Norm und Variation: Paradigmenwechsel anhand frühneuzeitlicher Fremdsprachenlehrwerke 9783111168715, 9783111168579

This volume shines a light on the supposed tension between linguistic norm and variation in the early modern period by l

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German Pages 247 [246] Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
2 Norm und Variation in Theorie und Praxis
3 Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke
4 Variation und Sprachbewusstsein
5 Phänomenbasierte Analyse von Norm und Gebrauch
6 Theoretische und methodische Schlussfolgerungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Index
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Norm und Variation: Paradigmenwechsel anhand frühneuzeitlicher Fremdsprachenlehrwerke
 9783111168715, 9783111168579

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Julia Hübner Norm und Variation

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt und Oskar Reichmann

Band 144

Julia Hübner

Norm und Variation Paradigmenwechsel anhand frühneuzeitlicher Fremdsprachenlehrwerke

Studia Linguistica Germanica Begründet von Ludwig Erich Schmitt und Stefan Sonderegger Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.

ISBN 978-3-11-116857-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-116871-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-116919-4 ISSN 1861-5651 Library of Congress Control Number: 2023942151 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner im Mai 2021 im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereichten Dissertation. Ohne die Anregung und Unterstützung einiger Menschen wäre diese Arbeit jedoch nicht zustande gekommen. Ihnen gilt mein herzlicher Dank! An erster Stelle danke ich Horst Simon, der mich stets gefordert, gefördert und ermutigt hat. Von ihm durfte ich nicht nur über die historische Linguistik, sondern auch über das Leben im Allgemeinen lernen. Natalia Filatkina danke ich nicht nur für die Übernahme des Zweitgutachtens, sondern auch für die neue berufliche Heimat in Hamburg nach Abgabe der Dissertation sowie für das Vertrauen und die Förderung. Meine Leidenschaft für Linguistik wurde in meinem Studium in Münster durch Klaus-Michael Köpcke und Andreas Bittner geweckt. Sie haben mein Nachdenken über Sprache nachhaltig geprägt. Das inspirierende Umfeld an der Freien Universität Berlin hat mir durch stetigen Austausch und zahlreiche Kolloquien, Mittags- und Kaffeepausen viele Anreize geboten, um diese Arbeit wachsen zu lassen. Hier möchte ich besonders Tanja Ackermann, Edgar Baumgärtner, Beijia Chen, Linda Gennies, Eva Meier, Henning Radke, Pia Schlickeiser, Linnéa Weitkamp und Christian Zimmer danken. Weitere wertvolle Kommentare und Hinweise zu Inhalten meiner Arbeit habe ich von Antje Dammel, Stephan Elspaß, Ulrike Freywald, Matthias Hüning, Nicola McLelland, Ferdinand von Mengden, Simon Pickl und Truus De Wilde erhalten. Nicht genug danken für den bedingungslosen Rückhalt und die Geduld kann ich außerdem meiner Familie: meiner Mutter Thea, meiner Schwester Lena sowie Benjamin. Ein stiller Dank gilt meinem Vater Fritz, der stets an mich geglaubt hat. Ihm ist diese Arbeit gewidmet.

Berlin, im Juni 2023

https://doi.org/10.1515/9783111168715-202

Julia Hübner

Inhalt  . . .

Einleitung  1 Gegenstand und Ziele  2 Methoden  3 Struktur der Arbeit  3

 . .. .. .. .. . .

Norm und Variation in Theorie und Praxis  5 Sprachliche Norm – Theorie und Operationalisierung  5 Formuliertheit  12 Legitimation und Geltungsanspruch  16 Phänomenbereich  18 Akteure  18 Sprachliche Norm in der Frühen Neuzeit  19 Zusammenfassung  24

 Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke  26 . Potentiale  28 .. Geschichte  29 .. Struktur  30 .. Lernziel und Adressatengruppe  34 .. Methoden  40 .. Autoren  44 . Quellenkritische Auseinandersetzung  48 .. Authentizität der Lehrwerke  48 ... Reliabilität der Metadaten  51 ... Grammatische Authentizität  60 .. Authentischer Sprachgebrauch und Mündlichkeit  63 . Korpus  67 .. Zusammensetzung des Korpus  68 .. Intertextualität innerhalb des Korpus  73 .. Charakteristika der analysierten Werke  74  . .. ..

Variation und Sprachbewusstsein  83 Explizite Markierung von Varianten – eine quantitative Analyse  85 Verwendung von Varianten in Dialogen  91 Varianten in der Grammatik  104

VIII  Inhalt . .. .. .. .. .

Sprachbewusstsein und Variation – eine qualitative Analyse  107 Diatopische Variation  110 Diachrone Variation  115 Diastratische Variation  119 Diaphasische Variation  122 Fazit  124

 . .. .. .. .. . .. .. .. .. .

Phänomenbasierte Analyse von Norm und Gebrauch  128 Norm und Gebrauch des Dativ-e  131 Gebrauch des Dativ-e in der Frühen Neuzeit  132 Das Dativ-e in den Dialogen der Sprachlehrwerke  133 Norm des Dativ-e  161 Fazit: Norm und Gebrauch des Dativ-e  167 Norm und Gebrauch des werden-Futurs  169 Gebrauch der Futurformen in der Frühen Neuzeit  170 Das Futur in den Dialogen der Sprachlehrwerke  172 Norm des Futurs  189 Fazit: Norm und Gebrauch des werden-Futurs  192 Fazit: Grammatik vs. Dialog  195

 . . .

Theoretische und methodische Schlussfolgerungen  200 Norm(en) in den Sprachlehrwerken  200 Methodologie  211 Sprachlehrwerke als Quelle  212

Quellen- und Literaturverzeichnis  217 Index  237

 Einleitung Das Frühneuhochdeutsche1 wird im Rahmen der Herausbildung des Deutschen als eine Periode des Umbruchs und als bedeutender Wendepunkt hin zur standarddeutschen Sprache beschrieben. Das 17. Jahrhundert gilt dabei als Phase der normativen Sprachbetrachtung und wird vor allem unter den Aspekten der Standardisierung, der Kodifizierung und der Spracharbeit konzeptualisiert (vgl. u.a. Josten 1976, Hundt 2000, Langer 2001, Elspaß 2005c, Rutten, Vosters & Vandenbussche 2014). In diesem Zusammenhang sind auch Norm und als (vorläufig angenommenes) Pendant dazu Variation bereits aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht worden. Obgleich verschiedene Quellen gewählt wurden, liegt der Fokus dieser Untersuchungen sowohl in Bezug auf die Verfasser dieser Quellen (gelehrte Grammatiker) als auch in Bezug auf die Adressaten (Literaten, Poeten, Gelehrte) in erster Linie auf der oberen, gelehrten Gesellschaftsschicht (vgl. u.a. Rutten, Vosters, Vandenbussche 2014: 1ff, Nevalainen 2014: 106ff). Dabei wurden insbesondere der Status und die Wirkung der gelehrten Grammatiker als potentielle Akteure innerhalb des Normdiskurses untersucht. Ungeachtet des tatsächlichen Einflusses der gelehrten Grammatiker auf die Normierung des Deutschen haben sie in jedem Fall die Aufmerksamkeit auf das Deutsche als normwürdige Sprache gelenkt und auf diese Weise auch ein Bewusstsein für Normativität geschaffen. Dennoch ist ein Begreifen von Norm ausschließlich auf der Ebene von Grammatikern beziehungsweise gelehrten Schreibern unzureichend. In jüngster Vergangenheit wurde durch die Berücksichtigung sowie Erschließung eines neuen Quellentypus innerhalb der historischen Soziolinguistik auch eine neue Perspektive auf Norm und Variation eingenommen. Diese Betrachtung ‚von unten‘ ging mit der Aufwertung nicht-literarischer Quellen sowie des alltäglichen Sprachgebrauchs einher und brachte auch neue Erkenntnisse für die Frage nach der Normierung des Deutschen (vgl. Elspaß 2005a, Elspaß 2015). In diesem Kontext wurde schließlich auch die Gebrauchsperspektive auf Sprache und dabei vor allem auf den Alltagssprachgebrauch legitimiert. Denn obwohl Norm und Gebrauch idealerweise in ihrer Interaktion zu begreifen sind,  1 Obgleich sich die Untersuchung vom 16. bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts erstreckt, wurde zur zeitlichen Einordnung der Terminus Frühneuhochdeutsch gewählt. Diese Entscheidung fiel einerseits, da die Nicht-Normiertheit der Sprache als Untersuchungsgegenstand fokussiert werden soll. Bei Termini wie Neuhochdeutsch oder Älteres Neuhochdeutsch ist in der Regel ein gewisser Grad an Normiertheit impliziert. Andererseits gilt das Frühneuhochdeutsche generell als Übergangsphase mit unscharfen Grenzen (vgl. u.a. Sonderegger 1979: 172). https://doi.org/10.1515/9783111168715-001

  Einleitung wurde letzterer bei der Untersuchung der Norm lange vernachlässigt oder lediglich in Form des literarischen oder fachsprachlichen Gebrauchs reflektiert. Auch die vorliegende Arbeit widmet sich diesem Themenkomplex und kann dabei sowohl durch die Auswahl der Quellen als auch durch die Auswahl der Perspektiven zur Schließung der zuvor aufgezeigten Forschungslücken beitragen.

. Gegenstand und Ziele Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, neue Einblicke in die soziolinguistische Wirklichkeit von Norm und Variation mithilfe einer bisher nur am Rande beachteten Textsorte zu erlangen – der frühneuzeitlichen Sprachlehrwerke2 für moderne Fremdsprachen. Dabei geht es primär um die Analyse der Normvorstellungen der Sprachlehrwerksautoren und deren Umsetzung im Sprachgebrauch. Die hier untersuchten Sprachlehrwerke entstanden vor allem im Laufe des 17. Jahrhunderts und damit in einer Zeit, in der noch kein überregionaler Standard etabliert war und dementsprechend auch keine Standardnorm existierte. Wenn allerdings davon ausgegangen wird, dass das Verfertigen eines Lehrbuchs einen gewissen Grad an Normierung verlangt, ergibt sich daraus ein Spannungsfeld zwischen fehlender Standardnorm, sprachlicher Variation und Normerfordernis des Sprachenlehrens und -lernens. Dabei stellen sich unter anderem folgende Fragen: 1. Welche speziellen Normen in Bezug auf einzelne grammatische Phänomene liegen bei den Autoren vor? 2. Wie begegnen die Autoren der Variation in der Sprachwirklichkeit? 3. Welches Sprachnormenkonzept liegt den Lehrwerken zugrunde? 4. Wie funktioniert Sprachenlehren vor der Standardnorm? Die Sprachlehrwerke sind aus unterschiedlichen Gründen prädestiniert dazu, sich der Frage nach Norm und Variation zu nähern. Ein wichtiger Grund sind die Bestandteile der Werke: Durch die Vorworte, Grammatikteile und Musterdialoge ermöglichen sie Einblicke auf unterschiedlichen Ebenen der Norm und des Normbewusstseins. Dass einige Lehrwerke in mehr oder weniger abgewandelter Form über einen Zeitraum von teilweise bis zu einhundert Jahren stets neu aufgelegt oder Bestandteile in anderen Werken verwendet wurden, ermöglicht darüber

 2 In dieser Arbeit werden die Begriffe Sprachlehrwerk, Fremdsprachenlehrwerk und Lehrwerk synonym verwendet und bezeichnen allesamt den Untersuchungsgegenstand der mehrsprachigen historischen Sprachlehrwerke für moderne Fremdsprachen.

Struktur der Arbeit  

hinaus auch Fragen zur Diachronie zu beantworten. Durch die überwiegend elaborierten Fremdsprachenkenntnisse oder sogar Zweisprachigkeit der Autoren sowie die Mehrsprachigkeit der Lehrwerke kann zudem auch der Einfluss der Mehrsprachigkeit auf die Norm beleuchtet werden. Durch diese Multidimensionalität erlauben die Lehrwerke eine völlig neue Perspektive auf die Normfrage. Da die Fremdsprachenlehrwerke bislang nur relativ unsystematisch und anhand sehr kleiner Stichproben erforscht wurden, liegt ein weiteres Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auch in der Prüfung der Lehrwerke als potentielle Quelle für die historische Soziolinguistik sowie für die historische Linguistik im Allgemeinen.

. Methoden Ziel dieser Arbeit ist es, die Normvorstellungen und die damit einhergehenden Geltungsansprüche der Sprachlehrwerksautoren aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen. Aus diesem Grund werden die Bestandteile der Sprachlehrwerke unter verschiedenen Fragestellungen sowie mithilfe unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen betrachtet. Um den Besonderheiten und Herausforderungen der Textsorte gerecht zu werden, kombiniert das empirische Vorgehen sowohl qualitative als auch quantitative Studien. Das primäre Ziel dieser Untersuchung besteht vor allem darin, empirisch fundierte, verallgemeinerbare Aussagen zu Norm und Variation innerhalb der Sprachlehrwerke zu treffen. Die durchgeführten quantitativen Studien werden dabei durch qualitative Studien sowie philologische Mikrostudien ergänzt, um der Heterogenität des Materials gerecht zu werden und die Normvorstellungen möglichst umfassend abzubilden.

. Struktur der Arbeit Diese Arbeit macht sich das Textsortenpotential der Lehrwerke zunutze und kann auf diesem Weg verschiedene Ebenen der Norm analysieren. In den einzelnen Kapiteln werden unterschiedliche Perspektiven eingenommen, welche in ihrer Synthese auf das Normkonzept der Werke schließen lassen sowie einen Einblick in das Sprachbewusstsein der Autoren erlauben. Gleichzeitig bestimmen sie auch die Gliederung dieser Arbeit. Kapitel 2 dient zunächst der Auseinandersetzung mit dem Normbegriff und dessen theoretischer Anwendung sowie praktischer Umsetzung in der Frühen Neuzeit. Die Begriffe Norm und als Abgrenzung dazu Variation stellen das

  Einleitung theoretische Fundament dieser Arbeit, um die erhobenen Daten zu beschreiben und auszuwerten. Die praktische Bedeutung der Norm für die Frühe Neuzeit liefert wichtige Möglichkeiten zur Kontextualisierung für die folgenden Analysen. Anschließend (Kapitel 3) erfolgt eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Material. Zu diesem Zweck werden zunächst die Charakteristika der Fremdsprachenlehrwerke sowie die sich daraus ergebenden Potentiale für die Analyse der Normvorstellungen dargelegt. Die nachfolgende Quellenkritik fragt vor allem nach der Authentizität der Lehrwerke sowie deren Eignung für die folgenden Analysen. Anhand dieser Vorüberlegungen wird schließlich ein für diese Untersuchung passendes Korpus von Fremdsprachenlehrwerken erstellt. Die anschließende empirische Untersuchung gliedert sich in zwei thematische Bestandteile, die sich jeweils mit unterschiedlichen Ebenen der Norm beschäftigen. Der erste Teil setzt sich mit der sprachlichen Variation und dem Bewusstsein der Autoren für diese Variation auseinander (Kapitel 4). Zu diesem Zweck wird zunächst die explizite Nennung von Varianten innerhalb der Lehrwerke analysiert. In einem weiteren Schritt wird anhand metasprachlicher Äußerungen dargestellt, inwiefern und auf welchen Ebenen die Autoren die sprachliche Variation wahrgenommen und möglicherweise auch bewertet haben. Im zweiten Teil erfolgt eine Analyse der Norm in Relation zum Gebrauch. Dabei geht es um den Umgang der Autoren mit zwei grammatischen Phänomenen (Dativ und Futur) im Grammatikteil sowie im Vergleich dazu in den Dialogen der Lehrwerke (Kapitel 5). Zu diesem Zweck wird zunächst das grammatische und sprachtheoretische Wissen der Autoren ausgelotet, welches anhand der Aussagen in den Grammatikteilen analysiert wird. In einem weiteren Schritt wird schließlich die Anwendung dieses Wissens über die analysierten Phänomene im Sprachgebrauch der Dialogteile untersucht. Dabei ergeben sich auch neue Perspektiven auf den mündlichkeitsnahen Alltagssprachgebrauch der Frühen Neuzeit. In einem Fazit (Kapitel 6) werden anschließend die Ergebnisse der einzelnen Studien zusammengeführt, um sowohl theoretische Schlussfolgerungen hinsichtlich Norm und Variation als auch ein methodisches Fazit in Bezug auf den Umgang mit den Sprachlehrwerken zu ziehen.

 Norm und Variation in Theorie und Praxis Das theoretische Grundgerüst dieser Arbeit bildet die Norm: Ein zunächst abstraktes und zugleich vielschichtiges Konzept, welches erst durch eine konkrete Anwendung gefüllt wird. Auch aus diesem Grund findet der Begriff in den unterschiedlichsten Disziplinen wie in der Soziologie (vgl. u.a. Durkheim 1991, Luhmann 1969), der Philosophie (vgl. u.a. Stemmer 2008), der Rechtswissenschaft (vgl. u.a. Hart 1998) und überdies auch in der Sprachwissenschaft Anwendung (vgl. u.a. Coseriu 1979, Bartsch 1987, Bußmann 2008). In dem hier relevanten Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften stellen Normen vornehmlich Konventionen dar und können ganz allgemein als „Orientierungshilfen betrachtet werden, nach denen der Mensch sein Verhalten ausrichtet“ (Dittmar & SchmidtRegener 2001: 522). Ziel soll an dieser Stelle nicht die umfassende Darstellung des theoretischen Normdiskurses sein. Die folgende Einordnung nennt die für diese Untersuchung relevanten Aspekte und bildet nicht nur die theoretische Grundlage dieser Arbeit, sondern dient auch der Operationalisierung des abstrakten Normbegriffs vor dem Hintergrund des Untersuchungsmaterials. Zusätzlich wird der Normbegriff im Kontext der frühneuzeitlichen Sprachwirklichkeit verortet.

. Sprachliche Norm – Theorie und Operationalisierung Für die Beschäftigung mit den frühneuzeitlichen Sprachlehrwerken ist die sprachliche Norm als Teilbereich der sozialen Normen von Bedeutung. Bei einem Definitionsversuch des linguistischen Terminus Norm fällt auf, dass selbst in den theoretischen und empirischen Arbeiten innerhalb der Linguistik die Verwendung nicht unerheblich variiert. Hundt (2009: 117) formuliert vor diesem Hintergrund eine abstrahierende Metadefinition der Norm und betont dabei die Vagheit: „Sprachnormen zeigen sich letztlich als prototypisch gefasste Konzepte, deren konkrete Realisierungen eher mit dem Begriff der Familienähnlichkeit denn mit einem starren System an Definitionskriterien erfasst werden [können]“. Obgleich bisher keine allgemein anerkannte Definition existiert, besteht ein gewisser Konsens hinsichtlich bestimmter Merkmale der Sprachnorm. Das folgende Kapitel resümiert die wichtigsten Ergebnisse des linguistischen und

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  Norm und Variation in Theorie und Praxis insbesondere des germanistischen Normdiskurses und entwickelt auf dieser Grundlage eine operable Ausgangsdefinition für die folgenden Analysen.3 Es lassen sich zunächst zwei grundsätzliche Definitionen von Norm unterscheiden: die Norm als Handlungsanweisung (respektive Standard) gegenüber der Norm im Sinne des Normalen (vgl. Nerius 1973, Bartsch 1987, Settekorn 1988, Felder 2003, Sinner 2020). In ihrer Anwendung sind diese beiden Definitionen jedoch nicht als dichotomisch zu verstehen, sondern stellen die Endpunkte eines Kontinuums dar, auf dem sich die unterschiedlichen Definitionen von Norm anordnen lassen. Wenn die Norm vorwiegend als Handlungsanweisung (vgl. Gloy 2005: 394) oder als Standard (vgl. Dittmar 1997: 255ff) verstanden wird, stehen in erster Linie die damit verbundenen Regeln und Präskriptionen im Vordergrund. In diesem Fall stellt die Norm ein anzustrebendes Ziel beziehungsweise ein Vorbild dar: die so genannte Standardnorm. Dieser Normbegriff kann als eher sozialwissenschaftlich orientiert beschrieben werden, da in diesem Fall das Setzen und Befolgen von Regeln mit dem Ziel eines harmonischen Miteinanders im Vordergrund stehen. Die Norm im Sinne des Normalen beschreibt hingegen den frequenzbasierten Gebrauch, ohne dabei Empfehlungen oder gar Vorschriften zu formulieren. Diese Perspektive auf die Norm ist eher naturwissenschaftlich, da keine Obligation und kein Sollen impliziert sind (vgl. von Polenz 1972: 79). Haßler und Neis (2009: 711) gehen zusätzlich von einer dritten Form der Norm aus und definieren Norm auch als „Gesamtheit der sprachlichen Regeln“. Dieser Ansatz kann als eine Art Synthese der beiden zuvor genannten Definitionen betrachtet werden. Der Fokus liegt hier allerdings auf der Systemebene. Die Anfänge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Norm innerhalb der Germanistik finden sich bereits bei Paul (1995 [1880]), der Norm als eine Form der Gemeinsprache sieht und gleichzeitig als eine Handlungsanweisung beschreibt. Dabei betont er den präskriptiven Charakter. Die Gemeinsprache ist demnach die „ideale Norm, die angibt, wie gesprochen werden soll“ (Paul 1995: 404). Diese zunächst abstrakte Norm wird in der Regel durch den Usus bestimmt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um den Usus der Gesamtheit aller Sprachbenutzenden, da dieser zu stark durch Variation geprägt ist. Vorbildlich ist lediglich die Sprache einiger Gebildeter (vgl. Paul 1995: 405f). Eine ähnliche Tendenz weist auch die Definition von Gloy (2005: 394) auf. Allerdings fügt dieser seiner Definition den Verpflichtungs- oder Erwartungscharakter von Normen hinzu:  3 Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Geschichte des Normbegriffs und der Auslegung der Norm liefern u.a. Bartsch (1987), Gloy (2005) sowie Beuge (2019).

Sprachliche Norm – Theorie und Operationalisierung  

Unter die so definierten sozialen Normen fallen als Teilmenge die Sprachnormen. Letztere sind Erwartungen […] und/oder explizite Setzungen deontischer Sachverhalte, die ihrem Inhalt zufolge die Bildung, Verwendungsabsicht, Anwendung und Evaluation sprachlicher Einheiten der verschiedensten Komplexitätsgrade regulieren (sollen).

Gloy definiert Norm folglich in erster Linie als Handlungsanweisung4, nähert sich jedoch mit seiner Definition bereits dem zweiten Normkonzept im Sinne der Norm als normale Realisierungsform von Sprache an. In diesem Zusammenhang wird innerhalb der Linguistik in der Regel auf Hjelmslev (1942) und Coseriu (1979) verwiesen, die ausgehend von Saussures langue und parole einen gebrauchsbasierten Normbegriff entwickeln. In Hjelmslevs (1942) Schema-Norm-Usus-Hierarchie ist Norm eine konkrete Realisierung des zugrundeliegenden abstrakten Systems (bzw. Schemas) und bestimmt den Usus. Auf dieser Grundlage entwickelt schließlich Coseriu (vgl. 1975: 43) die dreigliedrige Unterscheidung Rede-NormSystem (sistema, norma y habla). Denn laut Coseriu fehlt bei Saussures langue und parole die Norm als weitere zusätzliche Ebene, die jedoch notwendig ist, um die sprachliche Realität umfassend beschreiben zu können. Als die normale Realisierung des Systems entspricht die Norm dem Sprachgebrauch innerhalb der Sprachgemeinschaft und ist so zumindest teilweise synonym zu Gebrauch zu verstehen (vgl. Coseriu 1979: 55). Dem gegenüber steht das System, das die Regeln einer Sprache überhaupt erst ermöglicht – auch wenn diese (noch) nicht realisiert werden oder (noch) nicht akzeptabel sind. Anhand der Norm kann bestimmt werden, für welche Kontexte die Regeln angewendet werden dürfen. Da das System nur das „funktionell Relevante“ beinhaltet, sind Varianten nicht Teil des Systems (Coseriu 1975: 86). Auch bei Bußmann (2008: 655) findet sich eine umfassende Definition von Sprachnorm, die ebenfalls vom Gebrauch ausgeht und insbesondere die Angemessenheit fokussiert. Sie beschreibt Normen als [s]oziale Erwartungen, die innerhalb der Möglichkeiten des Sprachsystems die Formen des angemessenen Sprachgebrauchs bestimmen. S[prachnormen] regeln Grundbedingungen der Kommunikation […] und steuern für spezielle Sprechsituationen die Auswahl und Organisation der sprachlichen Mittel wie Aussprache, Wortwahl, Satzkomplexität, Form der Illokution u.a. Solche situativen Normen beziehen sich z.B. auf funktionale und thematische Angemessenheit […], auf korrektes Sprechen in sozialen Rollen und Institutionen, auf Alter […] oder Geschlecht. S[prachnormen] beruhen entweder implizit auf einem Konsens

 4 Auf dieser Grundlage entwickelt Gloy (2005: 394) schließlich die Unterscheidung von subsistenten und statuierten Normen (vgl. dazu Kap. 2.1.1).

  Norm und Variation in Theorie und Praxis der Sprecher, oder sie sind explizit festgesetzt und legitimiert durch Kriterien wie Verbreitung, Alter, Strukturgemäßheit und Zweckmäßigkeit.

Diese Betrachtungen von Norm bei Hjelmslev, Coseriu sowie Bußmann sind vor allem gebrauchsbasiert und beschreiben, wie Sprache üblicherweise verwendet wird. Norm und Gebrauch sind hier in ihrer Interaktion zu begreifen, da sie sich gegenseitig bedingen. Zur Entstehung und Verbreitung dieses Konzepts hat vorwiegend die Soziolinguistik und die damit verbundene Fokussierung der Zusammenhänge von Sprache und Gesellschaft beigetragen. Es handelt sich folglich um eine eher deskriptive Norm, die auch den jeweiligen Äußerungskontext und die Angemessenheit der getätigten Äußerung miteinschließt. Natürlich liegt hier auch ein Bezug zum Sprachsystem zugrunde, gleichwohl die Norm viel weiter gefasst ist und in diesem Fall als eine „statistische Größe“ beziehungsweise ein „Häufigkeitswert“ verstanden werden kann (Haßler & Neis 2009: 711). Aufgrund der Gebrauchsbasiertheit dieses Normkonzepts wird hier von einer Normenpluralität ausgegangen. Die Annahme einer einzigen Norm würde der Komplexität der Sprache mit ihren unterschiedlichen Varietäten und sprachlichen Ebenen nicht gerecht werden. Je nach Handlungsabsicht und Kommunikationsziel können die Sprecher:innen dann bewusst oder unbewusst auf diese Normen zurückgreifen (vgl. Bartsch 1987: 155). Löffler (2008) beschäftigt sich bei der Auseinandersetzung mit der Norm und dem Standard vor allem mit den verschiedenen Existenzformen der deutschen Sprache und ordnet diese hinsichtlich ihrer jeweiligen Geltungsdomänen, ihrer Hierarchisierung sowie der Abgrenzung untereinander. Das Ergebnis ist ein Kontinuum mit den unterschiedlichen Existenzformen des Deutschen, die sich oftmals nicht klar voneinander abgrenzen lassen beziehungsweise sich sogar überlappen (vgl. Löffler 2008: 21). Auch für Hundt (2009: 121) ist die Norm in erster Linie gebrauchsbasiert und dadurch auch in ihrer Verbindung zur Akzeptabilität zu sehen. Die meisten Sprachnormen sind vom Gebrauch abgeleitete Regeln. Wenn eine Äußerung in Gebrauch ist und als akzeptable Form wahrgenommen wird, entspricht diese auch der Norm. Dabei ist die Norm nur als ein Teilbereich des sprachlichen Systems zu verstehen. Denn im Sprachgebrauch wird nur ein kleiner Teil dessen realisiert, was im System möglich ist. Die Sprachnorm weist folglich eine große Schnittmenge mit dem Sprachgebrauch auf und beide stellen einen Teil des Sprachsystems dar. Insgesamt kann Hundts Sprachnormkonzept als flexibler und weniger statisch als Coserius Norm beschrieben werden. Ähnlich wie Hundt definiert auch von Polenz (1972: 80) den Terminus Norm mithilfe von System und Gebrauch und beschreibt Sprachnorm und Sprachgebrauch als „teilkomplementär“ zueinander. Norm und Gebrauch entsprechen sich in weiten Teilen, weichen aber auch in bestimmten Bereichen voneinander

Sprachliche Norm – Theorie und Operationalisierung  

ab (vgl. Abb. 1). So existieren auch Formen im Sprachgebrauch, die weder durch die Norm noch durch das System abgedeckt sind. Darüber hinaus existieren auch Normen, die nicht im Gebrauch realisiert werden. Ob diese Relationen auch für das Normkonzept der Sprachlehrwerke zutreffend sind, soll im Laufe dieser Arbeit geklärt werden. Es kann aber in jedem Fall festgehalten werden, dass ein Begreifen der Norm stets auch in Relation zum Sprachsystem und zum Sprachgebrauch erfolgen sollte.

Abb. 1: Sprachnorm und Sprachgebrauch (in Anlehnung an Hundt 2009 & von Polenz 1972)

So wie die Sprachnorm mit dem Sprachgebrauch verflochten ist, ist der Sprachgebrauch gleichzeitig mit der Variation verbunden. Der Begriff Variation zeigt sich im Vergleich zu Norm auf theoretischer Ebene allerdings weitaus weniger komplex und unstrittiger. Variation bezeichnet unterschiedliche Realisierungen von Sprache im Allgemeinen beziehungsweise einer sprachlichen Einheit im Speziellen aufgrund diverser außersprachlicher Faktoren. Lenz und Plewnia (2010: 12) definieren Variation als einen möglichen Gegenpol zur Norm: Variation „means the existence of the possibility to choose; it means dynamics, while norm stands (rather) for the opposite; for stability and statics“. Je nach Definition können die Begriffe Norm und Variation in Korrelation oder auch in einem Spannungsverhältnis stehen. Auf den ersten Blick scheinen sie sich auszuschließen, während sie sich gleichzeitig stark bedingen: Variation kann wahrgenommen werden, weil es Normen gibt und die Norm existiert, weil es Variation gibt. Ein bisher weniger beachtetes Normkonzept ist die elastische Norm, die im Rahmen der Arbeiten der Prager Schule entstanden ist. Dieses Normkonzept

  Norm und Variation in Theorie und Praxis dient dazu, die angestrebte elastische Stabilität der Literatursprache zu erreichen (vgl. Daneš 1976, Mathesius 1976). Dabei handelt es sich um eine gebrauchsbasierte Sicht auf die Norm. Normiertheit ist demnach nicht gleichzusetzen mit Kodifiziertheit, sondern entsteht durch den Sprachgebrauch. Jede Kodifizierung, die sich nicht auf den aktuellen Sprachgebrauch stützt, sei nur Fiktion (vgl. Mathesius 1976: 95f). Aus diesem Grund wird bei der elastischen Norm nicht von einem homogenen Normkonzept ausgegangen, sondern von unterschiedlichen Normen für die jeweiligen sprachlichen Ebenen und Register (vgl. Daneš 1976: 103f). Mathesius (1979: 98) fasst zusammen, dass es „vielmehr um die Kodifizierung des ausgewählten Usus der Gegenwart [geht] und darum, daß die Schwankungen eingeschränkt werden, für die es keine funktionalen Gründe gibt.“ Ein weiterer Perspektivwechsel wird von Elspaß (2020: 287) angestoßen, wenn er die teilweise vorherrschende homogenistische Perspektive auf Sprache kritisiert. Es wird nämlich mitunter angenommen, dass ein Standard keinerlei Variation aufweist. Da Sprache jedoch stets in Gebrauch ist und sich wandelt, impliziert Sprache immer auch Variation (vgl. Joseph 1987: 30). Variation kann folglich als wesentlicher Bestandteil von Sprache begriffen werden. Folglich dient auch im Rahmen dieser Arbeit die Variation in erster Linie als Beschreibungsebene, um das Normkonzept und dessen Realisierung durch die Autoren greifbar zu machen. In Abhängigkeit vom Forschungsgegenstand existieren dementsprechend unterschiedliche Perspektiven auf die Norm und den Sprachgebrauch. Für diese Untersuchung sind zunächst – auch um einen möglichst theorieneutralen und unvoreingenommenen Blick auf das Material sicherzustellen – sowohl Norm als eine Form der Handlungsanweisung als auch Norm in Form des Normalen von Bedeutung.5 Darüber hinaus zeichnet sich die Norm auch durch die konzeptuelle Nähe zu anderen Termini aus. Eine Bedeutungsähnlichkeit oder sogar Synonymität ist insbesondere zum Terminus Regel festzustellen (vgl. Bartsch 1987, Gloy 1975, Takahashi 2004). So kritisiert Gloy (2005: 392f), dass häufig der funktional-systemische Sprachnormbegriff mit Regel gleichgesetzt wird. Dabei seien Regeln lediglich innersprachliche Konzepte, die dazu dienen, eine Sprache zu

 5 Neben diesen Definitionen existieren auch zahlreiche Sprachnormmodelle, um die Entstehung und das Wirken der Norm sowie die Interaktion unterschiedlicher Einflussfaktoren zu beschreiben (vgl. u.a. von Wright 1963, Haugen 1972, Eroms 2000 und Ammon 1995). In diesen Modellen steht das konkrete Wirken der Norm im Rahmen des Standardisierungsprozesses im Fokus. Da das diese Arbeit jedoch lediglich am Rande betrifft, werden diese Modelle hier nicht weiter ausgeführt.

Sprachliche Norm – Theorie und Operationalisierung  

strukturieren und den Sprachgebrauch teilweise abzubilden. Zu diesem Zweck müssen sie den Sprecher:innen jedoch nicht unbedingt bewusst sein. Sie sind wie die deskriptive Norm aufgrund von Frequenz entstanden und limitieren den Wirkungsbereich der Regeln, sodass diese Regeln nicht auf das gesamte System angewendet werden können. Trotz gewisser Überschneidungen sind die Termini Regel und Norm folglich nicht synonym zu verwenden. Regeln sind einzelfallbezogen und konkreter als die Norm. Dadurch weisen sie einen nur eingeschränkten Toleranzbereich auf. Die sprachliche Norm kann als einen ihrer Bestandteile auch Regeln aufweisen (vgl. Felder 2003: 481) oder laut der Definition von Norm nach Haßler und Neis (2009: 711) sogar die „Gesamtheit der sprachlichen Regeln“ umfassen. Gleichwohl ist nicht jede Regelmäßigkeit eine Norm (vgl. Eichinger 2005, Gloy 2005, Hartung 1977). Obgleich je nach Perspektive Unterschiede hinsichtlich der Definition vorliegen, weist die Mehrzahl der theoretischen Abhandlungen einige Schnittmengen auf, anhand derer Normen klassifiziert und beschrieben werden können. Um das abstrakte Konzept greifbar zu machen, ist insbesondere die Realisierung der Normen im Sinne der Anwendung im konkreten Sprachgebrauch von Bedeutung (vgl. Hundt 2009: 121). Denn eine getätigte Äußerung ist nicht gleichzusetzen mit der Norm, sondern kann mit dieser lediglich übereinstimmen oder aber von dieser abweichen (vgl. Gloy 2005: 396, Beuge 2019: 46). Die jeweils realisierten Normen können schließlich in Bezug auf unterschiedliche Aspekte analysiert und klassifiziert werden. Auf Grundlage der bestehenden Forschungsliteratur werden vier essentielle Beschreibungsebenen abstrahiert, die zur Operationalisierung des Normbegriffs und zur Rekonstruktion der Norm im empirischen Teil dieser Arbeit dienen: 1. Formuliertheit 2. Legitimation & Geltungsanspruch 3. Phänomenbereich 4. Akteure

  Norm und Variation in Theorie und Praxis .. Formuliertheit Die häufigste Beschreibungsebene von sprachlichen Normen ist ihre Formuliertheit.6 Dabei wird beschrieben, ob und inwiefern die Normen kodifiziert sind. Neben der Art und Weise der Beschreibung, also dem ‚Wie‘, wird auch erfasst, auf welcher Grundlage die Norm überhaupt existiert. Die Formuliertheit der Norm kann anhand einer dichotomischen Struktur mithilfe folgender Attribute beschrieben werden: 1. implizit – explizit 2. subsistent – statuiert 3. deskriptiv – präskriptiv In der praktischen Umsetzung kommen diese Dichotomien jedoch nur selten in Reinform vor. Die Grenzen sind fließend und die jeweilige Norm kann in ihrer Formuliertheit auf einem Kontinuum zwischen den jeweiligen Endpunkten angeordnet werden (vgl. u.a. Schlieben-Lange 1990). Faktisch tragen diese Endpunkte unterschiedliche Bezeichnungen, ähneln sich aber in ihrer Bedeutung erkennbar. Und auch in ihren Verwendungsweisen enthalten sie große Überschneidungsbereiche (vgl. von Polenz 1972, Gloy 1975) oder werden sogar teilweise synonym gebraucht (vgl. Feilke 2015). Während implizit und explizit sowie subsistent und statuiert in erster Linie die Funktion und Wirkung der Norm fokussieren, beschreiben deskriptiv und präskriptiv primär ihre Entstehungsgrundlage. Alle drei Begriffspaare sind zudem mehr oder weniger mit der Kodifizierung der Norm verbunden. Als Kodifizierung wird im Rahmen der Sprachwissenschaft gemeinhin das Dokumentieren oder Festhalten von Sprache und Sprachgebrauch in Grammatiken, Wörterbüchern oder anderen metalinguistischen Werken bezeichnet (vgl. Nerius 1980: 368). Haßler und Neis (2009: 711) definieren die kodifizierte Norm allgemeiner und ohne zwangsläufigen Bezug zur schriftlichen Fixierung als das „Ergebnis häufig sozial organisierter metasprachlicher Tätigkeit“. Dabei ist die Kodifizierung keine notwendige Bedingung einer Norm. Eine Norm kann auch durch Sprachverwendung entstehen, also dem (unbewussten) Anwenden von sprachlichen Regeln durch die Sprachgemeinschaft, und muss nicht gezwungenermaßen kodifiziert werden (vgl. Nerius 1980: 368). Darüber hinaus müssen sich die Sprecher:innen einer Norm auch nicht bewusst sein, um  6 Hundt (2009) nennt diesen Aspekt auch die Art der Genese der Norm und Beuge (2019) wählt den Terminus Existenzweisen der Norm.

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sich nach ihr zu richten. Laut Haßler und Neis (2009: 698) genügt bereits die Existenz von Regeln innerhalb einer Sprachgemeinschaft, um eine Norm annehmen zu können. Hartung (1977) nutzt zur Beschreibung der Kodifiziertheit einer Norm die Termini explizit und implizit und beschreibt damit die Art und Weise, wie eine Norm formuliert ist. Auch Feilke (2015) beschreibt die Kodifizierung als explizite Norm (u.a. die Rechtschreibnorm) und demgegenüber die Gebrauchsnorm als implizite Norm (u.a. Gendern). Am Beispiel des Genderns lässt sich zudem veranschaulichen, wie Normen sich in Bezug auf ihre Formuliertheit im Laufe der Zeit wandeln können: Während Fragen nach geschlechtergerechter Sprache bislang als implizite Norm galten, ist aufgrund der aktuellen Debatten ein Wandel hin zu expliziten Gendernormen denkbar. Synonym zu implizit und explizit werden die Termini subsistent und statuiert verwendet. Auch diese beschreiben die Kodifizierung der Norm, setzen dabei jedoch den Fokus vor allem auf die Rolle der normsetzenden Instanz beziehungsweise den Einfluss des institutionellen Normdiskurses (vgl. Ammon 1995: 73f). Laut Gloy (2005: 394) sind die subsistenten Normen „nicht-formulierte“ Normen, die in der Regel durch Konsens und ohne Zutun einer Institution oder Person entstanden sind. Diese Normen entwickeln sich durch Aushandlung im sprachlichen Diskurs. Dabei stellen die subsistenten Normen die überwiegende Mehrheit der sprachlichen Normen dar. Demgegenüber sind statuierte Normen kodifiziert und von offizieller beziehungsweise institutioneller Seite dokumentiert und bestätigt. Für diese Bestätigung wird die Norm auf metasprachlicher Ebene thematisiert oder sogar diskutiert und schließlich durch eine Normautorität in irgendeiner Art von Regelwerk festgeschrieben. Im Rahmen der statuierten Norm wird zudem stets die Frage nach der Standardvarietät thematisiert (vgl. Ammon 2005). Im sozialen Kräftefeld der normsetzenden Instanzen (Modellsprecher und -schreiber, Sprachexperten, Sprachkodizes, Normautoritäten) werden in komplexen Aushandlungsprozessen bestimmte Varianten als standardkonformer Sprachgebrauch bestimmt (vgl. Ammon 2005: 33). Diese Typen der Norm treten oft in chronologischer Reihenfolge auf. Zunächst existiert eine Norm als subsistente Norm durch übereinstimmenden Sprachgebrauch innerhalb der Sprachgemeinschaft. Anschließend kann aus diesen gebrauchsbasierten Normen eine Auswahl getroffen werden, die mittels Aufnahme in Grammatiken oder andere Nachschlagewerke durch Normautoritäten statuiert und damit gleichzeitig zu einer kodifizierten Norm wird. Durch diese nachträgliche Kodifizierung kann das in der Sprachgemeinschaft vorhandene

  Norm und Variation in Theorie und Praxis Sprachnormwissen nachträglich beeinflusst und zugunsten der neu kodifizierten Norm modifiziert werden. Schließlich existiert noch die Unterscheidung in präskriptive und deskriptive Normen. Damit kann ebenfalls die Formuliertheit, die Art ihrer Genese sowie ihre Wirkung bei den Rezipient:innen beschrieben werden. Die deskriptive Norm ist dabei eine statistische beziehungsweise gebrauchsbasierte Norm (vgl. Gloy 1975: 25ff) oder bei Coseriu (1975: 43) das, was "normal und traditionell in der Gemeinschaft" ist. Allerdings ist die Definition des Terminus Deskription mithilfe von Gebrauchsnorm teilweise zirkulär, denn die Gebrauchsnorm ist eigentlich nur das, was als solche wahrgenommen und beschrieben wird (vgl. Gloy 1980: 364). Während deskriptive Normen den Sprachgebrauch beschreiben und dabei frequenzbasiert sowie wertneutral sind, stellt die präskriptive Norm ein anzustrebendes einheitliches Sprachziel dar: Was soll gesagt werden und was nicht? (vgl. Gloy 1975: 25ff). Dabei müssen zur Normsetzung weder der aktuelle Gebrauch mitsamt der zugrundeliegenden Variation noch der Sprachwandel berücksichtigt werden. Es geht in erster Linie um ein erwünschtes (sprachliches) Verhalten, das gleichzeitig mit positiven Werturteilen verbunden wird. Nichtsdestotrotz besteht eine Interaktion zwischen deskriptiven und präskriptiven Normen, da die präskriptiven Normen in den meisten Fällen gebrauchsbasiert entstehen. Nur in Ausnahmefällen beschreiben präskriptive Normen sprachliche Formen, die nicht in Gebrauch sind oder stigmatisieren sogar verbreitete Formen (vgl. McLelland 2011: 260ff). In Anbetracht der Tatsache, dass die präskriptive Norm in der Regel von nur einer korrekten Form ausgeht, wird die deskriptive Norm reduziert und unter Umständen auch durch eine Wertung ergänzt (vgl. Ayres-Bennett 2020: 187). Darüber hinaus ist streng genommen jede Norm per se zunächst präskriptiv, da es um die Richtlinie oder einen Orientierungspunkt zur Ausführung einer Handlung geht. Insbesondere deskriptive sprachliche Normen weisen einen Handlungsbezug auf und werden auch deshalb oftmals als Präskriptionen wahrgenommen (vgl. Gloy 1975: 25ff, Hartung 1977: 18ff). Schlussendlich können dann lediglich die wissenschaftliche Perspektive auf die Formuliertheit der Norm oder die Umsetzung als deskriptiv beschrieben werden. Wenn Sprache und Sprachgebrauch normiert werden, ist das größtenteils auch mit Sprachkritik und Sprachwertung verbunden. Diese Wertungen finden sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses und beziehen sich vor allem auf die präskriptiven Normen. Während bei deskriptiven Normen in ‚typisch‘ und ‚untypisch‘ oder auch ‚angemessen‘ und ‚unangemessen‘ in Abhängigkeit von möglichen Geltungsansprüchen unterschieden wird, ist

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die Grundlage der Präskription meistens eine richtig-falsch-Dichotomie (vgl. Ayres-Bennett 2020: 187). Präskription impliziert wie auch schon Explizitheit in den meisten Fällen Kodifizierung. Haugen (1972) setzt diese Termini sogar gleich, wohingegen Milroy und Milroy (1991) sowie Ayres-Bennett (2020) davon ausgehen, dass Präskription und Kodifizierung keinesfalls synonym zu verwenden sind. Kodifizierung kann zwar in präskriptiven Normen resultieren, genauso jedoch kann sie auf deskriptiver Grundlage erfolgen. Wenn präskriptive Normen existieren, können diese zudem durch eine Kodifizierung verstärkt werden (vgl. Milroy & Milroy 1991: 27). 7 In einigen Arbeiten werden die Termini Norm, Kodifizierung und Standard oftmals (nahezu) synonym verwendet (vgl. Gloy 1975, Bartsch 1987, Takahashi 2004). Ein Grund für diese Gleichsetzung besteht darin, dass gemeinhin dem Standard das Attribut normiert zugewiesen wird, da die Standardsprache die verbindlichsten Normen aufweist. Diese Verbindlichkeit ergibt sich einerseits aus der Kodifiziertheit der Norm sowie andererseits durch die Kontrolle der Einhaltung in Form von Sanktionierung (vgl. Joseph 1987: 118, Elspaß & Dürscheid 2017: 90). Trotz dieser Überschneidungsbereiche ist es unzureichend, Norm mit Standard gleichzusetzen. Der Standard ist lediglich eine mögliche Ausprägung einer kodifizierten Norm, aber keinesfalls deren einzige. Denn auch außerhalb der Standardsprache sind Normen gültig, damit Kommunikation gelingen kann. Diese Normen sind jedoch im Gegensatz zu den Standardnormen weitgehend unbewusster Natur und nur im Ausnahmefall kodifiziert (vgl. Ammon 2005: 31). Und auch im Rahmen dieser Untersuchung wird Norm nicht mit Standard gleichgesetzt. Die im Untersuchungszeitraum noch nicht standardisierte Sprache stellt die sprachliche Realität dar, in der die Sprachlehrwerke entstehen. Von primärem Interesse ist hier vor allem der Umgang mit dieser sprachlichen Realität und eine potentielle Normierung der Sprache durch die Autoren beim Verfertigen der Lehrwerke. Schließlich sollte bei der Unterscheidung in präskriptive und deskriptive Normen auch zwischen Intention, Ausdruck und Wirkung der jeweiligen Normen unterschieden werden. Insbesondere die Intention des Normgebenden kann von der tatsächlich erzielten Wirkung bei den Sprachbenutzer:innen abweichen. Selbst wenn Intention und Ausdruck der Norm deskriptiv sind, kann im Rezeptionsvorgang eine präskriptive Wirkung entstehen. Ferner kann eine Norm je nach Typus mit einem Werturteil sowie einer Auswirkung oder sogar einer Sanktionierung bei Nichtbefolgung verbunden sein. Diese möglichen Sanktionen können  7 Eine ausführlichere theoretische Auseinandersetzung mit Präskription und Deskription im Rahmen der Standardisierung findet sich bei Ayres-Bennett (2020).

  Norm und Variation in Theorie und Praxis von einem einfachen Scheitern der Kommunikation bis hin zu Tadel reichen und tragen gleichzeitig dazu bei, dass die Norm weiter stabilisiert wird (vgl. Gloy 1975: 47, Gloy 1979: 18). Diese hier beschriebenen Dichotomien der Formuliertheit sollen als ein Parameter dienen, um das den Sprachlehrwerken zugrundeliegende Normkonzept zu beschreiben.

.. Legitimation und Geltungsanspruch Normen können außerdem in Bezug auf ihre Legitimationsstrategien und ihre Geltungsansprüche klassifiziert werden (vgl. Gloy 1980: 366f, Bartsch 1987: 153). Dabei meint die Legitimation die Existenzberechtigung der Norm, die vorrangig durch Übereinstimmung mit anderen Werten entsteht und die erklären kann, warum ein bestimmtes sprachliches Phänomen durch Sprecher:innen oder Sprachnorminstanzen als normkonform angesehen wird. Dahingegen beschreibt das Konzept der Geltungsansprüche, unter welchen Bedingungen oder in welchen Bereichen Normen Gültigkeit besitzen. Gloy (1975: 66, 80) formuliert konkrete Legitimationskriterien der Norm. Für diese Arbeit werden insbesondere die Strukturgemäßheit sowie die Belegbarkeit von Bedeutung sein. Der Faktor der Strukturgemäßheit beschreibt die Grammatikalität sowie die Relevanz eines sprachlichen Ausdrucks hinsichtlich des Sprachsystems. Auf diese Weise kann eine vorherrschende Normenpluralität reduziert werden. Mit Belegbarkeit beschreibt Gloy (1975: 80) den Faktor der Frequenz. Eine bestimmte Form muss empirisch im allgemeinen Sprachgebrauch in bestimmter Häufigkeit oder im Gebrauch von Sprachnormautoritäten nachzuweisen sein, um als Norm gelten zu können. Die konkrete Legitimation kann dabei auch durch Tradition und historische Gewachsenheit erfolgen (vgl. Gloy 1975: 72). In diesem Fall sind die Normen insbesondere durch Quantität legitimiert, da sie sich über einen längeren Zeitraum durch den Sprachgebrauch und die Auswahl bestimmter (grammatischer) Varianten herausbilden konnten (vgl. Knipf-Komlósi 2018: 200). Überdies können Normen auch aufgrund von Qualität existieren und mithilfe von expliziten Normierungsvorgängen durch normsetzende Autoritäten legitimiert werden (vgl. Sinner 2020: 152). Josten (1976) nimmt eine ausführlichere Differenzierung der unterschiedlichen Legitimationsstrategien vor: Bei der regionalen Argumentation wird eine Sprachlandschaft zum Vorbild erkoren, die in der Frühen Neuzeit in der Regel der Sprachraum um Meißen ist. Bei der personalen Legitimationsstrategie ist der

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Sprachgebrauch einer (prestigeträchtigen) Person maßgeblich für die Bestimmung der Norm. Auch gesellschaftliche Institutionen können als Legitimierungsinstanzen agieren. Eine letzte Möglichkeit stellt die innerlinguistische Argumentation dar, die mithilfe von Analogieprinzipien normkonforme Varianten beschreibt. Während die Legitimation das ‚Warum‘ beschreibt, setzen sich die Geltungsansprüche mit den Bedingungen auseinander: Wo und unter welchen Bedingungen ist eine Norm gültig? Daraus ergeben sich vielfältige Geltungsansprüche in Bezug auf soziale, funktionale oder historische Varietäten (vgl. Dittmar & Schmidt-Regener 2001: 522, Hundt 2009: 121). Eine für diese Untersuchung wichtige Unterscheidung sind darüber hinaus die Geltungsansprüche in Abhängigkeit der medialen Realisierung von Sprache. So sind gemeinhin für die geschriebene Sprache die expliziten Normen und auch das damit verbundene Normbewusstsein sehr viel stärker ausgeprägt als für die gesprochene Sprache (vgl. Paul 1995: 405, Felder 2003: 482). Damit verbunden ist auch eine generelle Unterscheidung der Geltungsansprüche in Bezug auf Standard und Nonstandard. Für den alltäglichen Sprachgebrauch (im Sinne der gesprochenen Sprache oder der Gebrauchstexte) gelten Gebrauchsnormen und damit vorwiegend andere Normen als für die Standardsprache. Aufgrund dieses eingeschränkten Praxisbezugs sind die Standardnormen vorwiegend theoretischer Natur. Auch Nerius (1973) unterscheidet zwei Arten von Normen hinsichtlich ihres Geltungsbereiches, bezeichnet diese allerdings als Systemnorm und Verwendungsnorm. Demnach beschreibt die Systemnorm „die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Sprachgemeinschaft realisierten sprachlichen Möglichkeiten, und zwar unabhängig von den konkreten kommunikativen Bedingungen und Situationen“ (Nerius 1973: 87), während die Verwendungsnorm „die aus der Situation oder Funktion der jeweiligen Sprachverwendung resultierende Auswahl der sprachlichen Mittel“ beschreibt (Nerius 1973: 88). Daraus kann schließlich eine Divergenz von Standardnorm und Gebrauchsnorm entstehen. Da jedoch vor dem Hintergrund der sprachlichen Wirklichkeit der Frühen Neuzeit noch nicht von Standardnorm gesprochen werden kann, werden im Folgenden die Begriffe Norm und Gebrauch verwendet. Ein Erkenntnisziel dieser Arbeit besteht schließlich neben der Untersuchung von Norm und Gebrauch auch in der Identifikation von Legitimationsstrategien und Geltungsansprüchen der frühneuzeitlichen Sprachlehrwerksautoren.

  Norm und Variation in Theorie und Praxis .. Phänomenbereich Sprachliche Normen können nicht nur in Bezug auf ihre Geltungsansprüche, sondern auch in Bezug auf die sprachlichen Phänomenbereiche klassifiziert werden, in denen sie wirksam sind. Auf diese Weise entstehen unterschiedliche Subtypen von sprachlicher Norm, die jedoch zusammen als Richtlinie für das Gelingen von sprachlicher Kommunikation verstanden werden können. Für sprachliche Normen sind das die jeweiligen sprachstrukturellen Systemebenen sowie der konkrete Äußerungskontext. Je nach Perspektive und Erkenntnisinteresse sind die sprachlichen Ebenen mehr oder weniger feingliedrig klassifiziert. In den meisten Fällen wird zwischen orthographischer, morphologischer, syntaktischer, auditiv-phonetischer, semantischer und pragmatischer Norm unterschieden. Ferner kann auch eine textsortenbezogene sowie eine allgemeine Angemessenheitsnorm8 (situative Norm) angenommen werden (vgl. u.a. Hartung 1977, Gloy 1980, Hundt 2009). Die Angemessenheitsnorm inkludiert den Kommunikationskontext und beschreibt das Verhältnis der Kommunikationspartner, das Thema sowie die Situation. Auf dieser Grundlage wird schließlich die Äußerung in einer konkreten Gebrauchssituation in Bezug auf ihre Angemessenheit bewertet.

.. Akteure Eine letzte Klassifikationsebene stellen die am Normierungsprozess beteiligten Akteure dar. Auch hier existieren zahlreiche unterschiedliche Bezeichnungen, die die Akteure in Bezug auf ihre Rolle und ihre Intention im Normierungsprozess beschreiben. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise Normautoritäten, Normformulierende, Normkodifizierende, Normvermittelnde, Normüberwachende, Normdurchsetzende sowie auch eventuelle Normopfer genannt (vgl. Gloy 1975: 35, Bartsch 1987: 165, Hundt 2009: 117). Hundt (2009) weist insbesondere auf die Rolle der Sprachbenutzer:innen hin, da diese trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung im Normprozess oft vernachlässigt werden. Sie stellen das „Sprachsouverän dar und sind dadurch auch aktiv an der Verbreitung der Normen sowie am Normenwandel beteiligt“ (vgl. Hundt 2009: 117). Auch Gloy (1997: 28) argumentiert in eine ähnliche Richtung, wenn er den Adressierten eine bedeutende Funktion bei der Realisierung  8 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff Angemessenheit aus linguistischer Perspektive findet sich bei u.a. bei Kienpointner (2005) sowie Kilian, Niehr & Schiewe (2016).

Sprachliche Norm in der Frühen Neuzeit  

zuspricht: „Die Wirksamkeit von Sprachnormen hängt demnach nicht von der Tatsache ihrer Formuliertheit und deren sprachlich-kommunikativer Übermittlung, sondern von ihrer Verarbeitung aufseiten der Adressaten ab“. Laut Bartsch (1987: 158) können die Sprachbenutzer:innen in einigen Fällen sogar die Rolle der Normautorität einnehmen. In diesem Fall wird nicht nur das eigene sprachliche Verhalten an der Norm ausgerichtet, sondern auch die Befolgung der Normen durch andere Sprachbenutzer:innen überwacht und mögliche Normabweichungen kritisiert oder sogar sanktioniert. Neben diesen direkten Sanktionen existieren auch indirekte Konsequenzen der Missachtung von Normen. So kann eine Normmissachtung dazu führen, dass die Kommunikation scheitert. Schlimmstenfalls können die Sprecher:innen sogar in Bezug auf ihre soziale oder geistige Kompetenz abgewertet oder aus der Interaktion ausgeschlossen werden (vgl. Bartsch 1987: 165). In dieser Untersuchung stehen in erster Linie die Autoren der Fremdsprachenlehrwerke als Akteure im Fokus. Die zentrale Frage besteht darin, ob und wie sie ihre Rolle innerhalb des Normdiskurses konzeptualisieren. Indirekt sind aber auch die Adressaten der Lehrwerke als potentielle Sprachbenutzer:innen mit ihren eventuellen Normbedürfnissen von Relevanz, um die Norm innerhalb der Sprachlehrwerke möglichst umfassend beschreiben zu können.

. Sprachliche Norm in der Frühen Neuzeit Die Auseinandersetzung mit der sprachlichen Norm in den Sprachlehrwerken erfolgt unter Berücksichtigung ihres Entstehungskontexts: Neben dem frühneuzeitlichen Sprachgebrauch – insoweit dieser überhaupt rekonstruierbar ist – sind in diesem Zusammenhang vor allem der ablaufende Normierungsprozess sowie die Spracharbeit von Bedeutung. Die präskriptive Normierung der deutschen Sprache existiert in größerem Umfang erst seit frühneuhochdeutscher Zeit und intensiviert sich schließlich im Laufe des 17. Jahrhunderts. Vollständig abgeschlossen ist dieser Prozess jedoch auch im 19. Jahrhundert noch nicht (vgl. Elspaß 2014: 310). Der folgende Überblick über die frühneuzeitliche Sprachnorm ist kursorischer Natur und dient als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Norm. Details in Bezug auf die analysierten sprachlichen Phänomene sowie in Bezug auf andere Sprachen finden sich an entsprechender Stelle im Laufe dieser Arbeit. Für die Frühe Neuzeit ist die Frage nach der Norm (primär im westlichen Europa) eng mit den Ursprüngen der Standardisierung verbunden (vgl. Rutten, Vosters & Vandenbussche 2014: 7). Wie die deutsche Standardsprache entstanden

  Norm und Variation in Theorie und Praxis ist, wurde bereits aus unterschiedlichsten Perspektiven dargelegt.9 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die neuhochdeutsche Schriftsprache durch verschiedene Ausgleichsprozesse herausgebildet hat. Das ursprünglich horizontal ausgerichtete Varietätenspektrum, welches durch umfangreiche Variation gekennzeichnet ist, wurde allmählich durch ein vertikales Varietätenspektrum abgelöst. Die Vorläufer der Standardisierung sind um 1450 und damit auch um die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern zu verorten (vgl. Mattheier 2003: 215). Der überregionale Sprachausgleich fand zwar bereits in der zweiten Hälfte des 15. und im 16. Jahrhundert statt, aber erst im 17. und 18. Jahrhundert kam es zu ernsthaften Bemühungen, die Schriftsprache auszubauen und schließlich auch zu vereinheitlichen (vgl. Elspaß 2005c: 63). Für diesen hier lediglich in groben Zügen umrissenen Prozess ist insbesondere das 17. Jahrhundert von Bedeutung. In dieser Zeit ist nicht nur die frühe Phase der Standardisierung und Kodifizierung zu verorten, sondern es vollzog sich auch der Umbruch vom Frühneuhochdeutschen hin zum Neuhochdeutschen (vgl. Hundt 2000: 1, Rutten, Vosters & Vandenbussche 2014: 7 sowie Ayres-Bennett 2014: 173 für das Französische). Als wichtiger Bestandteil des Normierungsdiskurses werden vor allem die Grammatiker konzeptualisiert, obgleich deren konkreter Einfluss auf die Herausbildung des Standards noch nicht abschließend geklärt werden konnte. Seit frühneuhochdeutscher Zeit lassen sich erste Anfänge der sprachtheoretischen Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache identifizieren (vgl. Moulin 2008: 18). Die ersten vollständigen Grammatiken des Deutschen, welche zunächst noch auf Latein verfasst waren, entstanden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.10 Mit der Veröffentlichung dieser deutschen Grammatiken durch unter anderem Albertus (1573), Ölinger (1573) und Clajus (1578) formierte sich allmählich auch ein normativer Anspruch der gelehrten Grammatiker (vgl. McLelland 2014: 253). Im Jahr 1618 entstand die erste auf Deutsch verfasste Grammatik von Kromayer. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts nahm schließlich die Forderung nach der Normierung des Deutschen, der Etablierung eines Standards und in diesem Zuge auch die Anzahl grammatischer Abhandlungen über das Deutsche sukzessive zu (vgl. Moulin-Fankhänel 2000: 1904). Diese Normierungsbestrebungen zeigen sich darüber hinaus auch in der Etablierung der Sprachgesellschaften im Laufe

 9 Ausführlicher zum Standard siehe Haugen (1972) und insbesondere zur Standardisierung des Deutschen siehe von Polenz (2009) und Mattheier (1997, 2003). Für einen weitergefassten Standardisierungsbegriff und die Perspektive ‚von unten‘ siehe Elspaß (2005a, 2020). 10 Eine detaillierte Übersicht der deutschen Grammatiken der Frühen Neuzeit liefert Moulin (1994, 1997).

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des 17. Jahrhunderts. Gardt (1998: 332) benennt als zentrale Tätigkeitsfelder der Sprachgesellschaften die Beschäftigung mit der sprachlichen Struktur, die Sprachkritik, aber auch die Dichtung und die Übersetzung. Die Sprachgesellschaften stellen folglich eine Verbindung zwischen Sprache und Gesellschaft her und gehen davon aus, dass eine Sprache weder nur lexikalisch-grammatisches System noch bloß technisches Werkzeug der Kommunikation ist, sondern immer zugleich Träger kultureller (u.a. ästhetischer), gesellschaftlicher (u.a. moralischer) und politischer Werte und Überzeugungen, die sich im Sprachsystem wie in den Akten der Kommunikation unweigerlich manifestiert (Gardt 1998: 332).

Aus den sprachwissenschaftlichen Interessen der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts resultieren nicht nur Grammatiken, sondern auch Orthographielehren sowie wissenschaftliche Traktate. Diese Abhandlungen drehen sich um die zentrale Frage, in welcher Art und Weise die deutsche Sprache möglichst ideal im Sinne der sprachlichen Norm greifbar gemacht werden kann (vgl. Moulin-Fankhänel 2000: 1904f). Ein Mittel um dieser Funktion der Sprache gerecht zu werden, war die Normierung der Sprache und die Identifizierung einer überregional gültigen Sprachform (vgl. Moulin-Fankhänel 2000: 1904). Die Etablierung der deutschen Standardsprache sowie die Kodifizierung gingen auch einher mit der sogenannten ‚Spracharbeit‘ „im Sinne einer bewussten Kultivierung der deutschen Sprache“ (Moulin 2016: 263). Es wurden unter anderem die Dokumentation und Kodifizierung durch Grammatiken und Wörterbücher für das Deutsche gefordert. Im Zentrum standen mitunter die ‚richtige‘ Verwendung der Sprache und die damit einhergehende Stigmatisierung bestimmter unerwünschter Ausdrücke. In diesen Zusammenhang ist schließlich auch der aufkommende Sprachpurismus einzuordnen. Dabei ging es nicht nur um die Beseitigung fremdsprachlicher Einflüsse, sondern ab dem 18. Jahrhundert vor allem auch um eine Reinheit hinsichtlich der Dialekte innerhalb des Deutschen (vgl. Kirkness 1998: 408). Die Sprache sollte von diesen fremden Einflüssen befreit werden und eine letztendlich ‚reine‘ Form sollte fixiert werden (vgl. Gardt 1999: 440, Langer 2001: 219). Die Bestrebungen der Sprachgesellschaften waren jedoch nicht nur sprachlich-kultureller Natur, sondern es lagen zudem politische Absichten zugrunde. Die Sprachgesellschaften verfolgten mit der Pflege der deutschen Sprache auch das Ziel, einen Vorteil für die Kultur des deutschen Volks und damit auch für die politische Einheit Deutschlands zu schaffen (vgl. Gardt 1998: 333). Es ging folglich nicht nur um Sprache, sondern auch um Kulturpatriotismus. In diesem Zusammenhang spielte auch die Bewahrung der Tugenden eine wichtige Rolle. So

  Norm und Variation in Theorie und Praxis wurde Sprachverfall auch mit dem Verlust der moralisch-sittlichen Qualität des Volkes assoziiert. Die französische Sprache und auch die französischen Sitten wurden mit dem Ziel abgelehnt, die deutsche Sprache sowie die Tugenden zu etablieren und aufzuwerten (vgl. Gardt 1998: 334f). Es ging um die gesamte Gesellschaft sowie die Behauptung ihrer Identität sowohl nach innen als auch nach außen. Das alles geschah im Rahmen der Hinwendung zu den Volkssprachen in Europa. Angestrebt wurde daher, Latein als bisher einzige Sprache innerhalb des gelehrten Diskurses durch die Volkssprachen abzulösen (vgl. Gardt 1998: 332). Ferner gab es auch auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene wichtige Umbrüche, die Einfluss auf Sprache und Sprachgebrauch der Frühen Neuzeit nahmen und gleichzeitig die Bedeutung des Deutschen stärkten. So wurde in dieser Zeit auch der Buchdruck entwickelt und erlaubte die großflächige Verbreitung von Schrifterzeugnissen. Er ermöglichte es erstmals, Bücher auf eine schnelle und effiziente Art zu produzieren, was dazu beitrug, die Verbreitung von Bildung und Wissen zu beschleunigen. In diesem Zuge gewann auch Deutsch als Muttersprache zunehmend an Wichtigkeit (vgl. Moulin 2008: 19). Sukzessive stieg das Interesse, Lesen und Schreiben zu lernen – möglichst anhand von Werken, die ein normgerechtes und überregionales Deutsch vermitteln (vgl. Moulin-Fankhänel 2000: 1903). Dieses Umdenken wirkte sich auch auf den muttersprachlichen Unterricht aus. Im Laufe des 17. Jahrhunderts entstand um Wolfgang Ratke die pädagogische Reformbewegung, die sich für die Muttersprache im Rahmen des schulischen Unterrichts stark machte. Auf diese Weise fand schließlich die deutsche Grammatik mitsamt einer sich herausbildenden Fachterminologie Einzug in die Lehrpläne (vgl. Moulin-Fankhänel 2000: 1904). Es kann resümiert werden, dass die Beschäftigung mit der deutschen Sprache zunehmend in die ‚Mitte‘ der Bevölkerung gelangte. Das zeigt sich auch in den Werken der gelehrten Grammatiker, die die komplexen sprachlichen Strukturen mithilfe von Bildern und Metaphern darzustellen und greifbar zu machen versuchten (vgl. Moulin 2008, 2011). Diese hier nachgezeichneten Prozesse sind allesamt Teil einer größeren Bewegung, in der sich die europäischen Volkssprachen von der Dominanz des Lateinischen als vorherrschender Schriftsprache zu lösen versuchten. Zentraler Aspekt waren die Bestrebungen, das Deutsche in Bezug auf seine Stellung gegenüber den anderen europäischen Sprachen zu behaupten und aufzuwerten (vgl. Hundt 2000). Dieser Diskurs zeichnet sich vor allem durch eine erstmalige Fokussierung des Deutschen unter einer sprachphilosophischen beziehungsweise wissenschaftlichen Perspektive aus. Wichtig waren vor allem Wortforschung und damit verbunden etymologische Analysen, die Erstellung von Wortfamilien sowie die Prozesse der Wortbildung und Sprachspiele (vgl. Moulin 2016:

Sprachliche Norm in der Frühen Neuzeit  

279f). In diesem Kosmos entstanden schließlich auch die Werke von Schottelius (1641) und Gueintz (1641).11 Auch wenn vor diesem Hintergrund das 17. Jahrhundert als bedeutsam und in Bezug auf die sprachliche Reflexion als progressiv und dynamisch bezeichnet werden kann, waren doch viele Bereiche des Sprachgebrauchs noch von erheblicher Variation gekennzeichnet beziehungsweise nicht normiert oder gar kodifiziert. Obgleich eine vollständige Normierung folglich noch ausstand, war sehr wohl ein Bewusstsein für diese Nicht-Normiertheit der Sprache vorhanden. Die in diesem Rahmen entstehenden Werke waren in der Regel einsprachige Grammatiken mit ausführlichen sprachstrukturellen Beschreibungen und lediglich geringem oder gar keinem Praxisbezug, welche sich vornehmlich an (gebildete oder sogar gelehrte) Muttersprachler:innen sowie teilweise auch an Lernende mit nicht-deutscher Muttersprache richteten. Aufgrund des Variantenreichtums der deutschen Sprache war jedoch in den Augen der Grammatiker eine bloße Deskription nicht ausreichend. Ziel war eine Beschreibung sowie eine gleichzeitige grammatische Strukturierung der Sprache durch das Aufstellen von Regeln, die schließlich zu einer einheitlichen Standardsprache und zur Prestigesteigerung führen sollten (vgl. Takada 1998: 296, Klein 2011: 480f). In Bezug auf ihre Intentionalität können die Grammatiken demzufolge als präskriptiv und normierend beschrieben werden. Auch die eingangs (Kap. 2.1.2) dargelegte Unterscheidung zwischen Norm und Gebrauch existierte bereits im 17. Jahrhundert. So entbrannte zwischen Schottelius (als Analogist) und Gueintz (als Anomalist) sowie deren Anhängern ein Streit um die sprachliche Norm und die Frage, ob die Regel oder eher die Gewohnheit den Sprachgebrauch bestimmen sollen (vgl. Gardt 1999: 119ff, 128ff). Insbesondere Schottelius sowie auch Harsdörffer vertreten die Auffassung, dass die Sprache nach gewissen Strukturen und Regeln konzipiert sein sollte. So äußerte Schottelius, dass sich der Gebrauch nach den Regeln zu richten habe: „Derselbiger Gebrauch/ dem ein Hauptgesetz/ oder der Grund entgegen lauff ist kein Gebrauch/ sondern eine mißbräuchliche Verfälschung" (Schottelius 1641: 3). Demnach sei eine der Aufgaben der Grammatiker das Formulieren und Festhalten dieser Regeln. Gueintz hingegen war auf den Sprachgebrauch (seiner

 11 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Rolle Schottelius innerhalb des Normierungsdiskurses siehe u.a. Takada (1998), Hundt (2000) und McLelland (2014).

  Norm und Variation in Theorie und Praxis meißnischen Muttersprache) fixiert und richtete die Regeln nach diesem aus (vgl. Takada 1998: 54).12 Während das Bestreben der Grammatiker eindeutig beschrieben werden kann, werden der genaue Ablauf des Normierungsprozesses und der tatsächliche Einfluss kontrovers diskutiert (vgl. u.a. Bergmann 1982, Konopka 1996, Takada 1998, Moulin-Fankhänel 2000, McLelland 2011, von Polenz 2013, Havinga 2018). Neben den konkreten Selektionsprozessen sind insbesondere die Gründe für die Auswahl bestimmter Varianten noch nicht endgültig geklärt (vgl. Glaser 2003: 60f). Von Polenz (2013: 145) argumentiert für eine überwiegend nachträgliche Kodifizierung des Sprachgebrauchs durch die Grammatiker, die sich dabei vor allem auf den Sprachgebrauch der einflussreichen, gebildeten Personen berufen. Davies und Langer (2006) messen den Grammatiken einen deutlich größeren Einfluss bei. Es besteht jedoch Konsens, dass in Bezug auf den Einfluss der Grammatiker keine allgemeingültige Entscheidung getroffen werden kann und dass die Frage in Abhängigkeit der einzelnen Phänomene immer wieder von Neuem diskutiert werden muss (vgl. u.a. Takada 1998, Lange 2008, McLelland 2014).13

. Zusammenfassung Abschließend bleibt festzuhalten, dass die sprachliche Realität des 16. und 17. Jahrhunderts durch Variation sowie eine noch nicht ausgebildete Standardnorm geprägt war. Ungeachtet dessen müssen jedoch (Gebrauchs-)Normen zugrunde gelegen haben, da diese unabdingbar für eine funktionierende Kommunikation sind (vgl. Hartung 1977: 12, Elspaß 2014: 303). Im Gegensatz zu Norm handelt es sich bei Standard um eine teleologische Perspektive auf Sprache, die in ihrer Zielgerichtetheit mit dem Standard als Endpunkt betrachtet wird. Da es jedoch im Rahmen dieser Arbeit vorrangig um den Umgang der Autoren mit der nicht standardisierten Sprache geht, wurde als theoretisches Grundgerüst der Begriff Norm gewählt. Die Norm soll im Kontext der Lehrwerke primär als eine Leitlinie oder eine Entscheidung bei der Darstellung der Sprachwirklichkeit verstanden werden, die dem Lernenden zur Orientierung dient und zeigt, wie eine Sprache funktioniert

 12 Daraus entfachte eine Diskussion zwischen Schottelius und Gueintz um die Bedeutung von Regel und Gewohnheit als Strukturprinzipien der Sprache (vgl. u.a. Takada 1998 und McLelland 2011). 13 Für ausführliche Analysen des Einflusses der Grammatiker im 18. Jahrhundert vgl. Konopka (1996) und Auer (2009).

Zusammenfassung  

beziehungsweise genutzt werden kann. Demnach bildet die Norm den Rahmen, innerhalb dessen der Fremdsprachenerwerb gelingt. Ob in diesem Zusammenhang aber das Normale (also der durchschnittliche Sprachgebrauch) oder eine konstruierte Norm abseits des Gebrauchs abgebildet wird, kann erst im Laufe dieser Arbeit geklärt werden. Aus diesem Grund wird zunächst keine der eingangs (vgl. Kap. 2.1) formulierten Perspektiven zugrunde gelegt und der Terminus Norm bleibt deutungsoffen und kann vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse für den frühneuzeitlichen Erwerb moderner Fremdsprachen modifiziert und gegebenenfalls elaboriert werden. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Normbegriff als eine geeignete Grundlage für die Auseinandersetzung mit den Sprachlehrwerken, da er die Norm in ihrer Existenz, ihrer Formuliertheit und ihren Geltungsbereichen innerhalb der Sprachlehrwerke in Bezug auf die unterschiedlichen Einflussfaktoren abbilden kann sowie auch die eng verwobenen Begriffe Variation und Sprachbewusstsein impliziert. Mithilfe dieser Kriterien können das Normkonzept und die Normen in den Sprachlehrwerken empirisch erfasst werden.

 Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Die Untersuchung historischer Sprachstufen sowie die Analyse der Normierungsund Standardisierungsprozesse innerhalb dieser Sprachstufen erfolgte in der Vergangenheit überwiegend anhand ganz bestimmter Quellentypen. Der Fokus lag in erster Linie auf der Schriftsprache der gebildeten Oberschicht, der gelehrten Grammatiker und der Sprachgesellschaften als potentiellen Akteuren innerhalb des Normdiskurses. Vernachlässigt wurde dabei der alltägliche (mündliche) Sprachgebrauch insbesondere jener der sozioökonomisch niedriger gestellten Sprachbenutzenden beziehungsweise Laien (vgl. Elspaß 2020: 287). Diese begrenzte Perspektive ist bis zu einem gewissen Grad auch dem unzureichend überlieferten oder weniger zugänglichen Quellenmaterial geschuldet, welches als Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung dient. Die jüngste Forschung zur Standardisierung des Deutschen zeigt jedoch, dass ein Perspektivwechsel nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Für die deutsche Sprachgeschichte wurde dieser vor allem durch Elspaß (vgl. 2005a, 2020) und die Sprachgeschichte ‚von unten‘ vorangetrieben. Und auch diese Arbeit hat es zum Ziel mithilfe der Fremdsprachenlehrwerke als einer bislang nur wenig beachteten Quelle, eine neue Perspektive auf den frühneuzeitlichen Normierungsdiskurs zu ermöglichen. Dabei erfolgt anhand der Sprachlehrwerke zwar keine Betrachtung ‚von unten‘ im eigentlichen Sinne, sondern viel mehr eine Betrachtung aus einer neuen Perspektive, die als ‚rundherum‘ oder multiperspektivisch beschrieben werden kann. Die Sprachlehrwerke für moderne Fremdsprachen entwickelten sich im Laufe der Frühen Neuzeit aus dem Zusammenspiel der praktischen Tätigkeit der Autoren als Fremdsprachenlehrer und den Bestandteilen des Wissens traditioneller gelehrter Grammatiken. Die Werke stellen auf diese Weise eine Art kollektives Wissen der Sprachmeister dar, die sich teilweise durch die gelehrten Grammatiker inspirieren ließen. Denn die Lehrwerke entstanden parallel zu der Tradition der Grammatikschreibung und dem Einsetzen des Normierungsdiskurses. Auch Filatkina (2015: 97) beschreibt die Lehrwerke als „Zeugnisse der Abkehr vom grammatikbasierten Lateinunterricht hin zum an der gesprochenen Sprache orientierten Erwerb der Vernakularsprachen, vom Produkt zum Prozess, vom Sprachsystem zum Sprachgebrauch“ und damit als den Beginn des modernen Fremdsprachenerwerbs. Obwohl sich die Arbeit mit den Lehrwerken im Laufe dieses Kapitels als nicht unproblematisch erweisen wird, kann sie unter Beachtung bestimmter https://doi.org/10.1515/9783111168715-003

Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke  

Präliminarien auch äußerst erkenntnisbringend sein. Das Ziel dieses Kapitels besteht in einer Auseinandersetzung mit der Textsorte Fremdsprachenlehrwerk, ihren Charakteristika sowie Produktionsbedingungen und den daraus resultierenden Potentialen für die Untersuchung von Norm und Variation. In einer quellenkritischen Auseinandersetzung werden anschließend die Voraussetzungen für einen reflektierten Umgang mit möglichen Herausforderungen in Bezug auf das Material geschaffen. Auf dieser Grundlage erfolgt im Anschluss eine kriteriengeleitete Zusammenstellung eines adäquaten Korpus für die folgenden Untersuchungen. In Bezug auf ihr Layout und ihre Struktur weisen viele Sprachlehrwerke offenkundige Gemeinsamkeiten auf, in ihrer konkreten Umsetzung können sie aber durchaus heterogen gestaltet sein. Aus diesem Grund wird hier der Frage nachgegangen, wie die Lehrwerke zu dieser Zeit typischerweise waren. Gleichzeitig wird auf Besonderheiten bestimmter Werke verwiesen. Um möglichst aussagekräftige und verallgemeinerbare Ergebnisse zu erhalten, wurde zunächst eine Datenbank erstellt. Die auf diese Weise entstandene Berliner Datenbank frühneuzeitlicher Fremdsprachenlehrwerke14 (BDaFL) bildet den Ausgangspunkt dieser Untersuchung und beinhaltet insgesamt 214 mehrsprachige Fremdsprachenlehrwerke. Aufgenommen wurden ausschließlich Werke des 15. bis 17. Jahrhunderts,15 die als eine der behandelten Sprachen Deutsch enthalten und die zudem Musterdialoge aufweisen.16 Damit geht ein Nichtberücksichtigen von Fremdsprachenlehrwerken einher, die ausschließlich eine Grammatik, Wortlisten oder Musterbriefe beinhalten. Der Schwerpunkt der Datenbank liegt bedingt durch die Überlieferungssituation auf dem 17. Jahrhundert und der Sprachenkombination Deutsch und Französisch.

 14 Die komplette Datenbank mitsamt den Metadaten findet sich online in der Berliner Datenbank frühneuzeitlicher Fremdsprachenlehrwerke (Simon, Gennies & Hübner 2021). 15 Es finden sich einige Lehrwerke des frühen 18. Jahrhunderts in der Datenbank. Diese wurden aus strategischen Gründen aufgenommen, da es entweder direkte Fortsetzungen bestimmter Reihen des 17. Jahrhunderts sind oder aber durch den Autor oder die enthaltenen Dialoge eine enge Verknüpfung mit der Lehrwerkstradition des 17. Jahrhunderts besteht. 16 Zusammengestellt wurde die Datenbank mithilfe der umfangreichen Bibliografien aus Claes (1977), Jones (2000), Glück (2002, 2013), Glück et al. (2002) sowie Glück & Schröder (2007). Ergänzt wurde die Sammlung anschließend durch eigene Katalogrecherche. Die so entstandene Datenbank erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, umfasst jedoch einen großen Teil der in dieser Zeit erschienenen Fremdsprachenlehrwerke mit den entsprechenden Kriterien.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

. Potentiale Obgleich es sich bei den historischen Sprachlehrwerken nicht um eine völlig unergründete Textsorte handelt, ist ihr Potential noch nicht im Ansatz ausgeschöpft. Ein bereits ausführlicher erforschtes Themengebiet sind der Status von Deutsch als Fremdsprache, die Situation und die Bedingungen des Fremdsprachenerwerbs in der Frühen Neuzeit (vgl. u.a. Glück 2002, 2013, Hüning 2019, 2021) sowie der Berufsstand des Sprachmeisters (vgl. u.a. Häberlein 2015, Häberlein 2018, Häberlein & Glück 2019). Simon (1996, 2006) weist anhand des deutsch-italienischen Lehrwerkes von Georg von Nürnberg aus dem 15. Jahrhundert auf das Potential der Sprachlehrwerke als Quelle für die Analyse historischer Mündlichkeit hin. Durch diese konzeptionelle Mündlichkeit können sie auch für pragmatische Untersuchungen wie beispielsweise Höflichkeit und Anrede (vgl. McLelland 2018, Betsch 2019, 2000, Gennies 2023) sowie für die historische Sprechaktforschung (vgl. Ackermann 2022) als wertvolles Quellenmaterial betrachtet werden. Nicht zuletzt können mithilfe der Sprachlehrwerke auch das Nachdenken über grammatische Einzelphänomene sowie deren Gebrauch greifbar gemacht werden (vgl. Langer 2001, 2002, McLelland 2008, Prather 2021). Langer (2004) weist schließlich auch auf die besondere Eignung der Sprachlehrwerke für die Frage nach der Standardisierung des Deutschen hin. Der Vorteil besteht zum einen drin, dass die Autoren in vielen Fällen keine Muttersprachler sind. Somit können Rückschlüsse auf die Verbreitung der Standardisierung gezogen werden. Zum anderen versuchen Fremdsprachenlehrer, nur eine bestimmte Varietät – vermutlich die prestigeträchtigste – der Zielsprache zu unterrichten. Auf diese Weise kann mithilfe von Fremdsprachengrammatiken untersucht werden, wie die gelehrten Grammatiken und deren Inhalte rezipiert und verbreitet wurden (vgl. Langer 2004: 225). Obgleich es im Rahmen dieser Arbeit nicht primär um die Standardisierung des Deutschen, sondern eher um die Norm im Sinne eines Leitbildes geht, sollen diese Aspekte nicht unberücksichtigt bleiben, da sie eng mit der Frage nach der Norm verknüpft sind. Die Perspektiven auf die Sprachlehrwerke als Quelle für die historische Linguistik sind mannigfaltig und erkenntnisversprechend. Viele der in der Vergangenheit erzielten Ergebnisse ergeben sich jedoch aus Einzelbeobachtungen oder beziehen sich lediglich auf einzelne Werke, Werkreihen oder Autoren. Das mindert allerdings keinesfalls die Qualität dieser Untersuchungen und die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse können wertvolle Hinweise für eine größer angelegte Studie geben. Das angestrebte Ziel dieser Untersuchung besteht schließlich darin, belastbare Aussagen zu Norm und Normativität der Fremdsprachenlehrwerke auf

Potentiale  

Grundlage einer umfangreicheren Datenbasis zu treffen. Dabei ergibt sich für dieses Vorhaben bereits aus den Charakteristika der Textsorte großes Potential, welches in den folgenden Abschnitten näher beleuchtet wird.

.. Geschichte Eine Besonderheit der Sprachlehrwerke zeigt sich bereits mit Blick auf deren Entstehungsprozess und die weit zurückreichende Tradition.17 Denn die Anfänge des volkssprachlichen Unterrichts lassen sich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Überliefert wurde zum Beispiel das handschriftlich verfasste Lehrwerk von Georg von Nürnberg, welches Deutsch und Italienisch beinhaltet. Der erste überlieferte Druck ist das zweisprachige Introito e porta (1477), welches in erster Linie für Handeltreibende verfasst wurde, die Deutsch lernen wollten. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Werk immer wieder neu aufgelegt oder als Grundlage für neue Werke verwendet (vgl. Hüllen 2000: 180, Coseriu 2003: 216). Die Praxis des Modifizierens und Neuauflegens ist dabei ein wichtiges Charakteristikum der Lehrwerke geworden. So wurden einige Werkreihen kontinuierlich überarbeitet und angepasst; einzelne sogar in einem Zeitraum von über einhundert Jahren. Eine weitere prägende Werkreihe der Frühen Neuzeit sind die Colloquia et dictionariolum, die sich im Laufe der Zeit von einem simplen Vokabular zu einem Fremdsprachenlehrwerk mit (kurzem) Grammatikteil, Modelldialogen und Wortlisten entwickelt haben (vgl. Villoria-Prieto & López 2018: 72). Zurückgeführt wird die Werkreihe der Colloquia auf Noël de Berlaimont, einen Sprachmeister aus Antwerpen. Während die erste Ausgabe mit Niederländisch und Deutsch lediglich zwei Sprachen umfasste, wurden im Laufe der Jahre Werke mit bis zu zehn Sprachen veröffentlicht. Insbesondere die darin enthaltenen Musterdialoge dienten immer wieder in mehr oder weniger abgewandelter Form als Grundlage für andere Werke. Insgesamt sind für den Zeitraum von 1530 bis 1703 über einhundert Editionen mit unterschiedlichen Sprachkombinationen bekannt (vgl. Hüllen 2005: 54). Darüber hinaus existieren aber auch zahlreiche weitere kleinere Werkreihen sowie Einzelwerke. Um 1600 erlangen schließlich neben den entstehenden Grammatiken moderner Fremdsprachen auch die Sprachlehrwerke immer größere Bedeutung und verbreiten sich in weiten Teilen Europas.

 17 Ein ausführlicher und facettenreicher Überblick über die Geschichte der Fremdsprachenlehrwerke findet sich bei Glück (2002: 412ff).

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Durch die Kontinuität der Textsorte und den stetigen Ergänzungs-, Überarbeitungs- und Anpassungsprozess bieten die Lehrwerke das Potential der synchronen und diachronen Betrachtung grammatischer und pragmatischer (Sprachwandel)Phänomene – im Idealfall sogar bezüglich eines Autors – in einem konstanten Quellenkontext. Ferner ist nicht nur das konkrete Sprachmaterial von Interesse, sondern auch die enthaltenen sprachreflexiven Elemente. So kann anhand der metakommunikativen Kommentare auch die Herausbildung und die Entwicklung des Norm- und Sprachbewusstseins analysiert werden.

.. Struktur Ein weiteres charakteristisches Merkmal der Lehrwerke stellen die einzelnen Bestandteile dar, die aus linguistischer Perspektive auf unterschiedlichen Ebenen von Interesse sind. Die prototypische Struktur eines Lehrwerkes umfasst folgende Elemente: 1. Vorwort 2. Grammatik 3. Dialoge18 4. Wortlisten 5. Briefe19 Dabei sind nicht alle genannten Elemente obligatorisch und es finden sich Reduzierungen und Ergänzungen je nach Fokus und Adressatengruppe des Werkes. Ein lediglich aus Vorwort und Grammatik oder Vorwort und Wortlisten bestehendes Werk würde aber in erster Linie als (Fremdsprachen)Grammatik oder Wörterbuch und nicht als Fremdsprachenlehrwerk bezeichnet werden. Wie eingangs (vgl. Kap. 3) bereits erläutert wurde, werden hier lediglich Werke berücksichtigt, die neben weiteren fakultativen Elementen einen Dialogteil enthalten. Zusätzlich zu den oben genannten prototypischen Bestandteilen erweitern einige Autoren ihre Werke um spezifischere Kapitel. In Mosimmanuels (1622) 20  18 Zur Makrostruktur der Dialoge siehe Radtke (1994: 70ff). 19 Eine Auseinandersetzung mit dem Potential der Briefe in DaF-Lehrwerken findet sich bei McLelland (2021). 20 Um auf die Lehrwerke zu verweisen, werden Zitiersiglen bestehend aus Autor und Jahr verwendet. Die dazugehörigen Titel und Verlagsorte sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. Die vollständigen Quellenangaben finden sich in der BDaFL (Simon, Gennies & Hübner 2021). Die Seitenangaben der Digitalisate beziehen sich aufgrund uneinheitlicher oder teilweise fehlender Paginierung der Drucke auf die Nummerierung des jeweiligen pdf-Dokuments der BDaFL.

Potentiale  

Lehrwerk Novum dictionarivm trium linguarum finden sich zum Beispiel zusätzlich Gebete und christliche Regeln; der anonym veröffentlichte Tresor en trois langues (1679) beinhaltet eine Instruction morale, in der es um angemessenes Verhalten und Höflichkeit geht. Der Autor vermittelt hier anhand eines Lehrgespräches zwischen Vater und Sohn einige Tugenden wie beispielsweise Klugheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit (Anonym 1679: 453). Die Colloquia hingegen weisen für gewöhnlich eine andere Reihenfolge auf: Nach Vorwort, Dialogen und Wortlisten findet sich der (sehr kurze) Grammatikteil erst am Ende des Werkes. Es existieren jedoch auch einige Werke, die von dieser prototypischen Struktur abweichen. So bricht Erberg (1703) in seiner deutsch-italienischen Grammatic nach der Mode die Segmentierung von Grammatik und Dialog auf und lässt auf einen Grammatikteil jeweils einen Dialog folgen. In seinem Vorwort betont Erberg (1703: 1) die Modernität dieser Vorgehensweise. Denn durch die zunehmende Komplexität innerhalb des Werkes sei dieses auch für Anfänger geeignet. Er erklärt, dass jeder, „der eine Sprach anfaͤ ngt zu lernen/gleich ist einem kleinen Kind/ so Wort zu Wort gleichsam lernen muß“ (Erberg 1703: 7). McLelland (2004: 218) beschreibt ebenfalls eine Stufung innerhalb der Dialoge einiger Lehrwerke, um für die Lernenden den Fremdsprachenerwerb möglichst einfach zu gestalten. Das bedeute konkret, dass die Spezifik des Vokabulars zunehme, die Dialoge länger sowie die grammatischen Phänomene im Laufe des Werkes komplexer werden. Düwell (2001: 295) weist ebenfalls auf die Progression innerhalb der Lehrwerke hin, welche sich an das Lernniveau anpassen. Allerdings nennt er lediglich ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert. Obgleich die Beobachtung der zunehmenden Komplexität für das Lehrwerk von Erberg (1703) tendenziell zutreffend ist, kann diese Art der Didaktisierung für die Mehrheit der im Korpus befindlichen Werke nicht bestätigt werden. In Bezug auf das Layout der Werke beziehungsweise der Musterdialoge können drei unterschiedliche Typen identifiziert werden (vgl. Abb. 2). Die verschiedenen Sprachen sind in der Regel auch durch einen Wechsel von Fraktur und Antiqua gekennzeichnet. 1. Parallelspalten (Duez 1653: 738) 2. einspaltig mit alternierenden Redeteilen (Martin 1635: 183) 3. einspaltig mit einer Sprache pro Seite (Duez 1639: 105)

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

Abb. 2: Prototypische Layouts (Duez 1653, Martin 1635, Duez 139)

Die häufigste Form ist die Darstellung in Parallelspalten (z.B. Garnier 1659, Kramer 1688), wobei jede Sprache in einer eigenen Spalte aufgeführt wird. Eine Sonderform findet sich bei Martin (1660), der in seinem deutsch-französischen Lehrbuch die französische Spalte mit der wörtlichen Übersetzung des Deutschen glossiert. Auch Otliker (1687, 1695) verwendet für seine Dialoge Parallelspalten, fügt aber eine zusätzliche Spalte für eine Art phonologische Transkription als Aussprachehilfe des Französischen hinzu (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Aussprachehilfe des Französischen (Otliker 1695: 61)

In Jolis Newe und sehr nützliche Metode oder Lehr=Art (1671) werden ebenfalls Parallelspalten verwendet. Diese finden sich allerdings nicht nur im Dialogteil, sondern auch in der Grammatik: In einem Lehrdialog zwischen Sprachmeister und Schüler werden dem Lernenden auch die Grundlagen der französischen Grammatik erklärt. Neben der Darstellung in Parallelspalten lassen einige Autoren die Sätze oder Phrasen beider Sprachen in einem einspaltigen Fließtext alternieren, wobei die unterschiedlichen Sprachen durch verschiedene Schriftarten (Antiqua und Fraktur) gekennzeichnet sind (z.B. Martin 1635). Schließlich existiert noch die

Potentiale  

Möglichkeit der einspaltigen Darstellung, bei der jede Sprache auf einer eigenen Seite abgedruckt wird. Diese Vorgehensweise findet sich ausschließlich bei den zweisprachigen Werken (z.B. Duez 1639). Im Dialogteil ist das sprachliche Wissen auf semantischer und nicht auf grammatischer Ebene strukturiert. So behandelt ein Dialog in der Regel ein Oberthema wie Essen, Kleidung oder Reisen und liefert das dafür notwendige Vokabular sowie bestimmte Formulierungen und Kollokationen. Eine Strukturierung der Dialoge anhand grammatischer Aspekte kommt innerhalb der hier analysierten Daten nur äußerst selten vor.21 Diese hier aufgezeigte, typische Struktur der Lehrwerke bietet im Hinblick auf die Untersuchung der Norm besonderes Potential. Die unterschiedlichen Bestandteile der Lehrwerke ermöglichen nämlich die Untersuchung der Norm auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven. Da sowohl Metakommentare über Fremdsprachenerwerb, Sprachgebrauch im Allgemeinen und theoretische Abhandlungen zur Grammatik in den Lehrwerken enthalten sind, als auch der Gebrauch der Sprache in den Dialogen simuliert wird, können Aussagen über implizite und explizite Ebenen der Norm getroffen werden. Insbesondere diese Mehrebenenanalyse des Sprachwissens einer Person stellt für historische Quellen ein besonderes Faktum dar und wird sich im Rahmen dieser Arbeit als wertvoll erweisen. Aus diesem Grund bilden die Lehrwerke eine Schnittstelle zwischen Norm und Gebrauch. Auf der einen Seite befinden sich die gelehrten Grammatiker, die mit ihren Werken die deutsche Sprache aufwerten sowie die Sprachverwendung beeinflussen und normieren wollen. Auf der anderen Seite steht die frühneuzeitliche Gesellschaft, welche die Sprache(n) verwendet. Dazwischen befinden sich die Autoren der Lehrwerke, die das praktische Ziel verfolgen, die alltägliche Kommunikation zu veranschaulichen und gleichzeitig im Grammatikteil theoretisches Wissen über Sprache zu lehren. Verbunden werden diese beiden Bereiche durch den Vermittlungsaspekt, der den Lehrwerken inhärent ist. Ob und wie diese beiden Bereiche durch ein Normkonzept verbunden sind, wird sich im Laufe dieser Arbeit zeigen.

 21 So finden sich zum Beispiel in dem anonym veröffentlichten Colloquium von 1613 zu Beginn des ersten Dialogs zahlreiche kurze Frage-Antwort-Sequenzen. Der Lernende kann hier unter anderem unterschiedliche Formen von Fragen kennenlernen. Ob es sich dabei um eine intentionale Strukturierung seitens des Autors handelt oder um erwartbare Eigenschaften eines Musterdialogs, ist darüber hinaus fraglich. Stellenweise gibt es eine auffällige Häufung bestimmter grammatischer Phänomene wie zum Beispiel Superlative. Dabei handelt es sich jedoch nur um einzelne Passagen, die eher einer Wortliste gleichen (vgl. Anonym 1613: 100).

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke .. Lernziel und Adressatengruppe Die Ursprünge der Sprachlehrwerke sind in den Bereichen Handel und Reise zu verorten und somit sind auch die primären Lernziele vorwiegend praktischer Natur. Schon ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nahm die Bedeutung des Erwerbs moderner Fremdsprachen in Europa kontinuierlich zu, was sich auch im Selbstverständnis der Autoren zeigt. Erberg (1703: 4) weist in seinem italienischdeutschen Lehrwerk in einem der Dialoge auf die Vorteile von Fremdsprachenkenntnissen für Handelszwecke hin (1). Auch Martin (1660) strebt mit seinem Werk vermutlich ein ähnliches Lernziel an. Nicht nur im Titel (2), sondern auch im Vorwort eines früheren Werkes betont Martin (1627: 11, 22) den alltäglichen Nutzen des Französischen für Reisende in Frankreich. (1)

Der Herr thut gescheid. Was / mein Herr? Indeme er diese Sprache lernet. Ich war jederzeit willens sie zu lernen. Und es wird ihm auch zu grossen Nutzen ausschlagē. Also will ichs glauben Warum lernet sie der Herr? Um mir mehr in der Kauffmannschaft zu helffen.

(2)

(Erberg 1703: 4)

New Parlement / Oder Hundert Kurzweilige / doch nutzliche / Gespraͤ ch / Frantzösisch und Teutsch / in welchen vnter der Tittuln von allerley StandsPersonen und Handwerckern die jenige Wort/Reden/ vnd Discurs vorgebracht werden / so man im taͤ glichen Handel vnd Wandel zugebrauchen pfleget (Martin 1660: 10)

Neben dem Hinweis auf den Erwerb der alltäglichen Kommunikation reiht sich Martin mit diesem Titel auch in die Tradition der Colloquia. So verweist der Titel New Parlement indirekt auf den Namen des ursprünglichen Autors der ersten Colloquia Noël de Berlaimont. Insbesondere in den Anfängen war der Erwerb der modernen Fremdsprachen im Gegensatz zum Lateinischen weder institutionalisiert noch methodisch gefestigt (vgl. Hüllen 2000: 178f). Die in diesem Zeitraum entstehenden Lehrwerke waren praxisorientiert und auf die Anforderungen und Bedürfnisse der Lernenden

Potentiale  

ausgerichtet. Das Ziel bestand in erster Linie darin, die alltägliche mündliche Kommunikation in der Fremdsprache zu beherrschen beziehungsweise über die dafür notwendigen Grundkompetenzen zu verfügen (vgl. Simon 1996: 268, McLelland 2004: 220, Simon 2006: 11). Ein weiteres Anliegen war zudem die Vermittlung kulturellen Wissens wie Benimmregeln oder Stereotype über andere Länder (vgl. Linke 2021). Als konkreteres Lernziel wird im Vorwort oder sogar im Titel des Werkes von vielen Autoren vor allem der ‚aktuelle Sprachgebrauch‘ als Richtlinie genannt (z.B. Anonym 1667, Duez 1683 & 1699, Pepliers 1689). Was genau die Autoren unter ‚aktuellem Sprachgebrauch‘ verstehen und ob es sich dabei um eine zutreffende Beschreibung oder viel eher um ein reines Verkaufsargument handelt, wird im Laufe dieser Arbeit näher erläutert (vgl. Kap. 5). Neben diesen durch die Dialoge vermittelten Inhalten sollte in Abhängigkeit des Fokus des Lehrwerkes auch mehr (3) oder weniger (4) fundiertes grammatisches Wissen vermittelt werden.22 (3)

[…] on y a ioint une Grammaire exacte & Reguliere auec un petit Vocabulaire des mots les plus beaux les plus choisis, & les plus en usage qui soient. (Anonym 1667: 11)

(4)

En un mot ces sortes de Maîtres peuvent être bons pour degrossir & pour les premiers rumens; mais pour la perfection de la langue, on ne la peut acquerir que dans la conversation d‘un habile homme. (Anonym 1679: 38)

Dieses grammatische Wissen ist hinsichtlich der Strukturierung und Kategorisierung am Vorbild der grammatikographischen Tradition des Lateinischen orientiert und dadurch wortartenbasiert (vgl. Miehling 2002: 53). Allerdings verzichten die Autoren der Sprachlehrwerke in vielen Fällen auf eine vollständige Darstellung der grammatischen Strukturen und bilden lediglich reduzierte Flexionsparadigmen ab. In Bezug auf das Denken über (Fremd)Sprachen kann in Deutschland (und teilweise in ganz Europa) insbesondere ab dem 17. Jahrhundert eine deutliche Zunahme des Nützlichkeitsdenkens beobachtet werden (vgl. Haßler & Neis 2009: 1056, Kuhfuß 2013: 172). Hinweise auf dieses Nützlichkeitsdenken finden sich auch in vielen Titeln sowie Vorworten der Lehrwerke. Es geht nicht mehr oder nur noch am Rande um ideelle Werte oder den ästhetischen Wert von Sprachen, sondern in erster Linie um lebensweltliche Vorteile beim Erwerb moderner

 22 Die Elaboriertheit der Grammatiken sowie die konkrete Zusammensetzung wird anhand des zusammengestellten Korpus (vgl. Kap. 3.3) näher erläutert.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Fremdsprachen (vgl. u.a. Anonym 1613: 14, Kramer 1679: 9, Otliker 1695: 2). Auch Volckmar (1639) betont im Vorwort seines deutsch-polnischen Lehrwerkes die Nützlichkeit des Fremdsprachenerwerbs (5): (5) WIe sehr noͤ htig und nuͤ tzlich die Deutsche und Polnische Sprach sey/ beyde Kauffleuten und Handwerckern / Mann und Weibs-Personen/ grossen vn̄ kleinen/sonderloch an diesen oͤ rtern/da beyde Nationen gleichsam durch einander gemengt seyn/ und stets mit einander zu thun haben/ (Volckmar 1639: 8)

Während sich das Lernziel der Werke zuverlässig bestimmen lässt, gestaltet sich die Identifikation der konkreten Adressatengruppe einzelner Werke als beschwerlicher und teilweise uneindeutiger. Düwell (2001: 287) beschäftigt sich mit der Adressatenspezifik von Sprachlehrwerken des 17. und 18. Jahrhunderts und zeigt, dass sich diese in Bezug auf ihren Inhalt und ihre Methoden nach Adressatengruppen wie Geschlecht, sozialem Status, Lernniveau sowie Bildungsinstitution differenzieren lassen. Die Auseinandersetzung mit den Adressaten fokussiert jedoch das 18. Jahrhundert, erfolgt nur exemplarisch und kann für die hier zugrundeliegenden Lehrwerke zunächst nicht pauschal bestätigt werden. Folgt man den Aussagen der Lehrwerksautoren, sind die meisten Werke für diverse Adressatenkreise wie Kaufleute, am Hof Lebende, in den Krieg Ziehende, Reisende und Dolmetscher geeignet (vgl. Anonym 1692: 16). Duez benennt in seinem Guidon die Adressaten ebenfalls sehr unspezifisch mit „[a]n alle Liebhaber der Frantzoͤ sischen Sprach“ (Duez 1699: 7). Diese sehr allgemeine Formulierung von Adressatengruppen lässt sich in sehr vielen Lehrwerken identifizieren. Auch im Inhalt und im Aufbau der Werke finden sich keine expliziten Aussagen der Autoren, welche die Annahme spezifischerer Zielgruppen bestärken würden. Zuschreibungen zu speziellen Adressatengruppen wie Frauen oder Kinder fungieren vermutlich nur als verkaufsfördernde Argumente des Autors und sind daher nicht ohne Weiteres vertrauenswürdig beziehungsweise bedürfen jeweils einer Einzelfallprüfung. Allerdings können die gewählten Themen in den Musterdialogen implizite Hinweise auf bestimmte Gruppen geben. So kann für viele Werke eine vorwiegend ökonomisch privilegierte Adressatengruppe angenommen werden (vgl. Kap. 3, 3). Ähnlich argumentiert auch Linke (2021): Sie identifiziert mit dem kaufmännisch-bürgerlichen Milieu und dem (nicht höfischen) Adel zwei große Adressatengruppen der Lehrwerke, weist aber auch darauf hin, dass zahlreiche Werke keiner spezifischen Gruppe zugeordnet werden können beziehungsweise eine Zuordnung durch die Autoren auch gar nicht unbedingt intendiert war.

Potentiale  

Es existieren jedoch Ausnahmen, in denen aufgrund des Inhalts von einem speziellen Adressatenkreis auszugehen ist – so zum Beispiel auch in dem Lehrwerk des Franzosen Daniel Martin, der sein Werk speziell an Soldaten richtet. Das lässt sich sowohl in den Überschriften als auch in den Inhalten der Musterdialoge erkennen. Neben alltagspraktischen Inhalten wie Gesprächen mit einem Krämer oder einer Wäscherin werden auch Themen wie Krieg, Belagerung und Waffen vermittelt (vgl. Martin 1635: 6). Nicht nur mithilfe der Vorworte, sondern auch anhand der Dialogthemen lässt sich auf den praktischen und alltäglichen Einsatz der zu erwerbenden Fremdsprachenkenntnisse schließen. Insgesamt beinhaltet die Datenbank 2001 Dialoge, die acht unterschiedlichen Themengebieten zugeordnet werden können (vgl. Abb. 4). Der überwiegende Teil der Dialoge (36%) umfasst Alltagsgespräche. Dabei handelt es sich um alltägliche, lebenspraktische Inhalte wie ‚Aufstehen‘ oder ‚Kleidung‘ und die dabei ablaufenden Gespräche zwischen dem Herrn und seinen Bediensteten oder zwischen Freunden und Bekannten. In den Dialogen mit dem Thema Reisen wird unter anderem simuliert, wie man nach dem Weg fragt oder wie man sich nach einer freien Unterkunft erkundigt. Das Themengebiet Einkaufen beinhaltet Dialoge in typischen Handelssituationen mit beispielsweise einem Schuster oder einem Schneider. Darüber hinaus existieren einige Dialoge, die auf eine spezielle Adressatengruppe hindeuten. Die mit dem Thema Adel bezeichneten Dialoge umfassen unterschiedliche Inhalte, die aufgrund der Überschriften wie zum Beispiel Zwischen zweyen Englischen von Adel (Kramer 1699: 152) oder aufgrund des Themas Wie man einen Falken hält (Duez 1643: 269) auf einen adeligen Adressatenkreis schließen lassen.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

Abb. 4: Themengebiete der Dialoge (N = 2001)

Für die Analyse der frühneuzeitlichen Methoden des Fremdsprachenlehrens sowie des Sprachbewusstseins sind vor allem die Dialoge zum Thema Lernen von Bedeutung. Dabei handelt es sich in der Regel um einen Dialog zwischen einem Lernenden und einem Sprachmeister, in dem der Sprachmeister Fragen zum erfolgreichen Fremdsprachenerwerb beantwortet. Es kann davon ausgegangen werden, dass hier die persönliche Meinung des Autors zugrunde liegt, die jedoch auf seinen praktischen Erfahrungen beruht. In diesen Kontext ist auch die Eigenwerbung einzuordnen, die sich in vielen Werken findet. Die Autoren weisen direkt oder indirekt darauf hin, dass der Fremdsprachenerwerb am besten mithilfe eines Sprachmeisters erfolgen sollte (vgl. Klatovsky 1567: 81, Anonym 1693: 173). Sumaran (1620) signalisiert sogar, dass die Hilfe eines Sprachmeisters unabdingbar sei (6). (6) WElcher dise Sprach will lernen/ ist von noͤ then/ daß er ein guten Meister habe/ der jhne solche wol lern lesen vnnd außsprechen/ sambt den Regeln die man hie in dises Buech setzen wirdt (Sumaran 1620: 38)

Es lässt sich festhalten, dass sich die Themen der Dialoge oftmals sehr ähneln und innerhalb der Autorenschaft ein kollektives Metawissen zu existieren

Potentiale  

scheint, wie ein ‚gutes‘ Sprachlehrwerk auszusehen hat und welche Inhalte in den Dialogen vermittelt werden sollen.23 Obgleich sich nicht für alle Lehrwerke eine konkrete Adressatengruppe bestimmen lässt, unterscheiden sich die Adressaten sowie die Intention der Autoren eindeutig von denen der gelehrten Grammatiken. So richten sich die Lehrwerke an Nicht-Muttersprachler (das ist bei den gelehrten Grammatiken nur teilweise der Fall) und erheben keine oder nur marginale wissenstheoretische Geltungsansprüche (vgl. Kap. 3). Damit eröffnen sie eine völlig neue Perspektive auf die Frage nach Norm und Variation. McLelland (2014: 269) beobachtet in diesem Zusammenhang, dass einige der Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache mitunter sprachliche Phänomene kodifizieren, schon bevor diese durch die gelehrten Grammatiker kodifiziert werden. Als möglichen Grund nennt sie die Notwendigkeit, Lernenden Aspekte der Grammatik explizit zu vermitteln, die für Muttersprachler:innen offensichtlich und somit nicht erklärenswert sind. Denn während explizite (grammatische) Normen für Muttersprachler:innen in der Regel nicht relevant sind, sind sie aus heutiger Perspektive für die Mehrheit der Lernenden von Fremdsprachen allgegenwärtig und essentiell (vgl. Börner & Vogel 2000: XII). Inwieweit diese Beobachtung auch für den Fremdsprachenerwerb der Frühen Neuzeit gültig ist, ist allerdings noch zu diskutieren. Die gelehrten Grammatiker hingegen verfassen einsprachige Werke für Muttersprachler:innen sowie teilweise auch für ausländische Lernende und haben es zum Ziel, Normen zu fixieren, auszubauen und zu autorisieren. Darüber hinaus verfolgen sie jedoch auch das Ziel der Sprachpflege (vgl. Takada 1998, Hundt 2000). Die Absicht der Sprachlehrwerksautoren war hingegen primär die Vermittlung grundlegender Kommunikationskenntnisse mit engem Praxisbezug. Das Lernziel der alltäglichen Kommunikation dieser spezifischen Adressatengruppe ermöglicht somit die Analyse einer vorwiegend gebrauchsorientierten Perspektive der Norm.

 23 Eine weitere Erklärung könnte jedoch auch die in der Frühen Neuzeit weit verbreitete Praxis des Kopierens und Kompilierens sein. Allerdings erscheint es unwahrscheinlich, dass ein Autor Inhalte, die er persönlich für unangemessen oder nicht zielführend hält, von anderen Autoren in sein Werk übernimmt. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Authentizität der Lehrwerke und der Praxis des Kompilierens erfolgt im quellenkritischen Kapitel (vgl. Kap. 3.2).

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke .. Methoden Neben dem Umgang mit konkreten sprachlichen Phänomenen und der Sicht der Lehrwerksautoren auf diese Phänomene ist auch die generelle Normorientierung des Fremdsprachenerwerbs sowie des Unterrichtens von Bedeutung. Es wird daher gefragt, wie und mit welchen Methoden Sprache in den Lehrwerken unterrichtet wird und welche Prämissen zugrunde liegen. In den Lehrwerken lassen sich unterschiedliche Ansätze des Fremdsprachenunterrichts identifizieren. Viele Autoren orientieren sich hinsichtlich der Gestaltung des volkssprachlichen Unterrichts an der humanistischen Tradition und dem Vorbild des Lateinunterrichts (vgl. Daiber 1997: 83, Hüllen 2002: 216, Miehling 2002: 53, Kuhfuß 2013: 68f). Hier ist neben dem Erlernen einer Fremdsprache durch Übersetzen24 vor allem das Lernen und Beherrschen der grammatischen Regeln von Bedeutung (7). (7) […] und wird ein Schüler / nachdem er die erste noͤ thige Fundamenta des Lesens / Conjugirund Declinirens/ und die Stellung der Worte ein wenig ergriffen / vermittels der fleissigen Lesung / Auslegung/Ubersetzung/Nachfolgung und Außuͤ bung dieser anmuthigen Gespraͤ chlein / gleichsam spielend zunehmen (Kramer 1699: 7)

Es lassen sich bei den Autoren zwei Herangehensweisen identifizieren, wie der Erwerb einer Fremdsprache bestenfalls erfolgen sollte: Während sich einige Lehrwerke in ihrem Aufbau an dem klassischen lateinischen Grammatikmodell orientieren, nach welchem zunächst alle Regeln auswendig gelernt und anschließend auch wichtige Phrasen und Sätze übersetzt und gelernt werden müssen, setzen sich andere Autoren von dieser Vorgehensweise ab und gehen gebrauchsorientierter vor. Bei diesen Autoren besteht die Überzeugung, dass eine Fremdsprache möglichst von Beginn an verwendet werden soll, da Regeln das Gedächtnis und damit den Lernprozess hemmen würden. Die zweite Gruppe kann aus heutiger Sicht in Bezug auf ihr methodisches Vorgehen als deutlich progressiver beschrieben werden. Daraus ergeben sich die zwei Topoi Regel und Gebrauch, die im Folgenden näher erläutert und mit Beispielen belegt werden. Diese Einteilung ist selbstverständlich prototypischer Natur, denn gemeinhin finden sich in vielen Werken sowohl regel- als auch gebrauchsorientierte Ansätze und die Autoren legen den Fokus nur mehr oder weniger stark auf einen der beiden Aspekte.

 24 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Rolle des Übersetzens in den Fremdsprachenlehrwerken liefert Filatkina (2021).

Potentiale  

Obgleich die Grammatiker den Sprachgebrauch und das Sprechen für den Erwerb einer Fremdsprache für unabdingbar halten, bilden dennoch die Regeln für die meisten Autoren die Voraussetzung für den erfolgreichen Sprachgebrauch. So betonen sowohl Sumaran (1620: 38) als auch fast hundert Jahre später Kramer (1708: 12) in ihren Vorworten die Bedeutung des Lernens von Regeln. Und auch für Duez (1639, 1643) bildet der Erwerb des grammatischen Wissens den Ausgangspunkt für den erfolgreichen Fremdsprachenerwerb (8). (8) zu dem ersten anfang [des Sprachenlernens, JH]/ ein gewißes Fundament derselben zu legen / vnd mit den geringen vndt schlechten sachen ahnzufangen: sintemahl nie auff boͤ sem vnt vnbestaͤ ndigem grundt wohl vnd nuͤ tzlich gebawet wirdt. Dann es werden viel gefunden / die entweders nicht moͤ gen/oder aver ihnen für eine schandt halten / anfaͤ nglich eine Grammatic in die handt zu nehmen; welches ihnen hernacher rew vndt schaden zu bringen pflegt (Duez 1643: 14f)

Während bei den Autoren weitgehend Einigkeit besteht, dass die Aussprache und bestimmte Aspekte der Wortbildung (Konjugation, Deklination) für den Fremdsprachenerwerb relevant sind, wird von vielen Autoren die Syntax25 als weniger notwendig oder sogar als schädlich erachtet (vgl. u.a. Anonym 1667: 13). Der anonyme Autor des 1697 erschienenen Lehrwerks weist in seinem Vorwort darauf hin, dass er die Syntax durch Übung anstatt durch das Lernen von Regeln vermitteln will (9). (9) […] ist vor unnoͤ htig erachtet worden / eine lange und beschwerliche Syntaxin (Wortfuͤ gung) darzu zu setzen/ welche selten grossen Nutzen bringet ; weilen die zierliche Wortstellung vielmehr durch die Übung und Lesung guter Autoren als durch so vielfältige Regeln/ (Lehr-saͤ tze) und Anmerckungen / welche der Gedaͤ chtnuß eine Last sind / und dem Gemuͤ ht wenig Lust machen / erlehrnt wird. (Anonym 1679: 11)

Klatovsky (1603: 48) hingegen macht in seinem deutsch-tschechischen Lehrwerk neben dem Unterricht durch einen guten Sprachmeister die Rolle des Gebrauchs für den erfolgreichen Fremdsprachenerwerb stark (10). Ähnlich äußert sich auch Canel (1689) in seinem Vorwort hinsichtlich des Gebrauchstopos und kritisiert andere Lehrwerksautoren und Sprachmeister, die zu spät mit der Sprachpraxis beginnen (11).

 25 Hier geht es streng genommen nicht um die Syntaxlehre als Teilgebiet der Grammatik, sondern um das einfache Zusammenfügen von Wörtern zu Sätzen.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke (10) die vbung ein gutter Meister/vnd das offt reden/wird dichs wol vnterweisen (Klatovsky 1603: 48) (11) […] qui retienent ainsi sans raison leurs disciples avant que de les metre à l'exercice; etant certain que ces choses d'aprenent assez par l'usage, au quel il en faut venir le plus tot qu'il est possible (Canel 1689: 8)

Auch Martin (1660: 10) und Pepliers (1699) ermutigen Lernende im Rahmen des Dialogs zum frühen Verwenden der Fremdsprache und weisen sogar darauf hin, dass insbesondere zu Beginn Fehler gemacht werden dürfen (12). (12) Wisset ihr nicht/ daß wenn man wol wil reden lernen/man anfangen muͤ sse uͤ bel zu reden? (Pepliers 1699: 526)

Während die modernen Fremdsprachen zunächst als unbedeutend eingestuft wurden, systematisiert und professionalisiert sich das Lehren und Lernen im Laufe der Zeit. Das lässt sich seit dem 15. Jahrhundert anhand der Entwicklung in Bezug auf die (didaktische) Konzeption der Lehrwerke feststellen (vgl. Klatte 2002, Rossebastiano 2002). Denn sowohl das Layout als auch die vermittelten Inhalte zeugen von der zunehmenden Praxisorientierung der Werke. Die frühen Werke weisen entweder keinen Grammatikteil auf oder aber die Grammatik wird wenig rezipientenfreundlich im Fließtext und ohne Paradigmen vermittelt. Zur Veranschaulichung werden vorwiegend viele einzelne Beispiele ohne Abstraktion und dazugehörige Regeln genannt (vgl. u.a. Heyden 1535, Anonym 1613). Das gilt insbesondere für die Werkreihe der Colloquia, die einen großen Anteil der frühen Werke darstellen. Allerdings lässt sich auch im Laufe des 17. Jahrhunderts in den Colloquia keine Veränderung in Bezug auf die Wissensvermittlung in den Dialogen und Grammatikteilen feststellen. Das mag unter anderem der hohen Anzahl an vermittelten Sprachen und dem damit nur begrenzt zur Verfügung stehenden Platz pro Sprache geschuldet sein. Freilich würde aber eine Abstraktionsleistung des Autors im Rahmen der Grammatikvermittlung in Form von Regeln den Grammatikteil deutlich übersichtlicher machen. Im Gegensatz zu den Colloquia lässt sich bei den übrigen Werken ab der Mitte des 17. Jahrhunderts eine gewisse didaktische Progression beobachten: Es werden zunehmend Paradigmen verwendet und Ratschläge zum ‚effektiven‘ Sprachenlernen erteilt (vgl. u.a Duez 1646, Buisson 1686). Die konkrete Umsetzung sowie die Aufbereitung des sprachlichen Wissens ist zusätzlich vor allem von den einzelnen Autoren, der Werkreihe und auch von dem innerhalb des Werkes zur Verfügung stehenden Platz abhängig.

Potentiale  

Insbesondere bei Duez26 ist im Laufe der Zeit eine Entwicklung in Bezug auf die Darstellungspraxis zu festzustellen. Während Duez die Verben in seinen frühen Werken (1639, 1643) in einer Art Fließtext erläutert (Abb. 5), wählt er in seinen späteren Werken (1690, 1699) für die Erklärung der Konjugation übersichtlichere Paradigmen, die alle Formen abbilden und in Parallelspalten angeordnet sind (Abb. 6).

Abb. 5: Darstellung der Verben im Fließtext bei Duez (1643: 62)

Abb. 6: Darstellung der Verben in Form von Paradigmen bei Duez (1690: 78)

Durch das Anerkennen von Zeit als kostbarer Ressource entwickelt sich zudem ein Bewusstsein, dass eine Fremdsprache möglichst einfach und effektiv erworben werden soll (vgl. Filatkina 2015: 90f). Das bestätigt sich auch in den analysierten Lehrwerken. Canel (1689: 6) weist darauf hin, dass er seine Grammatik so einfach und so kurz verfasst habe, wie es nur möglich sei:

 26 Ob der Autor aller hier genannten Werke wirklich Duez ist, muss insbesondere aufgrund der immensen Zeitspanne eingehend geprüft werden. Von Bedeutung ist aber in erster Linie die Modifizierung der Darstellung sprachlichen Wissens ungeachtet des tatsächlichen Autors.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke (13) Mais come on peut aussi dire avec verité que la plus part de celes qui ont été mises aujour jusqu’icy sont defectueuses ou dans la matière, ou dans l’ordre que l’on doit tenir pour enseigner une langue, on ne trouvera pas étranger que pour satisfaire aux voeux de tant d’honetes gens qui soupirent depuis si long tems après quelque chose de melieur, je me sois laisse vaincre à toutes ces raisons pour en doner une au public, qui ne fut pas sujete au méme reproche […] ayant suplée au defaut des uns par l’abondance des autres, Et reduit le tout dans l’ordre le plus facile, le plus court, & le plus metodique, qu’il m’a eté possible. (Canel 1689: 5f)

Duez (1639: 3) betont, dass man die Lernenden nicht mit „verwirrungen beladen“ soll, indem man zu viele Regeln anführt. Auch in den Titeln einiger Lehrwerke findet sich der Hinweis auf die Simplifizierung des Lernens wie beispielsweise in Deschamps (1690) Nouvelle Grammaire ou Méthode pour apprendre facilement et en peu de temps la Langue allemande oder in Kramers (1696a) La Vraie Methode pour enseigner tres-facilement, & en peu de tems La Langue Françoise aux Alemands. Die Autoren scheinen folglich ihre Werke auch nach ihren Vorannahmen über den Erwerb von Fremdsprachen und dem kollektiven Wissen über das Unterrichten auszurichten, was möglicherweise auch Einfluss auf das Normkonzept und den Umgang mit dem sprachlichen Material genommen haben kann. Aus heutiger Perspektive ist dabei insbesondere das Eingestehen von Fehlern seitens der Lernenden als progressiv zu beurteilen. Vor diesem Hintergrund kann bereits eine potentielle Teilnorm innerhalb der Lehrwerke angenommen werden, die als ‚Erwerbsnorm‘ bezeichnet werden soll. Dabei handelt es sich um eine durch Fehler geprägte Zwischenstufe auf dem Weg zum erfolgreichen Fremdsprachenerwerb.

.. Autoren Wenn im Folgenden die Norm innerhalb der Fremdsprachenlehrwerke im Fokus steht, dann spielen insbesondere die Autoren dieser Werke sowie ihre Geltungsansprüche und Legitimationsstrategien eine wichtige Rolle. Der Beruf des Sprachmeisters war in der Frühen Neuzeit wenig angesehen und kann durchaus als prekär bezeichnet werden. Es existierten weder eine geregelte Ausbildung noch andere festgeschriebene Voraussetzungen für das Ausüben der Tätigkeit (vgl. Häberlein 2015: 10). Radtke (1994: 53) charakterisiert die Autoren als heterogene Gruppe mit Unterschieden hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft, ihrer Ausbildung sowie ihrer Reputation. Das bestätigt auch die bisherige Forschung zu einzelnen Autoren und ihren Werken. Für das Deutsche wurden insbesondere der Nürnberger Matthias Kramer, seine Tätigkeit als Sprachmeister und seine

Potentiale  

Lehrmethoden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und sein Einfluss auf die niederländische, deutsche sowie französische Sprache eingehend dargelegt (vgl. Bray 2000, Völker 2001, Häberlein & Glück 2019, Hüning 2019, 2021). Für diese Untersuchung sind primär die Wirkung und das Selbstverständnis der Autoren relevant. Selbst wenn die Autoren nicht explizit normieren wollen und sich nicht als Normkodifizierer verstehen, agieren sie durch das Verfertigen des Lehrwerkes als sprachlicher Orientierungspunkt oder sogar als Vorbilder. Dabei können sie sich in einem gewissen Entscheidungsspielraum bewegen, indem sie im Falle von Variation für eine der möglichen Varianten plädieren und dadurch automatisch eine Wertung vornehmen oder aber beide Varianten als gleichwertig betrachten (vgl. Kap. 4). Weiterführende Aussagen über die konkrete Wirkung der Autoren auf den Sprachgebrauch der Lernenden können anhand des vorliegenden Materials kaum getroffen werden, da wenig oder gar nichts über die Rezeption der Lehrwerke bekannt ist. Dass die Werke immer wieder neu aufgelegt wurden, spricht hingegen für ihren Erfolg. Es lassen sich jedoch Schlussfolgerungen hinsichtlich der Rolle der Autoren im Rahmen des Normierungsdiskurses ziehen, indem die Rezeption und Interaktion der Autoren untereinander anhand der Vorworte nachgezeichnet werden (vgl. Kap.3.3). Darüber hinaus ist es kaum möglich, ein allgemeingültiges Urteil über die Autoren in Bezug auf ihre Professionalität oder ihre Gelehrsamkeit zu fällen, da sie in ihrem Wissen und ihrem Bildungsgrad teilweise stark divergieren. In jedem Fall verfügen sie über mehr Sprach- und vor allem Grammatikkenntnisse als durchschnittliche Sprachbenutzer:innen der Frühen Neuzeit. Sie können allesamt lesen und schreiben und viele von ihnen beherrschen mehrere Fremdsprachen oder sind bilingual. Wählt man als Vergleichspunkt jedoch die gelehrten Grammatiker, sind viele Lehrwerksautoren eher als Semiprofessionelle denn als Gelehrte zu bezeichnen. Das gilt insbesondere für viele der anonymen Autoren wie beispielsweise die Verfasser der Colloquia. Diese Werke enthalten nicht nur eine teilweise fehlerhafte Sprache und lediglich eine rudimentäre Grammatik, sondern sie weisen auch unabhängig vom Autor viele Druck- oder Setzfehler auf. Ferner bleibt fraglich, ob für das 16. und 17. Jahrhundert überhaupt eindeutig zwischen laienhafter und professioneller Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Sprache differenziert werden kann. Nichtsdestotrotz bestehen Unterschiede hinsichtlich der Art und Weise, wie Sprache und Sprachverwendung konzeptualisiert und auch diskursiviert wurden. Eine entscheidende Frage in diesem Zusammenhang betrifft insbesondere die Geltungsansprüche und die damit verbundene Legitimation der Autoren. Um dieser Frage nachzugehen, soll zunächst eine Darstellung der Position der gelehrten Grammatiker erfolgen, die anschließend als Referenzpunkt dient.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Denn obwohl die gelehrten Grammatiker der Frühen Neuzeit bereits per se Autorität beanspruchen können, referieren sie auf unterschiedliche Legitimationsinstanzen27, um ihren Aussagen Wirkung zu verleihen. Für das 16. und 17. Jahrhundert können vor allem die Luthersprache, das Meißnische Deutsch sowie bestimmte Kanzleisprachen als sprachliche Vorbilder identifiziert werden (vgl. Josten 1976: 216, König, Elspaß & Möller 2015: 95, 101). Während jedoch im 16. Jahrhundert vorwiegend einzelne Sprachformen bestimmter Regionen als vorbildlich bezeichnet werden, geht dieser sprachlandschaftliche Fokus im 17. Jahrhundert zugunsten einzelner Autoren bereits etwas zurück (vgl. König, Elspaß & Möller 2015: 101). Zusätzlich zum Vorbildcharakter von Sprachlandschaften und von bestimmten Autoren oder Institutionen dienen im 17. Jahrhundert auch sprachinterne Argumente zur Legitimation (vgl. Josten 1976: 131ff, Takada 1998: 20). Obgleich sich die Autoren der Lehrwerke hinsichtlich der Grammatikteile mehr oder weniger an der Struktur und den Inhalten der gelehrten Grammatiker orientiert haben, wird die Kenntnis dieser Werke meist nicht explizit als Legitimation für die eigene Arbeit verwendet. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die gelehrten Grammatiken wie bei Martin (1663) und Buisson (1697) findet sich nur äußerst selten. So rechtfertigt Martin (1663: 93, 96) einige Formen mit „selon Clajus“ und Buisson (1697: 10) legitimiert sein Werk unter anderem mithilfe der Referenz auf Vaugelas, Port Royale und Balzac als sprachliche Vorbilder. Auch die explizite Nennung bestimmter sprachlandschaftlicher Ankerpunkte oder Vorbilder wie Kramers (1688: 12) Verweis auf das Toskanische als das beste Italienisch ist eher eine Ausnahme (vgl. Kap. 4.2.1). Eine weitere Legitimationsstrategie der Lehrwerksautoren ist eine Kritik oder sogar die Stigmatisierung der Konkurrenz. Am häufigsten wird dabei an Duez und seinen Werken Kritik ausgeübt. Buisson (1697: 9) warnt ausdrücklich vor Duez: „die Rein=und Nettigkeit der Frantzoͤ sischen Sprache belieben/ sich huͤ ten sollen vor Guidon; oder der Grammatic des Duez, welches Buch nirgends zu nuͤ tzet/ als den Dienern zu geben/“. Sein Urteil begründet er damit, dass die Schreibart und der Stil Duez‘ von dem der „guten Autoribus“ abweicht (Buisson 1697: 10). Kramer (1699: 9) kritisiert die „Haupt=Maͤ ngel“ seiner Konkurrenz und in diesem Zusammenhang auch, dass Duez den Anfängern „allzu zierlich- und hoch stylisirt, it. allzu lang ja zu Zeiten aus 12. oder mehr Zeilen bestehende Discursen“ vorgibt. Doch Kramer tadelt nicht nur Duez, sondern auch die „Parlement,  27 Für eine umfassende Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Legitimationsprinzipien siehe u.a. Josten (1976) und Takada (1998).

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Sprachbuͤ chlein“, die seiner Meinung nach „der wol erzogenen Jugend theils aͤ rgerliche ; theils abgeschmackte / und darzu noch alt-stylisirte Lappalien“ vermitteln (Kramer 1699: 9). Canel (1689: 6) wiederum übt Kritik an Pepliers. Dabei bemängelt er nicht nur dessen Publikationspraxis und wirft ihm vor, Teile seines Werkes bei Buisson abgeschrieben zu haben, sondern auch „son extreme ignorance en notre langue, que l‘on peut assez remarquer dans le rapsodis qu’il a fait de cet ouvrage […] qu’il a telement de figurées, qu’elles font honte a notre langue“. Es lassen sich mithin deutliche Unterschiede der Geltungsansprüche und Legitimationsstrategien im Vergleich zu den professionellen Grammatiken feststellen. Sprachlehrwerksautoren beziehen ihre Legitimation in erster Linie durch ihre praktische Erfahrung als Sprachmeister: Sie nennen als Rechtfertigung ihren Erfolg als Sprachlehrer sowie die hohen Verkaufs- und Auflagezahlen ihrer bisherigen Werke (vgl. u.a. Sumaran 1626: 13, Anchinoander 1675: 16, Anonym 1693: 4). Auch Volckmar erklärt, dass er schon viele Kinder erfolgreich unterrichtet hat (14): (14) Dieweil mir aber biß anhero etliche gute Leute ihre Kinder/beyde Knaben und Mägdlein/dieselbe in der Polnischen Sprache zu vnterweisen/ ver-trwawet (Volckmar 1639: 8)

Die Sprachlehrwerksautoren nennen darüber hinaus ihre Kompetenz in der Fremdsprache als weitere Legitimation. Otliker (1687a: 9) beteuert in seinem Vorwort seine „Wissenschaft in der Frantzoͤ sischen Sprach“, die ihm von Gott verliehen worden ist. Diese fremdsprachliche Kompetenz kann zwar auch als eine Art von Gelehrsamkeit verstanden werden, allerdings unterscheidet sich diese deutlich von der klassischen Gelehrsamkeit der Grammatiker. Ein Blick in die Lebensläufe der Autoren verrät, dass ihre Qualifikationen deutlich vielfältiger waren. Unter ihnen befanden sich neben gelehrten und semi-gelehrten Sprachmeistern auch ausschließlich praxisorientierte Autoren, die ihr sprachliches Wissen durch den Aufenthalt in den jeweiligen Ländern erworben haben (vgl. Schöttle 2015: 96). Es existieren folglich unterschiedliche Geltungsansprüche und Legitimationsstrategien: Während die gelehrten Grammatiker vornehmlich mithilfe ihres humanistischen Bildungshintergrunds argumentieren und dadurch auch einen wissenstheoretischen Geltungsanspruch postulieren, steht bei den Autoren der Lehrwerke insbesondere der praktische Nutzen im Vordergrund. Nichtsdestotrotz können die Lehrwerksautoren aufgrund ihrer Autoren- und Sprachmeistertätigkeit als eine Art Normautorität bezeichnet werden. Ein weiterer beachtenswerter Aspekt im Zusammenhang mit der Norm ist zudem die

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Perspektiverweiterung durch die Mehrsprachigkeit; diese ist nicht nur durch die Adressaten gegeben, die eine Fremdsprache erwerben wollen, sondern vor allem durch die oftmals mehrsprachige oder sogar bilinguale Autorenschaft. Es stellt sich in diesem Zusammenhang vor allem die Frage, ob das Beherrschen von Fremdsprachen mit möglicherweise unterschiedlichen Normkonzepten Einfluss auf die Normvorstellungen der Muttersprache nimmt: Werden Normkonzepte aus der Fremdsprache in die Muttersprache übertragen? Führt die Mehrsprachigkeit zu einer höheren Variantentoleranz?

. Quellenkritische Auseinandersetzung Das vorangegangene Kapitel hat verdeutlicht, dass die frühneuzeitlichen Fremdsprachenlehrwerke großes Potential bieten, welches in diesem Fall insbesondere in der Eröffnung einer neuen Perspektive für die Untersuchung der sprachlichen Normen besteht. Zugleich ist die Arbeit mit den Lehrwerken (bedingt durch ihre Entstehung sowie ihre Gebrauchskontexte) jedoch auch voraussetzungsreich und eröffnet einige methodische Herausforderungen. Im Rahmen der Fragestellung nach Norm und Variation sind dabei vorrangig die generelle Authentizität der Werke vor allem im Hinblick auf die Metadaten und den Sprachgebrauch sowie die Bewertung der Alltagssprachlichkeit beziehungsweise der Mündlichkeitsnähe der Dialoge relevant. Hinsichtlich dieses Parameters wird das Material zunächst bewertet und schließlich ein für diese Untersuchung adäquates Subkorpus zusammengestellt.

.. Authentizität der Lehrwerke Ziel dieses Kapitels ist es, die Textsorte der frühneuzeitlichen Sprachlehrwerke in Bezug auf ihre Authentizität zu analysieren und ihre Eignung für die hier gestellte Frage zu evaluieren. Unter Authentizität (griechisch αὐθεντικός ‚richtig, zuverlässig‘) wird in diesem Fall die Echtheit oder die Zuverlässigkeit der Quellen verstanden, die insbesondere für die historische Linguistik aufgrund teilweise erschwerter oder nur bedingt möglicher Verifizierbarkeit problematisch werden kann. Es soll herausgefunden werden, ob ein Werk das ist, was es vorgibt zu sein. Es wird gefragt, ob die gegebenen Metadaten des Werkes, also der Anschein, und der tatsächliche Inhalt, also das Sein, übereinstimmen. Für das konkrete Beispiel der Sprachlehrwerke stellt sich die Frage auf zwei unterschiedlichen Betrachtungsebenen (Abb. 7): auf der Ebene der Metadaten und des konkreten sprachlichen Materials. Die Ebene der Metadaten fragt nach

Quellenkritische Auseinandersetzung  

der Korrektheit der Zuordnung von Autor, Publikationsjahr und -ort. Das sprachliche Material kann sowohl hinsichtlich grammatischer Authentizität als auch in Bezug auf die soziopragmatische Authentizität überprüft werden. Es handelt sich dabei um eine implikative Hierarchie, da eine soziopragmatische Authentizität in der Regel eine grammatische Authentizität und eine Reliabilität der Metadaten vorrausetzt (vgl. Hübner & Gennies 2021). Da diese Untersuchung in erster Linie grammatische Phänomene und das zugrundeliegende Normkonzept fokussiert, kann in diesem Fall die soziopragmatische Authentizität der Werke vernachlässigt werden.

Abb. 7: Zunehmendes Quellenpotential des Materials

Das hier beschriebene Vorgehen ist bisher nicht operationalisiert, sondern stellt eine stichprobenartige Überprüfung dar, um eine generelle Einschätzung der Sprachlehrwerke als potentielle Quelle zu erhalten. Ferner wäre eine vollständige Operationalisierung in diesem konkreten Fall auch nur bedingt möglich, da das Material sehr heterogen ist und daher eine jeweilige Einzelfallprüfung in Bezug auf die gewählte Fragestellung sowie die untersuchten Werke in den meisten Fällen unerlässlich ist. Hauptsächlich dient dieses Vorgehen dazu, offensichtlich problematische Quellen zu identifizieren und bei der Erstellung des Korpus auszuschließen. Die augenscheinlichste Form von möglicherweise problematischem Material ist auf Nachlässigkeiten innerhalb des Produktionsprozesses zurückzuführen. Einige Autoren wie zum Beispiel Kramer (1708) weisen in ihren Vorworten explizit auf diese Problematik hin (15). (15) Nur ist mir von Hertzen leid / ja / ich muß mich schaͤ men / daß im Italiaͤ nischen / zumalen des Ersten Theils / weilen das Wercklein an einem Ort / von dannen ich abwesend / und da der Setzer kein Italiaͤ nisch verstanden/ gedrucket/ auch mir / wegen Abgelegenheit/ die Boͤ gen zur Correctur nicht fuͤ glich haben moͤ gen uͤ bersandt werden / so sehr viel grobe Druck-Fehler oder Errata uͤ bersehen / und unverbessert gelassen worden seyen (Kramer 1708: 16)

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Obgleich Drucker- und Setzerfehler in fast allen Werken und Werkreihen zu finden sind, fallen in diesem Zusammenhang insbesondere die Colloquia auf. Innerhalb des hier untersuchten Materials erweisen sich die Colloquia im Schnitt deutlich fehlerbehafteter als andere Werke, wobei diese Fehler in der Mehrheit auf den Produktionsprozess zurückzuführen sind. Es finden sich Spatien inmitten eines Wortes oder Ersetzungen von Graphemen durch andere ähnlich aussehende Grapheme. Abbildung 8 zeigt einen Dialogausschnitt, in welchem das im zweiten kommstu invertiert gesetzt wurde und daher wie ein aussieht. Diese Art von Fehlern hemmt jedoch vermutlich nur in den seltensten Fällen das Textverständnis.

Abb. 8: Fehlerhafter Dialog (Anonym 1613: 34)

In anderen Fällen sind die Fehler jedoch schwerwiegender und führen teilweise dazu, dass Wörter kaum oder nur noch mithilfe der Entsprechungen in den anderen Sprachen identifizierbar sind (vgl. Abb. 9). Hier ist nicht nur die Reihenfolge der Grapheme innerhalb der Wörter (vvuste > vuvste) und zwischen unterschiedlichen Wörtern (ich will die > ichil vvdie) inkorrekt, es fehlen auch Grapheme (spät > pat) oder es werden neue hinzugefügt (wahrheit > vstarhet).

Abb. 9: Fehlerhafter Dialog und neuhochdeutsche Entsprechung (Anonym 1692: 36)

Quellenkritische Auseinandersetzung  

Diese Art von Fehlern erlaubt Rückschlüsse auf den frühneuzeitlichen Produktionsprozess28 und eine möglicherweise hohe Produktionsgeschwindigkeit, aber gibt darüber hinaus auch Hinweise auf zum Teil fragwürdige Sprachkenntnisse von Setzern oder Druckern. Während diese Abweichungen sehr offensichtlich sind, lässt sich problematisches Material auf der Metadatenebene oder in Bezug auf die grammatische Authentizität sehr viel schwieriger und nur mithilfe größeren Aufwands identifizieren. ... Reliabilität der Metadaten In einem ersten Schritt sollte nach Möglichkeit verifiziert werden, ob die angegebenen Metadaten (insbesondere hinsichtlich Autor, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr)29 verlässlich sind. Anschließend sollte überprüft werden, wie authentisch das sprachliche Material in Bezug auf die grammatische Beschaffenheit ist. Es wird also gefragt, ob die Sprache im Grammatikteil und in den Musterdialogen morphologisch und syntaktisch dem Sprachgebrauch der jeweiligen Zeit entspricht. Je nach Untersuchungsgegenstand und Fragestellung sollten die im Folgenden vorgestellten Aspekte unterschiedlich stark gewichtet werden. Aufgrund der frühneuzeitlichen Publikationspraktiken, die sich teilweise deutlich von den heutigen unterscheiden, existieren einige Sprachlehrwerke, die in Bezug auf die vorgenommene Zuordnung von Autor, Druckort oder Veröffentlichungsjahr als inkorrekt oder unsicher eingestuft werden müssen. Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, sollten die Sprachlehrwerke vor der Verwendung stets auf diese Aspekte hin überprüft werden. Denkbar sind in diesem Zusammenhang beispielsweise eine Änderung des eigentlichen Erscheinungsortes aus Sorge vor religiöser Zensur oder aber die Veröffentlichung eines Werkes unter einem anderen Namen aus Prestigegründen, wie es vermutlich in dem folgenden Beispiel von Martin geschehen ist. Der aus Sedan stammende Sprachmeister Daniel Martin verfasste vor allem Lehrwerke für Deutsch und Französisch, war jedoch auch des Griechischen, Lateinischen, Italienischen und Hebräischen mächtig (vgl. Schröder 1992: 155ff). Die erstellte Datenbank (BDaFL) umfasst insgesamt acht Lehrwerke aus den Jahren 1627 bis 1679, in denen Martin als Autor genannt wird. Aus den  28 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Variation aufgrund der Drucktechnik findet sich bei Elmentaler und Voeste (2019: 80). 29 Denkbar ist auch eine inkorrekte Zuordnung der Zielsprachen, wie es in dem anonym veröffentlichten Colloquium von 1613 der Fall ist. Die Grammatik wird zwar als Deutsch bezeichnet, ist aber eigentlich Niederländisch (vgl. Anonym 1613: 229). Das ist jedoch in den analysierten Daten nur einmal der Fall und findet daher an dieser Stelle keine weitere Berücksichtigung.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke biographischen Daten Martins ergeben sich allerdings Widersprüchlichkeiten, denn vermutlich ist Martin bereits im Jahr 1637 verstorben. Demnach müssten alle danach erschienenen Werke in Bezug auf ihre Metadatenauthentizität als problematisch eingestuft werden. Für die Frage nach dem individuellen Sprachgebrauch des spezifischen Autors Daniel Martin wären die späten Werke daher unbrauchbar.30 Es wird vermutet, dass Martin auch in diesen weiterhin als Verfasser aufgeführt wird, da er sich als Autor bereits etabliert hat und das bereits erlangte Prestige erhalten werden sollte. Lediglich in einem Werk gibt es ein Hinweis auf die inkorrekte Autorenschaft: Im New Parlement (1660) werden im Vorwort potentielle Fehler mit dem Tod des Autors begründet (16): (16) und ich versichere euch / daß wann jhm Gott das Leben laͤ nger gegönnet haͤ tte/er sich wuͤ rde bemuͤ het haben/die bedeutungen vieler Woͤ rter zu finden: Aber er ist gefahren mit einem guten und starcken Schiff uͤ berzwergs uͤ ber die Wogen und Wellen aller Aufruhr und trawrigen Zustands dieser zeit / (Martin 1660: 22)

Eine weitere Herausforderung für die Beurteilung der Authentizität ist die in der Frühen Neuzeit vorherrschende Praxis des Kompilierens. Nicht selten entnehmen Autoren Dialogteile oder sogar ganze Dialoge aus anderen Lehrwerken. Eine vollständige Genealogie der frühneuzeitlichen Lehrwerke wurde jedoch bisher nicht erarbeitet und ist in Anbetracht der bisher verfügbaren technischen Möglichkeiten und dem fehlenden maschinenlesbaren Korpus mithin kaum umsetzbar (vgl. Linke 2021: 199). Einen Versuch unternimmt Daiber (1997) im Zuge der Beschäftigung mit Pepliers Dialogues familiers. Durch das Zurückverfolgen von Pepliers Dialogteilen in diverse tschechische, russische, polnische und kroatische Lehrwerke kann gezeigt werden, dass sprachübergreifend gearbeitet wurde und dass die Lehrwerke in unterschiedlichen Teilen Europas (hier im slawischen Raum) rezipiert und wiederverwertet wurden. Auch Radtke (1994) beschäftigt sich mit der Genealogie der Lehrwerke und konstatiert zwei Vorgehensweisen: Einerseits wird auf unveränderte oder lediglich leicht umgearbeitete Standardlehrwerke wie das von  30 Obgleich die Werke von Martin hinsichtlich der Autorenzuordnung nicht alle als zuverlässig eingestuft werden können, sind in Bezug auf die übrigen Metadaten sowie in Bezug auf die grammatische Authentizität keine Auffälligkeiten festzustellen. Das folgende Kapitel (Kap. 3.2) zeigt, dass die Werke im Laufe der Zeit nicht einfach unverändert übernommen wurden. Die Mehrheit wurde an den jeweiligen Sprachstand angepasst. Darüber hinaus ist das Ziel dieser Untersuchung nicht die Analyse des Sprachgebrauchs einzelner Autoren, sondern eine Beschreibung des Normkonzepts der Sprachlehrwerke. In Anbetracht dieser Umstände ist die Integration von Martins Werken in das hier erstellte Korpus legitim.

Quellenkritische Auseinandersetzung  

Veneroni oder Kramer zurückgegriffen, andererseits werden lediglich Gesprächsmuster verwendet, die modifiziert und an den aktuellen Sprachgebrauch angepasst werden (vgl. Radtke 1994: 42, 49). Insbesondere das Modifizieren und Verwerten von Sprachmustern erschweren durch die so entstehende Vagheit eine umfassende Genealogie erheblich. Denn bei zahlreichen Werken handelt es sich nicht um direkte Kopien, sondern es liegen lediglich starke intertextuelle Bezüge zwischen den Werken vor, die durch das Zurückgreifen auf eine in den Sprachlehrwerken übliche Makrostruktur und teilweise auch Mikrostruktur entstanden sind. Ein weiteres Problem stellen darüber hinaus die oftmals unklaren Vorlagen dar. Da nicht alle Werke überliefert worden sind und sich Elemente bestimmter Dialoge in ganz unterschiedlichen weiteren Werken wiederfinden, kann in den meisten Fällen kein eindeutiger Ursprung identifiziert werden. Aufgrund beider zuvor genannten Gründe kann in einigen Fällen nicht endgültig entschieden werden, ob es sich um eine Kompilation handelt oder ob die Intertextualität durch eine gemeinsame Tradition von Gesprächsmustern entstanden ist. Das soll im Folgenden anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden. Tabelle 1 zeigt Ausschnitte aus zwei jeweils anonym veröffentlichten Werken. Das erste Lehrwerk wurde 1613 veröffentlicht, gehört laut Titel zu der Werkreihe der Colloquia et Dictionariolum und beinhaltet Dialoge in acht Sprachen. Das zweite Werk von 1682 trägt den Titel Parlement Nouveau. Frantzoͤ sisches und Teutsches Gespraͤ chsbuch und umfasst mit Französisch und Deutsch lediglich zwei Sprachen. Obgleich die Dialoge nicht identisch sind und an einigen Stellen sogar vollständig voneinander abweichen, ergeben sich an anderen Stellen augenscheinliche Entsprechungen. Ob jedoch der Autor des späteren Werkes von dem früheren Werk abgeschrieben hat, beide lediglich die gleiche oder eine ähnliche Textgrundlage verwendet haben oder nur auf ein geteiltes Wissen über Mikro- und Makrostrukturen von Musterdialogen zurückgreifen, kann anhand der vorliegenden Daten nicht geklärt werden. Tab. 1: Intertextualität der Werke Anonym (1613) und Anonym (1682) Anonym (: )

Anonym (: )

D. Sie ist kranck, P. Ists war, ist sie kranck, was krācheit hatsi dann. D. Di hat das fieber. M. Hat si es

Sie ist kranck, Was hat sie für eine Kranckheit? Sie hat das Fieber, Ist es lange zeit daß sie es hat, Ungefähr acht Tage. Das habe ich nicht gevvust

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

Anonym (: )

Anonym (: )

Lang gehabt, D. vngefehrlich acht tag M. das hab ich nicht gewuszt:ich will sie besuch morgen,wilt Gott.

Ich vvill sie morgen besuchen, so es Gott Beliebt.

Ähnlich wie Tabelle 1 zeigt das Beispiel aus Tabelle 2 Ähnlichkeiten zwischen einem anonymen achtsprachigen Colloquium (1613) und dem deutsch-italienischen Lehrwerk von Erberg (1703). Hier ist die Intertextualität jedoch weniger eindeutig und kann vermutlich auf ein geteiltes Wissen über wichtige Phrasen und Wörter für den Fremdsprachenerwerb zurückgeführt werden. Tab. 2: Intertextualität bei Anonym (1613) und Erberg (1703) Anonym (: )

Erberg (: )

B. Seyt wilkommen meyne Herren. A. VVolt ihr vns herbergen heut diese nacht? B. Ia, gar wol, mein Herr. VVie vil send ewer? A. Vnser sind sechs Zusammen. […] Habt ihr gute Hallung, gut hew,

Seyd willkommen/ ihr Herren Wolt ihr uns diesen Abend beherbergen? Warum nicht? […] Werden wir etwas Guts haben?

Gleiches gilt auch für gewisse Teile der Dialoge (vgl. Tab. 3) aus den Werken von Duez (1639) und Deschamps (1690). Bei beiden handelt es sich um zweisprachige Werke für Deutsch und Französisch. Allerdings entsprechen sich die Dialoge nur partiell und es gibt zahlreiche Anpassungen auf grammatischer und graphematischer Ebene sowie Ergänzungen auf inhaltlicher Ebene.

Quellenkritische Auseinandersetzung  

Tab. 3: Intertextualität in den Dialogen von Duez (1639) und Deschamps (1690) Duez (: )

Deschamps (: f)

Wolt ihr mir borgen, auff credit geben? Herr, wer auff borg verkaufft, der vertreibt wahr genug, und loͤ set wenig gelt.

Wollet ihr mir borgen?

Der credit ist dess lands verweisen, […]

Herr/ der Credit ist des Lands verwiesen.

Nun wohl wie hoch kompt das alles?

Wieviel betraͤ get das alles? Wie viel ist es in allem? Wie viel muͤ sset ihr haben?

Es kompt alles auff zehen kronen vndt dreißig stieber. Nun wohl, da habt ihr ewer gelt, ewer diener.

Es kommet alles auff Zwanzig cronen vn̅ Dreyssig stuͤ ber. Nun da/ da habt ihr euer geld.

Diese Form von Ähnlichkeit ist nicht nur bei Deschamps und Duez festzustellen. Bei einem Blick auf alle in der Datenbank enthaltenen Werke ergibt sich eine Art Intertextualitätsnetzwerk, das auf ein zugrundeliegendes geteiltes Wissen über die Makro- und Mikrostrukturen der Dialogteile schließen lässt. Im Folgenden finden sich einige Beispiele zur Verdeutlichung. In einem späteren Werk von Duez (1699) finden sich in den Dialogen auf makrostruktureller Ebene große Parallelen zu den Dialogen von Canel (1697). Es geht um das morgendliche Aufstehen, um die Mahlzeiten und schließlich um das Reisen. Dabei liegen nicht nur gleiche Themen vor, sondern es ergeben sich auch in Bezug auf den Ablauf innerhalb der Gespräche deutliche Parallelen: Es kommt zunächst Besuch, der Gastgeber liegt jedoch im Bett und muss sich noch ankleiden. Innerhalb dieser Gespräche finden sich vereinzelt auch sehr ähnliche Sätze (Beispiele 17 und 18), während die übrigen Redebeiträge im restlichen Dialog dann wieder voneinander abweichen.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke (17) Er mache sich meinetwegen keine Ungelegenheit

(18) Ihr doͤ rffet euch keine Ungelegenheit machen meinethalben

(Canel 1697: 174)

(Duez 1690: 189)

Auch in den verwendeten Musterdialogen aus Eders Florilegium Hispano-Germanicum (1714), Sumarans Thesavrvs lingvarvm (1626) sowie teilweise auch bei Chirchmair (1703) lassen sich große Überschneidungen auf der Mikro- sowie Makroebene identifizieren. In den Dialogen werden Aspekte des alltäglichen Lebens thematisiert (z.B. Aufstehen oder Anziehen), die jedoch durch gewisse (teilweise humoristische) Wendungen einen hohen Wiedererkennungswert aufweisen. So fordert in diesen Werken der Herr beim Ankleiden ein Hemd, dieses ist aber entgegen den Erwartungen nass oder dreckig. Auch in diesem Fall müssen die frühen Werke von Sumaran nicht unbedingt der Ursprung der Dialoge gewesen sein, sondern auch dieser kann möglicherweise die Dialoge aus anderen Werken übernommen haben.31 Was kann also aus den hier angestellten Beobachtungen geschlussfolgert werden? Obgleich die Dialoge sich in weiten Teilen ähneln, sprechen einige Fakten dafür, sie trotzdem als authentisch einzustufen. So wurden teilweise neue Abschnitte und Inhalte hinzugefügt und auch in Bezug auf die Verwendung einzelner grammatischer Formen unterscheiden sich die Werke (vgl. Kap. 5). Darüber hinaus finden sich Anpassungen auf der graphematischen Ebene, die in diesem Fall auf eine abweichende Aussprache hindeuten können (Tab. 4). Tab. 4: Graphematische Änderungen bei Sumaran (1626) und Eder (1714) Sumaran ()

Eder ()

deller Gloggen Pirn

Teller Glocken Birn

 31 Weitere Beispiele starker Intertextualität finden sich bei Anonym (1667) und Anonym (1682). Die Werke tragen unterschiedliche Titel und sind an unterschiedlichen Orten gedruckt worden. Die Dialoge entsprechen sich indes teilweise. Gleiches gilt auch für Anonym (1611) und Anonym (1692). Hier ist der Anfang der Dialoge zunächst identisch, im weiteren Verlauf kommen jedoch Versatzstücke an anderen Stellen erneut vor und es werden neue Elemente integriert.

Quellenkritische Auseinandersetzung  

Bei Sumaran findet sich an einigen Stellen eine Vertauschung von , und , die auf eine oberdeutsche Aussprache hindeuten (vgl. Reichmann & Wegera 1993: 84ff). Bestätigt wird das zusätzlich durch Sumarans biographische Informationen. Er ist zwar spanischer Muttersprachler, hat aber längere Zeit sowohl in München als auch in Ingolstadt gelebt (vgl. Schröder 1995: 190ff, 1999: 268ff). Auch Eder ist dem oberdeutschen Raum zuzuordnen, lebte aber in Wien (vgl. Schröder 1989: 63, 1996: 285). Eine mögliche Erklärung für diese Differenz in Eders und Sumarans Werken kann ein sich entwickelndes Bewusstsein für die entstehende Standardsprache und eine Anpassung an diese durch Eder sein; immerhin liegen zwischen den Werken knapp einhundert Jahre. Und auch auf der lexikalischen Ebene existieren Divergenzen zwischen den beiden Werken, obwohl sich die Dialoge in ihrer Struktur stark ähneln (vgl. Tab. 5). Tab. 5: Lexikalische Varianten bei Sumaran (1626) und Eder (1714) Sumaran (: )

Eder (: )

I. Lasset uns ein Gesatz machē, daß keinerden huet an den Tisch abziehe.

I. Wir wollen ein Gesatz machen/ daß keiner das Haͤ ubel oder Hut an den Tisch abziehe.

Neben der veränderten Aufforderung zu Beginn des Ausschnitts verwendet der deutschsprachige Eder sowohl Häubel als auch Hut, während sich bei dem Spanier Sumaran im deutschen Dialog lediglich huet findet. Über die Gründe kann an dieser Stelle nur spekuliert werden; denkbar ist allerdings die Muttersprachlichkeit und das damit verbundene größere lexikalische (oder auch dialektale) Inventar Eders. Es bleibt festzuhalten, dass viele der Sprachlehrwerke durch starke Intertextualität gekennzeichnet sind. Da für einen ähnlichen Adressatenkreis auch ähnliche Inhalte und Phrasen von Relevanz sind, müssen die Dialoge jedoch nicht zwangsweise durch die Praxis des Kompilierens entstanden sein. Es kann sich auch um wiederkehrende Dialogmuster handeln, die auf ein kollektives Metawissen der Autoren hindeuten. Darüber hinaus zeigen auch die späteren Analysen zur Verwendung konkreter grammatischer Phänomene (Kap. 5), dass zwar Dialoge in Teilen übernommen wurden, es aber auch Modifikationen in Bezug auf die analysierten Phänomene gibt.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Ein möglicher Grund für die Verwendung von abgewandelten Dialogteilen kann die generelle Situation der Sprachmeister sein, die gleichzeitig auch oft die Autoren der Lehrwerke waren (vgl. auch Kap. 3.1). So beschreibt Häberlein (2015: 10) den Beruf des Sprachmeisters als prekär und durch „die Unsicherheit der rechtlichen und materiellen Existenz“ geprägt. Aus diesem Grund wurden möglichst schnell immer neue Werke produziert, um diese anschließend gewinnbringend zu vertreiben. In diesem Kontext wurde in einigen Fällen das sprachliche Wissen scheinbar mit oder teilweise auch ohne Modifikationen und Ergänzungen immer wieder abgedruckt. Dieses Vorgehen trifft jedoch keinesfalls auf die Gesamtheit aller Lehrwerke zu und muss daher im Einzelfall überprüft werden. Ferner stellt es für einige Autoren kein Qualitätsmangel dar, sich bei den Dialogen in anderen Werken zu bedienen. In der Frühen Neuzeit war insbesondere in den bildenden Künsten das Kopieren anderer Autoren und Werke gängige Praxis und stellt viel mehr eine Ehrerbietung dar (vgl. Fulda 2020: 220ff, Reulecke 2016: 34f). So weist Eder in seinem Florilegium Hispano-Germanicum (1714: 12) darauf hin, dass in seinem Lehrwerk „vil schoͤ ne und koͤ stliche Bluͤ mlein zufinden seyn, welche ich auß vilen unterschidlichen Gaͤ rten dir zu Guten zusamb getragen“. Und auch in weiteren Werken finden sich Verweise auf fremde Quellengrundlagen. Während Martin (19) mithilfe anderer Quellen rechtfertigt, dass möglicherweise einige Formen ungebräuchlich erscheinen, nutzt Kramer den Verweis auf andere Werke aus Prestigegründen (20 und 21). (19) In uͤ brigen hat euch gemeldet Author vor seinem ende hoch gebetten / wann ihr in seinem buch etwan etliche Wort / die euch in ewren Ohren uͤ bel klingen / oder von denen jhr noch niemaln gehoͤ rt / finden wuͤ rdet / das jhr nit glauben sollet / daß er sie erdacht / sondern vielmehr auß allerhand unterschiedlichen guten Authoribus gesamlet / vnnd in allerley Werckstaͤ tten von den besten Meistern vnnd Gesellen erlernet habe. (Martin 1660: 23)

Kramer (1679) verweist sowohl im Titel (20) als auch im Vorwort (21) auf die Dialoge des erfolgreichen Sprachmeisters Jean Parival, die anscheinend als Grundlage seines Werkes dienen und unterstreicht damit gleichzeitig die Qualität seiner Arbeit. (20) Teutsch- und Italiaͤ nische Gespraͤ che/ Nach der Toscanisch-Romanischen Redart dieser unserer Zeit; Ehedessen in Frantzoͤ sischer Sprach verfasset Von dem wolgelehrten Hern M.J.D Parival, Sprachmeistern auf der weitberuͤ hmten Universitaͤ t zu Leiden. Anjetzo aber denen Liebhaberen zum Besten in die Teutsch- und Italiaͤ nische reinlich uͤ bersetzet Von Mattthia Kraͤ mern/ Sprachmeistern. (Kramer 1679: 8)

Quellenkritische Auseinandersetzung  

(21) ich haͤ tte zwar selber / Gott sey Lob / gantz frisch- und nagelneue Dialogos oder Gespraͤ che ersinnen können; dieweil aber diese Parivalische Dialogues ihrer Art- und Zierlichkeit halber in so grossem Ruff und Werth waren / sintemal sie durch und durch auf die vornehmste Regulas Grammaticales und Syntacticas […] und auf die allgemaͤ hlige Ablernung der Germanismorum kunstmaͤ ssig gerichtet sind / als hab ichs auf dieses mal bey diesen wollen bewenden lassen. (Kramer 1679: 13f)

Die starke Intertextualität und die damit verbundene problematische Genealogie der Werke ist nicht nur bei der Analyse der Texte erkennbar, sondern wird auch von den Autoren thematisiert oder sogar kritisiert. Obgleich es für einige Autoren als gängige Praxis schien, sich an den Werken anderer Verfasser zu bedienen, wird dieses Vorgehen keineswegs von allen Autoren toleriert oder gutgeheißen. Kritiker waren vor allem Duez und Canel. So bittet Duez in dem Vorwort seines Le vray et parfait gvidon de la langue françoise (1653: 20) darum, dass andere Sprachmeister und Buchhändler, die sein Werk verwenden wollen, dieses nicht „leichtsinnig und freventlich nachtrucken“ lassen oder „gar vnredlich vnd leichtfertig verstuͤ mpeln/ ein stuͤ ck darvon nehmen / vnd es für das seinige außgeben“. Auch Canel (1689: 6) kritisiert in seinen Vorworten die falsche Autorenschaft anderer Werke und weist dabei konkret auf die Werke Pepliers hin, der sich unter anderem bei der Grammatik von Buisson bedient haben soll. 32 Die Kritik einiger Autoren an dieser Praxis bezieht sich vermutlich in erster Linie auf den ökonomischen Schaden, der sich möglicherweise für die plagiierten Autoren ergibt, da sie ihre eigenen Lehrwerke aufgrund größerer Konkurrenz schlechter verkaufen können. Die Frage nach der Autoren- und Urheberschaft der Frühen Neuzeit ist in den meisten Fällen komplex und in vielen Aspekten noch undurchsichtig. Es besteht augenscheinlich Intertextualität und bisweilen wurden sogar ganze Kapitel kopiert. Vor dem Hintergrund der damaligen Publikationspraktiken ist diese Praxis jedoch nicht unüblich. Wichtig ist indes vor allem, dass diese Herausforderungen im Umgang mit den Texten überhaupt in die Überlegungen und Analysen miteinbezogen werden.  32 „[…] en quoy je veux bien me montrer plus juste que quelques autres qui souvent ne font point de scrupule de metre leur nom à la tête d’un ouvrage, dont ils nont eté que les copistes, come a fait depuis peu un certain Jean Robert des Pepliers, qui done un peu trop liberalement son nom à une grammaire Françoise , que je fis imprimer à Nuremberg il y a quatre ans, & qu il a fait reimprimer cete anée sous son nom. […] mais aussi son [Pepliers, JH] extreme ignorance en notre langue, que l’on peut assez remarquer dans le rapsodis qu’il a fait de cet ouvrage avec quelques autres petites pieces tirées de la grammaire de Monsieur de Buisson & de quelques autrs qu’il y a ajoutées“ (Canel 1689: 6).

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Zudem ist in vielen Fällen nicht abschließend zu klären, ob und von wem Inhalte übernommen worden sind. Selbst wenn in einigen Fällen keine direkten Verbindungen zu anderen Werken nachweisbar sind, ähneln sich die Werke sowohl in Bezug auf den Grammatikteil als auch in Bezug auf die Dialoge. Aus diesen Gründen erscheint es unmöglich, ein ausreichend großes Korpus mit ausschließlich ‚eigenständigen‘ und nicht durch Intertextualität geprägten Werken zusammenzustellen. Letztlich ist sowohl für die Lernenden in der Frühen Neuzeit als auch für Sprachforschende heute wesentlich relevanter, ob ein Lehrwerk den muttersprachlichen Sprachstand und Sprachgebrauch seiner Entstehungszeit widerspiegelt. Diese Frage steht im Zentrum der folgenden beiden Kapitel. ... Grammatische Authentizität Die grammatische Authentizität wird in diesem Fall aus diachroner Perspektive beleuchtet. Es wird gefragt, ob und in welchem Maße der Sprachgebrauch innerhalb des Werkes den Sprachgebrauch der Publikationszeit abbildet. In Anbetracht der Tatsache, dass die Sprachlehrwerke weder das komplette Sprachwissen der jeweiligen Zeit noch das des jeweiligen Autors abbilden (können), ist die Frage als solche allerdings nicht unproblematisch. Vor allem innerhalb der Musterdialoge der Lehrwerke liegt eine Filterung auf unterschiedlichen Ebenen vor: Die durch den Autor imaginierte oder erinnerte Äußerung wird in einem ersten Schritt in einen geschriebenen Text transformiert und erzeugt im besten Fall noch ein Abbild der ursprünglichen Äußerung. Dieser Prozess wird zusätzlich durch eine mögliche didaktische Reduktion und das grammatische Wissen, das dem Autor explizit zur Verfügung steht, beeinflusst. Das Sprachwissen des Autors bildet zwar den Ausgangspunkt für das Verfassen des Lehrwerks, allerdings wird das Wissen stets neu kontextualisiert, um den Anforderungen des Fremdsprachenlernens gerecht zu werden. Das bedeutet gleichzeitig, dass eine in einem Lehrwerk nicht genannte Form nicht auf Unwissenheit des Autors über diese Form schließen lässt; das Fehlen kann auch mit einer bewussten Reduktion aus methodischen Gründen oder aus Platzgründen erklärt werden. In Bezug auf die grammatische Authentizität ist vorrangig zu prüfen, ob die Verwendung der sprachlichen Formen mit dem üblichen Sprachgebrauch der Zeit übereinstimmt. Das gilt insbesondere für Werkreihen, die über einen längeren Zeitraum immer wieder neuaufgelegt wurden. Zu diesem Zweck müssen sowohl die Vorworte und die Dialoge der Lehrwerke als auch andere Textzeugnisse jener Epoche als Referenzpunkt betrachtet werden. Die mangelnde grammatische Authentizität trifft hauptsächlich auf die Werkreihe der Colloquia (Colloquia et dictionariolum) zu. Diese Werkreihe wurde über einen Zeitraum von rund einhundert Jahren immer wieder neu aufgelegt.

Quellenkritische Auseinandersetzung  

Die Struktur, der Inhalt und vor allem auch der abgebildete Sprachgebrauch sind jedoch nahezu identisch geblieben. Ein Vergleich der einzelnen Werke zeigt, dass viele von ihnen ohne oder lediglich mit geringen Überarbeitungen immer wieder abgedruckt wurden. Das soll im Folgenden exemplarisch anhand zweier Colloquia (Antwerpen 1575 und Venedig 1677) kurz dargelegt werden (vgl. Tab. 6). Tab. 6: Nahezu identische Musterdialoge aus Anonym (1575) und Anonym (1677) Anonym (: )

Anonym (: )

A. Vvir sein gar wol Herr wirdt: wir dancken euch.

A. wir sein garwot Heer, Virth, wir dancKen euch.

B. Mein Herr / ich brings euch.

A. Mein Heer, icch brings euch.

A. Ich warts von euch Herr wirdt / ich will euch beschayd thun mit gutem hertzen.

A. Ich warts von euch Heer wirth. ich will euc bescheid thun mit gutem hertzen.

B. Mein Herr, wolt ir mir erlauben das ich euch bringe?

B. Mein Heer, wolt ihr mirs erlauben das ichs euch bringe?

A. Ich sag euch danck hundert tausent mal.

A. Ich sag euch dancK hundert tausent mal.

Obgleich zwischen der Veröffentlichung der beiden Lehrwerke über einhundert Jahre liegen, sind die Dialoge nahezu ohne Anpassungen übernommen worden. Dabei wäre im Deutschen für diesen Zeitraum beispielsweise die Anpassung der Anredeformen (vgl. Simon 2003: 93, 106) oder ein Wandel in der satzinternen Großschreibung zu erwarten (vgl. u.a. Barteld et al. 2016, Bergmann & Nerius 1998, Nowak 2019). Und auch in Bezug auf die im Laufe dieser Arbeit analysierten grammatischen Phänomene werden in den hier untersuchten Colloquia nur geringfügige Anpassungen vorgenommen (vgl. Kap. 5). In einigen Lehrwerken finden sich sogar explizite Hinweise der Autoren auf die mangelnde diachrone Authentizität der Dialoge ihrer Konkurrenten. In dem anonym veröffentlichten Gemeine Gespraͤ ch / Frantzoͤ sisch / Teutsch und Latein (1667) kritisiert der Autor, dass „[…] Grammaticken/Gespraͤ ch- und Woͤ rterBuͤ cher so herauß kom̅ en auff die alte Art gerichtet / so nicht mehr gebraͤ uchlich ist“ (Anonym 1667: 16). Überprüfen lassen sich diese Aussagen jedoch nicht, da die Autoren nicht namentlich genannt werden und die Kritik nicht auf konkrete Beispiele referiert. Aus diesem Grund können solche Argumente vor allem der Aufwertung und Anpreisung des eigenen Lehrwerkes zugeschrieben werden. Neben diesen problematischen Beispielen in Bezug auf die grammatische Authentizität existieren aber auch zahlreiche Lehrwerke, die ungeachtet ihrer

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke Tradierung über einen längeren Zeitraum stetig an den Sprachstand der Epoche angepasst werden. Im vorherigen Kapitel zur Reliabilität der Metadaten wurde bereits auf die Werkreihe des Franzosen Daniel Martin und deren problematische Metadatenreliabilität hingewiesen. In Bezug auf die grammatische Authentizität können die Werke jedoch als zuverlässig eingestuft werden. Im Vorwort des New Parlement (1660) heißt es, dass diese Ausgabe überarbeitet und verbessert wurde. In diesem Fall trifft der oft von den Autoren verwendete Verbesserungstopos allerdings auch zu. Ein Vergleich einer frühen (1637) und einer späten Ausgabe (1660) zeigt, dass die Dialoge zwar vom Inhalt nahezu identisch bleiben, aber auf grammatischer Ebene Anpassungen bezüglich des sich wandelnden Sprachgebrauchs zu beobachten sind (vgl. Tab. 7). So wurde beispielsweise die Flexion innerhalb der Nominalphrase angepasst und die konsequent unflektierten Indefinitartikel wurden an vielen Stellen durch flektierende ersetzt. Darüber hinaus wurde in der späteren Ausgabe von 1660 auch die satzinterne Großschreibung (SiGs) konsequenter umgesetzt (vgl. Schutzeichel & Szczepaniak 2015). Tab. 7: Progression in den Werken Martins (1637 & 1660) Martin ()

Martin ()

Nominalphrase ein guten tag (S. )

einen guten tag (S. )

ein solchen Diener (S. )

einen solchen Diener (S. )

Sie hat ein jungen sohn (S. )

sie hat einen jungen sohn (S. )

SiGs auff dem weg (S. )

auff dem Weg (S. )

athem (S. )

Athem (S. )

In Bezug auf die grammatische Authentizität der Lehrwerke kann kein allgemeingültiges Urteil gefällt werden, sondern es muss jeweils im Einzelfall entschieden werden, ob und inwiefern ein Werk geeignet ist. Die Mehrheit der in der Datenbank befindlichen Lehrwerke ist jedoch als authentisch einzustufen. Zu einem ähnlich positiven Urteil kommt auch Linke (2021: 202), wenn sie die Lehrwerke hinsichtlich des abgebildeten Sprachgebrauchs als authentisch beziehungsweise dem Sprachstand entsprechend einschätzt.

Quellenkritische Auseinandersetzung  

Exkurs: das Potential von unauthentischem Material Für bestimmte Fragestellungen können unter Umständen Werke, die in einigen Bereichen als ‚unauthentisch‘ eingestuft wurden, trotzdem erkenntnisbringend sein. So können im Umgang mit diesen Texten beispielsweise die Produktionsbedingungen sowie das Normverständnis frühneuzeitlicher Sprachlehrwerke analysiert werden (vgl. Hübner & Gennies 2021). Die in Tabelle 6 gezeigten Beispiele zweier Colloquia (1575 & 1677: 163) aus Venedig und Antwerpen haben dies bereits veranschaulicht: Das spätere Werk (1677) bildet sehr wahrscheinlich einen älteren Sprachstand ab und die Sprachkenntnisse des Autors oder des Setzers sind nicht in allen aufgeführten Sprachen auf muttersprachlichem Niveau. Aus diesem Grund kann das Lehrwerk nur als bedingt authentisch eingestuft werden. Das lässt jedoch Rückschlüsse auf die Geltungsansprüche sowie das Normverständnis der Autoren zu: Ziel war in diesem Fall wahrscheinlich nicht die Vermittlung von Fremdsprachen auf muttersprachlichem Niveau oder eine umfassende Abbildung des aktuellen Sprachstandes, sondern eher das Beherrschen von simplen Bausteinen und Phrasen für die einfache, alltägliche Verständigung in der Fremdsprache. Diese These bestätigt sich auch durch einen Blick in die enthaltenen Grammatikteile. Es werden nur rudimentäre Grundkenntnisse vermittelt, die darüber hinaus je nach Sprache variieren können. Diese Lehrwerke dienten vermutlich nur einer ersten Orientierung in der Fremdsprache oder wurden durch den Unterricht mit einem Sprachmeister begleitet. Trotz dieser Umstände wurden solche Werke offensichtlich gedruckt und verkauft, was ferner Rückschlüsse auf reduzierte normative Ansprüche dieses Typus von Sprachlehrwerk ermöglicht.

.. Authentischer Sprachgebrauch und Mündlichkeit Für die Normfrage sind nicht nur die Reliabilität der Metadaten und die grammatische Authentizität des sprachlichen Materials von Bedeutung, sondern auch die zu vermittelnde Zielvarietät (im Sinne der diaphasischen Variation). Es stellt sich dabei primär die Frage, welchen Sprachgebrauch die Autoren in ihren Werken abbilden möchten. Ziel des Autors sollte, zumindest aus heutiger Perspektive, die Vermittlung von Sprache anhand von möglichst authentischem Sprachmaterial sein. Dabei werden solche Dialoge oder Situationen als authentisch beschrieben, die von den Lernenden als real empfunden werden und auf diese Weise auf die Interaktion in der Fremdsprache vorbereiten (vgl. Bach & Timm 2013: 13). Um anachronistische Schlüsse zu vermeiden, muss dieser Anspruch der modernen Fremdspra-

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke chendidaktik zunächst mit dem Selbstverständnis der frühneuzeitlichen Sprachlehrwerksautoren abgeglichen werden. Die Tatsache, dass die Autoren in ihren Vorworten das Ziel nennen, den Lernenden die (mündliche) Kommunikation in der jeweiligen Fremdsprache in verschiedenen Alltagssituationen zu ermöglichen (vgl. Kap. 3.1.3), kann als Indiz für einen bestehenden Authentizitätsanspruch und ein möglichst wirklichkeitsnahes Abbilden des Sprachgebrauchs gewertet werden. Die Intention der Autoren mündlichkeitsnahen Sprachgebrauch und Alltagskommunikation zu vermitteln, bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass die Dialoge auch die frühneuzeitliche Mündlichkeit abbilden. Aufgrund der Verschriftung kann es sich bei den Musterdialogen zweifelsohne nicht um Quellen unmittelbarer frühneuzeitlicher Mündlichkeit handeln. Es liegt im besten Fall eine modellhafte Abbildung eines imaginären, aber durchaus möglichen frühneuzeitlichen Gesprächs vor, das hinsichtlich der Charakteristika der Textsorte nochmals gefiltert ist. Einer dieser Filter ist die Materialität der Texte als geschriebene beziehungsweise gedruckte Quellen. Nach der von Koch und Oesterreicher (1994) vorgenommenen Differenzierung zwischen Realisierung und Konzeptionalisierung würde es sich bei den Dialogen der Sprachlehrwerke im Idealfall um medial schriftliche, aber konzeptionell mündliche Texte handeln. Folgt man der Klassifikation Kilians (2002: 97), handelt es sich bei den in den Sprachlehrwerken enthaltenen Dialogen um Lehrgespräche, die dem Typus „fiktive Gespräche“ zugeordnet werden können – in der Hoffnung, dass diese sogar auf „erinnerte[n] authentische[n] Gespräche[n]“ beruhen. Die Gespräche können als imaginiert bezeichnet werden, sollen dem Lernenden aber den möglichst authentischen Fremdsprachengebrauch simulieren. Ferner sind auch die jeweilige Perspektive auf das sprachliche Ausgangsmaterial sowie das (didaktische33) Konzept des Autors von Bedeutung. Natürlich kann das im Lehrwerk enthaltene Wissen keineswegs das komplette Sprachwissen des jeweiligen Autors abbilden. Im Verfertigungsprozess des Buches wählt der Autor die Elemente aus, die er als relevant oder lernenswert erachtet. Wenn für bestimmte grammatische Phänomene und lexikalische Elemente keine positive Evidenz vorliegt, bedeutet das im Umkehrschluss jedoch nicht, dass die Form im Sprachwissen des Autors nicht vorhanden ist. Durch Simplifizierung und Reduktionen des sprachlichen Materials (didaktischer oder auch praktischer,  33 Es existiert insbesondere zu Beginn der untersuchten Epoche keine Didaktik im heutigen Sinne. Allerdings lassen sich die Anfänge des Nachdenkens über Lehren, Lernen und Unterrichten im 17. Jahrhundert verorten. Daher meint Didaktik im Folgenden das Nachdenken des Autors über den Erwerb von Fremdsprachen.

Quellenkritische Auseinandersetzung  

ökonomischer Natur) werden im Lehrwerk nur bestimmte Aspekte der sprachlichen Realität mehr oder weniger gefiltert abgebildet. Die konkrete Frage nach der Mündlichkeit in historischen Quellen muss darüber hinaus immer auch vor dem Hintergrund des Möglichen beurteilt werden. Es existieren aufgrund der technischen Voraussetzungen keine im eigentlichen Sinne mündlichen Gespräche des 17. Jahrhunderts. Obwohl die Musterdialoge dazu dienen sollen, mündliche Kommunikation zu erlernen, sind sie nicht mit gesprochener Sprache gleichzusetzen. Es geht daher in erster Linie darum, wie mündlichkeitsnah die Musterdialoge einzuschätzen sind. Es existieren unterschiedliche und mehr oder weniger operationalisierte Ansätze, um den Grad der Mündlichkeit historischer Texte zu bestimmen oder sogar messbar zu machen (vgl. Ágel & Hennig 2006, Culpeper & Kytö 2000, 2010). Dabei wird das sprachliche Material in Form einer Merkmalsanalyse auf das Vorhandensein bestimmter Merkmale der gesprochenen Sprache beziehungsweise auf die Parameter der Kommunikation untersucht.34 Auch in Bezug auf die Einschätzung der Mündlichkeit der Lehrwerke wurden bereits hilfreiche Vorarbeiten geleistet, auf die an dieser Stelle zurückgegriffen werden kann. Simon (2006) weist anhand des Sprachlehrwerkes von Georg von Nürnberg auf den enormen Wert der frühneuzeitlichen Sprachlehrwerke als Quelle für die Untersuchung der historischen Mündlichkeit hin. Mit Gesprächswörtern und Anredepronomina in den untersuchten Dialogen existieren typische Elemente der gesprochenen Sprache. Radtke (1994) beschäftigt sich mit französischen und italienischen Sprachlehrwerken aus der Barockzeit und kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass die Lehrwerke eine sehr gute Möglichkeit bieten, die gesprochene Sprache der Frühen Neuzeit zu rekonstruieren. Allerdings weist er in diesem Zusammenhang auch auf den didaktischen Aspekt der Werke und die damit einhergehende Vereinfachung hin, welche die Nachahmung des Gesprochenen in gewissem Maße einschränken (vgl. Radtke 1994: 295). Klatte (2008: 97) setzt sich anhand deutschtschechischer Lehrwerke mit der Frage der Mündlichkeit auseinander und konstatiert ebenso eine Mündlichkeitsnähe wie Kilian (2005). Denn laut Kilian (2005: 45) zeigen die Musterdialoge der Fremdsprachenlehrwerke die kommunikativen Haushalte der in ihnen figurierten Sozialgruppen und veranschaulichen im Wege der mimetischen Nachbildung von zeitgenössisch möglichen Dialogen  34 Eine exemplarische Analyse des Rollenparameters in den Musterdialogen wurde bei Hübner und Gennies (2021) durchgeführt. Unter anderem aufgrund der Dialogizität und der dadurch bedingten dynamischen Rollenverteilung innerhalb der Dialoge können diese als mündlichkeitsnah eingeordnet werden.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke verschiedene gesellschaftliche Kommunikations- und Praxisbereiche als Dialogbereiche mit ihren verschiedenen Dialogtypen und Dialogsorten.

Weitere anschauliche Einzelbeobachtungen mit ebenfalls überwiegend positivem Urteil hinsichtlich der Mündlichkeitsnähe finden sich auch bei Holtus und Schweickard (1985) sowie Franceschini (2002, 2003). Wenn auf methodologische Herausforderungen in Bezug auf die Mündlichkeit der Musterdialoge hingewiesen wird, ist ein oft genanntes Argument, dass es sich lediglich um ein Abbild eines echten Dialoges gefiltert durch die Konventionen der Schriftlichkeit und damit nur um indirekte Mündlichkeit handelt (vgl. Ayres-Bennett 2014: 190, McLelland 2018: 30). Darüber hinaus sind die Dialoge vereinfacht und es fehlen typische Merkmale gesprochener Sprache wie Überlappungen, Abbrüche und Korrekturen (vgl. McLelland 2018: 30). Fraglich ist jedoch in diesem Zusammenhang, ob diese Art von Merkmalen in einem lediglich konzeptionell mündlichen (aber medial schriftlichen) Text überhaupt zu erwarten ist. Für die hier im Zentrum stehende Frage nach Norm und Variation in den Lehrwerken sind diese Merkmale letztendlich nicht von Bedeutung und können unberücksichtigt bleiben. Eine umfassende quantitative Auswertung mit generalisierbaren Ergebnissen zur Mündlichkeit der Lehrwerke steht noch aus und soll beziehungsweise muss auch in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Zeman (2013: 383) rät sogar von einer allgemeingültigen Einschätzung historischer Mündlichkeit ab beziehungsweise zweifelt die Notwendigkeit dieser Bestimmung kritisch an: Sobald Historische Mündlichkeit als Oberbegriff für heterogene Phänomene sowie verschiedene Ebenen von ‚Mündlichkeit‘ gefasst wird und nicht als der jeweils aus einer Einzelperspektive fokussierte spezifische Forschungsgegenstand, wird damit deutlich, dass es ‚den besten mündlichen Text‘ gar nicht geben kann, weil eine derartige Einschätzung von der jeweiligen Untersuchungsperspektive geleitet ist.

Der Grad der Mündlichkeit einer bestimmten Quelle ist folglich stets nur bedingt aussagekräftig in Bezug auf die jeweilige Eignung für eine bestimmte Forschungsfrage. In Anbetracht der Tatsache, dass in dieser Arbeit mithilfe der Lehrwerksdialoge der alltägliche Sprachgebrauch beleuchtet wird, sollen die Dialoge idealerweise möglichst alltagssprachlich und mündlichkeitsnah sein. Gleichwohl die Dialoge schriftsprachliche Elemente beinhalten, eignen sie sich für die Beantwortung der Normfrage, da sie innerhalb der Dialoge den Alltagssprachgebrauch abbilden; und zwar in einem höheren Maße als viele andere überlieferte Quellen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Gedanke, dass aufgrund der fehlenden Standardnorm in der Frühen Neuzeit generell von einer größeren Nähe von geschriebener und gesprochener Sprache ausgegangen werden

Korpus  

kann. Laut Reichmann (2003: 39, 44) kommt es erst im Laufe der Frühen Neuzeit zu einer umfangreicheren Differenzierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Insofern das jeweilige Lehrwerk also die oben genannten Authentizitätskriterien erfüllt, handelt es sich um eine legitime Quelle für die Untersuchung von frühneuzeitlichem Sprachgebrauch.

. Korpus Aufgrund dieser dargelegten Spezifika der Textsorte kann nun als verlässliche empirische Basis ein repräsentatives Subkorpus für die Untersuchung der Normfrage zusammengestellt werden. Die inkludierten Werke haben die Authentizitätsprüfung anhand der zuvor genannten Kriterien bestanden. Daran schließt sich ein kriteriengeleitetes Auswahlverfahren in Bezug auf Größe und Zusammensetzung des Korpus an, wobei die diachrone Dimension, die räumliche Dimension und die Metadaten der Autoren in gleichem Maße berücksichtigt werden, um ein möglichst repräsentatives Korpus zu erhalten. Aufgrund der Heterogenität der Textsorte und den zahlreichen relevanten Metadaten der Werke ist dieses Vorhaben jedoch mit einigen Herausforderungen verbunden. So bewirken die bestehenden Überlieferungslücken und die generelle Unausgewogenheit des Materials ein Übergewicht an Werken aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ferner ergeben sich Unzulänglichkeiten in Bezug auf einige Sprachen und Sprachkombinationen. Vor diesem Hintergrund wurde schließlich das Korpus mit der größtmöglichen Ausgewogenheit zusammengestellt. Obgleich die Werkgruppe der Colloquia, insbesondere die Werke des späten 17. Jahrhunderts, aufgrund der zweifelhaften sprachlichen Authentizität höchst problematisch ist (vgl. Kap. 3.2.1), werden einige wenige dieser Werke in das Korpus aufgenommen. Auf diese Weise soll herausgefunden werden, ob die eingangs getätigte Einschätzung bezüglich der mangelnden Authentizität sich auch in Bezug auf die analysierten Phänomene als zutreffend erweist. Gleichzeitig sollen die Colloquia als Kontrastgruppe zu den übrigen Lehrwerken dienen. Bis auf diese Ausnahme werden jedoch Texte, die eine zweifelhafte sprachliche Authentizität aufweisen oder die aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse der Autoren oder Setzer klare Abweichungen von der historischen Sprachstufe zeigen, nicht in die Untersuchung miteinbezogen.

  Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke .. Zusammensetzung des Korpus Das dieser Untersuchung zugrundeliegende Korpus umfasst schließlich 56 Sprachlehrwerke mit durchschnittlich 734 Seiten, die jeweils in nicht-maschinenlesbarer Form als PDFs vorliegen. Die Werke sind zwischen 1535 und 1717 erschienen (Ø 1663) und enthalten 958 Dialoge mit insgesamt 9327 Seiten. Der Dialoganteil am Gesamtwerk variiert dabei erheblich und liegt zwischen 2 % und 99 %. Im Durchschnitt umfasst der Dialoganteil 46 %. Dieser Anteil muss in Bezug zu den im Werk vorhandenen Sprachen gesetzt werden. Denn in einem siebensprachigen Werk steht für jede Sprache weniger Platz zur Verfügung als in einem zweisprachigen Werk. Eine Quantifizierung auf Grundlage der Wörter anstatt anhand der Seiten wäre sicherlich akkurater, aufgrund der fehlenden Maschinenlesbarkeit wäre diese Option jedoch mit deutlich höherem Aufwand verbunden und ist für die vorliegende Fragestellung nicht zwingend erforderlich. Im Vordergrund steht hier lediglich eine erste Einschätzung der Verhältnisse. Tabelle 8 gibt schließlich einen Überblick über alle im Korpus befindlichen Werke in chronologischer Reihenfolge. Tab. 8: Korpus Zitiersigle

Titel35

Ort

Anonym 

Dictionarius Latinis, Gallis, et Germanicis Vocabulis conscriptus

Straßburg

Klatovsky 

Knijžka w Cžeském a Niemeckém Jazyku složená

Prag

Klatovsky 

Knijžka w Cžeském a Niemeckém Jazyku složená

Prag

Klatovsky 

Knjžka w cžeském a německém gazyku

Prag

Anonym 

Dictionariolum hexaglosson cum colloquiis aliquot sex lin- Leipzig guarum

Anonym 

Colloquia et dictionariolum octo linguarum

Delft

Klatovsky 

Knijžka w Cžeském a Niemeckém Jazyku složená

Olmütz

Sumaran 

Das newe Sprachbuch

München

Mosimmanuel 

Novum dictionarium trium linguarum

Straßburg

Sumaran 

Thesaurus linguarum ... Thesaurus fundamentalis quinque Ingolstadt linguarum

 35 Eine Übersicht über alle Werke inklusive Langtitel findet sich in der BDaFL (Simon, Gennies & Hübner 2021).

Korpus  

Zitiersigle

Titel35

Ort

Martin 

Martin, Daniel: Les colloques françois et allemands

Straßburg

Sumaran 

Grammatica y Pronunciacio Alemana y Española

Wien

Martin 

Acheminement a la Iangue allmande

Straßburg

Duez 

Le vray guidon de la langue françoise

Leiden

Volckmar 

Viertzig Dialogi, oder lustige arten zu reden.

Danzig

Duez 

Le vray guidon de la langue françoise

Leiden

Duez 

Le vray guidon de la langue françoise

Leiden

Anonym 

Das newe frantzösische und polnische Parlament,

Danzig

Duez 

Kurtze frantzösische Grammatica ... Bref extraict

Hanau

Garnier 

Dialogues en Cing Langues, Espagnolle, Italienne, Latine, Francoise, & Allemande

Straßburg

Martin 

Parlement nouveau

Straßburg

Martin 

Le guidon allemand

Straßburg

Widerhold 36

Entretiens familiers françois, allemands et latins

Genf

Duez 

Le vray et parfait guidon de la langue françoise

Amsterdam

Parival 

Dialogues François & Allemands, selon le langage du temps

Frankfurt

Joli 

Joli, Alexandre: Métode nouvéle et tres-utile ... Newe und sehr nützliche Metode

Altona

Ernesti 

Ernesti, Jan [Johannes]: Forytarz języka polskiego ... Förderer der polnischen Sprache

Breslau

Anchinoander 

Anchinoander, Heinrich Cornelius: Grammatica italica

Basel

Anonym 

Tresor en trois langues . . .

Basel

Kramer 

Teutsch- und Italiänische Gespräche nach der Toscanisch- Nürnberg Romanischen Redart dieser unserer Zeit

Martin 

Parlement nouveau

Straßburg

Duez 

Duez, Nathanael: Frantzösische Grammatica renovata

Frankfurt am Main

Parival 

Dialogues François & Allemands, selon le langage du temps

Frankfurt

Buisson 

Grammaire nouvelle et curieuse

Hamburg

Otliker a

Sehr nutzliches Sprach-Büchlein

Nürnberg

Otliker b

Sehr nutzliches Sprach-Büchlein

Straßburg

 36 Widerhold war eigentlich als Drucker und Verleger tätig, wird jedoch in diesem Werk auch als Autor geführt. Diese Zuordnung ist allerdings unsicher.

70 | Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

Zitiersigle

Titel35

Ort

Kramer 1688

Li Ragionamenti Tedesco-Italiani

Nürnberg

Pepliers 1689

Grammaire royale françoise et allemande

Berlin

Canel 1689

Canel, Pierre: Königliche teutsche Grammatic

Nürnberg

Ernesti 1689

Polnischer Donat

Thorn

Duez 1690

Neuvermehrte und verbesserte frantzösische Grammatica

Hanau

Deschamps 1690

Nouvelle Grammaire

Paris

Anonym 1692

Colloquia et dictionariolum octo linguarum

Bologna

Anonym 1693

L'eloquent maistre des langues

Hamburg

Otliker 1695

Sehr nutzliches Sprach-Büchlein

Nürnberg

Kramer 1696a

La Vraie Methode

Nürnberg

Kramer 1696b

Nouveau Parlement

Frankfurt/ Main

Buisson 1697

Grammaire françoise nouvelle ... Neue Grammatica

Hamburg

Canel 1697

Königliche Frantzösische Grammatic

Frankfurt, Nürnberg

Duez 1699

Le vrai et parfait guidon de la langue françoise

Nürnberg

Kramer 1699

Nouveau Parlement, C'est à dire Dialogues FrançoisAlemands

Nürnberg

Erberg 1703

Grammatica alla Moda, Tedesco-Italiana

Nürnberg

Chirchmair 1703

Grammatica della lingua Todesca

Venedig

Kramer 1708

Il Nuovo Parlamento,

Nürnberg

Eder 1714

Florilegio Espanol y Aleman

Wien

Kramer 1717

Nouveau Parlement, C'est à dire Dialogues FrançoisAlemands

Nürnberg

Im Folgenden wird die Zusammensetzung des Korpus in Bezug auf die diatopische und diachrone Dimension sowie hinsichtlich der Bestandteile der Werke erläutert. Wie eingangs erwähnt wurde, liegt der Fokus der Untersuchung auf dem 17. Jahrhundert und dort insbesondere auf der zweiten Hälfte, da für diesen Zeitraum ausreichend Lehrwerke unterschiedlicher Autoren vorliegen. Insbesondere für das 16. Jahrhundert ist nicht nur die Überlieferungssituation dünn, sondern vor allem auch das Ausgangsmaterial sehr limitiert. Für diese Zeit existieren hauptsächlich anonyme Werke beziehungsweise Werke der ColloquiaReihe, die aus den zuvor (vgl. Kap. 3.2.1) erläuterten Gründen (mangelnde Re-

Korpus | 71

liabilität und zweifelhafte grammatische Authentizität) nur zu Vergleichszwecken in geringer Anzahl in das Korpus integriert werden. Der Fokus dieser Arbeit liegt zwar vorwiegend auf der Betrachtung der deutschen Sprache, eine Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit der Quellen sowie der Autoren ist jedoch unerlässlich. So haben andere Studien bereits gezeigt, dass eine pan-europäische Betrachtung bei der Arbeit mit den Fremdsprachenlehrwerken auch sehr fruchtbar sein kann (vgl. Villoria-Prieto & López 2018). Die Lehrwerke umfassen jeweils mehrere Sprachen und die Autoren verfügen neben dem sprachlichen Wissen über ihre Muttersprache auch mindestens über eine weitere Fremdsprache. Darüber hinaus transzendiert auch das Wissen über Strukturen der Lehrwerke sowie über Mikro- und Makrostrukturen der Dialoge zwischen den Autoren ungeachtet der Landes- und vor allem Sprachgrenzen. Aus diesem Grund ist ein Einbeziehen der anderen Sprachen an manchen Stellen nicht nur unabdingbar, sondern auch äußerst erkenntnisbringend. Ein weiterer Fokus liegt auf den deutsch-französischen Sprachlehrwerken. Obwohl es sich dabei um eine häufige Sprachkombination handelt, die Werke auflagenstark waren und sehr gut überliefert worden sind, wurden sie bisher kaum in systematischer Weise untersucht. Um möglichst allgemeingültige Erkenntnisse in Bezug auf Norm und Variation zu erlangen, wurden zudem auch Werke mit Italienisch, Spanisch, Tschechisch und Polnisch als weitere Sprachen in das Korpus aufgenommen. Werke mit den Sprachenkombinationen Deutsch und Polnisch sowie Deutsch und Tschechisch sind eher selten vertreten und kommen daher nur in geringerer Anzahl im Korpus vor. Neben den Zielsprachen des Werkes und der Muttersprache des Autors existieren weitere Einflussfaktoren auf Metadatenebene, die für ein ausgewogenes Korpus berücksichtigt werden sollten. Eine vollständige Balance kann jedoch aufgrund der oben genannten Herausforderungen nicht erreicht werden.

72 | Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

Tab. 9: Korpusübersicht nach Zeit und Zielsprache

Zeit

1500–1550

1551–1600

1601–1650

1651–1700

1701–1750

Deschamps Martin Canel

Chirchmair

Zielsprache Deutsch

Französisch

Martin Duez

Italienisch

Canel Duez Buisson Joli Otliker Pepliers Kramer Kramer Anchinoander

Polnisch

Volckmar

Ernesti

> zwei Sprachen

Anonym Sumaran

Anonym Garnier Widerhold Martin

Sumaran Martin Klatovsky Mosimmanuel

Martin Anonym Kramer Parival

Deutsch+X

Anonym Klatovsky

Erberg

Eder Kramer

Berücksichtigt wurden für dieses Korpus schließlich das Erscheinungsjahr, die Zielsprache(n), die Muttersprache des Autors sowie die Anzahl an vermittelten Sprachen. Es wurden unterschiedliche Werke, Werkreihen und Autoren sowie mehrere Werke eines Autors über einen längeren Zeitraum und mit unterschiedlichen Zielsprachen inkludiert, um zusätzlich Mikrostudien zu ermöglichen. Für die Analyse des Normkonzepts sowie der damit einhergehenden Variation aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven war es außerdem von Bedeutung, dass möglichst viele der inkludierten Lehrwerke neben dem Dialogteil auch über eine Grammatik verfügen.

Korpus | 73

3.3.2 Intertextualität innerhalb des Korpus Primäres Ziel des erstellten Korpus ist es, die Vielfalt an Lehrwerken des 16. und 17. Jahrhunderts sowie ihre Charakteristika möglichst gut abzubilden. Dabei konnten in manchen Fällen – insbesondere aufgrund der bereits genannten Eigenarten der Textsorte – Intertextualität und teilweise auch die Aufnahme von Reproduktionen nicht gänzlich verhindert werden. Es handelt sich jedoch dabei nicht um bloße Kompilationen, sondern um ähnliche Dialoge, die stets mehr oder weniger modifiziert wurden. Abbildung 10 zeigt eine Übersicht über die Intertextualität innerhalb des Korpus. Viele dieser intertextuellen Bezüge wurden bereits im Rahmen der Reliabilität der Textsorte (vgl. Kap. 3.2.1) dargelegt.

Abb. 10: Intertextualität innerhalb der Sprachlehrwerke

Die Colloquia befinden sich im Zentrum, da die dort verwendeten Musterdialoge in mehr oder weniger modifizierter Weise immer wieder auch in anderen Lehrwerken auftauchen. Ob die Colloquia wirklich der Ursprung sind, kann nicht mit abschließender Sicherheit geklärt werden. Dass es sich dabei um sehr frühe Werke mit großer Verbreitung innerhalb Europas handelt, spricht indes dafür. Insbesondere die Dialoge aus den Werken Otlikers sind sehr deutlich an die Colloquia angelehnt. Auch in den Werken von Eder, Sumaran und Chirchmair existieren einige Parallelen. Dabei könnten die Werke von Duez zwar aufgrund der Chronologie

74 | Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

die Grundlage für Eder und Chirchmair gewesen sein, es ist jedoch auch eine gemeinsame vierte Quelle als Ausgangspunkt denkbar. Ähnlich verhält es sich auch mit einigen Dialogen von Duez, von denen sich Fragmente in den Werken von Deschamps sowie Canel wiederfinden. Die exakte Genealogie kann anhand der hier vorliegenden Lehrwerke hingegen nicht rekonstruiert werden. Bei Parival und Kramer zeigt sich eine sehr viel eindeutigere Relation: Kramer selbst (1679: 13f) nennt in seinem Vorwort die Dialoge Parivals als Ausgangspunkt für sein eigenes Lehrwerk. Bei Pepliers und Buisson ist die in Abbildung 10 vermerkte Intertextualität lediglich auf das Vorwort Canels (1689: 6) zurückzuführen, der Pepliers vorwirft, bei Buisson abzuschreiben.

3.3.3 Charakteristika der analysierten Werke Die prototypische Struktur der Lehrwerke wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels (1.2) erläutert. Im Folgenden wird daher nur die konkrete Zusammensetzung der im Korpus befindlichen Lehrwerke dargelegt. Hinsichtlich des Aufbaus und ihrer Struktur orientieren sich die Grammatikteile vornehmlich an den gelehrten Grammatiken beziehungsweise am Vorbild des humanistischen Lateinunterrichts (vgl. Hüllen 2002: 216, Kuhfuß 2013: 67). In der konkreten Art und Weise der Darstellung können die Grammatiken jedoch voneinander abweichen. Während einige Grammatiken sehr ausführlich sind, enthalten andere nur rudimentäre Informationen zur Aussprache oder Wortbildung (vgl. Kuhfuß 2013: 58). Die Werke der Colloquia-Reihe vermitteln beispielsweise nur skizzenhafte und teilweise willkürlich wirkende grammatische Inhalte und beschränken sich auf Aussprachehinweise und wenige Informationen zur Wortbildung. Die zweisprachigen Lehrwerke enthalten, insofern ein Grammatikteil vorhanden ist, in der Regel sehr viel profundere Informationen zur Grammatik. In diesen umfangreicheren Werken gibt es Abschnitte zu Phonologie, Morphologie, Syntax und teilweise auch zur Pragmatik. Die Kapitel zur Phonologie, die oftmals mit Aussprache betitelt werden, erläutern die Besonderheiten der Aussprache und gehen dabei insbesondere auf die Abweichungen von der Ausgangssprache ein.37 Die Morphologie trägt vornehmlich die Überschriften Deklination beziehungsweise Konjugation oder ist nach Wortarten geordnet und umfasst in den meisten Fällen neben der Wortartenlehre auch die Wortbildung. Die von

|| 37 Zur Vermittlung der Aussprache in den Lehrwerken vgl. Lauschus (2021) und Schweitzer (2021).

Korpus | 75

den Autoren als Syntax bezeichneten Teile sind nur teilweise das, was wir aus heutiger Perspektive unter Syntax verstehen. Nichtsdestotrotz ist es bemerkenswert, dass einige Sprachlehrwerksautoren bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts syntaktische Elemente in ihren Grammatikteil integrieren, obwohl sich in den gelehrten Grammatiken eine ausführliche Beschäftigung mit den syntaktischen Strukturen erst ab dem 18. Jahrhundert findet (vgl. Filatkina 2021). In einigen Werken finden sich ferner auch Hinweise zur Pragmatik (vgl. u.a. Anonym 1679, Anonym 1693). In dem anonym veröffentlichten Sprachschatz (1679: 350f) wird unter anderem erläutert, wie man sich in Gesprächen angemessen verhalten sollte. Es sei wichtig, nur die Wahrheit zu sagen, nur Relevantes beizutragen und sich kurzzufassen. Auch gibt es explizite Hinweise zur Höflichkeit (22) und zur Anrede (23). (22) WIewol das Wortgepraͤ ng überfluͤ ssig ist/vnd alle angenommene Ehrerweisungen zu meyden sind, nichts desto weniger so soll man diejenige/so man schuldig ist / nicht underlassen; dann sonsten wurde man die Personen/mit denen man umbzugehen hat / vor den Kopff stossen. (Anonym 1679: 314f) (23) Schlechten vnd vnansehenlichen Leuthen sagen wir gemeinglich / Ihr / also daß wir niemand dutzen; es sey dann gar ein kleines kind (Anonym 1679: 323)

Obgleich einige Lehrwerke Informationen zu allen sprachlichen Ebenen vermitteln, liegt der Fokus auf den Themen ‚Aussprache‘ und ‚Morphologie‘ (vgl. Kap. 3.1.4). Abbildung 11 veranschaulicht die Zusammensetzung der Grammatikteile in Abhängigkeit der behandelten Sprachen. Zwecks Einheitlichkeit wurden als Bezeichnungen die heutigen Fachtermini Phonologie, Morphologie und Syntax gewählt, die nur teilweise auch von den Lehrwerksautoren als Kapitelüberschriften verwendet werden. Es finden sich darüber hinaus jedoch auch deutsche Überschriften wie „Aussprache“ (Buisson 1697: 11) oder Grammatikteile völlig ohne Überschriften (z.B. bei Deschamps 1690).

76 | Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

Abb. 11: Anteile der Inhalte pro Sprache in den Grammatikteilen

Der hohe Anteil an syntaktischen Inhalten im Französischen stammt überwiegend aus zwei Werken des Franzosen Duez (1669, 1699) und einem Werk des Franzosen Canel (1697). Duez (1699: 291) erklärt unter der Überschrift Von dem Syntax der Temporum beispielsweise auf insgesamt 173 Seiten anhand zahlreicher Beispielsätze, wie die Verben in den jeweiligen Tempusformen in unterschiedlichen Kontexten gebraucht werden und wie sie in einen Satz integriert werden können. Streng genommen handelt es sich dabei in erster Linie um eine Phrasensammlung zur Satzlehre und weniger um eine Syntax im engeren Sinne. Bis auf diese Ausnahmen hat die Syntax jedoch einen relativ kleinen Anteil an den Grammatikteilen. In anderen Werken (Anonym 1667, Anonym 1679) findet sich sogar der Hinweis, dass eine ausführliche Syntax für den Fremdsprachenerwerb überflüssig oder sogar hinderlich ist beziehungsweise besser durch den Gebrauch erworben werden kann (24). (24) Dann weilen es für einen Anfang genug/ daß einer alle und jede Buchstaben in ihrem natuͤ rlichen Thon (so sehr wol zu beobachten) außzusprechen/ und die nomina, pronomina, und verba zu declinieren weiß/ als habe ich vor unnoͤ tig erachtet/ den Leser mit einem langen Syntaxi auffzuhalten/ weilen die Wortstellung vielmehr durch den Gebrauch/ als Grammaticalische Reguln muß ergriffen werden. (Anonym 1667: 18)

Korpus | 77

Anhand der hier aufgezeigten Zusammensetzung der Sprachlehrwerke können erste Rückschlüsse auf die Norm beziehungsweise ein mögliches Normkonzept gezogen werden. Die Grammatik- und Dialogteile stehen in den meisten Fällen gleichberechtigt nebeneinander. Lernziel ist der (alltägliche) Sprachgebrauch sowie die Beherrschung der grammatischen Grundlagen. Damit unterscheiden sich die Lehrwerke von den humanistischen gelehrten Grammatiken, die vorrangig eine umfassende Abbildung und Fixierung der grammatischen Regeln einer Sprache zum Ziel hatten (vgl. Kap. 2.2). Während die Zusammensetzung der Lehrwerke eindeutig feststellbar ist, kann über die konkrete Zielsprache in vielen Fällen nur gemutmaßt werden. Es muss dabei vor allem auf die Aussagen der Autoren zurückgegriffen werden, die, vermutlich um ihr Werk gut zu verkaufen, meistens alle im Werk enthaltenen Sprachen als Zielsprachen benennen. Deshalb wurde die Entscheidung nicht nur anhand des Titels und der Aussagen im Vorwort getroffen, sondern auch anhand der Zusammensetzung der Grammatikteile und Dialoge. Denn selbst wenn die Grammatik in vielen Fällen zweisprachig ist, verraten die gewählten Beispiele in der Regel die Zielsprache. Otlikers Lehrwerk trägt zwar den Titel Sehr nutzliches Sprach-Buͤ chlein/ in Frantzoͤ sisch und Teutsch (1687a), in der Grammatik wird aber deutlich, dass streng genommen nur die französische Sprache vermittelt wird. Das zeigen die Überschriften wie zum Beispiel Wie man die Frantzoͤ sische Sprach recht lesen und aussprechen soll. Zudem existiert nur eine französische Aussprachehilfe für den Dialogteil und auch die gewählten Beispiele deuten auf Französisch als Zielsprache hin. Die Deklination der Nomina, welche bestenfalls an prototypischen Vertretern erfolgen sollte, wird für die Feminina anhand von Mutter und für die Maskulina anhand von Vater erklärt (vgl. Otliker 1695: 12). Diese Nomina sind jedoch lediglich für das Französische prototypisch. Vermutlich existieren aufgrund der Orientierung am französischen zweiteiligen Genussystem auch keine Beispiele für Neutra. In einigen Lehrwerken unterscheidet sich zudem die Zielsprache der Grammatik von der Zielsprache der Dialoge. Laut Duez (1639) ist seine Grammatik für das Erlernen der französischen Sprache konzipiert, während vor dem Dialogteil der Hinweis auf Deutsch und Französisch als Zielsprachen zu finden ist. Das verwundert kaum, da der Dialog beide Sprachen gleichermaßen beinhaltet. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich dabei um ein Faktum handelt, welches auf alle mehrsprachigen Werke mit Musterdialogen zutrifft, wird für diese Werke die jeweils spezifischere Klassifikation zugrunde gelegt. Eine weitere Erklärung für das Abweichen der Zielsprachen in den unterschiedlichen Teilen kann auch das Kompilieren der Werke sein: So könnte der Dialogteil bei-

78 | Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

spielsweise aus einem früheren Werk des gleichen oder eines anderen Autors übernommen worden sein (vgl. Duez 1653 und Pepliers 1699). Abbildung 12 zeigt schließlich die Verteilung der Zielsprachen innerhalb des Korpus. Der Schwerpunkt liegt mit 32 % bei Werken mit französischer Zielsprache. Die Hälfte der Werke (50 %) ist nicht konkret für das Erlernen einer Sprache konzipiert, sondern weist entweder zwei oder sogar mehr als zwei Zielsprachen auf. Darüber existieren einige Werke speziell für den Erwerb des Deutschen, des Italienischen sowie des Polnischen. Für die Frage der Norm kann auch die Muttersprache der Autoren relevant sein (vgl. Abb. 13). Da der Schwerpunkt des Korpus auf den deutsch-französischen Lehrwerken liegt, ist es wenig verwunderlich, dass die Mehrheit der Autoren ebenfalls Französisch (43 %) oder Deutsch (25 %) als Muttersprachen aufweist. Darüber hinaus umfasst das Korpus auch Werke von tschechisch-, spanisch- sowie polnischsprachigen Autoren. In Ermangelung weiterer geeigneter Quellen werden diese drei Muttersprachen zwar durch mehrere Werke im Korpus vertreten, die jedoch von jeweils nur einem Autor verfasst wurden.

Abb. 12: Zielsprachen der Werke (N = 56)

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Abb. 13: Muttersprache des Autors (N = 21 + 7 anonyme Autoren)

Die Autoren verließen in vielen Fällen ihre Heimat, um anderswo als Sprachmeister tätig zu sein. Aufgrund dieser hohen Mobilität der Autoren kann folglich neben der Muttersprache auch der Aufenthaltsort als möglicher Einflussfaktor auf den Sprachgebrauch und das Normkonzept von Bedeutung sein. Tabelle 10 gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Aufenthaltsorte der Autoren. Viele der nicht-deutschen Muttersprachler wie Anchinoander, Chirchmair, Canel, Pepliers, Joli, Buisson und Sumaran lebten und arbeiteten allerdings in Deutschland. In Bezug auf die möglichen regionalen Einflüsse ist für die Frühe Neuzeit und bis in das 18. Jahrhundert insbesondere die Unterscheidung in Ostmitteldeutsch und Oberdeutsch von Relevanz, die sich auch in unterschiedlichen Normierungstendenzen äußerte (vgl. Mattheier 2003: 217ff). Bei einigen dieser Autoren (wie bei Sumaran oder Chirchmair) finden sich in den Dialogen deutliche Hinweise auf deren Aufenthalt im oberdeutschen Raum.38 Innerhalb

|| 38 Innerhalb der Lehrwerke gibt es an einigen Stellen Hinweise auf die dialektalen Einflüsse. So verwendet Sumaran beispielsweise die Lexeme Gläsel, Gloggen, Ayr, Pueb, daig, Opffel, Pirn, Artischoggen (1634: 321, 1626: 110, 114). Diese Lexeme lassen Rückschlüsse auf einen oberdeutschen Kontext zu, zu deren wichtigsten Druckorten auch die Druckorte der beiden SumaranWerke (Wien und Ingolstadt) gehören (vgl. Elmentaler & Voeste 2019: 83).

80 | Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

Deutschlands liegt ein Zentrum in Nürnberg: Dort lebten Kramer, Otliker, Erberg und Canel (vgl. Tab. 10). Tab. 10: Geographische Verteilung der Autoren

Name

Ort

Quelle

Anchinoander Winstingen (Fenestrange), Ferrara, Hamburg, Basel

Zedler 1732: 1408

Chirchmair

Tirol, Florenz

Masiero 2018: 117, Glück 2002: 261

Kramer

Köln, Nürnberg, Erlangen

Kuhfuß 2013: 373, Häberlein 2015: 9, Bray 2000: 17

Canel

Nürnberg, Kopenhagen

Schröder 1991: 115f

Pepliers

Berlin

Schröder 1989: 21

Otliker

Nürnberg

Schröder 1991: 271

Eder

Wien

Schröder 1989: 63, Schröder 1996: 285

Erberg

Nürnberg

Glück 2010: 145

Duez

Leiden

Schröder 1989: 24f

Ernesti

Breslau

Schröder 1989: 77f

Joli

Hamburg

Schröder 1992: 19

Parival

Leiden

Schröder 1992: 280

Buisson

Hamburg; evtl. Bremen & Osnabrück

Schröder 1992: 119

Martin

Sedan und später Straßburg

Schröder 1992: 155-158

Sumaran

Guipúzcoa (spanisches Baskenland), dann in Brüssel, München und Ingolstadt

Schröder 1995: 249f

Deschamps

?

Garnier

Orléans, Gießen, Straßburg, Leipzig

Schröder 1989: 128f Schröder 1996: 362

Mosimmanuel ? Klatovsky

vermutlich Prag

Opava 2002: 57

Widerhold

Wertheim, Genf, Basel

http://d-nb.info/gnd/ 12441995X

Volckmar

Danzig

Schröder 1995: 257

In Anbetracht der deutlichen regionalen Unterschiede in der Frühen Neuzeit können nicht nur die Aufenthaltsorte der Autoren, sondern auch die Verlagsor-

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te Einfluss auf Norm und Variation nehmen. Die Orte sind mit Tschechien, Polen, den Niederlanden und Italien geographisch breit verteilt, aber liegen zu einem großen Teil (insgesamt 64 %) in Frankreich und Deutschland. Abbildung 14 veranschaulicht die Druckorte der Werke sowie die Quantität: Je größer der Punkt ist, desto mehr Werke wurden in diesem Ort verlegt. Innerhalb Deutschlands dominieren Verlagsorte aus dem oberdeutschen Raum mit zehn Werken aus Nürnberg als häufigstem Ort im Korpus. Es zeigt sich darüber hinaus eine hohe Übereinstimmung von Herkunft beziehungsweise Lebensmittelpunkt des Autors und Verlagsort des Werkes. So ließen die Autoren Kramer, Otliker und Canel bis auf eine Ausnahme ihre Werke in Nürnberg verlegen. Pepliers‘ Lebensmittelpunkt war Berlin und auch er ließ sein Werk dort verlegen. Diese Übereinstimmung gilt für die Mehrheit der Autoren.

Abb. 14: Übersicht der Verlagsorte im Subkorpus39

|| 39 Diese Karte wurde mithilfe von batchgeo.com erstellt. Für die Erstellung danke ich Jonas Paetsch.

82 | Material – Frühneuzeitliche Fremdsprachenlehrwerke

Ein weiterer interessanter Aspekt in Bezug auf die Normfrage wäre sicherlich auch die Adressatenspezifik der Lehrwerke. Nach eingehender Prüfung hat sich jedoch die Auswertung nach Adressaten als nur wenig zielführend herausgestellt, da diese in den meisten Fällen zu unspezifisch ist (vgl. Kap. 3.1.3). Von den 56 Lehrwerken, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, kann für 77 % nur die allgemeine Adressatengruppe der Lehrwerke festgestellt werden – also Kaufleute und Reisende, die eine Fremdsprache erlernen wollen (vgl. Kap. 3.1.3). 11 % richten sich an Adelige, nennen aber daneben auch noch allerlei andere Adressaten. Ein Lehrwerk (Martin 1635) richtet sich speziell an Soldaten und zwei weitere an den katholischen Leser (Sumaran 1626, 1634).

 Variation und Sprachbewusstsein Norm und Normativität können unter anderem über den Grad und die Art der erlaubten Variation definiert werden. Daher gelten Norm und Variation oft als Gegenkonzepte, die sich auf den ersten Blick auszuschließen scheinen, sich jedoch gleichzeitig stark beeinflussen. Besondere Aufmerksamkeit haben diese beiden Konzepte auch im Rahmen des Sprachenlehrens und -lernens erhalten (vgl. Durrell 2006, Neuland 2006, Köpcke 2011). Das mag einerseits an der Erwartungshaltung der Lernenden liegen, die sich möglichst eindeutige Urteile wünschen und Vagheit sowie Unsicherheit nur schwer bewerkstelligen können. Andererseits spielen aber auch die Einstellung und vor allem die Normorientierung der Lehrkräfte eine wichtige Rolle (vgl. Langer & Davies 2014). Aber nicht nur im Schulkontext, sondern auch für die allgemeine (Fremd-) Sprachenverwendung kann eine Tendenz zur Eindeutigkeit und zu möglichst minimaler Variation konstatiert werden. In diesem Zusammenhang stellt Öhlschläger (2001: 202) fest, dass Gebrauchsgrammatiken weniger erfolgreich seien und häufiger kritisiert würden: Die Grammatiken sind zu wenig normativ, lassen zu oft Varianten zu und sagen nicht immer eindeutig, was richtig und was falsch, was gut und was schlecht ist, und entsprechen damit nicht der stark normativ geprägten Erwartungshaltung sehr vieler Benutzer.

Die Diskussion um den Grad und die Formen der sprachlichen Variation des Deutschen kann bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgt werden. Dort findet sie jedoch in erster Linie innerhalb des Gelehrtendiskurses im Kontext der Normierung und Kodifizierung der deutschen Sprache statt. Um die deutsche Sprache gegenüber dem Lateinischen aufzuwerten sowie gegen die anderen Volkssprachen zu behaupten, wurde als ideelles Ziel unter anderem eine homogene, uniforme Sprache mit möglichst minimaler Variation angestrebt (vgl. McLelland 2014: 252). Reichmann (1988, 1990) beschreibt, wie in diesem Zuge sowohl die Anzahl der diatopischen Varianten als auch die Toleranz gegenüber der Variation seitens der Sprachgesellschaften, Gelehrten, Schriftsteller sowie Übersetzer immer weiter abgenommen hat. Diese Kodifizierung des Deutschen wird gemeinhin als Vertikalisierung konzeptualisiert und beschreibt den Prozess einer Neuordnung der Varietäten mit dem Ziel einer dominanten Leitvarietät und einer gleichzeitigen Abwertung der übrigen Varietäten. Im Fokus der Sprachgesellschaften stand in diesem Zusammenhang schließlich auch der Kulturpatriotismus und damit einhergehend der Sprachpurismus. Das Deutsche sollte als Hochsprache etabliert und infolgedessen zur Produktion von (Fach-)Texten https://doi.org/10.1515/9783111168715-004

  Variation und Sprachbewusstsein verwendet werden (vgl. Gardt 1999: 103). Diese Etablierung einer prestigereichen Hochsprache diente zudem der Strukturierung der Gesellschaft in obere und niedrigere Schichten. Denn es galt: Wer die Hochsprache nicht spricht, gehört dem ‚Pöbel‘ an. Gleichzeitig verlieh dieses Vorgehen den Verfassern der sprachpflegerischen Werke Bedeutung sowie Ansehen, da sie zu einem gewissen Grad über das ‚richtige‘ Deutsch entscheiden konnten (vgl. Gardt 1999: 106). Im Rahmen der allgemeinen Sprachbewertung wurden durch Sprachgesellschaften, Sprachgelehrte und Autoren bestimmte Varianten als die ‚besseren‘ bezeichnet. Wichtige Kriterien waren dabei unter anderem Überregionalität, Schreibsprachlichkeit, Bildungssprachlichkeit sowie Sprachökonomie (vgl. Reichmann 2003: 31, 39). Das lange Zeit bestehende Nebeneinander von sprachlich gleichwertigen Varianten musste schließlich einem (zumindest in der Theorie) uniformen Standard weichen. In Anbetracht der Tatsache, dass dieser Prozess erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts oder sogar erst im 19. Jahrhundert vollständig abgeschlossen war (vgl. Elspaß 2014: 310), waren die Lehrwerksautoren mit einer noch nicht normierten Sprache konfrontiert. Hinsichtlich der Normfrage ist dabei insbesondere von Interesse, wie die Autoren der Lehrwerke mit dieser Variation umgegangen sind beziehungsweise ob diese überhaupt eine Rolle gespielt hat. Denn um Variation als solche zu erkennen, muss zumindest ein gewisses Bewusstsein für eine Norm vorhanden sein. Dieses entwickelte sich langsam im Rahmen des Erstarkens der Volkssprachen seit dem 16. Jahrhundert, wurde aber erst im Laufe des 17. Jahrhunderts immer differenzierter. Das Nachdenken und Diskutieren über Sprache erreichte schließlich erst im 18. Jahrhundert einen vorläufigen Höhepunkt, der auch die Entwicklung des Normbewusstseins maßgeblich beeinflusst hat (vgl. Scharloth 2005). Aus diesem Grund richtet sich das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit neben der Norm auch auf die Untersuchung der Variation und des Variationsbewusstseins. Obwohl sich das Bewusstsein für Normen erst im Laufe der Frühen Neuzeit entfaltet, beschäftigten sich die gelehrten Grammatiker schon früh mit der sprachlichen Variation. Schneider-Mizony (2010) untersucht in diesem Zusammenhang die Markierungspraxis sprachlicher Variation in den Grammatiken des 16. und 17. Jahrhunderts und legt den Fokus dabei auf die Prozesse, die zur Aussonderung von Varianten verwendet wurden. Neben der abnehmenden Toleranz gegenüber Variation sowie der Reduktion von Varianten beobachtet sie vor allem eine Funktionalisierung dieser Varianten (vgl. Schneider-Mizony 2010: 787). Der Umgang der Sprachlehrwerksautoren mit konkreten Varianten ist laut Klatte (2008) weniger streng. Klatte (2008: 67) untersucht anhand der deutsch-

Explizite Markierung von Varianten – eine quantitative Analyse  

tschechischen Sprachlehrwerke die Verwendung von äquivalenten Ausdrücken und schließt auf dieser Grundlage auf ein vorhandenes Sprachbewusstsein der Autoren für die unterschiedlichen Strukturen von Sprache. Weitere ausführlichere Untersuchungen der Verwendung von Varianten existieren jedoch bisher nicht. Ein Teil der bestehenden Forschungslücke wird mithilfe dieser Arbeit geschlossen, indem die Kennzeichnung von Varianten durch die Autoren und deren Bewusstsein für Variation beleuchtet werden. Für die grundlegende Begriffsbestimmung wird auf Lenz und Plewnia (2010: 14) zurückgegriffen, die zwischen Variabilität und Variation unterscheiden: „While variability refers to the general coexistence of alternative language units in a heterogeneous system and its varieties, variation means the concrete realization of variability in concrete language use.“ Für die Beschreibung des variablen Systems Sprache wird im Folgenden der Terminus Variation verwendet, für die daraus resultierenden Subsysteme von Sprache Varietäten. Die konkrete Realisierung einer Form soll hier als Variante bezeichnet werden. Im Rahmen dieser Arbeit werden sowohl die Variation als auch die Verwendung von konkreten Varianten beleuchtet. Damit kann neben der objektsprachlichen auch die metasprachliche Ebene berücksichtigt werden. Die objektsprachliche Ebene untersucht anhand einer quantitativen Studie die explizite Kennzeichnung und Typologie von sprachlichen Varianten. Da allein die Verwendung von Varianten im Sprachgebrauch als Evidenz für ein Bewusstsein für Variation jedoch nicht ausreichend ist, wird zusätzlich die metasprachliche Ebene erörtert. Auf diese Herausforderung weist auch Filatkina (2015: 71) in einer Untersuchung zu russisch-niederdeutschen Lehrwerken hin. Bei der Untersuchung von historischem Sprachbewusstsein seien vor allem metakommunikative Äußerungen von Bedeutung. Aus diesem Grund beschäftigt sich die metasprachliche Ebene mit den Äußerungen und Kommentaren der Autoren, um auf diese Weise das Bewusstsein der Autoren für die Variation und möglicherweise sogar für daraus resultierende Varietäten in der Sprache zu analysieren.

. Explizite Markierung von Varianten – eine quantitative Analyse Ziel dieses Kapitels ist es, die explizite Kennzeichnung von lexikalischen, grammatischen und graphematischen Varianten im Sprachgebrauch innerhalb der Lehrwerke darzulegen. Die Grundlage dafür bilden die 56 Werke des erstellten Korpus (vgl. Kap. 3.3). Die Dialoge und die Grammatikteile werden dabei separat untersucht, da nicht alle Sprachlehrwerke über eine Grammatik verfügen beziehungsweise das Verhältnis von Grammatik und Dialog sehr stark vari-

  Variation und Sprachbewusstsein ieren kann. Des Weiteren sind die Belegzahlen für Varianten in der Grammatik deutlich geringer; in vielen Lehrwerken werden sogar keinerlei Varianten im Grammatikteil verwendet. Aus diesem Grund liegt der Fokus auf der Verwendung von Varianten innerhalb der Dialoge und die Auswertung der Varianten in der Grammatik erfolgt ausschließlich qualitativ. Unter Variante wird in diesem Fall das gleichzeitige Nebeneinander von zwei oder mehr funktional äquivalenten Formen verstanden, also konkrete Realisierungsalternativen im Sprachgebrauch. Für die Annotation der Varianten musste eine manuelle Vorgehensweise gewählt werden, da das Korpus (noch) nicht in maschinenlesbarer Form vorliegt. Aus Praktikabilitätsgründen wurden daher nur Varianten betrachtet, die durch den Autor mithilfe des Layouts als solche gekennzeichnet wurden. Dies geschieht in den Lehrwerken vornehmlich mithilfe von Klammern (Abb. 15). Möglich sind darüber hinaus jedoch auch Schrägstriche (Abb. 16) sowie lexikalische Kennzeichnung durch oder, ou, vel (Abb. 17) oder ein Wechsel der Schriftart.

Abb. 15: Variantenkennzeichnung durch Klammern bei Kramer (1688: 34)

Abb. 16: Variantenkennzeichnung durch Schrägstrich bei Ernesti (1674: 164)

Explizite Markierung von Varianten – eine quantitative Analyse  

Abb. 17: Variantenkennzeichnung durch oder bei Martin (1663: 202)

Bis auf wenige Ausnahmen entscheidet sich der Autor für eine Form der Variantenkennzeichnung und hält diese konsequent ein. Eine Abweichung stellt Ernesti (1674) dar: Er kennzeichnet Varianten mithilfe von Schrägstrichen wie im obigen Beispiel (Abb. 16), zusätzlich wählt er aber auch Klammern, um Varianten anzugeben. Klammern setzt er außerdem ein, um die jeweils feminine Form sowohl im Deutschen als auch im Polnischen zu benennen (Abb. 18).

Abb. 18: Feminine Formen bei Ernesti (1674: 162)

Um eine Vergleichbarkeit der Variantenverwendung zwischen den unterschiedlichen Lehrwerken zu gewährleisten, wird als Maß der Variantenindex (im Folgenden V-Index genannt) eingeführt. Der V-Index gibt Auskunft über die durchschnittliche Anzahl der Varianten pro Seite und errechnet sich durch die Summe der Varianten geteilt durch die Seitenanzahl des Werkes. 40  40 Da die Werke bisher leider nicht in maschinenlesbarer Form vorliegen, wurde hier als Vergleichseinheit die Seite gewählt. Diese Entscheidung beruht auf einer stichprobenartigen Untersuchung von fünf Lehrwerken. Die Auszählung der Token von jeweils drei unterschiedlichen Seiten in jedem Werk hat eine Abweichung hinsichtlich der Tokenanzahl von lediglich zwei bis maximal acht Prozent ergeben. Eine Auswertung pro Token wäre sicherlich etwas exakter, würde aber unverhältnismäßig mehr Zeit in Anspruch nehmen. Die Seite als Vergleichspunkt zu wählen, ist daher legitim.

  Variation und Sprachbewusstsein Für die Berechnung wurden die Dialoge zunächst systematisch annotiert und alle typografisch markierten Varianten innerhalb der Dialoge gekennzeichnet.41 Da die Lehrwerke sowohl in Bezug auf die Anzahl der Dialogseiten (von 18 bis 837 Seiten) als auch in Bezug auf die Anzahl der verwendeten Varianten (0 bis > 250) sehr stark variieren und nicht automatisiert durchsucht werden konnten, wurde das manuelle Vorgehen operationalisiert: Jeder Dialog wurde auf die Verwendung von Varianten bis zu einem Limit von 50 Varianten durchsucht. Beim Erreichen der 50 Varianten vor Ende des Dialogteils wurde für die Ermittlung des V-Index diese Seitenzahl verwendet. Wurden die 50 Varianten nicht bis zum Ende des Dialogteils erreicht, errechnet sich der Quotient mit der reduzierten Variantenanzahl. Das manuelle Vorgehen birgt einerseits das Risiko, dass einige Varianten übersehen werden. Andererseits lassen sich so auch Varianten finden, die vom Autor lediglich mithilfe eines (in den frühneuzeitlichen Texten vornehmlich als Virgel verwendeten) Schrägstrichs gekennzeichnet wurden oder auch Varianten, die graphisch gar nicht markiert wurden. Eine vollständig fehlende Markierung einer Variante wie im folgenden Beispiel (Tab. 11) von Duez (1669) kommt jedoch nur äußerst selten vor: Duez (1669: 616) nennt hier als Übersetzung von esprit sowohl geist als auch gemüth, ohne die Variante typografisch zu markieren. Dass es sich hier um eine Variante handelt und nicht um eine Fortführung des Satzes, zeigt auch die fehlende Kongruenz von guter und gemüth. Tab. 11: Variante im Deutschen ohne Kennzeichnung bei Duez (1669: 616) Et sous un meschant habit gist souvent un bon esprit.

Und vnder einem boͤ sen kleid liegt offt ein guter geist oder gemuͤ th.

Für diesen Teil der Analyse werden ausschließlich Varianten innerhalb der Dialoge berücksichtigt. Darüber hinaus muss es sich um Varianten im engeren Sinne handeln. Wenn in einigen Lehrwerken also die Dialogstruktur aufgebrochen wird und der Autor alternative Formulierungen desselben Sachverhalts in allen Sprachen oder Varianten auf der paradigmatischen Ebene nennt, liegen keine Varianten im engeren Sinne vor, da sie nicht die gleiche Funktion erfüllen beziehungsweise in vielen Fällen nicht eindeutig vom eigentlichen Dialog abzugrenzen sind. Zur Verdeutlichung werden im Folgenden einige Beispiele angeführt.  41 Die Annotation erfolgte manuell mithilfe einer Bildannotation in Adobe Acrobat.

Explizite Markierung von Varianten – eine quantitative Analyse  

Canel (1689: 152, 1697: 175f) zeigt beispielsweise im deutschen sowie im französischen Dialogteil unterschiedliche Möglichkeiten auf, um nach der Uhrzeit zu fragen und gibt zusätzlich verschiedene Antwortmöglichkeiten auf diese Frage an (Tab. 12). Tab. 12: Antwortmöglichkeiten bei Canel (1697: 175f) quele heure est - il à present? Il est environ set heures. quele heure peut - il bien etre? set heures vienent de soner. il est prés de set heures & demi il n’est pas loin de huit heures.

Was ist anjetzo die Uhr? Es ist ungefehr sieben? Was mag die Uhr wohl seyn? Es hat eben sieben geschlagen? Es ist bald halb achte. Es ist nicht weit von achten. Es wird bald achte schlagen.

Auch Duez (1653: 627) nutzt an unterschiedlichen Stellen Phrasencluster, um Formulierungsalternativen für einen Sachverhalt zu nennen (Abb. 19).

Abb. 19: Formulierungsalternativen bei Duez (1653: 627)

  Variation und Sprachbewusstsein Ferner verwenden die Autoren an einigen Stellen diskontinuierliche Dialogstrukturen und nennen paradigmatische Varianten. Diese fügen sich entweder ohne Auffälligkeiten des Layouts in die dialogische Struktur ein oder sind durch geschweifte oder eckige Klammern gekennzeichnet. So nennt Otliker (1687a: 60) im deutschen sowie im französischen Dialogteil auf die Frage „Wo komt ihr her?“ als Antwortmöglichkeiten „aus der Schulen, aus der Kirchen und von dem Marckt“. Und auch Martin (1660) bricht immer wieder die Dialogstruktur auf, um den Lernenden z.B. die Vokabeln für die unterschiedlichen Arten von Suppe im Deutschen und im Französischen näherzubringen (Abb. 20). Aufgrund der nicht vorhandenen Bedeutungsäquivalenz handelt es sich in diesen Fällen ebenfalls nicht um Varianten im engeren Sinne.42 Aufgenommen werden lediglich bedeutungsäquivalente Formen.

Abb. 20: Paradigmatische Alternativen bei Martin (1660: 80)

Die Autoren verwenden die Klammern jedoch nicht nur zur Angabe von Varianten, sondern teilweise auch für Erläuterungen oder Abkürzungen. So ergänzt Kramer (1708: 30) in der italienischen Übersetzung des Dialoges das „Vossignoria“ durch die Abkürzung „(V.S.)“. In manchen Werken werden zusätzlich kurze Kommentare zum Gebrauch oder zur Übersetzung in Klammern angegeben. Diese gelten logischerweise ebenfalls nicht als Varianten (25 & 26).

 42 Obgleich es sich dabei nicht um Varianten handelt, können diese Formen für das Normkonzept der Lehrwerke von Bedeutung sein. Sie verdeutlichen abermals die Alltagskommunikation und die Verständigung in der Fremdsprache als Lernziel der Lehrwerke und vermitteln die für diesen Zweck notwendigen Vokabeln und Phrasen.

Explizite Markierung von Varianten – eine quantitative Analyse  

(25) ie vous feray present d’vne pinte de vin de satin, ou de veloux, (comme l’appellent les bonnes gueules fresches:) (Martin 1660: 70) (26) Ihr eylet nicht ohne Ursach so sehr aus Hispanien/ in Betrachtung die Wirtshäuser daselbst (wann man je gantz oͤ de Hauser Wirthshaͤ user nennen soll) so schlecht (Anonym 1679: 204)

Um mögliche Einflussfaktoren auf die Setzung von Varianten zu eruieren, wurden die annotierten Varianten mit Informationen zu den Metadaten Autor, Muttersprache des Autors, Jahr der Veröffentlichung und Zielsprache des Werkes sowie der sprachlichen Ebene und der Sprache der Variante versehen. Unter Wertung wurde vermerkt, ob die Variante wertend oder wertneutral formuliert wurde. Schließlich wurden die Varianten noch einer von drei Kategorien 43 zugeordnet. 1. lexikalisch 2. grammatisch 3. graphematisch

.. Verwendung von Varianten in Dialogen Als Ergebnis dieser Analyse wurden insgesamt 794 Varianten in 56 Werken ermittelt; dabei existieren in 22 der untersuchten Werke keinerlei Varianten: Die Fremdsprachenlehrwerke sind folglich hinsichtlich der Varianten nicht einheitlich konzipiert. Es kann zwischen zwei Arten von Werken unterschieden werden: Werke ohne Varianten und Werke, in denen der Autor der noch nicht normierten Sprache Rechenschaft trägt und Varianten inkludiert. In der ersten Option spielt das Thema sprachliche Variation scheinbar keine Rolle – zumindest nicht auf der Ebene der konkreten Nennung von Varianten. Eine weitere Erklärung könnte aber auch der bewusste Verzicht auf Varianten zwecks didaktischer Reduktion sein. Die anderen Werke thematisieren mehr oder weniger stark die sprachliche Variation anhand der in Klammern angegebenen Alternativen. Mithilfe der zu Beginn des Kapitels aufgezeigten Methode wurde schließlich für jedes Werk der V-Index (durchschnittliche Varianten pro Seite) berechnet. Dieser beträgt für die 56 analysierten Werke im Schnitt 0,36. Das bedeutet, dass auf jeder Dialogseite im Schnitt 0,36 Varianten vorkommen. Aufgrund der  43 Die genaue Erläuterung der drei Kategorien mit Beispielen kann im anschließenden Auswertungsteil nachgelesen werden.

  Variation und Sprachbewusstsein geringen Anzahl an Datenpunkten44 erfolgt für die Varianten die Auswertung vorwiegend mittels einer deskriptiven Statistik. Diachrone Entwicklung In Anbetracht der Tatsache, dass sich das Bewusstsein für Variation erst im Laufe der Frühen Neuzeit herausgebildet hat, ist insbesondere die Verwendung von Varianten im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts von Interesse. Abbildung 21 veranschaulicht, dass die Nennung von Varianten sukzessive zunimmt. Während im 16. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts relativ wenige Varianten zu finden sind, steigt die Anzahl in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stetig an. Allerdings unterliegt die Verwendung der Varianten auch im späteren Zeitraum immer wieder Schwankungen. Die Aussagen über den ersten Zeitschnitt sind jedoch aufgrund der geringen Belegzahl nur bedingt aussagekräftig.

 44 Durch dieses Vorgehen liegen schließlich 56 V-Indizes mit sechs potentiellen unabhängigen Variablen (Autor, Muttersprache des Autors, Jahr der Veröffentlichung, Zielsprache des Werkes, sprachliche Ebene und Sprache der Variante) mit jeweils bis zu elf Merkmalsausprägungen vor. Eine weiterführende Statistik in Form eines multivariaten Modells wäre in diesem Fall nicht zielführend.

Explizite Markierung von Varianten – eine quantitative Analyse  

Zeitschnitt

– n=

– n = 

– n = 

– n = 

V-Index

,

,

,

,

Abb. 21: V-Index pro Werk in Abhängigkeit vom Veröffentlichungsjahr45

Die beiden Ausnahmen in den Jahren 1679 und 1708 mit den V-Indizes von 5 und 5,56 sind jeweils Matthias Kramer zuzuordnen. Dieser gibt in seinem deutsch-italienischen sowie in seinem deutsch-französischen Lehrwerk zahlreiche Varianten an, wobei es sich in erster Linie um lexikalische handelt. Um den linearen Zusammenhang zwischen dem Veröffentlichungsjahr und dem V-Index zu validieren, wurde zusätzlich eine lineare Regression gerechnet, die einen signifikanten Zusammenhang zwischen Veröffentlichungsjahr und VIndex bestätigt.46 Folglich nimmt die Verwendung der Varianten im Laufe der Jahre allmählich zu. Als mögliche Erklärung für diese Zunahme sind zweierlei Aspekte denkbar: Vor allem innerhalb des 17. Jahrhunderts kann eine Entwick 45 In dieser Grafik bildet jeder Punkt ein Werk ab. Die Anzahl der zugrundeliegenden Varianten pro Zeitschnitt findet sich in der Tabelle der Abbildung. 46 Für das Berechnen der Regression wurde nach der Überprüfung des Vorliegens des linearen Zusammenhangs die lm-Funktion in R genutzt: p-Wert: 0,04*, Pearson-Produkt-Moment-Korrelation: 0,27, R2: 0,07.

  Variation und Sprachbewusstsein lung der Sprachlehrwerke in Bezug auf ihre Konzeption festgestellt werden. Die Lehrwerke werden sowohl hinsichtlich der Dialoge als auch in Bezug auf die Grammatik elaborierter, aber gleichzeitig auch strukturierter. Dieser Aspekt würde auf eine zunehmende Professionalisierung der Autoren hindeuten. Sie versuchen, das Erlernen einer Fremdsprache möglichst praxisnah zu gestalten (vgl. Kap. 3). In diesem Kontext ist auch die Verwendung von Varianten plausibel, die die Lernenden mit variierenden Ausdrucksweisen vertraut machen können. Zugleich kann auch ein zunehmendes Bewusstsein für die langsam entstehende Norm die Zunahme an Varianten bedingen. Je bewusster sich der Autor der entstehenden Norm ist, desto bewusster wird er sich vermutlich auch der existierenden Varianten. An dieser Stelle kann über die genannten Gründe lediglich spekuliert werden, allerdings liefern die im Laufe dieses Kapitels erläuterten Faktoren weitere Indizien für beide Erklärungsansätze. Sprachliche Ebenen Die folgende Abbildung (Abb. 22) zeigt die Ebenen, denen die Varianten zuzuordnen sind. Dabei handelt es sich in erster Linie um lexikalische Varianten (93 %). Ferner liegen 6 % grammatische Varianten vor und in nur 1 % der Fälle handelt es sich um graphematische Varianten.

Abb. 22: Verteilung der Varianten nach sprachlichen Ebenen (N = 794)

Die lexikalischen Varianten umfassen in den meisten Fällen Übersetzungsalternativen oder nicht obligatorische Ergänzungen. So nennt Chirchmair (1703: 216)

Explizite Markierung von Varianten – eine quantitative Analyse  

als lexikalische Variante zu verzeihet in Klammern vergebet. Erberg (1703: 116) übersetzt das italienische amico im Deutschen nicht nur mit Freund, sondern auch mit guter Freund. Ferner existieren auch alternative Formulierungen ganzer Phrasen oder kompletter Sätze wie bei Buisson (1686) (vgl. Tab. 13). Tab. 13: Varianten bei Buisson (1686: 164) Je préfere toujours le fruit aus fleurs. (j’aime plus les fruits que les fleurs.)

Ich halte allezeit mehr von den Fruͤ chten/als von den Blumen.

Darüber hinaus werden auch Ellipsen zu den lexikalischen Varianten gezählt, da das Element in Klammern ergänzt werden kann, aber die Äußerung auch ohne Ergänzung verwendbar ist (27). (27) Das ist nichts neues (zu sehen).

(Anonym 1693: 72)

Den zweitgrößten Anteil bilden mit 6 % die Varianten auf grammatikalischer Ebene. Die Beispiele (28–32) zeigen unterschiedliche Formen auf Wort- oder auf Satzebene. Dazu zählen unter anderem Varianten für die Pluralbildung (28), zur Verwendung von Präpositionen (29) oder unterschiedliche Möglichkeiten der Tempusbildung (30, 31, 32). Aufgrund der teilweise geringen Belegzahl wurden diese Varianten nicht weiter untergliedert. (28) Es kann nicht seyn, dan ich hab sie lassen in anderen orthen [örtheren] (Chirchmair 1703: 225) (29) Gebt mir zutrincKen, und ( von dem ) frischen vvein.

(30) Dieu vois benie (benisse) Messieurs

(31) jo vado (vò) à casa

(32) Dieu m’eu garde (ou) je me garderay biē de faire

(Chirchmair 1703: 230)

(Duez 1639: 150f)

(Kramer 1708: 32)

(Parival 1670: 85)

  Variation und Sprachbewusstsein Den geringsten Anteil mit lediglich 1 % stellen schließlich die graphematischen Varianten dar, welche alternative Schreibungen des gleichen Lexems wie in den Beispielen (33) und (34) umfassen. Dass sich diese Schreibung unter Umständen auf die Aussprache auswirken kann (wie in Beispiel (34)), wird von den Autoren allerdings nicht thematisiert. Aus diesem Grund werden Varianten dieser Art zu den graphematischen Varianten gezählt. (33) Jo lo vidi (viddi) hieri.

(34) dont estant vn jour interrogé (ou interrogué) par l’Empereur Frideric

(Kramer 1708: 31)

(Duez 1639: 109)

Die Verteilung der Varianten hinsichtlich der drei Ebenen verhält sich analog zu dem übergeordneten Lernziel der Werke (vgl. 3.1.3). In Anbetracht der Tatsache, dass die Dialoge der Vermittlung von Alltagskommunikation in der Fremdsprache dienen, sind Formulierungsalternativen auf lexikalischer Ebene besonders hilfreich. Das gilt insbesondere für die Rezeption der Fremdsprachen, da auf diese Weise immerhin passiv ein möglichst umfangreicher Wortschatz aufgebaut werden kann. Sprachen Vor dem Hintergrund der Mehrsprachigkeit der Werke ist auch von Interesse, in welchen Sprachen die Varianten vorkommen. Abbildung 23 veranschaulicht deshalb die Verteilung in Abhängigkeit der Sprache und zeigt, dass 50 % der Varianten im deutschen und 22 % im französischen Dialogteil zu finden sind. Ferner werden auch Varianten für das Italienische, Tschechische, Englische und Lateinische abgebildet. Diese Ergebnisse werden hier der Vollständigkeit halber angeführt, sind jedoch hinsichtlich ihrer Quantität nur wenig aussagekräftig, da die Anteile der Sprachen im Korpus nicht ausgewogen sind. Aufgrund der Tatsache, dass jedes der Lehrwerke Deutsch enthält, ist es wenig verwunderlich, dass die Hälfte der Varianten im deutschen Dialogteil zu finden ist. Die häufigste Sprachenkombination im Korpus ist Deutsch und Französisch, was die Anzahl an französischen Varianten erklären kann. Für die Ermittlung eines exakteren Einflusses der Sprache auf die Nennung der Varianten wäre vor allem ein maschinenlesbares Korpus hilfreich, um die genauen Relationen von Varianten und Wörtern zu ermitteln.

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Abb. 23: Verteilung der Varianten nach Sprache (N = 794)

Zielsprache Aussagekräftiger als die Varianten pro Sprache sind die Varianten in Abhängigkeit der Zielsprache47 des Werkes. Daher wurde die Sprache der jeweiligen Variante mit der Zielsprache des Werkes korreliert.48 Als Ergebnis zeichnet sich eine deutliche Übereinstimmung von Variantensprache und Zielsprache ab: Während in Werken mit deutscher Zielsprache mit 96 % die deutschen Varianten dominieren, betreffen bei den Werken für Französischlernende 64 % der Varianten das Französische und bei den Werken für Italienischlernende 83 % das Italienische. Nur bei den polnischen Lehrwerken sind die Sprachen der Varianten ausgewogen (vgl. Abb. 24). Die Unterschiede zwischen Deutsch und Französisch, Deutsch und Italienisch sowie Deutsch und Polnisch sind jeweils signifikant.49 Lediglich der hohe Anteil der tschechischen Varianten in Lehrwerken  47 Zur Ermittlung der Zielsprache siehe Kapitel 3.3. 48 Wenn die Zielsprache des Werkes nicht eindeutig genannt wird beziehungsweise nicht eindeutig aus dem Werk zu entnehmen ist, wurden alle enthaltenen Sprachen als Zielsprachen gewertet. 49 Deutsch – Französisch: χ2 (1) = 89,3*****, p