne, gelbe und rote Gewerkschaften. Das Ziel, möglichst alle gewerkschaftlichen Organisationen zur Schlichtungsdebatte an den Tisch zu bringen, wurde nicht überall mit gleichem Erfolg erreicht. In Armentieres, wo 1903/04 der zweite Generalstreik des Nordens einsetzte 37, war zwar die Seite der Unternehmer mit dem Vizepräsidenten der Handelskammer und neun weiteren Industriellen recht gut vertreten. Dagegen fehlten die roten Gewerkschaften, während sich der Vertreter der christlichen Union syndicale de
s.
32
ibo
13\.
33
ibo S. 221
34
ibo S. 158.
35 Codaccioni, S. 972, Lambert, S. 136f. 36 Vgl. AbM R Ta/my, Une Forme hybride du catholicisme social en France: L' Association catholique des patrons du Nord 1884-1895, Lilie 1962. 37 Hilden,
8 Herren
S. 157.
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C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetzlichen Arbeiterschutz
I'Industrie textile in die Mitgliederliste der Association du Nord eingetragen hatte. Allerdings wurde dem AN-Miglied Joseph Villard erfolgreiche Integrationsbemühungen nachgesagt, die die Bedeutung der AN als Ort des sozialpolitischen Meinungsaustausches zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auch für Armentieres bestätigte. Villard, Fabricant de toile und BürgermeisterStellvertreter in Armentieres, war im Comite der AN engagiert und beteiligte sich rege an den Debatten der Vereinigung. Er hatte einen von Viviani begrüßten Fonds zur Arbeitslosenunterstützung geschaffen, der unter der Leitung von Villard von roten, grünen und gelben Gewerkschaften verwaltet wurde. In einer Sitzung der Association du Nord wurde diese gemeinsame Verwaltung als Beginn einer "plus grande union syndicale Hgefeiert, zu deren Entstehen die sozialpolitische Vereinigung etwas beigetragen hatte 38. In Tourcoing hatte sich der Cercle chretien d'Etudes sociales als einziger Verband in die AN-Liste eintragen lassen, während in Roubaix der Präsident der Industriellenvereinigung des Nordens die Präsenz der Unternehmer markierte. Das Bild wird etwas farbiger, wenn die Liller Syndikate einbezogen werden. An der Association du Nord beteiligten sich gleich mehrere Vertreter der roten Federation locale des Syndicats de Lille, hier waren aber auch die christlichen Gewerkschaften aktiv. Mit Fernand Leclercq, Sekretär und Begründer des Syndicat democrate chretien, beteiligte sich ein bekannter Führer der katholischen Gewerkschaftsbewegung an der Association du Nord 39. Seine Mitstreiter aus den Reihen des jungen, an der Sozialenzyklika HRerum novarum" orientierten Klerus zeigten sich auch an der AN interessiert. Abbe Six, Abbe Naudet und der allerdings in der Pariser Sektion aktivere Abbe Lemire fanden als Vertreter des sozialpolitisch progressiven, in den eigenen Reihen nicht unbestrittenen Klerus in der ANF eine nicht zu unterschätzende Legitimationsbasis.
Die Parlamentarier Die in der Mitgliederliste der Association du Nord aufgeführten Politiker stammen meistens ebenfalls aus den großen Industriellenfamilien des Nordens. Sie lassen sich ebensowenig einer bestimmten Parteirichtung zuordnen wie die in der Pariser Sektion vertretenen Parlamentarier. Allerdings weist die Section du Nord lokalpolitische Rückbindungen auf, die in der Pariser Sektion 38 De Lauwereyns de Rosendaele, La lutte contre le chömage, Paris 1910, Diskussionsbeitrag von Decailly, S. 21. 39
Ta/my, S. 155f
III. Zielsetzung und Träger der ANF
115
weniger deutlich auftreten. Die Bürgermeister, Inhaber eines prestigeträchtigen und lokalpolitisch bedeutenden Amtes, finden sich vornehmlich auf der Mitgliederliste der Association du Nord. Ausnahmen sind nur wenige festzustellen. Neben dem Bürgermeister A. Troubat von Plombieres bei Dijon treten die beiden Zentren Lyon und Paris hervor. Der Radikal-Sozialist Edouard Herriot 40 wurde auf der Mitgliederliste der ANF als Bürgermeister von Lyon aufgeführt, ebenso sein Parteikollege Justin Godart, der das Amt des Bürgermeister-Stellvertreters von Paris versah. Im Norden traten dagegen die Bürgermeister von Armentieres, von Tourcoing, Roubaix und LilIe auf. Die Liste wurde ergänzt durch den Industriellen Vancauwenberghe, Bürgermeister in St. Pol sur Mer, Auguste-Rohert SeIle, Vorstand der sozialistischen Municipalite von Denain 41, und Felix Coquelle, Bürgermeister in dem bei Dünkirchen gelegenen Rosendael, Inhaber eines großen Handelshauses, der sich sozialpolitische Verdienste mit maritimer Stellenvermittlung erwarb und sich um den Ausbau des Hafens von Dünkirchen bemühte 42. Die aus LilIe, Roubaix und Armentieres stammenden Deputierten deckten das politische Spektrum zwischen den Progressisten auf der rechten und den Radikal-Sozialisten auf der linken Seite der Mitte ab, wobei die Honoratioren der Gegend wiederum dominierten. Der Bürgermeister von LilIe, Charles Delesalle, engagierte sich im Comite der AN und verfolgte daneben eine engagiert republikanische Politik 43. Gleichenorts hatten sich die beiden den Progressisten zuzuordnenden Deputierten Delaune und Vandame in die Mitgliederliste der Association du Nord eintragen lassen. Allerdings findet sich auch Delory auf der Liste, Sozialist guesdistischer Prägung, schließlich auch Auguste Barrois, der als Mediziner und Naturwissenschaftler gleichzeitig im Comite houilIeres engagiert war 44. In Roubaix prägte der Textilindustrielle und progressistische Deputierte Eugene Motte das Bild, in Tourcoing dagegen der radikale Abgeordnete Gustave Dron, der sich als Arzt, Bürgermeister und Abgeordneter der Gauche radicale für sozialpolitische Fragen einsetzte 45. Auch in Armentieres dominierten die Honoratioren. Beide in der AN eingetragenen Deputierte, Bürgermeister Chas und der Textilindustrielle Dansette, waren als Unternehmer tätig. 40
vgl. Jolly, Bd. VI, S. 1960f
41 ibo Bd. VIII, S. 2986f 42 ibo Bd. III, S.1126f 43
Vgl. Hilden, S. 86.
44 Jolly, Bd. 11, S. 474. 45 Zu dessen vielfliltigern sozialpolitischem Engagement vgl. ibo Bd. IV, S. 1492.
c. Die Internationale Vereinigung fl1r gesetzlichen AIbeiterschutz
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Die Association du Nord - ein sozialpolitischer Debattierklub mit Freizeitcharakter? Die Bedeutung der Association du Nord ist nur schwer einzuschätzen, zumal weitere Untersuchungen in der Region von Nutzen wären. Immerhin muß festgestellt werden, daß die AN in ein Netz unterschiedlicher Organisationen eingebunden war, die vom jeweils gleichen Kreis von Personen bestimmt wurden. AN-Mitglied Dubron, Anwalt aus Douai, vertrat beispielsweise die von ihm geleitete Alliance d'hygiene sociale de la region du nord 46, und Bigo-Danel, Mitglied einer Liller Unternehmerdynastie, präsidierte die Societe industrielle, eine auf den Wissenstransfer von Produktionsmethoden spezialisierte Vereinigung 47. Derartige Aktivitäten lassen sich wohl nicht nur aus einer themenzentrierten Sicht beurteilen. Diese Vereinigungen hatten - gerade in der Region - auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Sie leisteten mit ihrem hohen Anteil an Honoratioren Abgrenzungs- resp. Integrationsfunktionen. Der engagierteste Unternehmer der AN, Villard, stammte bezeichnenderweise nicht aus der Gegend. Die Mitgliedschaft in einem sozialpolitischen Verein diente in seinem Fall wohl nicht zuletzt der Profilierung und Durchsetzung eines Fremden den alteingesessenen Unternehmerfamilien gegenüber. Die AN darf zwar nicht zum Ausdruck bürgerlicher Selbstdarstellung reduziert werden - dagegen sprechen nicht zuletzt die Aktivitäten des oben zitierten Unternehmers Villard, der seine Projekte wenigstens teilweise in die Tat umzusetzen verstand. An den vereinspolitischen Aktivitäten einiger Mitglieder ließe sich aber aufzeigen, daß der Beitritt zur AN noch mit anderen als sozialpolitischen Interessen verbunden gewesen ist. ANF-Mitglied Maxime Ducrocq, Notar in Lilie, interessierte sich für den Arbeiterwohnungsbau, galt aber vor allem als passionierter Jäger und Sportschütze. Sein Interesse am internationalen Arbeiterschutz fällt in bemerkenswerter Weise mit dem Umstand zusammen, daß er selber eine internationale Vereinigung, den Conseil international de la chasse, organisierte 48. Das internationale Engagement könnte speziell für den Bereich der Jagd - analog zu A. Mayers These von dem sich adelige Sitten aneignenden Bürgertum interpretiert werden: Grenzübergreifende Kontakte, vormals ein Charakteristikum überregional verschwägerter Adeliger, wurden nun vom bürgerlichen Vereinswesen beansprucht 49. 46
Dict.biogr. Bd. 11, s. I090f.
47 Lombert,
48
S. 731f.
Dict.biogr. Bd. 11, S. 1323.
49 Vgl. Arno Mayer, Adelsmacht und BOrgertum, Die Krise der europäischen Gesellschaft 18481914, MOnchen 1984.
III. Zielsetzung und TrAger der ANF
117
Die Pariser Sektion zwischen Wissenschaft, Administration und Politik Die Mitgliederstruktur der ANF unterschied sich nicht grundlegend von der nördlichen Zweigsektion. Hier wie dort trafen sich die sozialpolitische Intelligenz, Unternehmer, Arbeitervertreter und Parlamentarier zum sozialpolitischen Diskurs. Allerdings traten in der Pariser Sektion zwei Elemente deutlicher hervor: Die sozialpolitische Intelligenz stammte nicht nur aus den Pariser Universitäten, sondern auch aus der sozialpolitischen Administration. Zudem war die ANF mehr an der politischen Umsetzung sozialpolitischer Vorlagen als an der Debatte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern orientiert. Unternehmer und Arbeiter waren allerdings auch in der ANF vertreten. Keufer, Briat und Artaud prägten als Gewerkschaftsvertreter die ANF. Keufer, der die gemäßigte Federation du Livre leitete, engagierte sich im Comite directeur der ANF und war an sämtlichen Delegiertenversammlungen der IVGA anwesend. Auch Brial, Generalsekretär des Syndicat des Ouvriers en instruments de precision und Vizepräsident der ANF, war bereits an der konstituierenden Sitzung der französischen Vereinigung anwesend 50 und wurde stets zu den Delegiertenversammlungen der IVGA eingeladen 51. Artaud repräsentierte die Federation des Employes de France und brachte die Sicht der Angestellten in die Debatten der ANF ein. Das Interesse der uneinheitlich organisierten, um Anerkennung und Mitglieder ringenden Angestelltenverbände 52 verweist einmal mehr auf das legitimatorische Gewicht der Vereinigung 53. Keufer, Briat und Artaud hatten sich problemlos in das die ANF dominierende "milieu de conversations et d'etudes" integriert. Alle drei traten nicht primär als Interessenvertreter, sondern als sozialpolitische Experten auf, die ihr Wissen in den Versammlungen der ANF unter Beweis stellten. Zudem pflegten sie enge Kontakte zur sozialpolitischen Administration. Alle drei gehörten dem Conseil superieur du Travail an, Keufer und Briat beteiligten sich an der Ausbildung
so IVGA 1901, S. 34. 51 1906, 1910 und 1912 war Briat nicht an der Delegiertenversammlung der IVGA anwesend. Zur Einschätzung Briats vgl. Prefet de Police an Handelsminister, Paris 19.Juli 1900, AN F 12 8536.
52 Vgl. H. G. Haupt, Angestellte in der französischen Gesellschaft vor 1914, Einige einfilhrende Bemerkungen, in: J.Kocka (Hrsg.), Angestelhe im europäischen Vergleich, Göttingen 1981, S. 112141. 53 Neben Artaud waren in der ANF drei weitere Angestelhenverblnde vertreten: das Syndicat des Employes de Commerce von Lyon, das Liller Syndicat des Employes und dessen Pariser Schwesterorganisation gleichen Namens.
118
C. Die Internationale Vereinigung fiIr gesetzlichen Arbeiterschutz
der Fabrikinspektoren S4. Die beiden Gewerkschaftsvertreter waren zudem Mitglied des Musee social, und Keufer befand sich 1914 sogar im Grand Conseil dieser betont apolitischen, bürgerlich dominierten Institution SS. Die in der ANF vertretenen Unternehmer wiesen analoge Charakteristika aus. Auch in dieser Gruppe finden sich sozialpolitische Experten und entsprechend spezialisierte Verbände. Die beiden markantesten Unternehmer der ANF, Arquembourg und Strohl, verfaßten sozialpolitische Studien, die an den Sitzungen der ANF diskutiert wurden S6. Strohl erledigte zudem die zwischen ANF und IVGA anfallenden Finanzgeschäfte und war an allen Delegiertenversammlungen der IVGA anwesend. Über Ivan Strohl ist allerdings nur wenig bekannt. Der ANF wurde er als Textilindustrieller aus den Vogesen vorgestellt und sein Interesse an grenzübergreifenden Konzepten mit Exportgeschäften begründet S7. ArqUemboUrg gehörte dagegen der Gruppe der Ingenieure an. Die Ingenieure, ein in der ANF gut vertretener Berufsstand, wiesen zwei unterschiedlich orientierte Karrieremuster auf. Arquembourg profilierte sich an den Versammlungen der ANF als Unternehmervertreter. Er trat in der AN als Delegierter der Association des IndustrieIs auf und gehört zu den wenigen Unternehmervertretern, die sich regelmäßig an den Debatten der ANF beteiligten. Die beiden Ingenieure Georges und Maurice Alfassa engagierten sich dagegen neben der IVGA S8 in der Genossenschaftsbewegung 59. Obwohl die Ingenieure demnach unterschiedliche Zielsetzungen verfolgten, ist deren Zugehörigkeit zur ANF nicht zuletzt als Versuch zu werten, ihre berufliche Profilierung wissenschaftlich aufzuwerten und die Zugehörigkeit zur gewünschten Gruppe öffentlich zu dokumentieren. Die Beteiligung der Unternehmer darf aber nicht überschätzt werden. Diese Gruppe war auf den Legitimationsgewinn durch die ANF nicht angewiesen. Die Debatte um die Reglementation du Travail sollte zeigen, daß sich auch je54 Briat als Jurymitglied bei den Concours pour I'emploi d'inspecteurs departemental du travail, Keufer als Mitglied der Cornmission de c1assement du pen;onnel de I'inspection du travail. AN F 22
30S.
55
Musee social, 1914, S. 44. Zu Briat vgl. Musee social 1911, S. 31.
56
Vgl. die in der Bibliographie aufgefilhrte Liste der ANF-Publikationen.
57 Vgl. P. Pie, L'interdiction du travail de nuit, S.15. F. Fagnot IM. Lazard I L. Varlez, Les problemes du chömage, Paris 1910, S. 106. SI! Seit 1904 werden die Gebrüder Alfassa auf der Liste der eingeladenen Delegierten der IVGA aufgefilhrt. Georges A1fassa verfaßte fiIr die ANF mehrere Publikationen. Vg1. Bibliographie, Liste der ANF-Publikationen.
59 Dict.mouv.ouvr. S. 146.
III. Zielsetzung und Trlger der ANF
119
ne Unternehmer, die in der Mitgliederliste der ANF aufgeführt wurden, an den negativen Stellungnahmen der Handelskammern orientierten, ja diese zum Teil mitfonnulierten. Das Interesse der Unternehmer an der ANF wird m. E. von zwei unterschiedlichen Motiven bestimmt. Zum einen spielte der Zugang zu sozialpolitischen Infonnationen eine gewisse Rolle. So war ANF-Mitglied Mamy in seiner Funktion als Direktor der Association des Industrieis de France an der sozialpolitischen Vereinigung interessiert. Die von Mamy präsidierte und 1914 auf 3400 Mitglieder geschätzte 60 Unternehmervereinigung hielt einer staatsinterventionistischen Sozialpolitik das Prinzip unternehmerischer Selbsthilfe entgegen und hatte den Stellenwert einer sozialpolitischen Spezialorganisation. Schließlich interessierten sich auch Unternehmer für die ANF, die ihrerseits über grenzübergreifende Kontakte verfUgten, sei es, daß sie, wie Strohl, im Export tätig oder mit einem anderen transnationalen Bereich verbunden waren. Meistens war die ANF-Mitgliedschaft eines unter zahlreichen anderen Engagements, die im übrigen auffallend häufig mit Verdiensten um die Weltausstellungen zusammenfielen. So bei Henri Uaute, der im Kommunikationswesen tätig war. Erst in der Societe industrielle des Telephones beschäftigt, hatte er sich um verschiedene Ausstellungen, besonders aber um die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 verdient gemacht 61. Als Präsident der Societe des Cäbles sous-marins setzte er sich zudem mit einer Materie auseinander, die ihrerseits Gegenstand grenzübergreifender Abkommen war 62.
Die sozialpolitische Administration Die Vertreter der sozialpolitischen Administration stammten in den meisten Fällen aus dem oberen Viertel der Hierarchie. Mit Picquenard, Paulet 63 und Fontaine, alle drei Abteilungschefs im Arbeitsministerium. waren die Spitzenbeamten der sozialpolitischen Administration in der ANF vertreten. Allerdings ist deren Beziehung zur ANF nur schwierig zu dokumentieren, denn die 60 Ministeriumsinteme Note zu einem am 19.3.1912 dem Arbeitsministerium zugeschickten Bittbrief der Association. AN F 22 302. 61 Personalblatt Uaute sowie Societe industrielle des Telephones an das Handelsministerium, Paris 18.12.1894. AN F 12 5187.
62
Vgl.lnternationales Abkommen zum Schutz der unterseeischen Telegraphenkabel. Fried, S. 37.
63 Paulet leitete die mit Versicherungen und Vorsorge betraute Direktion des Arbeitsministeriums, engagierte sich filr die praktische Umsetzung von Bourgeois Solidarisme und wirkte sich prägend auf die Institutionalisierung der staatlichen Kontrolle der Versicherungsgesellschaften aus. Tournerie, S. 208, Note 118, L. Mirman, Les ALlcidents du Travail et le oontröle des societes d'assurance, RPP 39/04, S. 465.
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C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetzlichen Arbeiterschutz
Vertreter der oberen Chargen hielten sich in den Debatten der ANF deutlich zurück. Arthur Fontaine 64, einer der wichtigsten Förderer internationaler Sozialpolitik, äußerte sich zwar als Regierungsvertreter Frankreichs an den Delegiertenversammlungen der IVGA. Bei den Versammlungen der ANF blieb er aber, obwohl Mitglied des Vorstandes, meist im Hintergrund. Sein Interesse an IVGA und ANF hatte in seiner bemerkenswerten Karriere keinen herausragenden Stellenwert. Die 1894 erfolgte Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion konnte bereits mit nationalen wie internationalen Erfolgen begründet werden. Er hatte sich um den Aufbau des Office du Travail verdient gemacht und wies die übliche Breite sozialpolitisch relevanter Funktionen auf 65. Aus dieser Sicht war der mit Hilfe der IVGA vorbereitete Abschluß des französisch-italienischen Vertrages bloß ein zusätzlicher Erfolg in seiner überaus glanzvollen Karriere. ANF und IVGA profitierten von Fontaines Engagement, da er transnationale Kontakte virtuos zu handhaben und für seine Zwecke einzusetzen wußte. Fontaine beschrieb in einem Aufsatz nicht ohne pazifistische Intentionen Wirkung und Bedeutung internationaler Zusammenkünfte. Die kleine Schrift liest sich nachgerade als Gebrauchsanweisung, wie die hohe Verwaltung mit internationalen Kongressen umgehen sollte und im Falle Frankeichs auch umgegangen ist. Es sei häufig so, daß Verwaltungschefs an internationalen Kongressen ohne offizielles Mandat teilnähmen, die offiziöse Einmischung bleibe im Verlauf der Verhandlungen "extremement discrete" 66, wenn auch nicht wirkungslos. Fontaines Konzept verweist aber auch auf die Schwierigkeiten dieses Ansatzes: Internationale Zusammenkünfte, die auf diese Weise von Vertretern der Administration besucht wurden, hatten keine Möglichkeit, ihren Einfluß auf die Regierungsbeamten zu kontrollieren. Während Fontaine im Hintergrund blieb, engagierten sich Beamte des oberen Mittelfeldes wie Lederc de Pulligny und Fagnot, für IVGA und ANF. Der Ingenieur Lederc de Pulligny profilierte sich als Enqueteur des expandierenden Office du Travail und übernahm schließlich 1896 die Chefredaktion des Bulletins des Office du Travail. Mehrere Ministerien nahmen die Dienste des auf sozialpolitische Recherchen spezialisierten Beamten in Anspruch. Leelerc de Pulligny bemühte sich im Rahmen seiner zahlreichen transnationalen Ak-
64 Zur schlechten Quellenlage über Fontaine vgl. Toumerie. S. 212. vgl. auch Dict.biogr .• Bd. 14, S.282.
6S Dazu gehören u.a. sein Engagement filr die Weltausstellung Paris 1900, mehrmalige Beteiligung bei der Aushandlung von Zolltarifen, Mitglied beim Institut international de Statistique und dem Mus6e socia\. Vgl. Personalblatt Footaine, F 12 5146, De Foville, La Statistique, Les Statisticiens et leur Institut International, RPP 46/05, S. 240. 66 Fontaine. Les
congres intemationaux, 0.0. u.J., S. 5.
III. Zielsetzung und Trlger der ANF
121
tivitäten 67, in den Korrespondentenkreis der IVGA aufgenommen zu werden 68. Er engagierte sich als Experte für Industriegifte und war bis 1906 als Korrespondent der IVGA tätig 69. Francois Fagnot, als Enqeteur permanent ähnlich wie Leclerc de Pulligny mit der sozialpolitischen Administration verbunden, engagierte sich nachhaltig in der ANF. Fagnot, 1904 erstmals als Ersatzdelegierter an der Versammlung der IVGA anwesend 70, hatte als Typograph eine Gewerkschaftskarriere in der Bourse du Travail begonnen. Er organisierte Weiterbildungskurse für Arbeiter und verfUgte als Mitglied des Conseil superieur du Travail und des Musee social über die gängigen sozialpolitischen Verbindungen. Die sozialpolitische Administration wurde zudem durch die Gruppe der Fabrikinspektoren vertreten, deren Interesse an der ANF bereits dargelegt wurde.
Wissenschaft und ANF Die Gruppe der in der ANF vereinigten Wissenschaftler korrigiert das Bild einer grundsätzlich konservativen, dem industriellen Wandel indifferent gegenüberstehenden Haltung. George Weisz' Vorschlag, von wirtschaftlich sensibilisierten Universitätsdozenten 71 und, wie Clark 72 anmerkt, von einem zunehmenden Interesse der Öffentlichkeit an sozialwissenschaftlichen Fragen und einem daraus resultierenden Druck auf die Universitäten auszugehen, läßt sich durch die in der ANF engagierten Universitätsmitglieder bestätigen. Die Forderung nach einer sozialwissenschaftlichen Ausweitung des Lehrangebotes wurde im transnationalen Kontext gestellt, als Durkheim am Congres 67 So an den internationalen Kongressen filr Hygiene und Demographie U.8. Personalblatt Ledere de Pulligny, AN F 12 8648.
68 Naehdem sieh Ledere de Pulligny Bauer als Korrespondent angeboten hatte, mußte er dieses Angebot relativieren. Erst müsse geprilft werden, ob diese Aufgabe mit seinen Funktionen kompatibel sei. Ledere de Pulligny an Bauer, Paris, 23. Juli 1903, SWA 416 G 8. 69
Er verließ 1909 Frankreich, um in der brasilianischen Hafenstadt Pemambuco (heute Reeife) das
70
IVGA 1904, S. 13.
71
George Weisz, The Emergence ofmodem Universities in France, 1863-1914, New Jersey 1983,
Amt eines Directeur generat de la societe de construction du port de Pernambuco anzutreten. ibo
S.194.
n Terry Nicols Clark, Prophets and Patrons: The French University and the Emergence of the Social Sciences, Cambridge 1973, S. 162.
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international de l'Education sociale die Schaffung universitärer Kurse für Economie sociale verlangte 73. Die ANF war allerdings keine Plattform der Durkheim-Schule, wenn auch Fran~is Simiand, Herausgeber der den Durkheimianern nahe stehenden "Notes critiques: sciences sociales" auf der Mitgliederliste der ANF aufgeführt wird 74. An den ANF-Versammlungen begegneten sich vielmehr Vertreter unterschiedlicher Schulen und Fachrichtungen, wobei die sozialpolitisch innovativen Institutionen auffallend präsent sind. So leitete ANF-Mitglied Bergeron das College libre des Sciences sociales, einer der "largest social teaching institution in France" 75. Dem Comite d'etudes sociales war ebenso an der ANF-Mitgliedschaft gelegen wie der Universite populaire lyonnaise. Mit der Universite populaire war zudem eine Institution in der ANF vertreten, die die sozialpolitische Intelligenz mit der Arbeiterbildung verband. Die wissenschaftliche Motivation, der ANF beizutreten, dürfte nicht eindeutig zu bestimmen sein. Zum einen traten Forscher auf, die in ihren vielseitigen transnationalen Aktivitäten auf die ANF nicht angewiesen waren, dafür aber der IVGA wichtige Dienste leisteten. So der Soziologe Blondei, ein international tätiger Wissenschaftler, der Nachforschungen über die Stellung Frankreichs in der Weltwirtschaft, aber auch über die Arbeiterschaft Oesterreichs und Deutschlands betrieb 76 und daneben zwischen 1902 und 1906 noch als Korrespondent der IVGA aufgeführt wurde. Obwohl es den typischen Vertreter des in der ANF engagierten Wissenschaftlers nicht gibt, handelt es sich allerdings auffallend oft um sozialpolitisch innovative, im Wissenschaftsbetrieb aber (noch) nicht etablierte oder nicht eindeutig einer bestimmten Fachrichtung zuzuordnende sowie interdisziplinär arbeitende und deshalb um Unterstützung bemühte Dozenten. Paul Cauwes, bis 1907 Präsident der ANF und bis zu diesem Zeitpunkt regelmäßiger Teilnehmer an den Delegiertenversammlungen der IVGA, ist in diesem Sinne ein typischer Vertreter der in der ANF tätigen sozialpolitischen Intelligenz. Zwar als Professor an der Faculte de droit in Paris tätig, war Cauwes weder einem geschlossenen Zirkel noch eindeutig einem Fachbereich zu-
s. 174.
73
Clark,
74
Sirniand war Nachfolger von Renard im College de France. Vgl. Clark, S. 54, S. 165.
75 ib. S. 156. Wichtige ANF-Aktivisten wie Fontaine und Brunhes unterrichteten an dieser Institution, zudem bestanden Verbindungen zum Musee social. 76
Dict.biogr. Bd.6, S. 699.
III. Zielsetzung und TrIger der ANF
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zuordnen 77. Mehr Jurist als Ökonom vertritt Cauwes die vornehmlich juristisch ausgerichtete Variante der französischen Sozialpolitik 78. Georges Renard, 1908 und 1910 an den Delegiertenversammlungen der IVGA anwesend 79, wirkte sich seinerseits auf die jüngere Generation der in der ANF versammelten Sozialpolitiker aus. Er lehrte an dem rur seine innovative Haltung bekannten 80 College de France und hatte den von Millerand im Conservatoire des Arts et Metiers neu geschaffenen Lehrstuhl fiir Histoire du Travail inne. Zu den Schülern dieses gewerkschaftlich und politisch aktiven Lehrers gehörte unter anderen Albert Thomas, der die Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit prägen sollte. Charles Gide, auf internationaler Ebene der Genossenschaftsbewegung verpflichtet 81, als Nationalökonom zusammen mit ANF-Mitglied Charles Rist Verfasser der erfolgreichen Histoire des doctrines economiques 82, beteiligte sich wie Renard an der universitären Professionalisierung sozialpolitischer Fragestellungen. Er versah als erster Dozent den von Chambrun gestifteten Lehrstuhl fiir Economie sociale comparee an der Pariser juristischen Fakultät. Er war in der Einschätzung sozialpolitischer Internationalisierung eher zurückhaltend, da der IVGA eine höchstens semioffizielle Bedeutung zugestanden wurde 83, beeinflußte aber die Ligue sociale d' acheteurs. Die Mitbegriinderin dieser Konsumentenorganisation, Henriette Brunhes und ihr Mann, der Geographieprofessor Jean Brunhes, gehörten beide der ANF an 84. Die Arbeit von Paul Pic, der sich bereits 1902 im leitenden Ausschuß der ANF befand, war dagegen eng mit der Zielsetzung der Vereinigung verbunden. Er protegierte nicht nur die Sektionsgriindung in Lyon und versuchte, um die von ihm herausgegebene Zeitschrift "Questions pratiques de Iegislation ouvriere" einen die universitären Mauem überschreitenden sozialpolitischen Zirkel aufzubauen. Er gehört zudem zu jenem kleinen Kreis der ANF-Aktivin Schumpeter, Bd. 11, S. 1029. 78
Dict.biogr., Bd. 7, S. 1482.
79
IVGA 1908, S. 16, IVGA 1910, S. 17.
80
Weisz, S. 53.
81 1903 befand sich Gide im Zentralkomitee der Union coopenuive internationale. Dict.mouv.ouvr. Bd. 12, S. 276.
82 Schumpeter,
83 Vgl.
Bd. 11, S. 1029.
eh. Gide.
S. 161.
84 Henriette Bronhes engagierte sich zudem in der IVGA und pflegte regen Kontakt zu Stephan Bauer.
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sten, der sich für die Internationalisierung sozialpolitischer Normen einsetzte. Er verfaßte 1902 den Sektionsbericht der ANF über die Frauennachtarbeit, war allerdings nur 1904 und 1908 an den Delegiertenversamrn1ungen der IVGA anwesend 85. In seinem Werk Traite elementaire de legislation industrielle 86 ging Pic auf die Internationalisierung der Arbeitsgesetzgebung ein und vertrat damit - wie einer seiner Rezensenten feststellte - einen neuen Trend in der Rechtswissenschaft 87. Während die bisher aufgeführten ANF-Vertreter im breiten Spektrum sozialwissenschaftlicher Fachrichtungen tätig waren, trat auch eine Gruppe von Wissenschaftlern auf, die sich an Medizin und Hygiene orientierte. Da sich IVGA und ANF mit gesundheitsgeflihrdenden Arbeiten und Industriezweigen auseinandersetzte, scheint der Einbezug der Medizinalberufe naheliegend. Allerdings wurden Untersuchungen zu derartigen Themen meist nicht von Medizinern verfaßt. Der französische Spezialist für Berufskrankheiten war Jules Louis Breton, ein am College de France ausgebildeter Chemiker, der als Parlamentarier zur Gruppe der Republicains socialistes gehörte und schließlich 1920 das Ministerium für Hygiene, Assistance und Prevoyance sociale übernahm 88. Für die Industriegifte war der Ingenieur Georges Alfassa, für Arbeitsunfälle der Jurist Henri Capitant zuständig 89. In der Sektion von Lyon scheinen die Ärzte als Berufsgruppe eine größere Rolle gespielt zu haben als in der Pariser Sektion und der Association du Nord. Jules Courmont, Vizepräsident der Lyoner Sektion, hatte sich als Arzt und Inhaber eines Lehrstuhls für Hygiene auf sozialpolitisch relevante Fragen spezialisiert. Zu Courmont gesellte sich eine Gruppe von weiteren neun Ärzten, deren ANF-Mitgliedschaft aber ebensogut Ausdruck ihres Interesses am Office social de Lyon sein könnte 90. Im Norden findet sich nur gerade ein einziger Arzt auf der Mitgliederliste, der Deputierte ThOOdore Barrois 91, in der Pariser Sektion immerhin drei. Unter ihnen befindet sich zudem ein typischer Vertreter jener in der ANF 85
IVGA 1902, s. 68; IVGA 1904, S. 13; IVGA 1908, S. 16.
86
1902 in zweiter, erweiterter Auflage in Paris erschienen.
87 Bellom,
RPP 33/02, S. 565.
88 Jolly, Bd. 11, S. 759ff. Vgl. auch J. L. Breton, L'interdiction de la ceruse dans Il'industrie de la peinture, Paris 1905, Ders., Les maladies professionnelles, Paris 1911.
89 G. A/fassa, Les poisons industriels, Paris 1906, H. Capitant, Les accidents du travail dans I'agriculture, Paris 1909, Ders., Les accidents du travail survenus aux enfants iges de moins de treize ans, Paris 1913. 90 Zur Lyoner 91
Sektion vgl. S. 108.
Barrois engagierte sich zudem im Comite houilleres, Jolly, Bd. 11, S. 474.
III. Zielsetzung und Triger der ANF
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gehäuft auftretenden Interdisziplinarität. ANF-Mitglied Fauquet promovierte als Arzt über die gesundheitlichen Probleme der Heimarbeit und wechselte schließlich in den Inspektorendienst über. Er engagierte sich zudem in der nationalen und internationalen Genossenschaftsbewegung, beteiligte sich an der Redaktionsgruppe des "Mouvement socialiste" und wurde nach dem Krieg als Genossenschaftsspezialist in das BIT berufen 92. Ärzte spielten demnach als Berufsgruppe in der ANF keine wesentliche Rolle. Der Grund wird allerdings nur zum Teil in ihrem geringeren sozialpolitischen Legitimationsbedürfnis zu suchen sein. Hygienebestrebungen waren vielmehr eigenständige, von der sozialpolitischen Administration geförderte und international organisierten Bereiche, deren Interessen sich, wie das Beispiel von Langlois zeigt, gelegentlich mit der Arbeit der IVGA überschnitten. Der Medizinprofessor Dr. Langlois hatte sich auf Berufskrankeiten spezialisiert und war verschiedentlich vom Arbeitsministerium mit offiziellen Auftragsarbeiten betraut worden 93. Langlois, Generalsekretär des französischen Komitees des 1910 in Brüssel stattfindenden internationalen Kongresses über Berufskrankheiten, interessierte sich für die im gleichen Jahr in Lugano stattfindende Delegiertenversammlung der IVGA, die über Caissonkrankheiten zu diskutieren gedachte. Er schlug vor, daß die IVGA vermehrt Arbeitsmediziner einbeziehen sollte 94 und nahm schließlich an einer der Delegiertenversammlung vorausgehenden Tagung der mit Caisson- und Taucherarbeiten beschäftigten Spezialkommission teil.
Parlamentarier, Politiker und Hommes de lettres Die berufliche Zusammensetzung der ANF zeigt, daß die Vereinigung keine klar definierte Gruppe repräsentierte, sondern ihre Bedeutung aus der Vernetzung verschiedener Bereiche bezog. Das gleiche Prinzip läßt sich bei den in der ANF engagierten Politikern feststellen. Die ANF war für die mit sozialpolitischen Vorlagen betrauten Parlamentarier eine Organisation, in deren Versammlungen sich parteienübergreifender Konsens mobilisieren, sozialpolitische Ansätze testen und die Öffentlichkeit ansprechen ließ. Die in der ANF vertretenen Publizisten machen das Funktionsmuster der ANF augenfaIlig. Sie dokumentierten den wichtigen Zugang zu den Printmedien und gehörten 92 Dict.biogr., Bd. 13, S. 721f. 93 Vgl. AN F 22 305. 94
Langlois an Bauer, 29.4.1910, SWA416 G 8.
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gleichzeitig unterschiedlichen politischen Lagern an. So stand der radikal-sozialistische Abgeordnete Hector Depasse 95 dem Progressisten Femand Engerand gegenüber 96. Diese Gruppe wurde aber nicht weniger von Andre Lichtenberger geprägt, einem Publizisten ohne Abgeordnetenmandat, der sich als "'homme de lettres dans la plus haute acceptation du therme" 97 um die ANF, insbesondere aber um das Musee social verdient gemacht hatte. Die als ANF-Mitglieder eingetragenen Politiker sind demnach keiner einzelnen Partei zuzuordnen. Es finden sich ebensosehr Vertreter der um die Fooeration Republicaine gruppierten Parteien der rechten Mitte, katholische Sozialpolitiker, wie auch Politiker aus dem radikal-sozialistischen und gemäßigt sozialistischen Milieu. Die ANF profitierte als politisch nicht festgelegter Debattierklub von den strukturellen Grundvoraussetzungen des französischen politischen Systems der Dritten Republik: dem nur losen Zusammenhalt der Parteien und Parteiengruppierungen, der Existenz einer politisch mächtigen radikal-sozialistischen Partei, die Brückenfunktionen zwischen der Linken und der Mitte versah. Schließlich ist der ANF wohl auch der Umstand entgegengekommen, daß das französische System eine persönlichkeitszentrierte Politik erforderte. Gerade weil der politisch schwierige und propagandistisch unergiebige Bereich der Sozialpolitik nicht von Parteiorganisationen getragen wurde, bedurften die Exponenten derartiger Vorlagen zusätzlicher Unterstützung. Dennoch darf die Rolle der ANF nicht überschätzt werden. Die Zugehörigkeit zur Vereinigung stiftete keine parteiübergreifende, neue politische Identität, die ANF bot vielmehr ein sozialpolitisches Testgelände, dessen sich auch Politiker bedienten, die nicht Mitglied der Vereinigung waren, wie beispielsweise der Deputierte Marin. Die persönlichkeitsbezogene Verwendung der in ihrer 'corporate identity' nur schwach ausgeprägten ANF gehörte aber auch zum vereinsinternen Charakteristikum. Von den in der Mitgliederliste von 1907 aufgefiihrten Personen engagierten sich nur eine kleine, überblickbare Gruppe in den einzelnen Debatten, die, will man den Abstimmungsresultaten Glauben schenken, meist von nicht mehr als 15 bis 20 Personen besucht wurden. In der Reihe der fiir die ANF wichtigsten und prägendsten Politiker muß Millerand wohl an erster Stelle zitiert werden. Zum einen stand Millerand, eng verbunden mit der Gründungsgeschichte der IVGA, fiir die internationale Ausrichtung der ANF ein. Er war fiir die Propagierung der Berner Beschlüsse 95 Jolly, Bd. IV, S. 1390. Depasse publizierte u.a. Werke ober Arbeitsbedingungen und soziale Veränderungen.
96 Jolly, 97 Jules
Bd.V, S. 1623. Siegfried an Ministre de l'Instruction publique, Paris, 26.6. 1903. AN F 12 5195.
III. Zielsetzung und TrAger der ANF
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besorgt 98 und sollte an der Weltausstellung in Gand kurz vor Kriegsausbruch für die Fortsetzung sozialpolitischer Internationalisierung eintreten. Millerand gelang es zudem, mit dem Konzept der 'kleinen Schritte' eine 'sozialpolitische Ideologie' zu formulieren, die in der heterogen zusammengesetzten ANF mehrheitlich akzeptiert wurde. Das Konzept der 'kleinen Schritte' sah eine allmähliche Erneuerung der bestehenden Sozialgesetzgebung vor und hatte den Vorteil, daß auch sozialpolitische Minimallösungen als erste Stufen zum Erfolg gefeiert werden konnten. Diese sozialpolitische Evolutionstheorie, die sich mit Bourgeois Solidarisme verwandt zeigte, eignete sich vorzüglich zur Debatte parlamentarischer Vorlagen. Sie hatte aber gleichzeitig den gewichtigen Nachteil, daß sich ein sozialpolitischer Paradigmenwechsel nur schwer durchsetzen ließ. Da Praktikabilität und Durchsetzbarkeit für Millerand an erster Stelle standen, wurde den politischen Gegnern, aber auch der Meinung der sozialpolitischen Administration, ein großes Gewicht beigemessen. Millerands Exekutivfunktionen waren zudem rur die Vereinigung von entscheidender Bedeutung. Zum einen nutzte Millerand seine Ministerposten, um wichtige sozialpolitische Innovationen durchzusetzen, zum anderen erleichterte er der ANF den Zugang zur Regierung. Die ANF erscheint zwar weder in Millerands Biographien noch in seiner Autobiographie 99. Immerhin beklagte Millerand in seinen autobiographischen Notizen die feindliche Haltung von Unternehmern und Gewerkschaften und lieferte damit zumindest einen indirekten Verweis auf das durch die ANF präsentierte Legitimationspotential lOO . Während Millerand das Selbstverständnis der ANF nachhaltig beeinflußte, waren die meisten anderen in der Vereinigung tätigen Parlamentarier an der politischen Verwendbarkeit der Vereinigung interessiert. Die ANF testete die politische Akzeptanz der Vorlagen, sei es, daß in ihrem Kreise ein bestehendes Projekt diskutiert, sei es, daß in den parlamentarischen Motivenberichten auf die Aktivitäten der ANF verwiesen wurde. So spielten sozialpolitische Internationalisierungskonzepte und die ANF in der Debatte um die Reglementation du Travail eine wichtige Rolle. Der mit dieser Vorlage betraute Berichterstatter der parlamentarischen Commission du Travail war als ANF-Mitglied für die propagandistische Verbreitung der Vereinsaktivitäten besorgt. Godart gehörte den Radicaux-socialistes an und hatte bereits 1901 in seiner These über die Seidenarbeiter sozialpolitisches Spezialwissen dokumentiert. Er widmete sich in der Kammer vornehmlich sozialpolitischen Themen und gründete eine 98 A.
Millerand, La conference officielle de 8eme.
99 Vgl. Leslie Derfler, Alexandre Millerand, lbe Socialist Years, MoutonfThe HaguelParis 1977, Raoul Persil, Alexandre Millerand (1859-1943), Paris 1949, Alexandre Millerand, Mes souvenirs 1859-1941, AN AP 470,1. 100 A.
Millerand, Mes souvenirs.
128
C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetzlichen Arbeiterschutz
Gruppierung, die sich der "Democratie sociale" verpflichtete 101. In der Zwischenkriegszeit übernahm er 1924 das Arbeitsministerium und sollte schließlich auch die Geschicke von BIT und ILO mitbestimmen 102. Mit Arthur Groussier spielte ein weiterer parlamentarischer Berichterstatter für und durch die ANF eine wichtige Rolle in der französischen Sozialgesetzgebung. Groussier hatte sich 1905, von der Linken herkommend, dem Parti socialiste unifie angeschlossen. Der erste Sekretär der Federation nationale des ouvriers metallurgistes engagierte sich für Fragen des Kollektiv- und Arbeitsvertrages und trat als Berichterstatter zum Kollektivvertragsgesetzt auf, das die Regierung 1910 vorlegte. Zu diesem Thema stellte er der ANF eigene Berichte vor und war maßgeblich an der arbeitsrechtlichen Orientierung der Vereinigung interessiert. Er beendete seine politische Karriere während des Krieges und engagierte sich fortan in der Freimaurerbewegung 103. Die Debatte um die sozialpolitische Regelung der Heimarbeit erlaubt eine Konkretisierung der im Rahmen der ANF geleisteten partei übergreifenden Auseinandersetzungen. Der Radikal-Sozialist Aime Berthod, Berichterstatter über die Regierungsvorlage zur Regelung gewisser Bereiche der Heimarbeit, lobte die ANF im Parlament und in der Presse 104. In der Heimarbeitsdebatte der ANF hatten sich aber auch die beiden Progressisten Edouard Neron und Jean Boudoint hervorgetan. Ab und zu wurde die politische Konsensfähigkeit durch die Präsentation parteiübergreifender Berichte hervorgehoben. Wie gelegentlich Berichte von Unternehmern und arbeiterfreundlichen ANF-Mitgliedern verfaßt wurden lOS, taten sich auch Vertreter verschiedener Parteien zusammen. So in der Frauenschutzdebatte, in der Senator Paul Strauss eine wichtige Rolle spielte. Strauss, mit der Alliance Republicaine Democratique, einer laizistischen, aber gleichzeitig antisozialistischen Vereinigung der linken Mitte liiert, publizierte seinen ANF-Bericht mit dem Progressistenfiihrer Louis Marin 106. Sozialpolitische Themen lassen sich denn auch nur schwer bestimmten politischen Lagern 101
Dict.biogr., Bd. 16, S. 417f.
102
ibo
103 ibo S. 1363f. Der auch im transnationalen Kontext festzustellende Zusammenhang zwischen den Freimaurerlogen und der IVGA bedarf weiterer Untersuchungen.
104 vgl.
S. 234.
105 VgI.Ajtalion/ Arquembourg /
106 P.
Fagnot, Le reglement amiable des conflits detravail, Paris 1911.
Strauss, L. Marin, La protection de la matemite ouvriere, Paris 1912.
III. Zie1setzung und Trlger der ANF
129
zuordnen. Immerhin tendierten Vertreter der Linken zu arbeitsrechtlichen Themen und einem auch Erwachsene einschließenden sozialpolitischen Konzept. Die Progressisten profilierten sich dagegen als Spezialisten fiir Frauenund Kinderarbeit. Sowohl Marin als auch der politisch gleichgesinnte Abgeordnete Fernand Engerand präsentierten Gesetzesvorlagen, die den Mutterschutz zu verbessern trachteten. Beide engagierten sich zudem in den Debatten der ANF. Engerand ist dabei jener bedeutenden Gruppe von ANF-Mitgliedem zuzuordnen, die mit dem MusCe social verbunden waren, während W.t.ari.n über das College des Sciences sociales Zugang zu sozialpolitischen Fragestellungen hatte. Schließlich stammten die in der ANF engagierten Politiker auch aus den unterschiedlichen Lagern der katholischen Sozialreform. Sie gehörten hauptsächlich den bei den Gruppierungen der Catholiques sociaux sowie der Catholiques sociaux democrates et democrates chretiens an. Beide Gruppierungen waren ins transnationale Bezugssystem der katholischen Kirche eingebunden. Die eine Gruppierung orientierte sich an der Sozialenzyklika "Rerum novarum". Die Catholiques sociaux waren mit der Union de Fribourg verbunden. ANF-Mitglied Henri Lorin, der die sozialpolitischen Gesetzesvorlagen des ebenfalls in der ANF-Mitgliederliste eingetragenen Comte Albert de Mun beeinflußt haben soll 107, beteiligte sich an der Union internationale d'etudes economiques et sociales de Fribourg und trat in diesem Kreis 1889 fiir die Einberufung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz ein 108. Joseph Chobert, eine der Organisatoren der Congres scientifiques internationaux des catholiques 109 sowie Vertreter der Semaines sociales unterstreichen die grenzübergreifenden Konzepte der an der ANF beteiligten katholischen Sozialreformer. Mit Lemire, Six, Naudet, und Gayraud 110 hatten sich zwar die profiliertesten, vornehmlich aus dem Norden stammenden Vertreter katholischer Sozialreform eingetragen. Allerdings benützten diese Politiker mit Ausnahme von Lemire, der zu den ANF-Publizisten gehörte, die ANF nur selten als sozialpolitische Plattform. Unter den in der ANF vertretenen Exponenten der katholischen Sozialreform dominierten wiederum Wissenschaftler und Publizisten. Als Theoretiker der katholischen Sozialreform sollte insbesondere Raoul Jay, Generalsekretär 107
Lorin, Henri, in: Catholicisme hier, aujourd'hui, dernain, hrsg. Centre interdisciplinaire des facul-
Ws catholiques de Lilie, Bd. 7, Paris 1975, S. 1083. 108 ibo 109
Dict.biogr., Bd. 8, S. 1179.
110 Der Professor fllr Philosophie und Theologie aus Toulouse interessierte sich als Deputierter allerdings vornehmlich fllr religionspolitische Fragen. Jolly, Bd. V, S. 1805. 9 Herren
130
C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetzlichen Arbeiterschutz
und späterer Vizepräsident der ANF, eine wichtige Rolle spielen. Jay, Professor an der Juristischen Fakultät der Pariser Universität und Verfasser einer wichtigen Studie über die französische Arbeiterschutzgesetzgebung 111, gehörte zu den Sozialpolitikern der ersten Stunde. Seine 1880 erschienene Dissertation beschäftigte sich mit Kinderarbeit, er war an jeder Delegiertenversammlung der IVGA anwesend und hatte sich bereits am Gründungskongreß der IVGA in Paris engagiert. Zudem pflegte er die üblichen Kontakte zum Conseil superieur du Travail und zum Musee social 112. Allerdings waren auch die Vertreter dieser Gruppe katholischer Sozialreformer weit davon entfernt, einen homogenen Zirkel darzustellen. Uon de Seilhac, Schatzmeister der ANF, 1902 und 1908 auch an den Delegiertenversamm1ungen der IVGA präsent 113, aber vornehmlich für das Musee social tätig, wird innerhalb des katholischen Spektrums zu den Liberalen gezählt 114. Martin Saint-Uon dagegen, als Bibliothekar des Musee social mit der gleichen Institution verbunden, zudem Professor am College libre des sciences sociales und 1912 an der Delegiertenversammlung der IVGA beteiligt, wurde einer reaktionären Haltung bezichtigt 11 S•
Die ANF zwischen Legitimation und Information Die ANF umfaßte ein politisch wie beruflich breites Spektrum, und die Heterogenität der Vereinigung gehörte nachgerade zum größten Vorteil, den die ANF-Mitgliedschaft einbrachte. Allerdings ist der Unterschied zwischen den Passivmitgliedern und den sozialpolitischen Aktivisten bedeutend. Zur ersten Gruppe gehörte beispielsweise Vaillant, dessen gelegentlich zitierte Mitgliedschaft in der ANF nicht überschätzt werden darf, zumal sich der Arbeiterfiihrer nicht an den Debatten der Vereinigung beteiligte. Diese Gruppe profitierte von der Aufbereitung sozialpolitischer Informationen, die sich auch unabhängig vom Verein und dessen Politik nutzen ließen. Die Vereinspolitik wurde 111
R. Jay, La protection legale des travailleurs, Paris 1904.
112 Zu seinen weiteren Aktivitäten vgl. Personalblatt Jay, AN F 12 5174. 113 IVGA
1902, S. 11, IVGA 1908, S. 16.
114 Zur politischen Zuordnung der katholischen Sozialrefonner vgl. Maurice Eble, Les Ecoles catholiques d'Economie politique et sociale en France - Evolution, Position et Rapports, These Faculte de droit de l'universite de Paris, Paris 1905. Diese Einschätzung deckt sich im Obrigen mit den Feststellungen der Polizeipräfektur. AN F 12 8730.
m Prefecture de Seine-&: Oise, Cabinet du Prefet an den Handelsminister, Versailles, 30.4.1914. Die Präfektur hatte allerdings gegen eine Auszeichnung durch die Ehrenlegion nichts einzuwenden. AN F 128669.
III. Zielsetzung und Trlger der ANF
131
von einer vergleichsweise kleinen Gruppe sozialpolitischer Aktivisten bestimmt. Sie stammten vornehmlich aus dem "milieu de conversations et d'etudes" und vertraten innovative und deshalb legitimationsbedürftige Konzepte. Die Heterogenität dieses Zirkels war rur die Entstehung einer offenen Atmosphäre besorgt, die ANF ließ sich nicht von einer bestimmten Schule vereinnahmen, sondern wahrte den Charakter des sozialpolitischen Salons. Diese unverpflichtende Form des Diskurses machte die ANF fiir Politiker verschiedener Parteirichtungen zum attraktiven Vernehmlassungsorgan, so daß der Debattierklub schließlich eine weit wichtigere Rolle spielte, als man, von dessen Größe ausgehend, anzunehmen bereit war. Die Mitgliederzahl ergibt demnach ein nur sehr unvollständiges Bild. Zuweilen beteiligten sich auch Nichtmitglieder an den Sitzungen der ANF, oder andere Organisationen beanspruchten die Unterstützung der Vereinigung. In beiden Fällen, in jenem der Abgrenzung wie in jenem der versuchten Vereinnahmung, wurden die Konturen der ANF etwas deutlicher gezogen. So grenzte sich ein Unternehmer der metallverarbeitenden Industrie, Pralon, gegen Arbeit und Intention der ANF ab. Pralon war als Gegner des Nachtarbeitsverbotes Jugendlicher an jene Sitzung der ANF eingeladen worden, in der Lemires Bericht über die Arbeit Jugendlicher in den kontinuierlichen Betrieben besprochen wurde. Der Industrielle rechnete der ANF vor, daß selbst in der Liller Sektion die Unternehmer marginal vertreten seien. Pralon begründete sein Erscheinen nachgerade mit der Notwendigkeit, einer vornehmlich aus Professoren und Arbeitsinspektoren zusammengesetzten Vereinigung die Haltung eines "veritable industriei" 116 vorfUhren zu können. Trotz der herablassenden Einschätzung der ANF als Versammlung von Amateuren, die die Welt auf Kosten anderer reformieren wollten 117, war die fehlende Partizipation der Industriellen auch fiir Pralon begründungsbedürftig - und diese Erklärung fiel wenig überzeugend aus: Unternehmer hätten eben einen zeitraubenden Beruf, der die Teilnahme an Kongressen und Konferenzen verunmögliche ll8. Gelegentlich mußte sich aber auch die ANF abgrenzen. Als über Kinderarbeit in Theatern und Cafe-Concerts diskutiert wurde, zeigten sich verschiedene Vereinigungen, unter ihnen die Ligue pour la moralite, an der Arbeit der ANF interessiert. Lemire, als Abbe moralischen Überlegungen nicht abgeneigt, machte dem auch in der ANF engagierten Vertreter der Ligue den Unterschied zwischen zweierlei Moral deutlich: die ANF verfolge das Ziel einer "moralite professionnelle" und unterscheide sich mithin von der "moralite generale" der Ligue 119. 116 Lemire,
Le travail de nuit des enfants dans les usines a feu continu, Paris 1911, S. 43.
118 ibo
119 R
Jay, L'emploi des enfants dans les theitres et cafe-concerts, Paris 1904, S. IS.
132
C. Die Internationale Vereinigung fllr gesetzlichen Arbeitenchutz
Die Vereinigung bezog ihre Bedeutung primär aus dem Umstand fehlender sozialpolitischer Institutionalisierung, ohne jemals selber Bedeutung und Funktion einer Pressure group wahrnehmen zu können. Das Ausfiillen einer Leerstelle reichte nach dem Krieg als Legitimation nicht mehr aus. Wie die IVGA gegenüber der ILO, so verlor auch die ANF im innerfranzösischen Diskurs an Bedeutung. Eine zwischen dem Kriegsende und der Fusion der sozialpolitischen Vorkriegsvereinigungen zusammengestellte Mitgliederliste umfaßt nur noch 272 Namen 120.
120 Mitgliederliste.
D. Internationale Konferenzen und Verträgegrenzübergreifende sozialpolitische Abkommen als Beginn einer "Diplomatie nouvelle" 1906 verabschiedete eine Diplomatenkonferenz auf Einladung des Bundesrates in Bern zwei internationale sozialpolitische Abkommen. Damit war erstmals seit der Berliner Konferenz wieder eine offizielle Zusammenkunft und darüber hinaus eine greozübergreifende Forrnalisierung sozialpolitischer Anliegen gelungen. Der Weg zur Berner Konferenz verlief in drei Phasen, die von jeweils unterschiedlichen Akteuren bestimmt wurden. Die erste Phase wurde von der IVGA eingeleitet. Die Vereinigung arbeitete ihre Internationalisierungsforderungen in ein Programm um, das an die schweizerische Regierung gerichtet war. In einer zweiten, 1904 einsetzenden Phase setzte sich der Bundesrat mit dem Vorschlag der IVGA auseinander. Von den bisher gescheiterten Versuchen gewarnt, wurde der Bundesrat allerdings erst aktiv, als der Abschluß des italienisch-französischen Vertrages die internationale Bereitschaft zu greozübergreifenden sozialpolitischen Abkommen signalisierte. Phase drei wurde von den multilateralen Verhandlungen und dem Zusammentritt zweier Konferenzen bestimmt. Nach dem Abschluß der beiden Abkommen war der Bundesrat vornehmlich mit deren Durchsetzung und mit der Vorbereitung der nächsten internationalen Abkommen beschäftigt. Die definitive Durchsetzung internationaler Sozialpolitik durch zwei weitere Abkommen blieb allerdings aus. Die auf Herbst 1914 angesetzte Diplornatenkonferenz fand aus naheliegenden Gründen nicht statt.
L Die Vorbereitung der internationalen Abkommen und die IVGA J. Das Programm der IVGA
Die erste ordentliche Delegiertenversamrnlung der IVGA fand 1902 in Köln statt und verlief enttäuschend. Eine von Berlepsch präsidierte Kommission schlug vor, das Frauennachtarbeitsverbot einmal mehr zum Gegenstand einer
134
D. Internationale Konferenzen und VertrAge
Studie zu machen, mit der eine Spezialkommission der IVGA betraut werden sollte. Jay warf den Vertretern dieses Vorschlages vor, sich auf die Analyse möglicher Schwierigkeiten beschränken und keine Lösungsansätze bieten zu wollen 1. Zudem empörte sich der streitbare Franzose darüber, daß das Frauennachtarbeitsverbot relativiert und mögliche Ausnahmebestimmungen in Betracht gezogen wurden 2. Berlepsch, dessen Autorität als Leiter der Berliner Konferenz auf dem Spiel stand, frage darauf, ob Jay "der französischen Regierung und des französischen Parlamentes sicher zu sein (glaubt), daß sie gewillt sind, die Ausnahmen zu streichen?" 3. Der Verweis auf offizielle Akzeptanz und staatliches Einverständnis prägte in der Vorkiegszeit den Handlungsspielraum der IVGA. Die transnationale Vereinigung glaubte ihre Programme nur mit gouvernementaler Unterstützung durchsetzen zu können. Es war daher auch der französische Regierungsvertreter Fontaine, der die Debatte wieder in Gang brachte. Zwar nicht im Namen seiner Regierung, aber immerhin "im Namen der Vernunft" 4 war er zur Streichung der Ausnahmebewilligungen bereit. Die IVGA verabschiedete daraufhin eine Resolution, die eine zu diesem Zweck gebildete Spezialkommission verpflichtete, "Wege zu suchen, um diesem grundsätzlichen allgemeinen Verbot Geltung zu verschaffen, und zu prüfen, wie die zur Zeit von diesem Verbot bestehenden Ausnahmen ehestens beseitigt werden können" s. Die Kölner Versammlung endete mit einem unerwarteten Resultat. Während das alte Postulat des Frauennachtarbeitsverbotes einmal mehr auf seine Durchsetzbarkeit untersucht werden sollte, verlangte eine vom französischen Gewerkschaftsvertreter Briat nachhaltig geprägte Resolution ein internationales Verbot des giftigen Phosphors und ein Verwendungsverbot für Bleiweiß, wenn auch nicht der Bleifarben. Die nicht unbestrittene Frage der Berufskrankheiten führte zum einzigen, konkreten Auftrag: das Bureau sollte bei den Regierungen für ein Bleiweißverbot bei öffentlichen Arbeiten eintreten6 . Die erste ordentliche Delegiertenversammlung gab demnach zu keinen großen Hoffnungen Anlaß. Die Schaffung einer Spezialkommission hatte dilatorischen Charakter. Entscheidungen waren nicht vor der nächsten Versammlung der IVGA zu erwarten, und diese fanden nur alle zwei Jahre statt. Zudem hatte 1 IVGA
1902, S. 27.
3ib.S.30 4ib. S.32f. 5 Resolutionen, ibo S. 6 Resolutionen,
ibo
42.
I. Die Vorbereitung der Abkommen und die IVGA
135
sich in der Debatte zwischen Jay und Berlepsch ein deutsch-französischer Gegensatz angekündigt, der nichts Gutes verhieß.
2. Die Basler Kommission
Die von der IVGA eingesetzte Spezialkommission tagte ein Jahr später in Basel und konnte sich wider Erwarten innerhalb von drei Tagen auf ein sozialpolitisches Programm einigen. Die Kommission überschritt zudem ihre Kompetenzen und beauftrage das Bureau der IVGA, beim Bundesrat um die Einberufung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz nachzusuchen 7. Die unerwartete Effizienz der Basler Kommission war letztlich das Resultat ihrer in Köln nicht geregelten Zusammensetzung, zumal darauf verzichtet wurde, Regierungsdelegierte zu wählen. In Basel waren daher acht Sektionen, aber nur sieben Regierungen vertreten. Das Deutsche Reich hatte auf einen offiziellen Delegierten verzichtet, die Befiirworter einer internationalen Regelung waren daher in der Mehrheit. Neben den schweizerischen Vertretern stammte die politisch bedeutendste Delegation aus Frankreich. Fontaine war als Regierungsdelegierter erschienen, Millerand, Keufer und Lemire vertraten dieANF8. Die Kommission hatte zwei Problemebenen zu bewältigen. Es ging nicht nur um die Festsetzung der einzelnen Programmpunkte, sondern auch um die Frage, wie das transnationale Konzept in eine international akzeptierte Form umzusetzen war. Die formalen Fragen wurden am Beispiel des Phosphorverbotes, einer inhaltlich wenig umstrittenen Vorlage, diskutiert. IVGA-Präsident Scherrer befürchtete, daß die schweizerische Regierung keine weiteren Enttäuschungen riskieren und ihren ebenso traditionellen wie bisher erfolglosen Part der zur Konferenz einladenden Regierung diesmal nicht übernehmen wollte 9. Der Direktor des Arbeitsamtes, Bauer, trat daher für ein transnationales Vorgehen ein. Die IVGA-Kommission sollte sich demnach in den Staaten ohne Phosphorverbot über deren Konferenzbereitschaft 7 Vgl. A. Millerand, Bericht ober die Tltigkeit der Basler Spezialkommission (9.-11. September 1903) an die dritte Delegiertenversammlung der internationalen Vereinigung filr gesetzlichen Arbeiterschutz, Beilage 3, IVGA 1904, S. 148.
8 Protokoll der Sitzung der durch die zweite Genera\versammlung des Komitees der Internationalen Vereinigung filr Arbeiterschutz eingesetzten Kommission am 9., 10. und 11. September zu Basel, BAR 23/2. 9
ibo S. 17.
136
D. Internationale Konferenzen und Vcrtrlge
informieren. Die konkrete Einladung wäre erst nach dieser transnationalen Vorrunde durch eine Regierung auf diplomatischem Wege erfolgt. Frankreich wurde zudem aufgetragen, die Disziplinierung der europäischen Peripherie zu übernehmen. Spanien, Griechenland, Portugal, Rumänien und Serbien sollten nach diesem Plan zu einer von Paris organisierten Konferenz gebeten und zu einem auf die Pachtgesellschaften auszudehnenden Phosphorverbot in den Staatsbetrieben veranlaßt werden. Nach einer längeren Debatte einigte man sich schließlich auf ein von Millerand zusammengefaßtes Prozedere: Das Büro der IVGA sollte den Bundesrat um die Einberufung einer internationalen Konferenz bitten. Die IVGA beschränkte sich auf die thematische Vorbereitung der Konferenz und wollte dem Bundesrat eine Denkschrift vorlegen. Damit war ein in der Vorkriegszeit akzeptiertes und praktikables Vorgehen festgelegt worden. Die in Basel festgelegte Strategie hatte den Vorteil, daß die sozialpolitische Internationalisierung eine eigene Form gefunden hatte. Der Gegenvorschlag des belgischen Sektionsvertreters Brants, das Frauennachtarbeitsverbot in die Handelsverträge zu integrieren, stieß auf dezidierte Ablehnung 10. Aus der Sicht der IVGA hatte das vorgeschlagene Prozedere allerdings auch Nachteile. Der transnationale Handlungsspielraum wurde auf die Vorbereitung einer von den traditionellen Akteuren internationaler Politik bestimmten Staatenkenferenz beschränkt. Die Auseinandersetzung um Gewicht und Bedeutung transnationaler Einflußmöglichkeiten begann denn auch bereits an der Basler Konferenz und sollte als eines der interessantesten Themen bis zum Kriegsausbruch weiterdiskutiert werden. Lemire schlug zur Betonung des transnationalen Ansatzes vor, die IVGA-Mitglieder zu mobilisieren und nicht nur die Regierungen, sondern auch die Parlamente anzusprechen. Diese Form transnationaler Unterstützung wurde in Basel akzeptiert, Keufers Antrag fand dagegen keine Mehrheit. Er wollte zur Durchsetzung der Basler Beschlüsse auch die linken transnationalen Kräfte mobilisieren, doch sein Vorschlag, die Arbeiterorganisationen Europas zu informieren und um deren Unterstützung nachzusuchen, setzte sich nicht durch 11. Das Phosphorverbot hatte vornehmlich Anlaß zu Vorgehensfragen gegeben. Die beiden anderen Traktanden, die Bleifrage und das Frauennachtarbeitsverbot, beinhalteten - neben den in diesem Zusammenhang diskutierten Sachfragen - auch logistische Probleme. Es ging um die Festlegung von Tempo und Reichweite des angestrebten Internationalisierungsprozesses, denn die drei Themenbereiche setzten jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. Das Phos10
ibo S. 54ff.
11 Lemire setzte wenigstens die Aufuahme des VOll Keufer zur1lckgezogenen Antrages ins Protokoll durch.
I. Die Vorbereitung der Abkommen und die IVGA
137
phorverbot beschränkte sich auf einen einzelnen Industriezweig und die Abschaffung einer veralteten Produktionsmethode 12. Das Frauennachtarbeitsverbot in der Industrie ging von einer klar definierten Gruppe von Arbeitenden aus und betraf verschiedene Produktionsbereiche, die Bleifrage setzte bei einern einzelnen Rohstoff ein, dessen Verarbeitung nicht auf die Industriebetriebe beschränkt war. Während das Innovationspotential des Phosphorverbotes vergleichsweise bescheiden war - einmal geregelt, waren sozialpolitische Neuerungen von diesem Sektor nicht mehr zu erwarten - beinhaltete die Bleifrage ein überaus breites sozialpolitisches Programm. In Basel lagen denn auch unterschiedliche Anträge vor. Fontaine und Fuchs, der Delegierte der deutschen Sektion, schlugen die Einberufung einer internationalen Konferenz und die Ausarbeitung einer IVGA-Denkschrift vor. Die Konferenz sollte Innenanstriche mit Bleiweiß, die Verwendung von nicht bereits gemischtem Bleiweiß in Werkstätten und bei Bauarbeiten, sowie das trockene Abschleifen von alten Anstrichen verbieten 13. Der niederländische Delegierte Kerdijk wollte dagegen bloß einen Bericht über ein mögliches Verbot von Innenanstrichen veranlassen. Keufer beschränkte sich zwar auch auf die Veranstaltung von Enqueten. Diese Untersuchungen sollten aber alle Gefahren bei der Verwendung von Blei und Bleipräparaten berücksichtigen 14. Die Basler Kommission verzichtete schließlich darauf, die Bleifrage einer internationalen Regelung zuzuführen. Die Sache sollte von der IVGA weiter diskutiert werden 15. Das Frauennachtarbeitsverbot versprach einen weniger weit greifenden, dafür aber konsensflihigeren Ansatz. Der an der Kölner Versammlung vorn schweizerischen Regierungsdelegierten Kaufmann gestellte Antrag, auch die Nachtarbeit Jugendlicher zu regeln, war zwar abgelehnt worden, hatte aber auf die Übertragbarkeit des Nachtarbeitsverbotes auf andere Zielgruppen verwiesen 16. Zudem implizierte die Festsetzung von Ruhezeiten auch die Strukturierung des Arbeitstages. Bauer proklamierte die Durchsetzung des Zehnstundentages als eigentliches Ziel des Frauennachtarbeitsverbotes 17. Die Basler s. 153
12
vgl. dazu
\3
Antrag Fontaine-Fuchs, in: Millerand, IVGA 1904, S. 143.
14 ibo S. 144. 15
ibo S. 146.
16 IVGA 1902, S. 21. Zudem stellte sich auch die Frage nach dem Einbezug der Heimarbeit, obwohl die Basler Kommission diese erst noch nationalen Untersuchungen nberlassen wollte. IVGA 1904, S.I46. 17 Protokoll,
S. 47.
D. Internationale Konferenzen und Verträge
138
Kommission war denn auch mehrheitlich der Meinung, über den Auftrag der IVGA hinausgehen und analog zum Phosphorverbot ein internationales Frauennachtarbeitsverbot vorschlagen zu können 18. In der Frage der Ausnahmebestimmungen zeigte man sich allerdings zurückhaltend: Ausnahmen waren schließlich nicht nur bei der Gefährdung des Betriebes und in der Fischerei zulässig, sondern galten generell für die Verarbeitung von verderblichen Stoffen und - wenn auch auf eine Übergangsphase begrenzt - für die Saisonindustn·e 19.
Das Basler Programm: traites de travail oder Minimallösung? Die Basler Beschlüsse zeitigten unterschiedliche Reaktionen. Der deutsche Konferenzteilnehmer Fuchs würdigte das Ereignis in einern in der "Sozialen Praxis" erschienenen Artikel. Fuchs bedauerte die Absenz eines deutschen Regierungsvertreters 20, stellte aber die Konferenz als IVGA-internes Ereignis vor. Millerands Bericht erschien dagegen unter dem vielversprechenden Titel "Les traites de travail" 21. Millerand wie auch Pic sahen eine neue, völkerrechtlich abgesicherte Ära internationaler Sozialpolitik anbrechen. Pic verglich die in Basel vorgeschlagenen Arbeitsverträge mit den Schiedsverhandlungen zwischen Frankreich und Großbritannien 22. In Bern hielt sich die Begeisterung derweilen in Grenzen. Das Industriedepartement teilte dem Büro der IVGA mit, daß die Basler Vorschläge weit hinter dem von der Schweiz 1890 ausgearbeiteten Programm, ja sogar hinter den Ansätzen der Berliner Konferenz zurückgeblieben seien 23. Das Büro der IVGA, das seine Position als vorschlagende Instanz nicht gefährden wollte, kehrte daraufhin zum alten, 1890 von der Schweiz präsentierten Konferenzprogramm zurück. Damit standen wiederum die Sonntagsruhe, das Minimalal18 Der österreichische Regierungsvertreter Mataja wollte in dieser Sache bloß Antrlge an die IVGA ausarbeiten. Protokoll, ibo 19
IVGA 1904, S. 148.
20 Fuchs, Die Verhandlungen der stAndigen Kommission der internationalen Vereinigung filr gesetzlichen Arbeiterschutz, in: Soziale Praxis, Sp. 1352. 21 A. Millerand, Les traites de travail, La reunion de Bile, Notes et documents, in: RPP 38/03, S. 33-44. Vg1. auch: P. Pie, La commission internationale de Bile. Industries insalubres et travail de nuit des fernmes, in: Questions pratiques, 1904, S. 42-46.
22 Millerand, 23
S. 44, Pie, S. 42.
Zit in: Antrag des Industriedepartementes an den Bundesrat, 16.12.04, S. 3, BAR 23/5.
I. Die Vorbereitung der Abkommen und die IVGA
139
ter für die Zulassung zur Fabrikarbeit, das Nachtarbeitsverbot für Frauen und Jugendliche in gefährlichen und gesundheitsgefährdenden Betrieben, die Limitierung der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche und die Reglementierung der Minenarbeit zur Debatte 24. Die nun folgende Diskussion wurde von zwei Positionen bestimmt. Wer vom sozialpolitischen Gehalt ausging, unterstützte die Wiederaufnahme der in Berlin traktandierten Themen. Die Vertreter der Basler Beschlüsse gaben sich derweilen mit einer sozialpolitischen Minimallösung zufrieden, um dem Prinzip der verbindlichen Regelung zum Durchbruch zu verhelfen. Ein vom Industriedepartement veranlaßter Bericht der eidgenössischen Fabrikinspektoren hielt fest, daß es die Mühe nicht lohne, wegen Phosphor und Frauennachtarbeit eine diplomatische Aktion zu beginnen 25. Gleichzeitig rieten aber die Fabrikinspektoren, die schweizerische Führungsrolle beizubehalten, da sozialpolitische Internationalisierungsforderungen "weder in den eidg. Räten. noch in der Arbeiterschaft je zur Ruhe gelangen" würden, es sei besser, "den Anregungen zuvorzukommen, als sie abzuwarten" 26. In Paris wurde derweilen die Idee der Traites de travail unterstützt. Cauwes warnte Scherrer vor einer Neuauflage der Berliner Konferenz und zog die Durchsetzung des Prinzips internationaler sozialpolitischer Verträge einem weitgespannten, aber unverbindlichen Programm vor 27. Die französische Regierung war mit der Vorbereitung des französisch-italienischen Vertrages beschäftigt und deshalb an der Durchsetzung sozialpolitischer Vertragsvereinbarungen interessiert. Das französische Handelsministerium lancierte deshalb vorsichtig drängende Nachfragen in der Art, wie man sich in Bem zu einem limitierten, IVGAähnlichen Programm stelle 28. Das Außenministerium teilte dem Handelsministerium zu Beginn des Jahres 1904 allerdings mit, daß das Industriedepartement noch zu keinem Ergebnis gekommen und eine Entscheidung nicht abzusehen sei 29. Die sozialpolitische Szene geriet erst wieder in Bewegung, als die Dritte Republik mit dem Abschluß des französisch-italienischen Vertrages die Initiative ergriff. 24 Unsignierter Durchschlag eines von Bauer u. Scherrer zu unterzeicJmenden Rundschreibens an die Sektionsprllsidenten, BaseVStGaIlen, 12.10.1903, S. 3, BIT Bäle 10400. 25 Bericht der eidgenössischen Fabrikinspektoren vorn 14.11.1903, Zit. in: Bericht des Industriedepartementes an den Bundesrat, 16.12.04, BAR 23/5. 26
ibo S. 6.
27
Cauwes an Monsieur le President, Versailles, 17.12.1903, SWA Handschr. 416 G 8.
2l! Note transmise par M. le Ministre du Comrnerce au Ministre des Maires etrangeres, Paris, 16.12.1903, AN F 22528.
29
AM an HM, 27.1.1904, AN F 22528.
140
D. Internationale Konferenzen und VertrAge
II. Der franrosisch-italienische Vertrag
Der arn 15. April 1904 in Rom geschlossene italienisch-französische Arbeits- und Fürsorgevertrag ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Der Vertrag demonstrierte mit der gelungenen Annäherung zwischen Frankreich und dem Dreibundpartner Italien die machtpolitische Nutzbarmachung eines sozialpolitischen Interessenausgleichs auf bilateraler Ebene. Der Vertrag enthielt Kompatibilitätsregelungen im Versicherungsbereich, ermöglichte den freien Transfer von Sparguthaben und verpflichtete die Vertragspartner zur Wahrung und Durchsetzung eines minimalen sozialpolitischen Schutzes. Für die Entwicklung greozübergreifender sozialpolitischer Konzepte war der Vertrag von entscheidender Bedeutung. Im Ingreß des Vertrages wurde der Legitimation eines derartigen Abkommens denn auch besondere Beachtung geschenkt. Demnach war der Vertrag mit der Absicht geschlossen worden, Arbeitnehmern diejenigen Garantien zuzugestehen, die bisher den Waren in Handelsverträgen zugesprochen wurden. Perrin betrachtet den Ve.trag zu Recht als Schlußpunkt einer "Vorgeschichte des internationalen Rechts der sozialen Sicherheit" 1 und als Beginn jener Entwicklung, die, unterbrochen durch den Krieg, schließlich zur Gründung der ILO fiihrte. IVGA 2 und ANF 3 reagierten überaus positiv, zumal Fontaine, mit Luzzatti einer der Begründer des Vertrages, der internationalen Vereinigung "einen indirekten Einfluß" 4 auf den glücklichen Abschluß dieses Übereinkommens zugestand.
1. Die Vertragsvereinbarungen und deren Bedeutung
Der Abschluß bilateraler Fürsorgeverträge zwischen zwei von der Migration betroffenen Nachbarstaaten war an sich nicht neu. Eine belgisch-französische Konvention hatte bereits 1882 den taxfreien Transfer von Spargeldern ermög-
I
Perrin, S. 4.
2 Das Büro wurde beauftragt, den beiden
ben zu schicken.
Vertra~em Frankreich und Italien ein Dankesschrei-
3 Vgl. P. Pie, Une Etape decisive - le traite de travail franco..italien, in: Questions pratiques 1904, S. 120. Charles Piequenard, Der französisch-italienische Arbeitsvertrag, in: Soziale Praxis 1903/04, Sp. 872ft: Mauriee Alfassa, L'Association internationale pour la protection legale des travailleurs, in: RPP
42/04, S. 358f.
4 Arthur Fontaine,
1904, S. 43.
Expose des französisch-italienischen Arbeits- und FQrsorge-Vertrages, in: IVGA
11. Der französisch-italienische Vertrag
141
licht 5. Die zu diesem Zweck 1882 in Frankreich gegründete Caisse d'epargne postale nationale wurde als Transferzentrale ins französisch-italienische Abkommen übernommen 6. Neben den Spargeldern wurden aber auch und vor allem der ungekürzte Transfer von Renten. die Zusicherung gleicher Schadenersatzansprüche bei Arbeitsunfällen und die Zulassung zu den nationalen Versicherungsinstituten geregelt. Das Abkommen koordinierte demnach die jeweiligen nationalen Bestimmungen über die Leistungen bei den Betriebsunfällen und machte das Versicherungssystem für die Angehörigen der vertragsschließenden Staaten zugän.glich. Dieser Teil machte Schule und wurde Gegenstand zahlreicher, in der Folge des französisch-italienischen Vertrages geschlossenen Reziprozitätsabkommen. Der sozialpolitisch wesentlichste Teil des Vertrages war in den Artikeln 3-5 enthalten, die Minimalanforderungen an die nationale Sozialgesetzgebung und die Einbindung der Vertragspartner in ein System internationaler Sozialpolitik enthielten. Artikel 3 bestimmte, daß die Teilnahme des einen Vertragspartners an einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz automatisch die Beteiligung des anderen nach sich zog 7. Artikel 4 verpflichtete Italien zum Ausbau der Fabrikinspektion und zur Überwachung und Durchsetzung der Schutzgesetzgebung für Frauen und Kinder 8. Diese Forderungen wurden durch Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten abgesichert. Artikel 4, der zur jährlichen Berichterstattung über die Durchführung der Frauen- und Kinderschutzgesetzgebung verpflichtete, ermöglichte die gegenseitige Kontrolle. Artikel 5 bestimmte, daß der Vertrag aufgelöst werden konnte, wenn ein Vertragspartner die Nichteinhaltung der Frauen- und Kinderschutzbestimmungen feststellte 9. Da mit der Aufkündigung auch die Vorteile des Finanztransfers und der reziproken Versicherungsleistungen verloren gingen, verfugte der Sanktionsartikel über das nötige Gewicht. Dieser Umstand wurde von den Anhängern internationaler sozialpolitischer Abkommen unterstrichen, denn der Vertrag bewies, daß derartige, die Domäne der nationalen Gesetzgebung betreffende Abkommen kontrollierbar waren 10.
5 Arrangement du 31 mai 1882 relatif aux Caisses d'epargne postales entre la Belgique et la France. Perrin, S. 11, Merin, S. 23. Perrin erwähnt als noch llteres Vorbild den 1823 zwischen Frankreich und dem Herzogtum Parma geschlossenen Vertrag. ibo S. 2f.
6 Art. l,a. Zum Vertragstext vgl. Bulletin des Internationalen Arbeitsamtes 1904, S. 149ff., BOT 1904, S. 518ff. 7 Bulletin
8 ibo
10
des Internationalen Arbeitsamtes, S. 151.
S. 152.
Vgl. Alfassa, I'Association internationale, S. 358.
D. Internationale Konferenzen und VertrAge
142
Die für die Entwicklung internationaler sozialpolitischer Abkommen wesentlichen Passagen des französisch-italienischen Vertrages waren eigentlich aus kompensatorischen Gründen aufgenommen worden. Die italienischen Vertragspartner waren ursprünglich ausschließlich an der Regelung des Finanztransfers nach dem Vorbild des belgisch-französischen Vertrages interessiert und boten als Gegenleistung Handelsvorteile an 11. Doch die Vertreter Frankreichs zogen sozialpolitische Zugeständnisse vor. Zum einen ließ sich auf diese Weise wenigstens in Ansätzen eine Aushöhlung des sozialpolitischen Systems Frankreichs durch die zu Billigarbeit bereiten italienischen Wanderarbeiter auffangen. Italien befand sich als Land der industriellen Peripherie in einem demographischen Entwicklungsschub und die von diesem Staat ausgehende Migrationsbewegung stellte ein gesamteuropäisches Problem dar 12, zumal die Einreise oft auf illegalem Weg mit Hilfe von Schlepperorganisationen erfolgte. Der französisch-italienische Vertrag suchte diesen Mißständen wenigstens in Teilbereichen Herr zu werden. Verschärfte Ausweisbestimmungen und die Gründung von "Schutzkomitees" für junge Italiener ohne Familie sollten Kontrolle und Schutz eines Teils der Einwanderer verbessern 13. Zum anderen hatte der Vertrag einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die französische Sozialgesetzgebung und demnach ein innenpolitisches Gewicht. Die Vertragsverhandlungen begannen in der sozialpolitisch günstigen Phase der Ära Millerand 14. Das Abkommen enthielt Reziprozitätsversprechen zu einigen auch in Frankreich noch nicht verabschiedeten Bereichen der Sozialgesetzgebung, wie der obligatorischen Alters- und Invalidenversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung. Der Vertrag ließ sich demnach auch als Verpflichtung zum weiteren Ausbau der französischen Sozialgesetzgebung interpretieren und instrumentalisieren. Neben diesen langfristigen Zielen spielte der Vertrag in der sozialpolitischen Debatte des Jahres 1904 eine wichtige Rolle. Im März machte sich der Senat zur Abrechnung mit der Ära Millerand bereit. Die am 1. April 1904 ablaufende Übergangsfrist zum Gesetz über die Arbeitszeit in gemischten Betrieben gab Anlaß zu Grundsatzdiskussionen, in der sozialpolitische Internationalisierungsabsichten immer wieder eine wesentliche Rolle spielten. Senator Meline 11 Metin,
S. 51.
12 Zur Situation in der Schweiz vgl. 13
Gruner / Wiedmer, Bd. 1, S. 2S8ff.
Bulletin des internationalen Arbeitsamtes, S. 149.
14 Metin, S.
51.
11. Der französisch-italienische Vertrag
143
forderte in einer vielbeachteten Rede 15 zum Schutz der französischen Exportindustrie eine Erhöhung der Zolltarife und Zurückhaltung bis zur internationalen Festschreibung sozialpolitischer Standards 16. Senator Lecomte behauptete gar, daß das fragliche Gesetz 1900 nur deshalb verabschiedet wurde, weil man glaubte, daß eine internationale Konferenz sich mit der Materie befassen werde 17. Die im Senat verfolgte Strategie hob die Notwendigkeit internationaler sozialpolitischer Übereinkünfte hervor, um aus deren Fehlen eine zuTÜckhaltendere nationale Sozialpolitik abzuleiten. Demnach war ein internationaler Erfolg auch zur Sicherung der nationalen Sozialgesetzgebung notwendig. Handelsminister Trouillot versäumte denn auch nicht, in der erwähnten Senatsdebatte auf die Verhandlungen zwischen Frankreich und Italien zu verweisen 18. Im Handelsministerium wurde derweilen ein international abgestütztes Gegenkonzept ausgearbeitet. In einer rur den Handelsminister verfaßten und auf den 28. April datierten Note wurden die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile sozialpolitischer Maßnahmen aufgeruhrt und schließlich auch zukünftige Szenarien internationaler Sozialpolitik entworfen. Erst seien bilaterale und in einem weiteren Schritt multilaterale Verträge anzustreben, wie sie der Bundesrat und die IVGA vorschlügen 19. Der französisch-italienische Vertrag wurde als Beweis der Rea1isieIbarkeit dieses Konzeptes zitiert. Dieses Abkommen habe die Interessen der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber gleichermaßen befriedigt, neben der Begünstigung der französischen wie der italienischen Arbeiter habe der Vertrag die Lage der französischen Industrie ihrer italienischen Konkurrenz gegenüber deutlich verbessert 20.
1S Vgl. Memorandum ober den Charakter der auf das Jahr 1905 geplanten internationalen Arbeiterschutzkonferenz , BAR 23/2.
16 JO, Senat, Seance du 18 mars 1904, S. 347f. 17
ibo S. 349.
18
ibo S. 345.
19 Note pour M. Trouillot, Ministre du Conunerce, AN F 22 528. 20 ibo S. 3f.
144
D. Internationale Konferenzen und VertrAge
2. Das außenpolitische Gewicht des Vertrages
Die Bedeutung des französisch-italienischen Vertrages beruhte letztlich auf seiner vielseitigen Verwendbarkeit. Das Abkommen stellte ein wichtiges Argument in der innenpolitischen Debatte dar, gleichzeitig war sein außenpolitisches Gewicht in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Der Vertrag war erstens Teil einer konventionellen außenpolitischen Strategie, die die Annäherung Italiens an Frankreich bezweckte. Zweitens wiesen die über die IVGA gefiihrten Verhandlungen auch in formaler Hinsicht neue Wege auf. Drittens hatte der Vertrag weitreichende Konsequenzen sowohl auf bilateraler wie auf multilateraler Ebene. Das machtpolitische Gewicht des französisch-italienischen Vertrages darf allerdings nicht überschätzt werden. Zwar zeigt die diplomatische Korrespondenz aus Rom 21, daß der Vertrag in das Bündel jener Maßnahmen aufgenommen wurde, die die Konsolidierung der französisch-italienischen Beziehungen respektive die Herauslösung Italiens aus dem Dreibund bezweckte. Was mit dem am 2. November 1902 geschlossenen Geheimvertrag zwischen den beiden Staaten begann, wurde zwei Jahre später durch einen demonstrativen Besuch des französischen Staatspräsidenten ergänzt. Die Öffentlichkeit sollte mit zwei Abkommen auf diesen Besuch vorbereitet werden. Der französische Botschafter Carnille Barrere, der mit Fontaine an den Vertragsverhandlungen beteiligt war, legte Wert auf zeitliche Übereinstimmung. Der Arbeitsund Fürsorgevertrag sowie ein Abkommen, das den Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Nizza und Coni regelte, sollte demnach gut einen Monat vor der Reise des Präsidenten abgeschlossen werden 22. Immerhin wußte auch die Gegenseite mit dem machtpolitischen Hintergrund des Vertrages umzugehen. Der italienische Unterhändler Luzzatti beschleunigte die Verhandlungen mit dem Hinweis darauf, daß Italien Handelsvertragsverhandlungen mit dem Deutschen Reich anstrebe, die auch sozialpolitische Fragen einbeziehen sollten 23. Die formalen Aspekte der Vertragsverhandlungen weisen der IVGA einen nicht unbedeutenden Platz zu. Die Rolle der internationalen Vereinigung beschränkte sich nicht auf die von Fontaine erwähnten Vorarbeiten. Die IVGA garantierte vielmehr die Fortsetzung der Verhandlungen auch ohne politisches Mandat. Im Frühjahr 1902 hatte der nicht mehr in der Regierung vertretene Luzzatti mit Botschafter Barrere offiziöse Kontakte angebahnt, die sich nach 21 MdAE, Italie, Politique etrangere, Relations avec la France, NS 19. 22 Barrere an AM, Rom, 15.2.1904, MdAE NS 19. 23
Barrere, Pour le Ministre, Rome, 22.3.1904, MdAE NS 19.
11. Der französisch-italienische Vertrag
14S
der Schilderung von Metin in dem Moment zu offiziellen Verhandlungen verdichteten, als die Regierung Waldeck-Rousseau und damit Handelsminister Millerand zurücktraten 24. Interessanterweise wurden die Verhandlungen nicht abgebrochen, sondern bloß verlegt. Die beiden wichtigsten Unterhändler, Luzzatti und Fontaine, diskutierten arn Rande der DelegiertenversamrnIung der IVGA in Köln weiter 2S. Diese Kontakte hielten an, bis Luzzatti wieder im Amt war und Fontaine in offizieller Mission nach Italien geschickt werden konnte. Die IVGA hatte demnach nicht unwesentlich zum geglückten Vertragsabschluß beigetragen und ihre Bedeutung als Plattform internationaler Sozialpolitik unter Beweis gestellt. Der Aktion war schließlich ein doppelter Erfolg beschieden. Der Arbeitsund Fürsorgevertrag erschien als Ausdruck einer "diplomatie nouvelle", die, wie die frankophile Zeitschrift" Adriatico" feststellte, die alte Machtpolitik abgelöst hatte: "la triple-alliance, qui a eu aussi, un jour pour l'Italie et pour l'Europe sa raison d'etre, parlait de guerre et d'arrnes: l'accord avec la France parle de paix, d'hurnanite, de travail" 26. Zudem wurden die sozialpolitischen Klauseln des Abkommens gleich mehrfach kopiert. Der italienisch-schweizerische Handelsvertrag vorn 13. Juli 1904 bereitete ein Abkommen über die Kompatibilität im Versicherungswesen vor 27, der gleiche Passus findet sich auch im deutsch-italienischen Handelsvertrag vorn 3. Dezember 1904 28 . Die gegenseitige Anwendung der Arbeiterschutzbestimmungen wurde in dem im Januar 1905 abgeschlossenen deutsch-österreichischen Handelsvertrag festgeschrieben 29, und Belgien unterzeichnete innerhalb von 48 Stunden sozialpolitische Regelungen sowohl mit Deutschland als auch mit Frankreich 30. Obwohl diese Vereinbarungen nicht so weit gingen wie das französisch-italienische Abkommen, hatte das Beispiel Schule gemacht. Wichtiger noch, die beiden Berner Konventionen von 1905/06 konnten auf ein Netz bereits bestehender bilateraler Verträge zurückgreifen, die innerhalb kürzester Zeit als Folge der französisch-italienischen Vereinbarungen entstanden waren.
24 Metin,
s. so.
2S
ib., Fontaine, Expose, s. 3S.
26
Übersetzung des französischen Konsulates in Venedig. MdAE NS 19, S. 181.
27 Metin, 28
ibo S.128f., Metin, S. 104f.
29 Metin, 30
S. 104, Les nouveaux Traites de Travail, in: BOT 1905, S. 128.
ibo S. IOSf.
ibo S. 12S.
10 Herren
146
D. Internationale Konferenzen und Vertrlge
IIL Der Weg zu den ersten multilateralen Abkommen Das französisch-italienische Abkommen brachte Bewegung in die seit der Basler Konferenz stagnierenden Bemühungen um die Einberufung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz. Es sollte sich zeigen, daß nicht nur die Ausarbeitung eines sozialpolitischen Konzeptes, sondern auch dessen formale Umsetzung einige Probleme aufwarf. In Bern wurde kurz nach der Bekanntgabe des ungefllhren Inhaltes des französisch-italienischen Abkommens in einem Memorandum die Zielrichtung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz festgelegt 1. Man verzichtete zwar auf die Durchsetzung einer "einheitlichen internationalen 'Fabrikgesetzgebung'" 2, wollte sich aber dennoch nicht auf die Industriearbeit beschränken. Der französisch-italienische Vertrag legte die multilaterale Behandlung von Migrationsproblemen nahe, die Heimarbeit war international regelungsbedürftig, und Arbeitszeitverkürzungen sollten angesichts der Mechanisierung und Modernisierung der Industrie auch für Männer ein Thema sein. Das Memorandum, das den Eindruck einer langfristigen, die sozialpolitischen Rahmenbedingungen berücksichtigenden Wirtschaftsprognose macht, leitete die Notwendigkeit einer sozialpolitischen Strategie aus der Befürchtung ab, daß restriktive Einwanderungsgesetze und hohe Zolltarife das internationale Klima verschärfen könnten. Neben den thematischen Schwerpunkten wurde die formale Umsetzung diskutiert. Demnach sollte eine Expertenkonferenz Vorschläge ausarbeiten, die in einer sich daran anschließenden Diplomatenkonferenz sanktioniert werden sollten. Fontaine und Barrere, der Fachexperte auf der einen und der Diplomat auf der anderen Seite, hatten in Rom noch gemeinsam verhandelt, und das Schlußdokument trug beide Unterschriften. Der in Bern präsentierte Vorschlag rückte mit der Trennung der beiden Bereiche von den Usanzen der klassischen Diplomatie ab und diskutierte sogar die Akkreditierung von "Sozialdiplomaten" 3. Noch waren aber in Bern keine Entscheidungen gefallen.
I Memorandum ober den Charakter der auf das Jahr 1905 geplanten Arbeiterschutzkonferenz, ohne Datum und Unterschrift, BAR 23/2.
IIl. Der Weg zu den ersten multilateralen Abkonunen
147
1. Die Rolle der 1VGA in der Phase der informellen Vorgespräche
Die "Soziale Praxis" hatte am 21. April 1904 berichtet, daß Deutschland, Italien, Oesterreich-Ungarn und die Niederlande bereit seien, an einer auf dem IVGA-Programm basierenden Konferenz teilzunehmen. Wie das französische Außenministerium auf eine entsprechende Anfrage Fontaines mitteilte, war diese Nachricht zumindest verfrüht 4. Der Vorbehalt des Außenministeriums war nur teilweise richtig. Bem hielt sich zwar nach wie vor zurück, unterstützte aber diskret die IVGA, die ihr transnationales Netz zu emsigen Aktivitäten nützte und alsbald den Informationsstand der Außenministerien weit hinter sich ließ. So teilte Bauer Fontaine bereits am 12. April 1904 mit, daß das Deutsche Reich zur Teilnahme an einer vom Bundesrat einberufenen Konferenz bereit sei s. Bedeutung und Gewicht transnationaler Einflußnahme lassen sich insbesondere am Beispiel Großbritanniens aufzeigen. Noch existierte keine britische Sektion der IVGA, die politischen Druck auf die zurückhaltende britische Regierung hätte ausüben können. Bauer reiste deshalb selber nach London, nachdem der Bundesrat bereits im Herbst 1903 von einer diplomatischen Intervention abgesehen, Bauer aber mit einem Empfehlungsschreiben für die schweizerische Vertretung in London ausgerüstet hatte 6. Der rührige Direktor bat zudem Fontaine um die Unterstützung Frankreichs 7. Obwohl Fontaines Aktivitäten und das Ausmaß der Bauer gewährten Hilfe nicht rekonstruiert werden konnten, war der Directeur du Travail über die transnationalen Kanäle bestens informiert. Sir Charles Dilke, liberaler Abgeordneter, Zündhölzchenfabrikant, später Mitglied der britischen Sektion der IVGA 8, korrespondierte sowohl mit dem schweizerischen Vertreter in London als auch mit Fontaine. Als der Bundesrat die diplomatischen Vertretungen am 11. Juni 1904 beauftragte, sich in einer vertraulichen Anfrage über die Konferenzbereitschaft der Regierungen in Kenntnis zu setzen 9, schickte Dilke gleich die übersetzte Kopie nach Paris 10. Damit war Fontaine bedeutend schneller als über die interministeriellen Kanäle informiert worden. Das französische Au4
AM an HM, 25.5.1904, AN F 22 528.
S Bauer an
6
Fontaine, Basel, 12.4.1904, AN F 22528.
Bundesrat Deucher an Bauer, Bem, 1.10.1903, BAR 23/5.
7 Bauern
an Fontaine, Basel, 26.4.1904, AN F 22 528.
8 VgJ. Corinne Rosenheim, The British Association for Labour Legislation, Portrait der britischen Sektion der Internationalen Vereinigung filr gesetzlichen Arbeiterschutz, Seminararbeit bei Prof. Dr. J. Garamvölgyi, Bern 1989 (Manuskript), S. 17. 9
in: Antrag des Industriedepartementes an den Bundesrat, 16.12.1904, BAR 23/5.
10
Dilke an Fontaine, London, 17.6.1904, AN F 22528.
D. Internationale Konferenzen und VertrAge
148
ßenministerium leitete die Anfrage des Bundesrates nämlich erst drei Monate später an die sozialpolitische Administration weiter 11. Zudem wurde Fontaine breiter informiert. Die zu diesem Zeitpunkt auf der diplomatischen Ebene bereits nicht mehr diskutierte Beteiligung eines päpstlichen Gesandten kam ebenso zur Sprache wie die Beschränkung der Konferenz auf die europäischen Staaten und der eventuelle Einbezug der Bleifrage 12. Die Überlagerung von transnationalen und internationalen Handlungsebenen hatte interessante, wenn auch nicht zu überschätzende Konsequenzen. So sehr die transnationalen Kontakte auch zu Vorabsprachen und Informationsaustausch genutzt wurden, die Konkretisierung und Durchsetzung des Projektes blieb der internationalen Ebene vorbehalten. Bauer erreichte den von ihm zweifelsohne angestrebten Status eines offiziell anerkannten Sozialdiplomaten trotz seiner Londoner Mission nicht. Die vom Bundesrat mit großer Diskretion behandelte Frage der Beteiligung eines Vertreters des Papstes an der internationalen Arbeiterschutzkonferenz zeigt die Grenzen transnationaler Einflüsse auf. Kardinalstaatssekretär Merry deI Val hatte bereits am 24. März das Interesse Roms kund getan und der IVGA die Zustimmung des Papstes zu den beiden Denkschriften mitgeteilt 13. Die IVGA, in der sich seit 1902 auch ein Vertreter des Papstes befand, war um die gewünschte Einladung bemüht, zumal Rom die IVGA 1905 auch finanziell unterstützte 14. Die IVGA setzte sich nicht durch. Frankreich lehnte "die Beteiligung einer Macht ohne Territorium u. ohne Arbeiter" ab 15, so daß schließlich keine Einladung an den Papst erging. Die Gleichzeitigkeit transnationaler und internationaler Wirkungsmechanismen ist als Merkmal internationaler Sozialpolitik bemerkenswert. Im Verlaufe der Konferenzvorbereitungen sorgte der ungewohnte Einbruch transnationaler Einflüsse in den abgeschlossenen Zirkel der Diplomatie für paradoxe Situationen: Die IVGA kopierte zur Aufwertung ihrer Bedeutung geheimdiplomatische Verhaltensmuster, während die Diplomatie zunehmend nervös auf diese Form der Einmischung reagierte. So wurde den französischen Dele-
11
AM an HM, Paris 19.9.04, AN F 22528.
12 Dilke 13
an Fontaine, ibo
R. Card. Merry de Val an ScherTer, Rom, 24.3.1904, Kopie in AN F 22 528.
14 Der Betrag von Fr. 1080.- wurde 1905 unter den Staatsbeitrlgen ausgewiesen und fehlt im Budget von 1906. vgl. IVGA 1906, S. 90ff. 15 Legation de Suisse en France an den Bundesrat, Paris 22.10.04, zit. im Antrag des Industriedeparternentes an den Bundesrat, 16.12.04, BAR 23/5.
111. Der Weg zu den entert muhilateralen Abkonunen
149
gierten IVGA-Material mit der Auflage der Geheimhaltung übermittelt 16, während die IVGA ihrerseits eine geheime Vorkonferenz zwischen der Schweiz, Deutschland und Frankreich organisieren wollte 17, In Frankreich weigerte sich das Außenministerium, die Kosten der an die technische Vorkonferenz gesandten Delegierten zu übernehmen 18. Der Bundesrat geriet derweilen in Verdacht, seine Zusammenarbeit mit dem Internationalen Arbeitsamt bezwecke letztlich dessen Umwandlung in eine offiziell anerkannte, gouvernementale Organisation 19, Die IVGA mußte daher an den internationalen Konferenzen im Hintergrund bleiben und konnte keinen eigenen Status beanspruchen. IVGA-Präsident Scherrer durfte schließlich als schweizerischer Delegierter an der technischen Vorkonferenz teilnehmen, während Bauers Aufgaben sich auf die Verteilung des Pressebulletins, die Überwachung des Druckereidienstes und den Namensaufruf bei den Abstimmungen beschränkte 20. Die Benennung der Konferenz als "internationale Konferenz für Arbeiterschutz" war mit Bedacht gewählt worden und hatte den Zweck, den "Unterschied zwischen der staatlich organisierten Konferenz u. der priva"';ß internationalen Vereinigung (zu) markier(en)" 21.
Die Vorbereitung der technischen Vorkonferenz in Zürich Die im März 1905 beginnenden Vorbereitungen der technischen Vorkonferenz dienten der Festlegung eines konkreten Programms, aber nicht weniger der Einbindung und Neutralisierung der IVGA. Damit war die Vorphase informeller Gespräche definitiv abgeschlossen. Am 13. und 14. März 1905 fand 16 vgl. Direction du Travail an Lagard, Inspecteur divisionnaire du travai1, Paris, 7.4.1905, AN F 22528.
17 Der schweiz. Bundesrat an Scherrer, Bem, 17.4.1904, BAR 2312. Scherrer versprach in einem Brief an das Industriedepartement, dieses neutralitAtspolitisch bedenkliche Unteme\unen zu verhindern (Scherrer an das Industriedepartement, 19.4.1905) BAR 23/2. 18 Vgl. HM an AM, Paris, 4.4.1905, AN F 22528. Note pour M. le Ministrc, Paris, 20.3.1905, AN F 22 528. Die Kosten wurden schließlich ober die Eröffilung eines Extrakredites im Budget des Handeisministeriums abgebucht. 19 Französisches Konsulat in Basel an AM, Basel, 12.9.1902, MdAE, Suissc, Socialisme et Questions sociales 1897-1914, NS 20, S. 154ff. Zu lhnIichen Bedenken in Wien vgl. Oeseh, S. 142.
20 Protokoll ober die Sitzung der schweizerischen Delegation und des Bureaus betreffend internationale Arbeiterschutzkonferenz, 6.5.1905, BAR 2312. Immerhin wurde Bauer schließlich bei den Protokollen und der Schlußakte als SekretAr aufgefllhrt. vgl. Internationale Konferenz fllr Arbeiterschutz. 21
So der schweizerische Delegierte Kaufinann. ibo
D. Internationale Konferenzen und Vertrlge
150
in Zürich unter dem Vorsitz von Bundesrat Deucher eine Sitzung statt. aus der ein Geschäftsreglement und ein Diskussionspapier für die technische Vorkonferenz hervorgingen. Neben den an die Konferenz delegierten Vertretern des Industriedepartementes nahmen auch Scherrer und Bauer teil 22. Die Vertreter der IVGA legten zwei Konventionsentwürfe bei, die der technischen Vorkonferenz, in allerdings entscheidend modifizierter Form, als Vorschlag der schweizerischen Delegation vorliegen sollten. Das Papier der IVGA 23 war nach drei Gesichtspunkten gestaltet worden: Das Frauennachtarbeitsverbot richtete sich in seinen inhaltlichen Bestimmungen nach den Basler Beschlüssen, das Phosphorverbot war der schweizerischen und der deutschen Gesetzgebung nachgebildet worden. Der Geltungsbereich und die Rücktrlttsbestimmungen beider Konventionen stammten aus der Brüsseler Zuckerkonvention. Durchsetzung, Kontrolle und Festschreibung einer Fortsetzung internationaler Sozialpolitik lehnten sich an die Bestimmung des französisch-italienischen Vertrages an. Im Entwurf zum Frauennachtarbeitsverbot findet sich demnach die Verpflichtung, an weiteren, vom Bundesrat einberufenen Konferenzen teilzunehmen 24. In der Phosphorkonvention war dieser Punkt sogar noch ausgeweitet worden. Die Vertragsstaaten mußten fortan internationale Konferenzen über andere Berufskrankheiten beschicken 25. In beiden Konventionen wurde nun aber in Abweichung vom französischitalienischen Vertrag dem Basler Arbeitsamt eine wichtige Funktion zugedacht. In der Frauennachtarbeitskonvention war vorgesehen, daß das Arbeitsamt die Berichte der Fabrikinspektoren sammeln und zu einem "extrait sommaire" zusammenstellen sollte, das der Bundesrat auf diplomatischem Wege den Vertragsstaaten mitzuteilen hatte 26. Artikel 9 der Phosphorkonvention
22 Protokoll über die Besprechung des Entwurf (sie!) einer Diskussionsbasis und des GeschllftsregIements filr die am 8.Mai 1905 in Bem stattfindende internationale Konferenz vom 13. und 14. MAn 1905 in Zürich, BAR 2312.
23 Projet d'une base de discussion, principes