Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen 9783787325474, 3787325476

In seiner großen Nietzsche-Studie interpretiert Karl Löwith Nietzsches gesamte Philosophie als geschichtsphilosophischen

103 32 15MB

German Pages 249 Year 1986

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur ersten Ausgabe
Vorwort zur zweiten Ausgabe
I Nietzsches Philosophie: ein System in Aphorismen
II Die Periodisierung von Nietzsches Schriften
III Der einheitstiftende Grundgedanke in Nietzsches Philosophie
1. Kapitel: Die Befreiung vom "Du sollst" zum "Ich will"
2. Kapitel: Die Befreiung vom "Ich will" zum "Ich bin" des Weltenkindes
a) Der Tod Gottes und die Wahrsagung des Nihilismus
b) "Mittag und Ewigkeit" oder die Wahrsagung der ewigen Wiederkehr
§ 1. Die Umkehr des Willens zum Nichts in das Wollen der ewigen Wiederkehr
§ 2. Die ewige Wiederkehr in der Gleichnisrede des Zarathustra
§ 3. Die zweifache Gleichung für das Gleichnis der ewigen Wiederkehr
Die anthropologische Gleichung
Die kosmologische Gleichung
§ 4. Die problematische Einheit im Zwiespalt der zweifachen Gleichung
IV Die antichristliche Wiederholung der Antike auf der Spitze der Modernität
V "Wie man wird, was man ist" im Gedanken der ewigen Wiederkehr
VI Der problematische Zusammenhang zwischen dem Dasein des Menschen und dem Sein der Welt in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie
VII Die ewige Wiederkehr des Gleichen und die Wiederholung des Selben
VIII Der kritische Maßstab für Nietzsches Experiment
Anhang: Zur Geschichte der Nietzsche-Deutung (1894-1954)
Schriftennachweis und Anmerkungen
Namenverzeichnis
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Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen
 9783787325474, 3787325476

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Karl Löwith Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen

Karl Löwith Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen

KARL LÖWITH

Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen

Vierte, durchgesehene Auflage

FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit 4. durchgesehenen Auflage von 1986 identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0711-1 ISBN eBook: 978-3-7873-2547-4

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1986. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­f rei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Kurt Riezler zum Gedächtnis

t

6. 9. 1955

Inhalt Vorwort zur ersten Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort zur zweiten Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nietzsches Philosophie: ein System in Aphorismen

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II Die Periodisierung von Nietzsches Schriften . . . . . . . . . 25 III Der einheitstiftende Grundgedanke in Nietzsches Philosophie 1. Kapitel: Die Befreiung vom "Ich will" . . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Die Befreiung vom des Weltenkindes. . . . . . .

"Du sollst" zum . . . . . . . . . . . . . 31 "Ich will" zum ,,Ich bin" . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

a) Der Tod Gottes und die Wahrsagung des Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) "Mittag und Ewigkeit" oder die Wahrsagung der ewigen Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Die Umkehr des Willens zum Nichts in das Wollen der ewigen Wiederkehr . . . . . . . . § 2. Die ewige Wiederkehr in der Gleichnisrede des Zarathustra . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3. Die zweifache Gleichung für das Gleichnis der ewigen Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . Die anthropologische Gleichung. . . . . . . Die kosmologische Gleichung . . . . . . . . § 4. Die problematische Einheit im Zwiespalt der zweifachen Gleichung . . . . . . . . . . .

40 . . 59 . . 60 64 . . 86 . . 88 . . 92 99

IV Die antichristliche Wiederholung der Antike auf der Spitze der Modernität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 V "Wie man wird, was man ist" im Gedanken der ewigen Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 VI Der problematische Zusammenhang zwischen dem Dasein des Menschen und dem Sein der Welt in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 VII Die ewige Wiederkehr des Gleichen und die Wiederholung des Seiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

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Inhalt

VIII Der kritische Maßstab für Nietzsches Experiment . . . . . 1 79 Anhang: Zur Geschichte der Nietzsche-Deutung (1894-1954) 199 Schriftennachweis und Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

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Vorwort zur ersten Ausgabe "Mein Werk hat Zeit-, und mit dem, was diese Gegenwart als ZU lösen hat, will im durmaus nimt verwemseit sein. Fünfzig Jahre später werden vielleimt einigen ... die Augen dafür aufgehen, was durch mich getan ist. Augenblicklim aber ist es nimt nur smwer, sondern durchaus unmöglich (nam den Gesetzen der Perspektive) von mir öffentlich zu reden, ohne grenzenlos hinterder Wahrheit zurückzubleiben." (Venedig 1884)

ihre Aufgabe

Im letzten Kapitel seiner Schrift hat Nietzsche der Welt erklärt, warum er ein "Schicksal" sei: sein eigenes, einsamstes, wie unser aller öffentliches und gemeinsames. "Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleimt, liegt in seinem Verhängnis: im bin, um es in Rätselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe im nom und werde alt. Diese doppelte Herkunft, gleimsam aus der obersten und der untersten Sprosse an der Leiter des Lebens, decadent zugleim und Anfang - dies, wenn irgend etwas, erklärt jene Neutralität, jene Freiheit von Partei im Verhältnis zum Gesamtproblem des Lebens, die mim vielleimt auszeimnet. Im habe für die Zeimen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin der Lehrer par excellence hierfür - ich kenne Beides, im bin Bei des." 1 So "zwismen Heute und Morgen hingestellt" und "in den Widersprum zwismen Heute und Morgen hineingespannt" wußte er sich als eine Frühgeburt des kommenden Jahrhunderts und einer nom unbewiesenen Zukunft. Er ließ deshalb im Zarathustra die Frage offen, was er nun eigentlim sei: ein Versprechender oder ein Erfüller, ein Erobernder oder ein Erbender, ein Herbst oder eine Pflugsmar, ein Arzt oder ein Genesener, ein Dimter oder ein Wahrhaftiger, ein Befreier oder ein Bändiger - weil er wußte, daß er weder das eine nom das andere, sondern beides ineins war. So zweideutig wie Nietzsme selbst ist aber auch seine Philosophie als eine doppelte "Wahrsagung" des Nihilismus und der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Diese Lehre war bewußtermaßen sein "Smicksal", weil sein Wille zum Nimts als ein "doppelterWille" zurück zum Sein der Ewigkeit wollte. Ohne Verständnis für diese Bewegung des "neuen Kolumbus" zum Untergang der Sonne des Seins am Rande des Nimts, um neu hervorzugehen am Rande des Seins, wurde Nietzsche nachgesagt, daß er die schrankenlose Freiheit des auf sich gestellten Individuums oder auch eine neue Gesetz-

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Vorwort zur ersten Ausgabe

gebung und Rangordnung, daß er einen "heroismen Realismus" oder aum eine Philosophie des "Orgiasmus" lehre, um von nom kürzer gegriffenen Ausdeutungen ganz ZU smweigen. Nom immer gilt Zarathustras Wort: "Sie reden alle von mir ... aber niemand denkt- an mim! Dies ist die neue Stille, die im lernte; ihr Lärm um mim breitet einen Mantel über meine Gedanken." Entgegen diesen Verhüllungen seines Gedankens ist die vorliegende Interpretation ein Versum, Nietzsmes Aphorismen im verborgenen Ganzen ihrer eigentümlimen Problematik nam ihrem philosophismen Grundriß zu begreifen. Dieser methodism zusammenfassenden Absimt entsprimt der Verzimt auf den ausgebreiteten Reimturn einer Gesamtdarstellung. Das eigentlime Problem in Nietzsmes Philosophie ist aber im Grunde kein andres, als was es immer smon war: welmen Sinn hat das mensmlime Dasein im Ganzen des Seins? Um ein "Neuland der Seele" zu entdecken, hat sim Nietzsme aufs "offne Meer" gewagt, und als ein letzter Jünger des Gottes Dionysos, der "hömsten Art des Seins", wußte er sim smließlim im Wahnsinn gekreuzigt. - Es wäre naiv oder vermessen zu meinen, wir Namzügler seiner Vorläufersmaft hätten bereits eine Antwort auf seine leidensmaftlime Frage, als hätten wir bereits die "neuen Möglimkeiten des Lebens" entdeckt, um derentwillen Nietzsme bei seinem letzten "Entwurf einer neuen Art zu leben" eine älteste Ansmauung der Welt wiederholte. Was aber die Beurteilung dieses Experiments betriffi:, so kann folgende Stelle aus einem Briefe wegweisend sem: "Wenn Sie je darankommen sollten (es fehlt Ihnen ja an Zeit dazu, werter Freund!!) über mich etwas zu schreiben, so haben Sie die Klugheit, die leider noch niemand gehabt hat, mich zu charakterisieren, zu ,beschreiben', - nicht aber ,abzuwerten'. Es gibt dies eine angenehme Neutralität: es scheint mir, daß man sein Pathos dabei beiseite lassen darf und die feinere Geistigkeit um so mehr in die Hände bekommt. Ich bin noch nie charakterisiert- weder als Psychologe, noch als Schriflsteller (,Dichter' eingerechnet), noch als Erfinder einer neuen Art Pessimismus (eines dionysischen, aus der Stärke geborenen, der sich das Vergnügen macht, das Problem des Daseins an seinen Hörnern zu packen), noch als Immoralist (- die bisher höchsterreichte Form der ,intellektuellen Rechtschaffenheit', welche die Moral als Illusion behandeln darf, nachdem sie selbst Instinkt und Unvermeidlichkeit geworden ist -). Es ist durchaus nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir." 2

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Rom, Juni 1934.

Vorwort zur zweiten Ausgabe Nietzsche hat seit der Veröffentlichung des Zarathustra, mit der Gewißheit des von einer Aufgabe Besessenen, in dem Selbstbewußtsein gelebt, daß sein Werk Zeit habe. Er hat 1884 vorausgesagt, daß erst ein halbes Jahrhundert später sich Einigen eröffnen werde, was durch ihn getan wurde 1• Inzwischen ist die Zeit auch über Nietzsches "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" hinausgeschritten und der "Verzweiflungskrieg", zu dem er die Deutschen, durch eine antideutsche Liga, provozieren wollte 2, liegt bereits halbvergessen hinter uns. So sieht uns Nietzsche heute anders an als vor fünfzig Jahren, als sein Ruhm und seine Wirksamkeit im Aufstieg waren. Er steht uns noch nahe und er ist schon entfernt. Manche seiner Vorhersagen über die Zukunfl: Europas haben sich, obschon auf unvorgesehene Weise, erfüllt, und zu ihrer Zeit unerhört gewesene Aussagen sind zu Gemeinplätzen geworden, innerhalb derer sich alles gegenwärtige Denken bewegt. Er hat den "europäischen Nihilismus" nicht nur erstmals beim Namen genannt, sondern ihm auch zum Dasein verholfen und durch seine Besinnung eine geistige Atmosphäre geschaffen, in welcher der "Wille zur Macht" besinnungslos praktiziert werden konnte. Man hat nun aber lange genug mit "Dynamit" gesprengt und die Maxime "lebt gefährlich" gehorsam befolgt, als daß solche Grundsätze noch verführerisch ansprechen könnten. Die Zeit der Destruktion hat so gründlich ihr Werk getan, daß man es vorzieht, auf nicht vorhandenen Fundamenten an den Wiederaufbau zu gehen. Vergegenwärtigt man sich den Bedeutungswandel, den Nietzsches Bild und Werk erfahren hat, so zeigt sich eine Verlagerung des Schwergewichts in der Beurteilung und Einschätzung. Sie begann mit der Anerkennung des glänzenden Moralisten und Psychologen; sie gipfelte in der Zarathustra-Verehrung der jungen Generation des ersten Weltkriegs; sie überschlug sich in der Nietzsche-Karikatur des Dritten Reichs, das in der Tat "mit dem Hammer" philosophierte; sie endet mit der endgeschichtlichen These, daß sich in Nietzsche die gesamte Metaphysik des Abendlandes folgerichtig vollende. - Sie hätte "singen" sollen, diese neue Seele, hieß es 1908 in einem Gedicht von Stefan George; am "Zarathustrawesen" wird die Welt genesen, verkündete 1938 das gleichgeschaltete Nietzsche-Archiv; "Wer ist Nietzsches Zarathustra?" wird 1953 von einem Denker gefragt, der kein Bedenken hat, Nietzsche in

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Vorwort zur zweiten Ausgabe

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den Rang der größten europäischen Metaphysiker zu erheben und ihn, eben damit, in die Geschichte der "Seinsvergessenheit" einzugliedern 3 • Ist Nietzsche aber wirklich ein großer Denker oder ein verhinderter Dichter? Gemessen an Aristoteles und Hegel ist er ein leidenschaftlicher Dilettant, der als ein "Arzt der Kultur" gegen seine Zeit zugunsten einer kommenden wirken wollte und schließlich die Überzeugung gewann, Europas Zukunft in der Hand zu haben. Gemessen an Sophokles und Hölderlin sind Nietzsches Gedichte und Gleichnisreden, mit wenigen kostbaren Ausnahmen, die künstliche Einkleidung von "Gedankenerlebnissen". Nietzsche ist, im Vordergrund und der Breite nach, ein philosophischer Schriftsteller, so wie Kierkegaard ein religiöser war, aber ohne dessen Schulung im begrifflichen Denken. Sein Lehrer war nicht Hegel, sondern Schopenhauer. In der Tiefe und im Hintergrund ist Nietzsche aber dennoch ein wahrer Liebhaber der Weisheit, der als solcher das Immerseiende oder Ewige suchte und darum seine Zeit und die Zeitlichkeit überhaupt überwinden wollte. Die Fülle der Zeit, als ihm die Welt "vollkommen" ward, erlebte Nietzsche in einem ekstatischen Augenblick, dem er den Namen "Mittag und Ewigkeit" gab. Eine Ewigkeit um Mittag verneint nicht die Zeit, als wäre sie die zeitlose Ewigkeit Gottes vor der Erschaffung der Welt, sondern sie meint die Ewigkeit der Weltzeit selbst: den ewig wiederkehrenden Kreislauf des immer gleichen Entstehens und Vergehens, worin die Beständigkeit des "Seins" und der Wechsel des ,. Werdens" ein und dasselbe sind. Was ,.immer" ist, ist nicht zeitlos; was sich immer "gleich" bleibt, ist nicht zeitlich. In dieser so verstandenen Ewigkeit, ohne Anfang und Ende oder Ursprung und Ziel, ist vollkommen beisammen, was sonst in die Dimensionen der Zeit zeitlich verstreut ist. Nietzsches Lehre von der Überwindung der Zeitlichkeit der Zeit zur Ewigkeit der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist also weder eine bloße Flucht aus der Zeit noch ein bloßes Lob der Vergänglichkeit. Die Verkündigung dieser ,.neuen Ewigkeit"- neu nur im Verhältnis zur alten der Zeitlosigkeit - ist zu Nietzsches eigenster Lehre geworden und dem entspricht, daß der Zarathustra sein eigentliches Werk und ,. Testament" ist. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen liegt auch dem unvollendeten ,. Willen zur Macht", der ein "Versuch einer Umwertung aller Werte" ist, als tragender und abschließender Gedanke zugrunde. Die Umkehrung der Wahrheit des Nihilismus, das heißt der Entwertung aller obersten Werte, in die Wahrheit der ewigen Wiederkehr, ist das allgemeine Prinzip auch aller

besonderen Umwertungen. Der wesentliche Unterschied zwischen den Aufzeichnungen zur Wiederkunftslehre im "Willen zur Macht" und ihrer Verkündigung im Zarathustra ist jedoch der, daß diese im Gleichnis verdichtet, was jene gedanklich auseinandersetzen, wobei das gedichtete Gleichnis in seine ungleichen Bestandteile zerfällt.- Die Frage ist: ob und was wir aus Nietzsches Lehre trotzdem lernen können. Wer immer ihr nahe kam und Nietzsches unüberhörbares Zeugnis für ihre entscheidende Bedeutung ernst nahm, konnte nicht umhin zu versuchen, sich über ihren Sinn, oder Unsinn, Rechenschaft zu geben- sei es auch in der Weise, daß man sie als mystisch hinnahm, oder als Anzeichen des beginnenden Wahnsinns abtat. Die folgende Auslegung von Nietzsches ganzer Philosophie als einer Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist die Umarbeitung und Ergänzung einer Veröffentlichung des gleichen Titels vom Jahre 1935 4 • Sie legt nicht ein, sondern aus; sie entnimmt auch den kritischen Gesichtspunkt für die Auslegung der im Druck hervorgehobenen Texte nur diesen selbst, sofern sie in sich und miteinander unstimmig sind. Sie möchte den fundamentalen Widerspruch herausstellen, der darin gründet, daß Nietzsche die physische Wahrheit des notwendigen Kreislaufs der natürlichen Welt als eine "Wende der Not" wahrhaben wollte, so daß der Wille zur Macht bereits im Zarathustra, unter dem Titel "Von der Selbstüberwindung", ein wesentlicher Bestandteil des "Gesichts" der ewigen Wiederkunft wird, aber ohne sich diesem einzufügen. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist in sich selber so zwiespältig und zweideutig wie ihr zeitliches Sinnbild: der "Mittag". Er bedeutet als "Mittag und Ewigkeit" die höchste Zeit eines Stillstands und einer Vollkommenheit; er bedeutet aber auch, und vor allem, die höchste Zeit einer äußersten Not und Gefahr und als solcher eine kritische "Mitte", in der es um eine Entscheidung geht. An diesem Widerspruch bricht die erstaunliche Einheit und Folgerichtigkeit von Nietzsches Gedankengang auseinander. Unstimmigkeiten und Widersprüche mögen zwar belanglos erscheinen, wenn man die Logik des Satzes vom Widerspruch als unphilosophisch entbehren zu können vermeint und annimmt, daß Widersprüche und Zweideutigkeiten schon als solche ein Zeichen tieferer Einsicht seien. Der Widerspruch, der Nietzsches Denken bewegt, liegt aber weder auf der Ebene sich widersprechender, einzelner Sätze, noch im Umkreis jener zahllosen, polemisch bedingten Gegen-Sätze, die sich zwar durchweg in Nietzsches Schriften aufweisen, aber auch auflösen lassen, wenn man berücksichtigt, in wel-

Vorwort zur zweiten Ausgabe

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Vorwort zur zweiten Ausgabe

eher Absicht und wogegen jeweils etwas gesagt wird. Er ist, im Unterschied zu solchen formalen und scheinbaren Widersprüchen, ein wesentlicher und umfassender, der einem Grundkonflikt im Verhältnis von Mensch und Welt- ohne Gott und gemeinsame Schöpfungsordnung - entspringt. Um die Lösung dieses Konfliktes und um die Erlösung von ihm kreist von Anfang bis zu Ende die maßlose Anspannung von Nietzsches leidenschaftlichem Denken, das mehr ein versuchendes Experimentieren als ein erkennendes Ausführen ist. Die scheinbare Lösung erfolgt in der Weise, daß Nietzsche-Zarathustra den Zufall der eigenen, erlösungsbedürftigen Existenz in das Ganze der natürlichen Welt entwirft und seinen eigenen Willen zur Selbstüberwindung mit dem Sichselberwollen der Himmelswelt ekstatisch zum Einklang bringt. Sein Versuch, aus dem endlichen Nichts des sich selber wollenden Ich in das ewige Ganze des Seins zurückzufinden, mündet schließlich in der Verwechslung seiner selbst mit Gott, um den herum alles zur Welt wird 5 • Nietzsches Besinnung endet in einem Wahnsinn, von dem sich nicht einfach entscheiden läßt, ob er ein sinnloser, äußerer Zufall war, oder ein ihm innerlich zugehöriges Schicksal, oder ein heiliger Wahnsinn, bei dessen Einbruch sich das Phänomen der dionysischen Raserei, dem Nietzsches erste Schrift gewidmet war, in ihm selber blitzartig verkörpert hat 6 , um dann im Stumpfsinn zu erlöschen. - "Und lieber gleich einer schwarzen halbzerstörten Veste allein auf seinem Berge sitzen, nachdenklich und still genug; also daß sich die Vögel selbst vor dieser Stille fürchten." 7 Carona, Oktober 1955

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I

Nietzsches Philosophie ein System in Aphorismen Nietzsdtes Philosophie ist weder ein einheitlich geschlossenes System noch eine Mannigfaltigkeit von auseinanderfallenden Aphorismen, sondern ein System in Aphorismen. Das Eigentümliche ihrer philosophischen Form kennzeichnet zugleich ihren Inhalt 1. Der systematische Charakter seiner Philosophie geht aus der bestimmten Art und Weise hervor, wie Nietzsdte sein philosophisches Experiment ansetzt, aushält und durchführt, der aphoristische aus dem Experimentieren als solchem. Aus diesem grundsätzlichen Experimentalcharakter seines Philosophierens ist auch der einfache Sinn seiner mehrfachen Wandlungen zu verstehen. Nietzsdte kennzeichnet einmal das ganze moderne Zeitalter als ein solches der Experimente. Dies gilt ihm nicht nur für künftige Züchtungsexperimente biologischer Art, sondern "ganze Teile der Erde" könnten sich "dem bewußten Experimentieren weihen" 2 • Geschichtlich schwebten ihm dabei die großen Entdecker und Experimentatoren der Renaissance vor, wagende und versuchende Geister wie Leonardo da Vinci und Kolumbus, mit dem er sich oftmals selber verglich, so wie Kant mit Kopernikus. Im seihen Sinne nennt Nietzsdte auch die neuen Philosophen "Versuchende", die sich aufs Ungewisse hin erproben, "um zu sehen, wie weit man damit kommt. Gleich dem Schiffer auf unbekanntem Meere" 3 • "Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: im wage es, sie auf einen nimt ungefährlimen Namen zu taufen. So wie im sie errate ... mömten diese Philosophen der Zukunft ein Remt, vielleimt aum ein Unremt darauf haben, als Versucher bezeimnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versum, und, wenn man will, eine Versumung." 4

Als ein Versudtender ist Nietzsdte-Zarathustra stets unterwegs, ein "Wanderer", der verschiedene Wege versucht und begeht, um zur Wahrheit zu kommen. "Auf vielerlei Weg und Weise kam im zu meiner Wahrheit ... Und ungern nur frage im stets nam Wegen ... Lieber fragte und versumte im die Wege selber. Ein Versumen und Fragen warallmein Gehen." 6

Versuchsweise nimmt Nietzsdtes Experimentalphilosophie die Mög-

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Ein System in Aphorismen

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lichkeit des grundsätzlichen Nihilismus vorweg - um zum Umgekehrten, dem ewigen Kreislauf des Seins, hindurchzukommen 8 • Aus dem experimentierenden Grundcharakter von Nietzsches Philosophie bestimmt sich auch der besondere Sinn seiner Kritik und Skepsis: beide stehen im Dienst der Erprobung. Seine Kritik ist der "Versuch" einer Umwertung aller bisherigen Werte und seine Skepsis eine solche der "verwegenen" Männlichkeit. "Gesetzt also, daß im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug zu raten gibt, ob sie nicht vielleicht . . . Skeptiker sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an ihnen bezeichnet - und nicht sie selbst. Mit dem gleichen Recht dürften sie sich Kritiker nennen lassen; und sicherlich werden es Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon ausdrücklich unterstrichen: geschah dies deshalb, weil sie, als Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments in einem neuen, vielleicht weitern, vielleicht gefährlichem Sinne zu bedienen lieben? ... Diese Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen Eigenschaften entraten dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben, ich meine die Sicherheit der W ertmaße, die bewußte Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Mut, das Alleinstehn und Sichverantwortenkönnen; ja sie gestehen bei sich eine Lust am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiß ... Sie werden härter sein (und vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen mögen, sie werden sich nicht mit der ,Wahrheit' einlassen, damit sie ihnen ,gefalle' oder sie ,erhebe' und ,begeistere' ... " 7 Diesen Experimentalcharakter seiner Philosophie hat Nietzsche von seinen ersten "Versuchsjahren" an bis zur Lehre von der ewigen Wiederkehr festgehalten; auch sie ist noch ein "letzter Versuch mit der Wahrheit" und Dionysos philosophos selbst ein "VersucherGott". Wäre Nietzsches Philosophie von Anfang an ein wohldurchdachtes System, so wäre seine Kritik des Systems nicht verständlich; wäre umgekehrt seine Philosophie eine bloße Folge von Aphorismen, so wäre nicht einzusehen, wie Nietzsche darauf bestehen konnte, daß von der Geburt der Tragödie an "Alles Eins ist und Eins will." Die neuere Ansicht, daß Nietzsche im Grunde ein systematischer Denker sei, ist ebenso richtig und falsch wie die ältere, daß er ein aphoristischer Schriftsteller sei; denn weder läßt sich verkennen, daß seine Schriften aus mehr oder minder entfalteten Aphorismen bestehen, noch dies, daß er das Ganze betreffende Pläne entwarf, durch die alle Bruchstücke zusammenhängen und zwar gerade in dem, wovon sowohl die systematische Interpretation wie der Verzicht auf sie absehen: in der Lehre von der ewigen Wiederkehr. Erst in ihr. als seinem letzten Experiment, fü~t sich

die Folge seiner Versuche mit systematischer Konsequenz zu einer "Lehre" zusammen. Nietzsche bekämpA: am philosophischen System nicht die methodische Einheit, welche ein "Grundwille der Erkenntnis" erzeugt, sondern daß es eine dogmatisch fixierte und "verklausulierte" Welt vortäuscht. Aus Mangel an Mut zum Problem verschließt der Philosoph des Systems die offenen Horizonte des versuchenden Untersuchens und Fragens. Der Kritik am System entspricht ein philosophischer Wille zur Neuentdeckung der Welt und zu offenen Horizonten des Fragens. Die unsystematische Form von Nietzsches Denken entspringt positiv aus seiner neuen Stellung zum Sein und zur Wahrheit. Alle früheren Menschen, selbst die Skeptiker, "hatten die Wahrheit", während das "Neue an unsrer jetzigen Stellung zur Philosophie" eine Oberzeugung ist, "die noch kein Zeitalter hatte", nämlich die, "daß wir die Wahrheit nicht haben" 8 • Weil "nichts mehr wahr", sondern "alles erlaubt" ist, macht Nietzsche einen neuen Versuch mit der Wahrheit, und die Redlichkeit des Versuchs tritt an die Stelle des unwahr gewordenen Sytems der Wahrheit habenden Zeiten. Die Wahrheit ist nicht mehr da im Vertrauen zum Sein in der Wahrheit, sondern im Mißtrauen gegen alle bis dahin geglaubt gewesene Wahrheit.

Ein System in Aphorismen

"Willst du denn der Lehrer des Mißtrauens gegen die Wahrheit sein? Pyrrhon: Des Mißtrauens, wie es nodt nie in der Welt war ... gegen Alles und Jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das redtte Auge darf dem linken nidtt trauen, und Lidtt wird eine Zeitlang Finsternis heißen müssen: dies ist der Weg, den ihr gehen müßt. Glaubt nidtt, daß er eudt zu Frudttbäumen und sdtönen Weiden führe. Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden- das sind die Wahrheiten." t

Diesen kleinen Körnern der Wahrheit entspricht das aphoristische "Fruchtkorn" der Sprache. Erst in der über-menschlichen Sprache des Zarathustra, im metaphysisch begründeten Gleichnis, beansprucht Nietzsche dann selbst: zu sein im Ganzen der Wahrheit 10 • Die versuchende Sprache des Experiments verwandelt sich in die Sprache der "Inspiration", um sich fortzusetzen in Entwürfen zu einem systematischen Hauptwerk. Bis zum Zarathustra hat sich Nietzsche jedoch an seinem experimentierenden Willen zu offenen Horizonten, der ihn sich immer neu überholen und überwinden ließ, im Ungewissen festgehalten. "Man bemerkt bei meinen früheren Schriften einen guten Willen zu unabgesdtlossenen Horizonten, eine gewisse kluge Vorsidtt vor Überzeugungen, ein Mißtrauen gegen die Bezauberungen und Gewissensüberlistungen, weldte jeder starke Glaube mit sidt bringt. Man mag darin zu einem Teile die Behutsamkeit des gebrannten Kindes ... sehen - wesentlidter sdteint mir der epikureisdte Instinkt eines Rätselfreundes, der den

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Ein System in Aphorismen

änigmatischen Charakter der Dinge sich nicht leichten Kaufs nehmen lassen will, - am wesentlichsten endlich ein ästhetischer Widerwille gegen die großen, tugendhaften, unbedingten Worte, ein Geschmack, der sich gegen alle plumpen, viereckigen Gegensätze zur Wehr setzt, ein gut Teil Unsicherheit in den Dingen wünscht und die Gegensätze wegnimmt, als Freund der Zwischenfarben, Schatten, Nachmittagslichter und endlosen Meere." 11

Aus diesem guten Willen zu offenen Horizonten ist Nietzsmes Kritik an der gesmlossenen Welt des Systems zu verstehen, sowie der Sinn seines "vorläufigen" Denkens und Redens im aphoristischen Kleinstück der Wahrheit. Der Wille zum System ist "jetzt" wo wieder einmal alles im Fluß ist und ein Tauwind das Eis und das Eis alle Stege bricht, ein "Mangel an Rechtschaffenheit". »Die vorläufigen "Wahrheiten. - Es ist ... eine Art Betrügerei, wenn jetzt ein Denker ein Ganzes von Erkenntnis, ein System hinstellt; - wir sind zu gut gewitzigt, um nicht den tiefsten Zweifel an der Möglichkeit eines solchen Ganzen in uns zu tragen. Es ist genug, wenn wir über ein Ganzes von Voraussetzungen der Methode übereinkommen, - über ,vorläufige Wahrheiten', nach deren Leitfaden wir arbeiten wollen: so wie der Schifffahrer im Weltmeer eine gewisse Richtung festhält." 12

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Der Wille zum System ist bei einem Philosophen, moralisch ausgedrückt, eine feinere Verderbtheit, unmoralisch ausgedrückt "sein Wille sich dümmer zu stellen, als er ist, dümmer, d. h.: stärker, einfacher, gebietender, ungebildeter, kommandierender, tyrannischer ... " "Ich bin nicht borniert genug zu einem System - und nicht einmal zu meinem System ... " 13 Indem die Systematiker ein System "ausfüllen wollen und den Horizont darum rund machen, müssen sie versuchen, ihre smwächeren Eigenschaften im Stile ihrer stärkeren auftreten zu lassen, - sie wollen vollständige und einartig starke Naturen darstellen" - das ist ihre "Smauspielerei" 14• Der Systematiker wohnt in einem "zurechtgezimmerten und festgeglaubten Hause der Erkenntnis" 15, er läßt sich die Wahrheit im Spiele des Zufalls entgehen. Sein Grundvorurteil ist, daß das "wahre Sein" in sich selber einartig, geordnet und systematisch gesimert sei, so daß man Zutrauen zu ihm haben könne 1e. Was er will, ist nicht Wahrheit im Sinn von Entdecktheit, sondern Wahrheit im Sinn von Gewißheit. Auch der Zweifel Descartes' versichert sich auf dem Wege zur Wahrheit vor allem der Gewißheit. Sie alle glauben noch an die Wahrheit, wagen es aber nicht, "auf Hypothesen hin" zu leben, weil es leichter ist, sich in einer "dogmatischen Welt" festzuhalten als "in einem unvollendeten System, mit unabgeschlossenen Aussichten"'. Alle geringeren Geister gehen jedoch an dieser Erprobung zugrunde 11.

"Und wenn sich einer tausend Male widerspricht und viele Wege geht und viele Masken trägt und in sich selber kein Ende, keine letzte Horizontlinie findet: ist es wahrscheinlich, daß ein solcher weniger von der Wahrheit erfährt als ein tugendhafter Stoiker, welcher sich ein für allemal ... an seine Stelle gestellt hat? Aber dergleichen Vorurteile sitzen an der Schwelle zu allen bisherigen Philosophien: und sonderlich jenes, daß Gewißheit besser sei als Ungewißheit und offene Meere ... " 18

Ein System in Aphorismen

Trotz dieses redlichen Willens zur Ausfahrt auf offene Meere ist Nietzsches Experiment durch die Richtung, welche es hält, doch systematisch geleitet: ein systematischer Versuch, aber kein unerprobtes System. Die im Aphorismus bezeugte Tendenz zu unabgeschlossenen Horizonten schränkt sich von selbst durch eine "eingeborene Verwandtschaft" der Begriffe ein. "Daß die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Fürsich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen, daß sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch ebensogut einem System angehören als die sämtlichen Glieder der Fauna eines Erdteils: das verrät sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer von Neuern noch einmal dieselbe Kreisbahn: sie mögen sich noch so unabhängig voneinander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen: irgend etwas in ihnen führt sie, irgend etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hintereinander her, eben jene eingebome Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennen, Wiedererinnem, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesamthaushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind: Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges." 19

So hat sich auch Nietzsches neuestes Experiment im Umkreis einer ältesten Herkunft bewegt: sein letzter Versuch mit der Wahrheit zur Überwindung des Nihilismus erinnert wieder die Ursprünge der abendländischen Philosophie. Dieselbe Rückerinnerung geschieht auch im Hervorgang des einzelnen Systems aus "zeugenden Grundgedanken". "Es läßt sich eine vollkommene Analogie führen zwischen dem Vereinfachen und Zusammendrängen zahlloser Erfahrungen auf Generalsätze und dem Werden der Samenzelle, welche die ganze Vergangenheit verkürzt in sich trägt: und ebenso zwischen dem künstlerischen Herausbilden aus zeugenden Grundgedanken bis zum ,System' und dem Werden des Organismus als einem Aus- und Fortdenken, als einer Rückerinnerung des ganzen vorherigen Lebens, der Rückvergegenwärtigung, VerleibIichung." 2o

Aus solchen zeugenden Grundgedanken, welche das ausgezeugte

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System dann verleiblicht, ergeben sich die "Überzeugungen" der Philosophen. Das Lernen verwandelt uns zwar, aber "im Grunde von uns, ganz ,da unten', gibt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares ,das bin ich'; über Mann und Weib z. B. kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen,- nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm ,feststeht'. Man findet bei Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine ,Überzeugungen'. Später - sieht man in ihnen nur Fußstapfen zur Selbsterkenntnis, Wegweiser zum Problem, das wir sind, - richtiger, zur großen Dummheit, die wir sind, zu unserm geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren ganz ,da unten'." 21

Was dann redet, ist ein "souveräner Trieb", der stärker ist als der Mensch. "Es gibt wohl viele Menschen. in denen ein Trieb nicht souverän geworden ist: in denen gibt es keine Überzeugungen. Dies ist also das erste Charakteristikum: jedes geschlossene System eines Philosophen beweist, daß in ihm ein Trieb Regent ist, daß eine feste Rangordnung besteht. Das heißt sich dann ,Wahrheit'. - Die Empfindung ist dabei: mit dieser Wahrheit bin ich auf der Höhe ,Mensch': der Andere ist niedrigerer Art als ich, mindestens als Erkennender." 22

Eine letzte und "höchste Stellung zum Dasein" wollte auch Nietzsche gewinnen, als er zuletzt die Stelle wieder betrat, von der er ausgegangen war. Als der Lehrer der ewigen Wiederkehr erinnert er sich des Problems der Geburt der Tragödie wieder, und in der höchsten Art des dionysischen Seins schließt sich das Ende seines Versuchs mit dessen Anfang systematisch zusammen. Weil aber dieser Lehre gemäß das "Los der Menschheit" schon "ewig dagewesen" und längst entschieden ist, gibt es auch im Erkennen des Menschen gar keine Beliebigkeit, sondern nur Fatum 23. Zuerst und zuletzt herrscht schon in Nietzsches Versuch, sich eines Systems zu enthalten, eine ihn nötigende Notwendigkeit, den Gedanken des ewig wiederkehrenden Seins als System zu entfalten. Und im Aphorismus, der scheinbar die flüchtige Form bloß zugefallener Gedanken ist, wollte Nietzsche, in Übereinstimmung mit seiner Philosophie, nid:lt eine Sentenz zum Vorübergang, sondern eine "Form der Ewigkeit" prägen .

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• Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein - ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der ,Ewigkeit'." 24

"Ewig" ist diese Form in der Weise, wie Nietzsche überhaupt von der Ewigkeit spricht: sie ist schon einmal dagewesen und kehrt auch immer wieder. Und wenn Nietzsche in einer Zeit, deren Philosophie ohne "Weisheit" war 25, als philosophische Sprache notgedrungen den Aphorismus und das Gleichnis versucht, so fand er auch hier etwas wieder, was schon gewesen ist, nämlich die alte Weisheit des philosophischen Spruchs. Seine Auflösung der beliebig gewordenen Sprachform der systematischen Philosophie ist der Versuch einer Wiederherstellung der sprachlichen Notwendigkeit aus der Notlage gegenwärtigen Denkens. Während jetzt das System dem Gedanken eine scheinbare Notwendigkeit gibt, die er in Wahrheit nicht hat, ist Nietzsche zu seinem neuen Versuch mit dem sprachlichen Zufall zuinnerst genötigt, und er hat somit nicht ein System, obwohl er in Aphorismen schreibt, sondern er versucht e~ wi..:der mit dem notwendigen Zu-fall der Spruchweisheit. So bekundet sich in der ihm selber bewußten Not seines aphoristischen Denkens und Schreibens zugleich eine ungewollte Notwendigkeit. Diese ist aber gerade im Zufall des Gedankens zu Hause und nicht im System, das mit dem Zufall auch das Notwendige ausschließt. Nietzsches Auflösung des Systems als eines nicht mehr möglichen Ganzen in einen losen Zusammenhang von Aphorismen und Gleichnisreden treibt zuletzt eine Lehre hervor, deren sprachliche Form so zweideutig ist wie alles im Umkreis der Modernität. Die Sprache von Zarathustra, der ein System von Gleichnissen ist, scheint zwar zunächst eine nur gleichsam philosophische Sprache zu sein. Aber auch in dieser neuartigen Sprache kehrt wieder, was schon gewesen ist, nämlich die uralte Form des philosophischen Lehrgedichts 28 • Nur am Maßstab der positiven Wissenschaft gemessen, muß diese Sprache als das erscheinen, was sie im Grunde nicht ist: als eine bloße Mischung von "Wahrheit" und "Dichtung" und Nietzsche selbst als ein Vermischer, der halb ein Dichter und halb ein Wahrhaftiger ist. Mißt man jedoch seinen Versuch mit seinem eigenen Maße, dann ist Nietzsche kein "Dichter-Philosoph", sondern der moderne Erneuerer einer ältesten philosophischen Sprache. Diese Tendenz geht indirekt daraus hervor, daß er gerade im Zarathustra sowohl den "Gelehrten" wie auch den "Dichtern" das Sein in der Wahrheit abspricht, weil die einen nur noch die "Strümpfe des Geistes" wirken und die andern "nicht genug in die Tiefe dachten", so daß ihr "Gefühl" nicht bis zu den "Gründen" sank 27 • Im Kampf zwischen "Weisheit und Wissenschaft" 2s erinnert sich Nietzsche wieder der ursprünglichen Einheit von Wahrheit und Dichtung in der lehrhaften Sprache des philosophischen Weisheitsspruchs. Diese Einheit

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hat seine Modernität jedoch nur in der zweideutigen Form eines Systems von ausgedachten Metaphern zustande gebracht, in denen sich künstliches Wortspiel und geistreicher Witz mit dem Ernst und Pathos des Ganzen vermengen. Während das philosophische Lehrgedicht von Parmenides bis Lukrez einen gedachten Gedanken belehrend darlegt, ahmen die Reden Zarathustras die Sprache der Evangelien nach, um eine antichristliche Botschaft zu verkünden, deren philosophischer Gehalt in den Gleichnisreden des Zarathustra mehr verhüllt als offenbar ist. Auf die Einheit seiner aphoristischen Produktion hat Nietzsche selber hingewiesen. Es handelt sich in seinen Schriften "um die lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität" und "nicht um ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien 29 .,; "Die durchgehende unbewußte, ungewollte Gedanken-Kongruenz und -Zusammengehörigkeit in der buntgeschichteten Masse meiner neueren Bücher hat mein Erstaunen erregt: man kann von sich nicht los, deshalb soll man es wagen, sich weithin gehen zu lassen." ao Gemäß der Einheit seines Schaffens wünscht er sich, "daß einmal ein andrer Mensch eine Art Resume" seiner "Denkergebnisse" machen möchte und ihn dabei in Vergleichung zu bisherigen Denkern brächte. Diese Einheit verdankt Nietzsche der Einheit seiner philosophischen Aufgabe. "Allmählich diszipliniert einen freilich das Innewendigste zur Einheit zurück; jene Leidenschaft, für die man lange keinen Namen hat, rettet uns aus allen Digressionen und Dispersionen, jene Aufgabe, deren unfreiwilliger Missionär man ist." 31 Und je mehr sich sein Schicksal erfüllt, desto sicherer weiß er sich an "synthetischen Einsichten" und desto fähiger, die philosophische Sensibilität, welche ihn unterscheidet, bis zu ihren letzten Folgerungen zu formulieren 32 • Schließlich gewinnt er die "absolute Überzeugung", daß von der Geburt der Tragödie an "Alles Eins ist und Eins will". 33 Denn wir "Philosophen haben kein Recht darauf, irgend worin einzeln zu sein: wir dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Notwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werte, unsre Jas und Neins und Wenns und Obs - verwandt und bezüglich allesamt untereinander und Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erdreichs, Einer Sonne." 3 4 So verlangte es von ihm ein immer bestimmter redender und gebietender "Grundwille der Erkenntnis". Im Wissen um diese Einheit hat Nietzsche von seinem Leser eine Auslegung seiner Aphorismen verlangt; denn sein Ehrgeiz war, "in

zehn Sätzen zu sagen, was andere in einem Buche - nicht sagen'". "In Aphorismenbüchern gleich den meinigen stehen zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten." Zum Herauslesen dieser langen Dinge bedarf es vor allem des langsamen, philologischen Lesens.

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"Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile; überdies sind wir beide Freunde des Iento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: - endlich schreibt man auch langsam. Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmalke ... nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die ,Eile hat', zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem Eins heischt, bei Seite gehen, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden-, als eine Goldschmiedekunst und -Kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht Iento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nötiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der ,Arbeit', will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich ,fertig werden' will, auch mit jedem alten und neuen Buche: - sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heißt langsam, tief-, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen ... Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommne Leser und Philologen: lernt mich gut lesen!" 35 Diese Kunst des Lesens verlangt vor allem der Zarathustra so, als dessen Kommentare nicht nur "Jenseits von Gut und Böse" und "Zur Genealogie der Moral", sondern auch alle übrigen Schriften der nachfolgenden Zeit zu verstehen sind; denn es gibt in ihnen keinen Gedanken, der nicht schon in der Gleichnisrede des Zarathustra ebenso kurz wie beziehungsreich angedeutet ist 37• Die Schwierigkeit einer Auslegung der Gleichnisreden des Zarathustra ist aber nicht geringer als die der aphoristischen Produktion: beide verleiten zum Darüberhinweglesen, weil sie allzu leicht eingehen. Mit Bezug auf die "Genealogie der Moral" heißt es: "Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit daß er abgelesen ist, noch nicht ,entziffert'; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buches ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle ,Auslegung' nenne: - dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Kommentar. Freilich tut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist - und darum hat es noch Zeit bis zur ,Lesbarkeit' meiner Schriften -, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ,moderner Mensch' sein muß: das Wiederkäuen."

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Sprüche, sagt Zarathustra, sollen Gipfel sein für Hochwüchsige, die mit langen Beinen vom einen zum andern schreiten können. Es bleibt aber die Frage, ob Aphorismus, Spruch und Gleichnis zu dem auffordern, was Nietzsche gefordert hat: zu einem rück- und vorsichtigen Lesen, das verweilend das Gesagte auslegt. Das Verführerische in Nietzsches aphoristischer Produktion hat niemand klarer als sein Freund Overbeck erkannt: der Aphorismus gibt durch die "kosmetische Kraft" seiner Kürze dem Paradoxon einen unverdienten Schein und überspannt den Effekt auf Kosten der Begründung. Die Möglichkeit der Widerlegung alles Begründeten ist nur halb so gefährlich wie das "angeborene Gebrechen, mit dem das der Begründung Ermangelnde .. . in die Welt getreten ist" in der es sich so nicht halten kann. 38 Wir versuchen deshalb in einer einheitlichen Auslegung von Nietzsches zerstreuter Produktion diese Begründung nachzuholen, und damit zugleich eine kritische Besinnung zu ermöglichen.

II

Die Periodisierung von Nietzsches Schriften

Dem verborgenen System in Nietzsmes Smriften widersprimt nur smeinbar, daß sim seine Philosophie, zugleim mit ihm selbst, bei der Durmführung seines Experiments mehrfam gewandelt hat. Im "Namgesang" zu Jenseits von Gut und Böse steht der bekannte Satz: "Nur wer sim wandelt, bleibt mit mir verwandt." Ihm geht jedom voraus die Frage, ob er ein "Andrer ward", sim selber fremd. Die zutreffende Antwort darauf hat Nietzsme wiederholt im Gleimnis der "Häutung" gegeben. Oft genug sei er zwar aus der Haut gefahren, aber nur weil er sim auf die Smlangenklugheit verstanden habe, "die Haut zu wechseln" 1• Diese Selbstauslegung, welme besagt, daß er inmitten seines Anderswerdens derselbe blieb, weil sim nur wandeln kann, was sim aum gleimbleibt, stammt aus der Zeit des "Mittags", als Nietzsme in der Mitte seines Lebens stille stand 2 • An diesem entsmeidungsvollen Mittag seines Lebens und Denkens sieht er sowohl voraus wie zurück, um sim im Ganzen zu verstehen 3• Im Vorblick auf die zukünftige Aufgabe vermomte· er den "langen Satz" seines Lebens erstmals rückwärts zu lesen. "Vorwärts, daran ist kein Zweifel, las im damals nur ,Worte ohne Sinn'". Und weil die Zukunft seiner Aufgabe im voraus über ihn verfügte, so sehr, daß erst von seiner letzten Lehre her aum seine ersten Smulaufsätze in ihrem Sinne vollends deutlim werden, konnte er aum seine eigene Vergangenheit namträglim "zukunftdeutend" sehen und sein philosophismes Experiment im Ganzen als Wandlung eines Gleimen übersehen 4• In diesem Wandel war er sim selbst nimt fremd, sondern zu eigen geworden und durm den Entsmluß zu einer "zweiten Natur" in den Besitz seiner ersten gekommen 5 • "So fand im den Weg zu jenem tapferen Pessimismus wieder, der der Gegensatz aller romantismen Verlogenheit ist, und aum, wie mir heute smeinen will, den Weg zu ,mir' selbst, zu meiner Aufgabe" e, die in der Fortbildung des unentsmiedenen Pessimismus des 19. J ahrhunl;lerts zu einem entsmiedenen Nihilismus und zu dessen "Selbstüberwindung" bestand 7 • Wer gelernt hat, Nietzsme systematism zu lesen, wird deshalb nimt über den bunten Reimturn seiner wemseinden Perspektiven erstaunen, sondern über die Beständigkeit und sogar Eintönigkeit seines philo-

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sophischen Problems. "Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebnis, das immer wiederkommt." Nietzsches rückläufige Selbstauslegung von der vorliegenden Aufgabe her bekundet sich am deutlichsten in den neuen Vorreden von 1886 zu seinen früheren Schriften. Mit Menschliches-Allzumenschliches beginnt seine eigene und einsame Entdeckungsfahrt, die ihn schließlich im Kreis zu seinem Ausgang zurückführte. Zwei kritische Wandlungen, vom verehrenden Jünger zum sich selbst befreienden Geist und vom freigewordenen Geist zum lehrenden Meister, begründen die Unterscheidung von Nietzsches Schriften nach drei Perioden. Er glaubte zuerst als der verehrungswillige jüngere Freund von R. Wagner an die Erneuerung der deutschen Kultur 8 ; er glaubte sodann, als schmerzlich freigewordener Geist, "an gar nichts", um seinen eigenen Weg zu suchen, bis er zuletzt, im Wollen des Fatums, zum Lehrer der ewigen Wiederkehr wurde, deren "Ring" dem "Ring der Nibelungen" erwidert. Die Bindung an Wagner, und der Bruch mit ihm, war das entscheidende und nie verwundene Ereignis in Nietzsches Leben. Die Widmung der Geburt der Tragödie "aus dem Geist der Musik" kennzeichnet den Anfang, und "Nietzsche contra Wagner" das Ende dieses Verhältnisses; es gipfelt in Nietzsches Absicht, die Basler Professur aufzugeben, um sich als literarischer Propagandist in den Dienst von "Bayreuth" zu stellen. Wagner war für Nietzsche der Antipode, aber auch "der Einzige oder doch Erste", der ihm ein Gefühl dafür gegeben hatte, was es mit ihm selber auf sich hatte, während Cosima Wagner das erste und einzige Weib war, das Nietzsche bis in den Wahnsinn hinein als "Ariadne" verehrte. Seit dem Zarathustra gefiel sich Nietzsche in dem Gedanken "das Erbe" Wagners anzutreten und damit dessen "große Sache" von ihren allzumenschlichen Mängeln abzulösen. Nietzsche und Wagner gehören, noch mehr und anders als es Nietzsche selber bewußt war, zusammen, nicht zuletzt durch das gemeinsame, aus Senopenhauers Metaphysik des Willens stammende Motiv der "Erlösung" u. Die erste Periode umfaßt an von ihm selbst veröffentlichten Schriften die Geburt der Tragödie und die Unzeitgemäßen Betrachtungen; die zweite die Schriften der "Pflugschar": Menschliches-Allzumenschliches, Morgenröte und die vier ersten Bücher der Fröhlichen Wissenschaft. Die dritte Periode beginnt auf dem Grunde des Gedankens der ewigen Wiederkehr mit dem Zarathustra und endet mit Ecce homo. Sie allein enthält Nietzsches eigentliche Philosophie. Dem Bruch mit der ersten Periode entspricht ein kritischer Oberschritt von der zweiten zur dritten Periode, der sich nach-

träglieh in den Aphorismen 341 und 342, sowie im Epilog der Fröhlichen Wissenschafl: ausspricht, aber auch schon in der Morgenröte. Widmungsverse zur Fröhlichen Wissenschafl: und das Fragezeichen am Ende der Morgenröte verweisen bereits auf das Motiv der ,.Ewigkeit", welches nicht nur den Zarathustra beherrscht und in der dichterischen Gestalt von "Ruhm und Ewigkeit" den Abschluß des Ecce homo bilden sollte, sondern auch die Kritik der Zeit im Willen zur Macht philosophisch begründet.

Pen:odisierung von Nietzsches Schnften

"Die Aufgabe für die nunmehr folgenden Jahre war so streng als möglim vorgezeimnet. Namdem der jasagende Teil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, neintuende Hälfte derselben an die Reihe: die Umwertung der bisherigen Werte selbst, der große Krieg, - die Heraufbesmwörung eines Tags der Entscheidung ... Erwägt man, daß das Bum nach dem Zarathustra folgt, so errät man vielleimt aum das diätetisme regime, dem es seine Entstehung verdankt. Das Auge, verwöhnt durm eine ungeheure Nötigung, fern zu sehen ... wird hier gezwungen, das Nächste, die Zeit, das Um-uns smarf zu fassen"

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heißt es zur Erklärung von "Jenseits von Gut und Böse", das als "Vorspiel einer Philosophie der Zukunfl:" den Zarathustra mit dem Willen zur Macht verbindet. Diese Periodisierung ist keine bloß äußerliche Schematisierung, die man ohne Schaden für das Verständnis von Nietzsches System durch eine andere und bessere ersetzen könnte 11; sie wird von Nietzsche selbst in ihrer vollen Bedeutung bestätigt. Ihr methodisches Gewicht liegt darin, daß sie die wesentlichen Etappen auf Nietzsches "Weg zur Weisheit" kennzeichnet, dessen zweifaches Wegloswerden eine zweimalige Krisis war. ,.Der Weg zur Weisheit. Fingerzeige zur Oberwindung der Moral. Der erste Gang. Besser verehren (und gehormen und lernen) als irgendeiner. Alles Verehrenswerte in sim sammeln und miteinander kämpfen lassen. Alles Smwere tragen ... Zeit der Gerneinsmall ... Der zweite Gang. Das verehrende Herz zerbremen, als man am festesten gebunden ist. Der freie Geist. Unabhängigkeit. Zeit der Wüste. Kritik alles Verehrten (Idealisierung des Unverehrten), Versum umgekehrter Smätzungen. Der dritte Gang. Große Entsmeidung, ob tauglim zur positiven Stellung, zum Bejahen. Kein Gott, kein Mensm mehr über mir! Der Instinkt des Sdtaffenden, der weiß, wo er die Hand anlegt. Die große Verantwortung und die Unsmuld. (Um Freude irgendworan zu haben, muß man Alles gutheißen.) Sim das Remt geben zum Handeln. (Jenseits von Gut und Böse. Er nimmt sich der memanismen Weltbetrachtung an und fühlt sim nimt gedemütigt unter dem Schidtsal: er ist Smidtsal. Er hat das Los der Mensmheit in der Hand.) Nur für Wenige: die Meisten werden smon im zweiten Weg zugrunde gehen ... " 12

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Im Vorredenmaterial von 1886 hat Nietzsche seine Schriften in der entsprechenden Weise selber gruppiert und die Schriften der zweiten Periode, von seiner letzten Philosophie des "Mittags" her, als eine Philosophie der "Morgenröte" und des "Vormittags" verstanden 13. Sie sind ihm der Zugang zum Verständnis desjenigen Typus, in dem sich der frei gewordene Geist selber nochmals von seiner äußersten Freiheit zum amor fati befreit. Dagegen bedeuten ihm die Unzeitgemäßen Betrachtungen bloße "Versprechungen" und "vielleicht kommt noch ein Mensch, der entdeckt, daß von Menschliches-Allzumenschliches an ich nichts getan habe als meine Versprechen zu erfüllen". Abgesehen von der Geburt der Tragödie, deren philosophische Auslegung erst in der neuen Vorrede von 1886, in der Götzendämmerung und im Ecce homo erfolgt, ist der erstmals entscheidende Schritt auf Nietzsches Weg zur Weisheit der bewußte "Fortschritt in der decadence" - bis an die kritische Grenze eines extremen Nihilismus, an der nichts mehr wahr, sondern alles erlaubt ist 14 • Der weitere überschritt zur Philosophie der ewigen Wiederkehr wird durch eine zweite Krisis im Zarathustra dargestellt; er geschieht zwischen der "stillsten Stunde" und der "Genesung" im Übergang vom zweiten zum dritten Teil. Vom Zarathustra an fügt sich alles weitere zwanglos ein in eine Philosophie der ewigen Wiederkehr als der Selbstüberwindung des extremen Nihilismus. Die im Willen zur Macht enthaltene Kritik aller bisherigen Werte, das Nein zur Modernität, setzt voraus das schon gewonnene Ja zum ewigen Kreislauf der Dinge. Und als einem "Wegweiser zur Erlösung von der Moral" ist der "Unschuld des Werdens" selbst schon der Weg gewiesen durch jene Erlösung, die der Zarathustra enthält. Dem entspricht auch ein letzter Gesamtplan zum Willen zur Macht von 1888. Er enthält unter den Namen "Antichrist", "freier Geist" und "Immoralist" in drei ersten Büchern Nietzsches negative Philosophie der Erlösung, nämlich vom Nihilismus und im vierten und letzten Buch die positive Philosophie der Erlösung zur ewigen Wiederkehr des Gleichen, unter dem Namen "Dionysos". Wie wenig es sich bei dieser Kennzeichnung der Wandlungen eines Gleichen um eine Einlegung handelt, sondern um eine Auslegung von Nietzsche selbst, beweist an ausgezeichneter Stelle der Zarathustra. Die erste Rede handelt sogleich von "drei Verwandlungen" ein und desselben Geistes. Der zum tragsamenGeist gewordene Mensch, der das Fremde verehrt und das Schwerste erträgt, wird in der ersten Krisis zum mutigen Geist, der den Geist der Ehrfurcht verzehrt und sich selber will. "Zum Löwen wird hier der Geist,

Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eigenen Wüste." 15 Er verwandelt das fremde "Du sollst" des verehrenden Glaubens in ein eigenes "Ich will". Aber: "neue Werte schaffendas vermag auch der Löwe noch nicht"; er kann sich nur Freiheit schaffen zu neuen Werten, in seinem Nein zu "Gott" und zur "Pflicht", welche sagen: "du sollst". Zum spielenden WeltenKind 16 muß noch der Freigewordene werden, um wieder einfach dazusein in der kosmischen Unschuld des beständigen Werdens. Diese letzte Verwandlung vom "Ich will" zum "Id1 bin" 17 des Weltenkindes geschieht in der zweiten Krisis der stillsten Stunde. Erst damit gewinnt sich der Geist aus der "Wüste seiner Freiheit" die verlorene Welt als die seine wieder, in einem heiligen Ja zum ewig wiederkehrenden Sein alles Seienden. Diese zweifache Wendung des Wegs, auf dem einen Wege zur Weisheit, von dem "Du sollst" des gläubigen zum "Ich will" des freigewardenen Geistes und von ihm zum "Ich bin" da und kehre immer wieder, kennzeichnet das philosophische System von Nietzsche im Ganzen. Ein erster Entschluß zum "Ich will" macht frei von allen bisherigen Bindungen und zum Nihilismus. Der zweite Entschluß: sich aus der Freiheit selbst zu entwerfen, ist die Kehrseite einer Eingebung, empfangen vom höchsten Gestirn des Seins. Ein "doppelter Wille", der sich von seiner errungenen Freiheit zum Nichts zum amor fati befreit, kehrt den extremen Nihilismus eines zum Nichts entschlossenen Daseins um in das notwendige Wollen der ewig notwendigen Wiederkehr des Gleichen. Drei sinnbildliche Figuren kennzeichnen diesen Weg vom negativ freigewordenen Geist zum Lehrer der ewigen Wiederkehr. Der von seinem Schatten begleitete Wanderer versinnlicht den Fortschritt bis an die Grenze des Nichts. Der Wanderer begleitet den übermenschlichen Zarathustra, der auch noch wandert, als dessen Schatten, und an Zarathustras Stelle tritt schließlich der Gott Dionysos, als dessen letzten Jünger sich Nietzsche am Ende von Anfang an weiß. In der dionysischen Stellung zum Dasein, die zum Ganzen des Seins und der Zeit ein für allemal Ja sagt, ist eine letzte und "höchste" Stellung zum Dasein erreicht 18 , jenseits von Gut und Böse, aber nicht jenseits von Gut und Schlecht. Dieser dionysischen Weltauslegung entspricht in Dionysos philosophos selbst die "höchste Art des Seins". Im amor fati von Nietzsches Lehre vereinigt sich so die Selbstbejahung des ewig wiederkehrenden Seins mit einem ewigen Ja des eigenen Daseins zum Ganzen des Seins.

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Schild der Notwendigkeit! Höchstes Gestirn des Seins! - das kein Wunsch erreicht, das kein Nein befleckt, ewiges Ja des Seins, ewig bin ich dein Ja: denn ich liebe dich, o Ewigkeit!

Die Periodisierung von Nietzsches Schriften nach Maßgabe einer zweifachen Wandlung (die erste der "drei" Verwandlungen wird hinsichtlich ihres Ausgangspunktes nicht näher gekennzeichnet) wäre unvollständig begriffen, wenn nicht zugleich gesehen würde, daß Nietzsche am Ende des Weges zum Ausgang zurückkehrt 19, so daß sich das Ganze seiner Bewegung im Kreise rücklaufend schließt und am Ende den Anfang einholt. Erst dadurch wird seine Philosophie überhaupt zum "System". "Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim - mein eigen Selbst", heißt es zum Abschluß der Wanderung im Zarathustra. In der Götzendämmerung ("Was ich den Alten verdanke") wird diese Rückkehr zu sich selbst ausdrücklich als eine Wiederholung des Problems der Geburt der Tragödie bezeichnet. "Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgingdie ,Geburt der Tragödie' war meine erste Umwertung aller Werte: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst - ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, - ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft."

Die Lehre von der ewigen Wiederkehr wiederholt die Geburt der Tragödie und ermöglicht die nachkommende "Umwertung aller Werte", weil diese in ihrem Prinzip keine beliebigen einzelnen Werte betrifft, sondern den zum Problem gewordenen "Wert des Daseins" als solchen und im Ganzen: die Umkehr des Willens zum Nichts - des "Nihilismus" - zum Wollen des Seins der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

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III

Der einheitstiftende Grundgedanke in Nietzsches Philosophie 1. Die Befreiung vom ,.Du sollst" zum ,.Ieh will"

Man hat die Schriften der zweiten Periode, in denen sich Nietzsche erstmals zu sich selber befreit, gemeinhin "positivistisch" verstanden, ohne sie in ihrem Zusammenhang mit den nachfolgenden Schriften und von diesen aus zu begreifen. Positivistisch sind sie jedoch nur in dem Sinn, in welchem Nietzsche selber den wissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts philosophisch verstanden hat, nämlich als eine "enttäuschte Romantik", die auf dem Weg zu einem entschiedenen Nihilismus ist 1 • Als ein noch unentschiedener Nihilismus ist Nietzsches eigener Positivismus ein in der Schwebe befindlicher Skeptizismus, ein erster Versuch im untersuchenden Unterwegssein. Zu dieser "Auswanderung" hat sich Nietzsche nach dem Bruch mit R. Wagner und dessen Publikum, "den Deutschen des 19. Jahrhunderts", entschlossen. Von da ab lebte und dachte er "auf eigenen Kredit", bis ihn der Wahnsinn schließlich an sich selber glauben ließ. Die neuen Vorreden zu Menschliches-Allzumenschliches deuten erschöpfend den philosophischen Sinn des Antritts dieser Wanderschaft, die Nietzsche auch äußerlich, durch die Aufgabe der Basler Professur, aus seiner Mitwelt herausstellte. Menschliches-Allzumenschliches nennt sich "ein Buch für freie Geister" 2• Die Freiheit, welche darin erstmals erprobt wird, ist zunächst negativ: ein Sichfreimachen von ... durch die entschiedene Loslösung von allen herkömmlich überkommenen Bindungen. Als Denkmal einer ersten Krisis ist Menschliches-Allzumenschliches das Dokument eines Abschieds, und eines Aufbruchs zu neuen Zielen 3 • Die Loslösung erfolgt nicht, wie in der Aufklärung, im Kampf gegen die kirchliche Autorität, sondern sie zieht nur die Konsequenz aus der schon eingetretenen Auflösung aller bisherigen Bindungen. " ... der moderne Freigeist ist nicht wie seine Vorfahren aus, dem Kampfe geboren, vielmehr aus dem Frieden der Auflösung, in welche er alle geistigen Mächte der alten gebundenen Welt eingegangen sieht. Nachdem dieser größte Umschwung in der Geschichte eingetreten ist, kann seine Seele ohne Neid und fast bedürfnislos sein, er erstrebt für sich nimt

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Die Befreiung vom "Du sollst" zum "Ich will"

vieles, nicht viel mehr; ihm genügt als der wünschenswerteste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge. Die Freude an diesem Zustande teilt er gerne mit; wer mehr von ihm will, den weist er, ein wenig Spott auf der Lippe, mit wohlwollendem Kopfschütteln hin zu seinem Bruder, dem freien Menschen der Tat: mit dessen ,Freiheit' es freilich eine eigene Bewandtnis hat ... " 4

Als ein un-gebundener Geist ist der Freigeist ein "relativer" Begriff. "Man nennt den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor, daß seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder in der Sucht aufzufaller haben, oder gar auf freie Handlungen, d. h. auf solche, welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schließen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und Überspanntheit des Kopfes herzuleiten; so spricht nur die Bosheit, welche selber an das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn das Zeugnis für die größere Güte und Schärfe seines Intellekts ist dem Freigeist ins Gesicht geschrieben, so lesbar, daß es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in der Tat entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder andere Art." 5

Der freie Geist glaubt nichts aus Gewohnheit, sondern er fragt bei allem nach den Gründen. "Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht, alles dies hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie - also in der Abwesenheit von Gründen, mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen." Der freie Geist ist also der Gegensatz zu allen bodenständigen Geistern, aber gerade als eine bodenlos "schwebende Zweideutigkeit" 6 hat er auch untersuchenden "Geist". Die zehn Gebote des freien Geistes lauten: "Du sollst Völker weder lieben noch hassen. Du sollst keine Politik treiben. Du sollst nicht reich und auch kein Bettler sein. Du sollst den Berühmten und Einflußreichen aus dem Wege gehen. Du sollst dein Weib aus einem anderen Volke als dem eigenen nehmen. Du sollst deine Kinder durch deine Freunde erziehen lassen . .Du sollst dich keiner Zeremonie der Kirche unterwerfen. Du sollst ein Vergehen nicht bereuen, sondern seinetwegen eine Guttat mehr tun. Du sollst, um die Wahrheit sagen zu können, das Exil vorziehen. Du sollst die Welt gegen dich und dich gegen die Welt gewähren lassen." 7

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Die Loslösung von den überkommenen Gebundenheiten geschieht in zwei Stufen: sie entfernt einen zunächst von der gewohnten Welt der herkömmlichen Meinungen und Wertschätzungen, und sie er-

möglicht, auf Grund dieser Entfernung von ... , eine neue und eigene Nähe zu ... den "nächsten Dingen" s. Im Rückblick auf das, was damals mit ihm geschah, versteht Nietzsche die erste Stufe in seinem Prozeß der Loslösung als einen Durchbruch des "Willens zum freien Willen" 9 • Zunächst und zumeist will der Mensch aber nicht seinen eigenen, sondern einen fremden Willen, dem er gehorchen kann, statt sich selbst befehlen zu müssen. Dieser erste, vorläufige Wille zum freien Willen, der dann als Herr seiner selbst auch Herr wird über die Dinge, zeichnet schon die spätere, übermenschliche Idee von den ,.Herrn der Erde" vor, die Gott ersetzen, weil sie sich selbst befehlen können. Desgleichen ist auch die "Umwertung aller bisherigen Werte" im freien Geist schon vorgebildet. Er versucht, wie die Dinge aussehen, wenn man sie umkehrt, und bevorzugt das "Zurückgesetzte" - die "bisher verneinten Seiten des Daseins". Mit dieser Sucht zur Umkehr des allgemein Gültigen vereinzelt er sich im Verhältnis zur Mitwelt. Die "Einsamkeit" wird vom Wanderer ab ein Grundproblem der sich selber wollenden Existenz to.

Die Befreiung vom .,Du sollst" zum .,Ich will"

"Man darf vermuten, daß ein Geist, in dem der Typus ,freier Geist' einmal bis zur Vollkommenheit reif und süß werden soll, sein entscheidendes Ereignis in einer großen Loslösung gehabt hat, und daß er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? ... Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für die Hand, die sie führte, für das Heiligtum, wo sie anbeten lernten, - ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am dauerndsten verpflichten. Die große Loslösung kommt für solchermaßen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoß: die junge Seele wird mit einem Mal erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie selbst versteht nicht, was sich begibt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugchn, irgendwohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt ... flackert in allen ihren Sinnen. ,Lieber sterben als hier leben'- so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies ,hier' und dies ,zuhause' ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen das, was ihr ,Pflicht' hieß, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stoßendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung ... " 11

Diese erste, versuchsweise Selbstbefreiung ist aber noch nicht die "reife Freiheit" des Geistes, welche ebensosehr Selbstsucht wie Selbstzucht ist und den Weg zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt. Der frei gewordene Geist hat das Recht, auf den

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Die Befreiung vom "Du sollst" zum "Ich will"

Versum hin zu leben, nachdem ihm sein erster, probeweiser, gelungen ist; er lebt jetzt den Dingen freiwillig fern und freiwillig nah, weil, was ihn angeht, ihn nimt mehr bekümmert, während die gebundenen Geister bekümmert, was sie nimts angeht. Auf Grund seiner Entfremdung nähert er sim wieder dem Leben, "als ob ihm erst jetzt die Augen für das Nahe aufgingen". Er wirdHerraum über seine eigenen Tugenden und er erkennt das Perspektivisme in allen Dingen, als der edle Verräter aller Dinge, die überhaupt verraten werden können, und dennom ohne ein Gefühl von Smuld. "Gleim wie ein Arzt seinen Kranken in eine völlig fremde Umgebung stellt, darni t er seinem ganzen ,Bisher', seinen Sorgen, Freunden, Briefen, Pflimten, Dummheiten und Gedämtnisrnartern entrückt wird und Hände und Sinne nam neuer Nahrung, neuer Sonne, neuer Zukunft ausstrecken lernt, so zwang im mim, als Arzt und Kranker in einer Person, zu einem umgekehrten, unerprobten Klima der Seele, und narnentlim zu einer abziehenden Wanderung in die Fremde, in das Fremde, zu einer Neugierde nam aller Art von Fremdern ... Ein langes Herumziehen, Sumen, Wemsein folgte hieraus, ein Widerwille gegen alles Festbleiben, gegen jedes plumpe Bejahen und Verneinen ... , ein Minimum von Leben, eine Loskettung von allen gröberen Begehrlimkeiten, eine Unabhängigkeit inmitten aller Art äußerer Ungunst ... , etwas Zynismus vielleimt ... , aber eben so gewiß ... viel Stille, Lid:tt, feinere Torheit, verborgenes Schwärmen - das alles ergab zuletzt eine große geistige Erstarkung ... " 12

In dieser Befreiung von allen Bindungen zu einem entsmiedenen Nihilismus hat Nietzsme nimt nur sein eigenes Erlebnis und Schicksal gehabt, sondern zugleim das allgemeine des europäischen Geistes empfunden. "Sollte mein Erlebnis - die Gesd:tid:tte einer Krankheit und Genesung, denn es lief auf eine Genesung hinaus - nur mein persönlimes Erlebnis gewesen sein? Und gerade nur mein ,Mensd:tlid:t-Allzurnensd:tlimes'? Im möd:tte heute das Umgekehrte glauben; das Zutrauen kommt mir wieder und wieder dafür, daß meine Wanderbüd:ter dod:t nid:tt nur für mid:t aufgezeid:tnet waren, wie es bisweilen den Ansd:tein hatte."

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Und ebenso wie er später das Heraufkommen entschiedener Nihilisten vorhersah 13 , sah er aum schon die freien Geister kommen, die der alten Bindungen los und ledig sind, um frei zu sein - wozu? Zu einem neuen Versuch mit einer ältesten Wahrheit 14. Wer dergestalt zur Freiheit des Geistes gekommen ist, kann sim nur noch als Wanderer fühlen. Ein" Wanderer"- die weltliche Gestalt des christlichen Pilgers- beschließt als Vorläufer des ebenfalls wandernden Zarathustra den ersten Teil von Mensmliches-Allzumenschliches, um sich am Anfang und Ende der zweiten Abteilung des zweiten Teiles mit seinem eigenen Schatten zu unterreden.

"Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht: deshalb darf er sein Herz nicht allzu fest an alles Einzelne anhängen; es muß in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Tor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet ... Aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo ... ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaß der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zuhause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlag ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: - sie suchen die Philosophie des Vormittages." 15

Die Befreiung vom "Du sollst" zum "Ich will"

Das ist die Philosophie vor dem "großen Mittag", an welchem Zarathustra die ewige Wiederkehr lehrt. Der Zusammenhang der Philosophie des Vormittags mit der des Mittags wird in dem zweimaligen Zwiegespräch von Wanderer und Schatten mehrfach angedeutet. Die Skepsis des freien Geistes des Wanderers hat selbst schon einen verborgenen "Willen zur Weisheit" 1 6. Und ebenso wie der "Abgrund" des extremen Nihilismus erst dann "wieder redet", als auch schon der Gegengedanke der ewigen Wiederkehr Wort werden will, so "redet" auch der Schatten zum Wanderer, als härte "dieser sich selber reden". Licht und Schatten gehören zusammen wie Ja und Nein oder wie die Höhe und Tiefe des höchsten Seins und des tiefsten Nichts 17. Und am Mittag, zu dieser "höchsten Zeit", wo der Schatten am kürzesten ist, weil dann die Sonne der Erkenntnis senkrecht über den Dingen steht, hat schon der freie Geist des Wanderers eine Art von "Ewigkeit" im Blick. "Am Mittag. - Wem ein tätiger und stürmereieher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die Monde und Jahre lang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte - so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt; es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück." 18

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Die Befreiung vom "Du sollst" zum "Ich will"

Schwermütig wie eine "Abendsonne über der letzten Katastrophe" ist aber auch das Glück des vom Nichts genesenen Zarathustra, dessen Lehre am "Mittag" vollendet, was auf der Stufe der ersten Befreiung, vom "Du sollst" zum "Ich will", nur ein erster und vorübergehender Vorschein der Ewigkeit ist. Zunächst aber sieht es so aus, als zeige die Philosophie des Vormittags von allem, was ist, nur den Schatten und nicht auch das Licht. Vorzüglich deshalb bespricht sich der Wanderer mit seinem Schatten, um am Ende des ersten Zwiegesprächs darauf hinzuweisen, daß sie über etwas "übereingekommen" seien. Dem Wanderer, welcher meint, man habe bisher in seinen Ansichten nur den Schatten wahrgenommen, wird von diesem fragend geantwortet: "Mehr den Schatten als das Licht? Ist es möglich?" In Wahrheit sind beide so eins wie die Wahrsagung des Nihilismus mit der von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie sind nicht Gegner, "sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach". Schatten und Licht gehen wie das Nichts des entschiedenen Nihilismus und das Sein der ewigen Wiederkehr Hand in Hand. Beide zusammen bilden die heraklitische "Doppelwelt", in welcher Hades, der Herr der Schatten, und Dionysos, der Herr des ewigen Lebens, ein und dasselbe Sein alles Seienden sind 19. Während der letzten Unterredung von Wanderer und Schatten wird es unversehens Abend, "die Sonne sinkt" 20 , und zugleich mit dem Schatten ist auch der Wanderer entschwunden. Diese vorläufige Philosophie des Mittags hat ihren eigenen Höhepunkt in einem "Minimum" von Glauben. Nietzsche selbst war sich zum Schatten geworden, als er den Wanderer schrieb. "Im sechsunddreißigsten Lebensjahre kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität, - ich lebte noch, doch ohne drei Schritt weit vor mich zu sehn. Damals -es war 1879- legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: ,Der Wanderer und sein Schatten' entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten ..." !1

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Der philosophische Ausdru