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German Pages 440 Year 2005
Christian Benne Nietzsche und die historisch-kritische Philologie
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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) Josef Simon (Bonn) · Werner Stegmaier (Greifswald)
Band 49
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Nietzsche und die historisch-kritische Philologie von
Christian Benne
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruck mit Unterstützung von Det Humanistiske Fakultet, Syddansk Universitet
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. TEL 12/1 Ernst-Reuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar Λ der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Prof. Dr. Werner Stegmaier Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6 - 7 , D-17487 Greifswald
©Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-018442-7 Bibliografische Information Der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© Copyright 2005 by Walter de Gruytcr GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in C iermany Einbandcntwurf: Christopher Schneider, Berlin
für Rebecca, l^aura und Gabriel
Die gesammte φλ[Philologie] ist gewissermaaßen nichts andres als Kritik. Die Kritik als Kunst kann nur an Schriften geübt werden, und zwar an klassischen. Alles ist vereinigt hier: poetische Kritik, grammat. [ische] philologische, historische, philosophische. — Dasselbe gilt auch wohl von Grammatik und Hermeneutik. (F. Schlegel, Zur Philologie I, [154]) Je mehr das Material anwuchs, um so höher steigerten sich die Ansprüche an die sorgfältigste Genauigkeit in der Behandlung des Einzelnen; die immer mehr in die Breite gehende Detailforschung konnte nur durch eine in die Tiefe gehende Auffassung des Ganzen beherrscht werden; je freier und höher die Idee dieses Ganzen, dem man zustrebte, gefaßt wurde, um so strenger und schärfer mußte die Disciplin der philologischen Methode und Technik in fortschreitender Ausbildung gehandhabt werden. (Otto Jahn, Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland) Die sogenannte Krise in den heutigen Geschichtswissenschaften gäbe es kaum, so meine ich, trüge man das Wissen von den Grundlagen in Methode und Ethos geisteswissenschaftlicher Arbeit bewußter mit sich. (Dieter Wuttke, Aby Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe) Of course you can have hard-and-fast rules if you like, but then you will have false rules, and they will lead you wrong; because their simplicity will render them inapplicable to problems which are not simple, but complicated by the play of personality. (A.E. Housman, The application of thought to textual aitiasm) Dans le domaine proprement litteraire, le contexte implique une familiarite avec d'autres textes, connus de l'auteur, ou utilises par lui, ou leurs equivalents, pour etre bien en etat de mesurer les possibilites de sens. (Jean Bollack, Sens contre sens. Comment lit-onf) Gibt der Autor zu viele Belege, so wird sein Buch unlesbar; gibt er zu wenige, so schwächt er die Beweiskraft. (Ernst Robert Curtius, Europäische 'Literatur und lateinisches Mittelalter) Ein Ding, ganz allein, würde gar nicht existieren — es hätte gar keine Relationen. Z.B. mein Buch. (Nietzsche, V 12[17]). Ich will lange nicht verstanden sein. (Nietzsche, VII 7[155])
Danksagung Es ist mir Bedürfnis, all jenen zu danken, die mir Rat und Hilfe angedeihen ließen. Für Fehler und Missverständnisse trage ich selbstredend die alleinige Verantwortung. Das vorliegende Buch ist eine leicht überarbeitete Version meiner im Jahr 2003 fertiggestellten Doktorarbeit, die ich im Juni 2004 am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin verteidigt habe. Meinem Doktorvater Gert Mattenklott gebührt Dank an erster Stelle, und zwar nicht um der Konvention willen (nichts gegen Konventionen -), sondern für seine unerreichte Liberalität und subtile Anregung. Daneben möchte ich Werner Stegmaier herausheben, dem ich entscheidende Anstöße und Hinweise verdanke. Die Genannten ermunterten mich unabhängig voneinander, die vorliegende Abhandlung, die im Keim zunächst als theoretisch-methodischer Beitrag einer anderen Studie geplant war, zur Dissertation auszuarbeiten. Für die Übernahme des Zweitgutachtens danke ich besonders herzlich Bernd Seidensticker, von dessen Vorschlägen und Korrekturen die Arbeit viel profitiert hat. Den Herausgebern der „Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung", neben Werner Stegmaier also Günter Abel und Josef Simon, sei für die ehrenvolle Aufnahme meines Beitrags in ihre wissenschaftliche Reihe gedankt, die im Walter de Gruyter Verlag souverän von Gertrud Grünkorn betreut wird. Ich danke ferner der Forschungsgruppe zur Nietzsche-Bibliographie, besonders Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff, der über die Zeit zum Freund geworden ist und mir die nicht ganz unparteiische Auseinandersetzung mit seinem illustren Vorfahr nachsehen wird. Von großem Nutzen waren mir die Benutzung der Datenbank zur Weimarer Nietzsche-Bibliothek, schon bevor sie öffentlich zugängig wurde, sowie die vielen unschätzbaren Hinweise zur Nietzscheforschung und den Weimarer Nietzsche-Beständen. Die Mitarbeiter des Goethe- und Schiller-Archivs und die Bibliothekare der Anna-Amalia-Bibliothek, besonders der kleinen Sammlung im Schloss, waren über das zu erwartende Maß hilfsbereit, zuvorkommend und schnell. Wolfgang Ritschel hat mir an einigen Stellen Nietzsches Handschrift gedeutet. In Weimar möchte ich außerdem Justus H. Ulbricht und Christiane Remus vom Nietzsche-Kolleg für die Einladung zu anregenden Nietzsche-Tagungen, für die Betreuung und die Vermittlung hilfreicher Kontakte danken. Petra Dorfmüller hat mir als Archivarin der Landesschule Pforta in Schulpforte schnell und unbürokratisch nützliches Material zur Verfügung gestellt. Dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar sei für die Druckge-
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Danksagung
nehmigung unveröffentlichten Archivmaterials gedankt. Dank hat ebenso die Bibliothek der Süddänischen Universität in Odense verdient, deren wunderbares Fernleihsystem mir in kürzester Zeit auch die obskursten Bücher und Artikel bescherte. Meinem Freund Adam Paulsen danke ich für die richtige Mischung aus enthusiastischem Lob und vernichtender Kritik. Jorgen Hass, dem wahren Philosophen, verdanke ich neben einer entscheidenden Anregung fundierte Kommentare zu einem frühen Entwurf und immer wieder neue stimulierende Diskussionen. Mein verehrter Kollege Bengt Algot Sorenscn war mir Vorbild in seinem unermüdlichen Forscherdrang und half bei der Klärung einzelner Fragen. HansGerald Hödl stellte mir dankenswerterweise, bevor ich ihn persönlich kennen lernen durfte, das unveröffentlichte Manuskript seiner Habilitationsschrift zur Verfügung. Für kleinere Hinweise danke ich (in alphabetischer Reihenfolge) Steffen Arndal, Thomas Brobjer, Konstantin Broese, Giuliano Campioni, Norbert Fries, Gunter Gebauer, Niels Henningsen, Birthe Hoffmann, Karl Pestalozzi, Manfred Pfister, Andreas Urs Sommer, Vivetta Vivarelli, Martin Vöhler und Wolfram Wojtecki. Reinhold Schröder und Helge Haystrup haben akribisch Korrektur gelesen. Eine große Hilfe bei der Erstellung des Druckmanuskripts waren mir Sabina Dabrowski und Angelika Hermann vom Walter de Gruyter Verlag. Bei Kollegen kann man sich mit wissenschaftlicher Großzügigkeit revanchieren. Die Unterstützung, die ich im privaten Bereich erfuhr, ist eine Schuld, die sich nicht abtragen lässt. Ich danke zuerst meinen Eltern, meiner Mutter nicht zuletzt für ihr Korrekturlesen. Ich danke allen Freunden für Zuspruch und Geduld. Hans-Otto und Ida Rosenbohm haben mir sehr geholfen, an meinem neuen Arbeitsort heimisch zu werden. Widmen möchte ich meine Arbeit jedoch den drei Personen, die am meisten unter ihr gelitten haben — und sie unter ihnen... meiner Frau, meiner Tochter und meinem Sohn, der, was auch immer dies bedeuten mag, fast zeitgleich mit Abschluss des letzten Kapitels zur Welt kam. Bärdeso, im Juni 2005
Christian Benne
Inhalt 1. 1.1. 1.2. 1.3.
Einleitung: Philologie und Interpretation Vernachlässigung der Philologie ,Fundamentalvorgang' oder ,Texthermeneutik'? Methodische Vorentscheidungen, Text- und Quellengrundlage
16
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus Beruf und Berufung Alexandrinismus Friedrich Ritsehl und die Bonner Schule Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik Die skeptische Wissenschaft
20 20 27 56 68 88
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Philologische Methode I: Textkritik und Genealogie Konjekturalkritik und Genealogie Numismatisches Chirurgisches Tatsachensinn: Domänen der Genealogie Genealogie der Moral
96 96 101 106 111 129
4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.
Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren Lesekunst und Reisekunst Usus loquendi: Metapher und Allegorie Kunst der Anspielung: Maske, Spielraum Asketisches Ideal: Lesen und Interpretieren Zum Perspektivismus
151 151 170 186 197 212
5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.
Wissenschaftshistorischer Exkurs 238 Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion 238 Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung? .... 258 Vom Philologenkrieg zur Philologie der Zukunft 274 Nietzsche, Homer, Wilamowitz 292 Niedergang der Kritik 307
2.
1 1 8
XII 6. 6.1. 6.2. 6.3.
Inhalt
Schluss: Nietzsche lesen Wiedergewinnung der Kritik Text und Quelle Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie
322 322 334 351
Literatur- und Siglenverzeichnis
374
Gesamtregister
409
1. Einleitung: Philologie und Interpretation 1.1. Vernachlässigung der Philologie Wissenschaft verdient nur dann von anderen Stilen des Denkens und Schreibens unterschieden zu werden, wenn sie das Ideal der Widerspruchsfreiheit ihrer Aussagen zumindest anstrebt. Im Falle Nietzsches ist dies der Forschung, sei sie philosophisch, philologisch, theologisch oder historisch ausgerichtet, von jeher schwer gefallen. Noch immer werden exegetische Widersprüche am liebsten Nietzsche selbst angelastet. Die folgende Abhandlung stellt einige der gewiss augenfälligsten Widersprüche in Nietzsches autorisiertem und nicht-autorisiertem Werk ins Zentrum und verfolgt das Ziel, sie aufzulösen. Wenn zu diesem Zweck eine philologisch-hteraturwissenschaftliche Lektüre vorgeschlagen wird, Regt die Begründung dafür vornehmlich in Nietzsches Schriften selbst. Umgekehrt lässt sich erst von dieser Begründung her bestimmen, was Philologie bzw. Literaturwissenschaft sei. Es gilt bei Nietzsche an methodische Traditionen anzuknüpfen, die durch den Entwicklungsgang namentlich der Neuphilologien verschüttet worden sind. Die Edition von Nietzsches philologischem Nachlass hat die archäologische Vorarbeit geleistet. Nun ist eine behutsame Restauration geboten — ein Verfahren, das bewusst der Aneignung, Umwandlung und dem Einverleiben entgegensteht und sich ihnen gegenüber als konservatorische Praxis versteht. Nietzsche hat vom Eintritt in die Pforte bis zur Aufgabe der Basler Professur insgesamt 21 Jahre lang, also gut die Hälfte seines bewussten Lebens, den größten Teil des Tages der Philologie gewidmet, darunter die intellektuell prägenden Jahre der Jugend. Nietzsche, der es liebte, auf vielen Gebieten zu dilettieren, besaß nur in dieser Disziplin gründliche und methodische Kenntnisse. Sein philosophiehistorisches, naturwissenschaftliches und sonstiges Wissen war, wie von der neueren quellenhistorischen Forschung zur Genüge belegt, meist aus zweiter und dritter Hand angelesen. Allenfalls die eigenständige Beschäftigung mit religiösen und literarischen Texten kommt noch in Betracht — sie weist freilich in nicht geringem Maße ebenfalls Spuren der philologischen Schulung auf. Eines der einflussreichsten Bücher über Nietzsche, die bedeutende Studie Walter Kaufmanns, trägt den bekannten Untertitel „Philosopher, Psychologist, Antichrist" (Kaufmann, 31968). Der Philologe, der Nietzsche auch und zuerst war, ist nicht nur für Kaufmann, sondern für den Großteil der Nietzscheforschung terra incognita geblieben. Es ist die These dieser Arbeit, dass die Philologie auf Nietz-
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
sches Denken, und das heißt auf seine Schriften, stärker gewirkt hat als bisher wahrgenommen. Nietzsche ist Philosoph, Psychologe und nicht zuletzt Antichrist unter philologischen Vorzeichen geworden. Nietzsches eigene philologiekritische Äußerungen, die sich vor allem gegen den Beruf des Philologen, weniger gegen die philologische Methodik selbst richteten, haben den Blick für die sachlichen Zusammenhänge verstellt. Nietzsches Begriff der Philologie sowie sein philologischer Textbegriff erweisen sich als Schlüssel (wenngleich nicht Generalschlüssel) zu einem Werk, das bekanntlich viele Eingänge und Hintertüren hat. Es gilt am Ende, diese Erkenntnis für den Umgang mit Nietzsche, und das heißt auch für die Geschichte des Umgangs mit Texten insgesamt fruchtbar zu machen. Zwar zeigt sich Nietzsche ohne Zweifel schon vor dem Ende seines Studiums enttäuscht von der Philologie. Ubersehen wurde aber die Rückkehr zu bestimmten methodischen Zügen der Philologie nach dem Bruch mit Wagner. Am 30. August 1877, auf dem Höhepunkt der Desillusionierung vom Brotberuf, schreibt Nietzsche an Marie Baumgartner: „Ich weiss es, fühle es, dass es eine höhere Bestimmung für mich giebt als sie sich in meiner Baseler so achtbaren Stellung ausspricht; auch bin ich mehr als ein Philologe, so sehr ich für meine höhere Aufgabe, auch die Philologie selbst gebrauchen kann." (KGB 11.5:282) Hierin liegt offensichtlich eine Bedeutung von Philologie verborgen, die sich nicht in der oft karikierten ,Kärrnerarbeit' erschöpft. Es muss dieselbe Philologie sein, auf die sich Nietzsche später so oft beziehen soll: „Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch." (M Vorrede 5, 3:17). Was Philologie für Nietzsche bedeutet und in welchem Verhältnis sie zu Philosophie oder Theologie steht, bedarf der Klärung. Einschlägige Arbeiten über Nietzsches Philologie älteren Datums konzentrierten sich auf die Schul- und Studienzeit und berücksichtigten allenfalls noch die Fragmente zu der geplanten Ii nv^itgemässen mit dem vorläufigen Titel „Wir Philologen" aus den frühen siebziger Jahren. Die ersten Arbeiten, die sich genauer mit Nietzsches Philologie beschäftigen, sind Howald (1920) und Svoboda (1920). Letzterer beklagt schon damals ihre Vernachlässigung in der ständig wachsenden Nietzsche-Literatur. Die Philologie spiele in Nietzsches Leben eine wichtige Rolle und habe stark auf die Entwicklung seiner Anschauung gewirkt (657). Einseitig auf die Jugendphase bezogen bleibt Schlechta (1948); die Grundzüge seiner Darstellung entsprechen aber bis heute der Standardauffassung. Aus der Perspektive der Klassischen Philologie haben sich jüngst Gigante (1999), Porter (2000a; 2000b), Hubert Cancik (1994; 1995) bzw. Cancik/CancikLindemaier (1999; 2002) hervorgetan. Gemeinsam ist auch diesen Studien die Konzentration auf den frühen Nietzsche. Glenn Most (1994) bescheinigt Nietzsches Philologie, in einer ansonsten temperamentvollen Verteidigung des Interesses am Philologen Nietzsche, nur wenige Verbindungen zu seinem Hauptwerk. Mir wird es im Gegenteil darum gehen, die beeindruckende Relevanz der Philo-
1.1. Vernachlässigung der Philologie
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logie für Nietzsches mittlere und späte Schriften aufzuweisen und damit sein durchgehendes philologisches Denken nachzuzeichnen. Nicht der professionelle Philologe Nietzsche oder seine Philologica stehen deshalb im Mittelpunkt1, sondern die Aufschlüsse, die sich aus der Beschäftigung mit Nietzsches Philologie über jenes Werk gewinnen lassen, das ihn vor allem bekannt und bedeutend gemacht hat. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde mit der Edition von Nietzsches philologischem Nachlass offensichtlich, dass das Verhältnis von Philosophie und Philologie bei Nietzsche neu zu bewerten ist (vgl. Schaffer, 1997; Riedel, Hrsg., 1999). Diese Erkenntnis ist zunächst aus der detaillierten Arbeit an Edition und Kommentar erwachsen. Mit Recht kritisiert etwa Barbara von Reibnitz, dass die Nietzscheforschung sich mit Nietzsches philosophischem Werk auf Kosten der philologischen Arbeiten beschäftigt hat (1992:2). Sie kann zeigen, dass schon die editorische Trennung in philologische und philosophische Schriften im Nachlass problematisch ist. Nietzsche, und zwar nicht nur der frühe, sei nur vor seinem philologischen Hintergrund zu verstehen. Sie deutet kurz an, dass Nietzsches (philosophische) Sprachkritik aus der methodischen Praxis philologischer Interpretation erwachsen sei: hier werde ich weitergehen und präzisieren. Erwähnt sei ferner ein wichtiger Aufsatz des jung verstorbenen Federico Gerratana (1994), der ebenfalls bereits das nach wie vor geltende Vorurteil angreift, demzufolge sich Nietzsche nach Uberwindung eines philologischen Irrwegs der Philosophie zugewandt habe. Seine Philosophie sei vielmehr eine Entwicklung aus der Philologie heraus. Ein anregender Beitrag aus jüngster Zeit ist Thouard (2000), der von der richtigen Beobachtung ausgeht, dass Nietzsches Ausfälle gegen die Philologie aus der Zeit stammen, da er ihr selbst die meiste Energie widmete, während er ihr die meiste Ehre zukommen Keß, als er selbst längst kein Berufsphilologe mehr war. Die Vernachlässigung der Philologie in der Beschäftigung mit Nietzsches Werk ist die Vernachlässigung einer bestimmten Tradition der Philologie, nämlich der historisch-kritischen Methode in der besonderen Ausprägung der Bonner Schule. Vor allem ihre Auffassung vom Text hat Nietzsche stark geprägt. Als Student und junger Professor brillierte Nietzsche in den Disziplinen der Textund Quellenkritik mit allen dazugehörigen Hilfs- und Unterdisziplinen von Paläographie bis Konjekturalkritik in einer Weise, die seine unerhört frühe Berufung nach Basel rechtfertigte (Cancik, 1995:516f). Während seine Leipziger philologischen Arbeiten vor allem aus literaturhistorischen Studien bestehen, beschäftigt er sich später eher mit Pseudoepigraphie und Werkkonstitution, also Fragen der höheren Kritik, wie sie von seinem Lehrer Friedrich Ritsehl beson-
Der gediegene Überblick der Philologica Nietzsches in Cancik (1995) enthält auch eine Übersicht der Manuskripte. Viele relevante Quellen zum jungen Philologen hat zusätzlich Porter (2000a) erschlossen. Beide Bücher könnten mit Gewinn parallel zur vorliegenden Arbeit konsultiert werden.
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
ders gefördert wurden. Kenn2eichnend für Nietzsches Philologie, so Barbara von Reibnitz, seien Untersuchungen zu Motiven und Wertmaßstäben von antiken Traditionen (1994:51) gewesen. Obwohl Nietzsche nach 1873 keine philologischen Arbeiten mehr veröffentlicht, existieren viele Aufzeichnungen zu Vorlesungen, die er bis 1879 hält. Seine Lehrtätigkeit war dabei durchaus nicht, wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in seiner bekannten Polemik unterstellte, im Sinne der Tragödienschrift angelegt. Im Gegensatz zu weit verbreiteten Auffassungen war Nietzsche ein absolut zeittypischer Philologe, der sich gerne, „vielleicht allzu gerne" der Konjekturalkritik befleißigte (Bornmann, 1994:68-71)2. Der wissenschaftshistorische Zugang der vorliegenden Arbeit ist aus diesen Gründen kein schmückendes Beiwerk, sondern vermag Nietzsches Texte mit einiger Sicherheit in angemessene Kontexte zu stellen. Gibt es in der Nietzscheforschung, vor allem aber in der Laienrezeption eine Tendenz, Nietzsche in allen seinen Facetten immer schon im Voraus als originalen und radikalen Erneuerer aufzufassen, wird hier also der umgekehrte Weg gewählt. Die Verkleinerung Nietzsches ist jedoch ebensowenig beabsichtigt wie die Reduktion seines Werks auf den philologischen Zeitgeist. Vielmehr soll sich die Eigenart des Werks aus dem Kontrast zum theoretischen und praktischen Umfeld der Philologie ergeben. In der verbreiteten Unkenntnis von Nietzsches wissenschaftshistorischem Standort liegt auch die Ursache dafür, dass er bis heute in der Geschichte der Philosophie und Literaturwissenschaft ein heikles Streitobjekt geblieben ist. Weil die konkrete philologische Tradition nicht erkannt wurde, die in Nietzsches Denken hineinragt und von ihm bewusst und unbewusst weitergetragen wird, hat man ihm jeweils einen Standpunkt untergeschoben, der zufälligerweise als Vorläufer der eigenen Theorie gelten kann. Durch die Untersuchung der Grenzen dieser Art von Nietzscheauslegung, besonders aber durch die Verfolgung des tatsächlichen Schicksals von Nietzsches Philologie lässt sich seine Entwicklung umso deutlicher herausarbeiten. Angesichts der vorherrschenden Auffassung von Nietzsche als Antiphilologen und Stichwortgeber verschiedener neuerer exegetischer Theorien und Praktiken soll damit eine Korrektur des Nietzschebildes erfolgen, die gleichzeitig Konsequenzen für Selbstverständnis und Historiographie der Literaturwissenschaften im allgemeinen hat — um diese Konsequenzen Wichtige Quellenhinweise bei Crescenzi (1994): hier findet sich ein gutes Verzeichnis Nietzsches enormer philologischer Belesenheit, das eindeutig in dieselbe Richtung weist. Wissenschaftshistorisch interessant ist das Exemplar von Müller (1969a) in Nietzsches nachgelassener Bibliothek, das mit vielen eigenhändigen Anstreichungen Nietzsches durchgearbeitet ist, wahrscheinlich für Vorlesungszwecke in Basel (vgl. § 3 seiner enzyklopädischen Vorlesung in KGW II.3:357ff). Es handelt sich um einen ausfuhrlichen wissenschaftshistorischen Abriss aus kritischer Perspektive (die Niederländer waren besonders in der Entwicklung der Textkritik maßgeblich gewesen), der hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann, der aber zeigt, wie gut Nietzsche sich in der Materie ausgekannt haben muss. Schon Barbara von Reibnitz (1992:935) bietet eine Fülle an Informationen, Literatur- und Quellenhinweisen zu Nietzsches philologischer Schulung in Pforta, Bonn und Leipzig sowie der philologischen Tätigkeit in Basel.
1.1. Vernachlässigung der Philologie
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selbst geht es im abschließenden Kapitel dieser Arbeit. Es dürfte einleuchten, dass die hier verhandelten Fragen Bedeutung über die engen Grenzen spezialisierter Nietzscheforschung hinaus haben. Sie betreffen zuletzt einige grundlegende Probleme der Wissenschaftsgeschichte und der literaturwissenschaftlichen Methodologie. Der theoretisch und methodisch geschulte Leser Nietzsches befindet sich deshalb in einem Zirkel, der allerdings nicht zwangsläufig als vitiosus aufgefasst werden muss. Gibt man sich nach dem Ende der metaphysischen und nachmetaphysischen Systematisierungsversuche von Nietzsches Werk als Diskurs analytiker, Dekonstruktivist, Freudianer oder Systemtheoretiker zu erkennen, verstummen ja gemeinhin jene, die ansonsten den ,Text' ins Feld geführt hätten und ziehen sich hinter die mehr oder minder soliden Mauern ihrer eigenen Interpretationsgemeinschaft zurück. Dasselbe wird von den Mitspielern erwartet. Sich Nietzsche gegenüber für eine bestimmte Lesart zu erklären, ist aber mehr als das bekenntnishafte Verweisen auf zu idealen Lesern erkorene vorangegangene Interpreten. Denn dass sich viele der im heutigen Wissenschaftsbetrieb zirkulierenden Großtheorien, wie beispielsweise die genannten, direkt oder indirekt von Nietzsche herleiten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die Auseinandersetzung um die Interpretation von Nietzsches Text ist immer eine Auseinandersetzung um den ,richtigen' Nietzsche, selbst wenn ein solcher Anspruch die Prämissen der jeweiligen Theorie hintertreibt3. Ohne die nahehegende Rhetorik des ad fontes bemühen zu wollen, scheint mir eine philologisch begründete Darstellung von Nietzsches eigener Auslegungstheorie dringend nötig zu sein, besonders da deren wichtigste Begriffe, die weit über den strapazierten Begriff der Interpretation hinausgehen, erstaunlich schlecht erfasst sind. Die Tatsache, dass Nietzsche aus Sicht heutiger Auslegungstheorien zwischen allen Stühlen zu sitzen scheint, lässt sich auf seine Anlehnung an exegetische Grundsätze einer Philologie, die spätestens am Ende des neunzehnten Jahrhunderts unzeitgemäß geworden war, zurückführen. Die Ansicht, Nietzsche habe eine normative Auffassung von ,Interpretation' vermitteln wollen, wird in diesem Zusammenhang als zentrales Missverständnis neuerer Nietzscheaneignungen nachgewiesen. Zum Säulenheiligen der Rekonstruktion' und verwandter Erscheinungen taugt er jedenfalls schlecht: ihr auf ihn bezogenes Argumentum ad verecundiam war von Beginn an brüchig und kann die Last der Legitimation nicht tragen. Unzureichend auf ganz andere, grundlegendere Weise ist aber auch die negative Vereinnahmung Nietzsches durch die philosophische Hermeneutik. Obwohl Auslegung und Interpretation bei Nietzsche an so prominenter Stelle verhandelt werden, spielt er in der hermeneutischen Theoriegeschichte kaum eine Rolle (vgl. Hofmann, 1996). Schon Abel (1984:170ff) argumentiert von ganz anderen Positionen heraus gegen die Einreihung Nietzsches Vgl. etwa die berechtigte Kritik Lothar Jordans an der Vereinnahmung Nietzsches für die Systemtheorie Luhmanns (Jordan, 1994). Zu Schwächen der Nietzsche-Rezeption im Umfeld des Poststrukturalismus auch Brenner (1998:156ff und 235f).
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
unter die hermeneutischen Klassiker. Für Stegmaier (1992:282f) ist Nietzsches Auffassung vom Verstehen im Gegensatz zum hermeneutischen Klassiker Dilthey immer schon ein „Anders-Verstehen", das Missverstehen in allem Verstehen sei das zentrale Problem seiner Philosophie. Die Philologie sowie der Begriff des Textes treten in Nietzsches mittleren und späten Schriften, den Nachlass eingeschlossen, vor allem in Zusammenhang mit Auslegungsfragen auf. Die methodischen Aspekte der Philologie, um die es mir hauptsächlich gehen wird, beziehen sich — mit ständiger Rücksicht auf den weiteren Kontext — folglich vor allem auf Nietzsches vieldiskutierte Interpretationstheorie. Erschwert wird dieser Ansatz indes dadurch, dass die Ergebnisse ja auch auf die Lektüre Nietzsches eigener Texte anwendbar und mit seinen impliziten Leseanweisungen kompatibel sein müssen. Eine Arbeit, die dergestalt zwischen Reflexion und konkreter Arbeit am Text, zwischen historischer und systematischer Darstellung, zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft schwankt, stellt den Verfasser vor eine unlösbare Aufgabe und mutet dem Leser einiges zu. Der hier gewählte Mittelweg wird dem einen zu deduktiv, dem anderen zu detailverliebt erscheinen. Der Nietzscheforscher mag sich weniger für literaturtheoretische Diskussionen, der Literaturwissenschaftler weniger für die Seitenpfade der Nietzscheforschung interessieren. Um argumentative Transparenz für verschiedene Fachtraditionen zu gewährleisten, wurden auch Exkurse aufgenommen, die dem einen oder anderen banal vorkommen mögen. Ich glaube dies um des großen Vorteils willen verkraften zu müssen, den diese Vorgehensweise hat: Die Nietzscheforschung kann von der literaturtheoretischen und philologiehistorischen Perspektive profitieren, diese wiederum lässt sich durch das Exemplum Nietzsche schärfer fassen. Alle Exkurse dienen am Ende dem angemesseneren Verständnis Nietzsches, d.h. dem adäquaten, kritischen Umgang mit seinen Schriften. Die allgemeinen Fragen dienen dazu, den Horizont aufzuhellen, vor dem ihre Umrisse umso deutlicher hervortreten. Möge die wechselseitige Erhellung nicht, wie das Bild suggeriert, selbstreferentiell bleiben. Für die traditionelle Blindheit gegenüber der wahren Bedeutung der Philologie bei Nietzsche lassen sich vier wesentliche Gründe identifizieren. Da sie nicht in einem gesonderten Kapitel gemeinsam behandelt werden, sondern sich aus der Diskussion konkreter Probleme ergeben sollen, seien sie hier kurz zusammengefasst. Die einseitige Rezeption von „Wir Philologen" wurde bereits bemerkt und wird an entsprechender Stelle genauer erläutert. An zweiter Stelle steht der ebenfalls genannte Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, der dazu führte, dass Fragen über den historischen Nietzsche kaum noch gestellt wurden. Zuletzt tragen jedoch der Gang der Wissenschaftsgeschichte und ihrer Geschichtsschreibung — beide dominiert von Nietzsches Rivalen Ulrich von WilamowitzMoellendorff — die Hauptverantwortung. Wenn sie am Ende der Arbeit ausführ-
1.1. Vernachlässigung der Philologie
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lieh behandelt werden, so soll damit auch gezeigt werden, warum das Missverständnis Nietzsches ein historisches, kein zwangsläufig-systematisches ist. Auf die Einleitung der Arbeit folgen vier Kapitel und ein Schlusskapitel. Zuerst werden die theoretischen philologischen Voraussetzungen dargestellt und Nietzsches konkrete philologische Schulung geschildert. In den beiden anschließenden Kapiteln werden Erscheinung und Funktion philologischer Theorie und Methode in Nietzsches Denken und Schriften beschrieben. Ein Exkurs setzt die Ergebnisse in Beziehung zur Rezeptionsgeschichte insbesondere von Nietzsches Gedanken über Auslegung bzw. Interpretation sowie zur Wissenschaftsgeschichte der philologischen Methodik. Der Umstand, dass Nietzsches Verhältnis zur Philologie gegenläufig zur Chronologie der Entwicklung gelesen wird, ist beabsichtigt. Die Aufspaltung der Behandlung von Nietzsches Verhältnis zur Philologie in das zweite und fünfte Kapitel musste in Kauf genommen werden, denn der retrospektive Blick auf Nietzsches Philologie hat sich im Verlauf der Beschäftigung mit seinem Werk als fruchtbar erwiesen. Das letzte Kapitel zieht Schlussfolgerungen für die Lektüre der Schriften Nietzsches selbst sowie für Relevanz und Zukunft der philologischen Methodik. Es macht nicht zuletzt deutlich, wohin sich die Nietzschephilologie entwickeln mag, kurz: „wie man wird, was man ist" (EH, 6:255). Es ist mir in diesem Zusammenhang die Anmerkung wert, dass ich meine Ergebnisse zunächst nicht gesucht habe, sondern im Zusammenhang anderer Studien eher zufällig darauf stieß. L'appetit vient en mangeant: erst später wurde mein Jagdeifer geweckt und von den in der Danksagung Genannten befördert. Um inhaltlichen und argumentativen Zusammenhalt zu gewährleisten, sind die Abschnitte großzügig komponiert. Die Kosten für die Systematik blieben überschaubar; einige wenige Wiederholungen waren unvermeidlich — sie dienen nicht zuletzt der Betonung der wichtigsten Thesen und Resultate. Um Lesbarkeit zu gewährleisten und die graphische Übersichtlichkeit nicht über Gebühr zu strapazieren, wurden viele Belege in die Anmerkungen verwiesen. Für Belehrungen in Bereichen, in die ich mich trotz mangelnder Kompetenz zu weit vorgewagt habe, bin ich ebenso dankbar wie für die Weiterführung oder Modifizierung des hier gewählten Ansatzes. Habe ich auch nur durch Fehler und Missverständnisse auf die Notwendigkeit gründlicher Forschung zur Verbindung Nietzsches zur philologischen Methodik und Wissenschaftsgeschichte hingewiesen, ist die Arbeit nicht umsonst gewesen. Zur Zitierweise: Nietzsches Werke werden mit den üblichen Siglen abgekürzt und nach der Kritischen Studienausgabe (KSA) zitiert, Zitate aus den nachgelassenen Fragmenten werden unter Angabe der jeweiligen Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe der Werke (KGW), d.h. der entsprechenden römischen Ziffer, der Manuskriptnummer sowie der Fragmentnummer (in eckiger Klammer) nachgewiesen. Die Philologica werden meist nach der KGW unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl angeführt. Zitate nach anderen Ausgaben oder Archiva-
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
lien werden an Ort und Stelle erläutert. Nietzsches Briefwechsel wird nach der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe (KGB) unter Angabe des Briefdatums, der Briefpartner sowie Bandnummer und Seitenzahl zitiert.
1.2. ,Fundamentalvorgang' oder ,Texthermeneutik? Nietzsches Interpretationstheorie ist, zumal in den letzten Jahrzehnten, von kaum zu überschätzender Wirkung gewesen. Mit Nietzsche verbindet man heute die radikalste Version des Perspektivismus und der Einsicht, dass es „gerade Thatsachen" nicht gebe, sondern „nur Interpretationen. Wir können kein Factum 'an sich' feststellen" (VIII 7 [60]). Spätestens seit Nietzsche kann sich kein Wissensgebiet, keine Domäne des Universums mehr der Interpretation entziehen. Seitdem alles Auslegung ist, ist alles immer schon ausgelegt. Zu dieser Einsicht gehört die unvermeidliche Konsequenz, dass es keine „allein selig machende Interpretation" gebe, wie es in dem berühmten Brief Nietzsches an seinen Musiker-Freund Carl Fuchs vom 26. August 1888 heißt (III.5, 399ff). Interpretationen, so der landläufige Umkehrschluss, seien deshalb prinzipiell gleichwertig, was insofern bedenklich ist, da laut Nietzsche jede Interpretation gleichzeitig eine interessengeleitete Fälschung sei, zu deren Wesen das „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen" (GM III.24, 5:400) gehöre. Interpretation bezeichne, kurz gesagt, ein Mittel, „um Herr über etwas zu w e r d e n " (VIII 2[148]). Komplizierterweise steht dieser klaren Aussage indes Nietzsches periodisch erhobene Forderung nach philologischem Takt in der Auslegung entgegen. Der Mangel an Philologie, dies ein an vielen Stellen erhobener Vorwurf Nietzsches, führt unausweichlich zu Interpretations^Aifew4. Es scheint geradezu als könne Verfälschung bzw. Falschmünzerei in der Interpretation durch Philologie umgangen werden. So liest man bei Nietzsche Sätze, die den Perspektivismus wieder infrage zu stellen scheinen, etwa wenn er besonders den Theologen, bisweilen auch den Philosophen schlechte Lesekünste vorwirft. Nicht nur an einer Stelle wird von der „Kunst, gut zu lesen" sogar gefordert, „Thatsachen ablesen [zu] können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen" (AC 52, 6:233). Wie aber kann das möglich sein, wenn es keine Fakten, sondern nur Interpretationen gibt? Von welchem Standpunkt aus kann Nietzsche Interpretationen beurteilen? Welchen Zugang zu „Thatsachen" gibt es jenseits der Interpretation? Was sind Tatsachen? Nietzsches Lesebegriff stößt stellvertretend für die meisten Nietzscheforscher in Andreas Urs Sommers großem Kommentar zum Antichrist auf „Die bisherige Psychologie litt an dieser Stelle Schiffbruch: sollte es nicht vornehmlich darum geschehen sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte, weil sie an die moralischen Werth-Gegensätze selbst g l a u b t e , und diese Gegensätze in den Text u n d Thatbestand hineinsah, hineinlas, hinein d e u t e t e ? - Wie? Das .Wunder' nur ein Fehler der Interpretation? Ein Mangel an Philologie?" (JGB 3.47, 5:69)
1.2. ,Fundamentalvorgang' oder ,Texthermeneutik'
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Verwunderung: Nietzsche falle in die naive vorhermeneutische Urzeit zurück. Bei der Anwendung der Welt-als-Buch-Metapher vergesse der Leser, dass er selbst Teil der Welt sei und als Tatsache nur gelte, was zur solchen erklärt worden ist. Sommer verzweifelt letztlich an dem Begriff der Tatsache, der so gar nicht zu Nietzsche zu passen scheint — „Eine nähere Erörterung des prekären Tatsachenbegriffs muss ich mir an dieser Stelle versagen." Tatsachen seien „offenbar für sich bestehende, irgendwie substantiell sedimentierte Entitäten, die in einer Welt der ,Dinge an sich' bestehen. Diese Tatsachen versperren jeder perspektivistischen oder postmodernen Auflösung der Welt in Auslegungen unverrückbar den Weg." (2000:506f). Das Ding-an-sich freilich, das weiß auch Sommer, gibt es zu diesem Zeitpunkt für Nietzsche gar nicht mehr. Die nach wie vor einflussreichste philosophische Darstellung von Nietzsches Interpretationstheorie stammt von Günter Abel (1984). Ausgehend von Wolfgang Müller-Lauters wegweisender Studie (1971) deutet er Nietzsches Weltauffassung als eine Gesamtheit widerstreitender „Kräfte-Zentrierungen" von dynamischen Willen-zur-Macht (1984:4), ein sich selbst austarierendes Chaos von Machtquanten, die allen Entitäten eignen, ja mit ihnen identisch sind: ,Realität' entstehe aus dem Prozess der Kräfteorganisation, der weder finalistisch noch kausalistisch, weder teleologisch noch mechanisch zu beschreiben sei. Abel sieht Nietzsche damit in der Tradition eines Aristoteles, Spinoza oder Leibniz: unter Einbeziehung und Umwandlung organizistischen Denkens weite Nietzsche den Vorgang der Kräfteorganisation auf alles Seiende aus, auf organische und anorganische, selbst auf kulturelle und generell zeichengebundene Phänomene wie etwa die Kunst (vgl. S. 113). Den „Fundamentalvorgang" (133f) des Willen-zurMacht-Geschehens nennt Abel Interpretation. Alles Geschehen ist Interpretation: „Geschehen kann nicht nicht-interpretativ sein." (172). Kräfte interpretieren andere Kräfte nicht bestimmter Zwecke wegen, sondern aus blindem Machtkalkül. Der Interpretationsgedanke hat nach Abel somit eine zerstörerische Komponente. Da Sinn in einem Geschehen nie statisch sein kann, muss er immer wieder in den Prozess hineinprojiziert werden. Durch die Zirkularität dieser Art von Interpretation — man findet immer nur das, was man schon hineingelegt hat - wird das Objektivitätsideal neuzeitlicher Rationalität infragegestellt wie nie zuvor (142f). Abel betont also den Charakter der Interpretation als Mittel, um Herr über etwas zu werden und interessiert sich weniger für die andere Seite. Dabei geht es ihm nicht darum, etwa mit Nietzsches Hilfe .Wirklichkeit' zu leugnen. Diese sei lediglich immer notwendigerweise konstruiert (z.B. 173). Unklar bleibt bei Abel jedoch, auf welche Weise und in welchem Ausmaß ,Wirklichkeit' in die Interpretationen überhaupt einfließen kann, wenn sie denn schon von Interpretation unterschieden wird. Wenn jedes Geschehen, also jedes Interpretieren, sich „mit der sich in seinem Vollzug intern selbst-konstituierenden absoluten Notwendigkeit" (346) vollzieht, dann ist Interpretation doch intransitiv, vom Objekt unab-
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
hängig. Abel postuliert jedoch gleichzeitig einen fünfstelligen Zirkel des Interpretationsgeschehens „von dem der Interpretierende bereits interpretiert ist, wenn und indem er sich interpretierend auf anderes Seiendes bezieht, welches seinerseits Interpretierendes und Interpretiertes, auch ihn wiederum interpretiert." (173) Interpretation hat demnach durchaus eine transitive Komponente, wobei die Fünfstelligkeit dieses Prozesses wenig einleuchtet: vielmehr müsste es sich ja um einen Prozess von unendlicher Stellenzahl handeln (die Fünfstelligkeit ist eine nach der Logik der Theorie bereits unzulässige Fixierung). Abels universale Theorie bezieht ausdrücklich die Interpretation in Kunst, Wissenschaft und generell allen menschlichen Handlungen ein. So gebe es keinen prinzipiellen, nur einen graduellen Unterschied zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und ästhetischer Erfahrung — letztlich nur einen Unterschied verschiedener Vokabulare (176). Der Kunst komme darüber hinaus eine besondere Bedeutung zu, als schöpferische, form- und sinnerzeugende Kraft zeigt sich in ihr die „jeweils epochenspezifische Gestalt der Welt- und Selbst-Interpretation" (179). Kunstwerke bauen, da sie ihre Rechtfertigung in sich selbst trügen, eine Gegenbewegung zum Nihilismus auf, denn wenn „der platonisch-christliche Sinn aus der Welt herausgezogen" sei und Dasein sinnlos erscheine, könne nur Kunst, nicht Wissenschaft zur Überwindung des Sinnvakuums beitragen (179f). Damit ist wiederum nur die eine Seite des späten Nietzsche treffend paraphrasiert. Nahezu ungehalten reagiert Abel auf die aber auch nicht zu ignorierenden Fälle, in denen „Nietzsche selbst sich einer wissenschaftlich-theoretischen Ausdrucksweise" bedient (190f). An diesen Stellen müsse man Nietzsche mit Nietzsche gegen Nietzsche lesen: eine eindeutig wenig befriedigende Lösung. Auch die Behauptung, dass Nietzsche generell gegen „das Tatsächliche" und den Positivismus polemisiere (z.B. 143) lässt sich leicht widerlegen; selbst im Spätwerk - wie kommt etwa in Nietzsches als Beitrag zur Auslegekunst konzipierter Abhandlung das Lob Taines und Rankes zustande (GM III. 19, 5:387)? Wenn außerdem, wie von Abel vorausgesetzt, alle Entitäten aus sich selbst heraus wirken und dadurch Realität hervorbringen, muss es auch Entitäten geben, auf die gewirkt wird. Der Dialektik von Schöpfen und Geschöpftwerden, von Assimilieren und Assimiliertwerden kann man sich schwerlich entziehen (auch wenn dies im Sinne Nietzsches möglicherweise nur ein von der Grammatik suggerierter Fehlschluss ist). Heißt das aber, dass es doch interpretationslose Domänen bzw. nichtinterpretierende, nur interpretierte Entitäten gibt?5 Abel, und das ist das Hauptproblem, konkretisiert den Begriff der Interpretation an keiner Stelle. Er setzt voraus, dass der Leser schon weiß, was gemeint sei, und begründet nicht, warum Ähnliche Einwände formuliert Stegmaier (1992:312f). In Abels Interpretationszirkel werde kein Nicht-Interpretiertes mehr vorgesehen, aber dennoch vorausgesetzt. Stegmaier betont interessanterweise ferner, dass Nietzsche nicht so sehr an Perspektivismus und Interpretation interessiert sei, sondern vielmehr an Genealogie, an den Verflechtungen, Hierarchien und Dynamiken von Interpretationen. Die folgenden Untersuchungen werden dies (freilich unter ganz anderen Voraussetzungen) bestätigen.
1.2. ,Fundamentalvorgang' oder ,Texthermeneutik'
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er ihn denn überhaupt weiterhin parallel zum Begriff des Geschehens verwendet. Ferner differenziert er nicht zwischen Nietzsches Begriffen der Interpretation, der Auslegung, des Kommentars, des Lesens, Abiesens, Entziffems usf., die doch alle in verschiedenen Kontexten und mit ersichtlich unterschiedlicher Absicht verwendet werden. Wenn man die Interpretation kosmisch-universal fassen möchte, darf man gleichwohl die Augen nicht vor dem Umstand verschließen, dass wir offenbar einen Begriff benötigen, der beispielsweise das Sprachspiel des Umgangs mit schriftlichen Texten genauer beschreibt als eine allgemeine und damit überfrachtete Interpretationstheorie. Abels philosophischer Rekonstruktion von Nietzsches Interpretationstheorie entgegengesetzt müsste deshalb ein Ansatzpunkt liegen, der von texthermeneutischen Erwägungen ausgeht. Der Literaturtheoretiker Hendrik Birus (1984a und 1984b) hat ihn ausformuliert. Als erster und bisher einziger hat er etwas bemerkt, das doch mit Händen zu greifen ist, dass nämlich die auf die Interpretation bezogenen, von den Philosophen immer wieder herangezogenen Fragmente aus Nietzsches Nachlass sich gar nicht auf die Auslegung von Texten beziehen. Immer dann, wenn es um Textauslegung gehe, rede Nietzsche gerade nicht der Willkür, dem Vergewaltigen, Zurechtmachen usf. das Wort. Man solle das nicht als hoffnungslos veraltetes und bedauerliches Erbe vorhermeneutischer Tradition abtun, so Birus, denn gerade in Nietzsches Angriff auf Theologie und Christentum spiele dieser Umstand eine herausragende Rolle. Philologische Gesichtspunkte wurden in diesem Zusammenhang bisher außer von Birus (1984a und 1984b) nur von Figl (1984 und 1989) sowie Blondel (1986) aufgegriffen. Gerade Blondels Buch ist eine reiche Quelle wichtiger Einzelbeobachtungen zum Verhältnis Nietzsches zur Philologie und wird an entsprechender Stelle herangezogen werden. Hendrik Birus geht von hermeneutischen Uberzeugungen aus (1984b ist Gadamer gewidmet). Nietzsches Begriff der Interpretation stellt für ihn deshalb keinen Paradigmenwechsel dar: so revolutionär wie immer angenommen sei Nietzsche weder in seinen philologischen Reflexionen noch in späteren „hermeneutischen Grundüberlegungen" (1984a:377) gewesen. Birus betont die Selbststilisierung Nietzsches zum Philologen, die sich bis zum Ende nachweisen lässt. Gleichwohl vertritt er die These (1984b), dass es falsch wäre, Nietzsche aufgrund dessen für die Philologie in Anspruch zu nehmen, da seine Praxis der Auslegung sich stark von dem zunftüblichen Verfahren unterschieden hätte. Man müsse also zwischen einem wenig revolutionären Interpretations^^und einer wegweisenden Interpretationspraxir unterscheiden. In Nietzsches Schriften vermisst Birus den Nachweis der von Nietzsche selbst behaupteten Herkunft seiner Auslegungskunst aus der Philologie, wenige pauschale Bemerkungen seien „noch bei weitem die explizitesten und konkretesten Äußerungen zu diesem Thema: es gibt in Nietzsches Schriften nicht einmal in nuce einen hermeneutischen ,Discours de
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
la methode'." (1984b:440)6. Johann Figl hat als erster mit wirklichem Nachdruck auf die Bedeutung philologischer Theorie und Methode in Nietzsches Auffassung vom Umgang mit Texten hingewiesen. Im Gegensatz zu Birus scheint bei ihm Nietzsches Werk selbst jener vermisste Discours zu sein. Um Nietzsches Hermeneutik zu verstehen, komme man an philologischer Methodik nicht vorbei (1984:111). Figl (1989:162) stellt vor allem wegen Nietzsches zahlreicher das Lesen betreffenden philologischen Argumentationen die Auffassung in Frage, wonach sich Nietzsche spätestens seit der Tragödienschrift von der Philologie abgewendet habe. Weder Blondel noch Birus oder Figl stand ein sorgfältig edierter philologischer Nachlass zur Verfügung. Auch philologiehistorische Quellen haben sie kaum einbezogen. Ihre Ergebnisse müssen deshalb in entscheidender Weise revidiert werden. An dieser Stelle sei zunächst festgehalten, dass es zwei Möglichkeiten gibt, Nietzsches Interpretationstheorie nachzuvollziehen. Eine philosophische, begrifflich-universale wie bei Abel und eine an der Praxis einer konkreten Art von Interpretation, nämlich an Texthermeneutik und damit Literaturwissenschaft orientierte wie bei Birus. Alle anderen Ansätze lassen sich zwischen Abel und Birus einordnen und zu ihnen in Beziehung setzen. Ich möchte einen Weg vorschlagen, der sich zwischen Abel und Birus bewegt, ohne doch ein Mittelweg zu sein. Dabei wird es nicht nötig sein, alle anderen Ansätze als untauglich abzuwerten. Naturgemäß liefern unterschiedliche Erkenntnisinteressen auch unterschiedliche Einsichten (darin liegt die banale Essenz des Perspektivismus). Es können damit bestimmte Aspekte auf fruchtbare Weise unter neuem Dach vereint werden — fruchtbar allein schon deshalb, weil so ein philosophisch-literaturwissenschaftlicher Austausch entsteht, der in der quellenbasierten Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaft seinen Ausgangspunkt nimmt. Voraussetzung ist eine Arbeitshypothese, die sich aus den unterschiedlichen Analysen von Nietzsches Schriften fast zwangsläufig ergibt, nämlich dass es in der Tat verschiedene Domänen der Interpretation und Auslegung gibt, deren Differenzierung vor der relativ neuen allgemeinen hermeneutischen Theorie noch zum Allgemeingut gehörte. Das Kriterium zur Unterscheidung dieser Domänen war und ist der Grad ihrer Textualisierung. In Nietzsches Auslegung geht es nicht um ,Wahrheit und Methode', sondern um ,Text und Methode'. Ganz unabhängig von Standpunkt und Erkenntnisinteresse lässt sich nämlich ein durchgehendes Merkmal aller bisherigen Kommentare zu Nietzsches Interpretationstheorie feststellen: das Missverständnis über Nietzsches Textbegriff, das Hand in Hand mit der Vernachlässigung der zeitgenössischen Philologie geht. Günter Abels Behauptung, in der Zirkularität des Interpretationsgeschehens In diesem Aufsatz argumentiert Birus außerdem, dass es ausgerechnet Nietzsches Philologica seien, in denen zwischen einem orthodoxen philologischen Interpretationsbegriff und unorthodoxer Praxis vermittelt werde. Allerdings übertreibt er die Originalität der philologischen Schriften (ihm stand freilich nicht die einschlägige neuere Forschung zur Verfügung, insofern handelt es sich um eine anerkennenswerte Pioniertat); die entscheidenden Quellen hat er nicht rezipiert.
1.2.,Fundamentalvorgang' oder ,Texthermeneutik'
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werde bei Nietzsche die Unterscheidung zwischen Text und Interpretation (und damit auch von Natur und Schein) aufgehoben (1984:182), ist zur Standardversion geworden. Günter Figal, um eine aktuelle Interpretation von Nietzsches Auslegungstheorie zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen zu nehmen7, findet den Interpretationsbegriff Nietzsches vor allem deshalb schwer erklärbar, weil ihm oft ein negativer Beigeschmack anhaftet. Das lasse sich nur als Provokation und Überspitzung des Problems auffassen (2001:21f). Nietzsche gehe es offensichtlich darum, die eigenständige Leistung des Interpreten zu betonen. Was sich nur durch Interpretation zeige, kann natürlich nicht mit dem Interpretierten verglichen werden, denn wenn es sich unvermittelt offenbarte, müsste ja gar nicht interpretiert werden. Für die Erfahrung gibt es nichts als verschiedene Erscheinungsweisen, also Perspektiven. Nietzsche sei deshalb inkonsequent, wenn er an der Unterscheidung von Realität und Interpretation festhält, was freilich durch die Eigenschaft der Interpretation erklärbar sei, nur relativ zu anderen Interpretationen als solche erkannt zu werden, Interpretation immer von „etwas" zu sein. Die entscheidende Pointe von Nietzsches aufrechterhaltener Unterscheidung sei, dass die modifizierende Kraft der Interpretation der Realität erst Sinn und Wert verleihe; eine Welt ohne Interpretation sei sinnlos, ihr Sinn verändere sich ja deshalb auch mit der jeweiligen Perspektive (24). Die Welt ist deshalb kein Tatbestand, weil sie außerhalb unseres Erfahrungshorizontes liege. Figal schließt daraus die Bestimmung der Interpretation zur „Wahrheit der Philosophie" (26) und gar zum „Entwurf eines Erkenntnisprogramms" (28). Man könnte dieses Erkenntnisprogramm als die doppelte Herausforderung verstehen, der eigenen perspektivischen Beschränkung bewusst zu bleiben, ohne dabei das außerhalb dieser Perspektive Liegende radikal zu leugnen. Eine so verstandene Realitätsvermittlung, in welcher Perspektiven als zueinander komplementär verstanden werden, ist in der Tat eine wichtige menschliche Universalie (wobei Nietzsches Auslegungsgedanke, vor allem in Verbindung mit dem Willen zur Macht, das Anthropologische überschreitet). Dennoch muss Figals philosophische Lesart um eine philologische ergänzt werden. Die beiden Ebenen der ,Realität' und Interpretation' reichen nämlich nicht aus. Zunächst ist fraglich, was Nietzsche tatsächlich unter .Realität' versteht, ob er mit diesem Konzept überhaupt operiert8 bzw. ob der Mensch sich bei ihm nicht schon immer in ei-
Figals Arbeit zeichnet sich durch ihre Kürze, Klarheit und Prägnanz vor anderen aus. Sie soll hier nicht in Frage gestellt, sondern ergänzt werden. Eine Arbeit von minderem Rang zu widerlegen, wäre kein Kunststück gewesen. Ich betone das, weil an dieser Stelle der Eindruck entstehen könnte, ich mache Figal für die Kunstfehler aller gewesenen und zukünftigen Philosophen verantwortlich. Das Problem ist ein anderes. Figals für den philosophischen Diskurs angemessene verallgemeinernde Ausdrucksweise läuft genauso Gefahr missverstanden zu werden wie Nietzsche selbst — was man diesem so wenig vorwerfen kann wie jenem. Für Vorsicht gegenüber dem Begriff der Realität bei Nietzsche plädiert schon Granier (1966:326ff).
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
nem Gewebe aus Zeichen bewegt (vgl. Stegmaier, 20009). Es gibt darüber hinaus eine weitere, von Figal nicht berücksichtigte, vermittelnde Ebene zwischen Realität bzw. Zeichenwelt und Interpretation dieser Zeichen, eine Art Interpretation erster Ordnung, die für Nietzsche außerordentlich wichtig ist: den Text. Der Text ist eine Interpretation, die sich von anderen Auslegungsweisen durch die strenge Methode unterscheidet, mit deren Hilfe sie gewonnen wurde. So wie der Text in der Philologie kein factum brutum ist, darüber täuschen sich die meisten Nichtphilologen unter Nietzsches Lesern, gibt es auch einen ,Text' der Kultur, des Leibes und der Welt, der vor der eigentlichen Interpretation erst aus den Fakten bzw. Zeichen konstruiert werden muss: der Tatbestand darf in diesem Sinne nicht mit dem factum brutum verwechselt werden. In ihm steckt nämlich die Βestandaufnahme, die auswählende Geste der philologischen Textkritik. Karl Jaspers sah in seiner Nietzsche-Monographie ähnlich wie Ricceur10 und viele andere Autoren bei Nietzsche ein in der Philologie wurzelndes „Gleichnis der Auslegung für das Grundverhältnis des Daseins zum Sein" (Jaspers, 2 1950:292); er glaubt aber fälschlicherweise, es stamme aus dem Verhältnis von Text und Interpretation. In der philologischen Tradition, aus der Nietzsche stammt, gilt der Text aber eben gerade nicht als „das Feststehende" (ebd.) — und es ist deshalb nicht „die darüber hinausgehende Interpretation", die als „fragwürdig" angesehen werden muss. Fragwürdig ist für den Philologen vielmehr an erster Stelle die Oberlieferung des Textes. Erst wenn sie gesichert ist, kann mit Gewinn gelesen werden11. Nietzsches Begriff der Interpretation nimmt vor dieWenn ich recht sehe, entwickelt Stegmaier hier einen Ansatz Josef Simons weiter (Simon, 1986). Dieser war vom traditionellen Begriff des Scheins ausgegangen, der philosophiehistorisch in erster Linie Gegensatz nicht zum Sein, sondern zum wahren, unvermittelten Sein gewesen sei: Schein stelle dagegen das unwahre, dennoch Seiende dar. Für Nietzsches Perspektivismus ist dies natürlich ausschlaggebend: alles Wissen ist Schein-Wissen, Wahrheit beziehe sich immer auf einen bestimmten gegebenen Schein und sei selbst Schein. „Bei Nietzsche ist das Sein rein als bestimmtes Sein Schein und nicht erst über die Reflexion auf ein wie auch immer reflektiertes Wesen. Es ist Schein durch die perspektivische Auflösung jeder Wesensbestimmung und die daraus resultierende Negation eines vom Sein unterschiedenen wahren Seins." Sein wird also Zeichen: „Nicht mehr Denken und Sein und auch nicht mehr Denken und Unterscheidung wahren und scheinhaften Seins sind dasselbe, sondern Denken und Interpretation von Zeichen, nicht als Interpretation auf eine gedachte feste Bedeutung hin, sondern als Übersetzung von Zeichen in andere Zeichen." (74). Stegmaier hatte dazu übereinstimmend bemerkt (1992:319ff), dass Nietzsche den Schein nicht wie Leibniz und Kant als Abglanz eines an sich Seienden, sondern wie Hegel als Schein eines Scheins denke und an derselben Stelle das Schein-Problem (kein absichtliches Wortspiel...) philosophisch näher erläutert. Ich respektiere die philosophische Absicht, das Thema der Interpretation auf diese Weise gleichzeitig historisch wie zeichentheoretisch zu öffnen, möchte aber von Anfang an deutlich machen, dass ich selbst darauf verzichten werde, und zwar einerseits schon aus Gründen mangelnder Kompetenz, andererseits aber auch, weil ich bezweifle, dass Nietzsche selbst in vergleichbarer Manier systematisch gedacht hat. Ricoeur (1965:34) weist zwar darauf hin, dass Nietzsche den Auslegungsgedanken aus der Philologie geborgt habe, schließt aber keine genauere Betrachtung des philologischen Erbes in der Interpretation an. Die Ausnahme unter den Philosophen ist Gadamer, der als ausgebildeter Philologe die Dialektik von Text und Interpretation schon früh erkannte. Der Text sei durchaus nicht nur das Gegebe-
1.2. ,Fundamentalvorgang' oder ,Tcxthermeneutik'
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sem Hintergrund eine sehr spezifische Bedeutung an, die dem Lesen sogar entgegengesetzt ist. Nietzsches Verständnis der Auslegung richtet sich an dem aus seiner philologischen Schulung vorgegebenen Muster von niederer und höherer Hermeneutik bzw. niederer und höherer Kritik aus. Die Philologie bleibt ihm sein Leben lang Leitwissenschaft und Ideal der Exegese — auch die ,Genealogie' hat er schließlich in Anlehnung an sie entworfen. An der oft zitierten Stelle des erwähnten Briefs an Carl Fuchs über die allein selig machenden Interpretationen, wird ausnahmslos unterschlagen, dass Nietzsche expressis verbis als „der alte Philologe" spricht, der „aus der ganzen philologischen Erfahrung heraus" spricht (III.5, 399ff.; s.o.). Noch im Antichrist, einem seiner letzten Texte, kürt Nietzsche neben der Medizin die Philologie zur Todfeindin des Aberglaubens (also des christlichen Glaubens). Von einer „Umwertung" der Philologie, wie z.B. von Schrift (1988) behauptet, oder gar der vollkommenen Lösung von ihr kann bei dem Nietzsche nach der Geburt der Tragödie jedenfalls keine Rede sein12. Es wäre hingegen an der Zeit, Jean Graniers Erkenntnis ernst zu nehmen, dass nämlich die „apologie de la science", die Nietzsche als Polemik gegen die Metaphysik diene, auf dem Paradigma der philologischen Methodik aufbaut (1966:75ff). Es wäre an der Zeit, sich von der Erkenntnis des großen Karl Reinhardt leiten zu lassen, die dieser schon in einem Vortrag des Jahres 1928 äußerte: D i e M e t h o d e , die [Nietzsche] w ä h r e n d seiner L e h r z e i t s c h u l g e m ä ß z u h a n d h a b e n gelernt hat, ist die philologische, historische M e t h o d e seiner Zeit. W o er in s p ä t e r e n S c h r i f t e n ü b e r M e t h o d e redet, r e d e t er m i t V o r l i e b e v o n ,Interpretation'. D e r Sinn, v o n d e m aus sein B e g r i f f der Interpretation v e r s t a n d e n w e r d e n will, b e s t i m m t sich d u r c h d e n p h i l o l o g i s c h e n B e g r i f f der Interpretation, so w i e er i h n als P h i l o l o g g e l e r n t hat. (Reinhardt, 1 9 6 0 b : 2 9 6 f )
Niemand hat diese Vorlage bisher aufgenommen, auch Reinhardt selbst hat sie nicht vertieft. In den folgenden Kapiteln soll dies nachgeholt werden, um schließlich den
ne, oft führe erst die Interpretation (via Textkritik etc.) zum Text. Er sei damit selbst ein hermcneutischer Begriff, eine Phase im Verstehensprozess, und nicht einfach das Endprodukt, als das ihn die Linguistik analysiere (1986:341). Aufgabe der Philologie sei es dementsprechend, Texte zuerst „lesbar" zu machen, im extremen Falle als Ubersetzung aus einer fremden Sprache. Textverständnis bleibt damit von kommunikativen Bedingungen abhängig, die über den Wortsinn hinausreichen (341 f) eine Erkenntnis, die nach der pragmatischen Wende auch in der Linguistik unkontrovers ist. Leider hat Gadamer diesen Textbegriff nicht an Nietzsche ausprobiert. Welche Gründe dafür den Ausschlag gegeben haben mögen, wird weiter unten erörtert. Die Chronologie ist hier, wie überall bei Nietzsche, von entscheidender Bedeutung. Die ColIi/Montinari-Ausgabe hat zweifelsfrei bewiesen, dass viele der für revolutionär und radikal gehaltenen fragmentarischen Äußerungen über die Interpretation aus dem Nachlass weit vor den späten in sich geschlossenen Werken entstanden sind und deshalb keineswegs als Nietzsches letztes Wort gelten dürfen. Da große Teile der bis heute einflussreichsten Nietzsche-Literatur noch auf der Schlechta-Ausgabe beruhen (im besten Falle: besonders in Frankreich und den USA wird bekanntlich nach wie vor mit noch unzureichenderen Übersetzungen und Nachlasskompilationen gearbeitet), können die falschen Vorstellungen noch lange nachwirken.
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
Gründen nachzugehen, warum nach Reinhardt niemand in dieser Weise über Nietzsche weitergedacht hat.
1.3. Methodische Vorentscheidungen, Text- und Quellengrundlage Die vorliegende Studie fühlt sich der philologischen, nicht der philosophischen Nietzscheforschung verpflichtet. Für sie mögen die Namen Mazzino Montinari oder Ernst Behler stehen — um nur jenen die Ehre zu erweisen, die sich gegen die Vereinnahmung nicht mehr wehren können. Die quellenkritische Rekonstruktion von Nietzsches Denken in der Nachfolge Montinaris ist ein überzeugendes Forschungsparadigma, freilich bedarf es verstärkter Bemühungen um die Lektüre und Auswertung der gefundenen Quellen: die bloße Verkettung von Quelle und Text genügt heute weder dem erreichten Stand der Literaturwissenschaft noch der Nietzscheforschung. Ich plädiere deshalb für eine zur philosophischen Nietzscheforschung komplementäre, philologisch-hteraturwissenschaftliche Lektüre als einer Kombination aus Edition, Textkritik, Quellenforschung und Lektüre, die sich am methodischen Inventar orientiert, welches in langer praktischer Arbeit am philologischen Umgang mit Texten entstanden ist — und das den Philologien, die sich allzu lange von ihrem eigenen methodischen Kern ablenken ließen, selbst in Erinnerung zu rufen ist. Ein Glaubensbekenntnis wird hier jedoch nicht abgelegt. Im Gegenteil: die theoretischen und methodischen Grundlagen werden in dieser Arbeit nicht wie üblich schon am Anfang breit dargestellt, sondern erst am Ende, als Resultate einer Praxis. Weil Theorie und Methode niemals unreflektierte Voraussetzung werden dürfen, seien sie als Schlussfolgerung aus dem Arbeitsprozess beschrieben. Gewonnen sind die Ergebnisse dieser Arbeit aus der ohnehin durch keine Absichtserklärung oder Theorie zu bändigenden zyklischen Beschäftigung mit den Quellen und insbesondere den Schriften Nietzsches, und zwar ohne dass die Lektüre noch durch ein Epitheton wie ,dekonstruktivistische', ,diskursanalytische', ,systemtheoretische' disqualifiziert werden müsste. Nietzsches Schriften und die verschiedenen Quellen stehen in einem komplizierten Verhältnis der gegenseitigen Erläuterung, das durch einen simplen Zirkel nur unzureichend beschrieben wäre. Da eine nietzscheadäquate Auffassung philologischer Methodik erst Ziel dieser Arbeit ist, muss ihre Darstellung auf das Schlusskapitel verschoben werden: Wollte ein Philosoph damit anfangen, die Methode, nach der er philosophieren will, sich auszudenken; so gliche er einem Dichter, der zuerst sich eine Aesthetik schriebe, um sodann nach dieser zu dichten: Beide aber glichen einem Menschen, der zuerst sich ein Lied sänge und hinterher danach tanzte. Der denkende Geist muß seinen Weg aus ursprünglichem Triebe finden: Regel und Anwendung, Methode und Leistung müssen, wie Materie und Form, unzertrennlich auftreten. Aber nachdem man
1.3. Methodische Vorentscheidungen, Text- und Quellengrundlage a n g e l a n g t ist, m a g m a n d e n z u r ü c k g e l e g t e n W e g betrachten. ( S c h o p e n h a u e r , 1988, 11.1:142)
Genauer beschrieben werden soll freilich die Text- und Quellengrundlage. Alle bisher publizierten Schriften Nietzsches, einschließlich des Briefwechsels, sowie einige noch nicht publizierte Materialien sind berücksichtigt worden, namentlich die Kollegnachschriften. Hier habe ich mich auf die philologischen Kollegnachschriften konzentriert. In ihrem Vorwort zu Band 1.4. der KGW begründen Herausgeber und Bearbeiter, Johann Figl und Ingo W. Rath, ihre Entscheidung, nur jene Kollegnachschriften Nietzsches in die gedruckte Edition dieser Abteilung aufzunehmen, die nicht philologischen Inhalts sind. Die Begründung überzeugt nicht. Insbesondere Figl sollte es aufgrund seiner eigenen Einsichten (s.o.) besser wissen. Für Nietzsches „Bildungsgang" seien die philologischen Kollegs weniger wichtig gewesen als die Handvoll theologischer und philosophischer Vorlesungen, die er besonders zu Beginn seines Studiums hörte (S. ix). Bei dieser schlicht unbewiesenen Behauptung handelt es sich um eine Nachwirkung jener unseligen und willkürlichen Trennung des philologischen vom philosophischen Nietzsche. Zwar geben viele der philologischen Kollegnachschriften in der Tat wenig her, das nicht aus Nietzsches philologischen Aufsätzen besser zu uns spräche. Die teilweise schwer leserliche oder verblasste Handschrift macht die Lektüre nicht zum Vergnügen. Dennoch ist die Entscheidung durch nichts zu rechtfertigen. In ihrer geballten Konzentration geben die Kollegnachschriften philologischen Inhalts ein wesentlich realistischeres Bild von Nietzsches „Bildungsgang" als eine verkürzende Darstellung, die Nietzsche von vornherein zum Philosophen stempelt, dessen Beschäftigung mit der Philologie gleichsam bloßes Versehen war. Da der frühe Nietzsche bzw. Nietzsche als Berufsphilologe jedoch selbst nicht im Mittelpunkt stehen, werden die Kollegnachschriften nur in wenigen Fällen als Belegmaterial herangezogen; die entsprechende Übersicht im Literaturverzeichnis dient vor allem der schnellen Orientierung und dem Nachweis des konkreten philologischen Bildungshintergrunds, der hier behauptet wird. Nietzsches übrige Philologica sowie der methodisch-philologisch aufschlussreiche Nachlass sind genauer untersucht worden, stehen jedoch gleichfalls nicht im Zentrum. Ausgehend vom philologischen Material liegt das Hauptgewicht der Analyse vielmehr auf Nietzsches Hauptschriften, denn sie sind es, die das Interesse am Nachlass und an den ansonsten absolut zeittypischen Vorlesungsnachschriften erst hervorgebracht haben. Die seit Heidegger vor allem in der akademischen Philosophie verbreitete Auffassung, wonach Nietzsches eigene Veröffentlichungen nur „Vordergrund" waren und seine wahre Philosophie erst im Nachlass der achtziger Jahre - d.h. in den Fragmenten, die den Kern des ominösen Willen Macht konstituierten13 - zu finden sei (vgl. Heidegger, 61998, Bd.
Der eigentliche Skandal des von Elisabeth Förster-Nietzsche kompilierten Witten %ur Macht war nicht so sehr die philologische Unzulänglichkeit oder der bösartige Wille zur Fälschung (letztlich
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1. Einleitung: Philologie und Interpretation
l:6ff), wird als unseriös abgelehnt. Aus philosophischer Sicht mag die Beschäftigung mit Kernsätzen bequem sein, deren konkreten Werkkontext man vernachlässigen kann - die Philosophie liebt an der Literatur immer das Fragmentarische (man denke nur an Hölderlin oder Celan). Nietzsches publizierte Schriften sind aber um einiges komplexer und anspruchsvoller als der Nachlass der achtziger Jahre, auch wenn dieser durchaus eine Fundgrube für den Kenner der Schriften darstellt und wertvolle Einsichten in Nietzsches Denkwerkstatt gestattet. Nach wie vor gibt es eine deutliche Arbeitsteilung auf dem Gebiet der Nietzscheforschung. Die Philosophen konzentrieren sich unvermindert auf den Nachlass (mittlerweile nicht mehr nur den späten, sondern auch den frühen), hier wirkt außer Heidegger auch Schlechta nach. Die Philologen beschäftigen sich eher mit den von Nietzsche selbst publizierten Werken; auch Montinari gab ihnen den Vorzug. Die zur Zeit besten Studien zu einzelnen Schriften Nietzsches kombinieren die verschiedenen Tugenden und bearbeiten — auf ganz verschiedene Weise — mit einem am Nachlass quellenkritisch und textgenetisch geschulten Instrumentarium Nietzsches eigene Veröffentlichungen (bzw. den autorisierten Nachlass), besonders das Früh- und Spätwerk (z.B. Groddeck, 1991; von Reibnitz, 1992; Stegmaier, 1994; Hödl, 1997; Sommer, 2000), in Einzelfällen inzwischen auch die mittleren Schriften (z.B. Brusotti, 1997). Die Natur der Thematik verbietet mir die Konzentration auf eine oder mehrere bestimmte Schriften. Gleichwohl waren einige wichtiger als andere, etwa der Antichrist oder die dritte Abhandlung zur Genealogie der Moral. Mit Werner Stegmaier, der hier einer langen Tradition der kritischen Nietzscherezeption folgt, möchte ich besonders die Relevanz von Nietzsches Spätwerk verteidigen. Nietzsche dürfe man niemals einfach als wahnsinnig abtun, zumal der Antichrist zeuge von „strengster gedanklicher Spannung" (Stegmaier, 1992:339) und stelle gemeinsam mit Ecce Homo nochmals eine Weiterführung von Nietzsches Denken dar14. Der Nachlass vermag einige Stellen in den veröffentlichten Werken zu erhellen, auch wenn diese Art der Beweisführung mit Vorsicht anzuwenden ist. Insgesamt liegt das Hauptgewicht der vorliegenden Arbeit somit auf den ab Menschliches, All^umenschliches erschienenen Texten mit Ausnahme des Zarathustra, der, da er einen ganz eigenen Zugang erfordert, hier nicht angemessen berücksichtigt werden konnte. Viele Quellenstudien zu Nietzsches Lektüre beschränken sich auf den Nachweis von Stellen, in denen der Wortlaut zwischen Quelle und Text so große Ähnlichkeit aufweist, dass Zufall ausgeschlossen und damit ein Einfluss bewiesen ist. Die bloße Entdeckung einer Quelle sagt jedoch noch lange nichts über ihre Umfunktionierung im neuen Kontext von Nietzsches Text aus, d.h. sie erlöst nicht besteht der lVille %ur Macht ja immer noch aus Nietzsches Formulierungen), sondern der Umstand, dass dieses Machwerk Hauptwerkstatus beanspruchte. Schon Willy Haas, Herausgeber der „Literarischen Welt" und einer der aktivsten Gegner des Nietzschearchivs unter Elisabeth Förster-Nietzsche nannte Ecce Homo „eines der brilliantesten kulturkritischen Werke der Weltliteratur" (Haas, 1929:lf). Zu dieser Tradition vgl. Bcnne (2004a).
1.3. Methodische Vorentscheidungen, Text- und Quellengrundlage
vom Imperativ der Auslegung, die auf diesen Kontext vor allem Rücksicht zu nehmen hat. Ausgehend von Nietzsches nachgelassener Bibliothek habe ich mich deshalb mit den für das Thema relevanten Quellen befasst, die Grenzen der Relevanz aber kaum festgelegt. Die aktuelle Nietzscheforschung orientiert sich teilweise zu sklavisch am zufällig erhaltenen Bestand der Weimarer Sondersammlung. Ich habe die Quellen aus der nachgelassenen Bibliothek um belegte oder sehr wahrscheinliche Exemplare erweitert, die nicht (mehr) im Nietzsche-Archiv aufgestellt wurden. So hat Nietzsche bereits nach Aufgabe seiner Basler Professur einen guten Teil der philologischen Literatur verkauft. Relevant sind darüber hinaus frühere und zeitgenössische Autoren verschiedenster Herkunft, die sich auf thematisch verwandtem Gebiet bewegen, — und seien sie nur als Kontrastfolie geeignet. Der Nachweis, ob Nietzsche sie gekannt hat oder nicht, ist in diesen Fällen gleichgültig. Viele benutzte Quellen entstammen dem Bereich der Philologiegeschichte, die in der Forschung zur Wissenschaftsgeschichte überraschend schlecht vertreten ist. Paradoxerweise haben die Geisteswissenschaften, die beizeiten alle anderen Wissenschaften dazu anhielten, ihre Geschichte zu reflektieren, vergessen, vor der eigenen Haustüre zu kehren. Auch wenn sich hier immerhin gerade etwas ändert, so gibt es heute fast mehr Literaturwissenschaftler, die sich forschungsmäßig mit der Geschichte anderer Wissenschaften (Medizin, Anthropologie, Chemie usf.) beschäftigen, als mit der Geschichte der eigenen Disziplin. Meine Versuche, Ordnung in das Archiv zu bringen, sind dementsprechend vorläufig und tastend15. Ich ziehe ferner einige Quellen aus der europäischen Literaturgeschichte heran, seien sie nun in Nietzsches nachgelassener Bibliothek erhalten oder nicht16. Nietzsche kannte die Literaturgeschichte besser als die Philosophiegeschichte, und seiner ungewöhnlichen Belesenheit (er war, trotz gegenteiliger Beteuerungen, ein ausgesprochener Vielleser) kann man wohl nur auf komparatistischem Weg gerecht werden. Gewiss gibt es in den Archiven noch ungehobene Schätze, selbst alle Schriften von Nietzsches eigener Hand sind entgegen weit verbreiteter Annahmen noch nicht vollständig veröffentlicht. Ich erwarte von neuen Funden jedoch keine Falsifizierung meiner Thesen. Die Arbeit mit dem einmal ausgewählten Material erschien letztlich wichtiger als seine kontinuierliche Ergänzung.
Im NPAU liegt seit kurzem ein Eintrag zur Philologiegeschichte von Joachim Latacz und Peter Lebrecht Schmidt vor („Philologie" in Bd. 15/2, S. 238-327), der mir während der Abfassung des Manuskripts zwar noch nicht zur Verfügung stand, dessen hervorragende Ubersicht aber eine gute Vergleichsbasis zu den von mir herausgearbeiteten Linien abgeben kann. Hier auch weitere bibliographische Hinweise zum Thema. Auf seine unsteten Wanderungen musste Nietzsche mit der Größe seiner Bibliothek haushalten. Wir wissen, dass er fast alle belletristischen Werke, waren sie einmal gelesen, verschenkte bzw. verkaufte oder gegen neue Bücher eintauschte.
2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus 2.1. Beruf und Berufung Die Philologie ist für Nietzsche eine Lebensentscheidung gewesen. Schon in der Schulzeit nahm die Beschäftigung mit ihr seine Abwendung vom Christentum vorweg; sie ließ ihn auf der Universität das Studium der Theologie abbrechen, zu dem er sich von der Familie noch gedrängt gesehen hatte17. Von Beginn an ist die Philologie eine Entscheidung für wissenschaftliche ,Redlichkeit', für Methodik: Nietzsche begeistert sich weniger für die Schilderung und Erforschung des griechisch-römischen Altertums als für die strenge Kritik der Bonner Schule Friedrich Ritschis. Das Urteil der wichtigsten Biographen, die mehr als andere das landläufige Nietzschebild geprägt haben, ist freilich einstimmig. Weder Walter Kaufmann (31968) noch Werner Ross (21994) schenken der Philologie viel Aufmerksamkeit. Ross stellt die Basler Zeit zwar recht umfassend dar, interessiert sich jedoch kaum für die eigentliche berufliche Tätigkeit Nietzsches und ihre Beziehung zu seinen anderen Lebensumständen oder gar seinen Denkweg. Die Lösung Nietzsches von der Philologie interpretiert er als Prozess der Entfremdung. Walter Kaufmann schreibt die Aufgabe der Basler Stellung vor allem gesundheitlichen Gründen zu. Curt Paul Janz ist gründlicher. Er erzählt von einem den Büchern verfallenem Knaben, der in der Pforte methodisch und sachlich von Koryphäen der Philologie exzellent ausgebildet worden ist18 und vom Geist der Philologie völlig durchtränkt die Universität bezieht. Aber Nietzsches Begeisterung für Friedrich Ritsehl und seine Art der Philologie stellt Janz als gleichsam unfreiwillige, von der charismatischen Persönlichkeit Ritschis ausgelöste, ansonsten wenig nachvollziehbare Faszination dar. Zwar erkennt Janz die Bedeutung der methodischen Schulung Nietzsches durch die Philologie an, letztlich habe sie ihn aber „einen großen Teil seines Lebens gekostet" (Bd. l:173ff). Spätestens mit der Entdeckung Schopenhauers und F.A. Langes in der Leipziger Zeit beginne Nietzsches innere Lösung Paul Deusscn berichtet, wie die Schüler der Schulpforte ihre Frömmigkeit durch einen historisch-kritischen, an der philologischen Methodik ausgerichteten Umgang mit der Bibel verloren (1901:4). Dazu neuerdings Schmidt (1991ff, Bd. II. 1). In den gut recherchierten Ausfuhrungen finden sich viele Quellenhinweise.
2.1. Beruf und Berufung
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vom Fach. Wie die anderen Biographen auch behandelt Janz die Studienzeit oberflächlich und ohne besonderes Interesse. Der Basler Dekade wird mehr Platz eingeräumt, allerdings steht hier das Verhältnis zu Wagner im Mittelpunkt. Nietzsche habe die Professur dann aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Für Janz ist wie für die gesamte traditionelle Nietzscheforschung die Philologie nach der Basler Zeit erledigt, obwohl er es am Rande doch erwähnenswert findet, dass Nietzsche die historisch-kritische Methode im Antichrist wiederzubeleben scheine (Bd. 2:595). Die Biographen schreiben hinsichtlich Nietzsches Verhältnisses zur Philologie letzlich die hagiographische Tradition seiner Schwester fort und folgen ihrer Schilderung von Nietzsches Basler Krise und Krankheit, die ihm zuletzt die Loslösung von der Philologie erlaubt habe (vgl. Förster-Nietzsche, 1897, Bd. 2.1., bes. 327f). Dies schien eine plausible Deutung, mit deren Hilfe man den schwer zugänglichen jungen Philologen zugunsten des eigentlichen Nietzsche, des reifenden und gereiften Philosophen, guten Gewissens ignorieren konnte. Eine differenziertere Lesart muss man, wie so oft, bei Lou Andreas-Salome suchen. Auch sie verbindet die Aufgabe der Professur mit Nietzsches Gesundheitszustand (2000:117f), da er sein geringes Augenlicht eben für andere Studien als ausgedehnte philologische Mikroskopie benötigte. Auch sie betont, dass die strenge philologische Schulung durch die Methode Ritschis die schöpferischen Kräfte des „jungen Feuergeistfes]" (78) nicht zur vollen Entfaltung kommen ließ. Indes verbindet sie gleichzeitig Nietzsches Affinität zur Feinheit, zur Subtilität in Auffassung und Erkenntnis mit seiner philologischen Herkunft (83). Geht sie schon darin über die anderen Biographen hinaus, so lässt sich ihre grundsätzliche' Einsicht in Nietzsches Denkdynamik besonders gut auf sein Verhältnis zur Philologie anwenden: [...] was Nietzsche am grundsätzlichsten zu bekämpfen scheint, das nimmt er schließlich selbst am grundsätzlichsten in seine Theorie auf, - aber nur in den äußersten Consequenzen und im extremsten Sinn. Was er auf seinem Wege als Mittel zum Zweck am entschiedensten verwirft, das benutzt er schließlich, um es seinem Endzweck, seinem Ziele selbst einzuverleiben. Ja, man kann überall da, wo Nietzsche irgend etwas mit ganz besonderem Hasse verfolgt und erniedrigt, mit Sicherheit annehmen, daß es irgendwie tief — tief im Herzen seiner eigenen Philosophie oder seines eigenen Lebens steckt. Dies gilt sowohl von Personen wie von Theorien. (239)
Es gibt in der Tat eine Phase, in der Nietzsche die Philologie aktiv zu bekämpfen scheint. Auf sie wird später genau einzugehen sein (s. v.a. 5.3.-5.5.). Die Forschung zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Philologie hat sich zu ihrem Nachteil fast ausschließlich auf diese Phase konzentriert, nämlich auf die Entstehungszeit der Notizen zur geplanten Un^eitgemässen Betrachtung mit dem Titel „Wir Philologen". Die Philologie werde sich, so heißt es dort Mitte der siebziger Jahre, selbst die Existenzgrundlage entziehen, wenn sie ihren kritisch-zerstörerischen Pfad weiterverfolge: „Der zukünftige Philologe als Sceptiker über unsre ganze Cultur und damit auch als Vernichter des Philologen-Standes." (TV 5[55]) - so lautet etwa der Entwurf einer Kapitelüberschrift. Nietzsche stilisiert die Philolo-
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
gie zeitweilig zur blutarmen Beschäftigung von Hilfsarbeitern, die einer schaffenden Philosophie diametral entgegensteht. Das Bild vom Philologen als Antipoden der wahren Griechen und bloßem „Kärrner" der Wissenschaft (vgl. etwa Pöschl, 1979) liefert Schlagworte bis heute19. „Wir Philologen" hat in neuerer Zeit besonders durch die Aufnahme in den dritten Band der einflussreichen Ausgabe Schlechtas (SA) gewirkt, nachdem sie erstmalig in der Großoktavausgabe (GA) und danach in der lange Zeit weit verbreiteten Taschenausgabe von 1906 (TA) erschienen war und in der Folge in alle auf diesen Editionen beruhende Nietzscheausgaben Eingang fand. Durch ihre Präsentationsform erhalten die Aufzeichnungen und unfertigen Reflexionen in Form einer Fragmentsammlung unzulässigerweise Werkcharakter, der sie ununterscheidbar von den aphoristischen Büchern macht. „Wir Philologen" vermittelt die Illusion, Nietzsche habe hier zusammenhängend das letzte Wort über die Philologie gesprochen20. Allerdings heißt es in „Wir Philologen" auch: „Man glaubt es sei zu Ende mit der Philologie — und ich glaube, sie hat noch nicht angefangen." (IV 3[70]). Man kann darin die Absichtserklärung einer Zukunftsphilologie21 erkennen, die Nietzsche dann selbst doch nie verwirklicht hat. Es könnte aber auch sein, dass Nietzsche die Philologie unbewusst oder absichtlich in seinen künftigen Denkweg eingebaut hat. Nicht umsonst weist Nietzsche in einer seiner bedeutendsten Arbeiten daraufhin, dass es „historische und philologische Schulung" gewesen sei, die ihn in Verbindung mit einem angeborenen psychologischen Sinn zu seinen eigentlich neuen und revolutionären Fragen inspirierte (GM Vorrede 3, 5:249). Der Irrtum, dem die Forschung bis heute unterliegt, besteht darin, der historisch-kritischen Kärrnerarbeit überhaupt jede Bedeutung für Nietzsche abzusprechen. Kaum jemand scheint erkannt zu haben, dass sich seine philologiekritischen Äußerungen in erster Linie gegen die Existenzform des Philologen, gegen den Berufsstand richten und nicht gegen die Wissenschaft als solche. In Ecee Homo, dem bei aller Rhetorik zumindest passagenweise direktesten und unzweideutigsten Buch Nietzsches, beschreibt er, „wie nutzlos, wie willkürlich" sich seine ganze „Philologen-Ew/i?»^" angesichts seiner „Aufgabe" ausnehme. Nur die zehn Basler Jahre verdammt er mithin als Zeitverschwendung, nicht die philologische Ausbildungszeit: „Zehn Jahre hinter mir, wo ganz eigentlich die E r n ä h rung des Geistes bei mir stillgestanden hatte, wo ich nichts Brauchbares hin^geMan vergleiche auch die oft amüsante Gegenüberstellung der antiken Griechen mit den zeitgenössischen Philologen in IV 5[59]. Zu „Wir Philologen" sind in jüngster Zeit die vorbildlichen Arbeiten Canciks und Cancik/Cancik-Lindemaiers (1994, 1999, 2002) erschienen, wobei pädagogische Interessen im Mittelpunkt stehen; die hier interessierenden methodischen Fragen spielen praktisch keine Rolle. Die höchst aufschlussreiche textgenetische Behandlung in Cancik (1994) demonstriert deutlich die fließenden Ubergänge der Aufzeichnungen zu später publizierten Schriften, darunter v.a. Menschliches, All^umenschliches. Ich benutze den von Wilamowitz spöttisch gebrauchten Begriff als neutrale Abkürzung für Nietzsches wissenschaftliches Reformprojekt. Dazu später mehr.
2.1. Beruf und Berufung
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lernt hatte". Das methodische Studium der Philologie ist damit nicht getroffen, sondern nur der Umstand, bei ihm stehengeblieben zu sein, statt darauf aufzubauen. „Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften". Zu „eigentlichen historischen Studien", d.h. historisch-kritischen, sei er erst wieder zurückgekehrt, als „die A u f g a b e " ihn „gebieterisch dazu zwang". Der „instinktwidrig gewählten Thätigkeit, einem sogenannten ,Beruf" gilt seine Verachtung — hier ist jede geregelte Berufstätigkeit gemeint. Durch sie habe er das Opiat Wagner durch eine neue Betäubung ausbalancieren wollen. Schwarz auf weiß steht also zu lesen, dass Nietzsche die Philologie durchaus wieder nützlich geworden ist und Grundlage seiner weiteren Studien wurde (EH Menschliches, Allzumenschliches 3, 6:325; alle Kursivierungen von mir). Selbst in den Entwürfen zu „Wir Philologen" ist Nietzsches Verhältnis zur Philologie nicht eindeutig negativ, sondern bestenfalls ambivalent: „Gegen die Wissenschaft der Philologie wäre nichts zu sagen: aber die Philologen sind auch die Erzieher. Da liegt das Problem, wodurch auch diese Wissenschaft unter ein höheres Gericht kommt." (IV 3[3]). Zieht man die pädagogischen Aufgaben der Philologie ab, bleibt ein Residuum, welches die Philologie überhaupt erst als Wissenschaft legitimiert. Schon Nietzsches wichtigster Lehrer Friedrich Ritsehl äußert diesen Gedanken, wenn er auf den Widerspruch hinweist, der darin liege, die Philologie einerseits als Bildungsfach der Schule zu instrumentalisieren, um sie im selben Atemzug für die reine und zwecklose Wissenschaft zu reklamieren (1879:23). Es fällt auf, dass auch Nietzsche sich späterhin negativ über die Philologie nur als pädagogisches Zwangsmittel äußert (z.B. GD 29, 6:129). Dass an ihren gewaltigen Materialmengen vor allem „ochsen" zu lernen sei, wird freilich an anderer Stelle wiederum als „unschätzbar" gewürdigt, da hier jene Trennung von Lust und Pflicht eingeübt werde, welche erzieherische Grundlage vieler Tätigkeiten sei (VIII 10[11]). Im Umfeld von „Wir Philologen" tritt ein Nietzsche auf, der aktiv versucht, nützliche und weniger nützliche Teile der Philologie voneinander zu scheiden. Der Titel soll eben „Wir Philologen" und nicht „Die Philologen" lauten; Nietzsche sucht zu retten, was zu retten ist. Die schlimmsten Zweifel, sie fallen bereits in die frühe Studienzeit, hat er lange hinter sich. Die Forschung hat sich um derlei chronologische Feinheiten freilich bisher kaum gekümmert, denn sie passen schlecht zur teleologischen Entwicklungsgeschichte vom Philologen, der sich nach schrittweisem Desillusionierungsprozess schließlich in den Künstlerphilosophen und freien Geist verwandelt. Schon im Oktober 1868 formuliert Nietzsche gegenüber Paul Deussen die einprägsame Formel von der Philologie als „Mißgeburt der Göttin Philosophie, erzeugt mit einem Idioten oder Cretin" (KGB 1.2:329). In einem Brief an Gersdorff vom 6. April 1867 — zu einer Zeit, da er in anderen Briefen noch als überzeugter Jünger Friedrich Ritschis auftritt — beklagt er das Fehlen einer erheben-
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrimsmus
den „Gesamtanschauung des Alterthums". Die Philologen konzentrierten sich zu stark auf einzelne Punkte; ihre Arbeitsweise, das Sichten aberdutzender Bücher, „die den Nerv des selbständigen Denkens ausglühen", sei tödlich (I.2.208ff). Ein knappes Jahr später bereits gibt er seine Absicht bekannt, „den Philologen eine Anzahl bittrer Wahrheiten zu sagen", dass sie nämlich von einigen wenigen großen philosophischen Geistern abhängen und immer abhängig waren, welche selbst kaum Philologie getrieben haben (Brief an Rohde vom 1.-3. Februar 1868, I.2:245ff). Die vielen philologiekritischen Äußerungen für ausgewählte Freunde (vor allem Deussen, Rohde und Gersdorff) dienen ihnen gegenüber als Nachweis, auf der Höhe der Zeit zu bleiben und sich nicht als Musterschüler mit Leib und Leben dem künftigen Broterwerb verschrieben zu haben. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass der Liebhaber wechselnder Masken sich nur auf die jeweiligen Briefpartner einlässt. Nietzsche will nicht als jemand gelten, der Schopenhauer missverstanden hat. Der im Vergleich zu seinen Kommilitonen so erfolgreiche Jungphilologe relativiert ihnen gegenüber seine Leistungen, die ohne kolossales Engagement gar nicht hätten erbracht werden können. Es ist übrigens zu bezweifeln, ob Nietzsche tatsächlich jemals Schopenhauerianer war22. Zwar sieht Nietzsche in dieser Zeit seine eigene Zukunft durchaus eher in der Philosophie als der Philologie, die geplante Dissertation über den Begriff des Organischen bei Kant als Mischung aus Philosophie und Naturwissenschaft ist aber bekanntlich eher von F.A. Lange angeregt23. Als das Angebot der Basler Professur plötzlich über ihn hereinbricht, schreibt er am 16. Januar 1869 einen aufschlussreichen Brief an Rohde, in welchem er sich für die Absage der lange vorbereiteten Reise nach Paris entschuldigt. Eigentlich, so Nietzsche, habe er vor dem Angebot ja vorschlagen wollen, die Philologie zum „Urväterhausrath" zu werfen und gemeinsam Chemie zu studieren (1.2:360). Bereits hier findet sich also eine Vorahnung auf jene berühmte „Chemie der B e g r i f f e und E m p f i n d u n g e n " (MA 1.1, 2:23), mit denen Jahre später, nach dem langen 22
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Bereits im R.ückblick auf meine ^wei Leipziger Jahre (KGW 1.4:506-539) schildert Nietzsche seine Entdeckung Schopenhauers ironisch-distanziert. Sie sei in eine Phase der Vereinsamung, Orientierungslosigkeit und des Weltschmerzes gefallen (512ff). Auf die Ergriffenheit folgen bald wieder nüchternere Tage: „In jene Zeit fällt die Gründung des philologischen Vereins." (514). Vgl. Nietzsches Brief an Gersdorff vom Ende August 1866, der seine Entdeckung Langes schildert (I.2:156ff). Für Mushacke beschreibt Nietzsche im November 1866 Langes Geschichte des Materialismus als das bedeutendste philosophische Werk der letzten Jahrzehnte; außer Kant, Schopenhauer und Lange benötige er keine weitere philosophische Lektüre (I.2:180ff). Das Standardwerk zur Bedeutung Langes für Nietzsche ist Stack (1983), grundlegend nach wie vor aber Salaquarda (1978). Nietzsche hat das 1866 erschienene Buch Langes im selben Jahr erworben und sehr schnell gelesen. Salaquarda weist gegenüber anderen Autoren nach, dass Lange auch noch in den achtziger Jahren von großer Bedeutung für Nietzsche blieb. Wichtig ist auch ein weiterer Brief an Gersdorff, der sich auf seine Demokritforschungen bezieht, die offensichtlich stark von Lange geprägt sind. Nietzsche spricht hier von seinen „ A b d e r i t c n s t r e i c h e n " (1.2:350), was wohl als klarer Hinweis auf Wielands Roman Die Abderiien (Wieland, 1966) gedeutet werden darf, der gewiss eine wichtige Anregung bei der Konzeption des Freigeistes gewesen ist (vgl. auch WS 107, 2:599). Zu Nietzsches Demokritforschungen vgl. neuerdings Porter (2000a).
2.1. Beruf und Berufung
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beruflichen Intermezzo, Menschliches, All^umenschliches anheben soll. Nietzsche ist nicht nach einer wie auch immer gearteten Uberwindung der Philologie plötzlich zum Philosophen mutiert. Im Gegenteil ergänzt er, bei anhaltender Skepsis gegenüber dem Philologenfera£ die philologische Methode schon früh mit einem ausgeprägten, von F.A. Lange inspiriertem Interesse an den Naturwissenschaften, deren Leitdisziplin die Chemie zu dieser Zeit noch ist. Die Frage, warum Nietzsche nicht akademischer Philosoph geworden ist, drängt sich angesichts der Standardversion von selbst auf. Es bereitete ihm offenbar keine Schwierigkeiten, als Student der Theologie zur Philologie zu wechseln. Warum wechselte er später nicht zur Philosophie? Auch hier hätte ihm eine akademische Karriere offengestanden. Andere Freunde wechseln ebenfalls das Studienfach. Für Nietzsche, glaubt Janz stellvertretend für viele zu wissen, sei die Philologie von Anfang an Mittel, nicht Ziel gewesen24. Die Dokumente sprechen eine andere Sprache. Es gibt durchaus den Nietzsche, der in einer philologischen Professur die Erfüllung eines Lebenstraumes sieht. Seine schnelle Enttäuschung hat mit den tatsächlichen Arbeitslasten (etwa am Basler Pädagogium) und nicht zuletzt damit zu tun, das Ziel zu schnell und in dem Wissen erreicht zu haben, dass das bereits Geleistete den eigenen Ansprüchen nicht genügt. Zwar bewirbt sich Nietzsche 1871 in Basel informell auf eine Philosophiedozentur, wollte damit aber vor allem erreichen, dass auf seine dann frei werdende Stelle Rohde berufen werden und sich ihm so wieder anschließen könnte25. Es blieb bei dem einen halbherzigen Versuch, obwohl sich Mitte der siebziger Jahre erneut Gelegenheiten boten. Hätte Nietzsche sein Ziel ernsthaft verfolgt, wäre es ihm vielleicht geglückt. Er spürte gewiss, dass eine philosophische Professur ebenso viele Einschränkungen mit sich führen würde, wie eine philologische26. 24
„Er hatte sich als für seinen Beruf für die Philologie entschieden, obwohl ihm schon damals klar war, daß sie ihm nur ein Mittel, nicht das letzte Ziel sein könne." (Janz, 1978:172) So verwegen psychologisch spekuliert Janz an nur wenigen Stellen.
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Vgl. den Bewerbungsbrief für den philosophischen Lehrstuhl als Nachfolger Teichmüllers an den Ratsherrn und ehemaligen Philologen Wilhelm Vischer-Bilfinger, der entscheidend für seine Berufung verantwortlich gewesen war. Im Brief vom Januar 1871 beklagt Nietzsche am philologischen Beruf v.a. die pädagogische Belastung, eine Selbsteinschätzung, die sich in vielen anderen Briefen und Dokumenten wiederholt (die hohe Stundenzahl am Pädagogium, die kurzen Ferien, die Prüfungen usw. halten ihn von der eigentlichen wissenschaftlichen Tätigkeit ab). In dem Brief gibt er zu, dass seine philosophische Kompetenz ausweisbedürftig ist, fühlt sich aber „für jenes Amt befähigter [...] als für ein rein philologisches", wobei er ironischerweise seine solide philologische Bildung hervorhebt, die es ihm ermögliche, Aristoteles und Piaton richtig lesen zu können (II.l:174ff)! Die Briefe im Umfeld zeigen, wie dringend er eine Wiedervereinigung mit Rohde wünscht, den er gleich als möglichen Ersatz vorschlägt und den er sogar zu einer Bewerbung in Zürich drängt, um ihm näher zu sein. Im Briefwechsel lässt sich ferner verfolgen, wie stark die Frustration über die Philologie mit pädagogischem Misserfolg und fehlender Anerkennung, insbesondere nach dem Debakel der Tragödienschrift, zusammenhängt.
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Nietzsche begreift sich mehr und mehr als Künstler (bzw. Artist), höchstens als freien philosophe. In Guyaus Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction aus dem Jahr 1885 streicht er sich folgende Stelle mit dem Zusatz an: „So war meine eigene Existenz in Basel." — „Supposons par exemple un artiste qui sent en lui le genie et qui s'est trouve condamne toute sa vie a un travail manuel; ce sentiment d'une existence perdue, d'une täche non remplie, d'un ideal non realise, le
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Philosophische Themen ähnlich der einst geplanten Dissertation hat er nicht mehr aufgegriffen. Nietzsche blieb auf philosophischem Gebiet ein Autodidakt, der nur wenige Grundtexte der Philosophiegeschichte gut kannte, der von Aristoteles wohl nur die Rhetorik gelesen hat, dem viele philosophische Subdisziplinen und Fragestellungen fremd waren. Mit neueren Philosophen kam er oft nur über zweite Hand in Berührung. Nietzsche, der 1872, kurz vor dem Skandal um die Tragödienschrift, sogar einen Ruf nach Greifswald erhält, gibt seine Professur aber auch nicht auf, um sich Wagners Bayreuther Projekt zu widmen, obschon ihm dergleichen Überlegungen nicht unbekannt waren, sondern erst dann, als er mit Wagner längst gebrochen hat. Nietzsche bleibt ein Jahrzehnt lang professioneller Philologe, der in den letzten Jahren zwar keine fachwissenschaftlichen Abhandlungen mehr veröffentlicht, aber gewissenhaft Vorlesungen hält, die nicht vermuten lassen, dass es sich um den Verfasser der Geburt der Tragödie, geschweige denn der Werke der achtziger Jahre handelt. Noch in Conrad Bursians Geschichte der classischen Philologie in Deutschland aus dem Jahr 1883 gilt Nietzsche als konventioneller Philologe in der gramma tisch-kritischen Richtung seit Gottfried Hermann27. Bis heute ist nicht nur die Tragödienschrift ein „fruchtbares Ärgernis" der Philologie geblieben (s. Latacz, 1998), sondern werden sogar Nietzsches einschlägige fachphilologische Arbeiten geschätzt (vgl. Barnes, 1986). In Nietzsches frühem Ungenügen an der Philologie ringt in erster Linie eine berufliche, keine wissenschaftliche Krise nach Ausdruck.
poursuivra, obsedera sa sensibilite ä peu pres de la meme maniere que la conscience d'une defaillance morale." (zit. nach Förster-Nietzsche, 1897, 2.1:327). Nietzsches Vorstellung vom Philosophen ist das ausdrückliche Gegenteil des akademischen Beamten (SE 7, l:409f). Jenen treffen vielmehr dieselben Vorwürfe wie alle anderen Gelehrten auch. Die Philologen zieht Nietzsche dabei sogar noch allen Wissenschaftlern vor, die sich mit ein wenig dilettantischer Naturwissenschaft oder Historie legitimieren wollen, besonders aber den Philosophiehistorikern, „denn bei den meisten gelehrten Arbeiten, welche Universitätsphilosophen machen, hat ein Philolog das Gefühl, dass sie schlecht gemacht sind, ohne wissenschaftliche Strenge und meistens mit einer hassenswürdigen Langweiligkeit." (SE 8, l:416-418ff). Nietzsche wird hier mit der Arbeit über Diogenes Laertius erwähnt: „Für die Erforschung der von Diogenes für die Compilation seines Werkes benutzten Quellen hat ein jüngerer deutscher Philolog, der leider seit 1879 durch Kränklichkeit sich genöthigt gesehen hat, seine Lehrtätigkeit an der Universität Basel und am Pädagogium in Basel einzustellen, F r i e d r i c h W i l h e l m N i e t z s c h e (geboren in Röcken bei Lützen 15. October 1844), Treffliches geleistet." In einer Anmerkung werden weitere „beachtenswerte Arbeiten" Nietzsches aufgezählt, außer den Arbeiten für das Rheinische Museum sogar die Geburt der Tragödie. (Bursian, 1883:929). Hermann Diels, Generationsgenosse Nietzsches und Herausgeber der von diesem so geschätzten Vorsokratiker, setzt sich offenbar noch in den neunziger Jahren ernsthaft mit Nietzsches Philologica auseinander (vgl. den Brief an Usener vom 17. November 1892 in Diels/Usener/Zeller, 1992, Bd.l:436) Zu Nietzsches Beschäftigung mit Diogenes s. Bamcs (1986) und Gigante (1994).
2.2. Alexandrinismus
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2.2. Alexandrinismus Als Kontrast zu „Wir Philologen" lohnt es sich, die Philologie bei Nietzsche aus rückwärts gewandter Perspektive, von den letzten Werken her zu betrachten, denen Nietzsche selbst eine methodische Rückkehr zu Philologie bescheinigt hat. Die wichtigste Qualität der Philologie in diesem Kontext lässt sich durch das Wort ,Redlichkeit' bezeichnen. Das Motiv der Redlichkeit oder intellektuellen Rechtschaffenheit zieht sich als der berühmte rote Faden durch Nietzsches Schaffen. Die Philologie ist ihr Unterpfand, Philologie und Redlichkeit treten bei Nietzsche annähernd synonym auf. Philologie bedeutet wertsetzende Selbstverpflichtung: einem Ethos gemäß zu forschen, das zwar nicht objektive, aber nachvollziehbare Ergebnisse liefert28. Ohne derartige Grundlage sind Kulturen zum Tode verurteilt: „Lob der Philologie: als Studium der Redlichkeit. Das Alterthum gieng am Verfall derselben zu Grunde." (V 6[240]). Diese Notiz aus dem Jahr 1880 hat Nietzsche mehrfach in abgewandelter Form verwendet. Am stärksten ausgebaut hat er sie in einer der letzten Schriften, im Antichrist29: Die ganze Arbeit der antiken Welt u m s o n s t : ich habe kein Wort dafür, das mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt. — Und in Anbetracht, dass ihre Arbeit eine Vorarbeit war, dass eben erst der Unterbau zu einer Arbeit von Jahrtausenden mit granitnem Selbstbewusstsein gelegt war, der ganze Sinn der antiken Welt umsonst!...Wozu Griechen? wozu Römer? - Alle Voraussetzungen zu einer gelehrten Kultur, alle wissenschaftlichen M e t h o d e n waren bereits da, man hatte die grosse, die unvergleichliche Kunst, gut zu lesen, bereits festgestellt — diese Voraussetzung zur Tradition der Cultur, zur Einheit der Wissenschaft; die Naturwissenschaft, im Bunde mit Mathematik und Mechanik, war auf dem allerbesten Wege, - der T h a t s a c h e n S i n n , der letzte und werthvollste aller Sinne, hatte seine Schulen, seine bereits Jahrhunderte alte Tradition! Versteht man das? Alles W e s e n t l i c h e war gefunden, um an die Arbeit gehn zu können: — die Methoden, man muß es zehnmal sagen, sind das Wesentliche, auch das Schwierigste, auch das, was am längsten die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat. Was wir heute, mit unsäglicher Selbstbezwingung - denn wir haben Alle die schlechten Instinkte, die christlichen, irgendwie noch im Leibe - , uns zurückerobert haben, den freien Blick vor der Realität, die vorsichtige Hand, die Geduld und den Ernst im Kleinsten, die ganze R e c h t s c h a f f e n h e i t der ErkenntDass Nietzsches philologische Schulung Vorbild der intellektuellen Redlichkeit war, ist zwar andernorts auch erkannt worden (etwa Sommer, 2000:162f). Wissenschaftlich ist diese Einsicht aber bisher folgenlos geblieben. A m einflussreichsten ist wohl die Darstellung von Jaspers gewesen, der zwar allgemein die Bedeutung der Methode für Nietzsches Redlichkeit betont, aber ihre philologische Herkunft unterschlägt, da sie ohnehin der Philosophie untergeordnet bleibe ( 2 1950:170-184). Die Verbindung von Philologie und Wahrheitstrieb wird schon am Rande von Granier (1966) behandelt. Das ansonsten großartige Buch von Brusotti (1997) widmet sich dem Motiv des Erkenntnistriebes und der intellektuellen Redlichkeit ohne näher auf die Philologie einzugehen. A m Ende sieht Nietzsche dieses Buch bekanntlich sogar als das lange geplante Hauptwerk an: „Meine U m w e r t u n g a l l e r W e r t h e , mit dem Haupttitel ,der Antichrist' ist fertig" - Brief an Paul Deussen, 26. November 1888 (111.5:492). Vgl. auch den Briefentwurf an Georg Brandes von Anfang Dezember 1888 (III.5:500ff).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
niss — sie war bereits da! vor mehr als zwei Jahrtausenden bereits! U n d , dazu gerechnet, der gute, der feine Takt und Geschmack! N i c h t als Gehirn-Dressur! N i c h t als „deutsche" Bildung mit Rüpel-Manieren! Sondern als Leib, als Gebärde, als Instinkt als Realität mit Einem Wort...Alles u m s o n s t ! Über Nacht bloss noch eine Erinnerung! - Griechen! Römer! Die Vornehmheit des Instinkts, der Geschmack, die methodische Forschung, das Genie der Organisation und Verwaltung, der Glaube, der W i l l e zur Menschen-Zukunft, das grosse Ja zu allen Dingen als Imperium Romanum sichtbar, für alle Sinne sichtbar, der grosse Stil nicht mehr bloss Kunst, sondern Realität, Wahrheit, L e b e n geworden...- Und nicht durch ein Natur-Ereigniss über Nacht verschüttet! Nicht durch Germanen und andre Schwerfüssler niedergetreten! Sondern von listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyrn zu Schanden gemacht! Nicht besiegt, - nur ausgesogen!...Die versteckte Rachsucht, der kleine Neid H e r r geworden! Alles Erbärmliche, An-sich-Leidende, Von-schlechten-GefühlenHeimgesuchte, die ganze G h e t t o - W e l t der Seele mit Einem Male o b e n a u f ! Man lese nur irgend einen christlichen Agitator, den heiligen Augustin zum Beispiel, um zu begreifen, um zu r i e c h e n , was für unsaubere Gesellen damit obenauf gekommen sind. Man würde sich ganz und gar betrügen, wenn man irgendwelchen Mangel an Verstand bei den Führern der christlichen Bewegung voraussetzte: - oh sie sind klug, klug bis zur Heiligkeit, diese Herrn Kirchenväter! Was ihnen abgeht, ist etwas ganz Anderes. Die Natur hat sie vernachlässigt, - sie vergass, ihnen eine bescheidene Mitgift von achtbaren, von anständigen, von r e i n l i c h e n Instinkten mitzugeben... Unter uns, es sind nicht einmal Männer... [...] (AC 59., 6:247ff)
Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, auf welche Texte des Augustinus oder anderer Kirchenväter sich Nietzsche hier bezieht30. Entscheidend ist vielmehr, dass in diesem Aphorismus beinahe Nietzsches gesamte philologische Theorie der Spätschriften steckt. Die Kunst des guten Lesens — wie später ausführlich gezeigt werden wird, ist sie für Nietzsche zumal im Spätwerk gleichbedeutend mit Philologie31 - bildete also historisch die Voraussetzung methodischer Wissenschaftlichkeit insgesamt, diese wiederum verkörpert den radikalen Gegensatz zur christlich-klerikalen, zur platonischen und dogmatischen Weltanschauung. Das bedarf der Erklärung. Wieso kann Nietzsche von der „Kunst, gut zu lesen" behaupten, Grundlage aller Wissenschaften, einschließlich der Naturwissenschaften zu sein, kurz: warum steht Philologie paradigmatisch für die „wissenschaftlichen M e t h o d e n " ? Damit zusammen hängt eine zweite Frage: an genau welche historische Vorbilder denkt Nietzsche? Durch Auswertung des Gesamtwerks sowie quellenkritische Erwägungen soll in den folgenden Kapiteln u.a. dokumentiert werden, dass Nietzsche auf die große Tradition der alexandrinischen Philologie des Museion anspielt, die sich die modernen historischkritischen Philologen, allen voran seine eigenen Lehrer, zu Gründungsvätern In Nietzsches nachgelassener Bibliothek befindet sich lediglich eine Teubner-Ausgabe von De dvitate dei. Die Confessiones hat Nietzsche freilich mit Sicherheit gekannt (vgl. KSA 14:732). Schon eine vergleichsweise frühe Stelle im Nachlass verzeichnet anhand der Confessiones die entmännlichenden und entmannenden Folgen des vielen Betens (VII 34[141]). „Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden" (AC 52, 6:233).
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ihrer Wissenschaft erkoren hatten32. Mehrfach beruft sich schon der mittlere Nietzsche auf die vorpatristische Philologie der alexandrinischen Schule: „Die Christen verlernten das Lesen, und wie hatte sich das Alterthum, in seinen Philologen, bemüht, es zu lernen!" (VI 4[235]). Der alexandrinischen Herkunft verdankt sich Nietzsches Definition der Kunst des guten und richtigen Lesens sowie ihrer Methodik als die „Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst Erklärung derselben". Diese Definition ist identisch mit der Programmatik der historischkritischen Philologie; das „einfache Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt" umschreibt die kritische Rekonstruktion des historischen Sinns (ΜΑ 1.270, 2:223). Die Bezeichnung kritikos war für die Gelehrtenpoeten ab ca. 300 v. Chr. aufgekommen, zu einer Zeit, da die neue Kunstübung von den Poeten Gelehrsamkeit forderte, d.h. die Arbeit mit Glossarien oder Anspielungen auf die alten Meister. Für die Reihe der großen alexandrinischen Gelehrten und Bibliotheksvorsteher, beginnend mit Zenodotus von Ephesos und gefolgt u.a. von Kallimachus und Eratosthenes, Aristophanes von Byzanz und Aristarchos, bürgerte sich zunächst die Bezeichnung grammatikoi ein. Im Laufe des dritten vorchristlichen Jahrhunderts sterben die Gelehrtenpoeten aus. Eratosthenes ist der Erste, der sich ausschließlich als Wissenschafder versteht und den Begriff des philologos (statt grammatikos) prägt, womit offensichtlich ein Universalgelehrter gemeint ist, der sich auf sprachlich-linguistischer Grundlage größere Wissensgebiete erschließt und weniger als ein Philosoph an übergeordneten Prinzipien oder Systemen interessiert ist (Pfeiffer, 1968:156ff). Seit Ende des dritten Jahrhunderts etablieren sich dann die philologischen Wissenschafder (meist wieder unter dem Titel grammatikoi), die ihre Kerntätigkeit in textkritischer und lexikographischer Arbeit, in Quellenforschung, Aufarbeitung von Realien, dem Erstellen von Chronologien und Kommentaren, grammatischen Analysen und metrischen Studien finden. Die historisch-kritische Methode ist geboren, zumindest aus Sicht des neunzehnten Jahrhunderts33. Im Rückblick auf meine %wei Leipziger Jahre (KGW 1.4:506-539) beklagt Nietzsche den selbstverschuldeten Mangel an brauchbaren Mitschriften aus seiner Studienzeit. Die Klage wird im selben Atemzug in aufschlussreicher Weise relativiert:
Die beste Darstellung zur alexandrinischen Philologie nach wie vor bei Pfeiffer (1968), dem die folgenden Ausfuhrungen einiges Faktuelle verdanken. Vgl. auch Nietzsches enzyklopädische Vorlesung, (die später ausfuhrlich behandelt wird), wo er sich über Alexandria und „jene enorme W e l t d e r F o r s c h u n g " verbreitet, „von der wir durch das Mittelalter getrennt wurden u. an die erst wieder mit der Renaiss. angeknüpft wurde. Damals entstand die strenge wissensch. M e t h o d e " (KGW 11.3:409). In Nietzsches Aufzeichnungen aus den Jahren 1867/68 wird in einem kurzen etymologischen Abriss der alexandrinische Begriff der philologoi als „der unsrige" bezeichnet, während die grammatikoi den litterati entsprächen und der kritikos den rein ästhetischen Kritiker bezeichne. (BAW Bd. 4:3-8) Vgl. auch die Vorlesung zur Enzyklopädie in KGW 11.3:344.
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Im Grunde nämlich zog mich bei den meisten Collegien der Stoff durchaus nicht an, sondern nur die Form, in der der akademische Lehrer seine Weisheit an den Mann brachte. Die Methode wars, fur die ich lebhafte Theilnahme hatte; sah ich doch, wie wenig auf Universitäten stoffliches gelernt wird und wie trotzdem der Werth derartigen Studien allseitig aufs höchste geschätzt wird. Da wurde mir deutlich, daß das Vorbildliche der Methode, der Behandlungsart eines Textes usw, jener Punkt sei, von dem die umschaffende Wirkung ausgehe. (51 l f )
Diese Selbsteinschätzung wird von anderen Belegen bekräftigt. Ohnehin war die Auffassung weit verbreitet, dass sich wissenschaftliche Methode am besten in der Philologie erlernen lasse34. Die Philologie ist, wenigstens zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, aufgrund ihrer Erfolge besonders in Sprachwissenschaft sowie Text- und Bibelkritik methodische Leitwissenschaft schlechthin und wird erst im Laufe der kommenden Dekaden von den erstarkenden Naturwissenschaften abgelöst. Möglicherweise ist es allzu kühn, die „umschaffende Wirkung", die bereits für den jungen Nietzsche von der philologischen Methode ausgeht, zur Umwertung aller Werte im Antichrist in Beziehung zu setzen. Wie gezeigt werden wird, gibt es für die Stichhaltigkeit dieser These aber gute Anhaltspunkte. Kurz vor und während der Arbeit am Antichrist las Nietzsche zum wiederholten Male F.A. Langes Geschichte des Materialismus (zuerst 1865/66 erschienen). In der zu diesem Zweck benutzten Ausgabe von 1887 hat er, wie zahlreiche Anstreichungen im Exemplar der nachgelassenen Bibliothek beweisen, besonders das Kapitel IV mit dem Titel „Der Materialismus in Griechenland und Rom nach Aristoteles. Epikur" gründlich durchgearbeitet. Darin befindet sich folgende Passage: Die Zeit liegt noch nicht fern, in der man sich darin gefiel, alexandrinischen Geist als das Stichwort für tatenscheue Gelehrsamkeit und pedantische Wissenskrämerei zu gebrauchen. Selbst mit der Anerkennung alexandrinischer Forschung verbindet man noch jetzt in der Regel den Gedanken, daß nur der völlige Schiffbruch eines tüchtigen nationalen Lebens dem rein theoretischen Bedürfnisse der Erkenntnis einen solchen Raum habe zugestehen können. Diesen Ansichten gegenüber ist es auch für unsern Gegenstand von Wichtigkeit, auf den schöpferischen Geist, auf den lebendigen Funken eines großartigen und in seinem Ziel wie in seinen Mitteln kühnen und gediegenen Strebens hinzuweisen, daß uns die Gelehrtenwelt Alexandrias bei näherem Einblicke zeigt.[...] Nun läßt sich aber in Wirklichkeit nachweisen, wie die glänzende Naturforschung unserer Zeit in der Epoche ihres Entstehens überall anknüpft an die Uberlieferungen der Alexandriner. [Absatz] Weltbekannt sind die Bibliotheken und Schulen von Alexandria, die Munifizenz der Könige, der Eifer der Lehrer und Lernenden. Allein alles das ist es nicht, was Alexandrias historische Bedeutung macht: es ist vielmehr der Lebensnerv aller Wissenschaft, die Methode, die hier zum erstenmal in einer Weise auftrat, die für alle Folgezeit entschied; und dieser methodologische Fortschritt ist nicht beschränkt auf diese oder jene Wissenschaft, selbst nicht auf Ale-
In ähnlichem Sinne äußert sich Paul Deussen in einem Brief vom August 1866 (1.3:127). Er bereue, die Philologie zunächst aufgegeben zu haben, denn nur hier könne man sich am besten in der „Methode" üben, Philologie sei doch die Grundlage für alles andere.
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xandria allein, er ist vielmehr das gemeinsame Kennzeichen hellenischen Forschens nach Abschluß der spekulativen Philosophie. Die Grammatik, begründet in ihren ersten Elementen durch die Sophisten, fand in dieser Zeit einen Aristarch von Samothrake, das Vorbild der Kritiker, einen Mann, von dem die Philologie unserer Tage noch gelernt hat. [...] Es war nicht Mangel an innerer Lebensfähigkeit, sondern der Gang der Weltgeschichte, der diesem Streben vorläufig ein Ziel setzte, und man kann sagen, daß die Herstellung der Wissenschaften zunächst eine Herstellung der alexandrinischen Prinzipien war. (Lange, 1974, Bd.l:87ff.) 35
Die wissenschaftlichen Methoden entstanden demzufolge auf dem Boden der alexandrinischen Gelehrtenkultur, besonders ihrer Philologie und „Kunst, gut zu lesen" — und im Anschluss an die Epoche der Spekulation. Gerade im Antichrist spielt der Gegensatz von Glaube und Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Eine wirklichkeitsfremde Religion wie das Christentum ist folgerichtig Todfeindin der Wissenschaft und lehnt „die Lauterkeit und Strenge in Gewissenssachen des Geistes" ab. Deshalb sind die Wissenschaften, namentlich die Philologie und die Medizin, ihre Gegner, wie sie Gegner jedes Aberglaubens seien. Die Feinde des Paulus „sind die guten Philologen und Arzte alexandrinischer Schulung —, ihnen macht er den Krieg" (AC 47, 6:225f). Zwei Dinge fallen hierbei ins Auge: erstens, dass Nietzsche es für notwendig erachtet, die guten Philologen alexandrinischer Schule herauszusondern, mit der Implikation, dass es auch schlechte Philologen gibt. Zweitens stellt sich die Frage, was Nietzsche zu dieser Feier der alexandrinischen Kultur bewogen hat, die er in seiner Frühzeit, besonders im Umfeld der Tragödienschrift, in Grund und Boden verdammt hatte. Entweder hat Nietzsches Auffassung der Alexandriner eine Wandlung erfahren — das entspräche der beliebten und bequemen Einteilung in verschiedene Schaffensphasen. Oder die Verdammung des Alexandrinismus ist keine gewesen. In der Geburt der Tragödie war die Kritik an den Alexandrinern ein kaum verhüllter Angriff auf die fortschrittsgläubige Moderne, deren eigene, unerkannt irrationale Grundlage der Glaube an die Allmacht der Ratio ist: Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n , dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrten gefunden worden; selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imitationen entwickeln müssen [...] (GT 18, 1:116)
Besonders der Altertumswissenschaft, die es aufgrund ihres Forschungsgegenstandes eigentlich besser wissen sollte, wirft Nietzsche vor, der wissenschaftli-
Diese Stelle ist in allen Fassungen, die Nietzsche benutzt hat (also auch den früheren) identisch.
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chen Methode blind zu vertrauen und dabei die existentiellen Fragen und Selbstbefragungen zu ignorieren: Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein zuverlässiger Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer Sprachmikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht auch das griechische Alterthum, neben anderen Alterthümern, sich „historisch" anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit den überlegenen Mienen unserer jetzigen gebildeten Geschichtsschreibung. (GT 20, 1:130).
Bei Schopenhauer hatte Nietzsche gelernt, dass wissenschaftliche Erkenntnis vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreite (Schopenhauer hält deshalb die Geschichte für keine wahre Wissenschaft), also durch die Ableitung von Beweisen aus vorhergehenden Sätzen — Schopenhauer fuhrt hier das alte rationalistische Erbe weiter. In Verlängerung uralter skeptischer Dialektik identifiziert Schopenhauer als Irrtum, nur das Bewiesene als unzweifelhaft wahr anzusehen, während doch „vielmehr im Gegentheil jeder Beweis einer unbewiesenen Wahrheit bedarf, die zuletzt ihn, oder auch wieder seine Beweise, stützt: daher eine unmittelbar begründete Wahrheit der durch einen Beweis begründeten so vorzuziehen ist, wie Wasser aus der Quelle dem aus dem Aquädukt." Keine Wissenschaft könne durch und durch bewiesen sein, sondern ruhe auf nicht mehr beweisbarer Anschauung (Schopenhauer, 1988, Bd. 1:108-110). Durch die Missachtung derartiger philosophischer Einsichten unterlässt es die Philologie laut Nietzsche, ihre eigenen Glaubensgrundsätze mit derselben Strenge zu untersuchen wie ihre Forschungsobjekte. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die rhetorische Rückbesinnung Nietzsches auf die alexandrinische Tradition der Philologie in der mitüeren und späteren Zeit würdigen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Nietzsche hinter seine frühen philosophischen Einsichten wieder zurückgeht. Da seine Zeitdiagnose sich schlicht geändert hat, will Nietzsche vielmehr die historisch-kritische Wissenschaft lediglich anders dosieren als zur Zeit der Geburt der Tragödie. Als die Wagnersche Kulturrevolution in Bayreuth abdankte und Wagner aus Nietzsches Sicht nur folgerichtig in Religion und Staatsaffirmation heimkehrte, blieb die Verherrlichung der griechischen Welt als Gegenwelt, die monumentalische Historie, zunächst auf die vorbereitende kritische Historie verwiesen. Das Christentum, auf dessen Trümmern die neue-alte Kultur entstehen sollte, war noch lange nicht besiegt. Im Kampf gegen diese Hydra wird Nietzsche nun seine Mission sehen und die historisch-kritische Philologie zur Waffe umfunktionalisieren, welche kommende Zeitalter einläuten soll, um sie schließlich überflüssig zu machen. Da er kein praktizierender Philologe mehr ist, muss er sein Selbstverständnis nicht ausschließlich auf der Philologie gründen, sondern kann sie zum Instrument in der Hand des freien Geistes machen. Nietzsches Erkenntnisse der Frühzeit müssen deshalb nicht zu den Akten gelegt werden. Schon in Nutzen und Ν achtheil hatte, sich Nietzsche über die erfolgrei-
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che Annahme der kritisch-historischen Methode in der neueren Theologie (wie sie in der Bibelkritik eingetreten war) verwundert. Offenbar hatte diese sich „aus Harmlosigkeit" darauf eingelassen, ohne zu merken, dass die Geschichte „im Dienste des Voltaire'schen ecrasez steht" (HL 7, 1:296). Wenn Nietzsche bemerkt, dass „eine Religion, die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, am Ende dieses Weges zugleich vernichtet [ist]", und zwar weil die Wissenschaft „so viel Falsches, Rohes, Unmenschliches, Absurdes, Gewaltsames" zutage fördere, dass sie die pietätvolle Illusion zerstöre (ebd.)36, so war dies im Kontext der Frühschriften nicht positiv gemeint, ging es Nietzsche doch um eine ganz anders geartete ,Religion', nämlich den griechischen Mythos (vgl. z.B. GT 23, 1:148f). Ihm zuliebe sollte sich die Historie zum Kunstwerk bilden und „vielleicht Instincte erhalten oder sogar wecken" (HL 7, 1:296). Man bedenke, dass schon die Tragödienschrift eine Entwicklungslogik einander ablösender Zeitalter entwirft. Die Synthese aus dionysischem Zeitalter der Titanenkämpfe und archaischer Lyrik sowie apollinischer Kultur des homerischen Epos und Dorertums in der attischen Tragödie wird durch die Einseitigkeiten von Euripides und Sokrates wieder zunichte gemacht. Die zerstörerische Wirkung der Wissenschaft kann man sich folglich aber auch zunutze machen. Nietzsche widmet sein Buch des Neuanfangs dem Autor des Ecrase^ (KSA 2:10) und erfindet bald den Hammer, der zuerst zerstören muss, ehe er neue Werte schmieden kann. Die Konsequenzen dieser Haltung liegen ab Menschliches, All^umensch liebes auf der Hand. Einige Hinweise auf Nietzsches Rehabilitierung der historischkritischen Methode sowie der alexandrinischen Schule sollen an dieser Stelle genügen. Der Erbfehler aller Philosophen sei ihr „Mangel an historischem Sinn" (MA I.1.2.24f) — nicht so sehr eine Rehabilitierung Hegels gegenüber Schopenhauer, sondern, wie der gesamte Aphorismus beweist, des empirischen Studiums des Menschen und seiner Lebensbedingungen. „Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. — Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung." (ΜΑ 1.1.2, 2:24f) In der 1886 veröffentlichten Vorrede zum zweiten Band von Menschliches, All^umenschliches führt Nietzsche die Selbstkorrektur seines Frühwerks offen fort: „und was ich gegen die „historische Krankheit" gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf,Historie' zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte." (MA II Vorrede 1, 2:370). Nietzsche leistet, kurz
In den Osterferien 1865 las Nietzsche Strauss' lieben Jesu (die 64er Ausgabe; vgl. Lit.-verz.) und lernte dort im Detail die Applikation der Quellenkritik und des aus der Philologie entnommenen Mythosbegriffs auf das Neue Testament kennen, wie sie ihm schon in der Schulzeit vorexerziert worden waren. Dieses Leseerlebnis führte in Verbindung mit den theologischen Vorlesungen in Bonn zum endgültigen Bruch mit der Theologie. Vgl. zu diesem Komplex Figl (1984) sowie, ihm folgend, Hödl (2002), bes. S. 270-276. Beide sind sich über die Bedeutung der StraussLektüre für Nietzsches Wissenschaftskritik einig: der Fall Strauss habe demonstriert, dass reine, autonome, von Glaubensgrundsätzen unabhängige Wissenschaft nicht existiere.
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gesagt, Abbitte an der wissenschaftlichen Vernunft. Mit „einigen dicken Irrthümern und Ueberschätzungen" habe er die Welt beurteilt (FW 5.370, 3:619). Nun ist es sogar „das Merkmal einer höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen." (MA I.1.3.25)37. In Zeiten intellektueller Konkurrenz, in der man, statt auf dem Dogma zu beharren, überzeugendere Argumente finden muss, erweist sich „das methodische Suchen der Wahrheit", mit dessen Hilfe nun „wirklich Wahrheiten entdeckt werden" können (ΜΑ 1.9.634, 2,359f) wieder als nützlich. Wer Nietzsche noch immer pauschal für den schärfsten Kritiker des Historismus hält, benötigt gute Argumente38. In Nietzsches späten philologischen Arbeiten lässt sich dieser Übergang besonders schön beobachten. Aus der Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen, gehalten im Wintersemester 1875-76 bzw. Wintersemester 1877-78 (1.5.355-520), spricht ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zur griechischen Religion. Nietzsche charakterisiert den Boden, auf dem der griechische Kultus entsteht, als Bereich des „unreinen Denkens". Er ist ausgerechnet durch jene Eigenschaften charakterisiert, deren Gegenteil Nietzsche mit dem streng-wissenschaftlichen Denken verbindet und ab Menschliches, All^umenschliches einfordern wird, nämlich durch (1.) Ungenauigkeit der Beobachtung, (2.) einen falschen Begriff der Kausalität und (3.) ein selektives Gedächtnis, das nur für bestimmte „absonderliche Fälle" wirkt, „während der Philosoph und der wissensch. Mensch gerade das Gewöhnliche, Alltägliche als Problem faßt und interessant findet." (355f). Gerade der letzte Punkt ist schon sehr weit entfernt von der Feier des auswählenden Gedächtnisses der frühen siebziger Jahre, in denen Nietzsche der historischen Methode der Alexandriner ja gerade die Beliebigkeit des Erinnerns vorgeworfen hatte39. Unübersehbar wird die Rückwendung zur alexandrinischen Philologie jedoch erst im Kampf gegen die Allegorese. Dies ist ein entscheidender, wenig beachteter Punkt in Nietzsches Denken, der wie kein zweiter die Wende der siebziger Jahre verdeutlicht. Seit dem Erscheinen von Menschliches, Λ Unmenschliches gibt es 37
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Musik und Philosophie seien im Gegensatz zur wissenschaftlichen Philosophie nur Nachwehen religiöser Zeitalter (ΜΑ 1.131, 2:124: Freilich muss man „Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, — sonst kann man nicht weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen: ,einerseits— andererseits'." (ΜΑ 1.292, 2:236) Vgl. schon Karl Reinhardt: „Und auf die Historie sah sich Nietzsche endlich hingewiesen durch sein philosophisches Hauptproblem: durch das Problem der moralischen Werte. So ist Nietzsches Denken mit der Historie verflochten wie das keines zweiten Denkers." (1960b:297) Nietzsche ist zu diesem Zeitpunkt schon stark von Jacob Burckhardt beeinflusst, der in seiner Griechischen Kulturgeschichte die wissenschaftlichen Geister und strengen Forscher unter den Griechen, sowie den Durchbruch der Philosophie gegenüber dem Mythos außerordentlich positiv und als eigentliche Leistung der Griechen dargestellt hatte. S. bes. Bd. 4:619-625 zur Bedeutung der Alexandriner.
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in Nietzsches Werk zwar noch anspielungsreiche Auslegungen und kühne Deutungen, aber keine der Allegoresen mehr, die noch die Geburt der Tragödie gekennzeichnet hatten40. Bereits im ersten Teil wird die pneumatische Auslegung (also die Allegorese) der Metaphysik im Reich der Natur im selben Atemzug wie die theologische Bibelexegese angegriffen und mit „der strengeren Erklärungskunst" konfrontiert, „wie jetzt die Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen d o p p e l t e n Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen." (MA 1.8, 2:28f) Wie auch hinsichtlich der Buchlektüre schlechte Auslegegewohnheiten selbst in der gebildetsten Gesellschaft noch nicht ausgestorben seien, treffe man ständig „auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung" (ebd.). Allegorese wittert bei einem schwierigen Text nicht Fehler oder Fälschungen wie es der Philologe täte, sondern nimmt ihn als gegeben hin und löst die Widersprüche durch die Annahme einer weiteren, verborgenen Sinnschicht. Dadurch wird die Fälschung erst manifest und die Auslegungsgrundlage verliert ihren Anspruch, ,Text' genannt zu werden. Allegorese ist eine Erkenntnisform, die das bereits Erkannte lediglich wiederzufinden sucht. Sie eignet sich Texte, Dinge, Menschen an, indem sie sie rundheraus zu dem erklärt, das sie selbst gerne in ihnen sähe. Nietzsche hat diese Praxis mit einer in seinem Werk prominenten Metapher bezeichnet, die aus der philologischen Teildisziplin der Numismatik stammt und sich auf die Vernachlässigung des kritischen Sinns bezieht. Es ist die Allegorese, die sich hinter den periodischen Vorwürfen der Fälschung und der Falschmünzerei verbirgt. Die Falschmünzerei ist Synonym der christlichen Weltanschauung (z.B. FW 5.537, 3:600) sowie all jener Interpretationen, die auf unumstößlichen, durch keine Skepsis oder Ironie gebrochenen Dogmen beruhen. In der Fälschung wird der böse Wille zum Missverstehen als einem So-und-nicht-andersverstehen aktiv41. Eingeklagt wird von Nietzsche im Gegensatz dazu der gute Wille zum Verstehen - über dessen Gelingen damit noch nichts ausgesagt ist. Der
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Beispiele dazu bei von Reibnitz (1992), S. 253f und 245f zu Nietzschcs unhistorischer Behandlung des Odipus- bzw. Prometheus-Mythos (der Anachronismus in der GT ist ja schon seit Wilamowitz einer der wichtigsten und berechtigsten Vorwürfe gegen sie). Letztlich ist die gesamte Ableitung der griechischen Tragödie aus den Leiden des Dionysos eine Allegorese, so z.B. die Auffassung, dass alle Figuren der griechischen Bühne Masken des eigentlichen Helden Dionysos seien. Vgl. auch Barbara von Reibnitz' Kommentar zu GT 10 (1992:259): Nietzsches typische Arbeitsweise bestehe darin, sich durch eklektisch-auslegende Nacherzählung der griechischen Mythen (die oft selbst schon allegorische Auslegungen seien) einen neuen Mythos zu schaffen, den er dann nochmals allegorisch liest („mehrfache Allegorese mehrerer (antiker) Allegoresen", S. 261).
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Freilich sei gleich darauf hingewiesen, dass sich Nietzsche durchaus der Tatsache bewusst ist, dass die Fälschung „Raffinement" in die Auslegung gebracht hat. An mehreren Stellen hebt er hervor, wie der Mensch erst durch sie tief und geistreich wurde (z.B. VIII 2[197|).
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Redlichkeit bedarf es als „Daumenschraube", die all jenen anzusetzen sei, die ihren Glauben „der ganzen Welt aufdringen wollen" (M 5.536, 3:306)42. Die Geschichte der Fälschung beginnt für Nietzsche mit Paulus, dem Prototypen des Fälschers und Zurechtmachers (VIII 10[180]). Nietzsche fasst von Paulus ausgehend vor allem die „jüdische Priesterschaft" als Fälscher par excellence auf. So fälschten sie z.B. den Gottes- und Moralbegriff, die Geschichtsauffassungen. Die Bibel sei das Dokument dieser Fälschung: die auf sie gestützte kirchliche Geschichtsinterpretation habe die Menschheit bis in Nietzsches Gegenwart stumpf für „Rechtschaffenheit in historicis" gemacht (AC 26, 6:194f) eine Absage an alle Geschichtsauffassungen, die von der Theologie die Teleologie und einiges mehr übernommen haben. Im Anschluss an Paulus konstituiert sich die theologische Exegese durch Annahme eines sensus spiritualis, der über den sensus litteralis hinausgeht, ja diesem weit überlegen ist. Die Schriftkritik des Paulus beginnt mit dem Gegensatz von gramma und pneüma: „Denn der Buchstabe [gramma] tötet, aber der Geist [pneüma] macht lebendig" (2. Kor. 3,6)43. Um die spirituelle Konsistenz der Bibelexegese zu wahren, muss der Sinn von seiner Bindung an die Materialität des Zeichens gelöst werden. Exegese in diesem Verständnis heißt, einen vorgefassten Sinn aus einem Text dergestalt zu erstellen, dass Textpassagen, die oberflächlich nicht zu diesem Sinn passen, eine tiefere Bedeutung zugemessen wird. Historisch gesehen entstehen so zwei grundlegend verschiedene Auslegungsweisen. Eine ,aposterioristische', auf rhetorischer, sprachlicher, textimmanenter Analyse beruhende und auf die Herstellung der gemeinten, der zu rekonstruierenden Intention des Autors gerichtete — und eine ,apriorische', theologisch-allegorische Interpretation, die zwischen sensus litteralis und sensus spiritualis bzw. allegoricus differenziert44. Dieser Gegensatz entfaltet sich namentlich im Hellenismus, besonders am Klassiker dieser Zeit, Homer (auch wenn es Formen der Homer-Allegorese schon seit
Diese Privattugend habe aber — so konsequent muss Nietzsche sein, um die Redlichkeit nicht als Paradox ad absurdum zu führen — etwas Empörendes, wenn auch sie wieder verabsolutiert werde. Nietzsche versichert den Leser, sie an sich zuerst ausprobiert zu haben. Die Antithese von Geist und Buchstabe ist in der Tat eine paulinische Prägung, wobei gramma eigentlich als ,Gesetz' zu übertragen ist und ursprünglich gar nicht den Unterschied zweier Verstehensweisen bezeichnet, wie man später geglaubt hat (vgl. Ebelings Lemma „Geist und Buchstabe" in RGG, Bd. 2:1290-1295). Origenes interpretiert darin als erster einen hermeneutischen Gegensatz, der dann in der Patristik und im Mittelalter eine wichtige Rolle spielen wird. Dies ist jedenfalls der Ausgangspunkt Nietzsches, insofern kann die von Ebeling dargestellte ,eigentliche' Bedeutung beiseite bleiben. Nach der Darstellung vieler Autoritäten ähnelt Paulus' Unterscheidung von gramma und pneuma jedenfalls bereits Philons Unterscheidung von buchstäblicher und wahrer Bedeutung (Grant, 1957:51). Man könnte meinen, diese Kategorien seien durch die Entdeckung des hermeneutischen Zirkels gegenstandslos. Dem ist jedoch nicht so, wie die weitere Argumentation zeigen wird. Auch wenn zweifelsohne jede Auslegung ein nicht zu entwirrendes Chaos von top down und bottom upProzessen bildet, gibt es doch wesentliche und selbst empirisch nachweisbare Unterschiede in den Ergebnissen je nach hauptsächlich gewählter Perspektive und Strategie.
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dem fünften vorchristlichen Jahrhundert gibt)45. Die alexandrinischen Gelehrten vom Schlage eines Eratosthenes und Aristarchos, die sich durch eine fast modern anmutende textkritische Arbeit und strenge historisch-grammatische Methodik auszeichnen, finden ihre Gegenspieler in der pergamenischen Schule eines Krates von Mallos, der Allegorese praktiziert und dessen Form der allegorischen Interpretation, durch die Stoa vermittelt, bald von Philon von Alexandria auf das Alte Testament, von den Kirchenvätern später auf die gesamte Bibel angewandt wird. Unbeschadet der Modifikationen bei Augustinus, etwa der stärkeren Einbeziehung von Grammatik, Philologie, Geschichte, bleibt die Funktionsweise der Allegorese dieselbe und dient letztlich immer denselben erbaulichen Zwecken. Sie ist damit nicht mehr zuvörderst auf Bewahrung und Verständnis des Textes um seiner selbst willen gerichtet. Allegorese ist natürlich keine paulinische oder christliche Erfindung, wie es bei Nietzsche bisweilen den Anschein hat. Die heidnische Allegorese der Sophisten, der Pergamener und späteren stoischen Philosophen bis hin zu den Neuplatonikern etabliert schon vorher bzw. parallel das Prinzip, an anstößiger Stelle im Homer oder in anderen Texten eine hyponoia, d.h. eine moralisch und philosophisch befriedigendere Deutung zu suchen (vgl. z.B. Most, 1984). In der patristischen Hermeneutik wird die Allegorese lediglich systematisiert, zuerst und auf entscheidende Weise von Origenes, der als Leiter der christlichen Schule Alexandrias den Quellen beider Richtungen nahe war. Er ist der erste christliche Theologe, der sich systematisch textphilologischer Methoden sowie alexandrinischer Kommentartechniken bedient und diese der Bibelauslegung unterordnet. Die alexandrinischen Techniken übernimmt er allerdings nicht in ihrer Gesamtheit, sondern nur insofern sie seinem Zweck dienen46. Wie für die frühe Patristik insgesamt ist ihm die Auslegung des überlieferten Textes wichtiger als die Textkritik, die für die philologoi entscheidend war (Grant, 1957:145); bei textuellen Widersprüchen durfte man keinesfalls Uberlieferungsfehler oder falsche Ubersetzungen vermuten47. So erfindet Origenes die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, der über die doppelte Bedeutung jeder Bibelstelle hinausgeht. Der sensus spiritualis wird bei ihm nochmals differenziert in den psychischen (moralischen) und pneumatischen (allegorisch-mystischen) Sinn. Die pneumatische Auslegung steht dem wörtlichen Szondi (1975) beschreibt die Entstehung der Hermeneutik aus den seit der Antike überlieferten Auslegungsprinzipien des sensus litteralis als der grammatischen Auslegung und des sensus spiritualis als der allegorischen und erzählt sie als die Geschichte der Auseinandersetzung beider Intentionen. An der Homer-Kontroverse werde deutlich, wie das erste Prinzip Unverständliches verständlich zu machen sucht, indem es z.B. den Sprachwandel berücksichtigte, während das zweite die fremd gewordenen Zeichen nicht auf die „Vorstellungswelt des Textes" beziehe, sondern auf seine eigene (19). Zur Homer-Allegorese vgl. auch Curtius ("1993:210-215). Vgl. z.B. Markschies (1999): u.a. mit aktuellen Forschungsergebnissen und Literaturhinweisen. Als moderne Apologie des Origenes sowie der theologischen Allegorese lässt sich die grundlegende Arbeit von Grant (1957) lesen. Grant (1957:108). Hier ist auch eine aufschlussreiche Augustinus-Stelle zitiert.
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Sinn entgegen, der nun allerdings als somatischer, im buchstäblichen Verstand mithin als (text)leiblicher konfiguriert wird. Origenes benutzt gar das Bild vom „Fleische" der Schrift, von dem jedoch nur der „Einfältige" sich leiten lasse (1976:709-781; vgl. auch Szondi, 1975:20). Die triadische Auslegung nach somatischem-moralischem-pneumatischem Sinn spiegelt Origenes' christliche Auffassung von der Aufteilung der Welt in Leib, Seele und Geist. Jede Bibelstelle hat als geoffenbarte Schrift unbedingt einen pneumatischen, aber nicht unbedingt einen somatischen Sinn. Widersprüche und Ungereimtheiten im Text stellen einen Fingerzeig zur pneumatischen Erklärung dar48. Aus Nietzsches Sicht vereinen sich in der pneumatischen Auslegung deshalb allgemeine Askese und spezielle christliche Leibfeindlichkeit49. Heißt es bereits im Neuen Testament: „Der Geist ist's, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben." (Johan. 6,63), so spitzt Origenes diese Grundhaltung zum hermeneutischen Prinzip zu: „Die Niedrigkeit des Buchstabens führt uns zur Kostbarkeit geistigen Verstehens."50 Die alexandrinischen Gelehrten hielten in der Auseinandersetzung um die Allegorese den Stoikern und Pergamenern ein anderes Prinzip entgegen. Schwierige Stellen im Homer waren nicht durch Annahme eines doppelten Sinns zu erklären, sondern durch sorgfältigen Vergleich von Parallelstellen, durch Kontextstudien und Textvergleich. Der Autor ist sein erster Interpret, immer muss das Gesamtwerk eines Autors berücksichtigt und mehrmals zyklisch gelesen werden. Homerum ex Homero (explicate), wie das Prinzip später heißen soll: den Homer gilt es, durch und mit Homer selbst zu erklären, nicht durch Rückgriff auf übergeordnete philosophische Dogmen51. Die Bedeutung der Textkritik ergibt sich daraus von selbst52. Nietzsches scheinbare Insistenz auf dem Wortlaut von Tex48
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Origenes' Antwort auf die alte Frage (so alt wie Allegorese selbst), warum es denn in der Schrift überhaupt Allegorien gebe und nicht vielmehr alles klar und einfach ausgedrückt sei, lautet: weil die Heilige Schrift genau der Natur des Universums entspreche; die Natur sei selber eine Allegorie, welche die versteckten Operationen der Vorsehung verdecke — ohne die Hindernisse der Natur würde sich der Mensch nicht an den Schöpfer wenden bzw. ohne Widersprüche in der Schrift weniger genau hinschauen. (Grant 1957:95) Gerade Origenes soll für seine Askese und Keuschheit berühmt gewesen sein. Es heißt er habe sich selbst entmannt, um ungestörter weibliche Katecheten unterweisen zu können. (Quelle: Eticydopedia
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Britannica)
„Unde vilitas litterae ad pretiositatem nos spiritualis remittit intelligentiae."; zit. nach Böhner/Gilson ( 3 1954:57). Die sog. hapax legomena, die nur selten oder gar nur einmal auftretenden Ausdrücke, mussten freilich respektiert und nicht einfach wegredigiert werden. Dieses Prinzip wird heute häufig als Aufforderung zur Werkimmanenz begriffen. In Wahrheit entstand es im Gegensatz zur Allegorese und schloss etwa die Quellenforschung nicht aus, sondern berief sich sogar immer auf sie. Grundlegendes zur Methodik der Alexandriner s. Hunger u.a. (1975). Nigel Wilson beschreibt in Nesselrath (1997:90f) die Prinzipien der alexandrinischen Philologie in knapper und anschaulicher Form. Über die genaue Herkunft des Prinzips Homerum ex Homero, das häufig mit Aristarch verbunden wird, herrscht Uneinigkeit (Schäublin, 1977). Nach Pfeiffer (1968:225f) sei die Maxime eher Porphyrio zuzuschreiben, da Aristarch all-
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ten — dem „einfache[η] Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt" (s.o. ) - ist demnach nicht, wie man vermuten könnte, protestantischen Ursprungs53, sondern geht weiter zurück, nämlich auf die zwei gegensätzlichen alexandrinischen Philologenschulen. Wenn er sich immer wieder auf die guten Philologen (des Altertums) beruft, schließt er gleichzeitig die schlechten, jene nämlich, die Allegorese betreiben, aus. Nietzsches ,gute Philologen' stehen, wie zu sehen sein wird, in der Nachfolge des Museion und umfassen die historisch-kritischen Meister von F.A. Wolf über Gottfried Hermann bis Friedrich Ritsehl, quellenkritisch fundierte, undogmatische Historiker wie Niebuhr und Ranke eingeschlossen. Die schlechten Philologen der Neuzeit sind die Erben der Pergamener und Kirchenväter, die sich der Philologie nur zur Beförderung ihrer eigenen Ziele bedienen. Eine Quelle für Nietzsche ist Friedrich August Wolfs Vorlesung über die Enzyklopädie der Alterthumswissenschaft (1831:310f) gewesen, in der die Homerallegorese im historischen Überblick aus philologischer Perspektive dargestellt wird. Das Buch befand sich in seinem Besitz und dürfte von ihm gründlich studiert worden sein. Noch wichtiger waren die Prolegomena ad Homerum selbst (Wolf, 21859/1985). In Kapitel 51, am Ende des Buches, schildert Wolf die Konkurrenz zwischen Aristarch54 und Krates, wobei er klar Stellung für die alexandrinische Schule bezieht. Aristarch benutzte nämlich im Gegensatz zu Krates keine anachronistischen oder allegorischen Interpretationen und arbeitete „non ad novas oppiniones [sie] temere affictas", d.h. ohne einfach neue Ideen zu applizieren. Wolf betont die stoische Herkunft des Krates (sein Cognomen lautete Stoicus!). Die Schülerschaft des Krates — sie bekannte sich zur Stoa — war im vergleich zur alexandrinischen Tradition des Museion nur noch lose miteinander verbunden. Sie leitete sich weniger aus der Dichtkunst als vielmehr aus einer Philosophie her, die zur Allegorese enge Beziehungen aufwies: Stoic philosophy was no longer in need of corroboration or illustration by the early poets; on the contrary, Crates could now use the philosophy to give a complete new gemeinen Grundsätzen wenig zugeneigt gewesen sei, auch wenn dieser spezielle Fall dem Geist seiner Arbeit entspreche. Relativierend auch Most (1984). Die ,alexandrinische Methode' ist letztlich wohl zu großen Teilen eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, besser: eine idealtypische Stilisierung zur Schaffung respektabler Vorläufer. Auch Luther und andere Reformatoren hatten sich mit ihrem Grundsatz des scriptura sacra sui ipsius interpres ja gegen den mehrfachen (vierfachen) Schriftsinn der Scholastik gewendet. Die bekannteste Stelle stammt aus Luthers Tischgesprächen, in denen er gegen die „eitel Kunst" der „Allegorien, Tropologien und Anagogik" wettert, die er als junger Theologe noch gelernt hatte. Sie seien „lauter Dreck", und es sei im Gegensatz zu diesem gleißenden „Narrenwerk" seine „beste und erste Kunst, tradere scripturam simplici sensu denn literalis sensus, der tuts, da ist Leben, da ist Kraft." (1948:160f). Den Wortsinn kann er freilich nur privilegieren, weil für ihn die Bibel als Ganzes göttlich-spirituellen Ursprungs ist; ohne Allegorese kommen seine Predigten naturgemäß auch nicht aus. Aristarch ist bei Wolf eher noch ein homme de lettres, weniger strenger Textkritiker. Er lehnte die allegorische Interpretation Homers ab, weil er ihn aus Interesse an der Sache verbessern wollte. Seit den 1830er Jahren setzte sich Karl Lehrs' Auffassung von Aristarch als einem durchaus strengen Philologen durch (vgl. Wolf, 1985:252).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Interpretation of the true meaning of the Homeric poems. He may have been unconscious of doing violence to poetry; certainly a great many future scholars down to the present day have been induced by his example to apply philosophical doctrines in various forms to the explanation of poetic and prosaic literature. (Pfeiffer, 1968:238)
Die Allegorese setzt sich nun durch: die beiden hellenistischen Richtungen können nicht Seite an Seite existieren. Die unterschiedlichen Schulen in Alexandria selbst bleiben durch einen historischen Korridor getrennt. Sommer (2000:452ff und 456) wundert sich stellvertretend für viele, warum im Antichrist ausgerechnet Philologie und Medizin gemeinsam als Garanten der Wissenschaftlichkeit gelten — und warum, angesichts der Polemik gegen Alexandria in der Geburt der Tragödie, ausgerechnet die alexandrinische Schule hervorgehoben wird. Sommer macht freilich den verbreiteten Fehler, die alexandrinische Schule nur mit Clemens und Origenes, bzw. die alexandrinische Philologie mit Philon und der Entwicklung der Allegorese zu verbinden: also genau dem Gegenteil dessen, worauf Nietzsche anspielt. Dagegen assoziieren Klassische Philologen noch heute den Begriff der „Alexandriner" in erster Linie mit dem Museion. Sommer denkt wohl v.a. an Franz Overbecks Aufsatz zur Patristik (Clemens steht hier im Mittelpunkt der Darstellung), der freilich erst 1882 in der „Historischen Zeitschrift" erschien (Overbeck, 1984) — und damit als Quelle für Nietzsches Auffassung der Alexandriner zumindest im Frühwerk zu spät kommt, selbst wenn man mündlichen Austausch in den Basler Jahren annimmt. Zwischen den Alexandrinern, auf die Nietzsche sich bezieht, und den späthellenistischen Alexandrinern, die die Nietzscheforschung häufig mit Alexandria assoziiert, liegen (berechnet auf ihren jeweiligen Kulminationspunkt) immerhin mehrere Jahrhunderte. Die Stoa, die damit für den Niedergang der guten Philologie in Nietzsches Sinne verantwortlich ist, gewinnt in der Folgezeit bekanntlich großen Einfluss auf Rom und römisches Geistesleben und bereitet für Nietzsche den Untergang der gesamten antiken Kultur mit vor. Ihre durchschlagende Wirkung, das ist der springende Punkt, kann sie aber nur im jüdisch-christlichen Kontext Alexandrias entfalten. Alexandria war nicht nur Sitz griechischer Gelehrsamkeit, sondern, als Heimat einer großen mosaischen Gemeinde, auch jüdischer Philosophie, vor allem in späthellenistischer Zeit. Schließlich wurde es zu einem der wichtigsten christlichen Zentren zu einem Zeitpunkt, da Nietzsches gute alexandrinische Philologen praktisch keine Rolle mehr spielen55. In der 1835er Originalausgabe von Strauss' Leben Jesu, die Nietzsche gekannt haben muss56, wird die allegorische Auslegung den „Hebräern" zugeschrieben, welche damit ein Mittel zum „star55
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Schon lange vor dem verheerenden Brand im Museion (der möglicherweise nur Legende ist) und ungefähr ab Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts war die alexandrinische Philologie aus politischen Gründen in die Krise geraten. Die Schüler des Aristarchos werden in alle Richtungen zerstreut, die neu entstehenden Schulen können das vormalige Niveau nicht mehr erreichen. Mit Apollodorus beginnt nach der ununterbrochenen Kette seit Zenodotus die Reihe der Epigonen der Alexandriner. Vgl. v.a. Abschnitt 3.1.1.1. in Hödl (2002)
2.2. Alexandrinismus
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re[n] Festhalten am supranaturalistischen Standpunkt" gefunden hatten (1835:4). Zwar habe es bei den Griechen schon Vorläufer gegeben (gemeint sind offensichtlich die Sophisten sowie die Stoa), aber erst im jüdisch geprägten Alexandria werde diese Methode systematisiert, zuerst von Philon. Philon, der bedeutendste Vertreter des hellenistischen, Griechisch schreibenden Judentums der Diaspora ist der erste, der versucht, Offenbarung und Glauben mit philosophischer Vernunft zu verbinden und gilt damit als Vorläufer der christlichen Theologie. Die Christen übernehmen nun die Allegorese von den Juden, da sie noch weit mehr auf sie angewiesen seien — Strauss skizziert den Origenischen Dreischritt vom buchstäblichen bzw. leiblichen, moralischen bzw. psychischen und mystischen bzw. pneumatischen Sinn und weist auch daraufhin, dass Origenes den paulinischen Korintherspruch über Geist und Buchstabe ausdrücklich auf den Unterschied von buchstäblicher und allegorischer Auslegung bezieht. Viele weitere von Nietzsche benutzte Quellen beschreiben die Traditionslinie der Allegorese von der Stoa bis Paulus sowie die Bedeutung Alexandrias fur die Ausbreitung der Stoa, so etwa Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie des Alterthums (21865)57 oder Burckhardt in seiner Griechischen Kulturgeschichte (vgl. Burckhardt, 1900ff). Der Umstand, dass Weygolds Die Philosophie der Stoa nach ihrem Wesen und ihren Schicksalen von 1883 in Nietzsches nachgelassener Bibliothek erhalten ist, beweist, dass er sich noch in den achtziger Jahren für das Thema interessiert haben muss. Weygold führt die stoische Ethik in ihrem parallelen Streben nach Glück und Tugend auf Sokrates zurück. Die Stoa sei halb orientalisch, jedenfalls passiver ausgerichtet als das tätige Griechentum und deshalb eher der Religion und Schwärmerei zugeneigt (S. 70ff). Sie führe deshalb direkt ins Christentum, besonders Senecas Denken weise starke Affinitäten zum Christentum auf. Entscheidend für den Sieg des stoisch geprägten Christentums über die Welt der Antike war laut Weygold die Technik der Allegorese, die pneumatische Auslegung: Ohne die allegorische Auslegung, die jedes Bedenken zu beseitigen verstand, wäre der zäh am Gesetz hängende S a u l u s vielleicht nie ein P a u l u s geworden; ohne sie, die nicht nur Moses und die Propheten, sondern auch die griechische Weltweisheit als Relief für die neue Lehre zu verwenden wusste, wäre der Sieg des Christentums zweifelsohne ein minder leichter gewesen. [Absatz] Die Stoa hat aber auch ganz direkt auf Paulus und somit auf das Christentum gewirkt. [Absatz] Der cilicische Vorort Tarsos war der berühmteste Sitz der stoischen Weisheit in ganz Asien. Fast jede Generation bis herab in die Zeiten des Kaiserreiches hatte einen hervorragenden Stoiker aufzuweisen, der in Tarsos geboren und gebildet war. (Weygold, 1883:211£)
Vgl. bes. §63 im 1. Band zur jüdisch-alexandrinischen Philosophie. Die Bedeutung der allegorischen Auslegung sowie Philons als Bindeglied wird von Ueberweg ausführlich behandelt (S. 197-206).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Es dürfte nun einleuchten, dass jene „listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyrn" aus dem eingangs zitierten Aphorismus des Antichrist die jüdischchristlichen Allegoriker sein müssen. Der Gegensatz von Rom und Judäa, der in Nietzsches Spätwerk in immer neuen Varianten auftaucht (s. GM 1.16, 5:285ff), verkörpert den Gegensatz von Sinnlichkeit und Freude am Tatsächlichen auf der einen und Askese und Spiritualität auf der anderen Seite; er ist damit auch ein Gegensatz zweier Auslegungsarten, von guter alexandrinischer Philologie und jüdisch-christlicher Theologie58. Nietzsches scheinbarer Antisemitismus im Spätwerk ist eine Kritik der Wurzeln des Christentums. Den Juden, die er ja andernorts in Schutz nimmt und mit Lob überhäuft, wirft er nur eines vor, nämlich dass ihre Vorväter die „Erfinder des Christenthums" (FW 2.99, 3:456) waren. Es darf gleichfalls nicht mehr, wie noch in Sommers Antichrist-Kommentar (Sommer, 2000b:393f), verwundern, dass Paulus' Falschmünzerei und Unehrlichkeit zu seiner Herkunft aus Tarsus, dem Hauptsitz der stoischen Aufklärung in Beziehung gesetzt wird (Vgl. AC 42, 6:21659). Die Zentralität des Paulus für die christliche Auslegungspraxis, v.a. durch die gründliche Reinterpretation des Alten Testamentes im christlichen Sinn, die durch seine Herkunft aus jüdischrabbinischer Exegese und Allegorese möglich wurde, ist auch in neuerer Zeit bekräftigt worden (Grant, 1957:47f). Zwar geht man heute davon aus, dass die jüdische Tradition für Paulus wichtiger war als die Anregung durch die Stoa (darin ist er mit Philon nicht zu vergleichen)60, aber für Nietzsche war dies unerheblich61. Seine Paulus- und Stoa-Kritik tragen dieselben Züge (z.B. JGB 1.9, In Heinrich Heines Essay Die romantische Schule findet man eine Darstellung des Gegensatzes von Rom und Judäa, die mit ihren erstaunlichen Parallelen zur ersten Abhandlung der Genealogie der Moral als Inspiration für Nietzsche gilt (der späte Nietzsche verehrte Heine). Auch hier steht die sinnenfeindliche Spiritualität des aus der jüdischen Welt erwachsenen Christentums der römischen Spätantike entgegen: „Nicht durch die Trennung in zwey Reiche ging Rom zugrunde; am Bosphoros wie an der Tiber ward Rom verzehrt von demselben judäischen Spiritualismus, und hier wie dort ward die römische Geschichte ein langsames Dahinsterben, eine Agonie, die Jahrhunderte dauerte. Hat etwa das gemeuchelte Judäa, indem es den Römern seinen Spiritualismus bescherte, sich an dem siegenden Feinde rächen wollen, wie einst der sterbende Centaur, der dem Sohne Jupiters das verderbliche Gewand, das mit dem eignen Blute vergiftet war, so listig zu überliefern wußte? Wahrlich, Rom, der Herkules unter den Völkern, wurde durch das judäische Gift so wirksam verzehrt, daß Helm und Harnisch seinen welkenden Gliedern entsanken und seine imperatorische Schlachtstimme herabsiechte zu betendem Pfaffengewimmer und Kastratengetriller." (Heine, 1979:128f) Auch die Vergeistigung als positive Folge des Christentums findet sich bereits bei Heine, ebenso Nietzsches Auffassung von Reformation und Renaissance sowie der Persönlichkeit Papst Leo X. Dort auch folgende Stelle: „Paulus wollte den Zweck, f o l g l i c h wollte er auch die Mittel ..." — eine Kurzbeschreibung der pneumatischen Auslegung. Pneuma als Zentralbegriff der paulinischen Anthropologie habe nichts mit dem Pneuma der Stoa zu tun, Pneuma bedeute für Paulus „der auferstandene, der zeitlose Christus als die Geistesmacht, die in ihm selbst wie in allen Gläubigen das neue Leben wirkt". (Pohlenz, 1949:82). Die zeitgenössische Abhandlung von streicht ebenfalls Paulus' hellenische Bildung sowie die Kontinuität der Traditionen zur Wissenschaft in Alexandria heraus. Paulus konnte demzufolge deshalb so erfolgreich auf dem Athener Markt sprechen, weil er den sprachlichen und kulturellen Hintergrund der Hörer teilte, gleichzeitig sei er aber „Semite" geblieben: „Paulus war der
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5:21 f)62. Nicht von ungefähr identifiziert sich Nietzsche gern mit Epikur, dem Gegner der Stoa und gleichzeitigem Antipoden theologisch inspirierter Weltbilder63. Werden die Epikuräer schon gegen die Stoiker ausgespielt, weil sie die intellektuell reizbareren und feineren Geister gegenüber den grob und hart gewordenen Stoikern seien (FW 4.306, 3:544)64, so stellt sich Nietzsche mit Epikur auch gegen Piaton (JGB 1.7., 5:20) - mit kaum verhüllter Anspielung auf Wagner und Schopenhauer. Piaton trägt für Nietzsche bekanntlich die philosophische Verantwortung dafür, dass überhaupt eine ,Hinterwelt' gegenüber der scheinbaren Welt angenommen wurde (vgl. z.B. Abel, 1984:104). Piaton als „das größte Malheur Europas", wie es in einem späten Brief an Overbeck heißt (111.5:9), hat damit der Aufnahme jüdisch-christlicher Spiritualität in der antiken Welt, also auch der Allegorese den Weg bereitet: der doppelte Sinn ist das platonische Erbe des Abendlandes. Bereits das Interesse des jungen Philologen an Demokrit galt dem Opfer Piatons, der dessen Schriften verbrennen wollte, dem Feind der „Dunkelmänner des Altherthums", die sich dadurch an Demokrit rächten, „daß sie ihre magische und alchymistische Schriftstellerei unter seiner Firma einschmuggelten und dadurch den Vater aller aufklärenden, rationalistischen Tendenzen in den Ruf eines großen Magus brachten." Das Christentum verwirklichte schließlich Piatons Plan der Verdammung Demokrits (KGW I.4.:504f). erste Semit, der, einem auserwählten Stamme des Völkergeschlechts angehörig, seinem Volke treu blieb und den werthvollsten Besitz desselben, die Energie des religiösen Lebens und reine Gottesanschauung, in hellenischer Zunge nach Hellas brachte. Damit ist er in die grosse Lücke griechischer Bildung getreten." (1894:541). Die Stoa sei wesentlich semitisch geprägt, aber vom Hellenismus einverleibt worden. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Paulus vgl. neuerdings Havemann (2001), der aber nicht auf die Stoa eingeht; möglicherweise wird dies in der angekündigten Dissertation nachgeholt. Laut Abel (1984:108) bekämpft Nietzsche auch die spezifische Organismusvorstellung der Stoa und der von ihr entwickelten Vorstellung der conservatio sui, dem etwa von Spinoza und Hobbes weiterentwickelten reinen Selbsterhaltungsdenken, das nicht mehr über sich hinauswachsen will. Diesem Selbsterhaltungsdenken stellt Nietzsche ja letztlich den Ubermenschen entgegen (s. z.B. Benne, 2002a) Eine Stelle in demselben eingangs erwähnten Kapitel in Lange (1974) lädt zu der Spekulation ein, dass sich Nietzsche sogar in seiner Arbeits- und Schreibweise direkt von seinem selbsterfundenen und an Lange geschulten Epikur inspirieren ließ: „Unverkennbar spricht sich in dieser Verschmähung aller Zitate jener Radikalismus aus, der sich nicht selten mit materialistischen Anschauungen verbindet: eine Verschmähung des historischen Prinzips gegenüber dem naturhistorischen. Nehmen wir diese drei Punkte zusammen: daß Epikur Autodidakt war und sich keiner herrschenden Schule anschloß, daß er ferner die Dialektik haßte und sich allgemein verständlicher Sprache bediente, endlich daß er nie zitierte und die Andersdenkenden in der Regel einfach ignorierte, so haben wir hier wohl einen wesentlichen Grund des Hasses, den so manche fachmäßige Philosophen auf ihn geworfen haben. Die Beschuldigung der Unergründlichkeit fließt aus derselben Quelle, denn noch heutzutage ist nichts verbreiteter als die Neigung, in unverständlichen, durch einen Schematismus zusammenhängenden Phrasen die Gründlichkeit eines Systems zu suchen." (S. 88). Zu Nietzsches Epikur vgl. ferner Bornmann (1984). Vgl. auch die berühmte Begegnung des Paulus mit den Epikuräern und Stoikern auf dem Areopag (Apostelgesch. 17). Paulus geht hier geschickt auf die Stoiker und ihre Denkweise ein, da die Verständigung mit ihnen aufgrund vieler Gemeinsamkeiten einfacher ist (Pohlenz, 1949:83).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Nietzsches gesamte Aufzeichnungen zu diesem Komplex sind bereits in den Jahren 1867/68 von der Ablehnung des Piatonismus und Stoizismus gleichermaßen geprägt (z.B. S. 385). Ihnen wird Demokrits Begnügen mit der gegebenen Welt entgegengesetzt — der Skeptiker Pyrrho sowie Epikur fußen auf Demokrit (394 u. 469). Demokrit lernt Nietzsche im Kolleg von Georg Curtius zur griechischen Grammatik als ersten Grammatiker — d.h. Philologen! — der griechischen Sprache kennen, auf dem auch die alexandrinische Grammatik und damit die großen Alexandriner aufbauten (GSA 71/50, Blatt 5). „Strenge Wissenschaftlichkeit und Methodik kennzeichnet den Demokrit." (KGW I.4.: 379). Paulus dagegen wird in einem bedeutenden Aphorismus aus der Morgenröthe als erster eigentlicher Christ und „Erfinder der Christlichkeit" identifiziert. Durchsetzen konnte sich dieser Fall „einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläubischen als verschlagenen Kopfes" aber nur, weil in der Nachwirkung der von ihm selbst mitgestalteten Allegorese die Kunst des guten Lesens der alexandrinischen Schule ausgestorben war: [...] hätte man die Schriften des Paulus nicht als die Offenbarungen des „heiligen Geistes", sondern mit einem redlichen und freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persönliche Noth dabei zu denken, gelesen, w i r k l i c h g e l e s e n — es gab anderthalb Jahrtausend keinen solchen Leser —, so würde es auch mit dem Christenthum längst vorbei sein [...] (M 1.68, 3:64ff)
Die Zeitangabe verweist auf Renaissance und Humanismus, Geburtsstunde der neuzeitlichen Philologie, die bewusst an die alexandrinische Schule anschloss. Die naheliegende Konsequenz aus dieser Analyse fuhrt in die Aufwertung von Philologie und ,gutem Lesen', wenn man sich die Bekämpfung des Christentums und seiner Folgen auf die Fahnen geschrieben hat. Nietzsches Rehabilitierung des Alexandrinismus seit Menschliches, All^umenschliches, die dann im Antichrist den Gipfel erreicht hat, nimmt hier ihren Ausgangspunkt. Freilich muss an dieser Stelle gleich einem möglichen Missverständnis vorgebeugt werden. Epikur, der sich in seinen Garten zurückgezogen hat und die Welt hinter seinen Masken beobachtet, ist weder Gelehrter noch Philologe. Nietzsche hat seit Menschliches, All^umenschliches die Philologie nicht als ideale Lebensform wiederentdeckt, sondern, wie bereits bemerkt, als praktisches Instrument in der Hand des souveränen Individuums, als Waffe in der Hand des Erkennenden. Philologie ist Fleiß und kaltblütiger kritischer Blick und allerdings nicht identisch mit Geist, an dem es zumal in Deutschland, der zeitgenössischen Hochburg der Philologie, immer gefehlt habe (vgl. VII 34 [138]). Die Leistung der Philologen ist es, „Vernichter jeden Glaubens, der auf Büchern ruht" (FW 358, 3:603) zu sein. Neuen Glauben können und sollen sie nicht geben. Nietzsches Wiederentdeckung der Schlagkraft einer von den richtigen Händen geführten historisch-kritischen Methode verdankt sich zum nicht geringen Teil der Freundschaft mit Franz Overbeck. Mit Recht hat Andreas Urs Sommer von Nietzsches und Overbecks „Waffengenossenschaft" gegen das Christentum
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gesprochen (Sommer, 1997). In Overbecks Basler Antrittsvorlesung vom 7. Juni 1870, die sich auch in Nietzsches Bibliothek befand (Ueber Entstehung und Recht einer rein historischen Betrachtung der Neutestamentlichen Schriften in der Theologie, gedruckt 1871; s. Overbeck, 1871) verteidigt Overbeck die historische Bibelkritik. Die Allegorese, v.a. das System des von gelehrten Rabbinern geschulten Origenes muss Overbeck von historisch-kritischem Standpunkt als „Systematisirung des Verkehrten" (S. 10) ablehnen. Erst die Reformation besinne sich wieder auf die Schrift selbst, die historisch-kritische Wissenschaft rehabilitiert vollends den historischen bzw. buchstäblichen Sinn. Wenn Sommer in seinem Vergleich Overbecks und Nietzsches letzterem bescheinigt, theologischer als der Theologe Overbeck zu argumentieren (1997:43), so hat das angesichts des frühen Nietzsche seine Berechtigung65. Bei Overbeck kann Nietzsche jedoch die zugleich redliche wie gefährliche historische Kritik in der Praxis beobachten. Sie trägt zu seinem Abschied von der Wagnerschen Gegenreligion bei und lässt ihm die Wissenschaft wieder als nützliche Bundesgenossin erscheinen. Zu den Vorstudien des Antichrist gehörte Nietzsches konzentrierte Beschäftigung mit Julius Wellhausen, dem, so man will, gesteigerten Overbeck. Overbeck und Wellhausen regten Nietzsche zwar an, bestätigten ihn aber letztlich nur auf einem Weg, den er sowieso schon eingeschlagen hatte. In den bahnbrechenden Prolegomena \-ur Geschichte Israels (s. Wellhausen, 61905) und den Shingen und Vorarbeiten (Wellhausen, 1884) wies Wellhausen die Abhängigkeit des Pentateuch von über lange Zeit tradierter mündlichen Überlieferung nomadischer Stammesreligionen bis zu den Propheten nach und kehrte damit die im Alten Testament behauptete Chronologie sowie die Verfasserschaft Mose um. Seine zersetzende Analyse des Alten Testaments bringt bei Nietzsche offenbar eine Begeisterung für die historisch-kritische Methode auf den Höhepunkt, die sich in den aphoristischen Büchern schon lange angekündigt hatte. Dem Einfluss Wellhausens kann die vorliegende Abhandlung nicht gerecht werden, seit Sommers vorzüglicher Behandlung des Themas (Sommer, 2000b) besteht daran auch kein neuer Bedarf. Nietzsches eigentlich historisch-kritische Schulung geht ohnedies nicht auf ihn, sondern auf die Bonner Schule der Klassischen Philologie zurück. Sie hat Nietzsche überhaupt erst die Neigung zu Gelehrten wie Overbeck oder Wellhausen eingepflanzt und sein Denken von früh auf in Bahnen gelenkt, die sich noch in den reifen Werken unschwer nachzeichnen lassen. Auf ihr soll deshalb in den folgenden Seiten das Hauptgewicht liegen.
Sommer bezieht sich hier v.a. auf Nietzsches eigene Basler Antrittsvorlesung, auf die ich später genauer eingehen werde.
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrimsmus
2.3. Friedrich Ritsehl und die Bonner Schule Die Klassische Philologie in der Tradition der sogenannten Bonner Schule, wie sie Nietzsche geprägt hat, ist heute nur noch wenigen bekannt66. Weil die Geschichte der Altertumswissenschaft in Deutschland meistens aus der Perspektive der Gräzistik erzählt wird, ist diese Schule, die von Latinisten dominiert wurde, zusätzlich in Vergessenheit geraten. Die historisch-kritische Philologie, deren Bedeutung für Nietzsches Denken hier behauptet wird, bildet kein genau abgegrenztes, homogenes Paradigma: die Philologie Friedrich Ritschis weist einige Merkmale auf, die sie vom Hauptstrom der auf Text- und Quellenkritik beruhenden, streng wissenschaftlichen Methode unterscheidet, der sie normalerweise zugeordnet wird. Sie muss wegen ihrer Bedeutung für Nietzsche deshalb genauer rekonstruiert werden67. Der überragender Repräsentant der Bonner Schule - „vir incomparabilis Ritschelius", wie Nietzsche ihn in einem Brief an Mushacke vom 15. Juli 1867 mit bewundernder Ironie nennt (1.2:220), hat Nietzsche bis an sein Lebensende fasziniert. Darin unterschied er sich wenig von anderen Schülern Ritschis; wie sie schätzte er die besondere Mischung aus wissenschaftlicher Strenge und intellektueller Offenheit68. Aus seiner Kritik an der Philologie hat er ihn, dem er einiges
Die Bonner Schule ging in ihrer einstigen Geschlossenheit spätestens nach den Umbrüchen des Zweiten Weltkriegs endgültig verloren, v.a. konnte sie durch die vielen Neuberufungen nicht mehr in die Germanistik hineinragen, die nun zum repräsentativen philologischen Fach aufgestiegen war - obgleich ein Richard Alewyn natürlich ein eminent,guter Philologe' war. (Für persönliche Studienerinnerungen aus dem Bonn der Nachkriegszeit danke ich meinen Odenseer Kollegen Reinhold Schröder und Bengt Algot Sorensen.) Die letzten Verteidigungen der Bonner Schule und ihrer methodischen Grundüberzeugungen finden sich bei Wolfgang Schmid (1969) sowie in einem schönen historischen Abriss Hans Herters (1975); der unerbittliche Zeitgeist jener Jahre drängte dergleichen jedoch soweit an die wissenschaftliche Peripherie, dass an einen neuen Vorstoß ins Zentrum seither nicht mehr zu denken ist. Vgl. ferner Schmids Trauerrede auf den Latinisten Ernst Bickel, der sich als einer der letzten noch offensiv zur Bonner Philologie bekannte und sich gem als dritten Nachfolger Ritschis betrachtete, sowie die Trauerrede auf Schmid selbst {In Memoriam Ernst Bickel, 1961 bzw. InMemoriam Wolfgang Schmid, 1982). Das Verhältnis Nietzsches zu Ritsehl ist in der Forschung kaum thematisiert worden. Die beste Darstellung findet sich in einem frühen Werk, das in dieser Hinsicht kurioserweise keine Schule gemacht hat, wohl auch, weil es in Deutschland nie intensiv rezipiert worden ist. Gemeint ist der 2. Band von Andler (1920-1931) mit dem Titel Lö jemesse de Nietzsche jusqu'ä la rupture avec Bayreuth, das ja ansonsten als Pionierwerk der heute so verbreiteten Quellenforschung zu Nietzsche gilt. Unter der Uberschrift „L'influence de Ritsehl" (S. 60-83) gibt es viele gute Beobachtungen, u.a. deshalb, weil der Kontextualist Andler als einer der wenigen Nietzscheforscher Ribbecks große Ritschl-Biographie zu Rate gezogen hat. Andler vermochte freilich nicht die Tragweite seiner Beobachtungen ermessen; für ihn blieb Philologie gleichbedeutend mit Neuhumanismus und deshalb lediglich ein Stadium in Nietzsches früher Entwicklung, das spätestens durch die Entdeckung Schopenhauers ein Ende fand. Im Rückblick auf meine ^wet Ijip^iger Jahre (KGW 1.4:506-539) merkt Nietzsche die antiphilosophische Einstellung Ritschis an, die mit einer Uberschätzung seines Fachs einhergehe. Gleichzeitig aber räumt er ein: „Dabei war er frei von jedem Credo in der Wissenschaft; und besonders verdroß ihn ein unbedingtes urtheilsloses Hingeben an seine Resultate." (S. 520)
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zu verdanken hatte69, immer ausgenommen und empfahl auch während der Basler Zeit seine Schüler an Ritsehl in Leipzig weiter. Selbst über Ritschis Tod hinaus ist Nietzsche der Bonner Schule immer verbunden geblieben. Interessanterweise bittet ihn Otto Ribbeck70 sogar noch am 24. Juni 1873, also nachdem der Verfasser der Geburt der Tragödie für die Fachwelt wissenschaftlich erledigt war, um ein Referenzschreiben für den jungen Basler Philologen Geizer, der für ein Extraordinariat infrage kam. Höchst bedenkenswert angesichts des Adressaten auch die Einschätzung Geizers durch Ribbeck: „Sein Aufsatz über Lycurg im Rh M ist ja gelehrt und scharfsinnig, indessen nicht gerade geeignet, die a priori, d.h. von väterlichem Einfluß her sich aufdrängende Besorgniß zu beseitigen, daß er geneigt sein möchte die Geschichte mit einiger Vorliebe und Voreingenommenheit für priesterliche oder religiöse Gesichtspunkte zu betrachten." (II.4. 265f). Otto Ribbeck gehört zusammen mit den alten Bonner Professoren Schaarschmidt und Windisch zu einer sehr kleinen Auswahl von Personen, an die Nietzsche auch später noch seine Bücher senden lässt71. Mit der Rehabilitierung des Alexandrinismus, die mit dem Verzicht auf die philologische Existenzweise zusammenfällt, ist nicht nur Nietzsches Anerkennung dessen gemeint, was an der Philologie für ihn auch künftig bewahrenswert sein soll, sondern gleichzeitig eine Verbeugung vor Ritschi. Ritsehl, der Nietzsche alles, auch die Tragödienschrift, verzieh, bezeichnet sich in einem ironischen Brief (mit der spöttischen Anrede „lieber Herr Professor") vom 14. Februar 1872 nicht umsonst selbst als „Alexandriner" (11.2:541 ff)72. Das Eigenverständnis 69 70
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Vgl. den Dankesbrief an Ritsehl nach Antritt der Stelle in Basel (2. August 1869; II.l:34f). Ribbeck, Ritschis Schüler und großer Biograph, ist übrigens, auch das ist wenig bekannt, ein Vorgänger Nietzsches in Basel gewesen. In Basel nahm man gerne Ritschl-Schüler auf. Verantwortlich dafür war Ratsherr Wilhelm Vischer-Bilfinger, der Philologie bei Welcker und Niebuhr in Bonn studiert hatte. Sein Leben lang hat er Nietzsche, in dem er sich selbst wiederzuerkennen schien, auf väterliche Weise protegiert. Man bemerke, dass er auch ein Jahr bei August Boeckh in Berlin studiert hatte. Sein Ideal war die universalhistorische Altertumswissenschaft in Wolfscher und Boeckhscher Tradition und die fast künsderische Verbindung von griechischer Dichtung, Kunst, Religion und Mythologie Welckers, aber auf strenger wissenschaftlicher Grundlage. Diese musste in Basel vor allem verteidigt werden — das ist der Grund, warum er sich immer wieder an Ritsehl wandte. Nietzsche beeindruckte ihn wohl auch deshalb, weil er sich bei aller Strenge auch „um eine historisch-mythologisch-künsderische Gesamtschau der griechischen Antike" zu bemühen schien Qanz, 1978:306ff), dies gilt aber erst später, denn aus Nietzsches frühen, für die Anstellung relevanten Publikationen, war das noch nicht hervorgegangen. Vgl. z.B. den Brief an Verleger Naumann vom 8. November 1887; III.5:186ff. Zu dieser Gruppe gehören sonst außer den alten Freunden und Wegbegleitern wie Deussen, Rohde, Overbeck, Fuchs und Gersdorff lediglich noch Burckhardt, Taine und ausgewählte Naturwissenschafder wie Wilhelm Wundt, Helmholtz, Dubois-Reymond und Emst Mach sowie die WagnerAntipoden Hans von Bülow und Johannes Brahms. Im Postskriptum schreibt Ritsehl: „Gegenüber Ihrer ,Fülle der Gesichte' würde es wenig am Platze sein, wenn ich eine alexandrinische Frage an Sie richten wollte über historischbibliothekarische Laertiana oder über des Alcidamas Μουσείον und dergleichen frivola: daher unterlasse ich es. Vielleicht kommen Sie doch noch einmal von selbst darauf zurück, wenn auch etwa nur zur Abwechslung und Ausspannung."
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Ritschis als Alexandriner war womöglich ausgeprägter als bei anderen Zeitgenossen. Mit dem Buch über Die Alexandrinischen Bibliotheken (Ritsehl, 1838) hatte er eine wichtige Studie zum Thema verfasst, die wohl auch eine Quelle für Nietzsches Auffassung der alexandrinischen Philologen gewesen ist73. Entsprechend findet sich die Selbstbezeichnung „alter Philolog", derer Nietzsche sich später selbst gern bedient, ebenfalls schon bei ihm (Brief an Nietzsche vom 2. Juli 1872; II.4, 32ff)74. Ritsehl muss ein begnadeter Lehrer gewesen sein, ein wissenschaftliches Organisationsgenie und Schulhaupt, das „seine ganz singuläre Stellung in der Philologie des 19. Jahrhunderts" weniger der Quantität seiner Forschung als seinem Charisma verdankte (Schmid 1984:704) - selbst sein geplantes wissenschaftliches Hauptwerk, eine neue kritische Plautusausgabe, wurde erst von den Schülern vollendet. Ihm war 1867 die erste akademische Festschrift der Welt gewidmet. Ritschis Wirkung in der Öffentlichkeit war enorm: man denke nur an die Schilderung seiner Leipziger Antrittsvorlesung in Nietzsches Rückblick auf meine %wei Leipziger Jahre (KGW 1.4:506-539). Ritsehl war ein großer Anreger; mit Respekt spricht Hermann Diels lange nach Ritschis Tod von seinen „protreptischen Gaben" (Brief an Usener vom 14. August 1888, in Diels/Usener/Zeller, 1992, Bd. 1:238). Schon zeitgenössische Quellen betonen den „beispiellosen Erfolg" seiner leidenschaftlichen Lehrtätigkeit mit ihrer einmaligen Symbiose aus Lehre und Forschung — ein Erfolg, der seinen Schülern Stellen und Einfluss an vielen Universitäten und Gymnasien verschaffte. Mehrere Universitäten im In- und Ausland trugen ihm Lehrstühle an. Er unterhielt Beziehungen bis nach Russland und Finnland. Nietzsches unerhört frühe Berufung nach Basel ging auf sein Prestige zurück75. Ritschis Name war geradezu Synonym der „Methode" des neun73
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Ritsehl lässt in seiner Studie keinen Zweifel an der Musterhaftigkeit der „ k r i t i s c h e [ n ] T h ä t i g k e i t d e r A l e x a n d r i n e r " (S. 59), also der „ Z e n o d o t u s , K a l l i m a c h u s , E r a t o s t h e n e s , A p o l l o n i u s , A r i s t o p h a n u s , dieser Heroen wahrhaft grossartiger Gelehrtenbildung" (78). In einem Brief an Nietzsche vom 9. Januar 1872 (II.2:502f, hier parallel zitiert nach Crusius, 1902:56, Anm. 1, da wegen eines Setzfehlers in der KGB nur unvollständig wiedergegeben) denkt Rohde über den besten Publikationsort für die Geburt der Tragödie nach: „philologische Specialzeitschriften" kämen nicht in Frage, denn „man denke sich das Gaffen des versammelten Alexandria!" Dann aber heißt es weiter: „in Alexandria aber wohnen, ausser einigen k l u g e n Ritschis — die, wie der Landpfleger sprechen werden: „Du rasest" — zahllose Dumme, und ganz Einzelne, die nach tiefer Weisheit dürsten. Diesen Dummen klänge die neue Mähr nicht anders als chinesisch!" Vgl. Bursian (1883, Bd.2:812ff). So wichtig auch seine Vorlesungen gewesen sein mögen, so lag sein Schwerpunkt doch eindeutig auf der „Schulung der studirenden Jugend" in Bonn und v.a in der Leipziger „philologischen Societät" (814f), der Nietzsche ja angehörte. Jensen (1933) nennt für den Zeitpunkt von Ritschis Tod eine Schülerzahl von über 40 (!) Universitätsprofessoren und ebenso vielen Gymnasialdirektoren. Nietzsche hat Ritschis pädagogisches Geschick selbst bezeugt. Im Rückblick auf meine %wei Leipziger Jahre (KGW 1.4:506-539) beschreibt er, wie sich Ritsehl von seinem ersten Vortrag ungewöhnlich begeistert zeigte: das sei die Stunde gewesen, da er durch „den Stachel des Lobes" zum Philologen geworden sei (S. 515). Er schildert ferner die Anhänglichkeit und Verpflichtung, die Ritsehl gegenüber Studenten auslöste (520). In den Briefen lässt sich verfolgen, wie Nietzsche durch Ritschis Ermunterung immer weiter in seinem
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zehnten Jahrhunderts76. Er stand für das unerschütterliche Zutrauen der philologischen Zunft in die letztliche Überlegenheit der historisch-kritischen Philologie: „Besser methodisch irren, als unmethodisch d.h. zufällig das Wahre finden." (Ritsehl, 1879:26) Die allgemeine Züge seiner Methode hat Conrad Bursian seinerzeit beschrieben als: eine methodische Durchbildung von innen heraus, durch die der ganze Mensch gepackt und für sein gesammtes wissenschaftliches Leben endgültig geformt ward. Die Zucht begann vor allem damit, jeden mit dem Gefühl seiner eigenen Unzulänglichkeit zu durchdringen, in ihm die Ueberzeugung zu erwecken und zu stärken, daß sich in der Wissenschaft nichts im Fluge erreichen lasse, daß die Götter vor den Erfolg den Schweiß gesetzt haben, daß man in redlicher Arbeit von dem Kleinsten anfangen müsse, weil in der Wissenschaft eben nichts klein sei, und das scheinbar Kleine, gering geachtetet, auch das Große gefährde. Und wer nun an die Arbeit ging, wurde ohne Gnade gezwungen, keiner Schwierigkeit auszuweichen, jede vielmehr scharf ins Auge zu fassen und mindestens sich bewußt zu werden, wie weit ihre Bewältigung ihm gelungen. Mit allgemeinen Wendungen oder mit bequemer Berufung auf Autoritäten durfte niemand sich beruhigen, überall mußte selbst Hand angelegt und geprüft werden, bis alles zu voller oder doch möglichst erreichbarer Klarheit gebracht war. (1883, Bd.2:814f)
Nicht zufällig klingt das wie eine Definition von Nietzsches Begriff der intellektuellen Rechtschaffenheit. Schon früh bezeichnet Nietzsche seinen Lehrer als „eine Art wissenschaftliches Gewissen für mich" — in einem Brief an Deussen vom 4. April 1867, der ein schönes Beispiel seiner Begeisterung für die Philologie sowie seiner technischen Versiertheit bereits zu Beginn des Studiums ist (1.2:205). Die von Bursian erwähnte redliche Arbeit am kleinsten Detail erinnert an den bereits zitierten ersten Aphorismus von Menschliches, Allspmenschliches und „die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden" (MA 1.1, 2:23). Das Buch erscheint nicht lange nach Ritschis Tod. In seinem Kondolenzschreiben an Sophie Ritsehl (II.5:213f), einem ernsten Brief, der frei von Phrasen und in wahrhaft verehrungsvollem Ton abgefasst ist, verleiht Nietzsche seiner großen Dankbarkeit, nicht zuletzt für Ritschis Verhalten im Streit um die Tragödienschrift Ausdruck77: Glauben an die Berufung zum Philologen bestärkt wird. Siehe auch Bickel (1946:18) und Ribbeck (1879ff:36f). Darin sind sich alle Quellen und Kommentatoren einig. Vgl. etwa CBE, S. 392: „The importance of Ritsehl lies in the brilliant handling of the critical and exegetical method perfected by him and in the consequent historical exploitation of the material studied by him." Auch Wolfgang Schmid, einer der späten Nachfolger Ritschis auf seinem Lehrstuhl, sieht die „Methode" als dessen wichtigste Leistung an. Heute seien nicht mehr die Resultate seiner Arbeiten von Interesse, sondern lediglich „die Wege auf denen sie gewonnen wurden" (Schmid, 1984:700f). Neben Methodenlehre, Metrik, (lateinischer) Grammatik und Wissenschaftsgeschichte hielt Ritsehl stärker inhaltlich ausgerichtete Vorlesungen, namentlich zu Homer, Aeschylus, Aristophanes und Plautus (ebd., S. 815f). Während der Auseinandersetzung zwischen Wilamowitz und Rohde und trotz vehementer Ablehnung der Tragödienschrift durch die Berliner, Leipziger und Bonner Philologen sendet
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus Ich bin glücklich, noch aus dem letzten Jahre ein kostbares Zeugniss seiner unveränderten Milde und Herzlichkeit für mich in einem Briefe zu besitzen und mir vorstellen zu dürfen, dass er, auch w o er mir nicht Recht geben konnte, mich doch vertrauensvoll gewähren Hess.
Nach dem Skandal um die Geburt der Tragödie baut Ritsehl Nietzsche trotz aller persönlichen Betroffenheit wieder Brücken und akzeptiert sogar ein Jahr später seinen (letzten) Beitrag für das „Rheinische Museum", der wieder ganz im Sinne der Zunft gehalten ist78. Im Kondolenzschreiben bedauert Nietzsche, dass es ihm nun nicht mehr möglich sei, Ritsehl noch zu Lebzeiten öffentlichen Dank und Ehre zukommen zu lassen, er wolle es aber in Zukunft mit aller Kraft nachholen. Seine letzten, den ,Alexandrinern' verpflichteten Werke, tun genau dies. Ein realistisches Bild des jungen Nietzsche wird nur gewinnen, wer sich die Vorbildwirkung vergegenwärtigt, die der Generationsgenosse Wagners für ihn erlangt. Nietzsche ist in Leipzig und später in der Schweiz zwischen zwei Welten hin- und hergerissen, nämlich Ritschis Welt und Wagners Welt, gespalten in der Loyalität gegenüber zwei ebenbürtigen Charismatikem79. Nietzsches Briefe schildern die Auseinandersetzung mit Ritsehl, der von Wagnerei auf philologischem Gebiet wenig hält, weil Wagner „vermöge seines ganzen Bildungsganges und seiner ganz anders gewendeten Lebensrichtung mit Quellenforschung und Belegen nichts anzufangen weiß." (an Nietzsche am 2. Juli 1872; II.4, 32ff) Ritsehl stellt dennoch weniger Forderungen als Wagner, der unbedingte Unterordnung verlangt. Lediglich gegen den Absolutheitsanspruch von Kunst und Philosophie wehrt sich Ritsehl und verteidigt gegen sie die Geschichte und „speciell de[n] philologische[n] Zweig derselben" (ebd.). Die persönliche Beziehung zu Nietzsche weiß er von den fachlichen Differenzen zu trennen, hatte er doch schon längst akzeptiert, dass sein Lieblingsschüler im Gegensatz zu ihm selbst eher gräzistischen als latinistischen Studien zuneigte. Es ist nur allzu natürlich, dass Nietzsche nach dem Bruch mit Wagner80 wieder zu Ritsehl tendiert. Noch am Ende seines bewussten Lebens, in seinem persönlichsten Buch, hat er ihm das schönste Denkmal gesetzt: ( R i t s e h l — ich sage es mit Verehrung — der einzige geniale Gelehrte, den ich bis heute zu Gesicht bekommen habe. Er besass jene angenehme Verdorbenheit, die uns Ritsehl sogar einen kurzen Gruß an Rohde und Nietzsche, obwohl ihm Nietzsches Werk ganz und gar nicht geheuer ist: „Herzliche Grüße und zugleich aufrichtigste Glückwünsche dem tapfem Dioskurenpaare zu der siegreichen Vernichtung frechsten und zugleich hohlsten Übermuthes!" (19. November 1872; 11.4:132) Vgl. die beiden letzten Teile der Arbeit Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, die 1873 im „Rheinischen Museum" erschienen (KGW 11.1:270-337). Niemeyer (1996) beschreibt Nietzsches Verhältnis zu Ritsehl in einer ansonsten verfehlten Analyse als Vatersuche. Unter diesem Bruch verstehe ich keine vollständige Abwendung, sondern den Prozess der Distanzierung in einem sehr komplizierten Dreiecksverhältnis zwischen Nietzsche, Richard und Cosima. Siehe neuerdings Dieter Borchmeyers Zusammenfassung eigener gründlichster Studien zum Thema in Borchmeyer (2002:445-473).
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Thüringer auszeichnet und mit der sogar ein Deutscher sympathisch wird: — wir ziehn selbst, um zur Wahrheit zu gelangen, noch die Schleichwege vor. Ich möchte mit diesen Worten meinen näheren Landsmann, den k l u g e n Leopold von Ranke, durchaus nicht unterschätzt haben...)81
Die Motivik der „Verdorbenheit" und der „Schleichwege" ist von Beginn an eng mit der Philologie verbunden82. Die Verbindung des Gelehrten mit dem Genie behielt sich Nietzsche wohlgemerkt sonst selber vor. Doch wie kam Nietzsche überhaupt an Ritsehl, was bewog ihn, in Bonn zu studieren? Die Beantwortung dieser Frage wird sich u.a. als Schlüssel zu der Anspielung auf Ranke erweisen. Die Universität Bonn war nach Berlin die zweite große preußische Neugründung gewesen und sollte ihrem Profil nach zu einer Art preußischem Oxford werden. Ihr philologisches Seminar hatte einen hervorragenden Ruf. Seit Janz (1978) hat sich die Auffassung eingebürgert, Nietzsches Wahl seiner Studienorte sei abhängig von den Freunden gewesen, denen er jeweils gefolgt sei: Deussen nach Bonn und Gersdorff nach Leipzig. Der Stand der Wissenschaft sei nur Vorwand gewesen. Dabei wird aber übersehen, dass überdurchschnittlich viele Pförtner das Studium in Bonn aufnahmen, die meisten von ihnen als Philologen. Nietzsches Prägung durch die Bonner Philologie beginnt nicht erst an der Universität, sondern schon in der Schule. Was Otto Crusius über Erwin Rohde EH Warum ich so klug bin 9, 6:295. Die von Nietzsche betonte Landsmannschaft mag durchaus eine Rolle gespielt haben. Beide kommen aus dem bürgerlich-protestantischen Milieu Mitteldeutschlands. Beide tragen sie dieselben königstreuen Vornamen. Im fremden Rheinland muss Ritsehl etwas Heimatliches ausgestrahlt haben, das beispielsweise der Norddeutsche Otto Jahn nicht bieten konnte. Zeit seines Lebens pflegte Nietzsche in der Fremde enge Beziehungen zu Menschen, die ihm der sozialen oder regionalen Herkunft nach vertraut waren. Von Familie und den Pförtner Freunden abgesehen, braucht man nur an den Leipziger Richard Wagner oder den Erzgebirgler Heinrich Köseütz (Peter Gast) zu denken. In Schopenhauer als Erzieher, der Schrift, die Nietzsches unverhüllteste Kritik an der Philologie enthält, wird dies zum Ausgangspunkt einer durchaus ambivalenten Analyse von Ritschis Person, auf den unter der generischen Bezeichnung des ,Gelehrten' freilich nur angespielt wird. Nietzsche versucht hier nachzuweisen, dass der Gelehrte durchaus nicht nur, wie sein Selbstbild es will, von reinem Wahrheitstrieb angetrieben sei, sondern selbst einen komplizierten Trieborganismus darstelle wie jeder andere Mensch auch: „Man nehme zuvörderst eine starke und immer höher gesteigerte Neubegier, die Sucht nach Abenteuern der Erkenntniss, die fortwährend anreizende Gewalt des Neuen und Seltnen im Gegensatze zum Alten und Langweiligen. Dazu füge man einen gewissen dialektischen Spür- und Spieltrieb, die jägerische Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens, so dass nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird und der Hauptgenuss im listigen Herumschleichen, Umzingeln, kunstmässigen Abtödten besteht." (SE 6, l:394f). Dazu komme freilich eine gewisse notwendige Biederkeit: Scharfsinn für die Nähe, aber Blindheit für große Zusammenhänge - bei den großen Zusammenhängen möchte Nietzsche mit der Tragödienschrift ja über seinen Lehrer hinausgehen. Angesichts anderer Lehrer, Kommilitonen usw. nennt Nietzsche weitere Motive zum Philologenberuf, die der hehren Auffassung von Berufung entgegenstehen, etwa den Broterwerb, die Achtung anderer Gelehrter, die Eitelkeit, alleiniger Experte in einem abgelegenen Gebiet zu sein, selbst reiner Spieltrieb (396ff). Gelehrte seien ihrem Lehrer gegenüber treu und gewöhnten sich schnell an die Gewohnheit (ebd.) - wie die Schüler Ritschis. „Solche Naturen sind Sammler, Erklärer, Verfertiger von Indices" (ebd.) - man versteht die Anspielung auf das „Rheinische Museum".
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schrieb, mag auch auf Nietzsche zugetroffen haben: „Der Ruf F R . R I T S C H L S und der Bonner Philologie im Bunde mit der Romantik des Rheins und des Südens zog den hochstrebenden, lebensdurstigen Jüngling an die rheinische Hochschule" (1902:8). Die Pförtner Philologen scheinen von ihren Lehrern zum Studium in Bonn ermutigt worden zu sein. Dies hat etwas mit der besonderen Ausrichtung der Philologie an beiden Institutionen zu tun. Beide waren von der Tradition Gottfried Hermanns geprägt (für Schulpforte vgl. Paulsen, 31919ff, Bd.2:407ff). Einer der drei Gründungsväter des Bonner philologischen Seminars, August Ferdinand Naeke, war selbst Hermann-Schüler und Alumnus Portensis gewesen (dazu Jensen, 1933). Die Altertumswissenschaft war in Deutschland bekanntlich seit dem großen Philologenstreit zwischen dem ,Wortphilologen' Gottfried Hermann und dem ,Sachphilologen' August Boeckh in zwei Lager gespalten83. Die HermannSchule war in Leipzig, Breslau und eben Bonn stark repräsentiert, wogegen die Boeckh-Anhänger sich in Halle und Berlin prestigereiche Bastionen geschaffen hatten. Hermann stand sowohl dem Rationalismus und der Aufklärung, wie auch dem Humanismus und sogar der Romantik nahe, von Kant inspiriert war er gegen die rein spekulative Philosophie, aber auch gegen übertriebenen philologischen Enthusiasmus eingestellt: „die sprachlichen und literarischen Erscheinungen mit ihrer festen und durchsichtigen Gesetzmäßigkeit bilden das Gebiet seiner wissenschaftlichen Tätigkeit; die neuen antiquarisch-historischen, archäologischästhetischen Untersuchungen, welche von der Göttinger Schule ausgingen und durch W O L F und B O E C K H nach Halle und Berlin verpflanzt worden waren, zogen ihn weniger an." (Paulsen, 31919ff, Bd.2:407ff). Seine Schüler sprachen verächtlich von Halle und Berlin, v.a. von Wolfs Seminar, „wo man von Sprache nichts verstehe und keine Kritik treibe" (ebd., 409f). Von Gottfried Hermann, dessen Wirkungsstätte Leipzig unweit von Naumburg liegt, stammt jener humanistisch-antitheologische und historisch-kritische Geist, der Nietzsche so frühzeitig beeindruckt hatte84. Seine antitheologische und antiklerikale Ausrichtung war 83
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Ernst Vogt hat nachgewiesen, dass der Streit zwischen Hermann und Boeckh nicht, wie gemeinhin angenommen, auf einem Gegensatz von grammatisch-kritischer und historischantiquarischer Forschung beruhte, sondern „primär auf einem unterschiedlichen Verständnis von Sprache." (1979:116) Für Hermann schloss Sprachbeherrschung Sachkenntnis schon mit ein, für Boeckh war sie selbst Objekt der Philologie unter anderen Objekten (ebd.). Vgl. Paulsen ( 3 1919ff, Bd.2:465ff) zum offenen Konflikt der Jahrhundertmitte zwischen an heidnischer Antike ausgerichteter humanistisch-philologischer Bildung auf der einen sowie Kirche und Christentum auf der anderen Seite. Ein gutes Beispiel ist ein Vortrag Hermanns vor der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig vom 18. Mai 1847 (Hermann, 1877). In einer Argumentation, die dem Geist nach von Nietzsche stammen könnte, sträubt er sich gegen ein bürgerlich-modernes, von christlicher Moral geprägtes Verständnis des Altertums und setzt ihm eine historisch angemessenere Auffassung des Polytheismus entgegen: „Diese Gewohnheit, alle für das Leben wichtigen Begriffe und Lehren nicht in der lauen Breite wohlverknüpfter Sätze, sondern gleich in kräftige lebenswarme Gestalten verkörpert vor Augen zu stellen, ist das charakteristische des Alterthums, das eigentlich antike. An dieses, wie jetzt einige zu thun angefangen haben, den Massstab der christlichen Lehre anlegen, verlangen, das
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geradezu ein Hauptzug dieses wichtigsten Lehrers Friedrich Ritschls. Noch zum dreihundertsten Jahrestag der Gründung der Pforte im Jahre 1843 gratuliert Hermann mit einem antiklerikalen, wissenschaftsverherrlichenden Gedicht85. Nietzsches Theognis-Aufsatz, seine erste Arbeit, die im „Rheinischen Museum" erscheint, ist zum großen Teil schon an der Pforte entstanden. Die Hermannsche Schule ist hier, vor allem auf technisch-philologischem Gebiet bereits in einer Weise reif entwickelt, die er sich niemals in so kurzer Zeit in Bonn hätte aneignen können. Aber auch die Bonner Schule Friedrich Ritschls ist bereits mehr als nur in Konturen vorhanden. Das lag nicht zuletzt an Diederich Volkmann, der zu Nietzsches Zeit ein ganz junger Lehrer war, nur sechs Jahre älter als er selber. Er war es, der Nietzsche den Theognis als Thema seiner Valediktionsarbeit vorschlug. Nietzsche hatte ein enges Verhältnis zu seinem Naumburger Lehrer, bei dem er vorübergehend auch Privatunterricht im Englischen nahm. Mit Volkmann arbeitete Nietzsche noch während der Leipziger Zeit zusammen, während er bisweilen die gut ausgestattete Pförtner Bibliothek benutzte. Volkmann war Ritschlianer und hatte von 1857 bis 1861 (mit kurzem Zwischenspiel in Breslau) sein Studium in Bonn absolviert. Mit seiner Arbeitet De Suidae biographids quaestiones selectae promovierte er bei Ritschl. Er hat die philologische Ausbildung an der Pforte entscheidend im Sinne der Bonner Schule gestaltet, besonders während seines langen, freilich nach Nietzsches Zeit liegenden Rektorats86. Althertum solle seine Begriffe so bestimmt, so gereinigt, so entkleidet von allem materiellen Zusatz gedacht haben, wie wir es thun, heisst nicht das Althertum erklären, nicht ihm durch solche Beziehungen einen hohem Werth geben, sondern heisst seine Kraft brechen, sein Leben vernichten, seine Natur aus der sichtbaren Welt in eine unsichtbare versetzen." (S. 470) Darunter die Verse: „Arceas a penetralibus tuis/quos seculum obtrudit/duos morbos/notitiam rerum plurimarum sine ullius rei scientia/ [...] et/impiam pietatem tenebriorum/hominem malum esse nec nisi credendoo/impetrare gratiam/divinam dictantium." — in der Übersetzung Hermann Josef Schmidts: „Verbanne aus Deinem Innersten/die beiden Krankheiten,/die die heutige Zeit Dir aufdrängen will:/die Vielwisserei ohne rechte Wissenschaftlichkeit/ [...] und/die unfromme Frömmelei der Finsterlinge,/die sagen, der Mensch sei schlecht/und könne nur durch den Glauben Gnade gewinnen." Vgl. Paulsen ( 3 1919ff, Bd.2:467f) und Schmidt (1991ff, Bd. II.l:183f). Vgl. v.a. Die Ecce der Königlichen Landesschule Pforta im Jahre 1903. Verschiedene Nachrufe der Pförtner Lehrer Nietzsches wurden mir freundlicherweise von Petra Dorfmüller, Archivarin der heutigen Landesschule zur Verfügung gestellt. In einem verklärten autobiographischen Rückblick schreibt Nietzsche über die bewunderten Lehrer: „So aber lebten vor meinen Augen Philologen wie Steinhart, Keil, Corssen, Peter, Männer mit freiem Blick und frischem Zuge, die mir zum Theil auch ihre nähere Neigung schenkten." (BAW 5:253) Dass Volkmann nicht auftaucht, ist vor dem Hintergrund eines Bewerbungsschreibens verständlich. Der blutjunge Volkmann war unbekannt, während die Genannten als Berühmtheiten ihres Faches galten. Corssen und Steinhart sind Universalphilologen in der Tradition Wolfs, aber auf gründlicher sprachlichphilologischer Grundlage. Peters Spezialgebiet war die quellenkritisch fundierte römische Geschichte. Keil hatte bei Hermann in Leipzig studiert, aber auch in Berlin (vgl. Pietas scholaeportensis). Im Umfeld der letzten Leipziger Zeit notiert Nietzsche sich über die Pforte: „Vielleicht würde mich die philologische Nüchternheit und Steifheit angewidert haben: aber als Bild einer universell belebten und sein philolog. Fach belebenden Persönlichkeit war mir Steinhart von Werth. Corssen als natürlicher Feind aller Spießbürgerei und doch in strammster wissenschaftl.
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Ein anderer Gelehrter, der in der Theognis-Arbeit eine wichtige Rolle spielt, ist Gottlieb Welcker, den Nietzsche also auch schon vor seiner Bonner Zeit gekannt hat. Welcker war eine der bekanntesten philologischen Koryphäen — er hat das Bonner philologische Seminar lange gefuhrt und u.a. das „Rheinische Museum" 87 ins Leben gerufen. Welcker, besonders für seine Verbindung von Philologie und Archäologie berühmt, ist es dann auch, der die Berufung des jungen Ritsehl betreibt. Als Nietzsche die Bonner Universität bezieht, ist Welcker allerdings schon lange aus dem Zentrum des Faches abgestiegen und gilt, hochbetagt, als hoffnungslos anachronistisch. Seit 1839 hatte Ritsehl in Bonn eine neue Periode eingeleitet und dominierte das Seminar bald darauf. Als auf Betreiben Ritschis später noch Otto Jahn nach Bonn kommt, ist die „Bonner Schule" endgültig etabliert und eines der renommiertesten Institute Mitteleuropas geschaffen. Bonn wurde die Universität der ,Methode' schlechthin. Nicht von ungefähr plant Nietzsche zunächst sogar selbst nach einem Wechsel des Studienortes zum Examen an den Rhein zurückzukehren: Immerhin spreche ich meine große Freude darüber aus, daß ich gerade mein erstes Jahr in B o n n zugebracht habe. Es kommt ja wesentlich darauf an, als Philologe Methode zu lernen; und w o besser als hier? Gerade der Anfang des Studiums, die Gew ö h n u n g an eine bestimmte Richtung ist das Wesentliche. 8 8
Thätigkeit." (BAW 5:250) Nicht vergessen werden sollte ein für Nietzsche ebenfalls wichtiger Lehrer, der Literarhistoriker Karl August Koberstein, der 1827 auf historisch-kritischer Grundlage eine der ersten monumentalen deutschen Literaturgeschichten veröffentlich hatte. Eine fundiertere philologische Ausbildung als auf der Pforte gab es sonst nirgendwo auf der Welt. Die Zeitschrift „Rheinisches Museum" wurde Aushängeschild und Markenzeichen der Bonner Schule. Von Welcker begründet, war Friedrich Ritsehl lange Jahre ihr wichtigster Herausgeber, gefolgt von seinem späteren Biographen Otto Ribbeck. Das „Rheinische Museum" sei hier nicht nur der Vollständigkeit halber genannt. Thomas Brobjer (2000) hat mit Recht die Vernachlässigung der vielbändigen Reihe in der Nietzscheforschung angemahnt. Keine redliche Rekonstruktion von Nietzsches Philologie kommt an dieser mühsamen Kärrnerarbeit vorbei. Bekanntlich musste Nietzsche auf Ritschis Wunsch hin den Index erstellen, eine Arbeit, die wohl nicht wenig zu seiner Frustration über die Philologie beigetragen hat. Das „Rheinische Museum" ist die beste Quelle für die Tradition der Philologie, aus der Nietzsche stammt. Ein typisches Heft der Jahrgänge, die Nietzsche studiert und in denen er publiziert hat, stellt den weitaus meisten Raum Fragen der Textkritik, daneben der Uberlieferungs- und Quellengeschichte sowie der Echtheitskritik zur Verfügung. Ferner gibt es Beiträge zur Literaturgeschichte, Epigraphie, Etymologie, Metrik und Archäologie, gelegentlich auch kunstwissenschaftliche und mythologische Aufsätze. Alle konventionellen Gebiete der Altertumswissenschaft sind also vertreten; das Hauptgewicht liegt jedoch eindeutig auf der kritischen Grundlage. In den Bänden der späten sechziger und frühen siebziger Jahre wird die Trennung von ,harter' und .weicher' Philologie — Textkritik hier, Miszellen da — stärker akzentuiert, schon rein äußerlich. Hinzu kommen nun auch gesonderte Abschnitte für Grammatisches, Antiquarisches, Historisches. Die verschiedenen Beiträge erscheinen in nach Disziplinen geordneten Rubriken und demonstrieren damit, wie schnell sich das riesige Fach ausdifferenziert und Fachleute hervorbringt, die in der Tat langsam den Blick über das große Ganze verlieren. Brief an Mutter und Schwester vom 10. Mai 1865 (I.2:51ff.) In den ersten Bonner Briefen an Mutter und Schwester kann man ahnen, dass Nietzsche nicht unvorbereitet nach Bonn kam. Bereits im November 1864 fuhrt er sie langsam auf den wohl von Beginn geplanten Abfall von der Theologie hin (I.2:17ff). „Daß Männer wie Ritsehl, der mir eine Rede über Philologie und Theo-
2.3. Friedrich Ritsehl und die Bonner Schule
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Die Bonner Schule verstand sich ferner, und das ist vor allem bei Welcker, aber durchaus noch bei Ritsehl der Fall, als Fortfuhrer Wilhelm von Humboldts und Friedrich August Wolfs. Bei aller Methodik und Wissenschaftlichkeit pflegte sie freundschaftliche Beziehungen zur universalen Philologie anderer Sprachen, so etwa der von A.W. Schlegel begründeten Sanskritphilologie, die ebenfalls unter der Bezeichnung Bonner Schule bekannt wurde (s. dazu Windisch, 1920). Ritsehl war persönlich mit Schlegel bekannt und korrespondierte mit ihm89. Die geistigen Wurzeln der Bonner Tradition von Text- und Quellenkritik reichen jedoch nicht nur zu den großen Philologen, sondern bis in die Geschichtswissenschaft hinein, in erster Linie zu dem bedeutenden Historiker und Philologen Barthold Georg Niebuhr, der ebenfalls in Bonn gewirkt hatte und dort 1831 gestorben war; er gehörte u.a. zu den Mitbegründern des „Rheinischen Museums". Niebuhrs Komische Geschichte, über die er zu lesen begann, nachdem ihn Humboldt 1810 an die Berliner Akademie geholt hatte, machte Epoche. Die Geschichte der ersten vier Jahrhunderte Roms sei verfälscht, schrieb Niebuhr in der Vorrede: „Wir müssen uns bemühen Gedicht und Verfälschung zu scheiden, und den Blick anstrengen um die Züge der Wahrheit, befreit von jenen Uebertünchungen, zu erkennen." (Niebuhr, 1853:x). Auch ihm galt vor allem die ,Methode' als ausschlaggebend, d.h. die kritische Analyse der Quelle, die ihren poetischen und mythischen Gehalt von historischen Fakten trennte und unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen der Quelle die Historie wieder zu rekonstruieren suchte. Nietzsche, dessen lebenslanges Projekt es ebenfalls sein wird, die Verfälschungen der (christlich geprägten) Geschichtsschreibung aufzudecken, rechnete Niebuhr zu seinen intellektuellen Ahnen. Mehrmals zitiert er ihn wohlwollend als Autorität. Im Kontext einer Polemik gegen die (christliche) Romantik und Wagner als ihrem letzten Vertreter heißt es bei Nietzsche, das Beste, was Deutschland gegeben habe, sei die „kritische Z u c h t " eines „Kant, F.A. Wolf, Lessing, Niebuhr usw.", d.h. die „Lust am Neinsagen und Zergliedern" (VII 34[221]). Anders gesagt: obwohl die deutsche Kultur keine vom archaischen Griechenland inspirierte Kulturrevolution hervorzubringen vermochte, kann man sich dennoch ihre eigentliche Leistung zunutze machen, um wenigstens konkurrierende Bewegungen zu bekämpfen und auszuschalten90.
89 90
logie hielt, wie Otto Jahn, der, ähnlich wie ich, Philologie und Musik treibt, ohne eins von beiden zur Nebensache zu machen, einen großen Einfluß auf mich üben, wird sich jeder vorstellen können, der diese Heroen der Wissenschaft kennt."(Brief vom 10.-17. November 1864; 1.2:18). Strengste Philologie auf der einen und Musik als Ventil auf der anderen Seite anstatt der erwarteten Theologenlaufbahn, das sind die Attraktionen von Bonn, die sich vielleicht nur fern der Heimat so schnell durchsetzen lassen. Am 2. Februar gibt Nietzsche dann seine Entscheidung zur Philologie bekannt (1.2:40). Auszüge in den Beilagen zum 2. Band bei Ribbeck (1879ff). Vgl. auch das Niebuhr-Exzerpt im Umfeld von HL, III 29[95] - die Quelle ist unbekannt demzufolge Geschichte wenigstens einen positiven Nutzen hat, nämlich zu zeigen, dass selbst die größten Geister „nicht wissen wie zufällig ihr Auge die Form angenommen hat, wodurch sie
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Niebuhr galt vielen eher als Philologe denn als Historiker, so etwa noch bei Droysen (51967:131) — der selbst als Philologe begonnen hatte. In der Historik erkannte Droysen die große Leistung der Philologie bei der Erfindung der systematischen Kritik zwar an. Gleichzeitig distanziert sich der Schüler Hegels und Boeckhs davon, dass Quellenkritik die ganze historische Wissenschaft ausmachen solle. Die Schuld für die Verengung des Faches in diese Richtung sowie die einseitige Konzentration auf schriftliche zum Nachteil materialer und anderer Quellen gibt er Niebuhr — und nach ihm Ranke (Droysen, 51967:95), der als Nachfolger und Statthalter Niebuhrs angesehen wurde. Ranke, der übrigens wie Nietzsche Schulpforte besucht hatte, trifft sich mit Ritsehl nicht nur im Erbe der historisch-kritischen Schule, sondern auch in der Gegnerschaft zu Theodor Mommsen und der antiquarischen Tradition. Das ist wohl der wichtigste Grund, warum Nietzsche Ritsehl und Ranke in einem Atemzug nennen wird. Niebuhr hat eine Hymne auf die philologische Wissenschaft verfasst, die Nietzsche bestens bekannt war. Der Herausgeber der Ausgabe des Briefs an einen jungen Philologen, die Nietzsche besaß91, betont in seiner Einleitung die Beeinflussung Niebuhrs durch F.A. Wolf, beider Methodik sei miteinander verwandt gewesen. Die Kömische Geschichte war ja in ihrer Leistung und Wirkung durchaus mit Wolfs Prolegomena ad Ilomerum zu vergleichen (Wegner, 1951:163). In der Vorrede zum ersten Teil der zweiten Ausgabe hatte sich Niebuhr zudem ausdrücklich auf die philologische Tradition seit Bendey berufen (s. Niebuhr, 1853) — ganz wie Wolf selbst und nach ihm Friedrich Ritschi. Ritsehl nämlich fühlte sich seinem Lehrer Gottfried Hermann nicht sklavisch verpflichtet. Vielmehr ging er bewusst auf den synthetischen Ansatz F.A. Wolfs zurück und fuhrt dadurch Hermann und Boeckh, die jeder auf ihre Weise Wolf fortgedacht hatten (Bursian, 1883, Bd. 2:665ff), wieder zusammen. Nur deshalb konnte er sich, von beiden Lagern geschätzt, als Vermitder einschalten und in der Folge sein über alle Maßen hohes Ansehen im Fach erlangen92. Auf ausdrücklisehen, und wodurch zu sehen sie von Jedermann gewaltsam fordern": bis in die optische Metaphorik hinein eine Vorstufe des Perspektivismus. Von Anfang an galt Niebuhr als „Musterbilde" dessen, „was Kritik denn eigentlich sei", als Vorbild „eines jeden redlichen Strebens", wie es schon bei Goethe heißt (Goethe, HA Bd. 12:346ff). Vgl. Niebuhr (1839). Das Exemplar in Nietzsches nachgelassener Bibliothek ist zwar unaufgeschnitten, aber in wichtigen Aufzeichnungen aus den Jahren 1867/68 (BAW Bd.4:3-8) notiert sich Nietzsche dieses Buch immerhin als einziges Werk zum Thema „Über das Studium der kl. Philologie". Ritsehl nahm im Philologenstreit sogar, unerhört für einen Hermann-Schüler, ausdrücklich Boeckhs Sprachkenntnis und Methode in Schutz. Er plädierte dafür, dass ,Wortphilologen' den ,Sachphilologen' gestatten mögen, bei dürftiger Quellenlage über diese hinauszugehen. Sonst müssten sie auch bei sich selbst konsequent sein und auf Konjekturalkritik verzichten, d.h. nur noch mechanisch Lesarten feststellen (s. Ribbeck, 1879ff, Bd.l:328f). Figls (1984) Annahme, Nietzsche gehöre eher den auf Hermann zurückgehenden ,Sprachphilologen' als den auf Boeckh zurückgehenden ,Sachphilologen' an, weil er nun einmal Ritschis Schüler war, ist deshalb im besten Falle unpräzis. Figl folgt freilich einer verbreiteten Interpretation, die sich bis zu Bursian und Wilamowitz' einflussreicher Philologiegeschichte verfolgen lässt, in der Ritsehl als bloßer „Wortphilologe" abgetan wird (31998:61).
2.3. Friedrich Ritsehl und die Bonner Schule
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chen Wunsch Boeckhs sollte er sogar Nachfolger Lachmanns in Berlin werden. Ritschis Kompromissangebot bestand darin, nicht die Bedeutung von antiquarisch-historischer Forschung an sich zu verneinen, aber als dringlichste Aufgabe der zeitgenössischen Philologie für sie zunächst eine verlässliche Textgrundlage zu fordern, die nur mit strenger Methodik zu erlangen sei93. Für Nietzsche gilt der Gegensatz zwischen Hermann und Boeckh deshalb als längst überholt: in beiden Richtungen sei die Methodik als das Wichtigste erkannt und entsprechend fortentwickelt worden (vgl. z.B. §14 der Encyklopädie der klassischen Philologie, KGW II.3:390£). Ritsehl ging es nicht zuletzt um die Selbstständigkeit seiner Disziplin, deren Befreiung aus dem Status einer theologischen Hilfswissenschaft noch nicht allzu lange zurücklag. Dafür war Methode natürlich unerlässlich (vgl. den Vortrag Ueber die neueste Entwicklung der Philologie in Ritsehl, 1879:1-1894). Er plädiert sogar für einen in inhaltlicher Hinsicht äußerst umfassenden Philologiebegriff, der eine Verwechslung mit der Historiographie der klassischen Antike als Unterabteilung der Universalgeschichte nahelegt. Darin dürfe sich die Philologie indes nicht erschöpfen, denn die Reproduktion des Altertums wird nur gelingen „in Erhaltung und Herstellung seiner realen Denkmäler", also durch Textedition, wobei dann auch das Sprachstudium zu seinem Recht komme, nämlich als „das wahre Organon aller philologischen Erkenntnis". Hier glaubt Ritsehl den „Centraipunkt" philologischer Arbeit gefunden zu haben, in dem die verschiedenen wissenschaftlichen Auffassungen von Philologie zusammenlaufen und in welchem sie sich gegenseitig als gleichberechtigt anerkennen können. Die „reale Reproduction" der Texte sieht Ritsehl als bisher höchste erreichte Stufe der Philologie an95, wenn auch nicht notwendigerweise als Ziel- und Endpunkt. Erst die Arbeit, so lässt sich sein Ansatz bündig kennzeichnen, dann das Vergnügen. Auch darin folgt ihm Nietzsche96. Die Philologie hatte die Echtheitsfrage ins Zentrum ihrer Tätigkeit gerückt, weil die Schrift das wichtigste Medium war, in dem sich die „Ueberreste alter Zeiten" (Wolf/Buttmann, 1807:31) dokumentierten und diese schriftlichen Überreste als Zeugnisse einer vorbildichen Vergangenheit und ästhetisch besonders Auch hier hatte Wolf den Weg gewiesen: „sobald die Schriftsteller interessant sind, müssen wir sie ihrer wahren Gestalt nahe zu bringen suchen. Die Kritik ist die Basis der ganzen Alterthumswissenschaft; man kann auch nicht eher erklären, als bis man verbessert hat." (1831:308) Auch als Lemma „Philologie" im Conversations-Lexikon der neuesten 7.eit und Utteratur, Bd. III, Leipzig, Brockhaus, 1833. Wer antike Autoren in Ubersetzungen liest, könne immerhin ein nützlicher (Kunst-)Historiker sein, niemals jedoch Philologe, wer sich dagegen nur mit niederer Kritik, mit Schreibfehlern und Fragen des Spiritus etc. beschäftige, sei in jedem Falle einer. „Auf dieser Grundlage, aus diesem Boden können Kräfte der ersten Art und Früchte jener Art erwachsen, umgekehrt niemals." (Ritsehl, 1879:27) IV 5[2]: „Das Alterthum in Schriften aufbaun — eine noch ganz ungelöste Aufgabe." Vgl. aber unten, bes. Kap. 5.3. u. 5.4.
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
w e r t v o l l g a l t e n ( 3 2 f ) . G r ü n d u n g s v a t e r F . A . W o l f , d a s sollte n i c h t v e r g e s s e n w e r d e n , ist e i n Z e i t g e n o s s e u n d V e r t r a u t e r G o e t h e s . D i e k l a s s i s c h e n T e x t e e r l a n g e n für ihn eine fast religiöse D i m e n s i o n , die i m Zeitalter der Herausgeberfiktionen u n d Fälschungen97 nicht kompromittiert w e r d e n darf. D e r Status
klassischer
Texte w ä r e hinfällig o h n e P r ü f u n g v o n Echtheit, Alter und Richtigkeit. D a r a u s e r g i b t s i c h m i t N o t w e n d i g k e i t die Z e n t r a l i t ä t d e r p h i l o l o g i s c h e n K r i t i k ,
dem
H e r z s t ü c k der A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t (38f). W o l f führt die rein ästhetische Schätz u n g des Altertums i m Sinne Winckelmanns, Lessings oder Goethes zu einer h i s t o r i s c h e n W i s s e n s c h a f t f o r t , d i e d e n n o c h n i c h t s w e n i g e r als p o s i t i v i s t i s c h i m m o d e r n e n V e r s t a n d ist. I u d i c i u m u n d I n t u i t i o n , k u r z : D i v i n a t i o n d e s P h i l o l o g e n , s i n d n o c h i m m e r n o t w e n d i g , u m e t w a H o m e r s Z e i t g e r e c h t z u w e r d e n ; sie m u s s freilich durch wissenschaftliche Beweisführung, also durch , M e t h o d e ' nachprüfbar gemacht werden: Die hohe Bedeutung der Prolegomena für die Geschichte der Philologie beruht noch mehr auf der von W o l f angewandten Methode der Forschung als auf den dadurch gewonnenen Resultaten: sie gaben das erste, mustergültige Beispiel einer mit richterlicher Strenge und Schärfe durch Abhörung aller Zeugen geführten Untersuchung über die Geschichte eines antiken Geistesproductes von dem Zeiträume seiner Entstehung an nach den verschiedenen Epochen der Ueberlieferung. 9 8 W e n n Ritsehl das H a u p t g e w i c h t seiner Tätigkeit auf die M e t h o d e verlegte, entwickelte er mithin direkt das E r b e W o l f s weiter u n d m a c h t e die Philologie dadurch f ü r l a n g e Z e i t m e t h o d i s c h u n a n g r e i f b a r . „ E s ist d a s V e r d i e n s t R i t s c h i s in e r s t e r L i n i e , w e n n d e r k l a s s i s c h e n P h i l o l o g i e d e r E r f o l g g e g l ü c k t ist, i m A l l g e m e i n b e w u ß t s e i n d e s 19. J a h r h u n d e r t s e i g e n s t als W i s s e n s c h a f t
der
Methode
zu
gelten." (Bickel, 1946:31) G e m e i n s a m m i t O t t o J a h n " u n d anderen Kollegen
Man denke etwa an Ossian, der seinerzeit ja oft mit Homer verglichen wurde. In Kapitel 49 seiner Prolegomena äußert Wolf bereits hellsichtige Zweifel an seiner Echtheit (Wolf 21859/1985). Bursian (Bd.l:526f). Informationen und Literaturhinweise zu Wolf s. auch CBE. Über F.A. Wolf und die Begründung der Philologie aus dem Geist des Humanismus vgl. Paulsen ( 3 1919ff, Bd. 2:210-247) - Wolf hatte seine Enzyklopädie-Vorlesung (das spätere Museum) auf Vorschlag Goethes verfasst, dem sie auch gewidmet war. Die enge Beziehung Wolfs zu Humboldt und der Gründung der Berliner Universität beschreibt Bursian (1883, Bd.l:536ff). Der beste neuere Überblick zur Philologiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Wolf bei Horstmann (1978). Er hebt u.a. die Entwicklung der Textkritik als der philologischen Methode schlechthin hervor. Nietzsches Studienzeit fällt bekanntlich in die Zeit des großen Streits zwischen Ritsehl und Otto Jahn und ihren jeweiligen Anhängern, Jahnitscharen' und Ritschlianern. In der Forschung herrscht heute allerdings Einigkeit darüber, dass es sich dabei weniger um einen Gelehrtenstreit als um einen Streit zwischen Gelehrten handelte. Nicht zwei unterschiedliche Auffassungen von Philologie, sondern zwei unterschiedliche Persönlichkeiten gerieten aneinander (beide stammten aus der Hermann-Schule). Der Anlass war eine Stellenbesetzung. Ritschls Abgang nach Leipzig und die damit verbundene Enriassung aus preußischen Diensten wurde sogar vom König persönlich bedauert, während die Sachsen sich freuten, den renommierten Hermann-Schüler wieder an seinem Ausgangsort zu haben. Vgl. bes. Ribbeck, (1879ff, Bd. 2:342ff). Kurzfassung bei Calder III (1983). Zu Jahn jetzt auch Calder III/Cancik/Kytzler (Hrsg., 1991). Eine in der Nietzsche-Forschung übersehene, sehr gründliche Darstellung bei Hübinger (1964) — mit vielen
2.3. Friedrich Ritsehl und die Bonner Schule
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etabliert er eine Arbeitsweise, die außer Nietzsche viele andere Schüler entscheidend formte. Beispiele für die Durchführung dieser Methode bieten nicht nur Nietzsches eigene philologische Arbeiten, sondern viele Beiträge im „Rheinischen Museum". Bonner Schule der klassischen Philologie heißt, um konkret zu werden, die Verbindung von Textkritik mit prosodischen, metrischen, epigraphischen und literaturhistorischen Studien. Besonders wichtig sind ihr die Quellenforschung, die Etablierung von Texten und ihre kritische Auslegung zum Zwecke der Sicherstellung von Texten und damit der Überlieferung. Sie versteht sich als hart und unerbittlich in der Strenge ihrer Methodik, die gleichwohl nicht rein formal sein soll, sondern Strenge eher in der kritischen Distanz zur eigenen wissenschaftlichen Phantasie praktiziert. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit immer auf kleinere, überschaubare Objekte und entwickelt größere Thesen nur am konkreten Fall. Sie ist empirisch, antimetaphysisch und antitheologisch geprägt. Ihr Ethos soll verbindlich für jede Wissenschaft sein, ihre Methode Grundlage zumindest der historischen Wissenschaften. Die Art und Weise ihres Lesens unterscheide die Philologie als Disziplin von verwandten Disziplinen.
Quellen- und Literaturhinweisen. Ebenfalls gleichermaßen nützlich wie vernachlässigt Ehrhardt (1982). Ob Nietzsches endgültiger Fortgang aus Bonn etwas mit dem Streit der Kollegen Ritsehl und Jahn zu tun hat, ob Nietzsche also Ritsehl nach Leipzig folgt, ist in der Forschung umstritten und lässt sich auch nicht mehr mit völliger Sicherheit entscheiden. Tatsächlich bewundert Nietzsche beide Lehrer, die sich wissenschaftlich und methodisch ja sehr nahe sind. Auf dem Höhepunkt des Streits schreibt er eine große Arbeit bei dem sehr beliebten Jahn (KGB 1.2:48), der ihm wegen seiner künstlerischen Neigungen und seines Musikverständnisses nahe ist. Noch 1869 schenkt ihm Paul Deussen Jahns jüngst erschienene Aufsatzsammlung mit der Widmung „Dem lieben Freunde zur Erinnerung an frohe Tage und zum Zeichen unwandelbarer Dankbarkeit, Liebe und Treue" (vgl. Jahn, 1868 in Nietzsches nachgelassener Bibliothek). Der Briefwechsel, der meist zur Klärung herangezogen wird, ist in diesem Fall unzuverlässig, da Nietzsche seine Begründung des Wechsels auf die jeweiligen Adressaten abstimmt. Im Brief an Mutter und Schwester vom 29. Mai 1865 (1.2 58ff) nennt er Ritsehl als Hauptgrund, Leipzig zu wählen: ihnen gegenüber muss es ein respektabler wissenschaftlicher Grund sein. Freund Gersdorff, der gleichzeitig auch nach Leipzig gehen will, versichert er, dass dessen Umzug der eigentliche Grund sei, schon vorher habe er zwar wechseln wollen, sei aber unschlüssig gewesen wohin. Ritschis Umzugspläne hätten ihn nur bestärkt - obwohl er im selben Atemzug Jahn im Philologenstreit Recht gibt (25. Mai 1865, 1.2 54ff). Selbst dass man in Leipzig besser Musik treiben könne, was in Bonn ganz und gar unmöglich gewesen sei, wird herausgestrichen (an Gersdorff 4.8.65 1.2 75ff). Im Rückblick auf meine qvei Leipziger Jahre (KGW I.4., S. 506-530) heißt es dagegen, er sei vor allem aus dem Bonn der rohen studentischen Sitten geflohen (dass er in der Frankonia nicht reüssieren konnte, ist bekannt). Ritschis Leipziger Antrittsvorlesung sei für ihn dann das erste fröhliche Ereignis gewesen, besonders da dieser Nietzsche sofort erkennt (aus über 100 Studenten, die Ritsehl aus Bonn gefolgt waren! vgl. Bickel, 1946:15) und ihm in dem Kreis ehemaliger Bonner Studenten bald eine herausgehobene Stellung zumisst - Ritsehl musste natürlich annehmen, dass Nietzsche nun ausschließlich seinetwegen in Leipzig war. Wahrscheinlich spielten verschiedene Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt der Umstand, wieder in der Nähe der Familie zu sein und beträchtliche Summen Geldes zu sparen; das Leben am Rhein war kostspielig gewesen. Ob Nietzsche tatsächlich zu Jahn hält, sich aber letztlich lieber dem stärkeren Ritsehl unterordnet wie Ross ( 2 1994:lllff) vermutet, ist deshalb letztlich unerheblich.
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Zusammenfassend seien in übersichtlicher Form jene wesentlichen methodischen Charakteristika der Bonner Schule im Sinne Ritschis dargestellt, die bei Nietzsche auch außerhalb des philologischen Berufs nachgewirkt haben: (1) Philologie baut bei Ritsehl auf einem unumstößlichen Ethos auf, das „unerbittliche Strenge gegen jede Halbheit im Denken" (Bickel, 1946:22) fordert. Friedrich Paulsen berichtet eine bezeichnende Anekdote von Ritschis Wahrheitsliebe. In seiner Homervorlesung stutzt Ritsehl und traut plötzlich der eigenen Erläuterung eines schwierigen Ausdrucks nicht mehr. Am nächsten Tag verkündet er, sich doch nicht geirrt zu haben, er habe nämlich über Nacht noch einmal „den Homer" durchgelesen, den ganzen versteht sich (Paulsen 31919ff, Bd. 2:453, Anm. I)100. Zu dieser Grundhaltung gehört die Selbststilisierung als Alexandriner'. (2) Philologie hat zwar die universale Erkenntnis des Altertums zum Ziel, konzentriert sich aber in ihrer täglichen Arbeit auf einzelne Punkte, die möglichst gründlich durchgeführt werden sollen. Die Methode ist immer an Einzelfragen und Einzelproblemen ausgerichtet, rein memorierter Gedächtnisstoff wird abgelehnt. Gegenüber „jener flachen, arbeitsscheuen Universalität, die nirgends eigentlich zu Hause ist", zieht Ritsehl es vor, sich auf einem Gebiet hervorzutun, anstatt auf vielen nur unwichtige Rollen zu spielen (Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:87) ein Erbgut der Hermannschen Tradition. Er betont die Arbeit am kleinsten, scheinbar unwichtigen Detail, die in engem Zusammenhang mit der unter (1) genannten Prüfung und Infragestellung jeder Autorität, auch der eigenen, steht. Antiquarischer Sammelgeist soll durch intensive Konzentration auf ein genau abgegrenztes Gebiet ersetzt werden (Ribbeck, 1879ff, Bd.2:457f), wobei auch die Versenkung in einzelne Probleme maßvoll zu geschehen hatte. Ritsehl zeigte kein Interesse an massenhaften kritischen Textausgaben, wie er auch kein Freund riesiger allumfassender Editionen eines einzelnen Schriftstellers war101. Zwar ist Kulturgeschichte der endgültige Referenzrahmen für den Sinn des ganzen Unternehmens, aber überzeugende kulturgeschichtliche Thesen lassen sich nur induktiv aus der gründlichsten Analyse konkreter ,Monumente' entwickeln:
loo Vgl. Ritschis Bruchstücke und Aphorismen ^ur Methodik (1879:19-32), in denen er u.a. die „heilige Scheu vor der Wahrheit, der unbedingten, reinen, unerbittlichen, unbarmherzigen" (23) beschwört. ιοί Vgl. schon Ribbecks Fazit: „Das Ziel seiner wissenschaftlichen Bestrebungen war die lebendige Erkenntniss des gesammten classischen Alterthums in allen seinen culturhistorischen Momenten. Wenn ihm hierzu überhaupt das unmittelbare Studium der Quellen, inbesondre Vertrautheit mit den alten Autoren selbstverständliches Erfordemiss war, so fand er nach guter Humanistenart die Blüthe echt philologischer Meisterschaft in der Kunst, die Dichter zu erklären und ihren Text zu verbessern. Während ihm aber für dieses engere Feld das grammatische Studium nur als Mittel galt, verkannte er weder die selbständige Bedeutung, welche die Sprache als eine der wesentlichsten Aeusserungen des antiken Geistes fur uns haben muss, noch die Unentbehrlichkeit des vergleichenden Sprachstudiums für das etymologische Verständniss ihrer mannigfachen Bildungen." (Ribbeck, 1879ff, Bd.2:454ff)
2.3. Friedrich Ritsehl und die Bonner Schule
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Er setzte seinen Ehrgeiz nicht darein, zu den Nabobs der Gelehrsamkeit gerechnet zu werden. Was seinen Geist reizte, war weniger der bequeme Besitz des Allen zugänglichen Wissens als das Erkennen und Erforschen verborgener Thatsachen und Zusammenhänge. Nur was ihm selbst durch redliches Suchen zur Ueberzeugung geworden war und was er Andren durch vollständige .Zusammenfassung und Abwägung aller in Betracht kommenden Momente' zur Ueberzeugung zu bringen hoffte, legte er öffentlich vor, nicht in hastiger Eile, oft erst lange Jahre nach der Entdeckung, (ebd., S. 456)
Diese Selbstverpflichtung macht die Größe, aber auch die Beschränkung der Ritschl-Schule aus. Während und nach dem Studium kritisiert Nietzsche die Hingabe an das Detail, welches die weiteren Zusammenhänge aus dem Auge verliert102. In dem Moment, da er die Philologie verlässt und sich komplexeren Fragen etwa der Kulturphilosophie und Moralgeschichte widmet, wird sie ihm wieder Vorbild redlicher Arbeits- und Kompositionsweise, nicht zuletzt in der Genealogie der Moral. (3) Wesentlich bei der Behandlung der einzelnen untersuchten Punkte ist ihre Darstellung: das Verlangen der Ritschl-Schule nach gewissermaßen künsderischer Abrundung. „Es lag in ihr das Streben nach einer gewissen formell künstlerischen Abrundung und virtuosen Behandlung wissenschaftlicher Fragen, möglich gemacht durch strenge Begrenzung derselben und Concentrierung auf einen gegebenen Punkt." Ritschis Methode, schreibt Lou Andreas-Salome, sei Nietzsche deshalb sogar entgegengekommen (2000:79f). Mehr als andere Gelehrte dachte Ritsehl an den Leser und forderte dies auch von seinen Schülern (Schmid, 1984:passim). „Mein alter Lehrer Ritsehl", so Nietzsche am Ende seines Schaffens, „behauptete sogar, ich concipirte selbst noch meine philologischen Abhandlungen wie ein Pariser romancier — absurd spannend." (EH Warum ich so gute Bücher schreibe 2, 6:301) (4) Ritschis Philologie ist nicht rein formal. Sie versteht sich als weniger mechanisch, auch und besonders in der Textkritik, als die verwandte Praxis eines Karl Lachmann. Intuition, die sich auf intime Kennerschaft und weitreichende Textkenntnis stützt, ist geradezu ihr Markenzeichen. Diese auswählende und divinatorisch-subjektive Form der Kritik soll jedoch kein zufälliges Ratespiel abgeben, sondern durch Tatsachen abgesichert sein, die ohne Beteiligung der Persönlichkeit des Philologen ermittelt werden. Mühsam erworbenes „gebildetes
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Nietzsche ist in der Philologiegeschichte bei weitem nicht der einzige, dem die minutiöse Arbeit am Detail nicht mehr genügt. Der Däne Johann Nicolai Madvig, einer der profiliertesten Latinisten des neunzehnten Jahrhunderts und ein wichtiger Einfluss auf Ritsehl und die Bonner Philologie — er war ursprünglich für den Bonner Lehrstuhl im Gespräch, den dann letztlich doch Ritsehl erhielt —, Madvig also reflektiert in aphoristischen Bemerkungen des Jahres 1884, in hohem Alter, sein Ungenügen an dieser speziellen Ausprägung der Philologie: „Allmählich ekelt mir vor der Philologie. Man dreht und wendet den erschöpften Stoff, um einen neuen Inhalt herauszupressen und ihn zu widerlegen. Man verliert sich in Dingen, von denen man nichts weiß, ohne sich an das Sichere und Wesentliche zu halten. — Und dann die unendliche Kleinlichkeit der Inschriften und Kuriositäten!" (Madvig, 1917:17f; Übersetzung von mir)
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Gefühl, Takt, gesunde[r] Sinn, feine[r] Blick", erst recht Routine selbst lässt sich niemals ganz in Regeln fassen, Theorie muss immer an bedeutenden Mustern demonstriert werden, von denen man absehen, ablernen kann. Keine Theorie kann Anspruch auf absolute Geltung erheben, alle Regeln sind relativ und können niemals bereits alle Möglichkeiten der Zukunft erfassen (vgl. Ribbeck, 1879ff, Bd.2:18f). Daraus erklärt sich das Desinteresse Ritschis an Philosophie und theoretischer Systematik. Es erklärt auch, warum keine längeren theoretischen Abhandlungen von seiner Hand vorliegen. Die Enzyklopädie - die Methodenlehre also — ist wichtig in pädagogischer Hinsicht, aber lernen lässt sich im Zweifelsfall nur am konkreten Text. Jeder Text verlangt seine eigene Methodik, die man sich durch Analogie mit anderen Texten erarbeiten muss. Beispiele und eigene Forschung ersetzen abstrakte Theorie; Ritsehl verstand sein eigenes Wirken als Vorbild, nicht als Muster103. (5) Prüfstein und zugleich Zentrum der Ritschlschen Philologie ist die Textkritik. Das hat zwei Gründe. Im Umgang mit Texten besteht, erstens, die Kernkompetenz der Philologie; Texte sind die wichtigsten Monumente, in denen sich die Uberlieferung des Altertums darstellt. Ohne verlässliche Texte und ohne genaue Arbeit am Text ist alles andere hinfällig. Der zweite ist pädagogischer Art: „Andere mögen an geistesgeschichtlichen Konzeptionen das Talent ihrer Schüler erproben; Ritsehl hat sich über die Befähigung des einzelnen zu wissenschaftlicher Arbeit so Klarheit verschafft, daß er ihn textkritisch arbeiten ließ." (Bickel, 1946:22) In der Textkritik lässt sich die wichtigste Fähigkeit der philologischen Methode an überschaubaren Beispielen einstudieren, nämlich kritisches Bewusstsein und, besonders in der Konjekturalkritik, Phantasie, die sich selbst wieder im kritischen Zaum hält. Die Konjekturalkritik galt ja immer bis zu einem gewissen Grad als Neu- und Nachdichtung (vgl. Jensen, 1963:89). Der Konjekturalkritiker musste Werk und Autor kennen wie kein zweiter, wenn die Konjekturen ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit haben sollten. Die Bonner Schule wurde immer wieder mit dem Vorwurf angegriffen, einseitig Kritik zu treiben — anstatt Pädagogen für die Schule zu erziehen, die sich etwas mehr in den Realien auskennen. In einem gemeinsamen Bericht für das akademische Jahr 1861/62 verteidigten sich Ritsehl und Jahn: Allein wenn es feststeht, dass alle Erforschung des Alterthums ihre Wurzel hat in dem methodisch begründeten Verständniss der alten Schriftsteller, dass fast jede Schwierigkeit, fast jeder Zweifel auf irgend welchem Gebiet der Alterthumswissenschaft zurückzufuhren ist auf ein Problem der Kritik und Hermeneutik, so ergiebt es sich mit N o t w e n d i g k e i t , dass die Kräfte sich heranbildender Philologen vor allen Dingen zu
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Die strenge Methodik, schreibt Nietzsche an Rohde in einem Selbstklärungsbrief, setze immer erst nach der geistigen Hauptarbeit ein, oft helfen in erster Linie „philologischer Witz, eine sprunghafte Vergleichung versteckter Analogien und die Fähigkeit, paradoxe Fragen zu thun" (Brief vom 9. Dezember 1868,1.2:340) - das sind die ,Schleichwege' Ritschis!
2.3. Friedrich Ritsehl und die Bonner Schule
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üben sind an den Aufgaben, welche die Herstellung corrupter Textworte, um das richtige Verständniss zu erzielen, darbietet. (Ribbeck, 1879ff, Bd.2:283)1M
(6) Im Zentrum dieser angewandten Methodenlehre steht somit das Verhältnis von Kritik und Hermeneutik. „Überall da, wo ein strittiger Sachverhalt so entschieden wird, daß ihn zunächst eine ,clara et distineta pereeptio' auf das durch die Daten der Überlieferung determinierte kritisch-hermeneutische Problem zurückfuhrt, treibt man Philologie im Geiste Ritschis." (Schmid, 1984:703) Kritik und Hermeneutik lassen sich zwar in der Praxis nicht voneinander trennen, müssen aber theoretisch auseinandergehalten werden. Da diese Einsicht für Nietzsche überaus wichtig wird, ist ihr ein gesondertes Kapitel gewidmet. (7) Die charakteristische Tätigkeit des Philologen ist das Lesen. Das ist weniger banal als es klingt. Lesen will in einem langen, möglicherweise das ganze Leben andauernden Prozess gelernt sein105. Die bloße Aufnahme schriftlich formulierten Gedankenguts ist nicht damit gemeint. Philologisches Lesen geht über die Inhaltsanalyse hinaus und widmet der Form sowie der Überlieferung des Textes größte Aufmerksamkeit, bis hin zur Materialität des Schriftträgers. Lesen ist das Erkunden des Textsoma als tatsächlichem Körper bzw. Organismus. So waren etwa metrische und rhythmische Studien für Ritsehl von hoher Bedeutung. Lesen ist die verinnerlichte Ausübung von Kritik und Hermeneutik nach einem Grad der Verflechtung, der sie unauflöslich macht, also einer Exegese, die sich auf Schritt und Tritt selbst beobachtet und kritisiert. Lesen muss dem Gegenstand und dem Erkenntnisziel angemessen sein. Ritsehl unterscheidet zwei hauptsächliche Lektüreverfahren: die „tüchtige eindringliche, mit Kritik verbundene statarische Leetüre" (meine Hervorhebung) — also die gründliche und langsame, in die Tiefe dringende Lektüre - und die kursorische Lektüre, die reiche Kenntnisse und Sicherheit der Sprache (facultatem et usum) zum Ziel hat106. Und er fährt fort:
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Ritsehl wurde seinen Ruf als einseitiger Textkritiker bei Gegnern wie Wilamowitz, der bald auch die Wissenschaftsgeschichtsschreibung dominieren sollte, nicht mehr los. Der Eintrag zu Ritsehl im 28. Band der ADB aus dem Jahr 1889 ist eine der letzten differenzierten Einschätzungen: „Ueberhaupt machte er aus der Conjekturalkritik als solcher keinen Beruf: er machte nicht Jagd auf Verbesserungen, sie bahnten ihm nur den Weg zu höheren Zielen. Auch nicht das Herausgeben von Texten gab ihm die höchste Befriedigung, sondern die methodische Lösung von Problemen, auf welchem Gebiete der Philologie es auch sein mochte. [...] Die künstlerisch aufgebaute und durchgeführte Untersuchung, die umsichtige und zwingende Beweisführung, die formvollendete Monographie war es, in der sich sein Lessing verwandter Geist am meisten genug that. Wie dieser verstand er die Leser finden zu lassen, was er selbst noch zu suchen schien." (ADB, Bd. 28:659).
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Ritsehl stellte zusammen mit einem Kollegen humoristisch gemeinte „Zehngebote für classische Philologen" auf. Das fünfte, durch diese Stellung im Verhältnis zum Dekalog des Alten Testaments also herausgehobene Gebot lautet: „Du sollst lesen lernen." (s. Ribbeck, 1879ff, Bd.2:45) D i e s e nützliche Unterscheidung ist aus den neuphilologischen Studienordnungen in Deutschland leider verschwunden. In Nordeuropa, etwa in Dänemark, spielt sie jedoch nach wie vor eine wichtige, sogar prüfüngsrelevante Rolle. Man bemerke, dass sich die statarische Lektüre bei Ritsehl nicht mehr im traditionellen Verstand auf die Entschlüsselung dunkler Stellen bezieht,
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Einen gewissen Umfang der L e e t ü r e alter Schriftsteller zu haben ist doch der K e r n der ganzen philologischen Wissenschaft. Das kömmt immer mehr ab; die neuen Bücher nehmen zu sehr in Beschlag; deshalb deren Studium von vielen verdammt; ganz unwissenschaftlich; beides zu vereinigen; denn ohne die befruchtenden Ideen, die den Stoff beleben, ist alle Leetüre nur Stockgelehrsamkeit oder reines Amüsement.107
Das Nonplusultra ist also die möglichst genaue Kenntnis von möglichst vielen Texten und unterschiedlichen Textsorten; das Studium der Grammatik muss durch die Lektüre möglichst vieler Schriftsteller ergänzt werden (Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:335). Erst lange Gewöhnung an komplexes Lesen und die Kombination aus statarischer und kursorischer Lektüre macht Kennerschaft aus108. Wie das Zitat aber auch zeigt, darf moderne Literatur durchaus genossen werden, solange sie nicht von der Vertrautheit mit der Literaturgeschichte ablenkt und anregend auf die Lektüreergebnisse wirkt. Die Gewichtung ist allerdings unmissverständlich: Hauptgeschäft des Philologen ist die Beschäftigung mit der Überlieferung, die aus Gründen des begrenzten menschlichen Aufnahmevermögens mit einer gewissen Enthaltsamkeit gegenüber der zeitgenössischen Produktion erkauft wird. (8) Diese Betonung der Belesenheit in Verbindung mit ihrer oft demonstrierten philosophischen Abstinenz verweist auf den letzten methodischen Kanon der Ritschlschen Philologie, nämlich die empirische Fundierung. Die Textkritik ist lediglich diejenige philologische Teildisziplin, welche dieser Norm am nächsten kommt: In der Tat ist die Textkritik, d.h. die souveräne Beherrschung der Urkunden, so geübt durch Verfolgung aller Belange der betreffenden Stelle, die Primärquelle für jede geschichtliche Untersuchung. Damit wird die Textkritik und die Befähigung zu ihr der Punkt, wo sich die Geister scheiden, die aus der Quelle trinken oder aus der Wasserleitung zapfen. Wenn an irgendeinem Punkte die Methode der Geisteswissenschaft sich der induktiv-empirischen Methode der exakten Naturwissenschaft nähert, die der Bestätigung der gedanklichen Aufstellung durch das Experiment bedarf, so ist es die Textkritik der klassischen Philologie. (Bickel, 1946:23)
Bereits in einer akademischen Rede aus der ersten Bonner Zeit (1830-1848; vor der großen Italienreise) tadelte Ritsehl „die wechselseitige Geringschätzung, welche zwischen Vertretern der Natur- und der sogenannten Geisteswissenschaften
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sondern gemäß der modernen Bedeutung auf die Gründlichkeit und Genauigkeit des Leseprozesses selbst. Nach Ribbeck, 1879f, Bd. 1:335. Man hört der Diktion an, dass sie aus einer Vorlesungsmitschrift stammt. Ein gutes und sprachlich leicht zugängliches Beispiel fur Ritschis eigene Lektürepraxis (es ist in Deutsch und nicht dem von ihm bevorzugten Latein verfasst) ist etwa sein Aufsatz Die Piautinischen Didaskalien (Ritsehl, 1845), der in selbst für den Laien faszinierender Weise editorische, text- und quellenkritische, kultur- und theatergeschichtliche, wissenschaftshistorische, etymolologische, metrische, literaturhistorische und grammatische Beobachtungen verbindet, ganz nebenbei große Belesenheit demonstriert und sich, nicht zuletzt in harter Auseinandersetzung mit anderen gelehrten Auffassungen, einer überaus rationalen, syllogistischen Argumentationsweise bedient.
2.3. Friedrich Ritsehl und die Bonner Schule
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geäussert werde" (Ribbeck, 1879ff, Bd.2:142). Dies sei am Ende für alle Wissenschaften schädlich. Maßstab des wahren Gelehrten sei geradezu sein Verhältnis zu den Wissenschaften außerhalb des engen Spezialgebiets. Ritsehl insistierte zwar auf fachlicher Spezialisierung, ohne die kein Erkenntnisgewinn mehr möglich sei, fühlte sich indes immer der Einheit der Wissenschaft verpflichtet. So beklagte er z.B. die Herauslösung der Archäologie aus der Philologie und wehrte sich gegen den Anspruch auf Vorrang seitens der Theologie und der Philosophie, besonders jener, die das Beispiel des Aristoteles vergesse, der doch wenigstens die Empirie zu schätzen gewusst habe. Der Rangstreit unter den Künsten sei ebenso verwerflich wie der zwischen den Nationen: Ritsehl überträgt bewusst Goethes Kosmopolitismus auf die Wissenschaft (ebd.). Der Charakter philologischer Theorie und Methode wird, immer wieder in Auseinandersetzung mit dogmatischen Tendenzen jeglicher Philosophie „als das durch fortgesetzten Versuch allmälig erwachsende, nie abgeschlossene Ergebniss empirisch gewonnener Einsicht" vertreten (ebd., Bd. 2:18f)109. Durch Suchen und Entdecken neuer Urkunden und Dokumente lassen sich etwa quellenhistorische Thesen oder textkritische Konjekturen verifizieren und falsifizieren. Durch sprach- und stilhistorischen Erkenntniszuwachs aufgrund sprachvergleichenden Studiums sowie durch die Parallelstellenmethode können Auslegungen modifiziert werden. Der Vorwurf an Ritsehl lautete häufig, zu sehr im Induktiven zu verharren. Das Experiment galt ihm gleichwohl als Königsweg und die Naturwissenschaften waren ihm Verbündete gegen dogmatische Deduktionen der Theologen und Metaphysiker110. Nietzsche wird diese Haltung mit seiner Wende nach Menschliches, All^umenschliches in extremer Form einnehmen. Seine Vorliebe für naturwissenschaftliche und physiologische Studien ist bekannt. Die Nähe Nietzsches zu experimentellem Denken ist der Forschung schon seit längerem aufgefallen, möglicherweise zuerst Walter Kaufmann (vgl. 31968:85), der in dieser Hinsicht vor allem von der angelsächsischen Nietzscheforschung weitergeführt wurde. Es soll hier behauptet werden, dass es die spezielle philologische Schulung war, die einen fruchtbaren Boden für die Aufnahme naturwissenschaftlichen Denkens bei Nietzsche bereitet
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Ritsehl richtet sich an dieser Stelle ausdrücklich gegen Schleiermacher. Otto Jahn war sich mit Ritsehl in der Verachtung der Philosophie (besonders der zeitgenössischen) vollkommen einig. Er behauptete gern, nie in seinem Leben ein philosophisches Werk gelesen zu haben (nach Figl 1984:113). In Aufzeichnungen zur philologischen Methodenlehre zwischen Herbst 1867 und Frühjahr 1868 notiert sich Nietzsche, dass Philologie immer im Gegensatz zur Philosophie stehe. Hier gibt es auch einen ersten Hinweis auf Senecas 108. Brief an Lucilius, der dann in der Basler Antrittsvorlesung zur Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Philologie herangezogen wird - dazu später mehr (BAW 4:3-8). Porter (2000a) hat in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit des (durch F.A. Lange vermittelten) Atomismus für Nietzsche betont — und damit auch der empirischen Naturwissenschaft, und zwar keiner positivistisch, sondern skeptisch verstandenen, welche weiß, dass die Sinne nur Schein, nicht Realität transportieren, die sich der Kontingenz allen Wissens, der UnZuverlässigkeiten von Bedeutungen bewusst ist. Atomismus diene Nietzsche als Waffe gegen Mythologien und Dogmen (S. 94).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
hat. Besonders die frühen Aufzeichnungen zur Philologie belegen, dass sein methodisches Interesse an den empirischen Wissenschaften in der Bonner Schule der Klassischen Philologie wurzelt 111 . In grundsätzlichen Reflexionen zur Methode der Philologie misst Nietzsche ihre „Anstrebung möglichster Objektivität" am naturwissenschaftlichen Ideal: 1. Erkenntniß der Überlieferung. Ausgeschlossen werden die Subjekt, der Herausgeber, dann der revidier. Grammatiker Die älteste Form wird gesucht, weil sie dem Alterthum am nächsten steht (Hülfsannahme: die Fehler vermehren sich progressiv.) Dazu muß ein app crit da sein, um die Verwandtsch. der codd. abzuschätzen. Dies geschieht nach äußeren Handhaben, Lücken etc. (Paläogr) 2. Erkenntniß der Verderbniß a. augenscheinl. Verderbnisse b. durch ratio erschließbar z.B. objektiver Anhalt: Zahlensymmetrie subjet.: best. Ansicht über die aesthet. Vollkommh. des Autors. zB. eine allgemeine Ansicht über die häufigste Form der Verderbniß. 3. Erkenntn. der Heilung. a. paläogr. Weg b. durch Analogien (Sprachgebrauh) c. durch Logik d. durch Betrachtung Vieler werden die Möglichkeiten erschöpft. Die wachsende Gewißheit, daß das Richtge getroffen ist. daß die richtige Ursache erkannt ist: analoge Fälle in überwieg. Masse daß das richtige Wort gefunden, es fügt sich in die spezielle Grammatik xx ein. unsre Methodik muß für jeden Naturforscher, noch mehr für den Mathematiker ein Greuel sein, weil sie immer mit einigen verbunden Möglichkeiten operirt. Die Subjektivität prävaliert eine Menge unbewußter Mächte hat gegen die Texte gewüthet. Bewußte Mächte sollen dies wieder ergänzen. Zunächst Scheidung der Einflüsse. Die Erkenntniß eines bestimmten Einflusses beweist nichts. (KGW I.4.:475f)112 Diese Aufzeichnungen gehen zum großen Teil auf den Einfluss Ritschis zurück. Wichtig ist die Betonung der Unmöglichkeit, die Subjektivität des Philologen vollends auszuschalten, die ihn ja erst v o m Naturwissenschaftler unterscheidet. Gleichwohl entwertet sie nicht die Ergebnisse des Philologen, wenn dieser nur verschiedene halb subjektive Zugänge miteinander vergleicht und aus der Analo-
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Einen vorbildlich konzisen Überblick gibt Gerhard (1986). Nietzsches Denken sei eindeutig an neuzeitlicher empirisch-experimenteller Wissenschaft orientiert. Die Herkunft dieses Denkens aus der spezifischen philologischen Methodik sieht Gerhard jedoch nicht, obschon er die Rolle der (abstrakt verstandenen) Kritik bemerkt. Diese Querverbindungen können aber hier nicht weiter thematisiert werden. Sie könnten zum Inhalt einer gesonderten Studie werden.
112
Erläuterung der textkritischen Zeichen a.a.O.
2.3. Friedlich Ritsehl und die Bonner Schule
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gie allmählich das Wahlscheinlichste herausschält. Nicht durch Einfühlung und Intuition möchte Nietzsche den Philologen vom Naturwissenschaftler unterscheiden, wie es die Geisteswissenschaft des späten neunzehnten Jahrhunderts vorschlagen wird, sondern durch ein an die Naturwissenschaften angelehntes, aber viel älteres Analogieschlussverfahren, in dem die Subjektivität sich selber kontrolliert. In Nietzsches späten Schriften erhält dieses Verfahren eine Bezeichnung, der man die philologische Herkunft kaum noch ansieht. Gemeint ist natürlich der berühmte Perspektivismus, der an späterer Stelle ausführlicher behandelt werden wird. Schließlich sei von inhaltlichen und formalen Bezügen Nietzsches zur RitschlSchule abgesehen, um die Persönlichkeit Ritschis und seine Vorbildwirkung auf Nietzsche kurz zu beleuchten. Nietzsches philologischer Weggefährte Erwin Rohde schreibt: Ihm war einzig im Forschen und Prüfen wohl; eben darum aber wurde seine Arbeit nie fertig. Denn wo wäre ein Abschluss des Forschens denkbar, dessen Wesen die ewige Bewegung ist? Wie sollte ein solcher Geist sich in einer abgeschlossenen Darstellung haben genügen können, zu welcher wiederum anders angelegte Gelehrte ein unabweisliches Bedürfniss treibt?
Rohde beschreibt nicht Nietzsche, sondern Ritsehl selbst (Rohde, 1901.457)113 doch hätte er ebensogut den Freund meinen können. Rohde nimmt Ritsehl ferner so ausdrücklich von der typischen „gebundenen" species des deutschen Gelehrten aus (ebd.), dass man unwillkürlich an Nietzsches ,freien Geist' als deren Widerpart denken muss. Wie andere Schüler auch betont Rohde immer wieder das Prozessuale in Ritschis Denken, dessen Scharfsinn das einmal Erreichte immer wieder in Frage stellte, seine „wahrhaft bildende Kraft" in der Anregung anderer (460f): Jene gewaltigen Arbeiten, durch die er, wie in weitem Schwünge daherfahrend, ganze Gebiete der Philologie von uraltem Wust und Schiingengewächs säuberte, seine Arbeiten im Plautus, auf dem Gebiete der lateinischen Sprachgeschichte, füllen seine Bonner, zum Theil noch seine Leipziger Jahre. Hier schuf er zum erstenmale Licht und Helligkeit; er regte in so unermesslichem Umfange zu theilnehmender Arbeit an, dass, bei dem lebhaften Weiterbetreiben der von ihm in Fluss gebrachten Arbeit, man fast in Gefahr kommen könnte zu vergessen, dass seine Schriften es waren, die zuerst und immer wieder die Probleme hervorhoben, zu lösen begannen, einen so frohen und belebenden Hauch in diesen ganzen Betrieb brachten, wie ihn andere Gebiete der Forschung nicht leicht je verspürt haben. Eben wegen der so lebhaft wirkenden, geistig zeugenden Kraft seiner Arbeiten wurden diese oft schnell überholt, wie er sich selbst fortwährend überholte, (ebd.)
Als Nietzsche den Schritt weg von Wagner und zurück zu Ritsehl geht, entscheidet er sich gegen den geschlossenen Mythos und das zusammenhängende System. Die Komposition seiner Bücher nach der Tragödienschrift ist auch formal 113
In seiner Rezension zu Ribbecks Ritschl-Biographie im Jahr 1879.
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
vom Denkstil Ritschis geprägt — einmal abgesehen vom Zarathustra, mit dem Nietzsche sich wieder in Konkurrenz zu Wagner begibt.
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik James Whitman (1986) hat in einem wenig bekannten Aufsatz Nietzsche in die von ihm so bezeichnete „magisterial tradition" der klassischen Philologie eingeordnet, eine eigenwillige Bezeichnung für die Schule der stark methodisch engagierten Altertumswissenschaft des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Die Gelehrten aus der von Whitman identifizierten Tradition werden von ihm durch ein besonderes Kennzeichen definiert: sie alle waren Verfasser philologischer Enzyklopädien (im Sinne von Methodenlehren). Nietzsche gehört zur letzten Generation, für welche die Enzyklopädie noch zentraler Bestandteil des Faches war114. Da die Methode den Kern der für Nietzsche maßgeblichen philologischen Theorie darstellte und sie es ist, deren Folgen für sein Denken im Zentrum dieser Abhandlung stehen, steht der Enzyklopädie eine ausführliche Behandlung zu. Die philologische Fachenzyklopädie war ursprünglich der Versuch, die disparaten Teile der Altertumswissenschaft zu einem logisch verbundenen Ganzen zu verschmelzen. Sie ist deshalb untrennbar mit der Konsolidierung der philologischen Disziplin verbunden. Erst durch F.A. Wolfs Enzyklopädie (s. Wolf/Buttmann, 1807 u. Wolf, 1831) wird die Beschäftigung mit den antiken Sprachen und Kulturen überhaupt unabhängige Wissenschaft. Schon Conrad Bursian würdigte die schöpferische Leistung von Wolfs Enzyklopädie, die durch die Zusammensetzung loser Teile die Disziplin begründete und, das entscheidende Moment, sie auf den Boden einer Methode stellte, die sie von anderen Disziplinen abhob (1883, Bd.l:543) 115 . Seit Wolf wird die Methode deshalb getrennt von den Realien behandelt und steht in jeder Enzyklopädie am Beginn. Die eigentliche Methodenlehre oder Enzyklopädie der Philologie besteht dabei traditionell aus drei Kernbereichen, die nacheinander beleuchtet werden sollen: Grammatik, Kritik und Hermeneutik. Nietzsche hat wohl außer F.A. Wolfs noch August Boeckhs Enzyklopädie in ihren Grundzügen gekannt, die zwar noch nicht publiziert vorlag, aber bereits im wesentlichen durch Vorlesungen seiner Schüler verbreitetet war. Außerdem hat er natürlich die entsprechenden Vorle114
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Die letzte Enzyklopädie in dieser Tradition ist wohl Birt (1913) - seine Darstellung ist z.T. in dieses und das nächste Kapitel eingeflossen. In jüngster Zeit erscheinen wieder verstärkt Einführungswerke in die philologischen Fächer, die den umfassenden ursprünglichen, also die Realia enthaltenden Fachenzyklopädien in Aufbau und Inhalt ähneln. Freilich stammen sie heute ausnahmslos von Verfasserkollektiven (z.B. Nesselrath, Hrsg., 1997 oder Graf, Hrsg., 1997) und verkörpern deshalb nicht länger den methodischen Entwurf eines Einzelnen. Bereits in Vorlesungen Ritschis während seiner frühen Breslauer Station wird die Notwendigkeit der Enzyklopädie damit begründet, dass wegen der späteren, unumgänglichen Spezialisierung keinem anderen Fach so sehr wie der Philologie eine Gesamtübersicht not tue (nach Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:243-246).
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
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sungen Ritschis besucht, die sich in weiten Teilen rekonstruieren lassen116. Für seine eigene enzyklopädische Vorlesung scheint er stark auf Bernhardys Grundlinien %ur Encyklopädie der Philologie (1832) zurückgegriffen haben117. Bei Wolf werden die drei „Fundamentaltheile", nämlich die methodischen Grundlagenfächer Grammatik, Kritik und Hermeneutik von den „Hauptheilen" der Realien (Geographie, politische Geschichte, Altertümer - d.h. v.a. Verfassung und Sitten —, Mythologie, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte sowie Kunstgeschichte) getrennt (Wolf, 1831). Verbreitet war auch die Einteilung Bernhardys, der die sog. Elemente der Philologie, nämlich Kritik und Hermeneutik von der Sprache (als Organon) unterschied und diese drei den Realien entgegensetzte (in seinem Falle gehören Literaturgeschichte, Geographie, Geschichte und Mythologie dazu, während Kunst, Numismatik, Epigraphik und Philologiegeschichte nur „Beiwerke" sind, also nicht im strikten Sinne zu den Realia gehören). Ritschis enzyklopädische Vorlesungen waren schon seit frühester Zeit in einen allgemeinen Teil, einen zweiten Teil, der Hermeneutik, Kritik und Grammatik umfasste, einen Abschnitt zur griechischen und römischen Literaturgeschichte sowie ein letztes Kapitel über Mythologie und Antiquitäten eingeteilt (vgl. Ribbeck, 1879ff, Bd.l:243ff) 118 . Für Ritsehl war die Methodenlehre idealer Mittelweg in wissen116
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Aus dem Leipziger Universitätsarchiv Rep. I/XVI/VII C Nr. 28, Bd. 2, lfd. Nr. 98 geht außerdem der Besuch einer enzyklopädischen Vorlesung bei Georg Curtius hervor, von der sich freilich keine Spuren mehr nachweisen lassen; sie wird sich von entsprechenden Kollegs Ritschis, bei dem Curtius selbst in die Schule gegangen war, wenig unterschieden haben (Hinweis in Frey/Weinkauf, Hrsg., 1995:36f). In Aufzeichnungen zur Enzyklopädie zwischen Herbst 1867 und Frühjahr 1868 (BAW 4:3-8) notiert sich Nietzsche Bernhardy zum Stichwort Literatur über Enzyklopädie. Dass er sich Bernhardy in Basel mehrmals entlieh, beweist die Ubersicht seiner Bibliotheksbenutzung bei Crescenzi (1994). Bernhardys Werk enthält übrigens ausgezeichnete bibliographische Angaben und viele Quellen, die für die Wissenschaftsgeschichte noch auszuwerten wären. Allgemeines zur Enzyklopädie und ihrer Geschichte bei Dierse (1977). Auf die philologische Enzyklopädie geht dieser allerdings nur kurz ein, wobei er Wolf und Boeckh als ihre wichtigsten Vertreter hervorhebt (207-215). Erst aus der Philologie gelange die Enzyklopädie wieder in die Geschichtswissenschaft; Droysen übernimmt sie von Boeckh. Zu den von Whitman (1986) hauptsächlich angeführten Vertretern der Enzyklopädie (wie Bernhardy oder wie Matthias Enzyklopädie und Methodologie der Philologie von 1835) könnte man viele weitere Titel ergänzen. Außer der hier später ausführlicher zu Wort kommenden Darstellung von F.A. Wolf etwa Barbys Encyklopädie und Methodologie des humanistischen Studiums von 1805, Kochs Enzyklopädie aller philologischen Wissenschaften von 1793, Fülleborns encyklopaedia philologica von 1798, den Grundriß der Philologe von Friedrich Ast u.v.a. - vgl. dazu BKA, S. 3f. Nah an Ritschis Enzyklopädie ist auch die Vorstellung vom Fach, wie sie Johan Nicolai Madvig in seinen Lebenserinnerungen schildert (1887:98ff). Nietzsche griff im professionellen Leben oft auf Werke Madvigs zurück, von denen sich eines, nämlich die berühmte Lateinische Sprachlehre fir Schulen, noch in seinem Nachlass befindet. Madvig schildert das vollkommene Sprachverständnis als Grundlage, aber nicht als Selbstzweck der Philologie. Dagegen sei die Enzyklopädie ihre zentrale Disziplin. Philologie ist eine historische Wissenschaft, der sprachwissenschaftlich fundierte Kern der Kulturgeschichte. Ihre Methode entstehe im Zusammenspiel von Kritik und Hermeneutik. An Madvigs Enzyklopädievorlesungen schloss sich regelmäßig der Unterricht in Quellenkritik, sowie Geschichte und Literaturgeschichte an. Pädagogisch streicht er wie Ritsehl, mit dem er die Vorliebe für Metrik und lateinische Grammatik teilt, die einzelne genaue Behandlung verschiedener zentraler Autoren heraus: die Studenten sollten sich v.a. in der Auslegung
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
schaftlicher Hinsicht und pädagogisches Wundermittel in einem, denn „trotz aller Phrasen von höherer Auffassung der antiken Welt und ihres geistigen Lebens auf der einen, und von geistloser Wortklauberei auf der andern Seite" sei „das wahre Ziel ächter Humanitätsbildung überwiegend auf dem Wege grammatischer Interpretation und ins eigne Leben dringende Leetüre der classischen Schriftsteller" zu erreichen: höchster Wert der praktischen Übung im Seminar sei und bleibe deshalb „die Uebung strenger Kritik und Exegese" (nach Ribbeck, 1879ff, Bd.2:17). Die methodisch-enzyklopädischen Vorlesungen über dezidiert philologische Hermeneutik und Kritik wurden in Bonn (und später Leipzig) deshalb immer umfassender und ausgereifter (ebd.) Die Grammatik wird von allen relevanten Autoren als Grundlage der Philologie behandelt. „Alle philologische Tätigkeit die mit Hilfe kritischer und exegetischer Wissenschaft das Alterthum zu verstehen und zu entwickeln sucht, muss sich auf die Grammatik als ihren wahren Grund und Boden stützen." (Bernhardy, 1832:165). Angesichts der kritischen Auseinandersetzung Nietzsches mit der Grammatik in seinem Spätwerk könnte man meinen, dass er dieses Erbe nicht angetreten habe. „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben..." heißt ein berühmtes Zitat aus der Göthen-Dämmerung (KSA 6:78). Der Kontext dieser und ähnlicher Stellen beweist jedoch, dass sich Nietzsche hier immer mit einem sehr engen Grammatikbegriff auseinandersetzt. Gemeint ist der logische Grammatikbegriff der Griechen, der im Cartesianismus fortgesetzt. Auf ihm baut laut Nietzsche jede Metaphysik auf: Nietzsches Skepsis gegenüber der Grammatik bezog sich immer auf die ungebührliche Übertragung grammatischer Kategorien auf metaphysische Probleme, etwa der formalen Unterscheidung von Subjekt und Objekt in indogermanischen Sprachen auf die Einteilung der Phänomene in logische Subjekte und Objekte. Hinter dem Grammatikbegriff der Philologie verbirgt sich jedoch eine ganz andere Auffassung von Sprache, die Nietzsche gerade nicht angreift und ohne welche seine Kritik an der (cartesianischen) Grammatik gar nicht verständlich wäre. Schon F.A. Wolf versteht unter Grammatik einen erstaunlich weiten Begriff, der seinem Inhalt nach der Sprachwissenschaft bzw. sogar der modernen Linguistik viel näher als jeder Schulgrammatik steht, und zwar in synchroner wie diachroner Hinsicht (vgl. Wolf/Buttmann, 1807:36). Grammatik ist hier weder logisch aufgebaut noch starres normatives System, sondern empirisch am jeweils aktuellen Sprachgebrauch orientiert. Das ist insofern von Bedeutung, als Hermeneutik bei Wolf als die auf der Grammatik aufgebaute „Kunst, die Gedanken eines Schriftstellers aus dessen Vortrage mit nothwendiger Einsicht aufzufinden" bezeichnet wird, Hermeneutik also Teil der grammatischen, rhetorischen und historischen Auslegung ist (37). (Fortolkning) mit gleichem Augenmerk auf Inhalt, grammatischer Form und lexikalischem Sprachgebrauch üben (zu Madvig und mit besonders ausführlichem Teil zur Enzyklopädie vgl. Jensen, 1963).
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
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Bei Wolf (1831:47) heißt es sogar: „Was die Logik für alle philosophischen Studien ist, das ist die Grammatik für alle historischen." Bernhardy (1832) unterteilt die Grammatik in 1. allgemeine Grammatik (die sich u.a. mit Ursprung, allgemeinen Bildungsgesetzen und Geschichte der Sprache, aber auch mit Typologie beschäftigt), 2. philosophische Grammatik, 3. die besondere oder philologische Grammatik, nämlich die konkrete Formen-, Wort- und Strukturbildung des Lateinischen und Griechischen unter Berücksichtigung ihres Sprachschatzes und ihrer Dialekte. Sie umfasst orthographische und orthoepische Studien, Rhetorik, Kompositionslehre, Stilistik, Metrik und Übersetzungswissenschaft. Die philologische Grammatik entsteht auf der Basis weitreichender Lektüre der konkreten sprachlichen und literarischen Quellen. Sie versteht sich als Kombination historischer und analytischer Arbeit, wobei „beide Richtungen bloss verschiedene Thätigkeiten desselben Geschäftes" seien, „die auf E m p i r i e gestützt und durch vernünftige K o m b i n a t i o n gefördert werden; sie müssen von einer K r i t i k geleitet sein, welche das Recht der Zeiten, das Individuelle, das Anomale herausfindet und mit den Gesetzen der Analogie verknüpft; aber diese Bemühungen des Fleisses und der Urtheilskraft sind nichtig, wenn nicht eine grammatische E x e g e s e vorangeht, der Takt und die Kunst unter vorschwebenden Aehnlichkeiten mit Unbefangenheit einen Text zu deuten, und das Ergebniss solcher Interpretation als B e o b a c h t u n g aufzuweisen." (S. 216) Ritsehl ist auf dem Gebiet der Grammatik Anhänger der sprachvergleichenden, historischen Sprachwissenschaft. In der Tradition eines Wilhelm von Humboldt fasst er die Sprache als Organismus auf, „der nicht mit dem logischen Verstände, sondern durch die gemeinsame Wirkung aller Geisteskräfte erwachsen ist" — dadurch sei der bisher herrschendenden philosophischen Grammatik „der Hals gebrochen" (Ribbeck, 1879ff Bd. 1:334). Ritsehl förderte und forderte bei seinen Schülern die Bekanntschaft mit der Indogermanistik, auch wenn sie nach seinem Verständnis eines gesonderten Studiums bedurfte 119 . Nietzsche hatte großen Respekt vor den Leistungen der frühen Indogermanistik. In seinen sprachtheoretischen Reflexionen finden sich ferner viele Spuren Humboldts und seiner Nachfolger (z.B. Gerber, 1871-74). Nietzsches Einwände gegen die philosophische Grammatik sind bei Ritsehl bzw. der organischen Grammatikauffassung Humboldts vorgeprägt; Originalität hat er dafür, im Gegensatz zu anderen seiner Einsichten, nie beansprucht. So folgt Nietzsche auf grammatischem Gebiet schon als Basler Professor den Vorlesungen, die er selbst gehört hat. In Ritschis Institutiones grammaticae linguae latinae lautet der erste Satz in Nietzsches Mitschrift „Die Sprache ist weder Mechanismus noch Ergebniß der Spekulation, sondern ein Organismus." (GSA 71/43, Blatt 2). Eine „empirisch-philosophisch-historische", die
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A u c h andere Philologen unterscheiden die Philologie von allgemeiner Sprachwissenschaft, der es lediglich u m die möglichst genaue Erklärung der konkreten lateinischen, griechischen oder anderen Sprachformen geht, nicht u m die Erklärung der Texte u n d ihrer Relevanz (z.B. Bernhardy, 1832:165).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Entwicklung berücksichtigende Auffassung der Sprache sei deshalb der richtige Ansatz, um sich ihr zu nähern (Blatt 3). Nietzsches Vorlesungen über lateinische Grammatik (s. KGW II.2) aus dem Wintersemester 1869-70 wiederholen z.T. bis in die Wortwahl Ritschis Darstellungen (s. die allgemeine Einleitung im ersten Kapitel, S. 185f) und legen besonderen Wert auf die Definition der Sprache als Organismus, d.h. weder als bewusstes Erzeugnis eines Einzelnen noch einer Mehrheit. Ein Organismus ist nie ganz zu erklären, nur zu beschreiben. Daraus folgt die Ablehnung der philosophischen Grammatik von allein: Die tiefsten philosoph. Erkenntnisse liegen schon vorbereitet in der Sprache. Kant sagt: „ein großer Theil, viell. der größte Theil von dem Geschäfte der Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die er schon in sich vorfindet." Man denke an Subjekt und Objekt; der Begriff des Urtheils ist vom grammatischen Satze abstrahirt. Aus Subjekt u. Prädikat wurden die Kategorien von Substanz und Accidenz. (ebd.)
Sprache müsse letztlich als ein Instinkt (!) aufgefasst werden, der in vergleichbarer Weise Kommunikation schon bei Bienen oder Ameisen hervorbringt: Instinkt ist aber n i c h t Resultat bewußter Überlegung, nicht bloße Folge der körperlichen Organisation, nicht Resultat eines Mechanismus, der in das Gehirn gelegt ist, nicht Wirkung eines dem Geiste von außen kommenden, seinem Wesen fremden Mechanismus, sondern eigenste Leistung des Individuums oder einer Masse, dem Charakter entspringend. Der Instinkt ist sogar eins mit dem innersten Kern eines Wesens. Dies ist aber das eigentliche Problem der Philosophie, die unendliche Zweckmäßigkeit der Organismen und die Bewußdosigkeit bei ihrem Entstehn. (186)
Der Philologie stellen sich allerdings keine derartigen Probleme, denn ihre Sache sind Sprachursprungstheorien oder verwandte philosophische Spekulationen nicht. Sie beschränkt sich auf die historische Beschreibung der Phänomene, anstatt sie auf wenige Prinzipien zu reduzieren120. So ist bei August Boeckh (21886) die grammatische Auslegung ebenfalls schon erstaunlich detailliert und, vom linguistischen Standpunkt aus, modern. Wörter haben nur im konkreten Zusammenhang eine Bedeutung. Etymologie spielt zwar noch eine wichtige Rolle. Die Bedeutung ergibt sich aber letztlich aus der Kernbedeutung des Lexems in Verbindung mit der Einschränkung durch historische Entwicklung und konkreter 120 Vgl. auch Nietzsches Mitschriften zu Ritschis Vorlesungen Einleitung und Anleitung %ur lateinischen Grammatik und Historische Grammatik der lateinischen Sprache nebst Einleitung in die römische Epigraphik (GSA 71/54); alle drei genannten Vorlesungen Ritschis gehören zu den umfassendsten Mitschriften Nietzsches. Sie enthalten eine Fülle von Aufzeichnungen zur Schrift- oder Alphabetgeschichte bis hin zu phonetischen Reflexionen, Lexikologie, Morphologie (hier Wortlehre genannt), selbst zu metrischen und literaturwissenschaftlichen Aspekten, etwa zu Gattungsfragen oder zur Epigraphik. Blatt 63 in letztgenannter Vorlesung enthält viele Literaturhinweise, u.a. zu Bopp, Schleicher und Humboldt (mit längerem Kommentar). Ein aufschlussreiches Beispiel aus der nachgelassenen Bibliothek ist Wackernagel (1872). Der Franz Bopp gewidmete Vortrag betont die logische Unmöglichkeit natürlicher Sprachen, nach strengen Regeln organisiert zu sein. Sprache sei ein gestaltender, kreativer, instinktiver Prozess. Mit pedantischer Schulgrammatik sei ihr nicht beizukommen, sondern nur durch empirische, sprachvergleichende Arbeit (bes. 54ff). Wackernagel wurde nach Nietzsches Abgang sein Basler Nachfolger.
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
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Anwendung im syntaktischen und pragmatischen Kontext. Grammatische Auslegung setzt natürlich, wie Boeckh erkennt, schon generische und individuelle Auslegung voraus; die Interpretationsstufen fließen ineinander121. Kurz gesagt: Wittgensteins berühmte semantische Gebrauchstheorie war lange Zeit vorher, und zwar in differenzierter Form, philologisches Allgemeingut. Die Philosophie hat das Rad einmal mehr neu erfunden. Nietzsches späte sprach- und grammatikkritische Überlegungen beziehen sich nicht auf den Grammatikbegriff der Philologie, auf die linguistisch-pragmatische Auslegung, sondern bauen auf ihrer Gebrauchstheorie auf, um sich gegen die scholastische Grammatikauffassung der Metaphysik zu wenden. Die Nietzscheforschung hat zu ihrem Nachteil nicht beachtet, dass bei Nietzsche zwei Begriffe von Grammatik bzw. Sprache vorkommen, nämlich einmal der logischphilosophische Grammatikbegriff, den er kritisiert, und der empirische, textbasierte und textvergleichende Grammatikbegriff der Philologie, mit dem Nietzsche selbst arbeitet122 — man denke allein an die Rolle der vergleichenden, historischen 121
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Boeckh folgt hier unmittelbar seinem Lehrer Schleiermacher. Dessen Kursus in Hermeneutik und Kritik greift indes auf die enzyklopädischen Vorbilder der klassischen Philologie zurück (s. Schleiermacher, 1977 bzw. 1967). Schleiermacher unterschied die grammatische von der psychologischen Auslegung und verstand darunter wie die Philologen genaue Analyse sprachlicher Phänomene jeglicher, keineswegs nur syntaktischer oder morphologischer Art (vgl. z.B. auch Koller, 1988:313). Aus Sicht der Philologen des neunzehnten Jahrhunderts geht die Philologie eben auf die Poetengelehrten, nicht auf Aristoteles' Poetik zurück, wie es die heutige Standardauffassung der Geschichte der Literaturwissenschaft will, denn für die Poetengelehrten und Alexandriner war wie für sie selbst Grammatik immer Dienerin der Textkritik und Interpretation und in erster Linie empirisches Studium. Die formale Grammatik entwickelt sich demgegenüber erst sehr viel später während des Hellenismus — als es mit der großen Zeit alexandrinischer Philologie schon wieder vorbei ist. Bei den Alexandrinern ist Grammatik empirisches Wissen über Dichtung und Prosa der besten Autoren (vgl. Pfeiffer, 1968:272). Der Grammatiker war bei den Griechen also ursprünglich Experte für die sprachlich und sachlich richtige Uberlieferung: Grammatik umfasste damit die Kunst der Interpretation und alle Kenntnisse, die dazu erforderlich waren. Der alte Grammatikbegriff muss deshalb eigentlich mit Philologie oder „Textwissenschaft" im Sinne einer umfassenden Sprach- und Literaturwissenschaft übersetzt werden — so wie die Philologie die Grammatik in der Enzyklopädie v.a. deshalb privilegierte, weil sie dem eigenen methodischen Selbstverständnis entsprach (vgl. Koller, 1988:19 und passim). Die philologische Grammatik ist eine Art Corpuslinguistik avant la lettre, die in ihrer Tragweite bis heute nicht gewürdigt wurde, weil die Texte nach wie vor weitgehend unbekannt sind. Ferdinand de Saussure trifft übrigens auf der ersten Seite seines viel zitierten, aber wenig gelesenen Cours de linguistique generale genau dieselbe Unterscheidung zwischen grammaire und philologie — für die erste verweist er auf die griechische und französische Grammatik (Descartes etc.), für die zweite auf die alexandrinischen Gelehrten und auf F.A. Wolf — und stellt ihnen als dritte historische Auffassung von der Sprache die vergleichende Sprachwissenschaft an die Seite. Mit Saussures Einsicht in die Arbitrarität des Zeichens lässt man bekanntlich meist die Geschichte der modernen Linguistik beginnen. Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass dies etwa für Madvig bereits viele Jahrzehnte früher unkontrovers ist: „Das Grundfaktum in der Existenz der Sprache ist dies, d a s s w e d e r d i e s e l b e n L a u t e f ü r a l l e d i e s e l b e o d e r w e n i g s t e n s e i n e v e r w a n d t e V o r s t e l l u n g bez e i c h n e n n o c h d i e s e l b e V o r s t e l l u n g bei a l l e n d e n s e l b e n L a u t h e r v o r r u f t , u n d d a s s d i e s e s s i c h n i c h t b l o s s in den v e r s c h i e d e n e n S p r a c h e n ( S p r a c h g e s c h l e c h t e r n ) z e i g t , s o n d e r n im f o r t s c h r e i t e n d e n L e b e n d e r s e l b e n S p r a c h e . [...] D a s W o r t w e c h s e l t B e d e u t u n g , w ä h r e n d d e r L a u t b l e i b t , d e r L a u t
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Etymologie in der Genealogie der Moral. Ihre Methode beruht nicht zuletzt auf philologischer, sprachvergleichender Arbeit; der historische Inhalt moralischer Vorstellungen wird über die sprachliche Analyse einzelner Konzepte erschlossen123. In der zeitgenössischen Philologie seit F.A. Wolf wird der Sprachgebrauch unter dem Begriff des usus loquendi geführt; seine Bedeutung für Nietzsche soll später ausführlich thematisiert werden. An dieser Stelle genüge der Hinweis, dass Nietzsche diesen Begriff in eingedeutscher Form in seine Schriften integriert: es ist, wie zu sehen sein wird, nicht der einzige Begriff der philologischen Theorie, dem dies widerfährt. Schon im Aphorismus „ S p r a c h g e b r a u c h und Wirkl i c h k e i t " aus Oer Wanderer und sein Schatten greift er „die Priester und Metaphysiker" dafür an, die Menschen hinsichtlich der berühmten nächsten Dinge „an einen heuchlerisch übertreibenden S p r a c h g e b r a u c h gewöhnt" (WS 5, 2:541) zu haben. Ihn zu analysieren und kritisieren wird er sich zur Aufgabe machen. Die aus Nietzsches Sicht fatale Entwicklungslogik des christlich geprägten Abendlandes lässt sich ja nicht zuletzt darauf zurückführen, dass „offenbar die Nichtbesitzenden und Begehrenden den Sprachgebrauch gemacht" haben (FW 1.14, 3:387). Noch in einer Anmerkung zum Fall Wagner, also zu einer Zeit, da seine Skepsis gegenüber der philosophischen Grammatik und dem schon immer
ä n d e r t s i c h [bis zur völligsten Unkenntlichkeit], w ä h r e n d die B e d e u t u n g b l e i b t . Der Laut der Wörter steht also in keinem natürlichen und nothwendigen Verhältniss zur Vorstellung und ihrem Gegenstand. Das Wort hat nur eine Bedeutung für gewisse Menschen, die ihm diese Bedeutung u n t e r l e g e n und g e b e n ; nur ist freilich dieses Verhältniss kein Verhältniss zwischen einzelnen Menschen und einzelnen Wörtern, sondern ein mannigfach artikulirtes Verhältniss eines ganzen Volkes [...] und einer ganzen Sprache, ein Verhältniss, das sich durch den Verlauf der Zeiten und die Folge der Geschlechter durchzieht" (im Aufsatz „Ueber Wesen und Leben der Sprache"; 1875:59). Es ist genau diese, in philologischen Kreisen verbreitete Sprachauffassung, die zur Notwendigkeit pragmatisch-empirischer Spracharbeit an der konkreten Einzelsprache und ihrem Sprachwandel fuhrt. In Standardwerken zur Geschichte der Sprachwissenschaft wie Arens ( 2 1969) kommt die philologische Grammatik praktisch nicht vor. Schlimmer noch: bis heute, bis zu den neuesten, sonst über alle Zweifel erhabenen HSKBänden hat sich daran nichts geändert (HSK 18.2, Auroux u.a., 2001). Ein wichtiger Grund ist wohl darin zu suchen, dass die (Germanistische) Sprachwissenschaft sich auf die germanistischen Autoren konzentrierte und den Klassischen Philologen aus Angst vor eigenem Kompetenzmangel aus dem Wege ging und geht. 123 Vgl. bes. Nietzsches Preisaufgabe zur ersten Abhandlung der GM (KSA 5:288f). Dafür lässt er sogar in letzter Minute noch das Druckmanuskript ändern (Brief an Naumann vom 18. August 1887; 111.5:130). In Nietzsches philologischen Kollegs bzw. den Aufzeichnungen dazu gibt es viele Beispiele zur Etymologie, die an die Genealogie der Moral erinnern. Es wäre eine kleine Nebenarbeit für sich, die verschiedenen Typen von Etymologien, die Nietzsche in der philologischen Theorie unterscheidet, durch sein Werk zu verfolgen. Als Wissenschaftler unterscheidet Nietzsche drei Typen von Etymologien: die Volksetymologie, die auf dem Verlust der ursprünglichen Bedeutung beruht und an ihren Irrtümern erkennbar ist; die gelehrte Etymologie, die gewaltiges Wissen ohne inneren Zusammenhang sammelt; schließlich die wissenschaftliche, die auf den Lautgesetzen sowie den Erkenntnissen zum Sprachzusammenhang beruht (s. KGW 11.2:194 273). Auch an anderen Stellen beruft sich Nietzsche auf,grammatisches' Expertenwissen, s. z.B. die Fußnote zu WA 9, 6:32).
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
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sprachlich konfigurierten Denken unzweifelhaft ist, argumentiert Nietzsche als philologischer Analytiker des Sprachgebrauchs (WA 9, 6:32)124. Methodisch gesehen ist die philologische Grammatik zugleich Voraussetzung und Rahmen der eigentlichen enzyklopädischen Kernbereiche: Kritik und Hermeneutik. In allen philologischen Methodenlehren werden sie ausnahmslos gemeinsam behandelt. Dies zu verstehen fällt nach dem Siegeszug der Hermeneutik als philosophischer Theorie schwer. Ohne Verständnis der ursprünglichen philologischen Auffassung muss Nietzsches Auslegungstheorie aber widersprüchlich erscheinen. Hermeneutik und Kritik sind in sich nochmals in niedere und höhere Formen gegliedert, auch die Bezeichnungen innere und äußere sowie subjektive und objektive Hermeneutik bzw. Kritik waren üblich (diese Unterteilungen gehören zum Erbgut der Bibelkritik). Niedere Kritik und Hermeneutik bezeichnen die Phase der Textkonstitution, der Prüfung sprachlicher und sachlicher Information. Äußere Kritik bezieht sich auf die Prüfung des konkret überlieferten Materials, während innere aus dem Werkkontext heraus argumentiert. Entsprechendes gilt für die innere Hermeneutik bzw. für die Dichotomie von subjektiver und objektiver Kritik und Hermeneutik125. Jetzt erst kommt die höhere Hermeneutik hinzu, die zwar den Gesamtplan des Werks berücksichtigt, aber noch immer keine Interpretation' bzw. Auslegung im modernen Verständnis darstellt. Sie beschäftigt sich mit Gattungsfragen, dem Verhältnis von Persönlichkeit und Gattung, der Analyse des Inhalts. Die höhere Hermeneutik beinhaltet die philologische Arbeit nach Abschluss der eigentlichen Edition, wobei jene wieder auf diese zurückführen kann. Aus den Problemen der höheren Hermeneutik ergeben sich schließlich die Fragestellungen der höheren Kritik, die Beschäftigung mit Quellen und Vorbildern der Werke, die Frage nach Echtheit von Titel, Autor, Text (Pseudoepigraphie) unter Beachtung von Indizien wie Chronologie, Sprache, Zeitumständen, Lehrmeinungen, Gehalt, Komposition oder literarischer Qualität. Der Philologe wird ständig auf die niederen Ebenen von Kritik und Hermeneutik zurückverwiesen. Durch die zyklische Arbeit am Text entsteht ein kritischhermeneutischer Zirkel sui generis: Aufgabe der Hermeneutik das V e r s t e h e n , der Kritik das U r t h e i l e n . Da man nicht urtheilen kann, ohne verstanden zu haben, so wird von der Kritik die hermeneutische Aufgabe als gelöst vorausgesetzt. Sehr oft kann man aber das zu Verstehende auch 124
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Die ausgezeichnete Dissertation von Martin Stingelin (Stingelin, 1996) habe ich leider zu spät wahrgenommen. Sie sollte zum Begriff des Sprachgebrauchs bei Nietzsche unbedingt herangezogen werden. Dennoch ist Stingelins Herleitung von Lichtenberg nicht völlig überzeugend: die philologischen Wurzeln dieser Optik Nietzsches — sie werden von Stingelin nur angedeutet — scheinen mir am Ende doch relevanter zu sein. Bei Bernhardy (1832:123ff) stützt sich die niedere Kritik auf die konkreten Urkunden, die höhere auf innere Beweisgründe — dies entspreche der Trennung in objektive und subjektive Kritik. Von der Paläographie aufwärts gibt es also eine ansteigende Linie über die diplomatische Kritik bis hin zur höchsten Subjektivität, die nur durch glänzende Beispiele und aus der Fülle der Erfahrung erworben werden könne.
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
nicht verstehen, ohne schon ein Urtheil über dessen Beschaffenheit gefasst zu haben: daher setzt das Verstehen auch die Lösung der kritischen Aufgabe voraus. So entsteht ein Zirkel der in der Praxis immer wiederkehrt. (Ritsehl nach Ribbeck, 1879ff, Bd. 1:334)
Friedrich Ritsehl warnt in seinen enzyklopädischen Vorlesungen vor der Illusion, man könne allein mit streng logischen Schlüssen operieren. Doch auch das andere Extrem völliger Prinzipienlosigkeit wird missbilligt. Es sei vielmehr auf dem Mittelwege zu verfahren und historisch nach Quellen und objektiven Grundlagen zu forschen, bevor die eher subjektive Arbeit einsetzt: „die Geschichte des Textes zu erforschen, die glaubwürdigen von den unglaubwürdigen Handschriften zu unterscheiden, die Familien zu finden!" (ebd.) Die Hermeneutik bezeichnete Ritsehl schon in der Breslauer Zeit als „Kunst des Auslegens zum Behuf des Verstehens, die Kritik als die des Urtheilens zum Behuf der Berichtigung" — es sind allgemeine Techniken, die auch für die bildenden Künste oder die Archäologie gelten (ebd., S. 243-246). Später wird er diese Auffassung erweitern und Kritik und Hermeneutik als Disziplinen verstehen, „welche lehren, wie der reale Inhalt der Wissenschaft zu gewinnen sei", wobei es in erster Linie um eine Anleitung „zur Bewahrheitung und zum Verständniss der Ueberlieferung (nicht: des Ueberlieferten) nach Gestalt und Gehalt" gehe, was zunächst (!) auf die schriftlichen Quellen beschränkt bleibe (ebd., Bd.2:18). „Kunst" ist hier in der Bedeutung von techne zu denken: Hermeneutik und Kritik sind handwerklich ausgebildete, d.h. durch lange Einübung erworbene Fertigkeiten und Spezialkenntnisse auf einem bestimmten Gebiet. So wie man die Echtheit von Dokumenten nur durch genaue Kenntnisse des Materials eines bestimmten Zeitraums entscheiden kann, kann man ihren Sinn ebenfalls nur durch Fachkenntnisse und nicht kraft einer beliebigen ,Theorie' erschließen. Ziel und Ergebnis dieser methodischen Herangehensweise an Texte bzw. Überlieferungen ist in diesem Sinne somit kein allgemeines, sondern ein spezifisch philologisches Verständnis, das die Kritik mit einschließt. In der Bonner Schule wird gerade auf diesen Umstand größter Wert gelegt, nicht nur bei Ritsehl: Das philologische Verständniß aber begnügt sich nicht im Allgemeinen Wort und Sinn zu begreifen und den Inhalt einer Schrift kennen zu lernen, es will vielmehr durch strenge Rechenschaft über jede sprachliche oder sachliche Einzelheit dahin gelangen, die Individualität des Schriftstellers im Ausdruck, im Stil, in der Auffassung und künsderischen Behandlung seines Stoffes, im Verhältniß zu seinem Volk und zu seiner Zeit, wie im Zusammenhange der ganzen Literatur, zu klarer Anschauung sich vergegenwärtigen. (Jahn, 1868:33)
Die konkrete Verfahrensweise beim Zusammenspiel von Kritik und Hermeneneutik ist komparatistisch. Der qualifizierte Vergleich der äußeren und inneren Gestalt der Quellen macht die spezifisch philologische Methodik aus. Die Besonderheit der historischen Kritik liegt im Aufbau eines Apparates „von beweisenden, ergänzenden, erläuternden Stellen, welche zusammengefasst einen tüch-
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
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tigen Boden der Auslegung schaffen" (Bernhardy, 1831:98f). Unabdingbar ist dazu Quellenarbeit, denn es gilt, den Autor aus seiner Zeit heraus historisch, literarisch-ästhetisch und antiquarisch zu verstehen. Was er Vorgängern und Autoritäten verdankt, muss freilich durch psychologische Prüfung ergänzt werden, weil die rein formale oder mechanische Zusammenstellung nichts wert ist. Die Aussagekraft der Quellen muss durch mühsame Abwägung und Kombination geprüft werden. Die Divination spielt eine entscheidende Rolle, freilich in Form einer methodisch inspirierten und kontrollierten Vermutung126. In seiner eigener Methodenlehre, der bisher wenig kommentierten Engklopaedie der klassischen Philologie und Umleitung in das Studium derselben aus dem Sommersemester 1871 (KGW II.3:339-437)127 scheidet Nietzsche gemäß der Tradition 126
Zur Divination siehe v.a. Schaefer (1977): Ursprünglich (z.B. bei Cicero) reine Spekulation, konnte sie bald auch Wahrsagekunst bzw. Mantik bedeuten. Etymologisch stammt divinare natürlich von divinus — die Gottheit betreffend, also eine Tätigkeit aufgrund göttlicher Eingebung (S. 196). Schaefer zeichnet die Belege in der klassischen Literatur nach und erschließt erst ab dem zweiten Jahrhundert den „säkularisierten Sinn" im Sinne von ,ahnen' und ,vermuten' (201). Freilich ließen sich schon bei Cicero neutrale und positive Belege des Wortes finden, nämlich für eine Vermutung, die auf Menschenkenntnis, politischer Erfahrung, Kenntnis philosophischer Schriften und eigener philosophischer Tätigkeit beruht (205), kurz einem komplexen Ineinander von Theorie und Empirie, nicht ganz verlässlich zwar, aber angesichts der divinierenden Person doch vertrauenswürdig, besonders wenn sich die Divinationen häufig als zutreffend herausstellen. Der antiken (Text-)Kritik sind divinatio und coniectura nicht bekannt, beide werden erst in Renaissance und Humanismus aufgegriffen, wobei die divinatio höher als die coniectura bewertet wird, nun also fast ausschließlich positiv. Darin zeige sich das neue Selbstbewusstsein der Renaissancephilologen, die den Wert ihrer Gegenstände auf die eigene Arbeit übertragen und denen dichterische Inspiration selbst nicht fremd ist. Bei Bentley musste der Textkritiker neben historischen Kenntnissen und hohem Sachwissen v.a. scharfes Urteilsvermögen und geradezu hellseherische Begabung besitzen, die ein Geschenk der Natur sei, genauso wie die dichterische Inspiration. In dieser traditionellen Terminologie wurzele der selbstverständliche Gebrauch des neunzehnten Jahrhunderts: die konkrete Textverbesserung wurde immer noch dem guten Einfall des Philologen zugeschrieben, die eigentlich strenge Methodik bezog sich auf die Behandlung und den Vergleich der vorliegenden Quellen.
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Sie ist bisher nur von Wegmann (1994), Porter (2000a) und Campioni (2001) eingehender behandelt worden. Bei Wegmann findet sich allerdings wenig Erhellendes, ja eher Irreführendes. Dass Nietzsche die Philologie kritisiere, die lediglich „(niedere) Kritik und Grammatik" (419) sei, ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Nietzsches Lehrer taucht bezeichnenderweise nur ein einziges Mal und noch dazu in der Schreibweise Ritschel (422) auf. Wichtig und richtig ist Wegmanns Betonung des kritischen Potentials, das die Philologie durch langsame, „retardierende" Lektüre entfalte, die nicht primär auf (schnelles) Sinnerfassen angelegt ist — dazu später mehr. Fundierter ist James I. Porters Analyse (2000a:167-224), die vielleicht an Prägnanz gewonnen hätte, wenn er sich bei seinen wichtigen Beobachtungen zu Bernhardy darüber im Klaren gewesen wäre, dass dessen Enzyklopädie eine Hauptquelle für Nietzsche gewesen ist. Porters Lektüre der Encflopaedie verfolgt jedoch ganz andere Absichten, das Hauptgewicht liegt auf Nietzsches inhaltlicher Auseinandersetzung mit dem Klassizismus — trotz aller (wenig überraschender) Parallelen zu Humboldt, die er nachzuweisen vermag. Bei Nietzsche werde die Enzyklopädie zur Anti-Enzyklopädie, ihm gehe es darum, die Studenten von den gängigen Vorstellungen vom Altertum und seinem Studium abzuwenden, auch lege er Wert auf die inkohärente, z.T. durch Zufälle gesteuerte Geschichte der Philologie und einige normalerweise unreflektierte Schwierigkeiten des Faches, welche die Funktion hätten, die Studenten zu erschrecken. Porter fällt zwar auf, dass Nietzsche die Studenten zum methodisch harten philologischen Studium auffordert und sich der Realia weitgehend enthält, liefert aber keine überzeugende Begründung dafür (— so
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
niedere und höhere Kritik von der niederen und höheren Hermeneutik. Seine Ausfuhrungen passen insgesamt kaum zu den Vorstellungen, die bis heute das landläufige Bild vom radikalen Verächter der zeitgenössischen Wissenschaft prägen. Sprachliche Studien, heißt es hier zwar, vor allem solche vergleichender Art, seien nur Mittel und Vorbereitung der eigentlichen Philologie; hingegen sei die „kritisch-hermeneutische Methode" — oder einfach nur die „Methode" — unumgänglich (390f). Höhere Kritik mit ihren Fragen nach Echtheit und ästhetischer Beurteilung betrifft immer die Uberlieferung, Hermeneutik das Überlieferte. Die Kritik der Überlieferung sei bei verschiedenen Lesarten notwendig, die Textkritik nützlich für die Vorbereitung der eigentlichen Arbeit, der höheren Kritik, welche vor allem auf literaturhistorischen Kenntnissen und umfassenden Quellenstudien beruht (382). Voraussetzung zur Erkenntnis von Textverderbnissen sind strenge Logik, Sprachkenntnis128 und ein feinentwickelter Sinn für Verderbnisse, schließlich Sachverstand. Die Kritik ist deshalb am Ende eben auch Mittel zum (philologischen) Verständnis, das durch (niedere) Hermeneutik nur vorbereitet wird; sie macht den wissenschaftlichen Kern, das eigentlich Philologische der Philologie aus. So steht auch bei der höheren Kritik nicht so sehr der hermeneutische Ansatz, sondern wiederum der Vergleich im methodischen Mittelpunkt. Der junge Philologe müsse sich — eine unerlässliche „ethische Forderung" — an „streng logische Operationen" gewöhnen. „Die Wissenschaft hat nichts mit dem Genuß zu thun, außer in der Lust an der strengen Wahrheit." Unwissenschaftlich ist folglich das oberflächliche Lesen der Ungeübten, das sich unkritisch auf den nur zufällig vorhandene Textbestand stützt (373-376). Als Vorbilder, an denen man sich zu üben habe, nennt Nietzsche Bentley, Wolf, Hermann „u. vor allem Ritsehl" (389). Man könnte vermuten, Nietzsche habe die im Umfeld der Tragödienschrift erarbeitete Vorlesung nur halbherzig durchgeführt, um damit dem Erfordernissen des Broterwerbs genüge zu tun. Die Vorlesung war jedoch als Gegenstück zur Geburt der Tragödie gedacht; sie sollte auf radikale Weise die Zukunftsphilologen methodisch rüsten. Die methodische Anlehnung an die Bonner Schule ist deshalb umso erstaunlicher. Der Aufbau der Entyklopaedie ist konventionell, sie beginnt wie üblich mit Wissenschaftsgeschichte, behandelt dann Hermeneutik und Kritik - mit großem Übergewicht auf letzterer - und endet mit ausgewählten Punkten der Metrik, Paläographie, der Literaturgeschichte, Mythologie, Verfassung und Geschichte. Nietzsches Vorlesung weicht von denen seiner Lehrer und Vorbilder lediglich durch die Radikalität ab, mit der er den Studenten den tiefen Graben zwischen der Philologie als Wissenschaft und als Schulfach, zwischen
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bringt er zwar in Anmerkung 121 zu Kapitel 4, S. 373 das Zitat, wonach Nietzsche sich vor allem für die Methode der Philologie erwärmt habe, greift dies aber auch nicht weiter auf). Nietzsche betont an späterer Stelle die Wichtigkeit des Stilstudiums. Stilgefühl, Stilgeschichte, Sprachgeschichte, Stilvergleichung, auch Kenntnisse in Rhythmik und Metrik seien unabdingbare Voraussetzungen philologischer Arbeit (KGW 11.3:394).
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
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Gelehrsamkeit und Pädagogik vermittelt - ein Graben, der sich ihm ja durch die eigene Unterrichtspraxis aufgetan hatte. Zum Vergleich lohnt ein Blick auf die Methodologie August Boeckhs, dem die klassische Philologie die ausführlichste Darstellung ihrer Theorie dankt129. Aus Boeckhs Werk, der nicht nur bei Wolf, sondern auch bei Schleiermacher in die Schule gegangen war, spricht deutliches Unbehagen gegen die kritische Philologie, wie sie später v.a. in der Ritschl-Schule kulminiert. Er plädiert für methodische Arbeitsteilung zwischen der wissenschaftlich geprägten, zergliedernden und vom Verstand geleiteten Kritik und dem „anschauenden setzenden Geist", der die Philologie in ihrem Bemühen um „historische Construction" (!) des Altertums der Kunst anverwandelt (21886:26). Historische Wahrheit lasse sich erst durch die sich gegenseitig bedingenden Bestandteile der Hermeneutik und Kritik ermitteln (178). Die Kritik hat in erster Linie die Aufgabe, Lesarten einzuschränken (170ff). Dadurch „tödtet [sie] alle leere Phantasterei, alle Hirngespinste" und übt durch Selbstkritik des Philologen eine Wirkung auf die eigene Produktion aus (172). Die Kritik ist zwar nicht vor Fehlern und Fälschungen gefeit, das entwerte sie aber nicht als Methode (so wie naturwissenschaftliche Methoden ja auch nicht durch die Möglichkeit von Fälschungen entkräftet werden). Zur wahren Kritik gehöre eine noch höhere Begabung als zur Hermeneutik, außer Scharfsinn müssen ihre Praktiker einen stark ausgeprägten „argwöhnischen Sinn" besitzen und nicht alles für wahr und echt halten (173). Bis in den Wortlaut hinein finden sich hier Parallelen in Nietzsches Auffassung vom künsderischen Schaffensprozess. Der Künsder bzw. seine Phantasie schaffe und erzeuge beständig Improvisationen und Nachahmungen. Die eigentlich künstlerische Begabung großer Künsder sei jedoch ihr Geschmack, also ihr kritischer Sinn, der die Phantasie im Zaum hält. Er „trifft die Auswahl unter diesen Geburten und tödtet die anderen ab, mit der Härte einer lykurgischen Amme." (IV 23[84]).
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Es ist wahr, dass Boeckhs Darstellung um die Mitte des Jahrhunderts wenig wirken konnte, da er sie selbst nur durch seine Vorlesungen verbreitet hatte und sie von Ernst Bratuschek schließlich erst 1877 herausgegeben wurden — vgl. z.B. Landfester (1979:156). Wahr ist aber auch, dass unter der dominierenden Philologengeneration zu Nietzsches Zeit nicht wenige Boeckh-Schüler waren und ausnahmslos alle ihn als einen der Meister des Faches anerkannten. An seinen Auffassungen wurden die eigenen Uberzeugungen entwickelt. Dass Boeckh seither völlig zu Unrecht vernachlässigt worden ist, steht auf einem anderen Blatt; dazu u.a. Strohschneider-Kohrs (1973). In eigenen Aufzeichnungen aus der Studentenzeit (BAW 4:3-8), machte sich Nietzsche ausfuhrliche Notizen zu Boeckh. Er ging in der Definition der Philologie von Wolf aus und fügte hinzu: „Der Begriff Bökhs ist zu weit. Unterschied zwischen Philologie und Geschichte verschwindet: und zu eng (vergl. z.B. die homerische Frage. Die Sprachvergleich.)". Eine Altertumswissenschaft, die ganz mit Geschichte verwechselt werden kann, möchte die Ritschl-Schule vermeiden. Die strenge Wissenschaft sollte sich zumindest auch — wie Boeckh es (noch) nicht tat — der Ergebnisse der Indogermanistik bedienen. Schließlich zeigt der Hinweis auf die homerische Frage wohl einen Mangel an ästhetischer Betrachtung auf, die für Nietzsche in der Folge Goethes Schlüssel zur Behandlung dieses alten Problems war. Boeckh bleibt freilich ein gern benutzter Autor, in seiner Enyklopaedie zitiert Nietzsche ihn im Realia-Teil und weist u.a. auf Boeckhs frühes Hauptwerk von 1817, Die Staatshaushaltung der Athener, hin (KGW 11.3:435).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Die Parallelen sind nicht zufällig, sondern darin begründet, dass Boeckh seinerseits nur eine Spielart der Wolfschen Philologie darstellt, die Nietzsche über die Bonner Schule aufgenommen hat. Nachdrücklich hat Riedel (1996b) die Wichtigkeit der Wolfschen Tradition für Nietzsche herausgestrichen, allerdings vernachlässigt er den Filter Ritsehl, der manche Positionen Wolfs modifiziert und für Nietzsche ebenso wichtig wird. Riedel geht an dieser Stelle auch noch davon aus, dass die Philologie v.a. eine Beschäftigung des jungen Nietzsche sei. Er betont bei seiner Darstellung des Verhältnisses von Philosophie und Philologie bei Nietzsche dessen „frühe Hermeneutik", die als ,,methodische[s] Fazit" der Auseinandersetzung mit Wolf gelten könne (132). Riedel will Nietzsche auf diese Weise mit Macht in die Ahnengalerie der philosophischen Hermeneutik zwingen. Die Auffassung von Vorverständnis u. dergl., die er bei Nietzsche auszumachen glaubt, findet sich freilich deutlicher bei anderen Philologen, eben etwa Boeckh. Es ist zwar richtig, dass bestimmte kritische Verfahren der Hermann-Schule wie z.B. die Wortstatistik von Nietzsche abgelehnt werden und Kritik bei ihm immer durch Hermeneutik vorbereitet wird (133). Gleichzeitig muss jedoch Hermeneutik wiederum durch Kritik vorbereitet werden. Typisch für die Bonner Schule Ritschis, die Riedel ganz ignoriert, ist genau der Umstand, dass sie das Schwergewicht auf Kritik legt, ohne die Notwendigkeit der Hermeneutik zu leugnen. Das Verstehen im Sinne der klassischen philosophischen Hermeneutik ist in Nietzsches philologischer Schulung sekundär. Riedels Ansatz verdient Aufmerksamkeit, weil er, im Gegensatz zu den meisten philosophischen Kommentatoren, das hermeneutische Potential Nietzsches nicht einfach ignoriert. Es ist freilich verfehlt (und zugleich anachronistisch), Nietzsche gewissermaßen zu einem der geistigen Väter hermeneutischer Theorie im zwanzigsten Jahrhundert zu stilisieren. So kann Denis Thouards Lektüre der Encyclopaedie Nietzsches nur mit Vorsicht genossen werden. Mit unvollständigen Zitaten will Thouard beweisen, dass Nietzsche die Hermeneutik auf Kosten der Kritik privilegiere — und damit die Philosophie auf Kosten der Philologie. Er zitiert (2000, 162f; in nicht ganz einwandfreier französischer Übersetzung) folgende Stelle: „In diesem Sinne ist Hermeneutik Vorbereitung der Kritik. Kritik selbst kann nicht Ziel sein, sondern nur Mittel für das Volle Verständniß. Insofern ist Kritik nur eine Phase der Hermeneutik." (KGW 11.3:375) Thouard verschweigt, dass Nietzsche unmittelbar darauf fortfährt: „Hier entscheiden meist die Individualitäten u. ihre Tendenzen, wohin sie den Schwerpunkt legen. Jedenfalls ist Beides verwachsen." Der Fehler liegt hierbei in der Verwechslung von ,vollem Verständiß' mit,Hermeneutik'. Hermeneutik ist nach der Auffassung der Zeit ein bloßes fachspezifisches Hilfsmittel, eine techne. Das volle philologische Verständnis schließt Kritik als techne sowie grammatisches, d.h. sprachlichpragmatisches Verständnis mit ein. Nietzsche lobt gleich im Anschluss an die zitierte Stelle Bcntlcys Schule der Kritik. Man dürfe jedoch Kritik nicht übertreiben, wie es dort geschehen sei,
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denn wenn man alles an2weifele, käme man niemals von der Stelle. Dank der großen Leistung der kritischen Tradition seien aber heute schon fast alle Haupttexte kritisch bearbeitet: „Diese sittliche Strenge ist das Charakteristikum unserer Periode. Es wird bald möglich sein, die Dinge zu componieren, die Periode der S y n t h e s i s nach der der [sic] A n a l y s i s . " Thouard weist mit Recht auf diese Stelle hin. Die Tragödienschrift ist ohne Zweifel der Versuch einer derartigen Synthese (Thouard, 2000:162). Schon fragwürdiger nimmt sich die Behauptung aus, bei dem Zitat handele es sich um die Vergeltung (revanche) der Philosophie und damit der Hermeneutik. Nietzsche fährt nämlich, und diesen Teil hat Thouard ebenfalls ignoriert, wiederum fort: „Jedenfalls hat Jeder noch die Pflicht, sich hier gar nichts durchgehen zu lassen. Er muß sich erst dem Zeitalter der Analysis würdig erweisen, ehe er an das Zeitalter der Synthesis denken darf." - Durch seine Arbeiten im „Rheinischen Museum" fühlte sich Nietzsche wie kein zweiter berechtigt, eine große Synthese zu wagen. Die kritisch-philologischen Referenzen von Ritschis Lieblingsschüler konnten schlechterdings nicht angezweifelt werden. Er täuschte sich darin, aber zumindest war die Selbsttäuschung begreiflich. Das Ziel der philologischen Auslegung von Wolf bis Ritsehl und Nietzsche ist mit anderen Worten nicht ,hermeneutisches' Verständnis im modernen Sinne, sondern die philologische Erklärung der Denkmäler, d.h. der zumeist schriftlich überlieferten Quellen. Es sei daran erinnert, dass Nietzsches Philologie und Kunst des Lesens die „Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst Erklärung derselben" zum Inhalt hatte (ΜΑ 1.270, 2:223; Kursivierung von mir). Die Tragweite dieses bescheidenen Wortes kann nicht überschätzt werden. Denn Texte oder andere Quellen kann nur erklären, wer die drei Fundamentalteile simultan berücksichtigt. Die philologische Erklärung, der redliche Umgang mit Texten umfasst grammatische Analyse, Kritik und Hermeneutik. Dieses Zusammenspiel — und nur dieses Zusammenspiel — unterscheidet die philologische Exegese von anderen Auslegungsweisen. Die Sache wird nicht einfacher durch einige begriffliche Unschärfen. Bei Bernhardy und Ritsehl sind Kritik und Hermeneutik Teil desselben Verstehensprozesses. Ritsehl verwendet in seiner positiven Begriffsbestimmung der Philologie sogar einen vielsagenden Singularis: „Hermeneutik und Kritik ist die wichtigste Thätigkeit der Philologie, das beseelende Element, aber deshalb nicht der Zweck." (nach Ribbeck, 1879ff, Bd.l:330; Kursivierung von mir)130. Wenn man 130
Schon bei F.A. Wolf und Friedrich Ast ist Hermeneutik immer selbstverständlich nur in Verbindung mit Kritik und Grammatik denkbar: „Die Kritik ist eine Wissenschaft für sich, die man viel umständlicher behandeln muss, als die vorige [d.h. die Hermeneutik, C.B.]. Sie schliesst einen guten Theil der Erklärungskunst in sich. Hier sondern wir sie von ihr ab, was praktisch nicht wohl möglich ist." (Wolf, 1831:305) Vgl. auch Flashar (1979:23). Bernhardy leitet diese Verbindung von den Alexandrinern her: „Die Gelehrten des Alterthums haben die Kritik als einen Theil des exegetischen Geschäfts behandelt [...]." (Bernhardy, 1832:111 u. 165). Schließlich sei noch Niebuhr zum Beleg herangezogen: „Die Exegese ist eben die Frucht eines vollendeten Studiums; bei ihr wird aus der Fülle der umfassenden Kenntnisse, beides der Sprache und der Sachen, gegeben: sie ist nichts anderes als Ausdruck des Verständnisses, wie wo nicht die Zeit-
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
,Verstehen' mit ,Hermeneutik' übersetzt, wie heute üblich, dann muss eine mindestens dreigliedrige Hermeneutik angenommen werden: niedere und höhere Hermeneutik als techne sowie Hermeneutik als volles Verständnis, das Kritik und Grammatik mit einschließt. In Nietzsches Entyclopaedie entspricht der Begriff der Interpretation den ersten beiden Erscheinungsformen der Hermeneutik; Auslegung und Exegese können synonym verwandt werden. Das Verstehen dagegen bezeichnet einzig und allein den Prozess der Überbrückung der zeitlichen und mentalen Differenz zum Altertum, die Wiederherstellung des ursprünglichen Sinns auf kritischer, sachlicher und linguistischer Grundlage: Die Aufgabe erscheint zunächst leicht, einen Autor oder eine überlieferte Thatsache zu v e r s t e h e n , ist aber etwas sehr Schwieriges, bei dieser ungeheuren Entfernung u. Differenz der Nationalität. Wir sind nicht aus demselben Element erwachsen, das hier erklärt werden soll. Wir müssen also mittelst Analogien uns zu nähern suchen. Insofern ist unser Verstehen des Alterthums ein fortwährendes, viell. unbewußtes P a r a l l e l i s i e r e n . (KGW 11.3:373)
Das Auffinden von Analogien und Parallelstellen bezeichnet aber die grundlegenden Operationen der Kritik. Hinzu kommt die gewöhnliche Langsamkeit des philologischen Verstehens, da bis hin zu „Wort, Klang, Stilistik, Charakter" alles am Autor fremd sei. Nietzsche entgeht natürlich nicht, dass die Kategorien des Vergleichs und die Kriterien des Rubrizierens nicht vom Himmel fallen, sondern gleichfalls erst durch irgendeine Form des Verstehens Zustandekommen müssen. Er durchlebt eine intellektuelle Klärungsphase, in der er grundsätzlich über das Verhältnis von Kritik und Hermeneutik nachdenkt. Infragestellen wird er es nicht, auch wenn das Nachdenken im Anschluss an seine Schopenhauerlektüre schnell grundsätzliche Züge annimmt und zum Nachdenken über das Verhältnis von Philologie und Philosophie wird: Wir werden doch nicht alles Rubrizieren, alle Allgemeinbegriffe als „philosophisch" bezeichnen. Ebensowenig alles Unbewußte und Intuitive: auch selbst bei der philologischen Conjektur giebt es ein Erzeugen, das nicht ganz in bewußtes Denken aufzulösen ist. (III 19 [74]).
Bereits Boeckh hatte in Fortsetzung Schleiermachers gelehrt, dass Verstehen unabhängig von hermeneutischer Theorie immer schon stattfinde, so wie Denken ja auch ohne die Kenntnis formaler Logik funktioniere. Verstehen sei „Kunst" und beruhe deshalb auf „einer halb bewusstlosen Fertigkeit", zu der wie zu jeder anderen Kunst Talent und Übung gehören (21886:7 5). Verstehen ist deshalb immer auch produktiv: eine Auslegungstheorie, die sich vor allem über die analytisch-zergliedernde Ratio der Kritik begründet, belügt sich darüber. Das Verstehen gehört deshalb nicht so sehr ins Reich der Philosophie, sondern in das genossen, doch wenigstens die etwas späteren Nationen, für die schon die flüchtigen Beziehungen des Augenblicks verloren waren, verstanden, und dazu gehört ein reif durchgearbeiteter Verstand, wie eine unendliche Menge von einzelnen Notizen." — und natürlich, das betont Niebuhr ohne Unterlass, der kritische und gewissenhafte Umgang mit Quellenmaterial (1839:136).
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
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der Kunst, es ist produktiv und konstruktiv. Die philologische Erklärung ist nichts anderes als die Kombination konstruktiver und zersetzender Kräfte, produzierender Hermeneutik und einschränkender Kritik. Schon bei F.A. Wolf war das Erklären die Kommunikation der verstandenen „Ideen und Empfindungen eines Andern" (1831:274). Verstehen oder interpretatio sind aber nicht mit der Hermeneutik des Vcrstchensj/?ra^j'.f«j" identisch, denn mit der „Hermeneutik oder Erklärungskunst' muss „verbunden seyn eine scharfe Beurtheilungsgabe, die in die Analogie der Denkungsart des Andern eindringt" — also Kritik, dazu eine Menge sachlicher Kenntnisse sowie „Kenntnis der Sprache [...] allerlei Untersuchungen grammatischer Art", Geschichts-, Sitten- und Literaturkenntnisse. Nietzsche wird das Erklären immer wieder von der bloßen Auslegung, d.h. der nicht durch Kritik kontrollierten Hermeneutik oder Interpretation unterscheiden: Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine WeltAuslegung und -Zurechdegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und n i c h t eine WeltErklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger fur sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, überredend, ü b e r z e u g e n d , - es folgt ja instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig v o l k s t ü m l i c h e n Sensualismus. 0 G B 1.14, 5:28)
Auch die induktive Auslegung der Physik unterscheidet sich in ihrem Status deshalb nicht von der deduktiven „Welt-Auslegung nach der Manier des Plato" (ebd.), die mit Hilfe „blasser kalter grauer Begriffs-Netze" über die Sinne Herr bleibt, d.h. zu ihrer selbstermächtigenden, letztlich pneumatischen Auslegungspraxis wenigstens mit Selbstbewusstsein steht. Erklärungen liefert keine der beiden Auslegungsarten. Die Scheidung der Begriffe des Erklärens und Verstehens wird normalerweise an die aufkommende Scheidung der Natur- und Geisteswissenschaften geknüpft. Manfred Riedel assoziiert in seinem grundlegenden Buch (Riedel, 1978) das Erklären mit der rationalistisch-deduktiven Tradition, das die Objekte unter Gesetze subsumieren möchte. Deshalb eigne es sich für die kausalistischen Naturwissenschaften. Riedel setzt mit seiner Analyse aber erst am Ende des 19. Jahrhunderts, besonders bei Dilthey ein131. Zwar vertrat etwa Ritsehl (nach Rib-
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Freilich hat Riedel sein immer noch lesenswertes Buch in einer wissenschaftshistorischen Situation verfasst, in der die Geisteswissenschaften durch einen ihren Gegenständen unangemessenen Szientismus allenthalben bedroht und in der Defensive waren. Andererseits ist die Gleichsetzung des Erklärens mit positivistisch-kausalistischem Gedankengut zu einfach. In seinem Buch versucht Riedel aber auf originelle Weise das rationalistisch-deduktive Erklären sowie das induktive Erklären der empirischen Naturwissenschaften gegeneinander aufzuheben, indem er (sozusagen als Friedensangebot gegenüber der analytischen Philosophie) Kant für das Verstehen reklamiert. Dieser habe mit seinem Verstehenskonzept leider gegen Herder und den Historismus den kürzeren gezogen. Ob es hier Anknüpfungspunkte zu Nietzsche über die kantisch inspirierte Philologie der Hermann-Schule oder über seine intensive Rezeption des Neukantianers
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beck, 1879f, Bd. 1:330) im expliziten Anschluss an Schelling (1974) bereits die Auffassung, dass die Philologie als historische Wissenschaft vom menschlichen Geist im Gegensatz zur unhistorischen Naturwissenschaft stehe. Das betrifft aber gleichsam nur das Untersuchungsobjekt, nicht die Methodik. So wie die frühen Naturforscher und Naturphilosophen sich unbedenklich der Einfühlung und Intuition bedienen, lehnt sich Ritsehl, wie bereits dargelegt, an gewisse Standards der empirischen Wissenschaften an. Das ,Erklären' ist deshalb bis ins letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durchaus ambivalent, von den Naturwissenschaften zwar beeinflusst, aber nicht auf kausale Gesetze fixiert. Nietzsche, und das macht ihn in der Geschichte der Auslegungstheorie so schwer fassbar, befindet sich im Grenzgebiet zwischen traditioneller Exegese und modernem Positivismus132. Ritsehl und Wolf geht es nicht um allgemeine Gesetze — sie betonen immer wieder das Inkommensurable jedes einzelnen Textes — das heißt aber nicht, dass man deswegen auf den Vergleich mit anderen Texten verzichten sollte. Das Eigene und Inkommensurable entsteht ja paradoxerweise erst im Vergleich. Die Erklärung entspricht für Wolf, Ritsehl und Nietzsche deshalb am ehesten der explicatio als Erläuterung des konkreten Wort- bzw. Textgebrauchs, sie steht zwischen den beiden Polen der Deduktion und Deskription; nichts anderes ist gemeint mit dem ,,einfache[n] Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt" (MA 1.270, 2:223). Der Erklärer muss dabei nicht auf Phantasie verzichten: die Divination als durch Erfahrung erworbene Fähigkeit, methodisch fundierte Voraussagen zu machen und Verbindungen zu sehen, gilt auch hier als wichtiges Supplement zur Ratio. Nietzsche wendet den Unterschied von Beobachten und Erklären auf das empirische Studium des Menschen an. Der Erklärer stützt sich zwar auf sinnliche Eindrücke, lässt aber auch seiner durch Ratio („Scharfsinn") und breite Kenntnisse gesteuerter (Er-)Findungskraft (also der Divination) freien Lauf: Z w e i A r t e n M o r a l i s t e n . - Ein Gesetz der Natur zum ersten Male sehen und ganz sehen, also es n a c h w e i s e n (zum Beispiel das der Fallkraft, der Licht- und Schallreflexion) ist etwas Anderes und die Sache anderer Geister, als ein solches Gesetz e r k l ä r e n . So unterscheiden sich auch jene Moralisten, welche die menschlichen Gesetze und Gewohnheiten sehen und aufzeigen — die feinohrigen, feinnasigen, feinäugigen Moralisten — durchaus von denen, welche das Beobachtete erklären. Die letz-
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F.A. Lange gibt (die vielleicht ihrerseits nur auf der Grundlage der philologischen Schulung möglich war), würde eine nähere Untersuchung lohnen. Eine Periode, die außerordentlich schlecht erforscht ist. Zwar gibt es genügend Material zur Aufklärungshermeneutik und Bibelkritik, dann wieder ab Dilthey, z.T. unter Berücksichtigung Schleiermachers. Aber nahezu die gesamte philologische Reflexion des frühen und mittleren neunzehnten Jahrhunderts, die als Ubergangszeit möglicherweise interessanteste Zeit (der Schwächen des Ererbten wie des Kommenden gleichermaßen bewusst) — diese Literatur ist, von spärlichen Ausnahmen abgesehen, weder in der philologie- noch der philosophiehistorischen Forschung behandelt worden. Hier liegt die Ursache vieler Nietzsche betreffende Missverständnisse.
2.4. Enzyklopädie: Grammatik, Kritik, Hermeneutik
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teren müssen vor allem e r f i n d e r i s c h sein und eine durch Scharfsinn und Wissen e n t z ü g e l t e Phantasie haben. (M 5.428, 3:264).
Man beachte die Wahl der Präposition durch: Scharfsinn und Wissen sind Voraussetzungen der gesteigerten Phantasie, d.h. einer Divination, die zur Erklärung unerlässlich ist! Es dürfte jedenfalls deutlich geworden sein, dass es sich hier ganz und gar nicht um eine frühe Form der Universalhermeneutik handelt. Nietzsche unterscheidet sich deutlich von einem Theoretiker, der seither zum Klassiker der Interpretationstheorie avanciert ist, nämlich Schleiermacher. Gerade deshalb lohnt eine Gegenüberstellung, denn auch Schleiermacher knüpfte ja bei F.A. Wolf an. Bis zu Wolf war Auslegung gleichbedeutend mit Explikation der jeweiligen als dunkel angesehenen Stellen eines Textes gewesen. Schleiermacher, der sich im Zuge seiner Piatonübersetzungen selbst als Philologe und Editor zu bewähren hat, erkennt genau wie F.A. Wolf, Friedrich Ast und andere, dass nicht mehr nach dem sensus einzelner dunkler Stellen, sondern nach dem sensus des Zusammenhangs gefragt werden muss. Nicht mehr die Sache, sondern die Autorintention wird ausgelegt, das ist der eigentlich neue Ansatz bei Wolf und Ast (vgl. Flashar, 1979:22), womit sie die schon in der sog. Aufklärungshermeneutik des achtzehnten Jahrhunderts begonnene Arbeit systematisieren. Um die Intention des Autors glaubhaft zu dokumentieren, muss der Entstehungsprozess der Auslegung nachgewiesen werden. An die Stelle der Allegorese bzw. der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn tritt so die prozesshafte Auslegungsweise in historischer, grammatischer, geistiger Hinsicht (vgl. Szondi, 1975:157ff)133. Schleiermacher folgt in seiner Auslegungstheorie anfangs streng den philologischen Vorläufern. Es besteht kein Zweifel daran, dass für ihn Hermeneutik und Kritik zunächst ebenfalls zusammen gehören, „weil die Ausübung einer jeden die andere voraussetzt" (1977:71). Kritik ist dabei ähnlich wie in der Philologie weit mehr als Textkritik und umfasst eben auch ästhetische und inhaltliche Urteile. Gleichwohl beginnt mit Schleiermacher der Aufstieg der Hermeneutik auf Kosten der Kritik, insofern er eine Auffassung von „Verstehen" entwickelt, die beiden gleichsam vorgelagert ist. Hermeneutik in diesem Sinne findet immer und gewissermaßen unfreiwillig statt, während Kritik schon der bewussten Anstrengung bedarf (ebd.). Kritik und Hermeneutik gehen in seiner universalen Auslegungstheorie zu großen Teilen jeweils in der grammatischen und psychologischen Auslegung auf, ohne freilich, und das ist wiederum das eigentlich Neue bei ihm,
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Boeckh unterscheidet z.B. einen vierfachen Schritt von grammatischer über historische und individuelle bis zur generischen Interpretation (21886:83), wobei die Auslegungsphasen nicht chronologisch, sondern integrativ ablaufen sollen. Auch Ritsehl unterscheidet in der Hermeneutik vier Stufen „des Nationalen, Temporalen, Generischen, Individuellen" (nach Ribbeck, 1879ff, Bd.l:245). Bei jedem Text müssen nicht nur nationale und epochale Entstehungsbedingungen mitgedacht, sondern auch die Gattung sowie die Individualität des Verfassers berücksichtigt werden, und zwar nicht in der Weise, dass jede Textstelle eine nach diesen Kriterien gestaffelte Bedeutungsspanne aufweist, sondern dass der Zusammenhang des gesamten Textes unter diesem Gesichtspunkt geprüft wird.
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den Auslegungsoperationen der Kritik und Hermeneutik zu entsprechen. Die niedere Hermeneutik wird der höheren Hermeneutik einverleibt, es folgen die beiden Stufen der Kritik. Verstehen ist „Ineinandersein" (21928:140) von grammatischer und psychologischer Auslegung, beide sind vollkommen gleichberechtigt. Kritik kann so durchaus auch auf der Ebene der psychologischen Auslegung stattfinden, Hermeneutik im Bereich der Grammatik. Schleiermacher kennt in der psychologischen Auslegung zwei Verfahren, das divinatorische und das komparative, die in etwa Konjektur und Kollation der philologischen Kritik entsprechen. In der Praxis trete gemeinsam auf, was in der Theorie künstlich getrennt sei, denn man könne nicht ohne Divination bestimmen, was denn überhaupt verglichen werden soll (vgl. 148 u. 153ff). Auslegung wird damit, darin folgt ihm z.B. Boeckh, zu einer Kunst, die sowohl auf Sprachtalent wie auf Menschenkenntnis beruht und „nicht durch Regeln gegeben werden [kann], welche die Sicherheit ihrer Anwendung in sich trügen" (141). Die hermeneutische Aufgabe kann nur durch Verbindung von Spekulation mit Empirie und Geschichte gelöst werden (204)134. In der philologischen Tradition, von der Schleiermacher sich mit seinem Entwurf emanzipiert, steht am Ende aber nicht das Verständnis an oberster Stelle, sondern die Kritik in Form des (ästhetischen) Urteils, schon die Auswahl des zu verstehenden Textes enthielt ja ein solches Urteil. Nicht die Suche nach irgendeinem wie auch immer gearteten sensus in der Auslegung steht für Ritsehl und für den Philologen Nietzsche im Vordergrund, sondern die endgültige Bewertung der sensus, die sich anhand eines Textes möglicherweise feststellen lassen. Schleiermachers in Anlehnung an die Enzyklopädien von F.A. Wolf und Friedrich Ast entworfene „Kunst des Verstehens" (21928:137) als universaler Auslegungslehre (141), welche die speziellen Auslegungslehren überflüssig machen soll, fände in Nietzsches Vorstellungswelt am ehesten in einer Kunst der kritischen Auslegung ihre Entsprechung135, die von der philologischen Lehre wenig abweicht.
134 Wenn Stegmaier (1992:176) auf die Nähe von Nietzsches Psychologie zu Schleiermachers IndividuaUtätslehre hinweist, weil auch in Schleiermachers Hermeneutik die methodische Arbeit erst auf das Erraten des Individuums im divinatorischen Verfahrens folge, so liegt der Grund wohl eher in ihrer gemeinsamen Herkunft aus der philologischen Tradition. Im Übrigen bezieht sich Schleiermachers psychologische Auslegung zwar in der Tat auf die Rekonstruktion der Mitteilungsintention, aber es werden dazu durchaus nicht nur divinatorische, sondern auch komparative Verfahren eingesetzt, etwa durch den Vergleich (Opposition oder Analogie) mit anderen Inhalten (s. auch Koller, 1988:314). Interessant ist der Umstand, dass sich Ritsehl in seinen enzyklopädischen Vorlesungen offenbar ausdrücklich von den philosophischen Verallgemeinerungen Schleiermachers distanziert hat. In der Auseinandersetzung mit ihm und der Philosophie allgemein betont er den Charakter seiner Methode als immer am spezifischen Objekt ausgerichtet, „als das durch fortgesetzten Versuch allmälig erwachsende, nie abgeschlossene Ergebniss empirisch gewonnener Einsicht" (nach Ribbeck, 1879ff, Bd.2:18ff). 135
Der Textbestand von Schleiermachers Hermeneutik bzw. Hermeneutik und Kritik stellt selbst ein notorisches philologisches Problem dar. Schleiermacher ist hier jedoch kein Thema, ich ver-
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Wer Nietzsche als kritischen Denker (möglicherweise in der Tradition Kants) lesen will, kommt an der philologischen Kritik deshalb nicht vorbei136 und muss auch gegenüber der diltheyschen Version hermeneutischer Theorieentwicklung auf der Hut sein137. Nietzsche verhielt sich völlig rational: Er orientierte sich nicht nur an der Auslegungstheorie, die seinen philologischen Lehrern als vorbildlich galt, sondern am unangefochtenen Musterfach der Wissenschaftlichkeit in seiner Zeit. Schleiermachers heutige, auf Dilthey und Gadamer zurückgehende Reputation darf bei seinen Zeitgenossen bis ans Ende des Jahrhunderts nicht angenommen werden138. Spätestens seitdem sich ihr Fach darüber als moderne Disziplin konstituiert hatte, galten die Philologen als die Experten der redlichen Auslegung schlechthin. Nietzsche konnte sich als Teilhaber an einem Herrschaftswissen fühlen, demgegenüber Metaphysiker ebenso naiv schienen wie Theologen oder positivistische Naturwissenschaftler. Diese Haltung lässt sich unabhängig von allen vermeintlichen Schaffensphasen ungebrochen nachweisen. Der oben zitierte Aphorismus 14 aus Jenseits von Gut und Böse etwa hat Vorläufer in der Baseler Zeit. Ein repräsentatives Beispiel für den periodisch an Philosophen oder Theologen gerichteten wiederkehrenden Vorwurf Nietzsches vom Mangel an Philologie findet sich schon im fünften Vortrag JJeber die Zukunft unse-
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wende lediglich einige aus vergleichender Sicht interessante Positionen. Insbesondere gehe ich nicht auf die früheren Entwürfe zur technischen Auslegung ein. Der neuzeitliche Begriff der Kritik stammt aus der Philologie des Humanismus, die angetreten war, den Alleinanspruch der Theologie zu brechen. Die epochalen Kritiken Kants verdecken diese wichtige Verbindung (vgl. Kurt Rötgers Lemma „Kritik" in GG Bd. 3:653f bzw. Rötgers, 1975:21f). Figl (1984) schält angesichts der Philologica Nietzsches zwei hermeneutische Strategien heraus, eine kritische und eine im eigentlichen Sinne hermeneutische. Die Kritik befasse sich vor allem mit Konjekturalkritik und vergleichender Uberlieferungskritik, der Restitution von Worten bis zu ganzen Textzusammenhängen, der fast naturwissenschaftlichen Verwendung von Sprachgesetzen, praktiziere kurz gesagt strenge Methodik, die Nietzsche stringent durchzuhalten versuche (122). Hermeneutik müsse jedoch hinzukommen, denn die Verbesserung eines Textes werde ja schon vor dem Horizont des Textideals durchgeführt. Da Hypothesen in der praktischen Arbeit auf Intuition beruhen, sei der rein diskursive Weg nicht möglich und Phantasie werde als Voraussetzung des wissenschaftlichen Denkens begriffen (123f). Reflexion messe die Ergebnisse der Phantasie, wobei ihr Unterschied nur ein gradueller sei, insofern auch wissenschaftliche Begriffe auf Metaphern zurückgehen, es werden mithin Metaphern in verschiedenen Festigkeitsstufen miteinander verglichen. Wissenschaftliches Erkennen bleibe deshalb notwendig interpretierend, da es schon in der Selektion interpretiert. Die Leistung der rationalen Kritik bestehe darin, die Leistungsfähigkeit der „prärational-ästhetischen Erkenntnisvollzüge" erst richtig bewusst zu machen (126ff). Diese Fassung des Begriffs ist allzu weit und, jedenfalls auf die Wissenschaftsgeschichte bezogen, unhistorisch. Für Nietzsche war die Kritik selbstverständlich keine hermeneutische Strategie, sondern idealtypisch von der Hermeneutik getrennt. Seine Philologie hat er unzweifelhaft als kritische, nicht als hermeneutische Wissenschaft verstanden.
In klassischen Darstellungen wie Wach (1966) werden Philologen wie Ast und Wolf zu bloßen Vorläufern Schleiermachers degradiert. Textvergleichen und Spätausläufern der philologischen Tradition wie eben Nietzsche hält diese These nicht stand. 138 Vgl. z.B. Stegmaier (1992:147, Anm. 52): Schleiermacher etwa im Sinne Gadamers als Hermeneutiker zu lesen entspreche ihm kaum; Hermeneutik blieb für Schleiermacher immer zweitrangig gegenüber Ethik und Dialektik. Siehe femer Wiehl (1979).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
rer Bildungsanstalten. An den Universitäten sei „an Stelle einer tiefsinnigen Ausdeutung der ewig gleichen Probleme ein historisches, ja selbst ein philologisches Abwägen und Fragen getreten" (KSA l:742f), also etwa die Frage danach, ob bestimmte Schriften tatsächlich diesem oder jenem Philosophen zuzuschreiben seien, ob er dies oder das wirklich gedacht habe, welche Lesart zu bevorzugen sei. Philosophie sieht Nietzsche deshalb als Zweig der Philologie und ihre Vertreter als je nachdem gute oder schlechte Philologen an. Die meisten Philosophen lassen sich von philologischer Warte aus ohne weiteres als Dilettanten abtun. Das Problem sei nur, dass dabei die Philosophie selbst verschwunden sei, die produktive, schaffende Weltanschauung und Wertsetzung, die Nietzsche in dieser Zeit wohl als positive Umdeutung von Langes „Begriffsdichtung" (vgl. z.B. Lange, 1974, Bd.2:943) denkt und möglicherweise später im Zarathustra zu praktizieren sucht. Für Nietzsche lässt sich im Anschluss an F.A. Lange durch philosophische Sprache keine absolute Wahrheit mehr ausdrücken. Absolute Entwürfe müssen vielmehr durch (philologische) Kritik von ihrem Alleinherrschaftsanspruch abgebracht werden, sofern sie sich als lebensfeindlich erweisen. Nur eine künstlerische und wertsetzende und jedenfalls keine klassisch-metaphysische Philosophie kann noch Aussagen schaffen, die — kraft ihrer Form — unwiderlegbar sind139.
2.5. Die skeptische Wissenschaft Abgesehen von der in Nietzsches Augen fatalen Strategie moderner Philosophie, sich nur noch auf Erkenntnistheorie oder Philosophiegeschichte auszurichten, statt an ihrer gesetzgebenden, schaffenden Rolle festzuhalten, begeht sie den Fehler, auf Wissenschaft, d.h. auf Philologie, Physiologie, Naturwissenschaft zu verzichten. Dergestalt von Unredlichkeit durchsäuert, nähert sie sich allmählich wieder der Theologie an. In ähnlich unzulänglicher Manier steht ihr freilich die Anmaßung der modernen Wissenschaft zur Seite, sich völlig unabhängig von Philosophie zu glauben. Nietzsche möchte das Dilemma durch Rückgriff auf das Modell sich gegenseitig kontrollierender Kritik und Hermeneutik überwinden. Für den wahren Philosophen ist nicht Verzicht auf Wissenschaft geboten, auch
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Siehe bereits den Brief an Gersdorff von Ende August 1866: „Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat. Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns hinfiiro erbauen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen? —" (1.2 160)
2.5. Die skeptische Wissenschaft
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wenn diese in ihrem Wahrheitsglauben und Fortschrittswahn noch so naiv wirke, sondern ihre sinnvolle Handhabung, die nicht zuletzt der Selbstprüfung dienen mag140. Im sechsten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse zählt sich Nietzsche nach wie vor zu den „Gelehrten" (KSA 5:129) und, „mit Verlaub", den wissenschaftlichen Menschen (|GB 6.204, 5:130) - ein spöttischer Rückblick auf seine Ausgrenzung durch die scientific community nach der Publikation der Tragödienschrift. Nietzsche weist der Wissenschaft damit die Rolle einer falsifizierenden, kritisch kontrollierenden Instanz zu. Wissenschaft heißt Skepsis; und die skeptische Wissenschaft par excellence wird seit jeher von der philologischen Methode verkörpert. Für ihre auf die Spitze getriebene Skepsis war die Bonner Schule besonders bekannt geworden: gerade ihr Zweifel an allem und jedem scheint Widerspruch herausgefordert zu haben141. Nur wenige Wissenschaften konnten sich mit ihrer Detailverliebtheit und Akribie der Text- und Quellenkritik und des philologischen Lesens messen. Nietzsche setzt sich in seinen Notizen und Reflexionen aus der Philologenzeit selbst mit Leistung und Grenze der philologischen Skepsis auseinander. Die Stärke der Skepsis liege darin, jede Art von Dogmatismus zu bekämpfen und selbst den gesunden Menschenverstand als Produkt jeweils einer Periode, eines Volkes, eines Individuums zu entlarven (KGW I.4.:404ff). Die Grenzen der skeptischen Methode hält Nietzsche für noch nicht erreicht (I.4.:394). Der gesunde Menschenverstand erhebt immer wieder neu Anspruch auf universale Geltung, deshalb muss Skepsis fortgesetztes Prinzip sein. Als Beispiel nennt Nietzsche das textkritische Prinzip, diejenige Lesart eines Textes als am verlässlichsten anzusehen, die in den meisten Exemplaren überliefert wurde. Erst Skepsis gegenüber diesem zunächst intuitiv überzeugenden Grundsatz ließ die moderne Philologie weiterschreiten. Durch hierarchische Anordnung der Textzeugen konnte gezeigt werden, dass die Verbreitung einer Lesart unabhängig von ihrer Richtigkeit war, dass mithin die Beziehung zwischen den Textzeugen weit wichtiger als ein rein quantifizierendes Kriterium ist: I m G r u n d e ist m a n a u f der B a h n l i t e r a r h i s t o r i s c h e r F o r s c h u n g n u r d a d u r c h fortgeschritten, d a ß m a n sich e n t s c h l o ß , keine F r a g e a u f d e m H e r z e n z u behalten, d a ß m a n allmählich die ü b e r t r i e b e n e Pietät g e g e n alte Z e u g n i s s e verlernte. E s w a r g e w i ß e t w a s
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In einer „Anmerkung für Esel" betont Nietzsche, dass bei all seiner Kritik an der Einseitigkeit und mangelnden Unvornehmheit der wissenschaftlichen und arbeitsamen Menschen, diese gleichwohl schätzenswert und unentbehrlich seien (VIII 1 [170]).
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Vgl. Ribbeck (1874), eine Antwort auf einen direkten Angriff Theodor Bergks auf die ausdrücklich so genannte Bonner Schule, v.a. auf Ritsehl, Usener, Bücheler und Ribbeck selbst. Er verteidigt den für sie typischen universalen Zweifel an aller Uberlieferung, sein letzter Satz lautet: „Mit dem dumpfen Buchstabenglauben an die heiligen Abschreiber und theils andachtsvoller, theils scurriler Ausräucherung der bösen Geister des Zweifels wird Niemand erleuchtet." In einer redaktionellen Anmerkung zu Müller (1869b:544) lehnt Ritsehl interessanterweise die Bezeichnung Bonner Schule ab. Sie stamme vielmehr von Bergk, der ihr damit Dogmatismus vorwerfen will. Dogmatismus aber ist für Ritsehl die schlimmste Untugend der Wissenschaft und dem eigenen skeptischen Standpunkt diametral entgegengesetzt.
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus Ethisches in jener verstummenden Hingabe an die Urtheile des Alterthums, aber es war die Ethik des Weibes. In der neueren Forschung, die kein Blatt vor den Mund nimmt, die den Kranz von dem einen Haupte Homers nahm und ihn in alle Winde zerstreute, die den kühnen Titel Aristoteles pseudoepigraphus erfand, weht die kühne und unerschrockene Sittlichkeit des Mannes. Hier sehen wir, wie Erkennen und Wollen, gesunder Menschenverstand und Moral in der allmählich heranreifenden Methode einer Wissenschaft gemeinsam ihre Rolle spielen. (I.4::61f)
Wolf verkörpert den Fortschritt gegenüber Winckelmann. Die Skepsis hat einen Wert an sich, auch wenn sie am Ende nur die alten Uberzeugungen bestätigt: „Durch die Skepsis untergraben wir die Tradition, durch die Consequenzen der Skepsis treiben wir die versteckte Wahrheit aus ihrer Höhle und finden vielleicht, daß die Tradition Recht hatte, obwohl sie auf thönernen Füßen stand." (62)142 In Anlehnung an derartige philologische Betrachtungen aus der Frühzeit unterscheidet Nietzsche im Spätwerk zwei Formen der Skepsis: eine ,weibliche', lediglich passive, blutsaugerische, die aus dem französischen Atheismus erwächst und die harte, ,männliche', griechisch-deutsche Skepsis, die neue Welten erschließen hilft. Die Skepsis der historisch-kritischen Methode ist es für ihn gewesen, die Europa, mit Kant zu sprechen, erst aus dem dogmatischen Schlummer gerissen und den Weg zu neuen Werten frei geräumt hat. Im Aphorismus 209 von Jenseits von Gut und Böse hat Nietzsche diesen Gegensatz beschrieben und der historisch-kritischen Methode ein Denkmal gesetzt, jener „Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt" (5:141). In ihrer zerstörerischen Kraft wird sie beinahe schon wieder schöpferisch. Von der Metapher des Untergrabens bis zum Bild des Männlichen und Weiblichen knüpft Nietzsche zum Teil fast wörtlich an seine frühen Reflexionen an: Diese Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng; es ist die d e u t s c h e Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in's Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und zähen MannsCharakter der grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn, allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein n e u e r Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur männlichen Skepsis entscheidend hervor142
Interessante Ausfuhrungen zur Reflexion der Skepsis in Nietzsches frühen Philologica bei Porter (2000a). Der der Philologie inhärente radikale Skeptizismus, so Porters These, richte sich schließlich gegen sie selbst und werde deshalb von Nietzsche als widersprüchlich verworfen. Porter bezieht sich nicht auf Nietzsches spätere Texte, sondern beschränkt sich auf die philologischen Schriften und besonders den frühen Nachlass. Gerade ihm gegenüber wäre jedoch ein wenig mehr Skepsis angemessen gewesen. Nietzsche äußert sich hier in privaten Aufzeichnungen, deren Zielrichtung oft nur durch einen Vergleich mit den späteren Publikationen erschließbar ist. Ich vermag Porters These deshalb nicht zu folgen.
2.5. Die skeptische Wissenschaft
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trat: sei es zum Beispiel als Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand, als zäher Wille zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und oberflächliche MenschlichkeitsMenschen gerade vor diesem Geiste bekreuzigen: cet esprit fataliste, ironique, mephistophelique nennt ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie auszeichnend diese Furcht vor dem „Mann" im deutschen Geiste ist, durch den Europa aus seinem „dogmatischen Schlummer" geweckt wurde, so möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden werden musste, - und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische Tölpel der Theilnahme Europa's zu empfehlen. (JGB 6.209, 5:141 f)
Textgenetisch lässt sich zeigen, dass Nietzsche an dieser Stelle Lessing, Herder, Kant, F.A. Wolf und Niebuhr im Sinn hat (s. KSA 14:362f). Nur eine Philosophie, die das Stahlbad der Kritik erträgt, ohne sich ganz ihr zu ergeben, kann die Zukunft gestalten (vgl. auch JGB 6.210, 5:142ff). Die Kritik, die Nietzsche meint, ist in Metaphern getaucht, welche, wie zu sehen sein wird, ebenfalls auf die Philologie anspielen bzw. aus ihr stammen: die soldatische Strenge philologischer Redlichkeit gegen sich selbst, die chirurgische Präzision der Textkritik, der harte ironische Blick, das Motiv des forschenden Reisens. Nietzsches Beschäftigung mit dem skeptischen Potential der historischkritischen Methode geht darüber hinaus im Spätwerk mit der Wiederentdeckung der skeptischen Philosophie einher. Philologie und Skepsis teilen dieselben Vorund Nachteile. In Aufzeichnungen aus dem Nachlass des Jahres 1888 spielt Pyrrhon, einer der Begründer der Skepsis, eine wichtige Rolle als ,anständiger' Typus des Philosophen auf der einen und Nihilist und halber Buddhist auf der anderen Seite. Nietzsche scheint sich mit Pyrrhon weitgehend zu identifizieren143. Im Antichrist feiert er den Skeptiker als einzigen intellektuell rechtschaffenen Typus der Philosophiegeschichte (AC 12, 6:179), nachdem er kurz zuvor ein neuerschienenes Buch von Victor Brochard entdeckt hatte, Les sceptiques grecs aus dem Jahr 1887. Es begeisterte ihn so sehr, dass er es, eine wirkliche Seltenheit bei Nietzsche, namentlich erwähnt: Ich muss ein Halbjahr zurückrechnen, dass ich mich mit einem Buch in der Hand ertappe. Was war es doch? — Eine ausgezeichnete Studie von Victor Brochard, les Sceptiques Grecs, in der auch meine Laertiana gut benutzt sind. Die Skeptiker, der einzige e h r e n w e r t h e Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen!... (EH Warum ich so klug bin 3, 6:284)
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Für biographisch interessierte Nietzscheleser, besonders aber fur Hermann Josef Schmidt, dürfte folgendes Fragment höchst bedeutsam sein: „Pyrrho, der mildeste und geduldigste Mensch, der je unter Griechen gelebt hat, ein Buddhist obschon Grieche, ein Buddha selbst, wurde ein einziges Mal außer Rand und Band gebracht, durch wen? — durch seine Schwester, mit der er zusammenlebte: sie war Hebamme. Seitdem fürchten sich am Allermeisten die Philosophen vor der Schwester — die Schwester! Schwester! 's klingt so fürchterlich! — u n d vor der Hebamme! ... (Ursprung des Coelibats)" (VIII 14[162]).
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
Nietzsches Begeisterung lässt sich durchaus darauf zurückführen, dass Brochard hier tatsächlich seine philologischen Studien zu Diogenes Laertius aus dem „Rheinischen Museum" wohlwollend zitiert (s. Brochard, 1887:48). Nietzsche findet die Affinität zwischen Skepsis und Philologie bestätigt. Genauso stark dürfte ihn jedoch die Analyse der Skepsis interessiert haben, die in manchem an die eigene Analyse der Philologie seiner Jugendzeit erinnert. Die Skeptiker sind aus Nietzsches Sicht wie die Philologen zunächst uneingeschränkt ehrenwerte Gegner nicht nur der Stoiker, sondern all jener, die ihr Weltbild anderen aufdrängen wollen. Der kritischen Tätigkeit können sie aber keine eigenen produktiven Gegenentwürfe zur Seite stellen. Ihr letztes Ziel ist der Seelenfrieden (ataraxia), der sie zu Nihilisten (im Sinne des Buddhismus) macht. Brochard, der sich gründlich mit Pyrrhon auseinandersetzt, erwähnt das Problem, dass die konsequente Urteilsenthaltung (epoche), die die Skeptiker fordern, logischerweise in absoluter Inertia endet (1887:359) und damit letztlich lebensfeindlich ist. Wie die Philologie, so muss die Skepsis dosiert als Gegenspielerin philosophischer Eigenschöpfung eingesetzt werden. In der Auslegungstheorie hat Paul Ricceur zwei sog. hermeneutische Stile unterschieden, deren einer es auf die Restauration des Sinns einer Botschaft (recollection du sens) abgesehen habe und durch quasireligiöses Vertrauen (foi) auf die Sinnfälligkeit des Textes gekennzeichnet ist (1965:36ff). Der andere strebe demgegenüber nach Demystifikation und Illusionszerstörung. Ricceur nennt ihn die Hermeneutik des Verdachts (soupcjon, S. 42). Nietzsche wird schon bei Ricceur selbst, noch stärker jedoch im Anschluss an ihn als klassischer Verdachtshermeneutiker mit Marx und Freud in einem Atemzug genannt (ebd.)144. Diese einflussreiche und willkürliche Einteilung hat fatale Auswirkungen für das Verständnis Nietzsches gehabt. Nietzsches Verdacht ist nämlich von ganz anderer Art als der marxistische oder psychoanalytische. Im Gegensatz zu ihnen ist er vor allem Ausdruck von Skepsis und bezieht sich, philologisch geschult, weniger auf den Inhalt des Textes selbst als auf dessen Überlieferung und die Art und Weise sei144
Diese Einschätzung hat sich schnell etabliert und blieb bis heute unangefochten. Vgl. noch Brenner (1998:306): „Marx, Nietzsche und Freud haben das 20. Jahrhundert zu einem hermeneutischen Jahrhundert gemacht, indem sie das Verfahren der Hermeneutik weit über deren traditionellen Bereich hinaus als Grundgestus des wissenschaftlichen Fragens bestimmt haben". Bereits Paul de Man bezeichnet das mit Recht als Klischee (1979:82). Unabhängig von Inhalten und Theorien verschiedener Verdachtshermeneutiken ist ihre Verfahrensweise immer dieselbe. Sie räumt dem Interpreten den Primat ein und gibt vor, unabsichtliche (unterstellte) uneigentliche Rede aufzudecken. Foucault (1967) hat dies als eine ganz neue Art der Hermeneutik empfunden; wie Ricceur verband er Nietzsche, Marx und Freud in einem frühen Aufsatz durch ihre gemeinsame Interpretationsstrategie, die letztlich in persönlicher narzisstischer Kränkung jedes einzelnen kulminiere und durch die jedwede feste Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat zerrissen wird, da jedes Zeichen schon Interpretation eines anderen Zeichens ist. Interessanterweise spielt Foucault hier lobend die Hermeneutik gegen die Semiotik aus, denn jene verneine die Existenz ursprünglicher Zeichen, welche diese noch annimmt. Dieses Distanzieren vom Strukturalismus wird Auftakt zur Neuentwicklung von Foucaults Methode, die sich bekanntlich wiederum an Nietzsche anlehnt (die Hermeneutik, die Foucault meint, ist die Hermeneutik des Verdachts, nicht jene Gadamers).
2.5. Die skeptische Wissenschaft
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ner Rezeption. Er ist deshalb gegenüber jeder Art von Sinn kritisch eingestellt, nicht nur gegenüber einem oder mehreren ganz bestimmten. Ricoeur vermochte dies nicht zu erkennen, weil er in seiner hermeneutischen Theorie bereits in einer Tradition steht, die mit der Dialektik von Kritik und Hermeneutik nicht mehr vertraut ist. In der 1886 verfassten Vorrede zu Menschliches, Allv^umenschliches bemerkt Nietzsche, man habe seine Schriften „eine Schule des Verdachts" genannt. Er versteht dies als Kompliment, denn niemand habe „mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn" (KSA 2:13f). Es ist ein Verdacht, wie aus dem weiteren Kontext hervorgeht, der sich selbst gegen Nietzsches eigene „Falschmünzerei", gegen seine eigene „Kunst" und Dichtung richtet. Dem Verdacht des Philologen, dass es sich bei einem Text oder einer Textstelle um eine Fälschung oder ein Verderbnis handele, liegt ein dynamisches Konzept zugrunde, die Vorstellung vom Prozess der Verwitterung oder bewussten Fälschung des Textes, der zumindest ansatzweise nachvollziehbar ist. In der Vorrede zur Genealogie der Moral wird der „Verdacht", der sich an die Ursprünge von Gut und Böse heftet, sogar explizit an Nietzsches „historische und philologische Schulung" geknüpft145 — daraus resultierte die Abkehr von der quasi-metaphysischen Ursprungssuche hin zur Untersuchung der Entstehungsbedingungen, also der Genealogie (KSA 5:249f). Die aphoristischen Bücher Nietzsches enthalten ganze Kataloge von Fragen nach Herkunft und Ursprung146 der Religion, Erkenntnis, moralischen oder anderen Phänomenen, immer im Bewusstsein der Gefahr des Nihilismus, die durch allzuviel Wühlen in der Vergangenheit droht. Menschliches, All^umenschliches hebt deshalb mit einem Eingeständnis an: „Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinne zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren?" (MA 1.1, 2:24). Angeregt zum genealogischen Studium der Moral hat Nietzsche nach eigener Aussage Paul Rees „klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein", in welchem ihm „eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen" entgegentrat und zugleich anzog wie abstieß (GM Vorrede 4, 5:250). Die „englische Art" von Rees Moralphilosophie, d.h. die Methode, Vergangenheit an modernen moralphilosophischen Kategorien zu messen, die selbst von dieser Vergangenheit erst hervorgebracht wurden, inspirierte Nietzsche zu einem Gegenprojekt, nämlich die Grundsätze der erlernten philologischen Methode auf das neue Gebiet zu übertragen und in der Moralgeschichte den historischen Sinn zu
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Vgl. etwa F.A. Wolf: „Beim Lesen und beim Ausgehen auf das, was fehlerhaft ist, ist Suspicion nöthig, und dann wieder eine Unbefangenheit, mit der man sich dem Argwohn widersetzt; denn sonst findet man in jeder Zeile einen Fehler, oder man liest mit Angst." (1831:326). Der Gebrauch der beiden Begriff ist, trotz Foucault, nicht ganz scharf gegeneinander abgegrenzt. Tendenziell bezieht sich Herkunft vor allem auf den Prozess der Bedeutungsgenese, während Ursprung eher die ursprüngliche, später verfälschte Etymologie bezeichnet.
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2. Philologische Theorie: Die Bonner Schule und der Alexandrinismus
suchen, anstatt die nachteilige Abweichung der Vergangenheit von heutigen Vorstellungen zu demonstrieren. Marxismus und Freudianismus dagegen, um auf die Verdachtshermeneutik zurückzukommen, haben mit dem historischen Sinn nichts zu tun. Als Allegoresen des Unterbaus bzw. Unterbewusstseins sind sie statisch, insofern sie eine Bedeutung mit einer anderen substituieren, etwa mit dem Klassenkampf oder der frühkindlichen Konfliktbiographie. Die Verdachtshermeneutik sucht einen verborgenen oder versteckten Sinn. Nietzsches philologisch inspirierter Kritik geht es um zwei andere Dinge: der Textkonstitution (Beantwortung der Frage: was genau soll eigentlich Sinnträger sein, wie und von wem ist dieser Text gefälscht worden?) und anschließender Sinnprüfung und Sinnbeurteilung. Es ist ein Unterschied, der an die Debatte zwischen den alexandrinischen Philologen und der Stoa erinnert. Wo diese einen Sinn „hinter der Welt" (GM Vorrede 3, 5:249) vermutet, verdächtigt Nietzsche mit jenen eher die Überlieferung. Nietzsche ist kein Verdachtshermeneutiker — weil er nämlich überhaupt kein Hermeneutiker ist, sondern in übertragener Bedeutung ein Kritiker, der sich der Hermeneutik lediglich als techne in der Erklärung bedient147. Kritik und Hermeneutik bedeuten über ihren wissenschaftlichen Inhalt hinaus schließlich zwei einander entgegengesetzte Umgangsweisen mit dem fremden Objekt. Die Kritik versucht, das Fremde nach Möglichkeit in seiner Fremdheit und seinem Eigencharakter zu bewahren. Die skrupulöse und skeptische Methode der Textkritik ist lediglich Ausdruck des Wunsches, das Objekt in seinem originalen Zustand zu belassen bzw. diesen wiederherzustellen. Nachdrücklich verbietet sich der Kritiker selbst jede Einflussnahme. Die Kritik verneint in der letzten Konsequenz die Möglichkeit der Übersetzung. Ihr ist jede Übersetzung eine unredliche Vereinnahmung des Originals und nur dessen blasser Abglanz. Die Hermeneutik dagegen sieht in dieser Not eine Tugend. Für sie ist Übersetzung das Ziel, denn ohne sie, ohne das Zurückführen des Fremden auf eigene Kategorien, gibt es kein Verständnis, und die Hermeneutik verlöre jede Daseinsberechtigung. 147
Die allegorische Interpretation ist dagegen für das, was man gewöhnlich unter der Hermeneutik des Verdachts versteht, konstitutiv geworden. Demonstrieren lässt sich das leicht an einem berühmten Beispiel, Derridas Lektüre des Regenschirm-Fragments („'Ich habe meinen Regenschirm vergessen'"; V 12[62]). Herausgelöst aus einem Kontext den wir nicht kennen, so Derrida, kann dieser schlichte Satz alles und nichts bedeuten. Aber auch wenn durch Zufall ein solcher Kontext offenbar würde, könnte man immer noch annehmen, es handele sich z.B. um einen Geheimkode, der nur für einen unbekannten Adressaten dechiffrierbar sei. Vor dieser Möglichkeit ist die Hermeneutik in der Tat machdos, genauso machdos wie vor der unausbleiblichen psychoanalytischen Lesart: der Schirm als Phallus, das Vergessen — man weiß schon. Bestehe nicht sogar die Möglichkeit, so Derrida, dass die Gesamtheit von Nietzsches Werk (la totalite du texte de Nietzsche) in dieser Hinsicht dem Fragment gleicht? Derrida kann diese Möglichkeit nicht ausschließen, so wie auch seine eigene Reflexion vom selben Typ sein könnte, auch sie könnte einen Geheimkode kommunizieren etc. ad infinitum. Zu Derridas Regenschirmbeispiel s. auch Blondel (1981/82:539), eine exemplarische Auseinandersetzung mit fehlgeleiteter apriorischer Nietzsche-Exegese.
2.5. Die skeptische Wissenschaft
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Die philologische Erklärung, deren Ansatz Nietzsche, wie zu sehen sein wird, aus der Philologie auf andere Gebiete überträgt, teilt das Ziel der Aneignung durch die Hermeneutik nur insoweit, als das Fremde, d.h. der fremde Text, der antike Tempel, die anderen Sitten und Gebräuche, nicht in ihrer besonderen Form und ihrem Eigensinn zerstört werden. Wer Piaton lesen will, muss zuerst Griechisch lernen und antike Geschichte studieren. Hermeneutik und Kritik sind nicht Aufgabe und Ziel der Philologie, so schon Bernhardy, sondern ihre Instrumente zum Verständnis der Antike und zur Überwindung der „Entfremdung" (Bernhardy, 1832:57). Der Sinn des Altertums sei in „Denkmälern eines ungleichen Ranges" verteilt und noch dazu in fremden Sprachen ausgedrückt: Grammatik allein kann die Überwindung der Entfremdung ebenso wenig leisten wie das Verständnis, also die Hermeneutik des vorliegenden Materials allein, denn die „Denkmäler" müssen sowohl zuverlässig sein wie auch gemäß ihres Ranges durch Kritik gewichtet werden (ebd., S. 57-59). Bernhardy unterscheidet an dieser Stelle die Stoiker als Systematiker der Allegorese von den alexandrinischen Philologen als Begründern der systematischen Hermeneutik, die vor allem auf Kritik beruhe, d.h. auf sauberen Texten, Kommentierung derselben sowie ästhetischer Würdigung. Das Ziel der Hermeneutik bleibt dabei immer dasselbe, nämlich „ d a s g e i s t i g e D a s e i n d e s A l t e r t h u m s in s e i n e n S c h r i f t e n u n d s c h r i f t l i c h e n D e n k m ä l e r n a u s g e p r ä g t z u g e n i e s s e n , z u r A n s c h a u u n g u n d in d a s S e l b s t b e w u s s t s e i n z u r u f e n " — und zwar möglichst unter allmählicher Ausscheidung fremder Vorurteile und Meinungen (1832:73). Nietzsche wird eine ähnlich taktvolle Auseinandersetzung nicht nur mit seinen eigenen Schriften fordern, sondern sie generell obligatorisch für die Stellung des redlichen Philosophen zur Welt machen. Wenn er allerorten den Mangel an Philologie beklagt, dann dringt er auf die Rehabilitierung der Kritik, die eine Rehabilitierung der Skepsis ist. Hermeneutik in der Form unbeholfener bis durchaus subtiler Aneignungsversuche gibt es immer schon von allein.
3. Philologische Methode I: Text und Genealogie 3.1. Konjekturalkritik und Genealogie148 In seinen mittleren und späten Texten spielt Nietzsche bewusst mit dem Repertoire der Philologie. Die bereits genannten Beispiele sollen nun ergänzt und vertieft werden. Angesichts der Traditionen der Bonner Schule kommt der Konjekturalkritik, Kern der niederen Kritik, besondere Bedeutung zu. Nietzsche schlägt bei seinen Lektüren so manche Emendatio vor, freilich nicht immer so offensichtlich wie in dem Beispiel aus Menschliches, All^umenschlichez „Lucas 18,14 v e r b e s s e r t . — Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden." (KSA 2:87) Aus einem wird wird ein will, kleinste Veränderungen haben die größte Wirkung. Theologen und Metaphysiker ahnen nicht, in welchen Untiefen des Textes sie sich bewegen149. In der Vorstellungswelt der Philologie seit F.A. Wolf, Gottfried Hermann und Friedrich Ritsehl ist nicht die Interpretation von Texten die zentrale Aufgabe des Forschers, sondern zuallererst seine Herstellung, nämlich als Herstellung des zu erklärenden Tatbestandes. Jene Praxis der Textkritik, die heute unter dem Begriff der Lachmannschen Methode bekannt ist, geht, und das ist für die Beschäftigung mit Nietzsche natürlich von höchstem Interesse, in vielen wesentlichen Zügen auf Friedrich Ritsehl zurück (Timpanaro, 21971:46-50)150. Zur Herstellung eines Textes werden alle durch die Heuristik identifizierten vorhandenen Überlieferungen zunächst kollationiert, um Übereinstimmungen bzw. Abweichungen unter ihnen festzustellen. Die Beziehungen (Filiation) werden in Stemmata festgehalten, wie sie Nietzsche selbst unzählige Male gezeichnet hat. Im Unterschied zu Lachmann genügte es Ritsehl häufig, Verwandtschaften von Texten aufzuzeigen; um den Urtext war er weniger bekümmert (Timpanaro, 2 1971:46-50). Texte, das lernte Nietzsche von seinem Lehrer, stehen immer in einem komplizierten Beziehungsgewebe aus Einflüssen und Versatzstücken, die 148
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Teile dieses und der folgenden beiden Abschnitte erscheinen in einer früheren Fassung in einem vom Weimarer Nietzsche-Kolleg erarbeiteten Sammelband (Benne, 2003). Ich danke den Teilnehmern der Nietzschetagung Vom Umgang Nietzsches mit Büchern %um Umgang mit Nietzsches Büchern vom 23.-25. September 2002 in Weimar für die Diskussion meiner dort vorgetragenen Thesen. Wenn es seinem Zweck dient, nimmt es freilich auch Nietzsche mitunter nicht so genau mit dem Wortlaut, gerade im Neuen Testament (einige Beispiele in Sommer, 2000b:336). Die Grundzüge dieser Methode sind zuletzt und auf bis heute geltende Weise bei Maas (31957) beschrieben.
3.1. Konjekturalkritik und Genealogie
97
ihrerseits wiederum einen zu entschlüsselnden Text ausmachen (lat. textus, Gewebe, Geflecht). Der Philologe ist Editor und Genealoge und hat in dieser Funktion lediglich die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen überlieferten Textzeugnissen festzustellen. In die endgültige Recensio wird schließlich unter konsequentem Verzicht auf Interpretation die jeweils am besten belegte Lesart aufgenommen — Lachmann bezeichnete diesen Grundsatz an einer berühmten Stelle der Vorrede zu seiner Ausgabe des Neuen Testaments als „Recensere sine interpretatione et possumus et debemus." (zit. nach Karl Stackmann in Flashar u.a., Hrsg., 1979:251). Die Recensio wird in der Ritschl-Schule streng von der Emendatio, der T e i lung', geschieden, dem Beseitigen von Korruptelen, also verdorbenen Textstellen. Die Textherstellung als Verbesserung einzelner ,dunkler Stellen' gehört damit der Geschichte an. Emendationen sind schlagende Verbesserungen, Konjekturen ihre spekulativere Entsprechung (plausible Vermutungen, die, modern gesprochen, falsifiziert und nicht verifiziert werden müssen). Zu den Voraussetzungen philologischer Arbeit gehört deshalb die genaueste Untersuchung von Überlieferungszusammenhängen, eventuellen Kontaminationen, Interpolationen und Beziehungen zwischen Texten ganz allgemein. Alle nur erreichbaren Textzeugen müssen in systematischer Weise einbezogen und beschrieben werden. Auch die Materialität der Schriftstücke spielt eine Rolle, schließlich könnte es sich bei überlieferten Fragmenten etwa um Palimpseste handeln. In der ausgearbeiteten Form dieser für Nietzsche maßgeblichen methodischen Tradition beginnt Philologie also immer mit Kritik, genauer: mit Herstellung des Textes auf der Grundlage von Handschriften, Exzerpten, Zitaten, Quellen, Vorbildern (manche Quellen können nur als Zitatenschatz interessant sein, um mit ihrer Hilfe andere Texte zu emendieren, die sie selbst ausgeschlachtet haben bzw. umgekehrt). Dieses Stadium der sog. niederen Kritik wird ergänzt von der sog. niederen Hermeneutik als erstem Stadium der Textauslegung. Der Sprachgebrauch des Textes wird mit dem Usus verglichen, die Sacherklärung erläutert historische, biographische, lexikographische Umstände, der Text wird Satz für Satz ausgelegt, zunächst ohne Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs, wohl aber unter Beachtung von Stil und Gattung. Auf diese Weise entsteht der Kommentar, dessen extremste Form wohl eine annotierte Ubersetzung darstellt. Wenn sich in der niederen Hermeneutik Widersprüche ergeben, versucht die niedere Kritik entweder Korruptelen zu diagnostizieren oder aber gleich eine Konjektur, das „Lieblingskind der Philologen" (Birt, 1913:125) zu setzen. Auf allen Ebenen der Kritik ist es immer wieder der Vergleich, dessen sich Nietzsche als bevorzugtem Verfahren der Philologie bedient: „Die Voraussetzung, um Verwandtschaften nachzuweisen, ist Bekanntschaft mit den verschiedenen Parteien. Es gilt Gleichförmiges nachzuweisen, das sich mit Gesetzmäßigkeit wiederholt." So beschreibt Nietzsche sein wissenschaftliches Credo in den Vorlesungen über lateinische Grammatik des Wintersemesters 1869/70 (KGW
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
II.2:188)151. Theoretisch ist es demnach denkbar, Texte maschinell, auf der Grundlage von Algorithmen in rein formaler Hinsicht zu vergleichen, denn der erste Arbeitsschritt bei der Grundlegung eines Textes besteht immer darin, alle vorliegenden materiellen Quellen rein routinemäßig zu kollationieren und die verschiedenen Lesarten vor allem sprachlich-stilistischer Art zu notieren. Der Vergleich ist die grundlegende wissenschaftliche Operation, weil nur er zu analytischen Kategorien führt, die man zueinander in Bezug setzen kann. „Ein Phänomen wird erst fixirt, dann erklärt, dh. die vereinzelte Thatsache wird in die Rubriken eingeordnet, die eigentl. w i s s e n s c h a f t l i c h e P r o z e d u r . " (vgl. KGW 11.3:373-376) Diese Prozedur mag in die Nähe geistigen Fabrikarbeitertums geraten, aber nicht aufgrund ihrer Operationen, sondern nur im Falle ihres einseitigen und ausschließlichen Einsatzes (369f). Deutlich wird Nietzsches Arbeitsweise als textkritisch geschulter Philologe beispielsweise in den Prolegomena den Choephoren des Aeschylus, in welchen die Textverderbnis als „das unverständliche, das ungrammatische, das unmetrische das unlogische das unaesthetische" (KGW 11.2:30) gebrandmarkt wird, das durch Verschreibungen, Auslassungen, Einschiebungen, Versetzungen, kurz Fehler der Schreiber zustandegekommen ist, aber mit großer Wahrscheinlichkeit emendiert werden kann152. In Zweifels fällen sei jene Variante am nächstliegenden, welche am häufigsten vorkomme — ein rein quantitatives, von der Subjektivität des Editors unabhängiges Kriterium. Bei der Emendatio werde somit das subjektive Element der auch in der Kritik unerlässlichen Phantasie „am Zügel der ratio" (ebd.) gehalten. Die rein quantitativen Kriterien verlieren, wie oben erwähnt, schon zu Nietzsches Zeit an Boden. Bereits in grundsätzlich theoretisch-methodischen Reflexionen der Jahre 1867-68 denkt Nietzsche über die „erstaunliche Kühnheit" der zeitgenössischen literarhistorischen Kritik nach: „Wir haben erstens den naiven Standpunkt verlassen, wo man die Zahl der Zeugnisse zusammenstellte und der überwiegenden zustimmte." (KGW 1.4:404; vgl. auch 406f) Vielmehr spielen nun auch bei textuellen Fragen die ästhetische Gewichtung oder literarhistorische Zusammenhänge, d.h. Fragen der höheren Kritik eine größere Rolle, ohne freilich die quantitativen Kriterien ganz abzulösen. „Es läßt sich nichts ausrechnen, aber die Möglichkeiten lassen sich ihrer Zahl nach durch ratio verringern: die Möglichkeiten zu sehen ist Sache der Phantasie, die eingetaucht ist in die Sprache u. den Sprachgebrauch des Dichters, in seine Anschauungen. Gefahr, den Dichter zu überdichten: es kommt viel auf die aesthet. Gesammtschätzung
151 Vgl. z.B. Bernhardy (1832): „Alles was wir sehen u. was wir sind, fordert die Vergleichung heraus, darum muß der Philolog einen contemplativen Geist haben. Er soll sich an dieser Vergleichung erziehen. Dabei wird er noch nicht zum Griechen: aber er übt sich an dem höchsten Bildungsmaterial." (S. 372) 152 Vgl. auch K G W II.3:376ff über Konjekturen bei Textverderbnissen wie Vertauschung von Buchstaben, Auslassungen, Umstellungen, Interpolationen etc.
3.1. Konjekturalkritik und Genealogie
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an". (KGW II.2:30)153 Angesichts der Strenge und Konzentration textkritischer Methodik ist Nietzsches Befürchtung durchaus nachzuvollziehen, zum „Fabrikarbeiter im Dienste der Wissenschaft" (KGW I.4:222f) zu werden, der am Ende keine Neigung mehr verspürt, größere Dinge zu erfassen und zum Vulgus der philosophischen Fakultät absinkt. Von daher ist es umso bemerkenswerter, dass er sowohl als Berufsphilologe wie auch später an der wissenschaftlichen Methodik und ihrem Streben nach Freiheit vom Subjekt des Philologen festhält. Ihr Wert steht für ihn immer außer Frage. Die von Ritsehl vor allem entwickelte genealogische oder StammbaumMethode154 war Textgeschichte im weitesten Sinne. Schon in F.A. Wolfs Prolegomena wurde die Bedeutung der Einteilung von Manuskripten in Familien und Klassen als Mittel der Reduktion der Materialmassen auf die relevanten Exemplare erkannt. Die genealogische Methode der Ordnung überlieferter Texte in einem stemma codicum geht von der heuristischen Grundannahme aus, dass keine zwei Abschreiber denselben Fehler machen155. Die Überlieferung wird bis zu dem 153
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So auch schon bei Ritsehl: „Die kritische Methode Ritschl's war kühn und durchgreifend. Sie fußte auf der sorgfältigsten Feststellung und Prüfung der Ueberlieferung, ohne sich dem Buchstaben gefangen zu geben. Von der UnZuverlässigkeit der Abschreiber war er durch reiche Erfahrung und unbefangenes Urtheil tief überzeugt. Die ratio, d.h. die durch gründliche Beobachtung gefundenen Gesetze der Sprache und des Versbau's, die consuetudo, die Angemessenheit des Gedankens und des Zusammenhangs galt auch ihm wie Bentley mehr als 100 codices. Aus einer alle Momente der Betrachtung zusammenfassenden Intuition heraus sprang ihm blitzartig die evidente Verbesserung entgegen [...]" (ADB, Bd. 28:659). Wichtig waren dabei ebenfalls die Beiträge des großen dänischen Latinisten Madvig, dessen Verbindung zur Ritschl-Schule bereits erwähnt wurde. Nützlich dazu ich die Darstellung von Rubow (1938). Im Vorwort seiner berühmten Ausgabe von De finibus bonorum et malorum (1839) definiert Madvig Ziel und Mittel der Textkritik. Aufgabe sei es, den Text soweit wie möglich zu rekonstitutieren, so dass er dem Zustand am nächsten komme, in dem er die Hand des Verfassers verlassen habe, unabhängig davon, ob uns dies in jedem Detail gefalle, ob wir ihn so schöner finden oder nicht. Mittel dazu seien vor allem die Untersuchung von Handschriften, Zitaten, Anspielungen u. dergl.: bei unterschiedlichen Uberlieferungen gelte es, verschiedene Gruppen zusammenzustellen und möglichst auf einen Archetypus zurückzuführen, der nicht unbedingt mit der Handschrift des Verfassers übereinstimmen muss (nach Rubow 1938:83). Die Methodenverwandschaft der genealogischen Methode mit der historischen Quellenkritik ist kein Zufall, sondern liegt in ihrer Entstehungsgeschichte begründet (Maas, 31957:passim) — dies bewies bereits die Kontinuität der Bonner Schule von Niebuhr bis Ritschi. Der Name Lachmanns ist freilich schon den Zeitgenossen Synonym dieser Methode (vgl. Bursian, 1883, Bd. 2:788ff). Ritschis und Madvigs entscheidende Weichenstellungen gerieten in Vergessenheit, da bei Lachmann die reine Textkritik unter Ausschluss anderer Interessen noch viel stärker im Mittelpunkt der philologischen Arbeit stand. Bekannt wurde seine Methode nicht nur durch die im Vergleich zu Ritsehl mechanischere Anwendung (die sie im Klima des aufkommenden Positivismus begünstigte), sondern auch durch die breitere Anwendung: Lachmann verwendete sie gleichermaßen und in berühmten Textausgaben auf lateinische, griechische (antike und biblische), mittelund neuhochdeutsche, poetische wie prosaische Texte. Schmidt (1988) hat in Auseinandersetzung mit Timpanaro ( 2 1971) zeigen können, dass Lachmann die ihm zugeschriebene Methode in Wahrheit gar nicht so stark praktizierte, sondern für seine Editionen immer in relativ frühem Stadium einen verlässlichen Text wählte, von dem er weiter ging. In der ekminatio codicum descriptorum werden deshalb auch Uberlieferungen ausgesondert, die sich für die Textherstellung als wertlos erwiesen haben, z.B. jene, die sich lediglich auf bereits verwendete codices stützen.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Exemplar aufgespaltet, von dem nach allen vorliegenden Erkenntnissen die erste Spaltung ausging. Dieses Exemplar ist der Archetypus, das Ziel aller philologischen Bemühungen. Der Philologe sucht nach den ,Wurzeln' des Textes, um durch Vergleich einen Archetypus zu rekonstruieren, der dem Original, also einem mit der Absicht des Autors übereinstimmenden Text, nahe kommt. Der Archetypus wird dabei nicht naiverweise mit dem Original verwechselt, er gilt durchaus als Konstruktion, die bei dem Erscheinen neuer Zeugen eventuell revidiert werden muss. Entscheidend ist aber der Wille des Editors zur Zurücknahme seiner eigenen Individualität, auch wenn sich diese nicht völlig ausschalten lässt156. Das ist die entscheidende Schnittstelle der Lachmannschen und Ritschlschen Methode, ohne deren Kenntnis Nietzsches Umgang mit dem Problem der Auslegung unverständlich bleiben muss. „Zur Wiederherstellung der antiken Schriftwerke," so fasst Bursian die Tradition der Lachmannschen-Ritschlschen Textkritik zusammen, „bedarf es einer doppelten Thätigkeit: der Untersuchung über die Person des Schriftstellers und über die ursprüngliche Gestalt seines Werkes, und der Darlegung seiner Gedanken und Empfindungen sowie der Verhältnisse, unter welchen dieselben entstanden sind: das erstere ist die Aufgabe der K r i t i k , das letztere die der I n t e r p r e t a t i o n . " (1883, Bd. 2:789f). Die Kritik besteht aus den drei Teilen des recensere, des emendare und des originem detegere: die Aufdeckung des Ursprungs wird durch Abhörung der Zeugen und durch Korrektur der falschen Zeugnisse wiedergewonnen. Da auf Interpretation so lange wie möglich verzichtet werden sollte, bezog sich Methodik und Methodenstolz der Ritschl-Lachmannschen Methode fast immer auf die Recensio, besonders auf die strenge Kollation und Einteilung in ein Stemma; die Recensio ist, gerade weil sie auf Interpretation verzichtet, ihr definitorischer Kern (vgl. Schmidt, 1988)157. Die Metaphorik des Stammbaums hat die Philologen verführt, ein Allheilmittel war sie nicht. Die Ritschl-Schule ist heute naturgemäß hoffnungslos veraltet. Da sie aufgrund ihrer raison d'etre überall nur bewusste Fälschungen oder unbewusste Interpolationen sah, kam sie zu manch zweifelhafter Emendatio. Es ist aber ihr Misstrauen, die grundsätzliche Haltung gegenüber dem Zustand des Textes, die Nietzsche geprägt hat: wann immer er Theologie, Metaphysik und Naturwissenschaft kritisiert, dann wegen der mangelhaften wissenschaftlichen 156
Ähnliche Untersuchungsergebnisse liefert schon Figl (1984), der in den philologischen Schriften Nietzsches vor allem ein starkes Interesse an Quellen- und Uberlieferungsforschung bemerkt, das auf mögliche Wiederherstellung des originalen Texts gerichtet ist und streng zwischen Ursprünglichem und Hinzugekommenem unterscheidet (115f). E r diagnostiziert zu Recht „ein grundsätzlich skeptisches Verhältnis zur vorgegebenen Gestalt des schriftlich fixierten Textes". Die philologische Kritik soll die Genese freilegen, gesucht sei letztlich immer wieder ein anderer, nicht fixierter Text (117). Die Implikationen dieser Beobachtung für Nietzsches Interpretationstheorie hat Figl nicht gesehen.
157
Ein aufschlussreicher Selbstkommentar zur Methode und ihrem Ethos findet sich in Lachmanns kleinem Aufsatz „Rechenschaft über L. Ausgabe des N e u e n Testaments" in Lachmann (1876a:250-272).
3.1. Konjekturalkritik und Genealogie
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Grundlage, denn es mangele am zuverlässigen Text, an einer sauber durchgeführten Recensio des Untersuchungsgegenstandes. Die Kombination von Recensio und Ursprungsforschung der höheren Kritik bilden schließlich auch den metaphorischen Hintergrund von Nietzsches eigenem positiven Beitrag zur philosophischen Methodik: der Genealogie, die er als erster in die Philosophie einführte. Sie stammt nicht, wie allgemein vorausgesetzt, aus der Ahnen- und Stammbaumforschung (Stegmaier, 1994:63f), sondern unmittelbar aus der zeitgenössischen Philologie; schon früh gibt es Belege für seine Verwendung im philologischen Zusammenhang (z.B. KGW I.4.:360). Wohl griff die Philologie selbst metaphorisch auf die Ahnen- und Stammbaumforschung zurück, wie dies ja auch in anderen Wissenschaften wie etwa der Indogermanistik üblich geworden war158. Aber für Nietzsche hat diese Etymologie kaum eine Rolle gespielt159.
3.2. Numismatisches Denkt man die geschilderte Methode mit der im 2. Kapitel dargestellten philologischen Theorie zusammen, wirken Nietzsches Texte nun weniger widersprüchlich. Nietzsches Genealogie steht in engem Zusammenhang mit seiner Analyse abendländischer, platonisch-christlicher Allegorese und Dogmatik. Sie ist kritisches Instrument zur Entzifferung des historisch verfälschten Textes: Die Kirche hat nie den guten Willen gehabt, das neue Testament zu verstehen: sie hat sich mit ihm beweisen wollen. [...] Es bedurfte erst des neunzehnten Jahrhunderts [...] u m einige der vorläufigsten Bedingungen wieder zu gewinnen, u m das Buch als Buch (und n i c h t als Wahrheit) zu lesen, um diese Geschichte nicht als heilige Geschichte, sondern als eine Teufelei von Fabel, Zurechtmachung, Fälschung, Palimpsest, Wirrwarr, kurz als R e a l i t ä t wieder zu erkennen... [...] Was hilft alle wissenschaftliche Erziehung, alle Kritik und Hermeneutik, wenn ein solcher Widersinn von Bibel-Auslegung wie ihn die Kirche aufrecht erhält, noch nicht die Schamröthe zur Leibfarbe gemacht hat? (VIII 11 [302]; Kursivierung von mir) 158
159
Etwa in August Schleichers berühmter Stammbaumtheorie der Entwicklung indoeuropäischer Sprachen, die Nietzsche naturgemäß kannte. In den bisher edierten Philologica gibt es sogar eine schöne Reproduktion eines solchen Schleicherschen Stammbaums zur Verdeutlichung der Entwicklung der lateinischen Sprache (KGW 11.2:194). Inspiriert hat mich zu dieser Auffassung u.a. mein Kollege Jorgen Hass (2001:78f). Vgl. auch schon Hass (1982:51). Ich kann ihm aber nicht darin folgen, dass Nietzsches Auffassung, es gebe keine Tatsachen, nur Interpretationen, auf die Unmöglichkeit authentischer Texte im Sinne der Lachmannschen Methode zurückzuführen sei. Erstens glauben Lachmann und Ritsehl tatsächlich, authentische Texte (wenn auch nicht unbedingt Originale) herstellen zu können. Zweitens versteht Nietzsche, wie meine Arbeit zeigen wird, unter .Interpretation' etwas spezifisch anderes. Dass die genealogische Philologie auf Nietzsches philosophische Genealogie gewirkt haben könnte, hat als erster und außer Hass einziger schon Andler (1920-1931, Bd. 2:78) bemerkt. Aber da er selbst die Tragweite dieses Gedankens nicht erkannte, wurde dieser von keinem seiner Leser aufgegriffen — wohl auch weil die philologische Tradition der französischen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte allzu fremd war und Andler in Deutschland wenig Leser fand.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Kritik und Hermeneutik allein — man beachte ihre Zusammengehörigkeit — sind nicht genug, wenn es an intellektueller Redlichkeit fehlt. Trotz aller modernen methodischen Schulung kann sich die theologische Exegese noch immer behaupten. Nietzsche scheint zu sagen: die Bibel ist nur ein Buch, und zwar ein schlecht erforschtes, ein Amalgam unzuverlässiger Textfragmente statt eines gründlich textkritisch behandelten Archetypus. Für Nietzsche soll die traditionelle Bibelkritik endlich durchgreifend von philologischen Standards abgelöst und übertroffen werden. Guter Wille ist ihre erste Voraussetzung. Das Gegenteil, die von der Kirche gewählte Allegorese, resultiert in Fälschung und Zurechtmachung. In der zitierten Notiz wird jedoch bereits über bibelkritische Fragen hinausgegangen. Wie auch an anderen Stellen gezeigt werden wird, verbirgt der Angriff auf die Theologie zumeist grundlegendere Positionen. Nietzsches Argumentation hat die Form eines Chiasmus: innen entsprechen sich die Begriffe der „Wahrheit" und die „heilige Geschichte", außen „das Buch als Buch" und die „Fälschung" usw. Die Aufforderung, das Buch, also die Bibel, „als Buch" zu lesen, ist nicht nur eine Aussage über die Heilige Schrift, sondern, durch die nähere Kennzeichnung seiner Eigenschaften, über das Buch als Buch im allgemeinen. Wenn man die Bibel als heilige Geschichte liest, an der es nichts zu deuteln gibt, dann fasst man sie als geoffenbarte Wahrheit auf. Liest man sie dagegen als ein Buch wie andere Bücher auch, verdächtigt man sie (dieser Verdacht müsste dann bewiesen oder entkräftet werden), gefälscht, zurechtmacht, interpoliert worden zu sein. Ein Buch generaliter als Buch zu lesen heißt deshalb nicht anderes, als es nicht als „Wahrheit", sondern als „Realität" aufzufassen. Nietzsche setzt den Begriff der „ R e a l i t ä t " offenbar mit Fälschung, Verwirrung und Zurechtmachung gleich — und parallelisiert ihn dadurch dem Begriff des Buches als Buch. Auf das Messen der Realität an den Eigenschaften des Buches wird zurückzukommen sein. Bei der Beschreibung sowohl des Buches als auch der Realität ist der Wahrheitsaspekt jedenfalls irrelevant angesichts viel grundlegenderer textkritischer Schwierigkeiten. Das bedeutet jedoch nicht, dass man in bestimmten Bereichen laut Nietzsche Dinge oder Umstände niemals als zumindest vorläufig „wahr" bezeichnen kann. Wenn der Philologe einen Text der Interpolation verdächtigt, so schwebt ihm ja eine von Interpolationen freie Variante vor, die dem Archetypus näher kommt. In jenen Bereichen also, wo sich die strenge Methodik praktizieren lässt, wo sie dem Untersuchungsgegenstand angemessen ist, lassen sich Fälschungen und Zurechtmachungen noch aufdecken, guten Willen und entsprechendes Material vorausgesetzt. So heißt es bei Nietzsche angesichts protestantischer Glaubensstreitigkeiten: und doch wurde darüber die Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten entsprechen; während in Betreff von rein philologischen Fragen, zum Beispiel nach der Erklärung der Einsetzungs-Worte des Abendmahls, doch wenigstens ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden
3.2. Numismatisches
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kann. Aber wo Nichts ist, da hat auch die Wahrheit ihr Recht verloren (VM 226., 2:481)
Dies ist nicht etwa eine Übertreibung aus Nietzsches angeblicher positivistischer Phase. Für Nietzsche gibt es auch im Spätwerk die Möglichkeit, wissenschaftlich unabhängig von Interpretation und Subjektivität zu arbeiten, wie eine von der Forschung übersehene Stelle aus Jenseits von Gut und Böse beweist. Die Gelehrten als die „eigentlich wissenschaftlichen Menschen" können vielleicht wirklich ihre herrschenden Triebe überwinden (!) bzw. ihren Erkenntnistrieb wie „ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind" betreiben, wobei es gleichgültig sei, wo die kleine „Maschine" angeworfen wird. Das unterscheide sie von den alles persönlich nehmenden Philosophen (JGB 1.6, 5:19f). Zwar ist Nietzsche nach wie vor der Auffassung, dass über die ,maschinelle' Methode hinausgegangen werden müsse, so wie die Recensio allein ja auch nicht weiter fuhrt. Aber die Notwendigkeit philosophischer und divinatorischer Schöpfung endässt nicht aus dem Imperativ intellektueller Redlichkeit, die sich von der eigenen Subjektivität emanzipiert160. Ein prominenter Gegenbegriff Nietzsches zur intellektuellen Redlichkeit ist der Begriff der Falschmünzerei. Es ist auffällig, dass er in Kontexten Verwendung findet, die an die Beschwörung textkritischer Redlichkeit und Methode denken lassen. Auch er ist vor allem den christlich-platonisch geprägten Weltbildern entgegengesetzt. Es sei daran erinnert, dass die Numismatik ein wichtiger Bestandteil der philologischen Enzyklopädie war. Bernhardy behandelte die ausdrücklich so bezeichnete „Falschmünzerei" (1832:389) in einem gesonderten numismatischen Kapitel zur philologischen Enzyklopädie. Droysen demonstriert die Leistung der Echtheitskritik am Beispiel der Münzkunde, die wegen der vielen antiken Falschmünzereien unverzichtbar war (51967:102f). Auch die Münzkunde wird den Kriterien historisch-kritischer Philologie unterzogen. Wer eine falsche Münze als echtes Zahlungsmittel ausgibt, dient unter dem Deckmantel der Solvenz eigenen Zwecken. Das Zahlungsmittel selbst wird dabei entwertet. Misstrauen gegenüber der gängigen Münze beschützt vor dem Betrogenwerden und hilft, wahre Motive aufzudecken. Der Leichtgläubige ist der Betrogene; und wer nicht betrogen werden möchte, muss eine gesunde Skepsis entwickeln und wissen, woran man Fälschungen erkennt. Die Beschaffenheit der Münze spielt naturgemäß eine wichtige Rolle. Genaueste Analyse und Kritik sind, im übertragenen Sinn, das Prüfinstrument — und der Vergleich ihre bevorzugte Methode, denn man muss viele Münzen gesehen haben, um ein einzelnes Exemplar beur-
160 Nietzsche zeigt sich außerdem mehrfach als Anhänger einer modern anmutenden wissenschaftlichen Heuristik im Sinne einer Methodik zur Gewinnung vorläufiger, revidierbarer Wahrheiten (z.B. VII 25[449]). Man arbeite ja immer mit Voraussetzungen, und sei es nur mit der, dass Erkenntnis möglich sei (VII 1884 26[126]). Ferner appelliert er mehrfach an Ockhams Rasiermesser (z.B. J G B 1.13, 5:28 oder 2.36, 5:55).
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
teilen zu können. In der Gegenüberstellung von echten und falschen Münzen, auf der Grundlage möglichst breiter numismatischer Kenntnisse, kann der Experte den Wert bestimmen, so wie der Philologe durch systematische Recensio und, in der höheren Kritik, durch Belesenheit wachsende Gewissheit erlangt. Selbstverständlich gibt es daneben die Ahnungslosen, die mit Falschgeld handeln ohne es zu wissen: Nietzsche nennt sie ,„unbewusste' Falschmünzer"; in der deutschen Geschichte kämen sie häufig vor. Gemeint sind die idealistischen Philosophen, namentlich Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, aber selbst Kant und Leibniz. Diese „Schleiermacher" sollen „nie die Ehre haben, dass der erste r e c h t s c h a f f n e Geist in der Geschichte des Geistes, der Geist, in dem die Wahrheit zu Gericht kommt über die Falschmünzerei von vier Jahrtausenden, mit dem deutschen Geiste in Eins gerechnet wird." — Nietzsche meint naturgemäß sich selber (WA 3., 6:361). Warum gerade Schleiermacher in den Genuss des wenig originellen Namenwortspiels kommt, ist leicht einzusehen. Halb Philosoph, halb Theologe, ist er Verbindungsmann zwischen bewussten und unbewussten Falschmünzern und, besonders in seiner zweiten Rolle, derjenige, der das Kapital aus fragwürdiger theologischer Quelle unter die Leute bringt. Schleiermachers Name war wegen seiner epochemachenden Übersetzungen für die Zeitgenossen und gerade fur Klassische Philologen natürlich untrennbar mit Piaton verbunden. Schleiermacher wird schon in Menschliches, Alli^umenschliches (1.132, 2:125) als Begründer der „sich frei nennende [n] Theologie" seine Art und Weise psychologischer Erklärung religiöser Phänomene vorgeworfen161. Die
161
Gegen Schleiermacher findet sich schon ein frühes Zeugnis aus der Studienzeit, ein mögliches Indiz, dass Nietzsche die Abneigung gegen Schleiermacher von Ritsehl erbte. „Mir persönlich gefällt die Gestalt des Democrit gewaltig, freilich habe ich sie mir ganz neu reconstruiert, da unsre Philosophiehistoriker weder ihm noch Epikur je gerecht werden können, weil sie frumb sind und rechte Juden vor dem Herrn; am allerwenigsten aber der weibische, geistreichelnde, unwahre und unklare Schleiermacher" (Brief an Gersdorff, 1.2:350). Dieser antisemitische Seitenhieb sollte hier einmal mehr als Anspielung auf die platonisch-jüdisch-stoische Tradition der Allegorese verstanden werden, zu welcher Schleiermacher als christlicher Theologe und Platoniker nach Nietzsches Auffassung tendiert. Die deutsche Metaphysik ist für Nietzsche deshalb nichts anderes als die letzte Transformation christlichen Gedankenguts. Schon Heine hatte genau dieselbe Linie gezeichnet: „Ja, wie einst die alexandrinischen Philosophen allen ihren Scharfsinn aufgeboten, um, durch allegorische Auslegungen, die sinkende Religion des Jupiter vor dem gänzlichen Untergang zu bewahren: so versuchen unsere deutschen Philosophen etwas Aehnliches für die Religion Christi. Es kümmert uns wenig, zu untersuchen, ob diese Philosophen einen uneigennützigen Zweck haben; sehen wir sie aber in Verbindung mit der Parthey der Priester, deren materielle Interessen mit der Erhaltung des Catholizismus verknüpft sind, so nennen wir sie Jesuiten." (1979:191). Ähnlich auch Weygold: „Schon vor Z e n o n empfand man das Bedürfnis, den zumteil läppischen Göttersagen einen tieferen Sinn unterzulegen [...] Erst die Stoiker haben in ihrem Bestreben, die dem Untergang verfallene Volksreligion zu retten, das Geschäft der Umdeutung in dem Masse planmässig und umfassend betrieben, dass sie mit Recht als die eigentlichen Väter der Allegorik gelten können." (1883:210). Interessanterweise verwendet Heine an derselben Stelle und im selben Zusammenhang den Ausdruck von „bloßem Spinnweb" für die Systeme der (deutschen) Metaphysik — ein Bild, das auch Nietzsche immer wieder bemüht (z.B. ΜΑ 11.194, 2:464; Μ 71, 3:69; GM III.9, 5:357; AC 11, 6:178; viele Fälle im Zarathustrd).
3.2. Numismatisches
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„Tatsachen", auf die er sich stütze, seien nicht nachweisbar bzw. existierten gar nicht; er ersetzt ihn durch einen gut verschleierten pneumatischen Sinn. Wo keine echte Münze zu holen ist, wird Falschgeld gedruckt. Und wo es am Text mangelt, wird er eben zurechtgemacht bzw. aus billigem Material gefälscht. In den aphoristischen Büchern und im Spätwerk hat Nietzsche es sich zur Aufgabe gemacht, numismatische Gutachten auszustellen. Sie fallen meist vernichtend aus. Ein zuverlässiger Text ist die Ausnahme, selten wie reines Gold und feine Schmiedekunst. Die minderwertigen Legierungen sind die Regel, bedenklich, wenn sie als echte Ware angepriesen werden. Nietzsche kontrastiert die Falschmünzerei der Theologen und Philosophen mit ihrem gesteigerten Gegensatz. Die Philologie nämlich sei „Goldschmiedekunst" des Wortes (M Vorrede 5., 3:17). Der Text, dessen Eigenschaften und Bedeutungsumfang noch näher zu bestimmen ist, stellt keinen Fakt, sondern ein Artefakt dar, zu dessen Herstellung viel Geduld und Könnerschaft nötig sind. Nicht zufällig kommt der Begriff der Falschmünzerei bei Nietzsche zum ersten Mal in Zusammenhang mit seinen philologisch-literaturhistorischen Entdeckungen über die textuellen Verfälschungen Demokrits vor162. Einen Hinweis darauf, dass es sich hier um eine philologische Denkfigur handelt, liefert auch Karl Rosenkranz, der Nietzsche kaum bekannt gewesen sein dürfte. In der Einleitung zu seiner Ästhetik des Hässlichen aus dem Jahr 1853 streicht er den komparativen Charakter seiner Unternehmung heraus (1990:18f). Die deutsche Literaturgeschichte sei durch das „Zurechtmachen" (ein Lieblingsausdruck auch Nietzsches) der Physiologie, etwa durch das Verschweigen von Sexualität gekennzeichnet und „für Mädchenpensionate und höhere Töchterschulen schon ganz kastriert" worden. Dadurch sei „eine unglaubliche Falschmünzerei der Geschichte der Literatur in Gang gekommen, die auch schon über die pädagogischen Rücksichten hinaus die Auffassung entstellt und durch höchst einseitig ausgewählte traditionelle Blumenlesen unterstützt worden ist." (9). Rosenkranz war nach Ausbildung und wissenschaftlichen Interessen ein gediegener Philologe und hatte u.a. bei Lachmann studiert. Dass die Falschmünzerei beim späten Nietzsche im Kontrast zur Umwertung aller Werte steht, ist mehrfach aufgefallen (ausführlich und fundiert z.B. Sommer, 2000:153ff). Man vergleiche dazu den Brief an Georg Brandes vom 23. Mai 1888: Diese Wochen habe ich dazu benutzt, „ W e r t h e u m z u w e r t h e n " . — Sie verstehen diesen Tropus? — Im Grunde ist der Goldmacher die verdienstlichste Art Mensch, die es giebt: ich meine der, welcher aus Geringem, Verachtetem etwas Werthvolles und sogar Gold macht. Dieser allein bereichert; die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz kurios dies Mal: ich habe mich gefragt, was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist: - und daraus gerade habe ich mein „Gold" gemacht... (III.5:317f)
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Vgl. den Brief an Gersdorff vom 16. Februar 1868,1.2:255.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Nietzsches alchemistische Goldmacherei ist natürlich nicht notwendigerweise dasselbe wie die Goldschmiedekunst des Wortes der Philologie. Auffällig ist aber die Geschlossenheit der Metaphorik; die Goldschmiedekunst wäre gewissermaßen der nächste Schritt. Während die Falschmünzer das Wertvolle entwerten, wertet Nietzsches das Wertlose auf und veredelt es schließlich. Im selben Brief heißt es gleich im Anschluss: „Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man w i r d es thun." Gerade der Redliche muss ständig neue Beweise für seine Redlichkeit erbringen. Die historisch-kritische Methode, sei es in der Textphilologie oder der Numismatik, sie sei sogar übertragen auf metaphysisches Gebiet, garantiert für den späten Nietzsche in ihrer kritisch-zersetzenden die Uberwindung des Piatonismus in jeglicher Gestalt. Textuelle Unzulänglichkeiten nicht nur nachzuweisen, sondern selber Texte herzustellen, ist philosophische Wertsetzung, auch wenn diese nicht notwendigerweise gegen jeden Angriff gefeit ist. Die historisch-philologische Methode, darum nur ging es, ist an der Umwertung der Werte entscheidend beteiligt. Die folgenden Kapitel sollen diese Behauptung noch deutlicher belegen.
3.3. Chirurgisches Jörg Salaquarda hat Schopenhauer und Nietzsche als die zwei zentralen Denker im Paradigmenwechsel des neunzehnten Jahrhunderts identifiziert, die den Menschen nicht mehr vom Geist, sondern vom Körper her zu begreifen suchen. Dies habe auch methodische Konsequenzen: bei beiden lasse sich der methodische Vorrang des Leibes begründen aus seiner Unhintergehbarkeit, seiner Komplexität im Verhältnis zum Geist; hier liege die Ursache der methodischen Nähe zum Materialismus der modernen Naturwissenschaften, für die sich beide lebhaft interessiert hätten — wobei sich der Leib aufgrund seiner Komplexität gleichzeitig jeglichem platten mechanistischem Materialismus verweigere (1994:41)163. Die enge Verbindung von Nietzsches Leibdenken zur Philologie hat Salaquarda nicht gesehen. Die Philologie erst liefert das eigentliche Bindeglied zur Naturwissenschaft. In der Philologie steht der Text in seiner ganzen organischen Vielschichtigkeit als Soma der Auslegung bzw. Erklärung im Mittelpunkt. Die kritische Philologie der Ritschl-Schule und Nietzsches Schriften selbst strotzen deshalb vor einer medizinischen Metaphorik, die sich auf den Textleib bezieht. Wenn Nietzsche „aus Geringem, Verachtetem etwas Werthvolles" herstellen möchte, wie es im eben zitierten Brief an Brandes heißt, so beachte man zunächst, dass laut Nietzsche vor allem der Leib gering und verachtet ist, und zwar seitdem der Gegensatz von Rom und Judäa auf die Seite der christlichen Spiritualität aus-
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Zur Leib-Problematik s. ferner die Beiträge der 6. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta unter dem Titel „'Der Leib ist eine grosse Vernunft'" - Die Aktualität der Philosophie der Leiblichkeit Friedrich Nietzsches" vom 10.-13. September 1997, abgedruckt in Nf S/6 (2000).
3.3. Chirurgisches
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schlug. Die Wiedergewinnung des Leibes wird in der Tat zu Nietzsches zentralem Philosophem. Er steht darin ganz in der Tradition der Rehabilitierung der Sinnlichkeit des deutschen Organismusdenkens. Die Wiedergewinnung des Leibes stellt im übertragenen Sinne aber auch die extreme Metamorphose der philologischen Textkritik dar, deren Weiterentwicklung mit dem Aufkommen des Organismusdenkens aufs engste verflochten war164. Die Besinnung auf den Leib geht in Nietzsches Auseinandersetzung mit der Textverfälschung oder Falschmünzerei mit einer Besinnung auf den Textleib und den somatischen Sinn einher. Wenn der Philologe einen ,verdorbenen' Text verbessert, spricht er von ,Heilung', spricht er davon, den Finger auf die Wunden des verdorbenen Textes zu legen. Die Heilkunde liefert die Hintergrundmetapher des philologischen Selbstverständnisses schlechthin. Bei F.A. Wolf heißt es bezeichnenderweise: „Es geht in der Kritik, wie in der Medicin. Da giebt es Aerzte, die immer auf die Krankheit los curiren, von der sie eben lesen, oder sie haben eine Parthie Krankheiten, unter die sie alle bringen." (1831:329). Für Ritsehl ist der Philologe und Textkritiker eine Art Chirurg, der aus dem Leib des Textes krankes Fleisch wegschneidet und Wunden heilen lässt. Die Emendatio leitet sich ja etymologisch von der ,Heilung' her. Der griechische kritikos bzw. der lateinische criticus weisen noch in der Antike sowohl eine philologische wie medizinische Konnotation auf, und zwar im Sinne von urteilender bzw. scheidender Funktion (vgl. HWP, Lemma „Kritik", S. 1250f). „Es bleibt eine Wohltat, dass scharfe Messer erfunden sind, wenn auch mit ihnen gelegentlich mancher Unfug getrieben und einige Unschuldige todtgestochen werden.", so Ritsehl (1879:27). Sein bekannter Schüler Franz Bücheler argumentiert ähnlich. Weil sich die klassische Philologie als Disziplin ständig erweitere, müsse die methodische Grundlage, nämlich Hermeneutik und Kritik, wieder stärker betont werden. Hermeneutik und Kritik, obschon in der Theorie getrennt, seien doch in Wahrheit eins. Ritsehl sei der virtuose Meister der (Text-)Kritik (1878:5ff). Diese Art von Kritik ist letztlich Maß aller Dinge, denn sie sei „dem menschlichen Geiste, was Gesundheit dem Leibe" (26), besonders schlagkräftig deshalb, weil sie ja, auch wenn sie gelegentlich über ihr Ziel hinausschießt, als ihr eigenes „Correctiv" sofort wieder selbst dem „Gesetz der Kritik" unterworfen ist (ebd.)165.
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Eine Vertiefung dieses Umstandes würde an dieser Stelle zu weit fuhren. Die deutsche Philologie der Neuzeit ist schon seit Winckelmann und Herder, besonders aber in der Goethezeit auf vielfältige Weise von organizistischen Vorstellungen befruchtet worden: etwa in dem Sinne, dass Kulturen oder Sprachen als komplexe Organismen aufzufassen sind, deren Leiblichkeit ebenso real ist wie ihr geistiger Gehalt; dass Sprachen oder Kulturen demzufolge auch wie lebende Wesen untersucht werden mussten usw.
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Man vergleiche ferner das Porträt, das Büchelers Schüler Rudolf Borchardt in einem Nachruf aus dem Jahre 1908 zeichnet. Er würdigt vor allem Büchelers textkritische Arbeit und seinen kritischen Widerspruchsgeist, den dieser selbstverständlich auch von den Studenten fordert. Ein Beispiel aus einer Übung zur Emendatio einer Plautus-Stelle: „Bücheler zeigt, dass die bisherigen Verbesserungen nicht nur an sich unmöglich sondern methodisch falsch sind. Er betrachtet nicht mehr das einzelne Wort sondern das Gefuge, in dem es steht: und siehe da, es zeigt sich
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Nietzsche empfiehlt den Studenten in seiner Enzyklopädie in erster Linie methodisches Studium, jeden Tag solle man sich hierin üben „wie der Mediciner an seinem cadaver". Als Vorbilder nennt er Bentley, Wolf, Hermann und immer wieder vor allem Ritsehl (KGW II.3:388f). Nun klingt Nietzsches kryptische Devise, Philologie und Medizin seien gemeinsam die Gegnerinnen allen Aberglaubens (AC 47, 6:226), noch weniger überraschend - und die oben beschriebene Verbindung zur alexandrinischen Schule leuchtet noch mehr ein. Man sei nicht „Philolog und Arzt", ohne nicht zugleich Gegner des Christentums zu sein: „Als Philolog schaut man nämlich hinter die 'heiligen Bücher', als Arzt hinter die physiologische Verkommenheit des typischen Christen. Der Arzt sagt 'unheilbar', der Philolog 'Schwindel'..." (ebd.). Der Philologe ist gleichsam Anatom des Geistes. So wie es dem Priester an grundlegenden physiologischen Kenntnissen mangelt und seine Ratschläge zur Leib- und Lebensführung deshalb wenig förderlich bis schädlich sind, ist der Theologe ein schlechter Leser und Denker, weil er die Leiblichkeit des Gedankens, die sich in der Verfassung des Textes niederschlägt, missachtet. Ein guter Arzt ist mehr als ein versierter Anatom, aber ein Arzt kann nichts taugen ohne anatomische Kenntnisse — schon in seiner enzyklopädischen Vorlesung streicht Nietzsche heraus, dass Anatomie und Medizin in Alexandria gleichzeitig mit Grammatik und Kritik entstanden seien (KGW II.3:409)166. Im Spätwerk hat Nietzsche auf dergleichen philologisch-chirurgische Schulung höchsten Wert gelegt. Der ,Arzt der Kultur' aus der Frühzeit, der sich gegen die Dekadenz des modernen Lebens richtet, scheint wiederbelebt zu werden: „Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer fuhren — das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe" (AC 7, 6:174). Die medizinischphysiologische Metaphorik ist ferner in der Fröhlichen Wissenschaft und der Göt^enOämmerung besonders auffällig, aber nicht nur hier. In immer neuen Variationen ermahnt Nietzsche die Philosophen der Zukunft, Kritiker und Experimentatoren zu sein — als Vorlage dient der experimentell vorgehende Textkritiker. Wenn die kritische Wissenschaft als Werkzeug begriffen wird, kann sie die Philosophen der Zukunft geradezu auszeichnen. Der (philologisch geschulte) philosophische Kritiker ist der gesteigerte, weil methodisch gefestigte Skeptiker: E s ist kein Z w e i f e l : diese K o m m e n d e n w e r d e n a m w e n i g s t e n jener ernsten u n d nicht u n b e d e n k l i c h e n E i g e n s c h a f t e n e n t r a t h e n d ü r f e n , w e l c h e d e n Kritiker v o m S k e p t i k e r a b h e b e n , ich m e i n e die Sicherheit der W e r t h m a a s s e , die b e w u s s t e H a n d h a b u n g einer
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daß die Gesundheit, die anscheinend die eine wunde Stelle umgibt, ganz scheinbar ist; der Heilende verwandelt sich in den Zerstörer, reißt nach links und rechts das Pflaster vom schlechten Gewebe und grenzt das gesunde mit unfehlbarem Auge davon ab. Man sieht nun in die ganze traurige Verstümmelung hinein, man sucht selbst schon, halb unbewußt, während das Ohr dem Lehrer zuhört, nach Heilmitteln; da klingt die Glocke." (1990:54f) Im Mittelalter wird die Grammatik häufig allegorisch als Greisin dargestellt, die in einem elfenbeinernen Kästchen Instrumente zur chirurgischen Behandlung von Sprachfehlem aufbewahrt (Curtius, »1993:48f).
3.3. Chirurgisches
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Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das Alleinstehn und Sich-verantwortenkönnen; ja, sie gestehen bei sich eine L u s t am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu fuhren weiss, auch noch, wenn das Herz blutet. (JGB 6.210, 5:142ff)167
Das Gegenteil dieser medizinischen techne der Heilung des (Text-)Leibes ist seine Tötung, oder schlimmer — seine Vergewaltigung. Nietzsche hat die Vergewaltigung, wie eingangs geschildert, mit der Interpretation gleichgesetzt. Zum Wesen der Interpretation gehöre das „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen" (GM 111.24, 5:400). Das Umfälschen soll an die numismatischen Tricks der Allegoriker erinnern. Das vergewaltigende Wesen der Interpretation bezieht sich angesichts einer Fülle von Indizien in Nietzsches Werkkontext auf den achtlosen oder brutalen Umgang mit (Text-)Leiblichkeit und steht im Gegensatz zum medizinisch-philologischen Eingriff in heilender Absicht. Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen und Ausdichten: es sind keine zufälligen Begriffe, mit denen Nietzsche die Interpretation charakterisiert, sondern die eingedeutschten Begriffe für die verschiedenen Kategorien von Textkorruptionen168! Das Wesen der Interpretation liegt in der Missachtung des Textleibes. Um Phänomene erklären zu können, so wollte es die philologische Theorie, bedarf es des Zusammenspiels von Hermeneutik bzw. interpretatio und Kritik. Wenn Kritik aber nicht möglich ist, sei es nun dem Unvermögen des Erklärers oder der Schwierigkeit des Gegenstandes geschuldet, bleibt die Interpretation unkontrolliert. Folglich verfälscht und vergewaltigt sie ihren Gegenstand, das zu Interpretierende. Interpretation als Vergewaltigung findet immer dann statt, wenn, erstens, Recensio (und Emendatio) gar nicht erst gewollt sind, wie in der böswilligen Absicht des Falschmünzers; wenn, zweitens, nicht genügend Textzeugen vorliegen oder wenn, drittens, eine Recensio des Forschungsgegenstandes selbst bei strengster Redlichkeit die Kräfte des einzelnen Menschen übersteigt. Textualität und Textverfasstheit sind daher methodischer Prüfstein jeder Philosophie. Es sei hier ein Exkurs in Goethes Dichtung und Wahrheit angefügt, einem Werk, das nicht allein von Bedeutung ist, weil Nietzscheimmer wieder darauf zurückgriff, sondern weil hier die Wolfsche Philologie von einer Seite beleuchtet wird, 167
In den unredigierten Notizheften kehrt das Motiv der chirurgischen Zergliederung immer wieder. Siehe etwa Ν VII I S . 13 im Kontext der Auseinandersetzung mit Kritik und Wissenschaft und kritischer Zucht für die Philosophen. In Ν V I I I S. 17 will sich Nietzsche zwar nicht nur als „Analysten" und Experimentator sehen, gleichwohl sei die Kritik Vorbedingung seines Wesens als „die Lust am Neinsagen u. Zergliedern, die Sicherheit der Hand, welche das Messer führf' (Seite durchgestrichen): die hier von mir kursivierte Stelle tritt als Einsetzung auf der nicht durchgestrichenen S. 29 beim Lob der kritischen Zucht eines Kant, F.A. Wolf, Lessing, Niebuhr erneut auf - vgl. VII 34[221]. Dass Nietzsche ähnliche medizinische Metaphern u.a. bei Wolf gefunden hat, zeigen auch die Exzerpte zu „Wir Philologen", vgl. z.B. IV 3[35] zusammen mit dem KSA-Kommentar, KSA 14:558.
168
Nämlich solcher Fachtermini wie z.B. lacunae, luxaturae, omissiones 1831:314ff).
(vgl. z.B. Wolf,
110
3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
die Nietzsches eigene Position klarer hervortreten lässt. Die Stelle, um die es sich handelt, wird — und das ist nicht uninteressant — schon in Bernhardys Enzyklopädie als Einleitung zum Abschnitt über Hermeneutik und Kritik zitiert (vgl. 1832:56). Im Kontext der Auseinandersetzung mit der Bibelkritik beschreibt Goethe seine „Grundmeinung", wonach es bei aller Uberlieferung „auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks" ankomme. Dieser quasi göttliche Kern sei unverwüstlich; Zeit und äußere Einwirkung könne ihm nicht mehr anhaben „als die Krankheit des Körpers einer wohlgebildeten Seele". Diese medizinische Metaphorik wird ganz im Wolfschen Sinne auf den Prozess der Exegese übertragen: So sei nun Sprache, Dialekt, Eigentümlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Körper eines jeden geistigen Werks anzusehn; dieser, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, sei jedoch der Verschlimmerung, dem Verderbnis ausgesetzt: wie denn überhaupt keine Uberlieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben und, wenn sie auch rein gegeben würde, in der Folge jederzeit vollkommen verständlich sein könnte, jenes wegen Unzulänglichkeit der Organe, durch welche überliefert wird, dieses wegen des Unterschieds der Zeiten, der Orte, besonders aber wegen der Verschiedenheit menschlicher Fähigkeiten und Denkweisen; weshalb denn ja auch die Ausleger sich niemals vergleichen werden.
Nun bestehe die eigentliche Aufgabe darin, so Goethe, das „Innere" der Schrift zu erforschen „und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde". Das unwesentliche Äußere könne man dagegen getrost der Kritik überlassen. Goethe unterscheidet freilich noch die redliche von der unredlichen Forschung; letztere, womit offensichtlich v.a. genaue Sachkommentare gemeint sind, nahm er „mit Freuden auf, und fuhr fort, allen [...] Scharfsinn an den so werten Überlieferungen zu üben." (Goethe, HA Bd. 9:509ff). Die Unfruchtbarkeit bloßer Kritik hatte Nietzsche, nicht zuletzt von Goethe inspiriert, in seiner Jugend angeprangert. Nun aber ist er über ihn hinausgegangen. Das Innere einer Überlieferung lässt sich von seiner körperlichen Basis nicht mehr trennen. Eine Schrift kann nur dann befruchten, wenn sie selbst ,gesund' ist, denn sonst wirkt sie ansteckend und überträgt ihre Krankheit auf die Verfassung des auslegenden Geistes. Was Goethe an anderer Stelle bemerkt hatte, dass nämlich die Wolfsche Kritik auf religiöse Schriften angewendet nur schädlich und zerstörerisch wirke, während große Poesie davon profitiere und letztlich intakt bleibe169, spricht nurmehr für sie. Auf den synthetischen Ansatz bzw. das endgültige Ziel, aus der Lektüre nämlich Anleitung zum eigenen Handeln zu gewinnen, muss damit nicht verzichtet werden. Ohne intellektuelle Redlichkeit aber ist es nichts wert. Im Kapitel „Von den Hinterweltlern" im ersten Teil des Zarathustra hat Nietzsche ein kritisches und wenig verhülltes Selbstporträt seines jugendlichen alter 169 N a c h Eckermanns Gesprächen mit Goethe (1. Februar 1827, Eckermann, 1968:214), „dem besten deutschen Buche, das es giebt" (WS 109, 2:599)
3.3. Chirurgisches
111
ego gezeichnet170: „Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Eines leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da die Welt." Der Dionysos der Tragödienschrift ist eine hinterweltlerische, also letztlich unbewiesene platonische Idealisierung. Die landläufige Auffassung, wonach Nietzsche mit dem Zarathustra wieder zu Positionen der Jugendzeit zurückkehre, könnte ungereimter nicht sein. Die Erfindung der Welt als Traum und „trunkne Lust" des Dionysos, als das Wegsehn vom eigenen Leiden, wird hier als „Wahn" dem „Wahnsinn" jeglicher menschlicher Erfindung gleich welcher Götter angeprangert. Nicht aus dem Jenseits kam die Idee des Dionysos, sondern sie entsprang dem Leiden Zarathustras an der Welt selbst: „Der Leib war's, der am Leibe verzweifelte", der an der Erde (ver-)zweifelte und sich zum Tröste eine Hinterwelt erfand. Gegen die Kranken und absterbenden Leibverächter, die das Himmlische erfanden, um dorthin aus ihrem Elend zu fliehen - die Religion und Allegorese des Dionysos macht keine Ausnahme —, setzt er den Sinn für die Erde und den gesunden Leib. Über die Dichter und Gottsüchtigen, meist „krankhaftes Volk", wird der Erkennende und seine Tugend der Redlichkeit erhoben: „Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommene und rechtwinklige: und er redet vom Sinn der Erde." (KSA 4:35ff) Die typische Schlusskadenz, mit ihren rhythmischen Anleihen bei der Asklepiadeischen Odenstrophe (wie Hölderlin sie gern verwendete) macht schon formal die neue Zielrichtung deutlich: so wie der Gedanke von der Form sich nicht trennen lässt, ist jede Philosophie Symptom der leiblichen Verfasstheit, die sie erzeugte171. Das Innere, den ,Geist' einer Philosophie, einer Schrift, eines Menschen von seinem Äußeren, seinem Leib zu trennen, ist unredlich. Kritik muss sich immer auf das Ganze erstrecken. Jede Annahme einer abstrakten Seele führt über die Allegorese unweigerlich zur fragwürdigen Annahme einer Hinterwelt. Der nüchterne Ausdruck Nietzsches für den „Sinn der Erde" außerhalb des Zarathustra lautet: Sinn für das Tatsächliche bzw. Tatsachensinn. Mit seiner Hilfe wird die genealogische Methode erst eigentlich produktiv.
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie Die Methodik der philologischen Textkritik wurde wissenschaftshistorisch in dem Moment angreifbar, als sie es mit Fällen zu tun bekam, in denen kein 170
171
Hier soll naturgemäß nicht behauptet werden, dass Zarathustra identisch mit Nietzsche oder auch nur dessen Sprachrohr ist. Gleichwohl gibt es nicht wenige Stellen im Zarathustra, an denen Nietzsche biographischen Stoff verarbeitet. Zweifellos gewollt ist deshalb die charakteristische Mischung aus erster und dritter Person im Zitat. „Zarathustras Philosophie ist nicht nur — und womöglich nicht in erster Linie — in dem niedergelegt, was er sagt, sondern darin, wie er es sagt. Tempo und Verhaltenheit, Ducken und Strecken, skandierte Rhythmik und melodisches Fließen haben ihr Maß im kollektiven Ensemble des mythischen Leibes, für den hier — in diesem poetischsten von Nietzsches Werken — der natürliche Körper steht." (Mattenklott, 1982:33)
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
umfangreiches Corpus an Handschriften mehr vorlag, auf dessen Grundlage man verlässliche Texte herstellen konnte. Hier handelt es sich um eine Bruchstelle in der Geschichte des neuzeitlichen Textbegriffs, die heute in Vergessenheit geraten ist. Seitdem die philologische Forschung vor allem mit mediävistischen oder neuphilologischen Forschungen assoziiert wird, mit einer Editionstechnik auf der Grundlage entweder sehr dürftiger oder aber überreicher Uberlieferung (handschriflich oder gar gedruckt), hat der Text einen neuen, autonomeren Status erlangt als noch für die Klassische Philologie zu Nietzsches Zeiten. Der Text, als Begriff der Antike unbekannt, bezeichnete anfangs den Gegenstand selbst, das Buch, die ausgeschmückte Bibel als Schriftträger. Er ist Fachterminus der liturgischen Tradition. Erst mit der Reformation und ihrem neuen Gewicht auf der Exegese wird der Begriff ganz zur reinen Schriftlichkeit abstrahiert. Max Scherner (1996), der den besten neueren Überblick zur Begriffsentwicklung vorgelegt hat, konzentriert sich auf die hermeneutische Tradition, die den Text schon immer als etwas Gegebenes, Auszulegendes ansieht. Die Anerkennung einer eigenen kritischen Tradition in der Begriffsgeschichte, nach welcher der Text als etwas Herzustellendes gilt, steht noch aus. Diese Tradition aber ist, wie gezeigt worden ist, die entscheidende für Nietzsche und bestimmt seinen Gebrauch des Wortes. Zu einem hergestellen Text gibt es auch einen Hersteller. Der Editor erwirbt Autorrechte. Ein kurioser philologischer Rechtsfall mag dies verdeutlichen. Karl Lachmann selbst, der konsequenteste Verteidiger einer interpretationsfreien Recensio, hatte anlässlich eines nicht vereinbarten Nachdrucks seiner LessingAusgabe auf Verletzung der Autorrechte geklagt, war aber vom Berliner Stadtgericht abgewiesen worden. Auch wenn der Textkritiker sich noch so sehr als schöpferischer Urheber ansah, galt dem Gericht das Copyright nur, wenn die Texte eigenhändig verfasst worden waren172. Lachmann protestierte und mahnte die Eigenleistungen des Editors an; mit einem bloßen „Corrector" mochte er nicht verwechselt werden: „Fleiss, Sorgfalt, Urtheil, Scharfsinn, sind dem Verein nicht schöpferisch genug: was ist ihm denn genug?" (1876b: 567). Die juristische Begründung des Stadtgerichts blieb jedoch kompromisslos: „Wie weit durch Bearbeitung eines fremden Textes Autorrechte erworben werden können, darüber giebt das Gesetz keinen Wink. Wenn aber auch in einzelnen Fällen für die Beurtheilung der Leistungen einer solchen Kritik, welche nicht bloss verbessernd, sondern auch den Text constituirend, ja vielleicht theilweise als Schöpferin des Textes, Schwierigkeiten daraus entstehen mögen, so verhält es sich doch im vorliegenden Falle mit der kritischen Thätigkeit des Klägers einfacher. In dieser Beziehung hat er nicht frei geschaffen, sondern durch Prüfung und Vergleichung verschiedener vorhandenen Handschriften und Ausgaben das Passende und Richtige ausgesucht und in frühere Drucke hineincorrigirt." (563). Ihre intellektu172
Siehe Lachmanns Polemik „Ausgaben classischer Werke darf jeder nachdrucken. Eine Warnung für Herausgeber" aus dem Jahr 1841, in Lachmann (1876b:558-576).
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
113
eile Redlichkeit und Strenge wurde der Recensio zum Verhängnis. Vor allem in der Version Ritschis ist diese Tradition der Textkritik gewiss nie so naiv gewesen wie gern angenommen (z.B. Brenner, 1998:275f), sondern wusste im Gegenteil, dass aller angestrebten Zurückhaltung der Persönlichkeit zum Trotz der Editor selbst eine Art Künstler ist, dem Anerkennung für seine Leistung gebührt. Der herzustellende Text als Kern der historisch-kritischen Philologie beruht weiter auf der Einsicht in die theoretische Unendlichkeit ihrer Aufgabe. Einer der wichtigsten Unterschiede der neuzeitlichen Philologie zur Theologie lautete, dass Texte nie für alle Zeiten gesichert, nie alle Schäden geheilt seien (vgl. Birt, 1913:164)173; hier radikalisierte sie die Bibelkritik. Statt einen heiligen Text für alle Zeiten wiederzugewinnen, bleibt für die Philologie die Reinigung und Erhaltung der Texte immer Prozess. Nicht-sakrale Texte überleben nur, wenn an ihnen immer wieder kritisch gearbeitet wird: dies schließt die Auslegung und Kommentierung auf textkritischer Grundlage ein. Schon die Kategorie des Archetypus als Ziel philologischer Arbeit im Kontrast zum eigentlichen Original zeigt, dass der sog. Lachmannschen Methode von vornherein eine textgenetische Matrix zugrundeliegt. Nietzsche argumentierte überraschend modern gegen den Ausschluss von Wiederholungen bzw. Varianten und Lesarten aus dem textkritischen Verfahren: M a n m u ß sich ja ü b e r h a u p t b e s c h e i d e n , in der T h e o g n i s k r i t i k die e c h t e n L e s a r t e n o d e r die e c h t e n G e d a n k e n f o l g e n w i e d e r herzustellen; w a s aber erreicht w e r d e n k a n n , ein deutliches B i l d d e r letzten R e d a c t i o n , ihrer Z w e c k e , i h r e s T e x t v e r f a h r e n s , das v e r bietet diese W i e d e r h o l u n g e n g e r i n g z u a c h t e n ; v i e l m e h r d ü r f t e n die n a c h f o l g e n d e n A u s f u h r u n g e n zeigen, w i e m a n sogar v o n b e s a g t e n W i e d e r h o l u n g e n a u s g e h e n m u ß , w e n n m a n ü b e r j e n e R e d a c t i o n u n d ihre Ziele sich b e l e h r e n will. 1 7 4
Der springende Punkt ist hierbei, dass Nietzsche als Textkritiker sich selbst wiederum kritisch mit dem ursprünglichen Redaktor der Theognis-Spruchsammlung auseinandersetzt, der seiner Auffassung nach ein schlechter Philologe ist. Er beschuldigt ihn, Theognis lediglich zu parodieren, um ihn als Lebemann, Trinker, Päderast u. dergl. darstellen zu können. Der Redaktor stellt die Texte des The173
174
Dieser Grundsatz gilt selbst dann, wenn der Text frei von jeder erkennbaren Crux, d.h. jedem nicht emendierbaren Überlieferungsfehler ist. Zitiert nach Nietzsches Originalaufsatz im „Rheinischen Museum": Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung. RM 22 (1867), S. 162. An Fritz Bornmanns Edition dieses Aufsatzes für die KGW ist naturgemäß nichts auszusetzen. Es lohnt sich aber bisweilen — nur deshalb sei diese Stelle eingefügt - den Originalkontext von Nietzsches Publikationen zu berücksichtigen, insbesondere wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um seine erste eigenständige wissenschaftliche Publikation handelt. Dieser Kontext geht durch die Sammelpublikation der Philologica verloren. Im Vergleich zu den anderen Aufsätzen derselben Ausgabe des „Rheinischen Museums" wird nämlich deutlich, wie eng der Bereich der Text- und Quellenkritik ist, auf die sich Nietzsche eingelassen hat - und wie erstaunlich weit er ihr schon zu entsprechen vermag. Seine genaue Scheidung der überlieferten Handschriftengruppen bzw. -familien endet in einem schönen Stemma (S. 166). Man versteht sehr gut, wie beeindruckt Ritsehl von der Gelehrsamkeit des knapp 23jährigen gewesen sein muss, der ,die Methode' tatsächlich schon in Vollendung beherrschte.
114
3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
ognis aus moralischen Gründen auf unzulässige Weise verfälschend zusammen, weil er ihn moralisch-pädagogisch kompromittieren wollte (179); um ihm zu schaden, sammelte er Parodien auf ihn (185). Aufgrund der dürftigen Quellenlage zu Theognis, so Nietzsche, sind schon die Alexandriner auf Schlüsse aus den Dichtungen selbst angewiesen, um überhaupt Anhaltspunkte zu Theognis' Leben zu haben. Die Schwierigkeiten der textkritischen Arbeit potenzieren sich bis ins Unendliche, wenn ihre Methode als Vorbild wissenschaftlicher Analyse auf andere Bereiche übertragen wird, wenn also z.B. die Kultur, der Mensch selbst oder gar die Natur metaphorisch als ,Text' angesehen wird, den es zu erklären gilt. Die Komplexität dieser Objekte macht redliche Arbeit so gut wie unmöglich und lässt philologische Akribie nur eingeschränkt zu. Nietzsche unterscheidet deshalb vier Domänen nach Maßgabe ihrer Erklärbarkeit, d.h. nach dem Status ihrer Textualisierbarkeit. Die scheinbare Widersprüchlichkeit von Nietzsches Aussagen zur Interpretation kommt dadurch zustande, dass diese Differenzierung nicht wahrgenommen wurde. Bei den vier Domänen handelt es sich um (1) schriftliche Überlieferungen, (2) menschliche Kultur und Gesellschaft im weitesten Sinne, (3) die „Thatsache Mensch" (WA Vorwort, 6:12) sowie (4) die ,Natur', d.h. das außerhalb des Menschen liegende Objekt der (Natur-)Wissenschaften. Die Schwierigkeiten beim philologischen Umgang mit schriftlich überlieferten Texten — dem Modellfall von Erklärung und Auslegung schlechthin — wurden bereits genannt. Sie werden dann von allgemeinem, d.h. über die Wissenschaft hinausgehendem Interesse, wenn sie bei Texten auftreten, an denen sich eine Kultur oder Gesellschaft ausrichtet, namentlich bei sakralem Schrifttum bzw. dessen Ersatz. Nietzsche hat besonders die Evangelien bzw. die Bibelkritik immer wieder an den wissenschaftlichen Maßstäben der Philologie gemessen: Die Zeit ist fern, wo auch ich, gleich jedem jungen Gelehrten, mit der klugen Langsamkeit eines raffinirten Philologen das Werk des unvergleichlichen Strauss auskostete. Damals war ich zwanzig Jahre alt: jetzt bin ich zu ernst dafür. Was gehen mich die Widersprüche der „Uberlieferung" an? Wie kann man Heiligen-Legenden überhaupt „Uberlieferung" nennen! Die Geschichten von Heiligen sind die zweideutigste Litteratur, die es überhaupt giebt: auf sie die wissenschaftliche Methode anwenden, w e n n s o n s t k e i n e U r k u n d e n v o r l i e g e n , scheint mir von vornherein verurtheilt blosser gelehrter Müssiggang... (AC 28, 6:199)
Während über die mit alexandrinischer Methodik redlich behandelten Überlieferungen oder aber über kleine rein sprachliche Schwierigkeiten der Bibel meist die „Wahrheit gesagt werden kann" (s.o.), ist der Textstand der Heiligen Schrift notorisch unzuverlässig, da er von unredlichen Verfassern und Redaktoren stammt, die, allen wissenschaftlichen Prinzipien zum Hohn, unverhohlen ihre eigenen Zwecke verfolgen und, wie der Redaktor des Theognis, auf moralische Einflussnahme zielen. Der Fall Jesus kommt der unlösbaren Aufgabe gleich, vor die sich
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
115
die Philologie angesichts eines codex unicus gestellt sieht, einer singulären Überlieferung, die eine Recensio unmöglich macht175. Das Lob David Friedrich Strauss' wird jeden Leser der ersten Un^eitgemässen überraschen. Es ist wohl kaum eine Entschuldigung gegenüber Strauss (so z.B. Thouard, 2000 — der das Zitat verkürzt und ausgerechnet den entscheidenden textkritischen Passus fortlässt). Die Ironie, die darin mitschwingt, ist vor allem Selbstironie gegenüber dem eigenen jungen Selbst176. Sie kommentiert eine Erkenntnis, zu der Nietzsche erst in seinem langsamen Lösungsprozess von der akademischen Philologie gelangte, dass die ,Methode' nämlich so universal und intersubjektiv nicht anwendbar ist, wie sie selbst von sich glaubte. Ein geschickter Falschmünzer, der, philologisch geschult, es darauf anlegt, kann nachfolgenden Generationen die redliche Erklärung unmöglich machen. Wo ein Text nicht mehr philologisch erstellt werden kann, ist der Erklärer auf psychologische Divination zurückverwiesen. Der weiteren Zurechtmachung und Vergewaltigung sind damit Tür und Tor geöffnet, da nur wenige Ausnahmepersonen jene intellektuelle Rechtschaffenheit aufbringen, deren Abwesenheit den Besitz der erforderlichen divinatorischen Kraft wertlos macht. Das Zitat enthält, wie der vorhergehende und der folgende Aphorismus zeigen, eine Anspielung auf Ernest Renan. Der gesamte Antichrist ist, wie die neuere Forschung demonstriert hat, als Kommentar zu und Auseinandersetzung mit Renan zu lesen177, bisweilen sogar als Nietzsches eigenes „Leben Jesu" in Antwort auf Strauss' gleichnamiges Werk sowie Renans IM Vie de Jesus (Thouard, 2000). So kritisiert Nietzsche gleich nach dem zweischneidigen Lob Strauss' die 175
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Schon in Aufzeichnungen aus dem Jahr 1865 heißt es über Strauss' lieben Jesu: „Voraussetzungslos kann keine historische Kritik in diesem Falle sein. Das Verhältniß Gottes zur Welt muß dem Forscher als feste Ansicht vorliegen. Daraus dann Verwerfung oder Annahme des Wunderbegriffs." (KGW 1.4:53). „In diesem Falle" bedeutet eine Einschränkung gegenüber der normalen philologischen Vorgangsweise, die in anderen Fällen bis zu einem gewissen Grade durchaus voraussetzungslos sein kann. Andreas Urs Sommer hat ausfuhrlich Nietzsches Inspiration durch Wellhausen beschrieben, dessen Nachweis der literarischen Fälschung des Pentateuch von ihm auf die Evangelien übertragen werde (2000b:417f). Freilich kann keine Rede von einer direkten Übernahme sein: Nietzsche fühlt sich von Wellhausen wohl lediglich in seinem philologischen Misstrauen bestätigt. David Friedrich Strauss hatte ihn in der Jugend begeistern können, da er in revolutionärer Weise die historisch-kritische Methode auf die Person Jesu anwandte. Noch in der Göthen-Dämmerung nennt er ihn deshalb den „ersten deutschen Freigeist" (GD Was den Deutschen abgeht 2, 6:104). Die erste Un^eitgemässe war bekanntlich eine Auftragsarbeit Wagners, die Nietzsche später selbst bereute. Freilich war ihm Strauss auch persönlich als Repräsentant des selbstzufriedenen Bürgertums suspekt, der ebenso wie dieses durch den vermeintlichen Sieg der deutschen Kultur als Modellfall der „Entartung" des deutschen Geistes gelten kann. Anlass war das Erscheinen des „Bierbank-Evangeliums" (ebd.), Strauss' vielgelesenen Der alte und der neue Glaube von 1872. Vgl. bes. Shapiro (1982), Sommer (2000b) sowie Campioni (2001), hier v.a. Kap. II, S. 51-107. Schon Barbera/Campioni (1984) konnten zeigen, wie der Antichrist aus der Polemik gegen Renans Versuch, das Christentum in der Figur des Jesus als Genie zu retten, wuchs: „ein Versuch, der von Nietzsche als Symptom der Korruption der Vernunft und der innersten Instinkte gesehen wird" (299). Renan werde von Nietzsche als symptomatisch für die Erkrankung der Willenskraft des modernen Frankreich gelesen (Campioni, 2001:74).
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
mangelhaften psychologischen, d.h. divinatorischen Fähigkeiten Renans, dem es angesichts der fehlerhaften Überlieferung nicht gelinge, eine angemessene „Erklärung" (!) des Typus Jesus zu erarbeiten (AC 29, 6:199f). Der Grund für die heftige Auseinandersetzung Nietzsches mit Renan liegt nicht gleich auf der Hand. Lange suchen muss man ihn freilich nicht. Im gesamten Antichrist — ein Echo auf ein Buch Renans desselben Titels (JJAntechrist von 1873) - steht die Verfälschung der Uberlieferung durch die Priester, etwa die Verfälschung der Geschichte Israels und des Alten Testaments auf der Anklagebank. Renan ist der Widergänger jener Priester, das Urbild des schlechten Philologen, von dem sich Nietzsche unterscheiden will. Die Insistenz auf der ,guten Philologie' im Antichrist hat genau diese Funktion. Renan ist eine Inkarnation des Paulus, die es mit denselben Waffen wie jenen, nämlich denen der Wissenschaft zu bekämpfen gilt. In einem Nachlassfragment, das sich mit der Psychologie des Paulus, den Kirchenvätern sowie mit der Jesus-Auffassung Renans auseinandersetzt, heißt es bezeichnenderweise: Alle diese heiligen Epileptiker und Gesichte-Seher besaßen nicht ein Tausendstel von jener Rechtschaffenheit der Selbstcritik, mit der heute ein Philologe einen Text liest oder ein historisches Ereigniß auf seine Wahrheit prüft... [Absatz] es sind, im Vergleich uns, moralische Cretins ... (VIII 14[57]; Kursivierung von mir).
Renans Jesusbuch sowie seine anderen Schriften aus der Reihe zur Histoire des Origines du Christianisme erfüllten ja dem Anschein nach alle Forderungen des jungen Nietzsche. Sie gaben sich wie die Tragödienschrift als dichterische Geschichte mit wissenschaftlichem Anspruch, als Kunst auf dem Boden harter Kritik. Auch Renans Reflexionen über das Wesen der Wissenschaft werden anfangs von der Philologie bestimmt; selbst das Motiv des Fabrikarbeiters findet sich bei ihm (vgl. Barbera/Campioni, 1984). Nietzsches Antichrist und Renans Werk stammten offensichtlich aus derselben Tradition der historisch-kritischen Philologie und Bibelkritik sowie der Erforschung des Ursprungs des Christentums. Nach Ausbildung und Forschungserfahrung war auch Renan Philologe178. Renans voluminöse Bände beginnen stets mit Quellenkritik, die dem Ausweis der Wissenschaftlichkeit der nachfolgenden Erzählung dienen soll. Dem oberflächlichen Betrachter musste Nietzsche im Antichrist deshalb als bloßer Epigone des Franzosen erscheinen — so wie er ja wenige Jahre zuvor im Anschluss an Paul Ree als Epigone und Popularisierer der englischen Moralphilosophie gegolten hatte. Nietzsche konnte sich seinem Antipoden jedoch femer nicht fühlen. Die Angst vor der Verwechslung wird spätestens seit dem Bruch mit Wagner zu einem Grundzug seines Denkens und Schreibens, und zwar mit einiger Berechti178
In einem Brief an Köselitz vom 15. Januar 1888 erwähnt Nietzsche ein Buch von Georg Brandes mit Aufsätzen über Renan, Flaubert, die Goncourts u.a., das ihm gerade zugegangen sei: „feines Zeug, wie es scheint." (111.5:233). Es handelt sich um den Titel, der in Nietzsches nachgelassener Bibliothek noch vorhanden ist. Im Aufsatz über Renan wird dieser gleich auf der ersten Seite als „Philologe" vorgestellt (Brandes, 2 1887:73).
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
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gung: selbst ein Georg Brandes wird Nietzsche mit Renan vergleichen179. Gegen Renans unzureichende Wissenschaft setzt Nietzsche deshalb mit Nachdruck die strengeren methodischen Anforderungen der Bonner Schule. Renan kennt das Ergebnis seiner Untersuchungen immer schon vorher: Jesus soll bei ihm durch den Genie- und Heldenbegriff des neunzehnten Jahrhunderts erklärbar sein — was nebenbei auch Nietzsches Solidarisierung mit Strauss erklärt: Strauss ging es noch, wie Nietzsche, um Demystifizierung der Jesusfigur, nicht um ihre Verherrlichung. In Renans Sammelwerk Philosophische Dialoge und Fragmente, das Nietzsche in der deutschen Übersetzung Zdekauers von 1877 sehr genau durchgearbeitet hatte, tritt entsprechend ein Autor zutage, der den Gottesbegriff mit moderner Wissenschaft zu vereinbaren sucht. Neuzeitliche Physik und Chemie vertragen sich als Wissenschaften offenbar ohne weiteres mit religiösem Gedankengut. Der Essay „Die Naturwissenschaften und die historischen Wissenschaften" (S. 113-140) verlangt die induktive, positivistische Methode auch für die Geschichtswissenschaft. Renans Wissenschaftsgläubigkeit ersetzt die Theologie nicht, sondern bestärkt sie: absoluter Fortschritt in der Wissenschaft wird gleichbedeutend mit dem absoluten Zustand Gottes. In hegelianischer Denkfigur wird der Mensch zum Werkzeug der Natur, damit diese sich selbst erkenne und auf diese Weise zur absoluten Herrschaft des Geistes fortschreite (bes. S. 134ff). Renan musste auf Nietzsche als durch die deutsche Metaphysik noch weiter als ohnehin schon durch das Christentum verdorbener theologischer Schriftsteller erscheinen: „Was wir in allen Fällen behaupten können das ist, daß die schließliche Auferstehung sich durch die Wissenschaft vollziehen wird" (Renan, 1877:139). Ausdrücklich gegen Renan gerichtet heißt es deshalb bei Nietzsche: „Was hilft alle Freigeisterei, Modernität, Spötterei und Wendehals-Geschmeidigkeit, wenn man mit seinen Eingeweiden Christ, Katholik und sogar Priester geblieben ist!" (GD Streifzüge 2, 6:111 f). Nietzsche gesteht Renan durchaus Wissenschaftlichkeit zu, kritisiert aber ihren Missbrauch für christliche Zwecke180. Der Missbrauch unterscheidet sich von einer Instrumentalisierung oder Nutzung der Wissenschaft, wie sie Nietzsche selbst vorschwebte, dadurch, dass sie in den Dienst der Allegorese gestellt und damit ad absurdum geführt wird. Wenn Nietzsche Renan als unmännlich, gar als Eunuchen darstellt (GM III.26, 5:406f) hat dies also System: diese Eigenschaft 179 Vgl. Brandes (1901). Dagegen Nietzsche: „Ich will mit Niemandem mehr verwechselt werden". So Nietzsche an Köselitz am 17. April 1883, nach dem Ende seiner Beziehung zu Paul Ree, mit dem er ja in der Tat verwechselt worden war. „ V e r w e c h s e l t m i c h v o r a l l e m n i c h t ! " (EH Vorwort 1, 6:257) ist ein Imperativ, der allen seinen Schriften eingeschrieben ist und seine heftigen Ausfälle gerade gegen jene Autoren erklärt, die ihm besonders wichtig waren. Renan war übrigens einer der wenigen Franzosen, die im Hause Wagner geschätzt wurden (Näheres in Campioni, 2001). Vgl. auch den Brief Nietzsches vom 18. April 1873: „Der verehrungswürdigsten Frau Gemahlin schicke ich heute, mit den besten Grüßen, den Paulus von Renan (sie)." (11.3:145). 180
Zu Nietzsches Wahrnehmung Renans als religiösem Schriftsteller s. auch Zitat und Kommentar i n J G B 3.48, 5:69f.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
gehört im Antichrist zu den schlechten Philologen, die zwar die wissenschaftliche Methode schlecht und recht zu handhaben wissen, aber ihren ungesundunheilvollen Zwecken unterordnen. Für Texte aller Art, besonders für die zweideutige Literatur der Heiligenlegenden benötige man dagegen gute Philologie. Die Funktion der Feier der Philologie im Antichrist Regt vor allem darin, Renan auf dessen eigenen Prämissen zu begegnen und ihn durch ihre Widerlegung zu kompromittieren. Die Wolfsche und Ritschlsche Tradition der Philologie gestattet Nietzsche, sich gegenüber einer der Theologie dienenden Bibelkritik sowie gegen die Exzesse des Positivismus gleichermaßen abzugrenzen. An den Methoden verraten sich auch die Absichten181. Sind schon bei schriftlich überlieferten Denkmälern, dem Metier des Philologen, die Problemlagen mangelnder Zeugen, komplexer Sujets oder simplen bösen Willens unübersehbar, so potenzieren sich diese ins kaum noch Fassbare, wenn ganze geschichtliche Epochen untersucht werden sollen. Es will bei der Beschäftigung mit historischen Ereignissen bedacht sein, dass von redlicher Kritik nicht mehr die Rede sein kann, denn ein ,Text', den man sachlich kommentieren dürfte, ist vom Einzelnen gar nicht mehr herzustellen. Anlässlich seiner RenanLektüre äußert sich Nietzsche in einem Brief skeptisch gegenüber dessen Optimismus, dass „Geschichte überhaupt möglich" sei, da ja alles in steter Veränderung begriffen ist (an Overbeck, 23. Februar 1887,111.5:28). So spielt der Mangel an Philologie, der ein Mangel an Text ist, beispielsweise eine Rolle für die Erklärungsgeschichte der Französischen Revolution, in der schon zu ihrer Zeit „die schwärmerischen Zuschauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange und so 181
Günther Pflug hat Nietzsche in einem wichtigen Aufsatz bestätigt. Renan kannte sich nämlich in der neueren Philologie seit F.A. Wolf gar nicht aus, sondern meinte immer die alte Bibelkritik — er stützte sich v.a. auf die Literatur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Methodisch lasse sich bei ihm kein massiver Einfluss der deutschen Philologie und Bibelexegese nachweisen. Er habe sich später dann in erster Linie mit dem Positivismus (Comte etc.) beschäftigt und also die eigentliche deutsche Altertumswissenschaft und ihre Methodologie gewissermaßen übersprungen. Immer wieder versucht er, Wissen und Glauben zu vereinbaren: Wissenschaft solle experimentelle Bestätigung schon offenbarter Wahrheiten sein. Ausgerechnet durch Philologie findet er einen Glauben wieder, dem Wissenschaft als moderne Form der Religion untergeordnet wird. Die Philologie ist für ihn eine besonders herausgehobene Wissenschaft, weil sie als Vorstufe der Philosophie und exakteste Wissenschaft des menschlichen Geistes zwischen Wissen und Glauben vermittelt, vergleichbar der Chemie in den Naturwissenschaften. Methodisch entnimmt er der deutschen Philologie keine weltanschaulichen Elemente, sondern lediglich eine gewisse Pedanterie, d.h. die Wichtigkeit der Detailforschung etwa in der Textkritik ganz isolierter und unabhängiger Spezialisten. In den Arbeiten Renans, die für Nietzsche wichtig geworden sind, hat er sich schon längst von aller eigenen philologischen Forschung entfernt und benutzt ihre Resultate nur noch als Belege. Said (1983) enthält zwar einige nützliche Hinweise auf Renan, aber seine Darstellung Nietzsches sowie der Versuch, mit Hilfe von „Wir Philologen" zu einem Verständnis der Philologie des neunzehnten Jahrhunderts zu kommen, ist mehr als fragwürdig; „whenever ,philology' is spoken of around the end of the eighteenth century and the beginning of the nineteenth, we are to understand the new philology, whose major successes include comparative grammar, the reclassification of languages into families, and the final rejection of the divine origins of language." (197). Said reflektiert hier, wohl nicht zuletzt aufgrund mangelnder deutscher Sprachkenntnis, die Grenzen von Renans eigener Philologieauffassung.
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
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leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und Begeisterungen hinein interpretirt haben, bis der Text unter der I n t e r p r e t a t i o n v e r s c h w a n d " . (JGB 2.38, 5:56). Die schwärmerische Auslegung der Revolution ist politische Theologie, denn sie allegorisiert darin ihre eigenen Wunschvorstellungen, statt, wie es philologisch geboten wäre, kalt die Details zu analysieren. Die gesamte Auslegung historischer und kultureller Phänomene leidet an der UnZuverlässigkeit eben jener textuellen Basis, die überdies durch Interpretation zusätzlich vergewaltigt und verfälscht wird. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nur in der Vorstellung je existierten, da aus notwendigem Mangel an Kritik nur eine unkontrollierte Interpretation übrig bleibt: F a c t a ! J a F a c t a f i c t a ! — Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun [...] Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf w i r k t . (M 4.307, 3:224f)
Als Gegenprogramm entwirft Nietzsche in seinem optimistischen Neuanfang als freier Geist zunächst eine Art philologisch geschulter Kulturhistorie. Die philologisch-komparatistische Methodik auf die Geschichte anzuwenden gehörte zu den logischen Folgerungen aus den Grundsätzen der Bonner Schule. Bereits Ritsehl hatte in seinen Vorlesungen dargelegt: „In der That ist zwischen einer Lesart und einem historischen Verhältniss des Staats-, Religionslebens u. s. w. durchaus gar kein wesentlicher Unterschied, beide sind Thatsachen, entweder klar und unverfälscht, oder verdunkelt und verdorben überliefert." (nach Ribbeck, 1879, Bd. 1:329f) — einschränkend hatte Ritsehl freilich hinzugefügt, dass in letzterem Falle Hypothesen zu Gebote stünden, „die nur möglichst viel innere Wahrscheinlichkeit haben müssen." Ohne Urteilsvermögen und Divination geht es eben auch hier nicht. Gegenüber der Konjunkturalkritik ist sogar ein erheblich gesteigertes Maß an schöpferischer Phantasie vonnöten. Schon früh ruft Nietzsche das „Zeitalter der Vergleichung" aus (ΜΑ 1.23, 2:44), das „eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele" (ΜΑ 1.25, 2:46) zur Voraussetzung macht, um in Zukunft überhaupt noch moralische und allgemeine gesellschaftliche Fragen diskutieren zu können. Ein immenses Projekt. Der ,Arzt der Kultur', zu dem sich Nietzsche in dieser Zeit gern stilisiert, muss zunächst eine umfangreiche Recensio liefern, ehe ans Emendieren, also Heilen dieser Kultur überhaupt zu denken ist. Hier wird die philologische Attitüde bewusst angenommen, und zwar durchaus unter Verwendung philologischer Begrifflichkeit, die freilich in den veröffentlichten Werken häufig wieder verschleiert wird. Die Hoffnung, kulturelle Phänomene gewissermaßen textlich dingfest zu machen, ihnen eine materiale Gestalt zu verleihen, an welcher der Philologe seine Lesekünste und seine heilende Kritik erproben könnte, lässt sich geraume Zeit
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
lang beobachten. In Der Wanderer und sein Schatten beschreibt Nietzsche etwa den Kultus als einen ,,feste[n] Wort-Text", der im Laufe der Geschichte funktionell bestehen bleibt, aber immer wieder neu „ausgedeutet" würde (KSA 2:587): Man kann durch Vergleichung der Völker beweisen, daß d i e s hier als g u t und d o r t als s c h l e c h t empfunden wird: aber der G e g e n s a t z selbst von „gut" und „schlecht" ist überall vorhanden: nur daß die Handlungen anders e i n r u b r i z i e r t werden. (VII 7[75])
Nietzsches Arbeitswut kennt auf diesem Gebiet keine Grenzen und begleitet ihn durch seine gesamte intellektuelle Biographie. Anlässlich des Verhältnisses von Buddhismus und Christentum äußert er den indischen Gelehrten gegenüber seine Dankbarkeit, dass man beide jetzt vergleichen könne (AC 20, 6:186). Aus diesem philologischen Komparatismus stammt letztlich das erstaunliche und erstaunlich frühe Interesse Nietzsches an der zeitgenössischen Ethnologie, das seit den siebziger Jahren nachweisbar ist und intensive Beschäftigung mit völkerkundlichen Fragen schon des Basler Gelehrten zur Folge hat. Zu nennen sind hier vor allem Ethnologen aus dem angelsächsischen Raum wie Edward Tylor und John Lubbock, aber auch deutsche Kulturanthropologen wie Adolf Bastian182. Nietzsche arbeitet ferner solche Abhandlungen wie die rechtswissenschaftlichen Darstellungen auf ethnologischer Grundlage eines Joseph Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung oder eines Albert Hermann Post, Hausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis, durch183. Zum ersten Mal begegnet Nietzsche die vergleichende Ethnologie und Kulturanthropologie bei F.A. Lange, wie überhaupt fast alle nicht-belletristischen Autoren, mit denen sich Nietzsche später am intensivsten auseinandersetzt, hier erstmalig in seiner Lesebiographie auftauchen. Lange lobt die Arbeiten Humboldts, Bopps und Steinthals zur vergleichenden Sprachforschung. Leider seien die wissenschaftlichen Reisen (gemeint ist ethnologische Feldforschung) aufgrund der Vorurteile der Berichterstatter, „ihrem Rassenstolz und ihrer Unfähigkeit, sich in den Zusammenhang eines fremdartigen Kulturlebens oder in die Denkweise niederer Kulturstufen hinein182
Tylors grundlegendes Werk Primitive Cultures von 1871 hat Nietzsche nachweislich gekannt. Von Lubbock las er On the Origin of Civilisation and the Primitive Condition of Man. Mental and Soäal Conditions of Savages (1870) in der deutschen Ubersetzung, die in der nachgelassenen Bibliothek erhalten ist (John Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben der Wilden. Ubers, v. A. Passow, nebst einleitendem Vorwort v. Rudolf Virchow, Jena, 1875). Diese Seite Nietzsches ist noch immer zu wenig erforscht, bisher lassen sich guten Gewissens allenfalls die höchst aufschlussreiche Quellenstudie von Orsucci (1996) sowie Thatcher (1983) empfehlen. Ein Hinweis auf die Lektüre Lubbocks findet sich schon in MA 1.111,2:112.
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In Nietzsches nachgelassener Bibliothek sind diese Werke erhalten: Joseph Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung. Einleitung in die vergleichende Rechtswissenschaft, Würzburg, Stahel'sche Univers.Buch- & Kunsthandlung, 1885 und Albert Hermann Post, Hausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. 2 Bd. Oldenburg, Schulzesche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei, 1880-81. Das Buch ist sehr genau durchgearbeitet worden. Man beachte hier wiederum S. 2 des ersten Bandes und den Verweis auf die hervorragende „comparative Methode" namentlich Bastians, Tylors und Lubbocks.
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
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zuversetzen" wenig ertragreich gewesen (Lange, 1974, Bd. 2:832f). Erst in jüngster Zeit habe sich dies gebessert, namentlich werden Bastian sowie Lubbock und Tylor gelobt; letztere zitiert Lange immer wieder gern und ausgiebig. Indes erweist sich für Nietzsche die Vorstellung, einen Text der Geschichte, der Kultur- und Moralvorstellungen etablieren zu können, als schwierig, ja im Grunde unmöglich, nicht zuletzt da „in der gesamten Geschichte der Menschheit bisher kein Zweck, keine vernünftige geheime Leitung, kein Instinkt, sondern Zufall, Zufall, Zufall" gewirkt haben (V 1 [63]). Nun hatte zwar schon F.A. Wolf mit seinen Prolegomena ad Homerum bewiesen, dass man keinen einzelnen Autor und damit keine einheitliche intentio auctoris zur Herstellung eines zuverlässigen Textes annehmen muss. Wer sollte dieser Autor der Geschichte auch sein? Für Nietzsche kommt eine göttliche Instanz nicht in Frage. Aber die einzelnen Fragmente der Geschichte sind ja durchaus intentional, wenn möglicherweise auch nur einem blinden Willen unterworfen. Die Konsequenz wäre, jeden einzelnen Willen, jedes einzelne Subjekt im chaotischen Zusammenspiel berücksichtigen zu müssen: eine unlösbare Aufgabe. Denkt man Nietzsches Einsichten zu Ende — und er selbst hat es getan —, dann ist jede Moralphilosophie (als Ziel und Ausfluss jeder Kulturbetrachtung) schlechte Philologie. „Es giebt gar keine moralischen Phänomene; sondern nur eine moralische Interpretation gewisser Phänomene ( - eine irrthümliche Interpretation!)" (VII 3[1]) - in VIII 2[165] auch als „Hauptsatz" bezeichnet! Kultur- und moralhistorische Phänomene sind schlicht zu komplex, um ihnen gerecht zu werden. Jede bescheidene Auswahl ist deshalb unredlich und ihrerseits eine moralische, d.h. von bestimmten Wertvorstellungen geleitete Interpretation. Der Ausdruck „gewisse Phänomene" betont diesen Auswahlcharakter der Moralphilosophie, verweist aber ebenfalls auf die Herkunft der Moralsysteme selbst, die in den Motiven der einzelnen Individuen, sie mögen bewusst oder unbewusst sein, liegt. Deskriptiv betrachtet sind die Moralen (Plural!) nur eine Zeichensprache der Affekte, eine Zeichensprache des individuellen Leibes (VII 7 [58] bzw. [268]). Alle Religionen und Philosophien sind folglich Symptome eines bestimmten leiblichen Befindens (VII 25[407])184. Normativ bedeutet Moral den Versuch, den Fluss der Geschichte zu verfestigen: „Die Thatsache ist der ewige Fluß. Der Staat bemüht sich, aus seinen Bürgern etwas von bleibendem Charakter zu machen, die Moral aus jedem Individuum etwas Festes" (V 4[35]). Die Begriffe Zeichen und Symptom benennen bei Nietzsche (nicht- bzw. vorsprachliche) ikonische Beziehungen. Ihnen muss nachgespürt werden, um auf dem Grund der oberflächlichen Moralen den Archetypus lebensbejahender und —fördernder Moral zu rekonstruieren185. Dieser Archetypus aber muss am Leib ausgerichtet sein, am 184 Vgl s c hon V 6[7]: „Oft wird ein Trieb mißverstanden, falsch gedeutet z.B. der Geschlechtstrieb, der Hunger, die Ruhmsucht. Vielleicht ist die ganze Moral eine A u s d e u t u n g physischer Triebe." 185
In der Tat stammt Nietzsches Forderung an die Philosophen, ,jenseits von Gut und Böse' zu denken, aus der Erkenntnis, dass es Moralphilosophie gar nicht geben kann, da es an morali-
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Leib verstanden als eine Art Palimpsest, den es vorsichtig zu entziffern gilt186. Erst dann, nach dem Vergleich unzähliger entzifferter Leib-Palimpseste, läge ein zur Auslegung geeigneter Text vor. Nur indem Nietzsche nach den leiblichen Voraussetzungen von Kulturen fragt, kann er seinem von Beginn an verfolgten Ziel näherkommen, nämlich jene Bedingungen zu isolieren, die zur Blüte der griechischen Kultur führten. Wer daraus die Schlussfolgerung zöge, Nietzsche würde angesichts eines Arbeitspensums, das jegliche menschliche Kräfte übersteigt, auf redliche Arbeit in der Domäne menschlicher Geschichte und Kultur verzichten, hätte ihn gründlich missverstanden. Dies würde ja der Falschmünzerei und jeglicher unredlich motivierter Auslegung den Weg ebnen und bei den zeitgenössischen Machtverhältnissen den Fortbestand des Christentums dauerhaft sichern. In den Notkbüchern kommt sein philologischer Widerwille gegen unredliche Verfälschungen besonders deutlich zum Ausdruck. Folgendes Zitat wird nach der Manuskriptedition wiedergegeben, die genauer als die verkürzende Entsprechung der KGW ist187: E b e n s o w i e ein g u t e r P h i l o l o g e [(und ü b e r h a u p t jeder philol. g e s c h u l t e Gelehrte)] ein e n W i d e r w i l l e n g e g e n falsche [ T e x t - ] A u s d e u t u n g e n (zb. die der [protest.] P r e d i g e r auf d e n K a n z e l n ) hat [— w e s h a l b die g e l e h r t e n S t ä n d e nicht m e h r in die K. g e h e n —], e b e n s o , u n d nicht in F o l g e g r o ß e r „ T u g e n d " „ R e d l i c h k e i t " u s w . g e h t e i n e m die F a l s c h m ü n z e r e i der [moral, u. religiösen] Interpretation aller E r l e b n i s s e g e g e n d e n G e s c h m a c k . (Ν V I I I S. 163).
Um dem Missverständnis vorzubeugen, die Einsicht in den interpretativen Charakter jeder Moralphilosophie begründe ihre Beliebigkeit, besonders die Beliebigkeit ihrer Genese, prägt Nietzsche nun den Ausdruck „Thatsachen-Sinn", der im publizierten Werk zum ersten Mal (und zwar bereits in antimetaphysischer Funktion) im zweiten Band von Menschliches, All^umenschliches verwendet wird (VM 33, 2:395). In der Fröhlichen Wissenschaft werden die Anhänger Schopenhauers dafür kritisiert — Nietzsche setzt sich dabei versteckt nicht nur mit Wagner, sondern auch mit seinen eigenen frühen Positionen auseinander —, nur die wenig wertvollen Beiträge Schopenhauers aufzugreifen, seine „mystischen Verlegenheiten und
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sehen Phänomenen gebricht. „Das moralische Urtheil hat Das mit dem religiösen gemein, dass es an Realitäten glaubt, die keine sind" (GD Die „Verbesserer der Menschheit 1, 6:98). Moral ist deshalb nur eine Missdeutung bestimmter Phänomene (ebd.), es fehlt am Text - „Das moralische Urtheil ist insofern nie wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als S e m i o t i k unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug w u s s t e n , um sich selbst zu jVerstehn'. Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie: man muss bereits wissen, w o r u m es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen." (ebd.) Im Rückblick auf meine %n>ei Leipziger Jahre (KGW 1.4:506-539) beschreibt Nietzsche sein Interesse an Palimpsesten. Am regelmäßigsten und eifrigsten habe er deshalb Paläographie bei Tischendorf gehört sowie, durch Ritsehl vermittelt, viel mit Handschriften gearbeitet (522ff). In eckigen Klammern stehen hier an syntaktisch passender Stelle die später hinzugefugten Stellen, die im Original über dem Text stehen bzw. hineingezeichnet sind.
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
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Ausflüchte" dort, wo er sich „vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben liess" (FW 2.99, 3:453ff). Nietzsche nennt die metaphysische Lehre von dem einen Willen, der allen Erscheinungen zugrunde liege, nennt Ideenlehre, Genieästhetik und Mideidsmoral. Stattdessen hätten seine Anhänger lieber die voltairistischen Seiten Schopenhauers wahrnehmen sollen, seinen ,,gute[n] Wille[n] zu Helligkeit und Vernunft", die „Stärke seines intellectuellen Gewissens", seine „Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christlichen Gottes", seine Erkenntnisse über das Apriori der Kausalität, „der Werkzeug-Natur des Intellects und der Unfreiheit des Willens" — kurz: seinen harten „Thatsachen-Sinn" (ebd.). Der Tatsachensinn, der als „der letzte und werthvollste aller Sinne" in Griechenland entstanden sei (AC 59., 6:247ff), ging mit dem Aufkommen des Christentums wieder zugrunde. Erst die Neuzeit vermochte ihn wiederzubeleben. Der Tatsachensinn bezeichnet seit Nietzsches Abwendung von Wagner den Kontrast zu jeglichem Piatonismus. Die eigentliche Größe der Griechen habe darin gelegen, die menschliche Natur nicht verneint oder vernichtet, sondern in Kulten und Festen beschränkt und kanalisiert zu haben. Ihr Staat ist auf menschliche Eigenschaften hin ausgerichtet und bezeugt ihre Beobachtungsgabe, ihren „Sinn für das T h a t s ä c h l i c h e " , der sie eben auch zur Wissenschaft befähigte (IV 5[146]; vgl. VM 220, 2:473). Die Christen haben Sinn und Instinkt für wahre Dinge und Realitäten zerstört (AC 58, 6:246). Tatsachensinn ist die Anerkennung der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in allen Domänen, die sich nicht auf Dinge an sich reduzieren lassen188. Tatsachensinn und Hinterweltlersinn schließen einander aus. So bezweifelt Nietzsche Schopenhauers Annahme eines eingeborenen metaphysischen Bedürfnisses; dieses sei vielmehr umgekehrt erst aus der Religion erstanden, unter deren Herrschaft man sich daran gewöhnt habe, eine andere Welt als die je existierende anzunehmen189. Der redliche Umgang mit Tatsachen — Erscheinungen — lässt sich jedoch, und das ist entscheidend, nur anhand von Tatbeständen praktizieren. Tatbestände sind textualisierte (also nicht notwendigerweise kausale) Zusammenhänge von Tatsachen, die von einem beobachtenden Subjekt zum Zwecke ihrer Erklärung zusammenredigiert worden sind. Der Tatbestand ist die eigentlich interessante Ebene zwischen nicht direkt erkennbarem factum brutum auf der einen und Interpretation auf der anderen Seite. Die Tatsache der Erscheinung kann und muss gegen dogmatisch geleitete Auslegungen immer wieder ins Feld geführt werden. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die nach Nietzsches Auffassung unproblematische Domäne schriftlicher Texte: für sie gibt es ja, entsprechende Überlieferung vorausgesetzt, ausgebildete Philologen. Er gilt auch, wie gerade gezeigt, für die Domäne der menschlichen Kultur und Gesellschaft. Schließlich gilt er ebenso für die grundlegendere und 188
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Das Ding an sich ist für Nietzsche nur die letzte Inkarnation des christlichen Gottesbegriffs (s. z.B. AC 17, 6:184). FW 3.151, 3:494f; vgl. Schopenhauer, 1988, Bd.2, 17. Kapitel des 1. Buches, S. 184-218.
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noch kompliziertere Domäne der menschlichen Psyche. Der Typus des Heiligen beispielsweise beziehe seinen Ruf nur daher, dass man seine „Seelenzustände" falsch auslege, seine Bedeutung liegt mithin im „Zeichencharakter", den er für die Nicht-Heiligen gewinnt. Er selbst versteht „die Schriftzüge seiner Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der Interpretation, welche ebenso überspannt und künstlich [ist], wie die pneumatische Interpretation der Bibel." Statt zunächst den Text zu etablieren, konstruiere er lieber gleich den pneumatischen doppelten Sinn. „Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur, mit ihrer Zusammenkopplung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen, verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer verborgen." (ΜΑ 1.143, 2:139). Es gibt noch keinen ,Text' des Heiligentypus — Nietzsche wird sich an einem solchen versuchen. Die herkömmliche Psychologie habe dagegen angesichts des Menschentypus Heiliger versagt, indem sie moralische Wertgegensätze „in den Text und Thatbestand" hineingedeutet habe. Das scheinbar unerklärliche, allen psychologischen Grundannahmen widersprechende „Wunder" verdankte sich nur einem Mangel an Auslegungskunst und letztlich einem „Mangel an Philologie" (JGB 3.47, 5:69). Mangel an Philologie ist gewissermaßen der Normalfall und kann nur durch höchste Kraftanspannung und intellektuelle Redlichkeit auf kurze Zeit gebannt werden. In der eigenen Person so wie in einem Text zu lesen ist nicht möglich, da kein Text vorliegt190. Mag man auch ein noch so versierter Selbstbeobachter und -erkenner sein, so kann man doch die eigene Triebstruktur, den Grundtext unserer Existenz, nie wirklich erfassen, wie Nietzsche in seinem wichtigen, die Psychoanalyse vorwegnehmenden Aphorismus 119 in der Morgenröthe schreibt. Statt kritisch-philologisch gelesen zu werden, wird diese Triebstruktur nurmehr platt interpretiert, am offensichtlichsten im Traum: Träume haben den Sinn, die ausbleibende Befriedigung bestimmter Triebe zu kompensieren (bestimmte moralische' Triebe lassen sich im Gegensatz zum Hunger auf diese Weise befriedigen) und seien nichts als sehr freie und willkürliche Interpretationen der Nervenreize, „von Bewegungen des Blutes und der Eingeweide, vom Druck des Armes und der Decken, von den Thönen der Thurmglocken, der Wetterhähne, der Nachtschwärmer und anderer Dinge dieser Art. Dass dieser Text, der allgemein doch für eine Nacht wie für die andere sehr ähnlich bleibt, so verschieden commentirt wird" habe verschiedene Ursachen, jedenfalls sei immer ein anderer Trieb obenauf (KSA 3:111-114). Das wache Leben habe zwar nicht diese Freiheit der Interpretation, aber der grundlegende Mechanismus sei derselbe; unsere Triebe interpretieren auch im Wachen lediglich die Nervenreize und schreiben ihnen je nach Bedürfnis bestimmte Ursachen zu. Nietzsches resignierte Schlussfolgerung lautet, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Wachen und Träumen gebe und dass ferner „selbst bei einer Vergleichung sehr verschiedener Culturstufen" ,,unbezwingliche[s] Misstrauen gegen die Möglichkeit der Selbst-Erkenntniss" (JGB 9-281, 5:230)
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
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die Freiheit der einen Interpretation im Wachen möglicherweise dem TraumErleben der Person einer anderen Kultur entspricht. Alles Bewusstsein ist vielleicht „ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text". Von hier ist es nur ein Schritt zu der Auffassung, dass auch die bewusste Auslegung der Welt sich an den Prozess der unbewussten anlehnt, dass also alle Auslegung typischerweise einem phantastischen, keinem philologischen Kommentar entspricht. Alle bewussten Motive sind nämlich nur Oberflächenphänomene, Übertragungen des Kampfes der Triebe, der ein Kampf um Gewalt ist (vgl. VIII 1 [20])191. Der Mensch legt unverstandene körperliche Leiden fälschlich als moralische Leiden aus, mit dem Zweck, diese Leiden an sich selbst und an anderen zu rächen (VII 26[206]; vgl. oben). Der eigene Leib kann deshalb nicht mehr als Text begriffen werden, den es auszulegen gilt, sondern höchstens als zurechtgemachter, verfälschter, interpolierter Text, der auf diese Weise schon eine Interpretation darstellt. So ist im Grunde jede Philosophie eine Auslegung und ein Missverständnis des eigenen Leibes des Philosophen (vgl. FW Vorrede 2, 3:348f). Die Philosophie kann sich deshalb auch nicht mehr über sich selbst aufklären, sondern bedarf der divinatorischen Prüfung von außerhalb. Die ,Psychologie' muss ihr vorgeordnet sein. Nietzsches Psychologie ist die unter philologischen Vorzeichen stehende metaphorische Fortschreibung neukantianischen Gedankenguts, wie er es bei F.A. Lange kennengelernt hatte. Welche Konsequenzen hat es eigentlich, wenn die Divinatio aufgrund unzuverlässiger oder unzureichender ,Textzeugen' privilegiert werden muss? Die Aufgabe lautet zunächst, auch ihr wiederum ein methodisches Gepräge zu geben, sie, gerade wenn es wie in der Selbstbeobachtung um Erkenntnis auch der eigenen Beobachtungsfähigkeit geht, aus der Selbstreferentialität zu befreien, einen Ort zu finden, der demjenigen des Redaktors gegenüber den Uberlieferungen gleicht — dies alles muss Inhalt redlicher Forschung sein. Langes Kapitel „Die naturwissenschaftliche Psychologie" (Lange, 1974, Bd. 2: 818-849) hat Nietzsche deshalb gründlich gelesen. Hier tauchen neben den genannten Vertretern der sog. Völkerpsychologie wie Lubbock, Tylor und Bastian auch andere Namen erstmals auf, die ihn bald stark beschäftigen sollen, Darwin und Spencer etwa, John Stuart Mill, Henry Buckle oder Alexander Bain; allesamt Verfasser, die in Nietzsches nachgelassener Bibliothek und in zahlreichen seiner Lektürefrüchte figurieren. In seiner Abhandlung warnt Lange vor den überzogenen Hoffnungen des Jahrhunderts, die Psychologie rein naturwissenschaftlich betreiben zu können. Auch Kants empirische Psychologie, die statt auf Selbstbe-
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Das Thema des Menschen als „Vielheit" von Willen zur Macht, deren jeder einer mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln ausgestattet ist und die Leidenschaften als fiktive Einheiten, die Seele als „zusammengedichtet" bloßlegt (VIII 1[20]), beschäftigt Nietzsche in dieser Zeit sehr. Das Selbstbewusstsein ist folglich ebenso fiktiv (ebd.) und Gedanken nur Zeichen von Spiel und Kampf der Affekte (VIII 1[75]). Vgl. auch die Theorie der Machtquanten in VIII 14[79].
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
obachtung auf die Beobachtung anderer gerichtet ist, verwirft er, selbst kantianisch argumentierend: innere und äußere Beobachtung Keßen sich nicht trennen: Die äußere Beobachtung würde nie zu einer sichern empirischen oder gar zu einer exakten Wissenschaft gefuhrt haben, wenn nicht jede Beobachtung hätte geprüft werden können. Die Elimination der Einflüsse vorgefaßter Ansichten und Neigungen ist das wichtigste Element des exakten Verfahrens, und dies Element gerade wird bei denjenigen Beobachtungen, die sich auf eigne Gedanken, Gefühle und Triebe richten, unanwendbar; es sei denn, daß man die eignen Gedanken etwa ganz unbefangen durch Schrift oder andre Mittel fixiert hat und nun nachträglich den Vorstellungsverlauf prüft, wie den eines Fremden. (1974, Bd. 2:827)
Aus den sich daraus ergebenden Aporien und dem Umstand, dass die impressionistische Methode zwangsläufig Mittel bleibt, „den willkürlichsten Gebilden der Metaphysik den Schein empirischer Ableitung verleihen zu können" (ebd.), stamme erst eigentlich die Hoffnung auf naturwissenschaftlich strenge Methoden192. Die Sache wird für Nietzsche insofern interessant, da Lange nun aus den genannten Gründen einen engen Zusammenhang von Psychologie und Physiologie postuliert, durch deren Beobachtung in Zukunft verlässliche Ergebnisse zu erwarten sein mögen. Obgleich Lange den Erfolgsaussichten gegenüber grundsätzlich skeptisch ist, will er zunächst Ergebnisse entsprechender empirischer Arbeit abwarten; seine Verweise auf die Tierpsychologie und Experimente mit Säuglingen lassen vermuten, dass er sich höchstens eine Art Behaviourismus erhoffte. Neben Langes Erkenntnis, dass es keinen Naturzustand des Menschen gibt, dass insbesondere der von Rousseau beklagte Verlust des Naturzustandes des Menschen Fiktion sei (833f), wird für Nietzsche somit vor allem das Plädoyer für die „somatische Methode" (!) wichtig, an die Nietzsches Insistenz auf dem Textsoma, der leiblichen Bedingtheit alles Denkens und Fühlens, gut anschließbar ist: Diese Methode fordert, daß man bei der psychologischen Untersuchung sich so weit als irgend möglich an die körperlichen Vorgänge hält, welche mit den psychischen Erscheinungen unauflöslich und gesetzlich verknüpft sind. Man ist aber, indem man sie anwendet, keineswegs genötigt, die körperlichen Vorgänge als den letzten Grund des Psychischen oder gar als das eigentlich allein Vorhandene zu betrachten, wie dies der Materialismus tut. Ebensowenig darf man sich freilich durch die wenigen Gebiete, welche der somatischen Methode bisher unzugänglich sind, verleiten lassen, hier ein psychisches Geschehen ohne physiologische Grundlage anzunehmen. (835)193 192
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„[...] Anwendung einer Methode, deren ebenso kunstvoll entfaltete als naturgemäße Lehren sich der Menschheit erst nach langem Streben enthüllt haben, und von deren Anwendbarkeit man die Grenzen nicht kennt. Oer Kimpunkt aller der zahlreichen Vorsichtsmaßregeln dieser Methode liegt aber gerade darin, daß der Einfluß der Subjektivität des Forschers neutralisiert wird. Die subjektive Natur des einzelnen Menschen ist es aber gerade, welcher die Spekulation ihre jedesmalige Gestaltung verdankt." (Lange, 1974, Bd. 2: 829) Es sei betont, dass Lange im anschließenden Exkurs in die Assoziationspsychologie die Kategorie der Kausalität für die psychologischen Prozesse und Beobachtungen problematisiert und den Positivismus somit weit hinter sich lässt.
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
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Auf ähnliche Weise ist auch für Nietzsche das Verhältnis des Leibes zu den psychologischen Oberflächenphänomenen nicht einfach ein kausales, sonst wäre ihre Erklärung ja kaum so schwierig. Noch in einem bedeutenden Fragment aus der Spätzeit mit dem Titel „Der P h ä n o m e n a l i s m u s der . i n n e r e n W e l t " ' wird die innere Erfahrung zur Erfindung von Ursachen, nachdem die Wirkungen bereits eingetroffen sind. Einmal mehr beschreibt Nietzsche sie in philologischen Metaphern. Die Erfindung der Ursachen, ein kreativer Prozess, sei Interpretation bzw. Fiktion. Den Text als Text ablesen zu können, würde auf diesem Gebiet bedeuten, sich selbst zu beobachten, ohne zu interpretieren, d.h. ohne Fiktionen hinzuzudichten. Eigenes Befinden zu beschreiben, ohne einen Grund dafür anzugeben oder zu erfinden, wäre eine mithin gute „Philologie" als die „späteste Form" der inneren Erfahrung, die „vielleicht" (!) kaum möglich sei. (VIII 15 [90]). In diesem unscheinbaren „vielleicht" steckt eine Grenze, die regelmäßig dann überschritten wird, sobald man den Bereich des Menschlichen verlässt, d.h. den Bereich menschlicher Erzeugnisse von literarischen Texten bis hin zu gesellschaftlichen und moralischen Systemen, den Bereich des Individuums selbst, kurz: des jeweiligen Bewusstseins, das durch einen Leib von anderen Leibern mit entsprechender Psyche abgegrenzt ist. In diesen drei Domänen ist mit abnehmender Sicherheit redliche Erkenntnis bzw. Erklärung möglich — durch philologisch geschulte Wissenschaft lassen sich hier in günstigen Fällen ,Texte' herstellen, die nicht zuletzt auf die divinatorischen Fähigkeiten des Redaktors zurückgehen, der mit seinen Untersuchungsobjekten ein Minimum an Erfahrungen teilt, welche das empathische Hineinversetzen (das schließlich methodisch kontrolliert wird) überhaupt erst ermöglichen. In der letzten Domäne, der außerhalb des Menschen Kegenden Natur ist dies nicht mehr möglich. Sie ist dem menschlichen Bewusstsein inkommensurabel. Zwar: insofern der Mensch selbst Teil der Natur ist, kann er ein gewisses limitiertes Erklärungspotential ausschöpfen, das immer auf ihn bezogen bleibt. Aber die Komplexität des GrößenGanzen übersteigt seine Möglichkeiten. Ein ,Text' der Natur, den der philologische Künstler auszulegen habe, bleibt romantische Utopie. Jeder Versuch in diese Richtung endet in Falschmünzerei. Wenn schon die Fixierung eines schriftlichen Textstandes als Archetypus aus der Genese komplexer Beziehungen überlieferter Dokumente ans Fragwürdige grenzt und Intellekt und Divinationsvermögen eines Forschers voll in Anspruch nimmt, trifft dies umso mehr auf die Welt der Erscheinungen außerhalb schriftlicher Texte zu194. Jedwede Auswahl daraus ist in 194
In Otto Liebmanns Gedanken und Thatsachen von 1882, einem Buch, das Nietzsche gründlich gelesen und mit vielen Anstreichungen versehen hat, werden interessante Parallelen zwischen der altertumswissenschaftlichen Teildisziplin der Numismatik und der Naturforschung gezogen. Die komparative Methode der einen wird auf das Gebiet der anderen übertragen: „Wenn an mehreren Stellen Europas eine Anzahl altrömische Münzen von ganz gleichem Gepräge, etwa mit demselben Bildniß des Kaisers Vespasian, ausgegraben wird, so schließt jedermann von der Gleichheit ihres Gepräges darauf, daß sie aus demselben Prägestock hervorgegangen sind. Wenn eine Anzahl Naturproducte, seien es Krystalle oder Gewächse oder Thiere, von gleicher Form uns vor Augen tritt, so sehen wir uns zu einem analogen Rückschluß von der Gleichheit des
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
einem sich ständig in Entwicklung befindlichen Kosmos notwendigerweise unzulänglich: „In einer w e r d e n d e n Welt ist ,Realität' immer nur eine S i m p l i f i k a tion zu praktischen Zwecken oder eine T ä u s c h u n g auf Grund grober Organe, oder eine Verschiedenheit im t e m p o des Werdens." (VIII 9[62]) Nietzsche geht in dieser Ausdifferenzierung der Domänen also über die romantische Philologie hinaus. So galten beispielsweise noch in Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), die für die Philologie in der ersten Phase ihrer Etablierung wichtig waren, philologische Methoden als universal ausdehnbar und anwendbar: Der Physiker, wenn er erkannt hat, daß unter gewissen Bedingungen eine Erscheinung wahrhaft möglich sei, hat auch erkannt, daß sie wirklich ist. Das Studium der Sprache als Auslegung, vorzüglich aber als Verbesserung der Lesart durch Konjektur, übt dieses Erkennen der Möglichkeiten auf eine dem Knabenalter angemessene Art, wie es noch im männlichen Alter auch einen knabenhaft bleibenden Sinn angenehm beschäftigen kann. [Absatz] Es ist unmittelbare Bildung des Sinns, aus einer für uns erstorbenen Rede den lebendigen Geist zu erkennen, und es findet darin kein anderes Verhältnis statt, als welches auch der Naturforscher zu der Natur hat. Die Natur ist für uns ein uralter Autor, der in Hieroglyphen geschrieben hat, dessen Blätter kolossal sind, wie d e r K ü n s t l e r bei Goethe sagt. Eben derjenige, der die Natur bloß auf dem empirischen Wege erforschen will, bedarf gleichsam am meisten S p r a c h Kenntnis von ihr, um die für ihn ausgestorbene Rede zu verstehen. Im höheren Sinn der Philologie ist dasselbe wahr. Die Erde ist ein Buch, das aus Bruchstücken und Rhapsodien sehr verschiedener Zeiten zusammengesetzt ist. Jedes Mineral ist ein wahres philologisches Problem. In der Geologie wird der Wolf noch erwartet, der die Erde ebenso wie den Homer zerlegt und ihre Zusammensetzung zeigt. (Schelling,
1974:40f) Nietzsche setzt anfangs große Hoffnungen in die Naturwissenschaft. Nicht weil er glaubt, mit ihrer Hilfe zu objektiven Erkenntnissen gleich welcher Art zu gelangen. Ihre Rolle könnte eher die einer Schule der Redlichkeit gleich der Philologie sein: die „Methode der mechanistischen Weltbetrachtung" sei einstweilen die redlichste, „der gute Wille zu allem, das sich controlirt, alle logischen ControlForderungen, alles das was nicht lügt und betrügt" (VII 25 [447] und [448]). Die Physik soll also gegenüber der Metaphysik eine ähnliche Rolle spielen wie die Philologie gegenüber der Theologie und den Sinn zur Beobachtung der mannigfaltigen Erscheinungen und der Selbsterkenntnis, kurz: den Tatsachensinn schärfen. Im Aphorismus 335 der Fröhlichen Wissenschaft mit dem bezeichnenden Titel „Hoch die P h y s i k ! " (KSA 3:560ff) wird diese als Unterpfand genauer und redlicher Beobachtung gefeiert. Freilich führt der eigentlich wertvolle Tatsachensinn der Physik angesichts des unendlichen Gegenstandes nicht viel weiter als bis zum Schutz vor den gröbsten Typus dieser Dinge auf die Identität der formgebenden Ursachen gedrängt. Dieser naturphilosophische Schluß wird genau ebenso berechtigt sein wie jener numismatische. Nur sind wir bei Artefacten, z.B. Münzen, über die Beschaffenheit der Ursache ihrer Formgleichheit äußerst klar, während sie bei Naturproducten für uns in ein räthselhaftes Dunkel gehüllt bleibt." (1882:89)
3.4. Tatsachensinn: Domänen der Genealogie
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dogmatischen Ansprüchen. Die Physik ist am Ende auch nur eine „WeltAuslegung", keine „Welt-Erklärung" (JGB 1.14, 5:28) - weil sie nämlich ihrerseits der für die Erklärung notwendigen Kritik ermangelt. Physiker wie Metaphysiker glauben, die Welt zu erklären, aber sie haben ja nichts, das sie erklären könnten. Insofern ist ihre Auslegung nur der erste Schritt: die Zurechtmachung eines Textes, die sie schon mit Erklärung verwechseln: Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene „Gesetzmässigkeit der Natur", von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten „Philologie", - sie ist kein Thatbestand, kein „Text", vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt! (JGB 1.22, 5:37)
Dieser Naivität zieht Nietzsche selbst einen unverblümt machthungrigen Platonismus vor, der gegenüber der plumpen „Sinnfälligkeit" des Sensualismus Vornehmheit verkörpert: „Es war eine andre Art G e n u s s in dieser WeltÜberwältigung und Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als es der ist, welchen uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und Antiteleologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip der 'kleinstmöglichen Kraft' und der grösstmöglichen Dummheit." (JGB 1.14, 5:28). Wie schon die Philologie wird die Physik zum Problem, wenn sie die Grenzen ihrer Domäne nicht anerkennt, v.a. aber sobald sie sich Wertsetzungskompetenz anmaßt und ihre Erkenntnisse als Offenbarung auffasst. „Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist — und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so besser. —" (ebd.)
3.5. Genealogie der Moral Die von Nietzsche nach dem Grad ihrer Textualisierungs- und Auslegungsfähigkeit unterschiedenen Domänen werden im zeitlichen Verlauf seines Schaffens mit ungleich verteilter Aufmerksamkeit bedacht. Im Spätwerk sowie im späten Nachlass erscheint der Begriff der Interpretation nicht deshalb häufiger, weil Nietzsche nun eine neue Interpretationstheorie zu formulieren sucht, sondern lediglich, weil sich seine Interessen verschoben haben und er sich folglich eher in psychologischen und naturwissenschaftlichen Domänen bewegt: Domänen der Interpretation, also der durch Kritik kaum mehr kontrollierbaren Hermeneutik, weil in ihnen per definitionem kein Text mehr vorliegt oder vorliegen kann195. In 155
Zu Nietzsches instrumentaler Auffassung der Naturwissenschaft und der naturwissenschaftlichen Psychologie existiert in der nachgelassenen Bibliothek ein wenig beachtetes Werk. Harald Hoffdings Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung (Höffding, 1887) war ein Buch, dessen Titel Nietzsche sehr ansprechen musste. Es hat es gründlich durchgearbeitet; es könnte für das Spätwerk, besonders den Antichrist und Ecce Homo, einige Bedeutung gehabt haben.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
der Studenten- und frühen Professorenzeit widmet er seine Kraft der ersten Domäne, nämlich Texten (und Kunstwerken) aller Art. Die dabei erworbenen methodischen Grundsätze überträgt er im Anschluss daran auf das Gebiet, das ihn für die nächsten Jahre am meisten beschäftigen soll, auf historische und kulturphilosophische sowie moralische Phänomene. Auf das gesamte Schaffen hochgerechnet gewann diese mittlere Domäne die größte Bedeutung für Nietzsche, also die Auseinandersetzung mit kulturellen und moralphilosophischen Problemen im weitesten Sinne. Die kulturphilosophischen Reflexionen bilden den Kern seines bleibenden Erbes196. Diese mittlere Domäne stellt eine gerade noch realistische Herausforderung für jemanden dar, der in der ersten Domäne, an der er sich schulen konnte, bereits alles erreicht hat und dem für die anderen Gebiete die Kompetenz und die Aussicht auf tiefergehende Einsichten fehlt. Es ist auch die Domäne, die den individuellen Menschen am unmittelbarsten betrifft. Durch den Versuch einer zugleich redlicheren wie subtileren Moralphilosophie und Kulturgeschichte können zumindest einige der schädlichsten Entwürfe bekämpft werden. Es lohnt Hoffdings Auffassung des Materialismus — damit ist hier naturwissenschaftliche Methodik gemeint — entspricht genau derjenigen Nietzsches: er selber, so H0ffding, sei kein Materialist, bediene sich aber gern materialistischer Methodik. Sein Methodenideal ist empirisch und phänomenologisch; Metaphysik darf es erst geben, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Folgenden Satz hat sich Nietzsche gleich doppelt angestrichen: „Als naturwissenschaftliche Methode ist der Materialismus unangreifbar. Etwas andres ist es, wenn die Methode ohne weiteres zu einem System umgebildet wird." (S. 74) Interessant musste für Nietzsche der Versuch des dänischen Forschers sein, die Psychologie von objektbezogener Naturwissenschaft auf der einen und Metaphysik auf der anderen zu unterscheiden, hier hat Nietzsche besonders heftig angestrichen, wie z.B. dies: „Die unmittelbare Selbstbeobachtung und das unmittelbare Bewußtsein sind sowohl dem Physiologen als dem Metaphysiker die Quelle, woraus sie schöpfen, die sie aber oft übersehen, weil ihr wesentliches Interesse nicht eben diese unmittelbare Beobachtung ist, sondern das, was sie daraus schließen zu können glauben." (20). Bewusstsein hat freilich keine Grenzen im Raum: „Die erste Schwierigkeit, die sich hier darbietet, entspringt daraus, daß die seelischen Zustände keine ruhenden und festen Objekte sind wie diejenigen, welche den Gegenstand der physischen Beobachtung bilden." Hoffding gibt Anleitungen zur Selbstbeobachtung, die von Nietzsche am Rand mehrmals mit ,gut' und ,ja' kommentiert werden, z.B. auf S. 21 f: „Während des Erlebens soll man nur das Netz mit allem darin Befindlichen ans Land ziehen, oder wie der Botaniker die Pflanzen einsammeln, die sich zufällig darbieten. Das völlig und klar Erlebte wird in der Erinnerung bleiben und durch diese untersucht werden können." Wenn diese Schwierigkeiten evtl. überwunden werden können, so besteht noch die Schwierigkeit der individuellen Verschiedenheit der Beobachter, das gelte aber auch für Physik. Der Vergleich ist hier das probate Mittel — auch Hoffding bezieht sich öfters auf Ethnologen wie Lubbock, Tylor, Spencer, aber auch auf die vergleichende Sprachwissenschaft. Man müsse sich immer mit anderen Selbstbeobachtern vergleichen und das Chaos der Beobachtungen dann in eine Klassifikation überführen. Die Tatsachen der Beobachtungen bilden nur die Grundlage, die nun noch erklärt werden müssen, indem man Gesetze und Regeln für ihr Wechselverhältnis aufstellt, eben das sei die psychologische Analyse, wobei es aber nie erschöpfende Sicherheit gebe (24f). Die Parallelen zu Nietzsches Perspektivismus (s.u.) liegen auf der Hand. 156
Man muss durchaus nicht gleich so weit gehen wie schon Jean Granier: „Ainsi, on peut affirmer que Nietzsche a ecrit, pour l'etude des phenomenes moraux, un nouveau Discours de la Methode, car il est le premier ä avoir, d'une maniere systematique, fixe les regies d'une critique de toutes les valeurs." (1966:169f)
3.5. Genealogie der Moral
131
sich deshalb unter den hier vorgeschlagenen Gesichtspunkten einen erneuten Blick zurück auf jene Domäne zu werfen, deren Mittelpunkt Nietzsches Genealogie der Moral darstellt. Nicht um die abschließende Würdigung des Buches mit dem gleichnamigen Titel soll es gehen, sondern um die Grenzen des hier vorgeschlagenen Zugangs. Nietzsches genealogische Rekonstruktion der moralischen Archetypen ist keine plötzliche Inspiration der Spätzeit, sondern beginnt bereits im ersten Teil von Menschliches, Α Unmenschliches. Die aus der historisch-kritischen Philologie stammende Metaphorik der chirurgischen Strenge und der unerbittlichen Forschung nach Ursprung und Genese ist hier längst ausgeprägt. In ihrem Rahmen fordert Nietzsche eine wissenschaftliche Gegendarstellung zur „falschen Erklärung" der Philosophen, die durchaus analytisch-langatmiger sein müsse als die allzu schönen synthetischen Entwürfe, die bisher bekannt waren: in dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Seciertisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat: - die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis [...] eine falsche Ethik sich aufbaut [...] so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen und Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen [...] (ΜΑ 1.2.37, 2:59f)
In seiner gegen den Positivismus in der Geschichtswissenschaft gerichteten Teoria e storia della storiografica von 1916 identifiziert Benedetto Croce drei der Geschichtsphilosophie feindliche Lager, die er mit seinem Neuentwurf endgültig überwinden möchte197. Es handelt sich erstens um die philologische Geschichtsschreibung, also die historisch-kritische Schule der Altertumswissenschaft, die, bewusst unphilosophisch, von der Quellenkritik ausgeht. An zweiter Stelle nennt Croce die diplomatische Geschichte im Stile Rankes, die ebenfalls freiwillig auf philosophische Reflexion ihrer Tätigkeit verzichte, dabei freilich Großes geleistet habe. Schließlich gebe es noch die eigentlich positivistische Richtung, für welche Fakten Fakten sind, zwischen denen kausale Beziehungen oder gar gesetzesmäßige Zusammenhänge herzustellen seien; Croce nennt als Beispiel Hyppolite Taine. In der Genealogie der Moral erhebt Nietzsche im Anschluss an Gedanken wie er sie seit der zitierten Stelle in Menschliches, All^umenschliches entwickelt hat, ausgerech197
Ich habe die französische Fassung unter dem Titel Theorie et Histoire de l'Histonographie benutzt.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
net die Kombination aus historisch-philologischer Quellenkritik (s. GM Vorrede 3, 5:249), Ranke und Taine (GM 111.19, 6:387) zum methodischen Ideal. Seine Rhetorik bedient sich bedenkenlos beim Wissenschaftsdiskurs der philologischen Lehrer. Zwar gibt es für ihn nach wie vor keine voraussetzungslose Wissenschaft (GM III.24, 6:399f). Auch schafft Wissenschaft selbst niemals Werte und unterwirft sich immer einem Ideal, denn „wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist", werde das Ideal entbehrt (III.27, 6:409). Es führt indes kein Weg daran vorbei, dass Nietzsche, der von der (u.a. von Croce inspirierten) Geistesgeschichte immer als einer der ihren reklamiert worden ist, an erster Stelle jenen Gelehrten und Philologen verpflichtet war, von denen die Geistesgeschichte sich abzusetzen versuchte. Die Genealogie der Moral ist eine historische Studie. Eine geschichtsphilosophische Arbeit will sie gerade nicht sein. Auch auf dem Gebiet der Kultur- und Moralgeschichte, so die Botschaft der Genealogie der Moral\ müssen sich die Interpretationen an Tatbeständen (nicht Fakten) messen lassen, d.h. an auf redlichem Weg erlangten historischgenealogischem Vergleichsmaterial198. Dies ist der Grund, warum die Interpretation in der Genealogie negativ konnotiert und vom Tatbestand unterschieden wird. So sei die „Sünde" nur Interpretation, nicht Tatbestand, als eine falsche „CausalAuslegung [...] von bisher (!) nicht exakt zu formulirenden Thatbeständen" (GM III.16, 5:376f). Ähnlich der Vorwurf vom „verhängnisvollste[n] Kunststück der religiösen Interpretation" der priesterlichen Umwertung der tierischen, rückwärts gewendeten Grausamkeit des schlechten Gewissens als Schuld, unter Missachtung des physiologisch begründeten Leidens an sich selbst (GM III.20, 5:389f). Nietzsches hohe Meinung von Ranke konnte bereits mit der gemeinsamen geistigen Herkunft aus der Pforte sowie der Schule Niebuhrs in Verbindung gebracht werden. Die historisch-kritische Tradition der altertumswissenschaftliche Philologie kam ebenfalls ausführlich zur Sprache. Erklärungsbedürftig ist nur noch die Rolle Taines. Es lässt sich zeigen, dass Taines Denken, bzw. die Aspekte, die Nietzsche daraus auswählt, die logische Fortsetzung der Übertragung philologischer Methodologie auf das Feld der Kultur und Geschichte darstellt. Über die Beurteilung Taines kommt es noch 1887 zum Bruch mit Nietzsches engstem und längsten Freund, Erwin Rohde, der Taine ablehnte. Die meisten Kommentatoren Nietzsches haben Taine bisher vernachlässigt, weil er unbequemerweise nicht zum Bild des Philosophen passt, der im Spätwerk seine .positivistische' Phase überwunden habe. Indes bezieht sich Nietzsche gerade in den späten achtziger Jahren enthusiastisch auf Taine; seine Werke in Nietzsches nachgelassener Bibliothek gehören zu den am gründlichsten durchgearbeiteten 198
Auf ähnliche Weise will ja selbst Croce in seiner neuen Geschichtsschreibung nicht auf die Anreicherung des Materials mit Fakten verzichten, sondern dieses, ähnlich wie der Nietzsche der zweiten Un^eitgemässen, lediglich neu mit philosophischem Bewusstsein verbinden. Woher, so fragt Croce, nehmen denn die Positivisten und Philologen ihren Methodenstolz, wenn nicht aus der Präromantik: er verweist u.a. auf die Philosophie im Umfeld F.A. Wolfs.
3.5. Genealogie der Moral
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Bänden. Es existiert sogar ein kurzer, von gegenseitigem Respekt geprägter Briefwechsel. Es gilt, sich von dem Hinweis leiten zu lassen, den Nietzsche in seiner emotionalen Verteidigung Taines gegenüber Rohde selbst abgibt, dass Taine nämlich seiner (Rohdes) „species", also den Philologen, verwandter sei, als dieser annehme199. In der dritten, als M.\x$,X.z.iauslegung (GM Vorrede 8, 6:255) konzipierten Abhandlung der Genealogie der Moral, polemisiert Nietzsche zum wiederholten Mal gegen Renan und fährt fort: „Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern!" (GM III.26, 6:406). Dahinter verbirgt sich eine Anspielung auf Taine, genauer auf dessen erstes Kapitel in der Histoire de la Utterature anglaise, die für Nietzsche besonders wichig war. Das Lob ist, wie die Bezeichnung Nihilist deutlich macht, nicht uneingeschränkt, aber Taines Historiographie muss aus Nietzsches Sicht Renans diametral entgegengesetzt sein, um eine derartige Verwendung zu rechtfertigen. In der Geschichte der Literaturwissenschaft ist vor allem die Vorrede der Histoire de la Utterature anglaise zu einem Meilenstein geworden, nämlich zum ersten wichtigen Dokument einer Literatursoziologie. Ehe daraus freilich der voreilige Schluss gezogen wird, Nietzsche sei von der bekannten, hier erstmals einem großen Publikum präsentierten Analysetriade von race, milieu, moment inspiriert worden, mag ein Blick in den Text von Nutzen sein, den Nietzsche schon am 11. März 1878 bei seinem Buchhändler Schmeitzner bestellte. Im selben Sommer liest er ihn gründlich durch (dazu auch Campioni, 2001:148ff); er bleibt in den achtziger Jahren sein konstanter Begleiter (s. z.B. VII 27[79]). Nietzsche schätzt an Taine das klare Urteil und die Rhetorik methodischer Strenge, die jedoch nicht zu dogmatischen Ableitungen führt 200 .Obwohl Taine, im Unterschied zu seiner Reputation, durchaus kein lupenreiner Positivist war — so spielte etwa Comte nie eine Rolle für ihn — geht es ihm in durchaus in positivistischer Manier um „la conception des lois et des causes" (21866:iv). Kausale Beziehungen werden jedoch nicht im Sinne der Einflussforschung zwischen "» Siehe den entrüsteten Brief vom 19. Mai 1887 (III.5:76f). Einige Urteile macht sich Nietzsche gleich zu eigen, wie das folgende Beispiel zeigt. Nietzsche kopiert zwar z.T. fast wörtlich, aber, und das ist charakteristisch für seine Aneignungsweise, verschärft den ursprünglichen Gedanken noch. Konkret geht es um den Vergleich von Goethes Faust und Byrons Manfred, seit frühester Jugend eines der wichtigsten Werke für Nietzsche. Der Vergleich fällt bei Taine sehr zum Nachteil Goethes aus. Dessen Faust sei eigentlich eine traurige, völlig untragische Gestalt: „Triste heros, qui pour toute ceuvre parle, a peur, etudie les nuances de ses sensations et se promene! Sa plus forte action est de seduire une grisette et d'aller danser la nuit en mauvaise compagnie, deux exploits que tous les etudiants ont accomplis." (Bd. 4:387f) Bei Nietzsche klingt dies, nicht lange nach der Lektüre des Taine'schen Buches so: „ D i e F a u s t I d e e . — Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein grosser Gelehrter aller vier Facultäten ist der Uebelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiss nicht! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht. — Sollte diess wirklich der grösste deutsche ,tragische Gedanke' sein, wie man unter Deutschen sagen hört?" (WS 124, 2:606) Nietzsches Version wird noch gem zitiert; die Originalstelle ist heute vergessen.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Dokumenten hergestellt oder auf ganz abstrakte Einheiten bezogen. Das Studium der Dokumente diene vielmehr einzig und allein der Erkenntnis des individuellen Menschen dahinter. „Au fond il n'y a ni mythologie, ni langues, mais seulement des hommes qui arrangent des mots et des images d'apres les besoins de leurs organes et la forme originelle de leur esprit." (ν). Die Geschichte spreche nur durch das Individuum; auf seinen Charakter, seine Sitten und Handlungen habe sich der Historiker zu konzentrieren. Taine zitiert u.a. Lessing als Autorität für die Forderung, den lebendigen Menschen der Vergangenheit vor das innere Auge zu bringen. Wenn das Bild auch notwendigerweise unvollständig bleibe, so müssten doch möglichst viele Beobachtungen und Kenntnisse darin einfließen. Taines Grundannahme besteht mithin in der Uberzeugung, dass der homme exterieur den homme interieur verrät, also ein Studium der (Ver-)Äusserungen des Menschen Rückschlüsse auf seine wahre innere Verfassung zulässt. Da es Taine um den Menschen als plastisches, immer von seiner Kultur geformtes Wesen geht — das Gegenteil einer konstanten genetischen Tatsache —, um ein Wesen, das sich in ständiger Entwicklung und Veränderung befindet, lässt sich am ehesten noch der biographische Ansatz innerhalb der positivistischen Literaturwissenschaft von ihm herleiten. Das Forschen in den Komplexitäten der Vergangenheit stilisiert Taine zur feinsten psychologischen Arbeit, zur subtilen Lektüre eines schwierigen Textes, deren methodische Beherrschung sich der Forscher durch eine „education critique" (xi) aneignet: „tout luit est un indice; tandis que ses yeux lisent un texte, son äme et son esprit suivent le deroulement continu et la serie changeante des emotions et des conceptions dont ce texte est issu; il en fait la Psychologie." (xi). Taines Erläuterungen deuten daraufhin, dass es sich dabei um eine Art geschulte empathische Divination handelt: dies sei eine ganz neue Form der Geschichtsschreibung. Er bezeichnet seine Methode deshalb als „divination precise et prouvee des sentiments evanouis" (xif). Entscheidend für den Erfolg sei jedoch, dass die Methode mit der Beobachtung und dem Sammeln von Fakten beginne und erst dann nach Ursachen suche (la recherche des causes). Taine bedient sich, ein Muster, das sich in seinen anderen Werken wiederholt, immer wieder einer induktivnaturwissenschaftlichen Ausdrucksweise, gerne aus den klassifikatorischen Systemen von Zoologie und Mineralogie201. Die berühmte Triade von race, milieu, moment als den drei hauptsächlichen Ursachen für die individuellen Unterschiede der Menschen soll vor allem auf die Wichtigkeit der Interaktion von individueller Anlage des Menschen mit Umwelt und Zeitalter, mit dominanten Gedanken und Diskursen hinweisen. Dies sei nicht zuletzt für die Entstehung der jeweiligen Moral ausschlaggebend (xliii). Auch Taine geht es damit letztlich um eine Genealogie' der Moral des Individuums in seinem kulturellen Kontext. Die Kultur sei dabei als Körper aufzufassen — Taine geht von organizistischen Vorstellungen im 201
„Ich behandle meinen Gegenstand, wie der Naturforscher ein Insekt behandeln würde." (Taine, 1877f, Bd. l:xxiv) — so Taine in seinem Vorwort seines Werks zur französischen Geschichte.
3.5. Genealogie der Moral
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Sinne Herders aus, der auch namentlich erwähnt wird: „Une civilisation fait corps, et ses parties se tiennent a la fa9on des parties d'un corps organique" (xxxixf). Wenn sich im Organismus etwas verändert, habe dies immer Auswirkungen auf das Ganze. Deshalb müsse immer der ganze Kontext beachtet werden. In seinen Arbeiten zur Geschichte Frankreichs will er die Krankheit des Jahrhunderts therapieren: Nietzsche als ,Arzt der Kultur' kann sich hier in einem Gleichgesinnten entdecken. Nietzsche hat die Positivisten oft scharf angegriffen. Einen wirklich positivistischen Historiker wie Henry Thomas Buckle bezeichnet er als seinen „stärksten Antagonisten" und erteilt ihm in der Genealogie der Moral eine deutliche Absage — nicht zuletzt aus Furcht vor Verwechslung202. Schon zur Zeit der fröhlichen Wissenschaft leitet er das Verlangen nach Halt und Gewissheit, „welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch endadet" (FW 5.347, 3:581f) aus einem „Instinkt der Schwäche" ab (583); der freie Geist tanze dagegen an Abgründen, d.h. finde zu „Lust und Kraft der Selbstbestimmung [...] bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich zu halten". Um der naheliegenden Verwechslung der genealogischen Methode mit dem soziologischen Positivismus französischer Schule zu entgehen, kritisiert Nietzsche ausdrücklich das (an sich redliche) „Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen, dem factum b r u t u m " und den damit zusammenhängenden moralischen Überlegenheitsanspruch (GM 111.24, 5:400f). Obwohl Taine dem Nihilismus der Positivisten laut Nietzsche ja nicht allzu fern steht, ist es unwahrscheinlich, dass er ihn selbst zu den Positivisten gezählt hat. Die Forschungsrichtung des „petit faitalisme" (ebd.), wie Nietzsche sie in einem schönen Wortspiel beschreibt, ist kein Kennzeichen Taines. Nietzsche ist vielmehr fasziniert von seinem Ausgangspunkt im naturwissenschaftlich überhöhten Organismusdenken, das einem naiven Materialismus ebenso fern steht wie der reinen Spekulation. Wie bei ihm
202
Buckles History of Civilisation in England (1857-61) sollte eine streng naturwissenschaftliche Art der Geschichtsschreibung demonstrieren, die den Menschen als determiniert von Klima, Ernährung, Boden und anderen natürlichen Voraussetzungen zeigte. Auf Comte und John Stuart Mill gestützt verwarf Buckle jegliche Spekulation und wollte nur Fakten und Gesetze gelten lassen. Dazu Nietzsche: „[...] der berüchtigte Fall Buckle's; der P l e b e j i s m u s des modernen Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben.—" (GM 1.4, 5:262). An Köselitz schreibt Nietzsche am 20. Mai 1887: „Die Bibliothek in Chur, ca. 20 000 Bände, giebt mir dies und jenes, das mich belehrt. Zum ersten Male sah ich das vielberühmte Buch von Buckle „Geschichte der Civilisation in England" — und sonderbar! es ergab sich, daß B einer meiner stärksten Antagonisten ist." In Nietzsches Nachlass gibt es einige Stellen, die sich kritisch gerade mit Milieutheorien auseinandersetzen (z.B. VIII 7[33]).
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
selbst stehen auch bei Taine der Leib und die physiologischen Grundlagen psychischer Phänomene im Zentrum der Analyse203. Die Kritik am petit faitalisme kommt einer Kritik an mangelhafter textueller Grundlage gleich, an einer Forschung, die gleichsam im atomistischen Sammelstadium verharrt und ihre dürftigen Resultate auf unzulässige Weise verknüpft. Taines erklärte Absicht — aus Nietzsches Sicht der wesentlichste Unterschied zu Renan — ist es im Kontrast dazu, Geschichte — und zwar nicht nur Literaturgeschichte — auf der Grundlage literarischer Quellen zu schreiben. Das heißt nicht, dass die Quellenauswahl beliebig oder weniger umfangreich ist. Literarische Quellen sind für Taine ein praktisches Arbeitsmittel, weil er sie für komprimierte Kompendien des jeweiligen Zeitalters hält. Am Ende der Vorrede zur englischen Literaturgeschichte begründet er ihren Status als Hauptquelle jedes Historikers. Vorausgesetzt man wisse sie zu deuten, stellten sie die besten und repräsentativsten psychologischen Quellen dar: durch die Arbeit des Philologen lässt sich auf diese Weise auch Moral- und Sittengeschichte betreiben. Literarische Texte als Äußerungen einzelner Persönlichkeiten (und Leiber) haben als Arbeitsgrundlage eine besondere Affinität zur divinatorisch-psychologischen Herangehensweise. Taines großes Vorbild ist Stendhal, der als bisher einziger auf intuitive Weise seinem methodischen Ideal der künstlerischen Divination auf der Grundlage genauer Beobachtungen von race, milieu, moment nahegekommen sei204.
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Hinzu kommt, dass Taine, der im Gegensatz zu Renan dem christlichen Glauben fernsteht, die Bedeutung des wissenschaftlichen Ethos ganz im Sinne der Philologie betont. Sein Griechenbild entspricht Nietzsches eigenen Idealisierungen (vgl. Taine, 21866:vii). Empfehlenswert zu Taines Methodik Jieger (1917), bes. der Abschnitt über Taines englische Literaturgeschichte (S. 63-91). Jsger hebt Taines Versuch hervor, über reine Analyse und Anatomie hinauszugehen; die von Jseger bei Taine diagnostizierte Diskrepanz zwischen Forderung naturwissenschaftlicher Methode, zoologischer Taxonomie und mangelnder eigener Anwendung trifft auch auf Nietzsche zu. Hier wie dort hat die Beschwörung der Wissenschaft den rhetorischen Zweck, die eigene Redlichkeit über Zweifel erhaben zu machen. Die Standardbeschreibung von Taines heute vernachlässigtem Werk aus literaturwissenschaftlicher Sicht findet sich bei Wellek (1966). Wellek betont die Bedeutung der Physiologie als Grundlage der Moral bei Taine. Den Begriff der race übersetzt er passend mit dem (herderschen) ,Volksgeist', während unter moment eher eine Art,Zeitgeist' zu verstehen sei. Auch er zögert, Taine als Positivisten einzuordnen, dies gelte allenfalls in einem sehr weiten Sinn, insofern Taine die Naturwissenschaften bewunderte. Sein Werk sei vielmehr (trotz großem Einfluss Hegels) als Reaktion gegen den Idealismus zu sehen. In jüngerer Zeit hat Nordmann (1992) eine Rehabilitierung Taines gewagt und die Bedeutung der komparatistischen Methode Taines, den experimentellen Charakter seiner Kritik sowie die Rolle der Lektüreerfahrung (experience) betont — nicht gerade Kennzeichen eines Musterpositivisten. Texte seien für Taine Symptome nicht für Dinge, sondern Zeichen des inneren, zu ergründenden Menschen. Erfahrung stehe im Mittelpunkt; Taine gehöre an eine zentrale Stelle des humanistischen Menschenbilds und der Geschichtsschreibung. Taine gehe konsequent vom Werk aus, das als Zeichen (signe) seiner Materialität, der Psychologie seines Verfassers und der Soziologie seiner Entstehung gelesen werde: Stilistik, Psychoanalyse und Soziologie seien nur die Fortsetzungen des zwanzigsten Jahrhunderts; Taine sei deshalb als Vater des kritischen zwanzigsten Jahrhunderts zu lesen. Auch zur Ikonologie Panofskys bestehe eine Verbindung. Die Stichhaltigkeit all dieser Thesen und Argumente muss die Taine-Forschung prüfen. Hier sei hinzugefügt, dass Nietzsche Taine bei aller Bewunderung nicht unkritisch ge-
3.5. Genealogie der Moral
137
Wie beeindruckt Nietzsche ist, lässt sich u.a. am Kult um Stendhal („dieser letzte grosse Psycholog", JGB 2.39, 5:57) ablesen, den er im Anschluss an seine Taine-Lektüre entfaltet. Für die eigenen methodischen Grundüberzeugungen ergeben sich gleich mehrere Anschlussmöglichkeiten. Zunächst fasst er Taines Methode als eine mit naturwissenschaftlicher Rhetorik unterfutterte Fortführung Burckhardts auf, der ihm seit Basel als Modell des Historikers galt. In den Vorlesungen, die Nietzsche eifrig verfolgt hatte, war ebenfalls die Literatur, besonders die Poesie (aber auch andere Kunstformen) als hervorragendste Quelle des Historikers gefeiert worden, in der Ewig-Allgemeinmenschliches mit individuellen Besonderheiten, nationalen und epochalen Spezifika vereint sind. Die unüberschaubare Menge historischer Ereignisse, die ganze „Enormität" der Geschichtsforschung mit ihrer unendlichen Detailforschung, zu deren Durchführung „tausend Menschenleben mit vorausgesetzter höchster Begabung und Anstrengung lange nicht ausreichen" würden (Burckhardt, 1963:17), führten Burckhardt zur Uberzeugung, das Studium der Geschichte mit dem Studium des Geschichtlichen zu ersetzen. Er erkennt zwar an, dass Quellenstudium zu welchem Thema auch immer „nach den Gesetzen der Erudition" sehr viel Zeit kostet (19) und verlangt von jedem Historiker ein streng durchgeführtes ordentliches Studium, in dem der Respekt für Wissenschaftlichkeit eingeübt wird. Aber gerade wenn man den modernen Quellenbegriff, demzufolge alles Quelle sein kann, zugrundelegt, komme man nie sehr weit. Da Burckhardt auf Quellen zu verzichten aber nicht gewillt ist, verlangt er lediglich ihre strenge Auswahl. Burckhardts Quellen sollen so viel wie möglich, der Historiker nur so viel wie nötig sprechen. Man müsse zwar möglichst auf einem Gebiet Spezialist sein, solle sich aber auf anderen ruhig einen gewissen Dilettantismus erlauben, wenn man überhaupt noch einen bescheidenen Überblick behalten wolle. Lieber vertiefe man sich nach und nach, als ganz im Freien zu schweben205.
205
genüber stand. So sei Taine etwa durch Hegel verdorben worden (EH Warum ich so klug bin 3, 6:285). Im Wintersemester 1870/71 hörte Nietzsche Burckhardts Vorlesung über das Studium der Geschichte, die später unter dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen in Buchform erscheint (s. Burckhardt, 1963). Diese Vorlesung hat Nietzsches Ansichten über Kultur und Kulturen stark beeinflusst. Nicht zuletzt hier lernte Nietzsche die „Wandelbarkeit" und „Vielheit", „das Nebeneinander von Völkern und Kulturen" als historische Grundtatsache zu würdigen (s. Burckhardt, 1963:7f). Burckhardt gab wie Nietzsche sein Theologiestudium wegen der Skepsis auf, die ihm die philologische Bibelkritik vermittelt hatte. Wie sein Lehrer Ranke blieb er zeit seines Lebens von der grundlegenden Bedeutung der Kritik sowie der Primärquellen überzeugt (in Berlin studierte er auch bei Boeckh und Droysen). Burckhardt warnte seine Schüler vor Lehrbüchern, Einfuhrungen, Anthologien und Interpretationen, und zwar nicht in erster Line wegen deren UnZuverlässigkeit, sondern weil die wissenschaftliche Einbildungskraft erst durch den Kontakt mit authentischen Quellen stimuliert werde (vgl. Heller, 1988). Burckhardts Griechische Kulturgeschichte (Burckhardt, 1900ff) ist ein besonders reicher Fundus zum Studium seiner wissenschaftlichen Praxis. Sein Ansatz ist insgesamt der einer ,fröhlichen Wissenschaft': gewollt unsystematisch, da jede Methode anfechtbar sei. So kann er nach Belieben manches weglassen, das ihn nicht interessiert, wie z.B. die damals beliebten Exkurse in den Einfluss von Boden und Klima, die Rassenlehre u. dergl. (s. 1963:4). Burckhardt bekennt ohne weiteres, von der eigenen Zeit
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Auch Nietzsche weiß ja, dass jede redliche Moralphilosophie langsames, empirisches, kulturvergleichendes Studium heischt (z.B. FW 1.7, 3:378ff). Nietzsche beklagt in einem frühen Stadium, dass ihm keine Heerscharen von Gelehrten zur Verfügung stünden, die er auf das gewaltige Ziel ansetzen könnte. Freilich sei es schwierig, entsprechend geeignete Gelehrte mit der nötigen Feinheit und Tiefe — der erforderlichen divinatorischen Begabung — zu finden206. Der Rückgriff auf literarische Quellen, wie ihn Burckhardt und Taine demonstriert hatten, weist dagegen einen Ausweg, der angesichts des Dilemmas den besten Kompromiss auf dem Weg zu dem von Nietzsche angestrebten Text der Kultur darstellt. Literarische Werke haben als öffentlich verhandelte Symptome bestimmter Leiber einen repräsentativen Charakter angenommen, der sie in ihrer Summe als ,Text' der jeweiligen Kultur ausweist. Sie sind Abkürzungen auf dem steinigen Weg der Erudition, allerdings nur für den, der sie kritisch zu handhaben und subtil zu lesen vermag. Auf diese Weise kommt die Philologie doch wieder ins Spiel: seine hochspezialisierte literarisch-philologische Kompetenz, glaubt Nietzsche, kommt seinem psychologischen Talent entgegen und kann über Umwege auch für das Studium kultureller Phänomene fruchtbar werden. Kritisch-divinatorische Literaturgeschichte ist die einzige redliche Möglichkeit, Kulturgeschichte zu betreiben. Nietzsches scheinbar so subjektive Auseinandersetzung mit der Weltliteratur, die sich durch das gesamte Werk zieht, hat hier ihren Ausgangspunkt207: Autoren werden im Sinne Burckhardts und Taines als Schnittpunkte individueller und kollektiver leiblicher Prozesse gedeutet. Ihre Werke lassen sich kraft ihres ästhetischen Mehrwerts darauf allerdings nicht reduzieren, sondern geben immer wieder Anlass zu Revisionen der eigenen Theorie, die automatisch dadurch entstehen, dass sich die Texte in ihrem Zusammenhang gegenseitig je neu beleuchten; dem Studium von Kultur in diesem Sinne ist der Perspektivismus somit von vornherein eingebaut. Schlüsselkonzept ist dabei die Metaphorik des Organischen, die Nietzsches Denkweise genauso konfiguriert wie jene Burckhardts oder Taines. Wenn die Sprache selbst ein komplexer Organismus ist, sind es Texte, als aus ihrem Material hergestellte Artefakte, auch. Den organischen Charakter wiederum haben sie und Persönlichkeit nicht loszukommen, interesselose Betrachtung der Geschichte gebe es nicht. Hochinteressant seine Reaktion auf die Zusendung der zweiten Un^eitgemässen am 25. Februar 1874, die gleichzeitig zustimmend und verwahrend ist. Er selbst habe ja die Geschichte nie verabsolutiert, sondern immer nur als propädeutisches Fach verstanden: „ich mußte den Leuten dasjenige Gerüste beibringen das sie für ihre weitern Studien jeder Art nicht entbehren können wenn nicht Alles in der Luft hängen soll"; selbstverständlich müsse sich jeder die Vergangenheit selbst zu Eigen machen (KGB II.4:394f). 206 207
ν π ι s 97f (genauer als die verfälschende Stelle in VII 34[147]). Vgl. auch JGB 3.45, 5:65f. „Nietzsche ist ein höchst subjektiver, ein genialischer Leser, der nur aufnimmt, was er gerade nötig hat, und bei dem es an Fehldeutungen nicht mangelt [...]." (Wuthenow, 1994:40) Dies ist selbst eine Fehldeutung, weil sie die Rhetorik und Instrumentalisierung von Nietzsches Lektüren verkennt (vgl. dazu Benne, 2004b).
N
3.5. Genealogie der Moral
139
mit dem Menschen, mit allem Lebendig-Individuellen gemein. Kulturen werden von Nietzsche in einer langen Tradition ebenfalls als Organismen aufgefasst, da sie aus einzelnen Individuen komponiert sind, jedoch mehr als die Summe ihrer Teile darstellen. Die organische Gemeinsamkeit der verschiedenen Entitäten begründet die Berechtigung wie die Notwendigkeit eines parallelen Zugangs. Wie der menschliche Leib so sind Texte wie Kulturen unendlich, antiteleologisch, komplex und nie kausal deutbar, sondern immer nur genetisch nachzuvollziehen: „Der Leib [...] ist mehrsprachig. Entsprechend komplex, womöglich gar in sich widersprüchlich ist sein Ausdruck. Und vor allem bleibt auch das Unterdrückte, Abgewiesene, Unentwickelte stets als solches sichtbar. Der Leib kann nicht lügen." (Mattenklott, 1982:30)208 Ein Text ist nicht in erster Linie durch kausale Verknüpfungen seiner Glieder gekennzeichnet, sondern durch eine mannigfaltigere Reihe von z.T. nur assoziativen Verbindungen. Die Forderung nach Text und Tatbestand entspricht deshalb gerade nicht den positivistischen Uberzeugungen der Zeit. Durch Nietzsches Schriften ziehen sich antikausalistische Motive wie ein roter Faden, und angebliche kausale Verbindungen sind eines der Hauptmerkmale schlechter Interpretationskünste209. 208
Das Organismusdenken Nietzsches kann hier nicht in dem Maß diskutiert werden, das es verdient hätte. Es lässt sich aber an vielen Stellen nachweisen. Richtmaß des Organismus ist bei ihm immer der menschliche Leib; an ihm werden letztlich sogar die größeren Organismen gemessen, die aufgrund ihrer Dimensionen aber noch nicht unbedingt komplexer sind. Einmal mehr bestätigt sich die Einteilung der Domäne menschlicher Kultur unterhalb des individuellen Leibs: „Unser Leib ist etwas viel Höheres Feineres Complicirteres Vollkommneres Moralischeres als alle uns bekannten menschlichen Verbindungen und Gemeinwesen [sie!]: die Kleinheit seiner Werkzeuge und Diener ist kein billiges Argument dagegen! Was S c h ö n h e i t betrifft, so steht seine Leistung am höchsten: und unsre Kunstwerke sind Schatten an der Wand gegen diese nicht nur s c h e i n e n d e , sondern l e b e n d i g e Schönheit!" (VII 7[133]). Auffällig ist auch Nietzsches Pflanzenmetaphorik, die in nahezu allen Domänen immer wieder durchdringt: „Große Frage: wo bisher die Pflanze „Mensch" am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nöthig." (VII 34[74]) Geht man aber über den Bereich des Menschlichen hinaus und in die Welt des Kosmischen bzw. die Domäne der Naturwissenschaft, ist selbst eine Aussage über den organischen Charakter des Universums bereits unredlich. Diese Domäne ist für Nietzsche scheinbar auf eine Weise unzugänglich, dass man hier höchste Vorsicht praktizieren sollte: „Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei [...] Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es Jene thun, die das All einen Organismus nennen?" (FW 3.109, 3:467ff- der gesamte Aphorismus, zu lang um hier in Gänze zitiert zu werden, ist äußerst aufschlussreich für die Problematik des Organischen bei Nietzsche). Die Entstehung des Organismusdenken (nicht identisch mit der organologischen Naturphilosophie der Romantik) ist mit der Geburt der Wolfschen Philologie untrennbar verbunden; der Geist Humboldts hat ebenso darauf gewirkt wie der Geist Winckelmanns oder Goethes. In den altertumswissenschaftlichen und sprachtheoretischen Texten, die Nietzsche studiert hat, findet es sich allerorten. Hinweise auf Nietzsches Organismusdenken bei Benne (2004b) sowie Gebhard (1995).
209
„Gesetzt, ich halte Jemanden für meinen Vater, so folgt daraus vielerlei für jede seiner Äußerungen gegen mich: sie werden anders i n t e r p r e t i r t . - Also unsere Auffassungen und Ausdeutungen der Dinge, unsere Interpretation der Dinge geben, so folgt, daß alle ,wirklichen' Einwirkungen dieser Dinge auf uns daraufhin anders erscheinen, neu intepretirt, kurz a n d e r s w i r k e n . Wenn nun alle Auffassungen der Dinge falsch waren, so folgt, daß alle Einwirkungen
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Die Anlehnung an Burckhardt und Taine, die Nietzsche einmal als die einzigen wahren Leser seiner eigenen Schriften bezeichnete210, erlaubt Nietzsche somit, souveräne Distanz zum naiven Positivismus zu halten und dennoch als Maximalziel immer wieder ein empirisches, an den Naturwissenschaften orientiertes Studium der Kultur- und Moralgeschichte als „Naturgeschichte" zu fordern, als strenge Wissenschaft, die zunächst Material sammelt, ordnet und systematisiert, um eine „Typenlehre" der Moral, kurz: eine Recensio, zu erstellen (z.B. JGB 5.186, 5:105f). Die „Fröhliche W i s s e n s c h a f t " — d.h. der souveräne, essayistische, spielerische Umgang mit den Resultaten der Forschung - ist nur möglich nach einer Periode des „langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernstfes], der freilich nicht Jedermanns Sache ist", sie ist der „Lohn" dafür (GM Vorrede 7, 5:255). Ob es nicht der Maulwurf, Nietzsches Symbol des Philologen ist, der da unterirdisch am Werk ist? Schon in einem Brief an Rohde vom 20. November 1868 werden die Philologen als Maulwürfe bezeichnet (1.2:334). In der Vorrede zur Morgenröthe von 1886 bezeichnet sich Nietzsche als „einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden", kurz als „Maulwurf, der er lange gewesen sei, der in seiner Einsamkeit lange Licht und Luft entbehrte und nun wieder an den Tag zurückkehre, um seine Erlösung und Morgenröte zu erleben (KSA 3:11). Dieses Bohren und Graben wird in der Folge übrigens nicht als unfreiwillig beschrieben, sondern eher als Wagnis und Schicksal mit reicher Ausbeute — wenige Seiten darauf folgt der berühmte Aufruf zur ,guten Philologie' an seine eigenen Leser (M Vorrede 5, 3:17). Wenn sich Nietzsche, wie bereits erwähnt, zu Beginn der Genealogie der Moral von jenen Anthropologen und Ethnologen distanziert, von denen er ursprünglich ausgegangen war, also besonders Tylor und Lubbock, aber auch John Stuart Mill, Darwin und Spencer und, nicht zu vergessen, Ree selbst (vgl. bes. GM Vorrede 4, 5:250f), so kritisiert Nietzsche nicht nur die irreführende Version ihrer genealogischen' Methode, die sich an fiktiven Nützlichkeitspostulaten endanghangelt, sondern, grundlegender, ihren Mangel an historischem Sinn, den sie mit den idealistischen Philosophen teilen:
210
der Dinge auf uns auf e i n e f a l s c h e C a u s a l i t ä t hin empfunden und ausgelegt werden: kurz, daß wir Werth und Unwerth, Nutzen und Schaden abmessen auf Irrthümer hin, daß die Welt, die uns e t w a s a n g e h t , falsch ist. (VIII 5[19]). Gegen falsche Kausalitätsschlüsse argumentiert schon Schopenhauer, von dem Nietzsche in dieser Hinsicht viel gelernt hat (z.B. 1988, 1. Buch §15, S. 127f). Burckhardt und Taine nennt Nietzsche gemeinsam mit nur einer weiteren Person, nämlich Bruno Bauer, in einem Briefentwurf an Reinhart von Seydlitz: im Grunde habe er nur jene drei Leser. Uber Taine fugt er hinzu: „Das ist endlich ein Leser, dessen Cultur umfänglich genug ist, um mich zu verstehn" (Briefentwurf vom 26. Oktober 1886, III.3:270f). Zu Bauer s. den Kurzeintrag von Andreas Urs Sommer in NH, S. 413. Interessanterweise hob Bauer, in der Tat einer der wenigen frühen Nietzscheleser, den ,mittleren', europabegeisteten Nietzsche heraus, den er als neuen Montaigne, Pascal und Diderot feierte. In der Christentumskritik traf er sich ebenfalls mit Nietzsche, nicht zuletzt in der Herleitung von Teilen des Christentums aus der Stoa sowie in der Ablehnung der historischen Verfälschung Jesu durch die Kirche.
3.5. Genealogie der Moral
141
Aber gewiss ist leider, dass ihnen der h i s t o r i s c h e G e i s t selber abgeht, dass sie gerade von allen guten Geistern der Historie selbst in (sie) Stich gelassen worden sind! Sie denken allesammt, wie es nun einmal alter Philosophenbrauch ist, w e s e n t l i c h unhistorisch; daran ist kein Zweifel. (GM 1.2, 5:258)
Hier spricht der ,alte Philologe', der seine Stärke gegenüber der akademischen Philosophie ausspielt. Mangel an historischem Sinn bedeutet bei Nietzsche deshalb nichts anderes als die bloße Betrachtung geschichtlicher Entwicklung unter teleologisch-normativem Aspekt. Der Mangel an historischem Sinn reproduziert den Erbfehler aller Philosophen, nämlich den Menschen als endgültiges Wesen mit universalen Eigenschaften anzusehen, statt als wandelbares mit plastischer Natur211. Wie einst die Stoiker, versuchen auch die neuzeitlichen Anthropologen ihr Menschenbild dem Rest der Menschheit aufzuzwingen, ein Menschenbild, das in einer ganz konkreten historischen Situation entstanden ist: an der Schnittstelle von niedergehender Religion, d.h. dem nur mehr nachwirkenden Christentum, und aufgehendem industriellen Zeitalter, das seine eigenen Götzen in den Begriffen dieser Religion interpretiert. Mangel an historischem Sinn bedeutet deshalb schließlich auch die Vernachlässigung des sensus historicus der philologischen Erklärung gegenüber dem sensus allegoricus in der theologischen Tradition. Der Gegenentwurf einer philologisch, d.h. historisch-kritischen Moralphilosophie kleidet sich unmissverständlich in die entsprechende Begrifflichkeit: Nietzsche wirft der bisherigen Moralphilosophie fehlenden „Argwohn" dafür vor, „dass es hier etwas Problematisches gebe." Doch nicht nur die text- und quellenkritische Skepsis fehlt, sondern ebenso jede „Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion" des eigenen Glaubens. Die Moralphilosophie kenne „die moralischen facta" nur in groben Bruchstücken und Auszügen, und beziehe sie häufig nur auf die eigene Umgebung „ihres Zeitgeistes", statt auf viele „Völker, Zeiten, Vergangenheiten"; deshalb führe letztlich erst eine „Vergleichung vieler
„Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist? ... Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägyptizismus. Sie glauben einer Sache eine Ehre anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie aeterni — wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten, — sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachstum sind für sie Einwände, — Widerlegungen sogar. Was ist, w i r d nicht; was wird, ist nicht..." (GD Die „Vernunft" in der Philosophie 1, 6:74). Oder auch viel früher: „ E r b f e h l e r der P h i l o s o p h e n . — Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen ,der Mensch' als eine aeterna Veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr b e s c h r ä n k t e n Zeitraumes. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse." (ΜΑ 1.1.2, 2:24f)
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
Moralen" weiter (JGB 5.186, 5:106)212. Tylor, Lubbock, Spencer, Mill und die anderen „englischen Psychologen" lassen ihre ethnologische Feldarbeit und ihr anthropologisches Urteil von den Wertmaßstäben der eigenen Epoche leiten, auch wenn sie immerhin die einzigen gewesen seien, die sich an einer Entstehungsgeschichte der Moral versucht hätten (GM 1.1, 5:257). Nietzsche möchte gerne annehmen „dass diese Forscher und Mikroskopiker der Seele im Grunde tapfere, grossmüthige und stolze Thiere seien" (258) und empfindet „Achtung [...] vor den guten Geistern, die in diesen Historikern der Moral walten mögen" (GM 1.2, 5:258)213. Allerdings sind sie anscheinend doch nur „kalte, langweilige Frösche" ( G M I . l , 5:258). In Nietzsches Werk gibt es nämlich einen auffälligen Kontrast zwischen den Maulwürfen und Fröschen, der viele Parallelitäten zum Kontrast unterschiedlicher Philologen- bzw. Gelehrtenschulen aufweist. Während die Maulwürfe, blind zwar gegenüber den großen Zusammenhängen, immer auf der Suche sind und in ihrem rastlosen Wühlen durchaus fündig werden, sind die Frösche durch ihre kalte Leidenschaftslosigkeit und ihr abträgliches Biotop, den unergründlichen Sumpf gekennzeichnet. Seine philologischen Lehrer auf der Pforte hat Nietzsche ausdrücklich vom froschartigen Charakter sonstiger Gelehrsamkeit ausgenommen: „Wenn ich damals gerade Lehrer gehabt hätte, von der Art, wie sie auf Gymnasien mitunter gefunden werden, engherzige, froschblütige Mikrologen, die von der Wissenschaft nichts als den gelehrten Staub kennen: ich hätte den Gedanken weit weggeworfen, jemals einer Wissenschaft anzugehören, der solche
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„In England meint man Wunder, wie freisinnig die höchste Nüchternheit in Sachen Moral mache: Spencer, Stuart Mill. Aber schließlich thut man nichts als seine moralische Empfindungen zu f o r m u l i r e n . Es erfordert etwas ganz anderes: wirklich a n d e r s einmal e m p f i n d e n zu können und Besonnenheit hinterher zu haben, um dies zu analysieren! Also neue innere Erlebnisse, meine werthen Moralisten!" (V 7[247]). Die „Moral-Historiker" schlössen aus der Existenz verschiedener Moralsysteme höchstens auf moralischen Relativismus, d.h. auf die Unverbindlichkeit jeglicher Moral, oder sie nähmen, in gleicher Weise naiv, irgendeinen konstruierten Konsensus zumindest der christlichen Völker an: „sie stehen selbst unter dem Regiment einer Moral, ohne es zu wissen und thun im Grunde nichts anderes als ihrem Glauben an sie zum Siege zu verhelfen: — ihre Gründe beweisen nur ihren eigenen Willen, daß das und das geglaubt würde, daß das und das durchaus wahr sein solle." Kritisieren sie die Meinung eines Volkes über seine Moral, glauben sie die Moral selbst kritisiert zu haben, allein durch die Bloßlegung des „Unkrautfs] von Unvernunft" (VIII 2[163]).
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„Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige Geister Reize und Verfuhrungskräfte besitzen: — auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger Engländer — ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer — in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, dass zeitweilig s o l c h e Geister herrschen? Es wäre ein Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen: sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung zu den „Regeln" Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen — nämlich etwas Neues zu s e i n , etwas Neues zu b e d e u t e n , neue Werthe d a r z u s t e l l e n ! 0 G B 8.253, 5:196f)
3.5. Genealogie der Moral
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Schacher dienen." (BAW 5:253)214. Den Fröschen unter Philologen und verwandten Forschern ist Wissenschaft zum Selbstzweck geworden, zum asketischen Ideal, das Nietzsche ja in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral dann ausführlich als nihilistische Besetzung der menschlichen Sinnleerstelle behandelt. Wenn Nietzsche in einem u.a. gegen „Frösche und Schwächlinge" gerichteten Aphorismus eine „Kritik der moralischen Werth-urtheile" fordert, die sich von der „ E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e " unterscheide, so schwingt darin die philologische Kombination aus niederer und höherer (urteilender) Kritik mit (FW 5.345, 3:577f). ,Maulwürfe' verkörpern die positiven Aspekte der Gelehrsamkeit bzw. Philologie;,Frösche' all das, was Nietzsche an ihr abstößt. Wer dergestalt als gnadenloser Richter und wissenschaftlicher Gutachter auftritt, steht selber in der Pflicht. Die Genealogie der Moral ist Nietzsches ambitioniertester Versuch auf dem Feld der Moralphilosophie und -geschichte. Es ist der Versuch, über die fröhliche, auf literarischen Quellen beruhende Wissenschaft hinauszugehen — als Demonstration dessen, was eigentlich vonnöten wäre. Nietzsche macht aus der wissenschaftlichen Not eine Tugend, indem er sich, statt umfangreiche Quellenstudien nachzuweisen, drastisch auf einige wenige ausgewählte Moralkonzepte beschränkt, die für einen einzelnen Forscher gerade noch zu handhaben sind, — diese aber nach allen Regeln der Kunst genealogischvergleichend ableitet. Gegenüber Paul Ree und dem „englischen Hypothesenwesen" richtet er sich deshalb auf „das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit" (GM Vorrede 7, 5:254). Trotz Verzichtes auf den bislang unerreichbaren ,Text' der Kultur bleibt das philologische Grundprinzip der Orientierung am ,Stemma' erhalten: durch Kollationierung historischer Ausprägungen von Moralbegriffen (bzw. den Motiven, die zu ihnen führten) wird ihre Herkunft jeweils ableitbar. Die gängige Auffassung von Nietzsches Genealogie dahingehend, dass „der anfängliche Sinn einer Sache keineswegs identisch mit den Trieben, Blättern, Blüten und Früchten [sei], die im Laufe der Zeit aus dieser Wurzel spriessen" (Sommer, 2000:140) lässt sich damit nicht nur vereinen, sondern beschreibt durchaus treffend das Grundprinzip des Stammbaums215. So wie der Philologe den Archetypus bzw. die Textgeschichte
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„Geben sie sich weise, so fröstelt mich ihrer kleinen Sprüche und Wahrheiten: ein Geruch ist oft an ihrer Weisheit, als ob sie aus dem Sumpfe stamme: und wahrlich, ich hörte auch schon den Frosch aus ihr quaken!" (Za II „Von den Gelehrten", 4:161). Immerhin lebt auch „ d e r G e w i s s e n h a f t e d e s G e i s t e s " im Sumpf (Za IV Der Blutegel, 4:309ff).
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Eine Sammlung verschiedenster Ansätze zur Bestimmung des Genealogiebegriffs findet sich in Schacht (Hrsg., 1994). Besonders sei auf den Beitrag von Alexander Nehamas (Nehamas, 1994) hingewiesen, der einige der hier gemachten Beobachtungen bestätigt. Die Genealogie versteht Nehamas als antikausalistischen Interpretationsprozess des radikalen Historismus: auch wenn er diesen Begriff wohl kaum verwenden würde („For genealogy is a process of interpretation which reveals that what has been taken for granted is the product of specific historical conditions, an expression of a particular and partial attitude toward the world, history, or a text that has been taken as incontrovertible.", S. 275). Er sei schon in der zweiten Un^eitgemässen vorge-
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
unter Berücksichtigung späterer Varianten und Eingriffe rekonstruiert, arbeitet sich Nietzsche über die Genese der Begriffe an ihre möglichst unverfälschten Ursprünge vor. Der Aphorismus 32 im zweiten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse spricht eine noch deutlichere Sprache. Die vormoralische Epoche (die Epoche vor dem Imperativ des Erkenne dich selbst) bewertete Handlungen nach ihren Folgen. Die Einpflanzung aristokratischer Werte kehrte den Blick um und fragte nach der Herkunft von Handlungen, um ihren Wert zu ermitteln. Das war der erste Schritt zur Selbsterkenntnis. Auf verhängnisvolle Weise übernahm man jedoch die Kausalitätsvorstellung und interpretierte die Herkunft jeweils als Absicht. Nietzsche fordert einen erneuten Blickwechsel und eine weitere Vertiefung des Menschen. Der Wert einer Handlung liege gerade in dem, was nicht absichtlich an ihr ist. Herkunftsuntersuchungen haben also zuoberst ihren Wert an sich, sie dienen, wie in der Philologie, nicht kausalen Erklärungen, sondern entwerfen ein komplexes Netz aus Zusammenhängen: Kurz, wir glauben, dass die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf, dazu ein Zeichen, das zu Vielerlei und folglich fur sich allein fast nichts bedeutet, - dass Moral, im bisherigen Sinne, also Absichten-Moral ein Vorurtheil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und Alchymie, aber jedenfalls Etwas, das überwunden werden muss. Die Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstände sogar die Selbstüberwindung der Moral: mag das der Name für jene lange geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probirsteinen der Seele, vorbehalten blieb.- (KSA 5:50f)
Die Redlichkeit ist also sowohl Ausfluss der Moral wie Instrument ihrer eigenen Überwindung. Der Intellekt in der Selbstbeobachtung befindet sich damit im Zustand permanenter Evolution. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die weitere Entwicklung der Kulturanthropologie. Er zeigt, wie revolutionär Nietzsches Absicht einer Recensio von Moralsystemen anhand ausgewählter Konzepte wirklich war. Das Paradigma Tylors, das lange Zeit Geltung hatte, wurde erst im zwanzigsten Jahrhundert in Frage gestellt. Clifford Geertz, der sich, ausgehend von Max Weber (der hierin wiederum stark von Nietzsche geprägt ist) sowie der einfühlenden Feldarbeit eines Malinowski, kritisch gegen Tylor absetzte, versucht eine hermeneutische Kulturanalyse zu begründen, die dem Ansatz Nietzsches, bis auf einen entscheidenden Punkt, recht nahe kommt. Seine eigene Kulturauffassung sei semiotisch, schreibt er am Anfang eines der einflussreichsten Bücher der letzten Jahrzehnte, in The Interpretation of Cultures (Geertz, 1975:5). Kultur sei ein Netz
bildet gewesen. Die Leistung der GM sei es gewesen, erstmals Phänomene wie Moral und Askese als interpretierungsbedürftige Phänomen eingeführt zu haben (besser wäre hier: erklärungsbedürftige) und Moral selbst bereits als Interpretation vor allem physiologischer Tatbestände entlarvt zu haben.
3.5. Genealogie der Moral
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von Bedeutungen, die der Mensch selbst erzeugt hat und welche nach Interpretation verlangen216: D o i n g e t h n o g r a p h y is like trying to r e a d (in the s e n s e o f ' c o n s t r u c t a r e a d i n g o f ) a m a n u s c r i p t - foreign, faded, full of ellipses, i n c o h e r e n c i e s , s u s p i c i o u s e m e n d a t i o n s , a n d t e n d e n t i o u s c o m m e n t a r i e s , b u t w r i t t e n n o t in c o n v e n t i o n a l i z e d g r a p h s o f s o u n d b u t in transient e x a m p l e s o f s h a p e d b e h a v i o u r . (10)
In der Übertragung der Netzwerkmetapher der Kultur in den Textbegriff erweist sich Geertz' Ansatz als philologischer217. Geertz erkennt natürlich die Gefahr der Textmetapher, die darin besteht, dass der Anthropologe sich als Außenstehender zu diesem Text der Kultur erklärt. Eben das funktioniere nicht, der Text sei keine Ansammlung uninterpretierter Daten, sondern enthalte schon die Auswirkung der Interpretationen auf den Beobachter selbst (z.B. S. 15). Geertz' berühmte ,thick descriptions' unterscheiden sich wenig vom kulturhistorischen Ansatz Burckhardts, nämlich die Quellen sprechen zu lassen, kombiniert mit dem Eingeständnis der Beteiligung des Anthropologen, ja der Fruchtbarmachung dieser Beteiligung218. Das eigentliche Problem der Textmetapher liegt jedoch an anderer Stelle. Wenn Kultur von Geert2 und anderen Ethnologen ohne weiteres als Text aufgefasst wird, der gedeutet werden muss und dessen Verfasser die Handelnden der jeweiligen Kultur sind, dann liegen die Wurzeln dafür zwar durchaus in der Philologie (vgl. auch Lenk, 1996), das Verfahren zur Identifizierung dieses ,Textes' ist aber völlig unphilologisch. Der ,Text' müsste von den Ethnologen nämlich zunächst in mühsamer empirischer Arbeit erstellt werden: die Herauslösung verschiedener Kulturelemente zur ethnologischen Bearbeitung müsste entsprechend begründet werden; sich mit schlechthin allen relevanten Phänomenen zu beschäftigen, ist gewiss unmöglich. Dieser Herauslösungsprozess als Definition der jeweiligen ,Kultur' stellt aber schon die eigentliche Arbeit dar. Carsten Lenk nennt diesen Prozess deshalb richtigerweise das Textualisieren des Gegenstandes der Ethnologie. Der angebliche ,Text' einer Kultur besteht deshalb schon aus „Interpretationen erster Ordnung", nämlich den Beobachtungen des Ethnographen, 216
217
218
Geertz benutzt den Begriff der Erklärung (explication) interessanterweise synonym zur Interpretation. Es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung der amerikanischen Kulturanthropologie nachzuzeichnen. Es ließe sich aber leicht zeigen, dass sie in ihrer Begründungsphase ohne den Import philologischen Denkens nicht denkbar gewesen wäre. Sie wurde wesentlich von deutschen, kulturphilologisch geschulten Einwanderern wie Franz Boas geformt. „anthropological interpretation is constructing a reading of what happens" (Geertz, 1975:18) und fixiert "the flow of social discourse" (20f). Die Hauptarbeit gilt dem mikroskopisch-kleinen Detail, die großen Themen sollen allenfalls aus den kleinen, konkreten Kontexten entwickelt werden. Dergleichen philologische Metaphorik zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Studie. Wer Geertz genau liest, wird jedoch schnell feststellen, dass seinem Textbegriff die Editionsphilologie angelsächsischer Prägung zugrundeliegt. Die europäische Kultur, davon kann er sich schwerlich befreien, gilt ihm gleichsam als copy text, auf dessen Basis definitive Texte anderer Kulturen erstellt werden.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
den Darstellungen der Informanten etc. (Lenk, 1996:119). Erst mit dieser Erkenntnis schließt die Ethnologie an den Erkenntnis stand Nietzsches bzw. der historisch-kritischen Philologie an. Nietzsches Selbstbeschränkung in der Genealogie der Moral bzw. der Rückgriff auf literarische Quellen andernorts war Hellsicht gegenüber den eigenen Grenzen — aus dem philologischem Gewissen heraus. Es entbehrt nicht der Ironie, wenn — gewiss nicht aus Zufall! — die interpretative Ethnologie gegenwärtig als eine Art philologischer Rückimport auf die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Texten übertragen wird 219. Abgesehen von dergleichen Konvergenzerscheinungen hat Nietzsches Genealogie methodisch einige sehr deutliche Spuren hinterlassen, von denen drei repräsentative Beispiele herausgegriffen werden sollen, um den Bezug der Genealogie zur philologischen Methodik abschließend zu klären. Am bekanntesten ist der Versuch Foucaults; seine Diskursanalyse hat ihre Verwandtschaft zu Nietzsches Denken ja nie geleugnet. Jetzt erst lässt sich die ganze weidäufige philologische Familie erkennen, aus der Foucault durch den Filter Nietzsche sein komparatistisches Arsenal und seine wissenschaftliche Rhetorik rekrutiert. Die philologische Inspiration seiner Art der Historiographie erklärt den langen Widerstand der nachpositivistischen Geschichtsschreibung gegen ihn. Sie erklärt vor allem seine auf den ersten Blick unverständliche Ablehnung der Interpretation: M a i s si interpreter, c'est s ' e m p a r e r , par v i o l e n c e o u s u b r e p t i o n , d ' u n s y s t e m e de regies qui n'a pas en soi de signification essentielle, et lui i m p o s e r u n e direction, le p l o y e r ä u n e v o l o n t e nouvelle, le faire entrer d a n s u n autre jeu et le s o u m e t t r e ä des regies sec o n d e s , alors le d e v e n i r de l ' h u m a n i t e est u n e serie d'interpretations. E t la g e n e a l o g i e doit en etre l'histoire: histoire des m o r a l e s , des i d e a u x , des c o n c e p t s m e t a p h y s i q u e s , histoire du c o n c e p t d e liberte ou d e la vie ascetique, c o m m e e m e r g e n c e s d'interpretations differentes. (Foucault, 2 0 0 0 : 1 1 5 )
Die Genealogie steht in diesem wegweisenden Aufsatz von 1971 jedoch nur scheinbar außerhalb der Interpretation, denn sie ist sich ihres Perspektivismus bewusst, versteht sich aber, wie bei Nietzsche, als Vergleich von Interpretationen 219
Vgl. z.B. Bachmann-Medick (1996). Bachmann-Medick lässt sich auf die Metaphorisierung von Kultur als Text ein, ohne zu bemerken, dass es sich letztlich um strukturalistisches Erbgut handelt: Handlungen und Ereignisse sollen als Text betrachtet werden, um dadurch Bedeutungen erschließen zu können, bezeichnenderweise kennzeichne es deshalb Kultur und Text gleichermaßen, „zu verschiedenen Lesarten" aufzurufen (10). Bedenklich ist dabei nicht nur, dass die Allegorese wieder zu neuen Ehren kommt (31 ff), sondern dass der vermeintliche Hauptgegner des Dekonstruktivismus mit seiner Textzentrierung (44) in Wahrheit gar keiner ist. Im „Verständnis der Textvermitteltheit von Kulturen ebenso wie von kulturellen Implikationen literarischer Texte" (45), der durchaus nicht neuen Beachtung sozialer Kontexte also, sollen der Ethnologie und der Literaturwissenschaft zwar wichtige neue Gegenstandsbereiche zuwachsen, die sich sogar politisch betätigen, weil sie gegen Marginalisierung bestimmter Gruppen und Kulturen gerichtet sind, obwohl die viel grundlegendere Frage nach der Konstitution der entsprechenden Texte gar nicht erst angesprochen wird. Resultate, Gegenstände und Methoden des New Historicism und verwandter Strömungen wirken denn auch häuflg beliebig und nur oberflächlich überzeugend. Dem Kampf gegen die Marginalisierungen hat sich die Dekonstruktion mittlerweile ohnehin selbst verschrieben.
3.5. Genealogie der Moral
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und kommt deshalb dem perspektivischen Lesen Nietzsches nahe, das im Zentrum der nächsten Kapitel stehen wird. Diskursanalyse als die Geschichte nicht vorhersagbarer Machtdynamiken von Interpretationen, die sich um der zukünftigen Einflussnahme willen jeweils ein System von Regeln schaffen, muss auch methodisch eben jenem dynamischen Charakter gerecht werden. Der Siegeszug der Foucaultschen Genealogie in der Literaturwissenschaft verdankt sich ihrem Ursprung in der philologischen Tradition (obwohl es sowohl Foucault wie der Literaturwissenschaft verborgen geblieben ist), denn sie gab ihr einmal mehr die Möglichkeit, die eigene Praxis neu zu rechtfertigen. Nicht umsonst versteht sie sich als Methodik der kleinen Schritte, als „un certain acharnement dans Ferudition" (103). Programmatisch lautet der erste Satz: „La genealogie est grise: eile est meticuleuse et patiemment documentaire. Elle travaille sur des parchemins embrouilles, grattes, plusieur fois recrits." (102). Parallel zu Nietzsches Ablehnung der Suche nach dem Ursprung der Dinge als einer Suche nach dem Wesen220, so Foucault, komme fur die langsame, harte Historie als Genealogie ebenfalls nur die weitaus bescheidenere Suche nach der Herkunft der Werte oder der Moral in Betracht, eine Beobachtung kontingenter Machtkämpfe. Sie muss sich durchaus bei Einzelheiten aufhalten und mit Zufällen beschäftigen und wirke so dem Mythos des Ursprungs entgegen. Der Leib sei dabei der Ort der Herkunft schlechthin, ihm seien die Ereignisse eingeschrieben. Er gehorche deshalb nicht nur den Gesetzen der Physiologie, sondern auch der Geschichte: Foucault bedient sich folgerichtig ganz wie die kritischen Philologen medizinischer Metaphern, um das Verhältnis des Genealogen zu seinem Gegenstand zu erläutern und betont wiederholt die Nähe des historischen Sinns zur Medizin. Am anderen Ende des Spektrums versuchte jüngst Bernard Williams (2002) unter Berufung auf Nietzsches intellektuelle Redlichkeit eine Art wissenschaftliches Ethos zurückzugewinnen. Man müsse die Wahrheit (truth) von Wahrhaftigkeit (truthfulness) unterscheiden. Nietzsches genealogische Methode sei die exemplarische Methode der Wahrhaftigkeit. Abgesehen von der skandalösen und völlig unverständlichen Ignoranz deutschsprachiger Sekundärliteratur, vom Mangel an Quellenkenntnis ganz zu schweigen (hier wurden gute Chancen vertan, selbst intellektuelle Redlichkeit zu praktizieren), enthält Williams' Buch richtige Einsichten über Nietzsches Genealogie. So erkennt er, dass Nietzsches Tatsachensinn und Wahrheitsliebe etwas mit seiner Selbststilisierung als ,alter Philologe' zu tun haben (2002:16), verfolgt das Thema jedoch nicht weiter. Die Genealogie selbst definiert er als Erzählung (narrative), welche die (mögliche) Entstehungsweise eines kulturellen Phänomens erkläre (explain, S. 20). Diese Verteidigung der Relevanz fiktionaler Erzählmodi zur Erklärung der Genese von Phänomenen kann bei einigem guten Willen als Intuition über Nietzsches Hinwendung zu literarischen Quellen gedeutet werden. Andererseits liegt aber eine 220 Nietzsche selbst unterscheidet freilich nicht so eindeutig wie Foucault den Ursprung von der Herkunft.
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
sowohl aus Unkenntnis der Wissenschaftsgeschichte wie der Nietzscheliteratur erwachsene Fehldeutung vor. Ein „narrative" ist die Genealogie der Moral nicht will sie, wie vor allem Gary Shapiro (1982) demonstrieren konnte, gerade im Kontrast zu Renans Arbeiten nicht sein. Die Genealogie ist sogar einer der am strengsten diskursiven Texte Nietzsches; sie soll das analytische Gegenstück zur verfrühten Synthese eines Renan und verwandter Geister darstellen. Bedeutender und gerade in diese Richtung bis heute wegweisend sind die Arbeiten Eric Blondels. Nietzsche, so heißt es in einem frühen Aufsatz, bilde den physiologischen in einen philologischen Diskurs um, und es sei erstaunlich, wie Nietzsche beide Diskurse im Spätwerk miteinander verbunden habe. Nietzsche spreche vom Leib nicht als empirischer, biologischer Realität, als Gegenstand, sondern als zu entzifferndem, auszulegendem Text, „so daß die Philologie als Transzendentales des genealogischen-physiologischen Diskurses über das unbekannte An-sich des Leibes figuriert (wohl gemerkt also weder Realität noch pures Zeichen, reiner Schein)." Es handele sich um eine kantische Denkfigur: Nietzsches Leib verhalte sich zum Text wie das Ding an sich zur Erscheinung. Der Leib erscheine als Ursprung des Textes, als dessen „grosse Vernunft" (1981/82:536)221. Es erscheint unverständlich, warum Blondel nicht von der These ausgegangen ist, die schon die Chronologie von Nietzsches geistigem Werdegang suggeriert, dass nämlich Nietzsche umgekehrt den philologischen Diskurs in den physiologischen umgebildet habe. In seinem wichtigen Buch Nietzsche. Le corps et la culture: La philosophie comme genealogie philologique, das leider nie ins Deutsche übersetzt wurde, hat Blondel das Thema denn auch weiter gefasst bzw. die Perspektive umgedreht. Blondel stellt bei Nietzsche nun eine metaphorische Übertragung philologischen Denkens auf den Bereich der Kultur fest. Er untersucht die bis dato wenig beachtete Körpermetaphorik Nietzsches, in der sich die Andersartigkeit von Nietzsches Texten besonders ausspreche, und arbeitet klar die metapho221
In dem Brief an Gersdorff von Ende August 1866, der von seiner Entdeckung F.A. Langes berichtet, macht Nietzsche zwar deutlich, dass auch unsere (sichtbaren) Organe nur Teil der Erscheinungswelt seien und die eigene Organisation, also der eigene Leib so unbekannt wie die Außenwelt bleibt (1.2 160). Aber das rettet noch nicht das von Blondel noch verwendete Ding an sich: dies würde ja schon eine Erkenntnis des Leibes voraussetzen, zu der es kein erkennendes Subjekt geben kann. Der Leib kann nichts als seine Erscheinungsformen sein. Wenn wir also Texte, welcher Art auch immer, als Zeichen des Leibes ansehen, dann macht die Summe dieser Zeichen eben den erkennbaren Leib aus. Eine Essenz dahinter zu vermuten wäre Metaphysik und angesichts des steten Wandels nicht nur des Leibes auch unredlich. Möglicherweise hat Blondel dies ja auch gemeint und nur missverständlich ausgedrückt oder ich habe ihn schlecht gelesen. Freilich sieht Blondel noch 1994 Nietzsches Genealogie in der kritischen Tradition Kants. Er verweist u.a. auf Kants Verwendung des Begriffs in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, was mich nicht überzeugt. Die Genealogie sei auch Rees Ursprung entgegengestellt — ähnlich argumentierte ja Foucault —; wobei der Unterschied wohl darin liegt, dass Nietzsche, der in der Tat nicht den Ursprung an sich verfolgt, vielmehr bemüht ist, die verschiedenen möglichen Ursprünge zu kollationieren, um die Genese, also die genealogische Beziehung zum aktuellen Gebrauch zu erforschen. Die einseitige Konzentration auf das kantische Erbe scheint mir für den späten Nietzsche nicht plausibel.
3.5. Genealogie der Moral
149
tische Nähe von Philologie, Physiologie und Medizin heraus. Es ist nur zu bedauern, dass Blondel während dieser Studien nicht mit der tatsächlichen philologischen Tradition vertraut war, die für Nietzsche maßgeblich gewesen ist. Vor allem Blondels Textbegriff entspricht dem Textbegriff Nietzsches kaum, wie nicht zuletzt seine Analyse des Genealogiebegriffs deutlich macht. Aufgabe der Philologie als Genealogie des Textes sei es, ihren leiblichen Ursprung (l'origine corporelle) an den Tag zu bringen (1986:52). Es zeigt sich aber, dass diese Herleitung immanent auf den bereits vorliegenden Text bezogen bleibt. Blondels Textbegriff ist, wie in der französischen Tradition üblich, polemisch dem Werkbegriff entgegengestellt, als eine Art pluralisierend-offene, interpretierbare Struktur, in der nicht nur der propositionale Inhalt zählt, sondern auch die stilistische Verfasstheit, ja diese als Leiblichkeit des Textes sogar Vorrang genießt (z.B. 134f)222. Der tendenziell inkohärente Text und seine Strukturen sind für Blondel deshalb Ausgangspunkt der Philologie statt, wie für Nietzsche, End- und Höhepunkt. Während für Nietzsche Philologie zunächst bedeutet, einen Text zu erstellen, setzt Blondels Auffassung der Philologie voraus, dass das jeweilige Analyseobjekt (wie etwa die Kultur) ohne weiteres als Text aufgefasst werden kann, der dann zu lesen sei (194). Blondels wichtigster Intuition, Nietzsche habe als Philologe die Philosophie lehren wollen, die Kultur als Text zu lesen bzw. die Philologie als generelles Modell der Kulturanalyse anzunehmen, ist deshalb nur bedingt zuzustimmen. Dennoch hat Blondel eine wichtige Beobachtung gemacht. Betrachtet man die Genealogie der Moral isoliert, könnte man in der Tat zu der Auffassung kommen, Philologie sei in erster Linie eine Anleitung zum richtigen Lesen, nicht zuletzt von Nietzsches eigenen Schriften223. Für Blondel ist die genealogische Methode letzlich identisch mit einer gewissenhaften Lektüre, mit genauer Beachtung semantischer und phonologischer Feinheiten, mit dem sensiblen Ohr für rhetorische und stilistische Nuancen. Es kann ferner kein Zufall sein, dass die Vorrede zur Genealogie der Moral (GM. Vorrede 8, 5:255f) Nietzsches vollständige Lesetheorie enthält. Es sei daran erinnert, dass Nietzsches gute Philologie zwei Bestandteile enthielt: die Herstellung und die Kommentierung von Texten. Beides ist logisch voneinander unabhängig. Es leuchtet ein, dass sich selbst zu dem verlässlichsten Text nicht automatisch ein adäquater Leser einstellt (und umgekehrt). In der dritten Abhandlung der Genealogie untersucht Nietzsche die Herkunft und die Beweggründe der Gelehrten- und Philosophenexistenz. Die Abneigung der Philosophen gegen Sinnlichkeit und Ehe sei eine Universahe (Abschnitt 7), sie zeig222
223
Vgl. auch Silverman (1994): der Begriff des Werks ist heute abhängig von der Idee des Autors, während der Text als System verschiedener, vom Autor unabhängiger Codes auffassbar ist. „Cet appel de Nietzsche ä la philologie est d'abord une exhortation ä s'inspirer de la methode philologique pour lire les textes de Nietzsche d'une maniere ä la fois consciencieuse, conservatrice et nouvelle par rapport aux autres textes philosophiques. [...] Mais surtout, Nietzsche evoque la philologie parce que le style de son texte est intimement lie ä la pratique d'une methode de lecture philologique appliquee au 'texte' de la culture." (Blondel, 1986:137)
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3. Philologische Methode I: Text und Genealogie
ten generell eine Vorliebe für das asketische Ideal. Aber: „man muss diesen Thatbestand erst interpretiren: an sich steht er da dumm in alle Ewigkeit, wie jedes ,Ding an sich'". Immerhin gilt es festzuhalten, dass es sich hier zumindest schon um einen Text handelt, der auf einem vorgeführten Vergleich der philosophischen Existenzweise durch die Zeiten und Kulturen, nicht auf bloßer Behauptung beruht224. Nietzsche scheut sich nicht, falsche Auslegungen der von ihm in der Genealogie identifizierten Tatbestände beim Namen zu nennen. Um der Genealogie der Moral und anderen Texten Nietzsches gerecht zu werden, muss daher das hesen als zweiter wichtiger Bestandteil der Philologie untersucht werden. Erst dann lässt sich endgültig bestimmen, was Nietzsche mit dem Begriff der Interpretation verbunden hat und in welcher Beziehung er zum Perspektivismus steht.
224
In der gesamten Abhandlung konstruiert Nietzsche mehrere solcher, durch Kulturvergleich gewonnene fragmentarische Texte. Die Voraussetzung zur guten Philologie ist also gegeben. Freilich stellt der 8. Abschnitt diese Einsicht schon wieder ironisch in Frage, denn sie sei ja von einem Philosophen gekommen, für den die Determination durch Triebstruktur genauso Gesetz sei wie für andere auch; psychologisches Misstrauen gegen sich selbst praktiziert Nietzsche mehrfach (vgl. auch GM 111.20, 5: 387). Wie immer warnt Nietzsche besonders vor falschen Kausalitätsschlüssen. Die Frage nach der Bedeutung des asketischen Ideals, so lautet letztlich die Botschaft, dürfe man auch mit einem Verweis auf ihre Wirkung beantworten.
4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
4.1. Lesekunst und Reisekunst Lesen ist bei Nietzsche neben der (Text-)Kritik das zweite Merkmal der Philologie, das sie von anderen Wissenschaften bzw. Tätigkeiten unterscheidet. Es bezeichnet das grundlegende philologische Verfahren, ohne das Kritik selbst auch nicht existierte. Im Gegensatz zu den Philologen haben etwa Philosophen „nicht gelernt o r d e n t l i c h z u l e s e n und zu interpretieren" (IV 23[22]) - man beachte schon an dieser Stelle die Unterscheidung des Lesens v o m Interpretieren. Selbst Schopenhauer habe z.B. Kant und Piaton völlig missverstanden. Das „Abzeichen" der Theologen sei ebenfalls ihr Unvermögen zur Philologie, denn Philologie heißt „Thatsachen ablesen können ohne sie durch Interpretation zu fälschen" (VIII 14 [60]). Eine Variante im Nachlass ist noch expliziter, hier ist die Interpretation eine völlig willkürliche Zutat zum Auslegungsprozess: „Das nenne ich den M a n g e l an P h i l o l o g i e : einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen" (VIII 15 [90]). Der Stellenvergleich beweist, dass mit Mangel an Philologie nicht der Verzicht auf Interpretation gemeint ist, sondern das genaue Gegenteil, ein Zuviel an Interpretation. Die Ellipse des zweiten Zitats hat einige Interpreten in die Irre gefuhrt. Das Missverständnis eines Lesens ohne Auslegung ist aber keine zwingende Lesart. Der Satz schließt zunächst naturgemäß nicht aus, dass man fälschen kann, ohne zu interpretieren. Verfälschende Auslegung ist überdies noch immer Auslegung. Interpretation selbst aber scheint, wie bereits dargelegt, in der Tat per se Fälschung zu bedeuten. Aus der Theorie der philologischen Enzyklopädie folgte mit Notwendigkeit der fälschende, überwältigende und aneignende Charakter der Interpretation, sobald sie durch Grammatik und besonders durch Kritik nicht mehr in Schach gehalten wurde. Dann wird nicht mehr abgelesen, d.h. ein Text etabliert oder gelesen, sondern hineingelesen. Ablesen und Lesen sind indes nicht synonym. Ablesen bezeichnet bei Nietzsche eher den Prozess der niederen Kritik, deren Resultate mit strenger Methode gewonnen werden, wogegen Lesen selbst ein umfassenderer Begriff ist, der in eigener Weise im Gegensatz zur Interpretation steht. Es handelt sich um einen operativen Unterschied: im Antagonismus des Lesens und Interpretierens, den Nietzsche entfaltet, stehen sich zwei verschiedene Arten des exegetischen Zugangs gegenüber. Interpretation bzw. Hermeneutik tendieren zur unredlichen,
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
statisch-pneumatischen Auslegung, während das Lesen eng an die Kritik angelehnt wird. Nietzsche definiert die gute Philologie deshalb als Zusammenspiel von Lesen und Kritik gegenüber der unredlichen Antiphilologie kirchlicher und metaphysischer Allegorese. Es gehöre zum „Humor der europäischen Cultur", notiert er Ende der achtziger Jahre, dass man die „Kunst des Lesens und der Kritik" zwar schätze, aber nichtsdestoweniger die kirchliche „Interpretation" der Bibel aufrechterhalte (VIII 11 [319]). Neben der genuinen und professionellen Tätigkeit des Philologen, die der schlechten, oberflächlichen und verfälschenden Auslegung anderer Disziplinen überlegen ist, kennt Nietzsche eine weitere Bedeutung des Lesens. Lesen kann auch Flucht vor dem Leben, Schwäche und Nihilismus bedeuten. Im exzessiven Lesen — und vor allem im philologischen Lesen — liegt die Gefahr der Verkümmerung der Individualität des Lesers. Beide Aspekte des Lesens hängen, wie zu sehen sein wird, eng zusammen; der Unterschied ist ein gradueller, kein absoluter. Lesen, soviel sei vorausgeschickt, ist für Nietzsche in erster Linie im Bereich schriftlicher Texte möglich. Das ist weniger banal als es klingt. Nietzsche weist damit auf die textuellen Schwierigkeiten außerhalb des philologischen Kompetenzgebietes hin, die Lesen in den meisten Fällen zur fruchtlosen Anmaßung machen. Das Wort ,Lesen' ist so unscheinbar, dass man ihm kaum begriffliche Schärfe zutrauen mag. Kaum ein Literaturwissenschaftler, Historiker oder Philosoph, der auf sich hält, spricht heute noch davon, Bücher oder Quellen zu lesen. Stattdessen wird interpretiert, analysiert, dekonstruiert. So ist es freilich nicht immer gewesen. Neben der Begründung auf philologischer Kritik hat sich die Philologie als Disziplin über das Lesen konstituiert. Schon frühzeitig erkennen sich die Philologen eine besondere Kompetenz im Lesen zu und benutzen es zur Abgrenzung von anderen exegetischen Disziplinen wie der Theologie oder Jurisprudenz. Für Boeckh liegt der Unterschied zwischen Philosophie und Philologie vor allem darin, dass erstere „primitiv" erkenne, während letztere wiedererkenne, und zwar wesentlich durch die Tätigkeit des Lesens. Das Lesen sei die „hervorragend philologische Tätigkeit, der Lesetrieb die erste Aeusserung des philologischen Triebes" (21886:16f). Philosophiegeschichte, das folgt bereits aus dieser Definition, sei deshalb eigentlich Philologie (18). Ritsehl nennt das Lesen die wichtigste Tätigkeit des Philologen und fordert die Schüler auf: „Lesen, viel lesen, sehr viel lesen, möglichst viel lesen." (1879:28). Gleich auf der ersten Seite von Birts Kritik und Hermeneutik heißt es: „Der Philologe muß Texte lesen; er muß sie lesbar machen." Einschlägige Belege finden sich bei fast allen wichtigen Autoren der philologischen Tradition. Nietzsche ermahnt seine Studenten in der Tincyclopaedie\ „Da die Überlieferung gewöhnlich die Schrift ist, so müssen wir wieder lesen lernen. Wir müssen wieder lesen lernen: was wir, bei der Übermacht des Gedruckten, verlernt haben." (KGW 11.3:404) Man müsse tiefer lesen, heißt es an derselben Stelle, denn der Umstand des Gedrucktseins
4.1. Lesekunst und Reisekunst
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suggeriere schon einen Tatbestand, der vielleicht nicht hinlänglich begründet ist. Nietzsche hält die Studenten damit nicht nur zum Studium von Handschriften, Manuskripten, zu Paläographie und Textgenese an, sondern fordert vor allem immer wieder das gründliche, mehrfache Lesen derselben Schrift — erst dann nehme man die entscheidenden Punkte wahr, so wie die Korruptele einer verdorbenen Stelle sich auch erst langsam eröffne (ebd.). Auch außerhalb des Seminarraums entwirft Nietzsche seinen idealen Adressaten als Leser, und zwar als Leser, der „ruhig sein und ohne Hast lesen" muss, der „nicht immer sich selbst und seine ,Bildung' dazwischen" bringe, der „noch nicht in die schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters hineingerissen" ist (Όeher die Zukunft unserer Bildungsanstalten, KSA l:648f). Neben Feinheit und Takt sind Langsamkeit und Gründlichkeit immer wieder hervorgehobene Eigenschaften der Kunst des guten Lesens. Nietzsche bezieht sich bewusst auf ein unzeitgemäßes Zeitverständnis; das philologische Lesen ist im vorindustriellen Zeitalter entstanden. Der Philologe ist der „Lehrer des langsamen Lesens", und das bedeutet „langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen" zu lesen (M Vorrede 5, 3:17). Den schlechten Leser dagegen erkennt man an seiner Hast: „Beachten Sie wie schnell er liest, wie er die Seiten umschlägt — genau nach der gleichen Sekundenzahl Seite für Seite. Nehmen Sie die Uhr zur Hand. Es sind lauter einzelne wohlüberdenkbare Gedanken schwerere leichtere — und er hat für alle Einen Genuß! Er liest sie durch, der Unglückliche, als ob man je Gedanken-Sammlungen durchlesen dürfte!" (IV 47 [7]). Die Art und Weise des Lesens und seine Geschwindigkeit muss also der Textsorte angemessen sein. Aphorismen, ein literarisches Genre, lese man nicht zur schnellen Sinnerfassung. Ihr Sinn eröffnet sich nur dem langsamen Leser: ein Grund, warum Nietzsche sich in seinen Schriften bevorzugt literarischer Gattungen bedient. Im Kontrast zur voreiligen pneumatischen Auslegung, die schnell mit dem doppelten Sinn bei der Hand ist, bezeichnet das Lesen offensichtlich das Einlassen auf fremde Gedanken und damit eine gewisse Passivität — „in fremden Wissenschaften und Seelen spazieren gehn" (EH Warum ich so klug bin 3, 6:284). Offnet sich der Leser diesen Perspektiven des Textes, ist er ein guter Leser225. Die schlechten Leser dagegen gehen vor „wie plündernde Soldaten", denn „sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze." (VM 137, 2:436). Gutes Lesen teilt mithin wichtige Eigenschaften der Kritik — das Einlassen auf das Fremde, dem seine Individualität zugestanden wird, den Takt der zarten Finger und Augen. Schlechtes Lesen hingegen entspricht der Interpretation, die, auf sich allein gestellt, nach Möglichkeit alles unterwirft und einverleibt. In der Passivität des guten Lesens liegt freilich die Gefahr alles Schwachen — vor allem im Vergleich 225
Gutes Lesen, durch das man sich auf Fremdes einlässt, hilft sogar, dem entstehenden (europäischen) Nationalismus entgegenzuwirken (WS 87, 2:593).
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
gegenüber den „Soldaten" —, nämlich vom anderen Geist fremdbestimmt zu werden, nur noch zu reagieren. Genau das macht ja den Philologen (also den Fachmann des Lesens) zum decadent (vgl. EH Warum ich so klug bin 8, 6:292f). Von einer platten Projektion eigener Vorstellungen und Empfindungen wie ihn das Bild der Interpretation als Vergewaltigung nahelegt, kann jedenfalls beim guten Lesen Nietzsches keine Rede sein. Im Gegenteil erfordert es den Willen zu einer gewissen Distanzierung von sonstigen Motiven. Schon F.A. Wolf schreibt: W e n n w i t e t w a s lesen w o l l e n , m ü s s e n w i r u n s v o n a l l e m V o r u r t h e i l l o s m a c h e n , d.h. m i t gar k e i n e m W u n s c h e d a z u g e h e n , w a s w i r w o h l da f i n d e n m ö c h t e n , s o n d e r n u n s blos d e m Schriftsteller überlassen. D i e s ist eine sehr w i c h t i g e R e g e l , z u d e r eine grosse N ü c h t e r n h e i t des G e i s t e s gehört, die nicht j e d e r m a n n eigen ist. ( 1 8 3 1 : 2 9 5 )
Man könnte meinen, spätestens Gadamers Rehabilitierung des Vorurteils habe dies als Restbestand aufklärerischer Naivität oder romantischer Utopie endarvt. So einfach liegen die Dinge indes nicht. Natürlich glaubt Nietzsche nicht, dass die Distanzierung von eigenen Affekten und Motiven, von eigenen Schemata, wie sie die moderne Lesetheorie nennt226, vollständig gelingt. Aber was sollte der Appell an das gute Lesen bezwecken, der zu fast jedem von Nietzsches Werken seit Menschliches, All^menschliches gehört, wenn dieses Lesen nicht verspräche, dem Geschriebenen bzw. Gemeinten näher zu kommen als jede beliebige andere Interpretation? Um ihn zu verstehen, so Nietzsche, müsse man eben „rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte" — und das bedeute u.a.: „Man muss gleichgültig geworden sein, man muss nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängnis wird...." Auch die unbedingte Freiheit gegen sich selbst gehört zum guten Leser (AC Vorwort, 6:168). Ausgerechnet jenes Buch, das die Interpretation generell als Vergewaltigung definiert, feiert das „Lesen als K u n s t " (GM Vorrede 8, 5:255f)! Die „Lesbarkeit" (Nietzsches Begriff) nicht zuletzt seiner eigenen Schriften kann nur durch langsames Wieder- und Wiederlesen — „Wiederkäuen" 2 2 7 - zustande kommen (ebd.). Es unterläuft die Schemata, indem es immer wieder neue Schemata anwendet — und immer wieder wenigstens versucht, die Perspektive des Texdeibes einzunehmen: gramma statt pneüma. Denn der ideale Leser liest gleichsam mit seinem eigenen Leib, bis hinein in die kleinsten und scheinbar oberflächlichen Zeichen: „Kommata, Frage- und Ausrufezeichen, und der Leser sollte seinen Körper dazu geben und zeigen, daß das Bewegende auch bewegt." (IV 47[7]). Der offensichtliche Gegensatz von Lesen und Interpretieren ist keine Spezialität der Genealogie der Moral, sondern prägt Nietzsches Schriften von Anfang an. 226
Einen schnellen Uberblick der aktuellen interdisziplinären Leseforschung bietet Franzmann u.a. (Hrsg., 1999), darin bes. die Abschnitte „Geschichte des Lesens" von Erich Schön, „Psychologie des Lesens" von Ursula Christmann und Norbert Groeben sowie „Neurobiologie des Lesens" von Marc Wittmann und Ernst Pöppel.
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Das Wiederkäuen gehört in der Frühzeit noch zu den Topoi der Philologiekritik, s. z.B. HL 1, 1:250. In der Untyklopaedie heißt es aber dezidiert: „Oft Lesen ders. Schrift ist viel wichtiger als zerstreuende Vielleserei" (s. auch den Kontext: K G W II.3:404ff).
4.1. Lesekunst und Reisekunst
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In seinen wissenschaftlichen Schriften zieht Nietzsche, wie die meisten zeitgenössischen Philologen, den Begriff des Lesens dem der Interpretation vor — auch wenn die interpretatio bzw. Interpretation als Synonyme zum Fachterminus der hermeneutischen techne oder auch allgemein als Auslegung auftauchen (sie bezeichnen dann meist die inhaltliche Auslegung, d.h. den sog. Sachverstand). Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung über die Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche in einem Brief an Rohde über den jungen Wilamowitz: „Nur durch die frechsten Interpretationen erreicht er, was er will. Dabei hat er mich schlecht gelesen, denn er versteht mich weder im Ganzen noch im Einzelnen." (8. Juni 1872, 11.3:7). Interpretation scheint hier sogar im Kontrast zum richtigen Lesen ein böswilliges Missverstehen zu bezeichnen. Um erklären zu können, was Nietzsche unter dem Lesen versteht, reicht die isolierte Betrachtung seiner Schriften oder Briefe jedoch nicht aus. Erst durch einen kurzen Blick in die Geschichte des Lesens lässt sich die besondere Bedeutung herausarbeiten. Lesen bedeutet ursprünglich das Sammeln, besonders das Aufsammeln und Einlesen von Früchten oder Wein und wird im Sinne des lateinischen lectio nach und nach auf das erbauliche Lesen der Schrift und das Lesen zum Vergnügen angewendet, wobei die übertragene Bedeutung immer mehr Bereiche erfasst — jemandem im Gesicht lesen, im Buch der Welt lesen usf.228 Spätestens in dem Moment, da das Lesen zur verbreiteten Tätigkeit wird, also ungefähr seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, kommt es zur bewussten Aufgliederung in verschiedene Arten und Weisen des Lesens. Sobald das hastige, rein konsumierende Lesen zur Regel wird, erklärt sich die mehrmalige gründliche Lektüre ein- und desselben Buches als Konsumverweigerung und die Zuständigkeit für eine Kunst des Lesens, die den Lohn aus sich selbst schöpft und ihr Ziel jenseits vom bloßen Durchlesen sucht, das ohnehin nur die Lektüre des nächsten und übernächsten Buches vorbereitet229. Das Grimmsche Wörterbuch fasst den Un228
229
Vgl. z.B. das Lemma Thesen im GW. Lesen stammt etymologisch vom Auflesen und Zusammenstellen mit Runen gekerbter Stäbchen und bezieht sich auf das Zusammenstellen dieser Stäbchen überhaupt, dann auf die Fähigkeit des Lesens an sich. Bekanntlich ist Lesen zunächst vor allem das laute Lesen, also auch das Vortragen und Rezitieren. Im Begriffswandel spiegelt sich auch seine Sozialgeschichte. Schon im Mittelalter wird jedoch der Leser dem Verfasser gegenüber gestellt, also eine Antithese gebildet, die am Gegensatz vom Schöpferischen zum Rezeptiven ausgerichtet ist. Der Sammler von Früchten ist eben nicht notwendigerweise ihr Erzeuger. „Jetzt, da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur/Ungeduldig durchblättern [...]" kommentierte Goethe (BA Bd. 1:213). In Nietzsches Lieblingsbuch, Eckermanns Gesprächen mit Goethe (s.o.), heißt es unter dem Datum des 25. Januar 1830: „Er scherzte darauf über die Schwierigkeit des Lesens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vorstudien und vorbereitende Kenntnisse sogleich jedes philosophische und wissenschaftliche Werk lesen möchten, als wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre. [Absatz] »Die guten Leutchen,« fuhr er fort, »wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe gekostet, um lesen 3u lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele wäre.«" (1968:635). Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts erfindet das extensive gegenüber dem intensiven Lesen im institutionellen Rahmen der Lesegesellschaften, Leihbibliotheken und Clubs. Ein starker Anstieg der Produktion, nicht zuletzt an Kalendern, Almanachen, Reisebeschreibungen, Zeitschriften, Journalen und Wochenschriften tun ein Übriges (s. z.B. von König, 1977).
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
terschied so: „Der ernst und die anhaltende geistesarbeit beim lesen wird gezeichnet, wenn das verbum auch zugleich das zurechtlegen und das durchdringen des dunkeln, das man geschrieben findet, mit ausdrückt, wie ^b- beim philologischen lesen. [...] umgekehrt aber ist lesen auch ein vergnügen, und heutiges tages eine allgemeine Unterhaltung (GW, Bd. 6.1:780). .Folgerichtig entstehen schon am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die ersten Anleitungen zum richtigen Lesen, wie etwa Johann Adam Bergks Die Kunst, Bücher %u lesen aus dem Jahr 1799230, das bereits viele Topoi versammelt, die sich auch bei Nietzsche nachweisen lassen. So lehnt Bergk eine allzu große Zahl von Büchern sowie umfangreiche Bibliotheken ab, da sie Überdruss und Ekel erzeugen und es auch bei geistiger Nahrung Maß zu halten gelte. „Nur nüzliche Bücher und Meisterwerke müssen unsere Gesellschafter seyn." (1799:33) Nietzsche bevorzugt angeblich eine kleine Zahl „bewiesener" Bücher, zu denen er immer wieder Zuflucht nehme: „Es liegt vielleicht nicht in meiner Art, Viel und Vielerlei zu lesen: ein Lesezimmer macht mich krank." (EH Warum ich so klug bin 3, 6:284). Man begehe nicht den Fehler, dies wörtlich zu nehmen. Nietzsche war ein geradezu unersättlicher Leser des „Viel und Vielerlei", wie die umfangreiche Forschung zu seiner Lektüre in den letzten Jahren nachweisen konnte231. Er schreibt sich lediglich in die Tradition des Connaisseurs ein, da die Lesewut zu Nietzsches Zeit natürlich längst die Gelehrtenkreise erreicht hatte. Deren „obligatorisches Verhältnis zum Buch" wächst sich in Zeiten des Buchdrucks zur extremem Belastung aus; bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts waren die Bücher ja fast ausschließlich an Gelehrte gerichtet (Fabian, 1977). Ihr kursorisches Lesen, erfunden zur schnellen Informationserfassung, bildete das Muster für die hastige Romanlektüre. Spezialisierung vermochte offensichtlich bis heute das Problem der Literaturüberflutung nicht zu überwinden — eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Schon Schopenhauer kritisiert übermäßiges Lesen und Studieren als Ausdruck von Gedankenleere und als insgesamt der Entwicklung eigener Gedanken wenig förderlich (1988, Bd. 2, 1.7:93). Der Mangel an Originalität im Vergleich mit den wahren Philosophen, den „Selbstdenkern", hat ernste Konsequenzen. Schopenhauer zitiert den schönen Vers aus Alexander Popes Dunäad. „For ever reading,
Ein Hauptgedanke Bergks lautet, dass bei der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen des Menschen und der Welt nur genaue Beobachtung Aufschluss bringen kann. Bücher seien als Weltmodelle leichter zu beobachten und leichter zugänglich: „Unser Geist ist gegen Betäubung gesichert und hat Muße, sich alles verständlich zu machen und dasselbe an seine bisherigen Erfahrungen anzureihen." (1799:10). Ferner wird die aktive Tätigkeit des Lesens, d.h. die Rolle der schöpferischen Einbildungskraft betont. Lesen bedeute nicht zuletzt, durch Anregung von außen den jeweiligen Stoff in sich selbst wachzurufen, in sich selbst zu lesen (62). Ein guter Leser sei deshalb nicht Sklave des Autors, sonder beherrsche das Material (66) — die Schauspielkunst wird zum Vergleich bemüht, Lesen sei nur durch Übung, nicht durch Regeln zu erlernen (69) und ist also eine Art empathisches Nachempfinden (s. z.B. 200). 231 Vgl. insbes. die Bände der Nietzsche-Studien aus dem vergangenen Jahrzehnt sowie die im Literaturverzeichnis unter B3 aufgeführten Titel. 230
4.1. Lesekunst und Reisekunst
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never to be read." Allen Hymnen auf das Lesen zum Trotz schlägt Nietzsche in dieselbe Kerbe: Der Gelehrte, der im Grunde nur noch Bücher „wälzt" - der Philologe mit massigem Ansatz des Tags ungefähr 200 - verliert zuletzt ganz und gar das Vermögen, von sich aus zu denken. Wälzt er nicht, so denkt er nicht. Er antwortet auf einen Reiz ( - einen gelesenen Gedanken), wenn er denkt, - er reagirt zuletzt bloss noch. (EH Warum ich so klug bin 8, 6:292f)
Schon der Hochschullehrer findet bei allem Lob des guten Lesens auch kritische Worte: „Bei der Lektüre erprobt der Einzelne seine Originalität und Tiefe allgemeiner Voraussetzungen: ob nämlich alles sich in Fleisch u. Blut umsetzt; mitunter ist der G e l e h r t e durch fortwährendes Einpumpen völlig abgestumpft. Im Allgem. ist es das sicherste Mittel, um keine eigenen Gedanken zu haben, in jeder freien Minute ein Buch in die Hand zu nehmen." Nietzsche zitiert dazu den bekannten Vers aus dem Faust. „Was du ererbt von deinen Vätern hast,/Erwirb es, um es zu besitzen." (KGW 11.3:406) In Schopenhauer als Erzieher wird das übertriebene Lesen des Philologen als Flucht vor der Langeweile interpretiert, als Flucht vor der Muße (die den Gegensatz zum wahren Denker bezeichnet), „das heisst, er hört zu, wie jemand Anderes denkt und lässt sich auf diese Art über den langen Tag hinweg unterhalten." (SE 6, 1:396). Nicht die Methode des Lesens wird kritisiert, sondern ihre übertriebene Anwendung. Es kommt auf das Wie, Wozu und Wieviel des Lesens an, Lesen an sich ist noch kein Verdienst. Nietzsche will, gerade weil er das Lesen an vielen Stellen feiert, betonen, dass er trotz allem kein Stubengelehrter mit den typischen Statussymbolen mehr ist232. So wie sich die Philologie durch die statarische Lektüre aus der Gelehrtengemeinschaft der Polyhistorie herausdifferenziert und im Genre der Fachenzyklopädie nicht zuletzt den Versuch unternimmt, die unendliche Bücherflut einzudämmen, besteht Nietzsche auf dem Unterschied des freien Geistes zum gebundenen Professor. Eine weitere Implikation aus Nietzsches Lesekritik ist jedoch weitaus interessanter. Es ist dem Gelehrten offenbar durchaus möglich — in der Rezeptionsgeschichte von Nietzsches ,Interpretationstheorie' absolut keine Selbstverständlichkeit — fremde Gedanken aufzunehmen. In der daraus resultierenden Fremdbestimmung hegt ja gerade die beschriebene Gefahr. Lesen scheint eine passive Tätigkeit zu sein, zu der Nietzsche die guten Leser auffordert, damit sie für seine Gedanken empfänglich werden. Sein idealer Leser soll ein guter Philologe sein, der unermüdlich die philologische, d.h. die statarische, zyklische Lektüre aller seiner Schriften praktiziert — „ein Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen." (EH Warum ich so gute Bücher schreibe 5, 6:305). In der Bonner Schule hatte die Lektüre immer ein konstruktives Ziel gehabt, nämlich die Etablierung des Textes. Von reiner passiver Hingabe konnte keine Rede sein. Die Kritik, und zwar niedere wie höhere, besteht ja aus 232
Fabian (1977:60ff) hat u.a. die (ja bis heute andauernde) Selbststilisierung der Gelehrten durch ihre Privatbibliothek beschrieben, die für das deutsche Sprachgebiet besonders typisch wurde.
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beträchtlichen Bewertungen und Eingriffen in das Gelesene. Noch in Nietzsches Charakeristik des guten philologischen Lesens als „Goldschmiedekunst und kennerschaft" des Wortes (M Vorrede 5, 3:17) kommt dieser konstruktive Aspekt zum Ausdruck. Lesen, erfährt man an derselben Stelle, will deshalb gelernt sein was aber gäbe es zu lernen, wenn der Leser nur passiver Empfänger wäre? „Liest doch nur jeder/Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er/In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde." So heißt es in einem ironischen Gedicht Goethes, das Skepsis darüber bekundet, ob Menschen sich durch Schriften verändern lassen233. Der gute Leser Nietzsches gibt zwar seine Individualität nicht völlig auf, aber er verfällt auch nicht ins andere Extrem, nämlich nur sich selbst und seine eigenen Uberzeugungen im Fremden zu suchen. Das Fremde, dem er mit Neugier und Respekt begegnet, und das Eigene gehen in ihm eine neue Verbindung ein. Obwohl damit die Grundfrage der Hermeneutik berührt wird, kann hinter dieser Auffassung vom Lesen nicht einfach der hermeneutische Zirkel stecken, denn dies würde ja nicht erklären, warum Nietzsche die Interpretation so deutlich vom Lesen unterscheidet. Ein Hinweis auf den entscheidenden Unterschied beider Begriffe ist bereits in der Aktionsart der Wörter selbst verborgen: Lesen bezeichnet einen Vorgang, Interpretation ein (statisches) Resultat. Die Aktionsart als eine Kategorie des Verbs bleibt hier in ihrer Semantik, konkret der dynamischen Bedeutung in der Nominalisierung des Verbs ,lesen' erhalten (kein ungewöhnlicher Vorgang bei sog. Infinitivkonversionen), während man bei der Interpretation nicht mehr an den Vorgang des Interpretierens denkt, sondern vielmehr seinen Abschluss betont. Es fällt auf, dass Nietzsche das Lesen häufig mit Metaphern der Fortbewegung bzw. Reise beschreibt: anhand der oben zitierten Beispiele etwa als Spaziergang durch fremde Seelen oder aber als Raub- und Kriegszug. Auch die wohl meistzitierte Stelle aus der Vorrede zur Morgenröthe, das Lesen mit „offen gelassenen Thüren" (s.o.) evoziert einen Erkundungsgang durch ein unbekanntes Haus. Interpretation ist substitutiv, sie bleibt auf der Stelle stehen, um Bedeutungen beliebig untereinander auszutauschen. Lesen ist Bewegung. In Nietzsches Schriften kommt ein durchgängiges Interesse am Reisen in allen seinen Formen zum Ausdruck, das dem Leser die Augen über das Lesen selbst öffnen mag. Lesen und Reisen scheinen für Nietzsche nämlich verwandte Erfahrungen zu beschreiben. „Ein Buch, wie dieses," formuliert Nietzsche in der Morgenröthe, „ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden."
233
Gedicht „Erste Epistel", BA Bd. 1:213-216. Goethe ist nicht der Auffassung, wie man anhand dieser isolierten Stelle auch annehmen könnte, dass Lektüre generell Allegorese sei. Die Zahmen Xetiien etwa kennen immerhin den Unterschied des Aus- und Unterlegens: „Im Auslegen seid frisch und munter!/Legt ihr's nicht aus, so legt was unter." (HA, Bd. 2:329).
4.1. Lesekunst und Reisekunst
159
(M 5.454, 3:274f) Die meisten Menschen glauben, notiert er sich Anfang der achtziger Jahre, sie werden h ö h e r e N a t u r e n , w e n n jene schönen ruhigen Gegenstände auf sie eingewirkt haben: daher die Jagd nach Italien und Reisen usw. alles Lesen und Theater-besuchen. Sie w o l l e n s i c h f o r m e n l a s s e n - das ist der Sinn ihrer CulturArbeit! Aber die Starken Mächtigen wollen f o r m e n u n d n i c h t s F r e m d e s m e h r um sich haben! So gehen auch die Menschen in die große Natur, nicht um sich zu finden, sondern um sich in ihr zu verlieren und vergessen. Das „ A u ß e r - s i c h - s e i n " als Wunsch aller Schwachen und Mit-sich-Unzufriedenen. (VII 7 [145])
Reisen und Lesen werden hier gemeinsam für ihre Passivität angegriffen. Eine Passivität wohlgemerkt, die Nietzsche bei seinen eigenen Lesern wünscht, insofern er sie ja formen möchte. „Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: ,Werde, der du bist!"' (Za IV 4:297). Wie beim Lesen, so gibt es auch beim Reisen zwei Varianten, die abgelehnt werden: die rein empfangende und die rein plündernde. Erst ein Reisen bzw. Lesen, das eine Balance der beiden Tendenzen erreicht, das seinen Stoff formt ohne ihn zu verwerfen, findet Nietzsches Zustimmung. Die Parallelen zwischen Lesen und Reisen finden sich nicht nur bei Nietzsche, sondern scheinen systematischer Art zu sein. Auch hier lohnt ein kurzer historischer Rückblick. Das neuzeitliche Lesen und das neuzeitliche Reisen entstehen nämlich im selben geschichtlichen Augenblick und teilen nicht wenige Voraussetzungen und Eigenschaften. In den Β riefen ^ur Beförderung der Humanität, veröffentlicht in den Jahren 1793 bis 1797, bemerkt Herder: Ehe Buchdruckerei da war, ging jede europäische Nation in einem engeren Bezirk von Ideen umher; ihr Charakter war vielleicht fester. Durch Reisen und Liesen ist allem Bösen und Guten fremder Nationen die Tür geöffnet, und wenn es sich durch den Namen Geschmack, „ n e u e r , f r e m d e r G e s c h m a c k , " Aufmerksamkeit erwerben kann, so hat es ohne weitere Überlegung die Menge für sich. (8. Sammlung, 96; Herder, 1967f, Bd. 18:92; Kursivierung von mir)
Wie das Lesen, so erreicht auch das Reisen erst im achtzehnten Jahrhundert breitere, d.h. bürgerliche Bevölkerungsschichten. Ist die frühe Neuzeit bis ins 17. Jahrhundert hinein vor allem die Ära der großen Entdeckungsreisen, so spaltet sich das Reisen anschließend in die Forschungsreise und Expedition der Gelehrten auf der einen sowie die Bildungs- und Vergnügungsreise auf der anderen Seite auf. An Italien, dem von Nietzsche erwähnten Reiseziel schlechthin, scheiden sich alsbald die Geister. Seit Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke (Winckelmann, 21756) kommen die einen als Archäologen, die anderen wegen der Ruinen-Romantik. Aus der traditionellen Kavalierstour wird freilich bald bürgerlicher Standard, der, besonders nach Erfindung der Eisenbahn
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
im europäischen Fremdenverkehr, schließlich im Massentourismus mündet. Spätestens mit der Entdeckung der Berge und des Massen-Alpinismus seit etwa der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sowie der Etablierung der Badereise (die Gründung von Seebädern und Badeorten erfolgte verstärkt seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts) entsteht eine Form des Reisens, die mit Entdeckung, Erforschung oder Bildung nichts mehr zu tun hat234. Seitdem die Welt im Wesentlichen entdeckt ist, richtet sich der Blick mehr aufs Detail, auf Geographie und Geologie, auf Botanik, Ethnologie, Geschichte, auf Kunst und Kultur (dazu Wuthenow, 1980). Der traditionelle Gegensatz von Gelehrtenreise und Kavalierstour235 wird in der modernen Entwicklung zu einem Gegensatz von ernsthaftem, bildungsbeflissenem Reisen und oberflächlichem, vergnügungssüchtigem Reisen umfunktioniert. Vergleichbar den ersten Anleitungen zum ,richtigen' Lesen entstehen zur selben Zeit die ersten Universitätsvorlesungen zum ,richtigen' Reisen. So sollten die Studenten an der Universität Göttingen236 lernen, mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Sinnen zu empfinden. Um des Ziels größerer Gelehrsamkeit willen, sollen sie lernen, die Augen aus den Büchern zu heben (vgl. Neutsch, 1999).
Ein aktueller kulturgeschichtlicher Überblick des Reisens bei Bausinger/Beyrer/Korff (Hrsg., 1999). Der beste Ausgangspunkt zur Erforschung gerade des hier interessierenden Zeitraums ist die Forschungsstelle zur historischen Reiseliteratur in der Landesbibliothek Eutin, SchleswigHolstein. Vgl. auch die Beiträge in Brenner (1989). 235 Vgl. z.B. Siebers (1999). Die Kavalierstour zur Vollendung der adligen Sozialisation und zur Schaffung nützlicher Kontakte gibt es schon seit der frühen Neuzeit. Sie versiegt in dieser Form aber seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts fast völlig. Die bürgerliche Version der grand tour schafft hier z.T. Ersatz, aber durch die darin angelegt Bildungsbeflissenheit auch Konkurrenz zu den bürgerlichen Gelehrten, die sich nun durch ihre Gründlichkeit ernsthaft von den Dilettanten absetzen mussten, nachdem die Vergangenheit dies nur sporadisch gefordert hatte. Eines der frühesten und verbreitetsten Beispiele dafür ist die Italienische / Dalmatische / Griechische und Orientalische Reise-Beschreibung von Jacob Spon und George Wheler (1690). Die Vorrede beginnt in aufschlussreicher Manier: „Es ist gar gemein, daß die jenige, welche eine Reise-Beschreibung ans Liecht geben, selbige auch nach ihrem Kopff und Sinn einrichten. Etliche gedencken nur der schönen Paläste, Kirchen, und dergleichen Gebäude. Theils berichten den Leser von der Situation oder Lage der Städte, von deren Völckern, Vestungs-Bau, und Policey-Ordnungen. Andere gehn noch weiter, und erzehlen von der Religion, Sitten, und Gebräuchen der Länder, welche sie gleichwol nur durchreiset haben. Einige beschreiben die Erd-Gewächse, Metallen, und Handelschafft der Orte, die sie durchzogen. [...] Mich anlangend, habe ich in Warheit alle solche Particularitäten fleissig beobachtet, da ich sie ohne sondere Mühe und Unkosten erfahren können. Es würde einem aber unschwer fallen zu mercken, ob ich schon mit aufrichtiger Bekanntnus zurück hielte, daß mein gröster Zweck dahin zielete, wie ich die alten Monumenta, derer von mir auf dieser Reise besehenen Länder, recht entdecken, und mir bekandt machen möchte, und daß solches meine vornehmste Inclination war. Ich habe mich niemals sehr darum bemühet, wie ich denen stattlichen Ceremonien zu Rom, oder den lieblichen Musiquen, und schönen Comödien in Italien, beywohnen möchte [··.]·" 234
236
Die Göttinger Universität, geboren aus dem Geist der Aufklärung, war natürlich auch eine Vorreiterinstitution der modernen Philologie. Vgl. z.B. Vöhler (2002). Aufschlussreich hier v.a. sein Hinweis auf das starke Interesse Gotdob Heynes, F.A. Wolfs wichtigstem Lehrer, an Reiseberichten und ethnographischen Studien.
4.1. Lesekunst und Reisekunst
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In seinen Vorlesungen über l^nd- und Seereisen vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts, die sich im Unterschied zur herkömmlichen Aufzählung von Sehenswürdigkeiten v.a. als Kompendium allerlei praktischer Hinweise verstehen, unterscheidet z.B. Schlözer (s. Schlözer, 1962) zwei Arten des Reisens, nämlich die Geschäftsreise sowie die Reise um ihrer selbst willen: „Im ersten Falle ist Reisen nur ein Mittel. Ist es Zweck, so ist es entweder a. special oder b. die Reise ist an sich Zweck, beabsichtigt Humanität." (54). Ist letzteres gewollt, müsse man zu „sehen, hören, sammeln und schreiben" lernen (ebd.), wozu auch Sprachkenntnisse unabdingbar seien. In diesem „Sammeln" schließt sich der Kreis zur Etymologie des Lesens. Reisen und Lesen, mit Herder zu sprechen, sind die beiden Wege, Neues aufzunehmen, sich dem Fremden auszuliefern. Bücher „zeigen uns den Weg, den wir gehen müssen, um Auffschluß über uns und über die Welt zu erhalten", schreibt entsprechend Bergk (1799:ix; Kursivierung von mir). „An English man does not travel to see English men", heißt es bei einem von Nietzsches Lieblingsautoren (s. VM 113., 2:424ff), in Laurence Sternes Sentimental Journey (1967:85). Wenig bekannt ist der Umstand, dass Nietzsche Mitte der achtziger Jahre den Protagonisten dieses Werks aufgreift und einen Gedichtband konzipiert, der in enger Beziehung zum Wanderer und sein Schatten steht. Der geplante Titel: „Der neue Yorick. Lieder eines empfindsamen Reisenden." (Nachweise s. KSA 14:712f). Empfindsamkeit und Aufnahmefähigkeit akzeptiert Nietzsche als Kriterien des erfolgreichen Reisens. In Burckhardts sprichwörtlich gewordenem Cicerone ist immer wieder vom „aufmerksamen Beobachter" (1978:238) die Rede, obwohl das Buch dem flüchtigen Reisenden lediglich „die notwendigen Stilparallelen" geben will und keinen Anspruch auf Tiefe und Versenkung ins Einzelwerk erhebt (ix) — das bleibt offensichtlich dem Einzelnen überlassen. Der Cicerone bestärkt den Grundsatz, dass ohne Lesen kein erfolgreiches Reisen stattfinden kann — und umgekehrt237: für die Philologen gehört der oft mehrjährige Italienaufenthalt zum obligatorischen Studienprogramm. In Nietzsches Encyklopaedie gelten Reisen und Ausgrabungen als „Hauptmittel", um sich in die Lebenswelt der Antike hineinzuversetzen (KGW 11.3:436). Ritsehl, der 1836/1837 in Italien verlebte, notiert in seinen Aufzeichnungen u.a. den Satz: „Damals, als die Alpen noch nicht so leichten Fusses überschritten wurden und das Touristengeschwätz über Italien noch nicht Mode war, konnten Reiseberichte noch auf empfänglichere Leser rechnen." (nach Ribbeck, 1879, Bd. l:165ff). Faszinierend sind die Reisebriefe Ritschis mit sehr genauen Beobachtungen und Betrachtungen und der Absicht, „seinen Lesern den möglichst vollen und scharf präcisirten Inhalt des Gesehenen, Erfahrenen, Empfundenen vorzu-
237
Auch Burckhardt kleidet die Lektüreerfahrung in die Metaphorik der Reise (vgl. Burckhardt, 1900ff, Bd.l:5). Sowohl das Exemplar von Burckhardts Cicerone als auch Goethes Italienische Reise sind, den Anstreichungen in den Exemplaren von Nietzsches Bibliothek nach geurtcilt, fleißig benutzt worden.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
legen, das Charakteristische der Landschaften wie der Leute und ihrer Sitten in lebensvollen, abgerundeten Bildern wiederzugeben, ohne je in die ausgetretenen Geleise des Reisebeschreibers zu gerathen." (ebd.). In Leipzig sorgt er für ein ständiges Reisestipendium, weil es unentbehrlich für das philologische Studium sei (Bd. 2:404)238. Niebuhrs Brief an einen jungen Philologen wiederum, den Nietzsche wie erwähnt für seine Vorlesungen zur Methodenlehre benutzte, umschreibt das gesamte philologische Studium mit den Begriffen der genau beobachtenden, vergleichenden Gelehrtenreise239: Das Alterthum ist einer unermeßlichen Ruinenstadt zu vergleichen, über die nicht einmal ein Grundriß vorhanden ist, in der sich jeder selbst zurecht finden und sie begreifen lernen muß, das Ganze aus den Theilen, die Theile aus sorgfältiger Vergleichung und Studium, und aus ihrem Verhältniß zum Ganzen. Wenn jemand, der nur einen Anstrich von architektonischen Kenntnissen hat, von Hydrostatik gar nichts weiß, den größten Theil der Ruinen Rom's kaum gesehen, außer Rom nun vollends gar nichts, wenn ein solcher über die Ruinen der Wasserleitungen schreiben wollte, der würde etwas machen, wie ein Schüler, der über einen Zweig der Alterthumskunde dissertiert. (1839:135) 240 .
Nietzsche, der unermüdliche Spaziergänger und Wanderer, der selbst das halbe Leben ein Reisender ist, macht sich die enge Verbindung des Reisens und Lesens, die er als Philologe kennengelernt hatte, zunutze. Die Figur seines ,Wanderers' ist eng verwandt mit dem guten Leser. „Wer nur einigermassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, — wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht." So steht es im Aphorismus „Der W a n d e r e r " (ΜΑ 1.9.638, 2:362ff), der außer der Freude an der Beobachtung von Wechsel und Vergehen auch die Anfechtungen des Wanderers schildert, die Müdigkeit und das Verlangen, irgendwo einzukehren. Welchen Zweck diese allegorische Darstellung verfolgt, wird an einem anderen Aphorismus aus dem näheren Umfeld deutlich. Die ,Wanderung' gehört zur Welt der Methode und Wissenschaft: In d e r W ü s t e d e r W i s s e n s c h a f t . — Dem wissenschaftlichen Menschen erscheinen auf seinen bescheidenen und mühsamen Wanderungen, die oft genug Wüstenreisen sein müssen, jene glänzenden Lufterscheinungen, die man „philosophische Systeme" nennt: sie zeigen mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller
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Ein gutes Beispiel der zeitgenössischen Gelehrtenreisen aus Nietzsches nachgelassener Bibliothek: Dr. H. Geizer, Eine Wanderung nach Troja. Basel, Schweighauserische Verlagsbuchhandlung (Benno Schwabe.), 1873
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Eine Reiseform, mit welcher der Sohn eines der bedeutendsten Reiseschriftstellers aller Zeiten, Carsten Niebuhrs nämlich, bestens vertraut war. Die Entdeckungsreisen seit der Renaissance änderten nicht nur das Bild von der Welt sondern auch die Weise der Welterfahrung. Navigatorische Metaphorik wird auf die Erschließung auch neuer geistiger Welten übertragen, auf den Kosmos der gedruckten Texte, der zu erobern sei. Die relativ statische Welt der Gelehrtenexistenz bedient sich in der dynamischen Welt der reisenden Durchdringung neuer Erdteile, beide Erfahrungen werden als nie abschließbarc Aufgabe wahrgenommen, (s. Fabian 1977:56ff).
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4.1. Lesekunst und Reisekunst
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Räthsel und den frischesten Trunk wahren Lebenswassers in der Nähe; das Herz schwelgt, und der Ermüdete berührt das Ziel aller wissenschaftlichen Ausdauer und Noth beinahe schon mit den Lippen, so dass er wie unwillkürlich vorwärts drängt. Freilich bleiben andere Naturen, von der schönen Täuschung wie betäubt, stehen: die Wüste verschlingt sie, für die Wissenschaft sind sie todt. Wieder andere Naturen, welche jene subjectiven Tröstungen schon öfter erfahren haben, werden wohl aufs Aeusserste missmuthig und verfluchen den Salzgeschmack, welchen jene Erscheinungen im Munde hinterlassen und aus dem ein rasender Durst entsteht — ohne dass man nur Einen Schritt damit irgend einer Quelle nähergekommen wäre. (VM 31, 2:393)
Die beiden zitierten Aphorismen stammen aus der Phase der Selbstklärung nach dem Desaster um die Geburt der Tragödie. Bekanntlich war Nietzsche selbst für wissenschaftlich tot erklärt worden241, weil scheinbar der ,schönen Täuschung' der Wagnerschen Kunstreligion und des Schopenhauerschen philosophischen Systems erlegen. Nietzsche denkt sich nun selbst als den Suchenden, der das Zeitalter der Synthese allzu nahe glaubte, aber einsehen muss, dass die Suche weitaus mühsamer und langwieriger war als erhofft. In Ulrich von WilamowitzMoellendorffs 1873 in Berlin erschienener Erwiderung auf Erwin Rohdes Verteidigung der Tragödienschrift hieß es: Nicht von dem wonnig lockenden rufe des dionysischen vogels, der uns den weg in die längst verlorene heimat zeigt, hab' ich heut zu reden; wir tun einen ritt ins staubig trockne land der philologischen erudition, doch ich denke mir auch nicht dionysische vögel als publicum, sondern philologen, die zwar aus dem borne der ewigen jugend zu trinken gewohnt sind, aber wol wissen, dasz man dorthin nicht im Ikarosfluge gelangt, sondern in mühseligem wandern, nicht ohne „die askese selbstverläugnender arbeit", wenn ich da verspreche, jeden unnützen aufenthalt zu vermeiden, kann ichs wol wagen; für etliche erfrischende aufheiterung sorgen schon die Zukunftsphilologen [...] (in Gründer, Hrsg., 1969:114)
Kein Zweifel: Nietzsche hat aus der schmerzlichen Erfahrung gelernt und sich selbst wieder auf den Weg begeben. Er sympathisiert wohl am meisten mit jenem rasend Durstigen, der sich erneut auf die Suche ad fontes macht — und wie Nietzsche die historische Kritik neu entdeckt. Es überrascht nicht, wenn das Bild der nie abgeschlossenen Reise als Entwurf von Nietzsches geistigem Selbstverständnis bereits im frühen Nachlass von 1867/68 auftaucht, und zwar in Vorarbeiten zu einer Studie über die Literaturgeschichte. Hier rügt Nietzsche die gewöhnliche „Laxheit in litterarischen Untersuchungen" (KGW 1.4:395), die naturwissenschaftlichen Maßstäben nicht genügen. Er legt deshalb die strengen Kriterien Ritschis an, den er in dem Entwurf an anderer Stelle feiert (KGW 1.4:466). Nietzsche fährt fort: Meine Methode ist, für eine einzelne Thatsache zu erkalten, sobald der weitere Horizont sich zeigt usw. So ist unser Streben eine Wanderung ins Unbekannte mit der unsteten Hoffnung, einmal ein Ziel zu finden, w o man ausruhen kann. Solche Ziele sind aber nur Einsichten voll wesentlichem Einfluß auf uns selbst. 241
Brief an Rohde vom 25. Oktober 1872 (II.3:70f)
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren Das Ergebniß einer Forschung erregt unsren Verstand, aber unser Wesenskem bleibt kalt. Aber endlich stößt man doch einmal an Auffassungen, Analogien usw. die uns kräftig in Bewegung setzen. Es ist bei naturwiss. Forschung nicht anders. Das Treibende sind immer jene unbekannten fernen Gebiete, wo wir die Resultate des Forschens mit dem des Lebens im Einklag sehn. Manche bescheiden sich u. sind mit dem Wege zufrieden; es genügt ihnen nach Zielen zu wandern, sie sind zufrieden, ein Streben nach Zielen zu besitzen. (KGW I.4:395f)
Die vage Hoffnung auf ein Ziel, bei dem man ausruhen möge, hat Nietzsche spätestens in den siebziger Jahren aufgegeben (wenn er sie denn überhaupt je hegte). Das Wandern als Bild der mühsamen wissenschaftlichen (philologisch geprägten) Arbeit, als Kombination kritisch-komparatistischer Quellenforschung und teilnehmenden, subtilen Lesens bleibt erhalten und wird von nun an ein Lieblingsausdruck Nietzsches zur Charakterisierung seines Denkens. Auch Zarathustra wandert und ist überhaupt „ein Freund aller Solchen, die weite Reisen thun" (Za III Vom Gesicht und Räthsel, 4:197). Die gegen Renan gerichtete Anspielung auf Taine (s. 3.5.) sei unter diesem Gesichtspunkt wiederholt: „Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern!" (GM 111.26, 6:406). Noch schöner heißt es in Jenseits von Gut und Böse: Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. 0GB 9.260, 5:280).
,Wandern' bzw. philologisches Lesen ist dynamische, bewegliche Auslegung, die die wichtigsten Elemente der Kritik schon integriert hat — im Beispiel aus Jenseits von Gut und Böse etwa die Recensio der Moralen, die zu zwei Archetypen führte. Wandern ist kritisches Interpretieren (niedere und höhere Kritik), also Erklären und Bewerten, eine Weltbetrachtung, die sich zuerst den Text erschafft, nämlich erwandert, der alsdann näher zu analysieren ist: „wir haben eine K r i t i k der moralischen Werthe nöthig, der W e r t h dieser W e r t h e ist selbst erst e i n m a l in Frage zu stellen — und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben" (GM Vorrede 6, 5:253). Und gleich im Anschluss: „Es gilt, das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral — der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral — mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heisst dies nicht beinahe so viel als dieses Land erst entdecken?..." (GM Vorrede 7, 5:254). In seiner Vorschule der Ästhetik, die Nietzsche wohl kannte, schreibt Jean Paul: „Will man sich einen größten Dichter denken, so vergönne man einem Genius die Seelenwanderung durch alle Völker und alle Zeiten und Zustände und lasse ihn alle Küsten der Welt umschiffen: welche höhere, kühnere Zeichnungen ihrer unendlichen Gestalt würd' er entwerfen und mitbringen!" (Jean Paul, 1967:32). Andere Zeiten sind für Jean Paul eben auch
4.1. Lesekunst und Reisekunst
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andere „Seelen-Zustände" (ebd., S. 240). Nietzsches Wanderung durch die Moralen ist der künstlerische Versuch, die antike Metempsychose mit Hilfe anthropologischer Wissenschaft und Divination von Kunstwerken nachzuvollziehen, die sich gegenseitig durchdringen. Im Wandern steckt natürlich auch der im Vergleich zum Berufsphilologen leichtere, unabhängigere Schritt. Der Wanderer ist Herr seiner selbst. Der gute Leser ist ein guter Reisender, der zu Fuß unterwegs ist — sich allerdings von der Landschaft auch nicht überwältigen lässt. Die Behauptung der Wanderleidenschaft bei Taine ist nicht zufällig, denn die literarischen Quellen, von denen oben die Rede war, garantieren erst den freieren Zugang: sie erst fordern und gestatten die gaya scien^a als Einübung in die Souveränität. Nietzsches Aphorismus über „Reisende und ihre G r a d e " ist in diesem Sinne als Allegorie seiner Erkenntnistheorie als einer spezifischen Weiterentwicklung des philologischen Lesens zu verstehen: Unter den Reisenden unterscheide man nach fünf Graden: die des ersten niedrigsten Grades sind solche, welche reisen und dabei gesehen w e r d e n , — sie werden eigentlich gereist und sind gleichsam blind; die nächsten sehen wirklich selber in die Welt; die dritten erleben Etwas in Folge des Sehens; die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen es mit sich fort; endlich giebt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es erlebt und eingelebt worden ist, endlich auch nothwendig wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken, sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind. — Diesen fünf Gattungen von Reisenden gleich gehen überhaupt alle Menschen durch die ganze Wanderschaft des Lebens, die niedrigsten als reine Passiva, die höchsten als die Handelnden und Auslebenden ohne allen Rest zurückbleibender innerer Vorgänge. (VM 228, 2:483f)242
Bis in den Wortlaut hinein erinnert diese Stelle an den oben zitierten Vers Goethes über die Amalgamierung des Fremden. Reisen bzw. Lesen — jegliche Aufnahme des Fremden — darf sich nicht in reiner Empathie und Empfänglichkeit, dem ,gereist werden' erschöpfen. Diese Uberzeugung gibt Nietzsche auch nach dem Bruch mit Wagner nicht preis. Gleichzeitig ist es nur die ,Reise', welche Erkenntnis des Fremden überhaupt ermöglicht. Die Reise, die eine Wanderschaft, eine suchende, gründliche, langsame, einfühlende Tätigkeit ist, steht daher mit Recht im Gegensatz zum vergewaltigenden Kriegszug der Soldaten, die das Fremde nicht kennenlernen, sondern lediglich besitzen wollen. Nietzsche hat deshalb an mehreren Stellen das gute und schlechte Reisen nach Maßgabe der Reisemittel und Reiseart unterschieden und der Arbeitsweise der Gelehrten sowie dem Prozess des guten und schlechten Lesens verglichen: Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vor-
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Inspiriert hat Nietzsche möglicherweise auch hier Laurence Sterne: vgl. dessen Kategorisierung der Arten von Reisenden (1967:80f).
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren sichtige H a l t u n g der E r k e n n t n i s s schätzt m a n b e i n a h e als eine A r t V e r r ü c k t h e i t ab, der Freigeist ist in V e r r u f g e b r a c h t , n a m e n t l i c h d u r c h G e l e h r t e , w e l c h e a n seiner K u n s t , die D i n g e z u b e t r a c h t e n , ihre G r ü n d l i c h k e i t u n d i h r e n A m e i s e n f l e i s s v e r m i s sen u n d i h n g e r n in e i n e n e i n z e l n e n W i n k e l der W i s s e n s c h a f t b a n n e n m ö c h t e n : w ä h r e n d er die g a n z a n d e r e u n d h ö h e r e A u f g a b e hat, v o n e i n e m e i n s a m g e l e g e n e n S t a n d orte aus d e n g a n z e n H e e r b a n n der w i s s e n s c h a f t l i c h e n u n d g e l e h r t e n M e n s c h e n zu b e f e h l i g e n u n d i h n e n die W e g e u n d Ziele der C u l t u r z u zeigen. ( Μ Α 1.5.282, 2 : 2 3 0 f )
Der Freigeist geht offenbar noch über den Gelehrten hinaus, dessen Reiseart sich selbst längst dem Industriezeitalter angepasst hat. Der Freigeist hält einerseits unzeitgemäß an der Fußreise fest, die die Gelehrsamkeit ursprünglich erst hervorgebracht hatte, andererseits kann er auf den „Ameisenfleiß" akribischer Wissenschaftstouristen ebenso verzichten, da seine souveräne Perspektive ihm Einsichten gestattet, die anderen aufgrund ihrer Kurzsichtigkeit verwehrt bleiben. Hier besteht kein Zweifel, wen Nietzsche mit dem Heerführer meint. Zu seinen Heerscharen, zu seiner Grundlage des „Sehen und Urtheilen" werden die von ihm gelesenen Bücher. Nietzsche bedient sich mit seiner Allegorie nicht nur eines bis heute beliebten Mittels, nämlich durch Reisekritik gleichzeitig Lese- und Kulturkritik zu üben (ein jüngeres Beispiel etwa Barthes, 1957), sondern stellt das eigene Lektüreverhalten als Wanderung oder Spaziergang in eine Tradition, die in der engen Verbindung von Landschaft und Buch von der Gesellschaft sich abkehrt, ein Reaktionsmuster, das bereits das achtzehnte Jahrhundert hervorgebracht hatte243. „Natursehnsucht, Weltschmerz und Gesellschaftskritik" (von König, 1996:13), wie sie zunächst im Spazierengehen symbolisiert werden, gehen dann auf das Wandern über. Der Wanderer übernimmt, angestiftet vom romantischen Zeitgeist, die inhärente Kulturkritik. Später schließen die Urbanen Flaneure in ihrer Ablehnung der Massengesellschaft industriellen Typs an diese Verweigerungshaltung wieder an244. Genau in dem Moment, da Raum- und Zeiterfahrung des industriellen Zeitalters durch den Eisenbahnverkehr völlig verändert werden und die Bildungs- und Bäderreisen mit ihren fest umrissenen Zielen sich längst vom Privileg der Oberschichten zum bürgerlichen Mainstream entwickelt haben, verwandelt sich das Wandern von der zweckgerichteten Fortbewegung von Α nach Β hin zum Selbstzweck als „langsame, den Raum gleichsam körperlich abtastende Fortbewegung durch Landschaft und Gesellschaft — sie dient nun als Mittel, um sinnliche Erfahrung und Anschauung zu sammeln" (Kaschuba, 1999).245 Diese 243 Ygi v o n König (1996:53ff). Zur engen Verbindung von Spazierengehen und Lesen im Freien auch Koebner (1977). 244
Etwa der berühmte Flaneur Franz Hessel in einem Feuilleton mit dem Titel „Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen" (Hessel, 1932), in welchem das langsame Spazierengehen als Gegenmittel zur Beschleunigung der technischen Moderne begründet wird. Nur der Flaneur könne die Zeit richtig genießen, der Spaziergänger „liest die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Häuserwänden entlang schaut."
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Einer der bedeutendsten Wanderreiseschriftsteller, Johann Gottried Seume, schreibt in Mein Sommer. „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch (!) und kosmisch mehr, als wer fährt.
4.1. Lesekunst und Reisekunst
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neue Art der Fortbewegung entspricht in wesentlichen Zügen dem langsamen, am Textleib orientierten philologischen Lesen gegenüber der Lesewut des beginnenden Massenzeitalters; das Zusammentreffen ihrer Entstehungsgeschichten ist nicht dem Zufall geschuldet. Wie Wandern und Flanieren ist das Lesen regellos, der Eingebung folgend, fröhlich. Zur Kunst wird es einerseits als techne, als Kenner- und Meisterschaft, die nur durch lange Übung zu erlangen ist, andererseits durch den Willen zur Form; zur Wissenschaft wird es, nach Nietzsches Verständnis, durch ständige Rücksicht auf die textuelle Basis. Der gute, philologisch geschulte Leser gleicht dem langsamen Fußgänger, der sein Ziel nicht genau kennt und die Gegend nach allen möglichen Gesichtspunkten betrachtet, der sich aus der Beschleunigung des Zeitalters herausnimmt. Der schlechte Leser fährt Eisenbahn und weiß genau, wo er ankommt — der allerschlechteste fällt als christlicher Kreuzritter in fremde Lande ein. Gert Mattenklotts Versuch, Nietzsches Aphorismenkunst mit einem Ausdruck Lichtenbergs als „spatzierengehende[s] Denken" zu erfassen (1997:227) trifft daher, wenn man das metaphorische Feld ein wenig erweitert, ins Schwarze. Nietzsches Denken versteht sich in erster Linie zwar als Wanderschaft, geht bisweilen aber durchaus spazieren oder flanieren 246 . In Nietzsches nachgelassener Bibliothek befindet sich ein Buch, dessen interessanteste Seiten zum Zeitpunkt der Katalogisierung zwar teilweise noch unaufgeschnitten waren, das aber dennoch als zeittypisches Dokument die neue Bedeutung des Reisens und die Verbindung des Reisens zum Lesen und Studieren verdeutlicht. Der beiliegende Prospect zu David Kaltbrunners Oer Beobachter. Allgemeine Anleitung Beobachtungen über hand und heute für Touristen, Exkursionisten und Forschungsreisende (Kaltbrunner, 1881) beginnt mit der Feststellung: „Wir leben in einer Zeit der Reisen und geographischen Studien." Da Reisen so verbreitet sei, wolle die vorliegende Publikationsreihe eine Anleitung zum Reisen, also v.a. zum genauen Beobachten, eine Einfuhrung in die „Kunst" des Reisens geben. In der ersten Lieferung werden Eigenschaften und Fähigkeiten des idealen Reisenden beschrieben, z.B. außer Beobachtungsgabe und Forschungstrieb ein kritischer Sinn, um die zu vergleichenden Tatsachen auch gebührend beurteilen zu können: die Anleihen bei der zeitgenössischen Philologie sind deutlich spürbar. So wird denn auch die Bedeutung des Lesens in Verbindung mit der Reise hervorgehoben, denn nur im Verhältnis zu den eigenen Kenntnissen könne man überhaupt sehen und beobachten. Man müsse sich vollkommen auf das fremde Volk einlassen, die Sprache lernen, mit ihm leben (S. 146f). Dabei müsse man ständig fortlaufende Notizen machen, am besten täglich (167). Der ideale Reisende achte auf Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den G a n g für das Ehrenvollste u n d Selbständigste in dem Manne u n d bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn m a n m e h r ginge." (Seume, 1962:638) 246 Volker Gerhardts bei Nietzsche diagnostizierter experimenteller „Methodenpluralismus des aphoristischen D e n k e n s " (1989:263) steht gewiss in enger Beziehung zum spazierengehenden D e n k e n der aphoristischen Kunst.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
jede Kleinigkeit, bis hin zu grammatischen Phänomenen; er sammele und vergleiche alles, auch die Sitten und Gebräuche, Klima, Kleidung und Ernährung. Wo Wissenschaft selbstreflexiv wird, greift sie auf ein metaphorisches Vokabular zurück, das außerhalb ihrer Grenzen liegt und dennoch die eigenen Besonderheiten veranschaulicht. Bis heute hat sich die Reisemetapher für das philologische Lesen gehalten. Zwar verwenden fast alle Wissenschaften das Klischee vom Betreten des Neulands, wenn sie Weiterentwicklungen innerhalb der Disziplin beschreiben, aber die philologische Lektüre ist hier besonders konsequent. Als ein Beispiel von vielen sei Jean Bollack angeführt, einer der wenigen Philologen, die das philologische Lesen immer gegen außerphilologische Zumutungen verteidigt haben. In seinem jüngsten Buch über Celan werden langjährige Notizen und Lesefrüchte zum „Expeditionsbericht" und „Logbuch" der „Erkundungsreisen" (Bollack, 2000b: 11) stilisiert247. In der Philologie ist seit Entstehung der Ethnologie und Kulturanthropologie gerade die Textsorte der Feldforschung zum beliebten Bild geworden; Nietzsches Schriften sind lediglich ein früher Beleg dafür. Die Literaturwissenschaft unserer Tage geht den umgekehrten Weg und versucht über den Anschluss an die ethnologische Forschung das philologische Lesen zurückzugewinnen. Möglicherweise hat hier auch die Konjunktur der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Genre der Reiseliteratur seinen Ursprung, die sich in den letzten Jahrzehnten beobachten lässt. Gert Mattenklott entdeckt Segalens und Malinowskis248 reisende Feldforschung als Paradigma poetischer Wissenschaft und wissenschaftlicher Kunst zugleich (Mattenklott, 1996). Dass gerade Segalens Werk eine „Rhetorik und Topik" bescheinigt wird, die der „des erobernden Jägers" entgegengesetzt sei und die „das Erleiden" an die Stelle des „Tuns" setze, ist nur umso einleuchtender durch die dokumentierte Beeinflussung Segalens durch Nietzsche. Die reisenden Nachfolger Nietzsches, zu denen Mattenklott außer Segalen und Malinowski noch Aby Warburg zählt (von dem 247
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Nebenbei bemerkt ein sehr empfehlenswerter Kommentar zur literaturtheoretischen Methodendiskussion und zum Begriff des Lesens. Von Barthes geprägt beschreibt auch ein Michel de Certeau das Lesen immer wieder unter dem Aspekt des Reisens und spricht vom reisenden Auge (l'ceil voyageur) des Lesers (1980:287): „les lecteurs sont des voyageurs; ils circulent sur les terres d'autrui, nomades braconnant ä travers les champs qu'ils n'ont pas ecrits" (292). Malinowski ist in der Geschichte der Ethnologie durch seine teilnehmende Beobachtung berühmt geworden, für die Einsicht, dass erst durch langes Leben vor Ort und Erlernen der Sprache Einsicht in Kulturen möglich sei. Malinowski, auf den sich ja auch, wie bereits erwähnt, Geertz mit seiner interpretativen Ethnologie berief, verkörpert die Radikalform des Reisens als ,Lesen' in einer fremden Kultur; philologisch ausgedrückt die hyperstatarische statt der kursorischen Lektüre des modernen Tourismus. Malinowski bestand darauf, Beobachtungen, Eigeninterpretationen der „natives" und Schlussfolgerungen des Ethnologen sauber zu trennen (1983:3) und notiert die Schwierigkeiten, das riesige Quellenmaterial, welches noch nicht einmal in Schriftform aufbewahrt ist, überhaupt aufzuarbeiten. Der „cardinal point of method" — übrigens in Berufung nicht nur auf Tylor und Morgan, sondern auch auf die philologisch inspirierte deutsche Völkerpsychologie und auf Bastian — liege im breitestmöglichen Studium konkreter Phänomene (17). Zum wichtigsten Ziel ethnologischer Arbeit wird die Suche nach „the typical ways of thinking and feeling, corresponding to the institutions and culture of a given community" (23).
4.1. Lesekunst und Reisekunst
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später noch ausführlicher die Rede sein wird), seien einerseits durch eine Abkehr vom rein enzyklopädischen Reisen gekennzeichnet, andererseits vermögen sie gleichfalls der doppelten Verführung zu entgehen, dem Fremden gegenüber entweder naiv-imperial oder aber naiv-verklärend aufzutreten. Historische Betrachtung entgehe ganz wie das Reisen selbst „nur dann dem Selbstverlust, wenn es als Kunst betrieben wird, die sich zuallererst um den Reisenden selbst zu kümmern hat" (44) und müsse auf der Ebene zwischen Unterjochung des Fremden bzw. der Bereitschaft, sich selbst vom Fremden unterjochen zu lassen, angesiedelt sein. Mattenklott beschreibt damit eine Dialektik von Selbst- und Fremderfahrung, die als Übertragung von Nietzsches Lesetheorie verstanden werden kann. Nietzsche nämlich macht die Operation des philologischen Lesens zum Maßstab des Umgangs mit dem Fremden und dem Ich zugleich — parallel zum Maßstab der Kritik. So wie sich der Textbegriff nur mit Mühe und angespannter Redlichkeit auf Bereiche außerhalb der Schrift übertragen lässt, benötigt der Leser ein stetig wachsendes Maß an Subtilität und Übung, wenn er das Auge aus dem Buch hebt und nach innen bzw. nach außen richtet. Im Lesen ergänzen die Blickrichtungen einander in einem ewigen Fluss, dessen Erkenntnisgrenzen noch längst nicht abgemessen sind: W o h i n m a n r e i s e n m u s s . - D i e unmittelbare Selbstbeobachtung reicht nicht lange aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja Nichts als Das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklit's Satz: man steigt nicht zweimal in den selben Fluss. - Das ist eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden, aber trotzdem ebenso kräftig und nahrhaft geblieben ist, wie sie es je war: ebenso wie jene, dass, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Ueberreste geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse, — dass man r e i s e n müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen - diese sind ja nur festgewordene ältere C u l t u r s t u f e n , auf die man sich s t e l l e n kann —, zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften namentlich, dorthin wo der Mensch das Kleid Europa's ausgezogen oder noch nicht angezogen hat. (VM 223, 2:477f)
Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis ist nur durch die simultane Erforschung des Fremden zu haben. Sie lehrt uns die Genese der eigenen Bedingtheit. Die ethnologische Feldforschung erinnert an die geschichtliche Relativität jeder individuellen Verfassung, an den historischen Sinn. Die Reise fördert so das Lesen im eigenen Ich. Es gebe freilich, so fährt Nietzsche fort, noch „eine f e i n e r e Kunst und Absicht des Reisens", diejenige nämlich, die nicht an die physische Fortbewegung gebunden ist, sondern es erlaubt, „Culturfärbungen" auch in der Nähe zu beobachten, in Menschen und Gegenden, in denen sich ältere Geschichtsmomente erhalten haben, namentlich fern der Großstädte. Man könne „nach langer Uebung in dieser Kunst des Reisens" sogar zum „hundertäugigen Argos" werden, dem es schließlich leicht fällt, sich selbst, seine eigene Individualität („sein ego"), in beliebige vergangene Zeiten und Orte zu versetzen, d.h. jene
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
ungeheuren Abstände zu überwinden, die der geschichtliche Strom aufgerissen hat: „So wird Selbst-Erkenntniss zur All-Erkenntniss in Hinsicht auf alles Vergangene" (ebd.). Die multiperspektivische Sehweise, die noch genauer untersucht werden wird, setzt also das gute, empfängliche Reisen im übertragenen Sinne voraus. Ein derartig geschultes, plastisches Ich hat sich aber eben nicht völlig in der Empfindsamkeit aufgegeben, sondern exportiert sich wiederum gleichsam selbst in jene fernen Regionen. Nietzsches Gedankensprung von der Reise zur Wissenschaft und zum allgemeinen Verstehen hat seinen systematischen Grund im Unterschied des philologischen Lesens zur Theorie der Interpretation. Der hundertäugige Argos, der die Kunst des Reisens beherrscht, ist Antipode eindimensionaler und einäugiger Plünderer. Es dürfte — als vorläufiges Resümee — jedenfalls deutlich geworden sein, dass Nietzsches wanderndes Lesen und spazierengehendes Denken mit der Interpretation als Vergewaltigung nicht identisch sein können und dass Nietzsches Lektürebegriff sich nicht dem Begriff der Interpretation subsumieren lässt.
4.2. Usus loquendi: Metapher und Allegorie Die Kunst des Reisens geht wie jene des guten Lesens mit einem Verbot der Allegorese einher. Das Allegoreseverbot ist bei Nietzsche, wie anfangs demonstriert, unverzichtbar und geradezu Signatur der redlichen Philologie. Die „Philologie des Christentums", und das heißt die Theologen „bringen ihre Muthmaassungen so dreist vor wie Dogmen und sind über der Auslegung einer Bibelstelle selten in einer redlichen Verlegenheit." Auf diese Weise — durch „eine unverschämte Willkürlichkeit der Auslegung" — bringe das Christentum dem ganzen Volk die „Kunst des Schlecht-Lesens" bei, das Nietzsche detailfreudig anhand von Beispielen belegt: „wo nur ein Holz, eine Ruthe, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute diess eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz" (M 84, 3:79f). Problematisch wird nun der Umstand, dass Nietzsches Reflexionen über das Lesen und Reisen selbst allegorisch geschildert werden, und dies ist nur ein Beispiel von vielen. Verbietet Nietzsche dem Leser nicht die Annahme von Allegorien? Bedeuten das „einfache Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt" (MA 1.270, 2:223) oder die Forderung, Tatsachen abzulesen „ohne sie durch Interpretation zu fälschen" (AC 52, 6:233) somit die Beschränkung des guten Lesers auf den sensus litteralis? Dagegen spricht ja nicht nur die allegorische Behandlung des Reisemotivs, sondern auch Nietzsches Hinweis, in seinen eigenen Schriften gebe es manches „zu lesen [...] was nicht gerade darin geschrieben steht" (VM 175, 2:455). Dagegen spricht z.B. auch die durchaus glaubwürdige Anekdote Sebastian Hausmanns, der Nietzsche Mitte der achtziger Jahre auf Spaziergängen in Sils Maria begegnete. Hausmann beklagt seine Lektüreschwierigkeiten; als Beispiel fällt ihm die bekannte Stelle über Frauen aus dem Zarathustra ein („Ver-
4.2. Usus loquendi: Metapher und Allegorie
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giß die Peitsche nicht!" - Za I, 4:86). Nietzsche antwortet: „Aber ich bitte Sie, das kann Ihnen doch keine Schwierigkeit machen! Ich meine, es ist doch klar verständlich, daß das nur eine scherzhaft übertriebene, symbolistische Ausdrucksweise ist. Wenn du zum Weibe gehst, so laß dich nicht von der Sinnlichkeit unterjochen, vergiß nicht, daß du der Herr bist, daß es die wahrlich auch nicht geringe Aufgabe des Weibes ist, dem Mann als freundliche Begleiterin, als Verschönerin seines Lebens zu dienen." (nach Gilman, 21985:410). Da die Rekonstruktion der Bedeutung von Lesen und Interpretieren bei Nietzsche naturgemäß auch Auswirkungen auf unseren Umgang mit seinen eigenen Texten hat, muss hier nochmals weiter differenziert werden. Es gilt zunächst, die Mechanismen der grundlegenden ersten Domäne, der Domäne schriftlicher Texte, bloßzulegen. In Verlängerung des letzten Kapitels dürfte es einleuchten, dass man es erst verstehen muss, ins Innere von Nietzsches Schriften zu dringen, ehe man mit seiner Hilfe die übrigen Domänen bereisen darf. Verglichen mit philosophischen Verfassern wie Kant und Hegel und mit dem Großteil der akademischen Philosophie wirken Nietzsches Texte gerade wegen ihrer „symbolistischen Ausdrucksweise" literarisch. Nietzsche gilt spätestens seit Sarah Kofmans wegweisender Studie (Kofman, 21983) als der Philosoph der Metapher. Die Metapher sei es, die ihn aus der philosophischen Tradition heraushebe und einzigartig mache. Die Metapher sei bei ihm von Beginn an mehr als nur ein Übertragungsmittel im Sinne der Rhetorik, also (im aristotelischen) Sinn sekundär zum Begriff. Im Gegensatz zu Aristoteles sei für Nietzsche der Mensch geradezu das metaphorische Tier249. Wenn Nietzsche die Allegorese der Theologen und Metaphysiker, der Christen und Idealisten angreift, kann er die Selbstbeschränkung auf den sensus litteralis nicht gemeint haben. 249
Der Wille zur Macht äußere sich metaphorisch. Da die Metapher sich aber nicht mehr auf etwas Reales bezieht, sondern ihrerseits schon auf Interpretation, müsse Nietzsche sie als Begriff fallen lassen, weil sie sonst zum gefährlichen metaphysischen Dogma werde. Wenn Nietzsches Metaphemtheorie zunächst strategisch eingesetzt werde, um jegliche Essenz zu dekonstruieren, werde sie später durch das Wechselspiel von Text und Interpretation ersetzt. Die Metapher werde ,Text', Produkt einer jeweils einzigartigen Perspektive, weil die Bedeutung, die in ihr liegt, nicht mehr die Essenz der Welt betrifft; sie selbst ist diese Perspektive als Ausdruck eines bestimmten Willens zur Macht. Die Genealogie, die historisch ist, weil jedes Konzept eine Geschichte hat, sei auch deshalb vonnöten, weil die Metaphern als Symptome eines bestimmten Willens gelesen werden müssen. Die genealogische Etymologie will nicht den Ursprung und die akkurate Bedeutung herausfinden, sondern mannigfaltige Ursprünge, die dann hierarchisiert werden (Kofman bezieht sich hier auf den 3. Abschnitt des Vorworts zur Genealogie der Moral). Kofman erkennt an dieser Stelle das philologische Vorbild des Stemmas nicht, auch ihr Textbegriff entspricht kaum dem Nietzsches, obgleich sie sich durchaus selbst philologischer Metaphern bedient. Die genealogische Lektüre lehre, dass die Sprache der Moral eine verfälschende Interpretation darstellt, indem der Text des Leibes metaphorisch in die oberflächliche Sprache des Bewusstseins überführt wird. Der Genealoge, also Nietzsche, bessere den wahren Text der Moral wieder aus, indem er die Metapher umkehrt und die natürliche Hierarchie der verschiedenen Symbolsysteme wiederherstelle. Dionysos sei die mythische Figur des ursprünglichen Texts des Lebens: nackt und ohne metaphysisches Feigenblatt, frei von Scham, unschuldig. Gut lesen lernen heißt dann für Kofman nichts anderes, als den verfälschten sekundären Text zu entziffern und die Eigentlichkeit der Triebe zu entdecken, die hier überschrieben waren.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
Allem Anschein zum Trotz liegt darin kein Widerspruch zur Forderung nach ,einfachem Verstehenwollen' oder anderen theoretischen Äußerungen Nietzsches zur Exegese. Nur vermeintlich ist die allegorische Praxis unvereinbar mit der allegoresefeindlichen Theorie. Die Annahme einer ,wörtlichen Bedeutung' im klassischen Sinne setzt sie nicht voraus. Der sog. sensus litteralis existiert nämlich nur als Gegenstück zum sensus spiritualis. Wer diesen ablehnt, lehnt jenen gleich mit ab. Wie Gerhard Kurz bemerkte, erscheint der sensus litteralis nur deshalb als ,wörtliche' Bedeutung, weil das Augenmerk beim fraglichen Text auf der allegorischen Bedeutung liegt, wobei es natürlich zwischen interpretierter und uninterpretierter Bedeutung keinen Unterschied gibt — selbst die scheinbar wörtliche Bedeutung kann ja ihrerseits wieder metaphorisch sein usf. (1982:30). Die Privilegierung des Wortsinns etwa im Anschluss an die Reformation ist somit ein historisch gewachsenes kulturelles Artefakt, das nur auf der Grundlage einer schon etablierten Trennung von eigentlicher und uneigentlicher Rede beruht. Diese Trennung aber ist die ursprüngliche theologische Operation250. Im Gegensatz zu ihr steht nicht die Betonung des sensus litteralis, sondern die rhetorische Auffassung der Sprache. Sprache ist danach schon immer tropologisch und kennt keine essentialistische ,Normalbedeutung' und damit keinen wesentlichen Unterschied von eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung. Es ist diese Sprachauffassung, der sich Nietzsche verpflichtet fühlt. Nietzsche meint also nicht, man müsse die Sprache seiner Texte im traditionellen Sinne ,wörtlich' nehmen, um dem Allegoreseverbot Rechnung zu tragen. Das Problem ist damit freilich nur verschoben, nicht gelöst; denn wo verläuft die Grenze zwischen allegorischer Schreibweise und Allegorese, zwischen Metapher, Symbol und Allegorie? Wie löst Nietzsche das Dilemma, auf Allegorese verzichten zu wollen, ohne gleichzeitig die subtilsten Leistungen der Sprache und des Interpretierens einzuschränken? Wie ist redliches Lesen angesichts der ständigen Möglichkeit von ironischer, allegorischer, metaphorischer oder symbolischer Rede und Bedeutung überhaupt möglich? Es ist dies die Grundfrage der Literaturwissenschaft, ja der Exegese überhaupt (vgl. auch Szondi, 1962:270), und zwar bis heute. Mit Anklängen an die Reise- und Eroberungsmetaphorik, der sich schon Nietzsche bedient, heißt es noch jüngst bei Walter Haug: „Kritische Verweigerung gegenüber allem allegorischen Interpretieren ist für den Literaturwissenschafder erstes Gebot, denn die Allegorese ist die krudeste Form der Usurpation des Fremden — auszunehmen ist selbstverständlich jene Literatur, die sich
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In Die Welt als Wille und Vorstellung einem der wenigen philosophischen Bücher, die Nietzsche wirklich gründlich gelesen hat, im bedeutenden Kapitel „Ueber das metaphysische Bedürfniss des Menschen", erläutert Schopenhauer die Notwendigkeit des allegorischen Charakters aller Religionen, da sie „für die Unzähligen bestimmt" seien, „welche, der Prüfung und des Denkens unfähig, die tiefsten und schwierigsten Wahrheiten sensu proprio nimmermehr fassen würden". Es genüge dementsprechend, dass Religionen nur „sensu allegorico" wahr seien: als Mysterien und Dogmen aller Art, die nur nach Glauben verlangen (1988, Bd.2, 17. Kapitel des 1. Buches, S. 184-218).
4.2. Usus loquendi: Metapher und Allegorie
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schon selbst einem Modell ausgeliefert hat, die also genuin allegorisch ist." (Haug, 1999:76f) Das Erkennen des allegorischen Modells bedarf aber bestimmter Kriterien, hängt mithin bereits wieder vom Verstehen ab. Die Sprache eines beliebigen Textes kann noch so akribisch linguistisch analysiert werden: jede Analyse versagt vor der potentiellen übertragenen Bedeutung, vor der generellen Eigenschaft sprachlicher Äußerungen, mehrdeutig zu sein. Diese Mehrdeutigkeit ist kein Problem, das den sensus litteralis betrifft und demzufolge linguistisch zu lösen wäre, sondern ein Problem des Meinens und Verstehens251 — letztlich der Kommunikation zwischen Individuen. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich fast ausschließlich auf die Metapher konzentriert, obgleich diese nur im Kontrast und Vergleich zu verwandten Phänomenen zu erklären ist. Freilich schließt der Gebrauch des Metapherbegriffs häufig die Allegorie ein. Bei Nietzsche kommt man um eine Differenzierung von Allegorie und Allegorese, bildlichem Ausdruck und figurativem Sprechen schon deshalb nicht herum, weil sie für ihn selbst noch unangefochtene Tatsache war. Es kann in diesem Rahmen freilich nicht um eine neue Theorie der Metapher oder um eine vollständige Aufarbeitung etwa der Metapherntheorie in den Schriften Nietzsches gehen252. Hier interessiert allein die Bedeutung der Metapher und ähnlicher Phänomene für das Verhältnis der exegetischen Theorie zum Lesen und Interpretation bzw. zur Philologie. Über die mittlerweile traditionelle Frage nach der Rolle von Metaphern in begrifflich-philosophischer Sprache, wie sie etwa Sarah Kofman in ihrem eben erwähnten Werk stellt, wird damit hinausgegangen. Kofman bezeichnet mit ,Metapher' jede absichtliche bzw. unabsichtliche übertragene Redeweise. Ähnlich wie bei Blumenberg ist diese nur ein Spezialfall von Unbegrifflichkeit (Blumenberg, 1973:77). Dies ist insofern problematisch, als von Nietzsche ja gerade die Existenz begrifflich-unmetaphorischer Rede bezweifelt wird, wie Kofman selbst behauptet — und somit in zwei Widersprüche läuft. Erstens kann man nicht die Ubiquität der Metapher behaupten und gleichzeitig ihren Gebrauch bei Nietzsche hervorheben. Es handelt sich letztlich um das Dilemma, das die Dekonstruktion nicht nur in Kauf nimmt, sondern provoziert: es gibt keinen Ausweg mehr, wenn die Metapher zugleich Objekt und Instrument der Analyse ist. Zweitens, und dies hängt eng damit zusammen, kann Kofman sich nicht vollständig vom Dualismus des eigentlichen/uneigentlichen Sprechens lösen. In ähnlicher Manier hat schließlich auch die linguistische Metaphemtheorie bis heute den unseligen Gegensatz nicht überwunden. Sie geht meist davon aus, dass im Verstehensprozess erst dann eine Metapher angenommen wird, wenn es 251
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Vgl. dazu schon Fries (1980), der die Schwierigkeit demonstriert, Mehrdeutigkeit linguistisch zu bestimmen. Er unterscheidet Ambiguität (vom gewählten Grammatikmodell abhängige Mehrdeutigkeit) von genereller Vagheit (unabhängig vom gewählten Grammatikmodell), die eben in keiner Weise exegetisch aufhebbar ist. Dazu etwa Otto (1998). Allgemeine Informationen s. neuerdings die ausgezeichneten Einträge zur Metapher von E. Ebbs und zur Allegorie von W. Freytag im HWR.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
in der (syntaktischen) Sprachverarbeitung Probleme mit der ,normalen' lexikalisch-prototypischen Bedeutungskombination einer Aussage gibt. Daraufhin werde eine neue Bedeutung angenommen, die in den Kontext der Äußerung passe. Diese neue kontextuelle Bedeutung könne dann auf lange Sicht in einer Sprachgemeinschaft verfestigt, d.h. in das lexikalische System der Polysemie überführt werden (vgl. Abraham, 1998). Davon abgesehen, dass für die Literaturwissenschaft das Problem vor allem in der Möglichkeit liegt, Sätze und Texte beliebig metaphorisch zu lesen, bzw., um nicht selbst in die Falle zu tappen: in der generellen Mehrdeutigkeit sprachlicher Äußerungen, kann ohne weiteres zugegeben werden, dass Lexeme prototypische Bedeutungen aufweisen und grammatische Fügungen bestimmten, linguistisch rekonstruierbaren Restriktionen unterliegen — sonst wäre Kommunikation gar nicht möglich. Ihren konkreten Sinn erhalten sprachliche Ausdrücke aber erst im konkreten Kontext. Sprache muss plastisch sein, um, wie schon Wilhelm von Humboldt erkannte, mit beschränkten Mitteln unendliche Bedeutungen ausdrücken zu können. Die sogenannte uneigentliche Sprechweise ist also ein alltägliches Phänomen, und zwar nicht nur auf der Ebene der ,toten' Metapher. Das hebt den idealisierten Wortsinn völlig auf, denn der Rezipient, zumindest in der schriftsprachlichen Kommunikation, muss nicht erst darauf warten, bis etwas (für den idealen Leser!) ,unverständlich' wird, die metaphorische Lektüre kann von Anfang an praktiziert werden. Unterscheidet man dennoch, wie etwa Searle (1979), Satz- und Äußerungsbedeutung, so kommt auf diesen Unterschied gar nichts an, denn außerhalb der Theorie treten Sätze bzw. Texte naturgemäß nur im Gebrauch auf. Die Interpretation metaphorischer wie nicht-metaphorischer Ausdrücke beschränkt sich mithin auf die (Vor)Auswahl des richtigen Kontexts zum Verständnis der Äußerung — was sich unter anderem daran zeigt, dass bei entsprechend angemessenem Kontext beide Arten von Ausdrücken gleich schnell und leicht verarbeitet werden (vgl. schon Rumelhart, 1979). Mit Searle lässt sich aber erhärten, dass für die Interpretation der Metapher keine außersprachlichen Konventionen, sondern in erster Linie die Beobachtung der Konversationsmaximen (z.B. im Sinne von Grice) und Sprechaktregeln nötig sind: „metaphorical meaning is always Speaker's utterance meaning." (1979:93). Um eine Metapher als Metapher zu interpretieren muss ich annehmen, sie stamme vom Urheber der Rede bzw. des Textes. Folglich muss es auch regelmäßige Beziehungen zwischen Satzbedeutung (nicht Wortbedeutung!) und Metaphorik geben. Die meisten Metaphertheorien253 sind 253
Szondi (1975:177) ordnete eine brauchbare und umfassende Metaphernlehre den wichtigsten „Desideraten" der Allgemeinen Literaturwissenschaft zu. Sie ist bis heute Desiderat geblieben. Wer sich auf dieses Gebiet wagt, muss Ausdauer mitbringen. Aus dem Rennen geschieden sind mittlerweile jedoch die diversen Spielarten der Vergleichstheorie, v.a. deshalb, weil Metaphern Ähnlichkeiten erst schaffen, statt, wie es die wahre Analogie tut, abzubilden (vgl. Kurz, 1982:19f). Metaphern lassen sich nicht umschreiben oder ersetzen, ohne dass die spezifische Bedeutung verlorengeht. Konjunktur haben derzeit kognitionswissenschaftlich ausgerichtete lin-
4.2. Usus loquendi: Metapher und Allegorie
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sich deshalb heute über die Kontextgebundenheit der Metapher einig. Das Bewusstsein einer .doppelten' Bedeutung ist immer aus dem Verständnis des ganzen Kontexts abgeleitet. Die Dichotomie eigentlich/uneigentlich bezieht sich folglich auf den Gegensatz kontextlos/kontextualisiert bzw. kontextüblich und kontextunüblich. .Wörtlich' oder .metaphorisch' zu sein ist keine Eigenschaft von Wörtern oder Sätzen, sondern von Äußerungen und gehört deshalb in die Pragmatik, nicht die Semantik. Zu ihrer Interpretation lassen sich daher nie allgemeine Regeln formulieren; immer entscheidet der kommunikative Rahmen von Sprecher und Hörer bzw. Autor und Leser mit (vgl. Kurz, 1982:13). Nietzsches Vertrautheit mit der traditionellen Rhetorik ist unbestritten und aufgrund seiner altertumswissenschaftlichen Schulung naheliegend. Seine eigene Darstellung der antiken Rhetorik aus dem Sommersemester 1874 (KGW 11.4:413520) zeigt allerdings auch, dass Nietzsche weit über Quintilian hinausgeht. In Anlehnung an ein Wort Jean Pauls aus der Vorschule der Ästhetik wird die Sprache hier ganz zum Wörterbuch erblasster Metaphern254: Sprache ist tropisch, d.h. schon von Natur aus .uneigentlich', dies macht ja auch die Abgrenzung der Tropen von den Figuren so schwierig. „Es giebt gar keine unrhetorische .Natürlichkeit' der Sprache, an die man appeliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten". Wenn Tropen, also die uneigentlichen Bezeichnungen, auch als wichtigstes „Kunstmittel" der Rhetorik gelten, so werde vergessen, dass hinsichtlich ihrer Bedeutung alle Wörter Tropen sind (425f). Nietzsche stützt sich in seiner Vorlesung auf gängige antike sowie zeitgenössische rhetorische Lehrbücher. Für seine frühe Sprachauffassung255 war außerdem, wie die Forschung zweifelsfrei bewiesen hat, Gustav Gerber ausschlaggebend (Meijers, 1988), und damit gewisse Aspekte der Humboldtschen Tradition. Schon bei Humboldt war die „Erzeugung der Sprache" ganz allgemein „ein synthetisches Verfahren und zwar ein solches im ächtesten Verstände des Worts, wo die Synthesis etwas schafft, das in keinem der verbundenen Theile für sich liegt." (Humboldt, 1963:473; Hinweis in Kurz, 1982:16). Das Phänomen der Metapher ist demzufolge kein künstliches, vom Menschen ornamental verwendetes Stilmittel, sondern Ausdruck der organischen, gewissermaßen künsderischen Entfaltung sprachlicher Kräfte.
guistische Ansätze, und zwar spätestens seit Lakoff/Johnson (1980). Gute Gründe sprechen dafür, dass die Metapher etwas mit den grundlegenden Organisationsprinzipien und Prozessen menschlicher Kognition zu tun hat. Die neueren Entwicklungen auf diesem Gebiet (etwa Turner, 1996) versuchen sogar bereits Anschluss an die Literaturwissenschaft zu gewinnen, sind aber weder technisch, noch dem Grad der Subtilität nach genügend ausgereift und jedenfalls in analytischen Zusammenhängen bisher nicht verwendbar. Als Theorien über das Bewusstsein müssen sie freilich ernst genommen werden. 254
255
„Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern." (Jean Paul, 1967:184) Behler (1994) hat freilich einschränkend den experimentellen Charakter von Nietzsches früher Sprachphilosophie betont. Sie sei fortlaufender Reflexionsprozess, kein kohärentes System.
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Nietzsches Wortdefinition lautet, Gustav Gerber folgend, so: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten." (WL, 1:879). Der Nervenreiz findet sich als Spur ikonisch (metaphorisch) in der Sprache wieder. Wenn Wörter bereits Metaphern, d.h. Übertragungen aus den Komplexitäten des Leibes sind, können sie nichts .Eigentliches' mehr darstellen. Nietzsches berühmte Definition der Wahrheit - ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken." (ebd., 881) — verfolgt den Übertragungsgedanken lediglich zum logischen Schluss256. Eine Metapher hat bei Nietzsche damit v.a. zwei wichtige Eigenschaften. Sie stellt erstens eine Übertragung dar und verweist zweitens ikonisch auf die Sphäre zurück, aus der sie stammt. Metaphorischer Sprachgebrauch beruht also nicht auf Substitution, sondern auf Inter- und Transaktion. Sie kann nicht durch eine Substitutionstheorie erklärt werden 257 . Ohne Zweifel wurde schon in der antiken Tradition, auf die Nietzsche sich stützt, Metaphorik als Übertragung (translatio) angesehen. „Die moderne Idee einer Substitution oder Ersetzung eines eigentlichen Wortes durch ein uneigentliches ist somit der traditionellen Rhetorik völlig fremd." (HWR, Bd. 5:1103). Selbst wenn Nietzsches Leser nur die Instrumente der antiken Rhetorik handhabte, würde er sich nicht auf einen ,eigentlichen' Wortsinn zu beschränken haben. Gerber musste Nietzsche in der Interaktionstheorie deshalb nur bestärken: „Denn eben darauf kommt es an, dass Metapher und Gleichniss aus einer Proportion hervorgehn, deren Verhältnisse v e r s c h i e d e n e n Sphären angehören, so d a s s also n i c h t e t w a die v e r t a u s c h t e n B e g r i f f e s e l b s t die G l e i c h u n g b i l d e n , s o n d e r n die V e r h ä l t n i s s e , i n n e r h a l b d e r e r sie an d e n e i n a n d e r e n t s p r e c h e n d e n S t e l l e n e r b l i c k t w e r d e n . " (1871 ff, Bd. 2.1. :80)258 256
257 258
Die Tropen werden auch in der Darstellung der antiken Rhetorik als Übertragungen von Nervenreizen und Empfindungen erklärt. Dadurch ergeben sich wiederum Verbindungen zur Tradition der Wolfschen Philologie. Wolf hatte die Sprache als Summe von Zeichen definiert, „die sich Menschen erfunden haben zum Ausdrucke ihrer Empfindungen und Vorstellungen." (1831:49). Nietzsche unterscheidet sich davon nur insofern, als es bei ihm nicht mehr nur um die bewussten Empfindungen geht. Mit Kurz (1982:2f) betrachte ich die Vergleichstheorie als Spezialfall der Substitutionstheorie. Hödl (1997) enthält neben vielen nützlichen Hinweisen zu Nietzsches Verhältnis zur Rhetorik auch eine gute Diskussion des Einflusses von Gerber. Wichtig v.a., dass er nicht nur auf die Parallelen, sondern besonders auf die Unterschiede hinweist. Nietzsche radikalisiere Gerbers Auffassung der Sprache als Rhetorik und besonders auch den Begriff der Übertragung: während bei Gerber Vorstellungen und Laute Bilder von Empfindungen seien, ist für Nietzsche schon die Empfindung Übertragung aus dem Nervenreiz. Für Nietzsche sei die Metapher nicht primär Bedeutungsübertragung, sondern bezeichne den Übergang vom Nervenreiz zur Empfindung und von dieser zum Wort (1997:83ff). Möglicherweise spielen hier sprachtheoretische Spekulationen, wie Nietzsche sie bei Wilhelm Wackernagel u.a. kennenlernte, eine Rolle. Wackernagel (1872) in Nietzsches nachgelassener Bibliothek enthält einige Anstreichungen von Nietzsches Hand, z.B. zu interessanten Ausfuhrungen über das Verhältnis von Sprache, Musik, Sprechen
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Der Begriff der Metapher taucht in Nietzsches mittleren und späten Texten gar nicht mehr auf. Umso stärker häuft sich die Verwendung von Ausdrücken wie ,Zeichen' oder auch ,Semiotik'. Zwar gebe es, heißt es an einer bereits zitierten repräsentativen Stelle in der Göthen-Dämmerung, keine moralischen Tatsachen, sondern nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, das moralische Urteil bliebe jedoch als „Semiotik" unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug wussten, um sie selbst zu „verstehn". Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie: man muss bereits, wissen, worum es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen. (GD Die „Verbesserer" der Menschheit 1., 6:98) Jede Moral steht mit anderen Worten für die (physiologische) Verfasstheit von Individuen und ganzen Kulturen. Der ,Leser' der Moralgeschichte, dem zwar kein verlässlicher Text (und keine moralischen Tatsache) vorliegt, kann anhand der zutagetretenden Metaphorik gewisse Rückschlüsse ziehen. Lesen wäre hier der Versuch einer Rückübertragung im Sinne ikonischer translatio — nicht auf etwas Eigentliches, sondern genealogisch auf den Ort der Herkunft. Doch lässt sich das rein praktisch, d.h. in der konkreten Exegese, von Allegorese unterscheiden? Die Gefahr ist groß, aus der ,Zeichenrede' beliebige Schlussfolgerungen zu ziehen. Streng genommen handelt es sich bei den Zeichen nämlich offenbar um keine Metaphern mehr, auch deshalb vermeidet Nietzsche diesen Ausdruck. Ein entscheidendes Kriterium deutet er nämlich an, indem er die Zeichenrede nur „für den Wissenden" verständlich sein lässt. Es ist das Kriterium zur Unterscheidung der Allegorie. Die Allegorie, die bei Quintilian als Tropus der inversio „aut aliud verbis aliud sensu ostendit" (Inst. Or., VIII.vi.44) gilt, d.h. etwas völlig anderes sagt, als sie zu sagen vorgibt, ist im Gegensatz zur Meund Poesie (z.B. S. 36). Wackernagel vergleicht menschliche Sprache mit tierischen Äußerungen, ja leitet sie als Symptom von unmittelbaren physischen Bedürfnissen ab; Tier und Mensch bilden eher ein Kontinuum, als dass die Sprache den Menschen vom Tier unterscheide. Freilich entwickeln diese physischen Äußerungen im sozialen Kontext ganz neue Übertragungen und Ausformungen, die nun gesondert betrachtet werden müssen: „Die Empfindungen, von denen die dunkle Seele des Thieres bewegt, die Triebe, von denen es bei all seinem Thun und Lassen geleitet wird, bleiben unwandelbar durch alle Jahrtausende hin dieselben und ebenso unwandelbar die Laute, in denen es seine Empfindung äussert [...] Die eigentliche Menschensprache jedoch, in der sich Begriffe heerbar (sie) verkörpern und die durch Lehren und Lernen sich fortverpflanzt, die somit von Geist auf Geist gleichsam immer aufs neue geschaffen wird, sie schreitet fort, wie von Geschlecht zu Geschlecht der Geist fortschreitet; sie bewegt, sie entwickelt sich, wie der Geist des Einzelnen, des Volkes, der Menschheit in unablässiger Bewegung sich entwickelt; sie hat ihre Wandelungen gleich und mit dem Menschen, sie hat eine Geschichte wie die Völker." (15f). Die Wichtigkeit des Übertragungsbegriffes für Nietzsche im Anschluss an Gerber seit den frühen siebziger Jahren hat auch Orsucci betont. Gerber sei nicht nur wegen der Einsicht in den metaphorischen Charakter der Sprache wichtig für Nietzsche gewesen, „sondern auch dank seiner Einsicht in jenen Begriff von translatio, dessen Berücksichtigung es erlaubt, in den verschiedensten Bereichen neue Gesichtspunkte zu gewinnen" (1994:206). Begriffe haben keine ursprünglichen Bedeutungen, sondern gehen, kontextabhängig, immer wieder in neue Zusammenhänge ein.
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tapher nur zu entziffern, wenn ein bestimmtes Wissen einbezogen wird. Im Gegensatz zur reinen Metapher, die sprachlich unmittelbar verständlich ist, besteht zwischen allegorischem Ausdruck und bezeichnetem Inhalt zunächst keine ikonische, sondern nur eine konventionelle, habitualisierte Beziehung. „Um Redewendungen zu verstehen, muß man sprachliche Konventionen beherrschen, allegorische Texte kann man dagegen nur verstehen, wenn man literarische Konventionen versteht." (HWR, Bd.5:1175f). Moral wäre mithin eher Allegorie als Metapher des Leibes. Wenn nun die Allegorie nur durch Allegorese (im Sinne der pneumatischen Auslegung) entziffert werden könnte, dann gäbe es in der Tat keine redliche Lektüre, dann wäre jedes Lesen und jedes Interpretieren gleich schlecht. Allerdings gibt es entscheidende Unterschiede zwischen Typen von Allegorien und damit Verfahren von Allegorese. Die Allegorie sucht man bei der Aufzählung von Tropen in Wahrheit und Lüge vergeblich. In der Darstellung lehnt Nietzsche, wie in er klassischen Rhetorik üblich, „das Rätsel" und die „ganz dunkle Allegorie" als unstatthaft ab (KGW 11.4:448). Die Allegorie galt ferner bereits seit Jahrzehnten als intellektualistische und unsinnliche Gedankenfigur des Spekulativen schlechthin, „der finstere Fond", mit Walter Benjamin zu reden, „gegen den die Welt des Symbols hell sich abheben sollte" (Benjamin, 1972:176f). Allegorie bedeutete, zum Allgemeinen das Besondere zu suchen (Goethe, HA Bd.l2:471), d.h. eine abstrakte Idee in farbenfrohe Details zu hüllen mit der Absicht, sie zu bebildern anstatt aus der Beobachtung des Besonderen das Allgemeine erkennen zu geben. „Its essence is violence", heißt es noch in einer einschlägigen Untersuchung der jüngeren Zeit (Teskey, 1996:76). Allegorie wäre demzufolge rein konventionell, motiviert allenfalls durch jene Konventionen, die sie hervorbrachte, aber nicht durch die Bilder selbst, in denen sie sich ausdrückt. Kraft dieser Verfahrensweise bringt die Allegorie in der Tat den doppelten oder mehrfachen Schriftsinn in die Welt, der als Allegorese auf exegetischen Konventionen beruht. Sie wird zu einem mächtigen Instrument, ja zur alles beherrschenden Autorität in dem Maße, in welchem die entsprechenden Konventionen gesellschaftlich an Macht gewinnen. Allegorese als Geste der Herrschaft gegenüber dem Körper des Textes muss dann erst in dem Moment fragwürdig werden, da die entsprechenden Konventionen an Einfluss verlieren und der unterdrückte Leib zumindest rhetorisch sein Recht einklagt. Der in der klassischen Theorie als tota allegoria bekannte Tropus wird jedoch bereits in den Anfängen der Rhetorik von einer gemilderten Form, der allegoria permixta unterschieden. Im Gegensatz zur absoluten Allegorie enthält sie Anweisungen zur Sinnentschlüsselung. Auch im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert gibt es immer wieder Versuche, die Allegorie zu retten. Dabei macht man sich eine zeichentheoretische Unterscheidung zunutze, die schon in Sprachtheorie und Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts tradiert ist, nämlich zwischen dem sog. signum naturale sowie dem signum arbitrarium bzw. artificiale (dazu
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S0rensen, 1963:32ff und passim; Szondi, 1975:98-134). Durch alle Ablehnungen der Allegorie bis in postromantische Zeiten zieht sich letztlich die Ablehnung eines rein verstandesmäßigen und rein konventionellen Zeichens, das zur bezeichneten Sache keine Verbindung hat. Nur jene Allegorie wird zugelassen, bei der eine natürliche Verbindung im Sinne des signum naturale glaubhaft gemacht werden kann259. Goethes Symbolbegriff ist letztlich nichts als der Versuch, die organische Einheit des Zeichens als signum naturale wiederherzustellen; seine Metapherntheorie und seine Symbolauffassung sind deshalb weitgehend identisch: gegen eine abstrakte Ideenwelt gerichtet und auf die lebendige Welt der Gegenstände und Erscheinungen zielend (vgl. Sorensen, 1963:132)260. Eine bewusste Fortsetzung oder Wiederaufnahme der Symboltheorie Goethes bzw. anderer Theoretiker wie etwa Creuzers261 lässt sich bei Nietzsche indes nicht nachweisen, obwohl er mit seiner Allegoresekritik fest in der antiallegorischen Tradition der deutschen Klassik steht. Gemeinsam ist beiden die Stoßrichtung gegen den Piatonismus der Theologen und Metaphysiker, der im reinen Konventionalismus des signum arbitrarium bzw. signum artificiale seinen Aus259
So gibt sich etwa Lessing Mühe, die Fabel, das allegorische Genre schlechthin, nicht als Allegorie zu verstehen, nicht als willkürliches, sondern als natürliches Zeichen, etwa als Exemplum. Die Kunst dieser Fabel besteht dann darin, so viele Hinweise zu ihrer Entschlüsselung zu geben, dass man sie auch ohne Einweihung in die Spielregeln verstehen kann (Sorensen, 1963:38ff). Ein gutes Beispiel ist auch Jean Paul, v.a. weil Nietzsche die Vorschule der Ästhetik — und damit die einschlägigen Abschnitte über Metapher und Allegorie (1967:182f£) - wohl gut kannte. Bei Jean Paul steht der bildliche Witz, der sich der Phantasie verdankt, dem verstandesgeleiteten unbildlichen Witz entgegen. In der Metapher verschmelzen Geist und Materie, der bildliche Witz „kann entweder den Körper beseelen oder den Geist verkörpern." (S. 184) Die Metapher sei die ursprüngliche Sprechweise des Menschen, die sich erst nach der Trennung von Ich und Welt zum eigentlichen Ausdruck entßrbt, wie Jean Paul es mit einer schönen Metapher beschreibt. Die Allegorie dagegen „ist seltner eine fortgesetzte Metapher als eine abgeänderte und willkürliche." (189). Schon F.A. Wolf hatte die Metapher als „Bedeutung eines Wortes übertrage[n] von einer sinnlichen auf eine intellectuelle Idee" aufgefasst (1831:279). Hier gibt es nicht wenige Parallelen zu Nietzsche: neue Bedeutungen, heißt es noch ganz am Ende, entstünden durch Übertragungen aus Bekanntem. Verstehen heißt „etwas Neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem" (VIII15 [90]).
260
In der klassisch-romantischen Theorie bedeutet das Symbol auch ohne symbolische Bedeutung etwas, hat also, im Gegensatz zur Allegorie, ein Eigenleben — die Allegorie ist immer nur als Verweis auf das eigentlich Gemeinte lebendig. Der Epoche ist insgesamt die Überzeugung eigen, dass durch bildlich-symbolische Darstellung ein neuartiges Erleben und Deuten der Welt möglich ist und neuartige Erkenntnisse zu gewinnen sind, die sich von jenen auf diskursivem Wege erlangten qualitativ unterscheiden. Im Verhältnis zur Tradition, die bildliche Darstellung nur als geistigen Schmuck gelten ließ, findet so ein radikaler Bruch statt (Sorensen, 1963:255f). Leider komplizieren sich die schon in der deutschen Tradition so verschlungenen und widersprüchlichen begrifflichen Verhältnisse noch weiter, wenn man diesen Sprachraum verlässt. Von Sprache und geistiger Überlieferung unabhängige Symbol-, Metapher- und Allegoriebegriffe gibt es nicht. HiUis Miller (1981) etwa demonstriert eher unfreiwillig die Begriffsverwirrung im englischen Sprachraum, indem er Goethes Allegorie und Symbol als die zwei Arten der Allegorie bezeichnet, die für ihn gleichbedeutend mit figurativer Sprache überhaupt sind.
261
Allerdings hat Nietzsche Creuzers Hauptwerk, Symbolik und Mythologie der alten Völker (Creuzer, 1836ff), durchaus besessen, merkwürdigerweise hat er es sich erst (noch!) im Jahr 1884 angeschafft.
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druck findet. Die entsprechende Operation dieses Konventionalismus ist die Substitution; um Nietzsches Beispiel zu benutzen: jedes Reis als Hinweis auf das Kruzifix zu lesen. Die Allegorie als Trope oder sogar als Figur lässt sich davon trennen, wenn sie sich dem signum naturale annähert. Sie ist dann unproblematisch, wenn der Kenner dem Text einleuchtende Hinweise zur intendierten allegorischen Rezeption nachweisen kann262. Bloße Vermutungen im Sinne einer auf der Substitutionstheorie der Metapher beruhenden Hermeneutik des Verdachts sind nicht hinreichend. Anders gesagt: erst die Substitutionstheorie der Metapher und anderer bildlicher Rede verfuhrt zur Allegorese263. Nietzsches guter Leser 262
Beispielsweise sind schon allegorische Gattungen an sich solche Hinweise, also etwa Fabeln und Satiren, Predigten, Gnomen, Gleichnisse, Rätsel u. dergl. Auch gewisse Standardsituationen wie die (Pilger-)Reise oder die Landschaftsbeschreibung haben sich in diesem Sinne etabliert. Der Zarathustra ist ein regelrechtes Kompendium allegorischer Textgattungen.
263
Eine kritische Auseinandersetzung mit Aristoteles, der normalerweise als Vater der Substitutionstheorie angesehen wird, lässt sich schon in der Geburt der Tragödie nachweisen. „Die Metapher," heißt es hier, „ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt." (GT 8, 1:60) Barbara von Reibnitz (1992:213) sieht darin mit Recht eine Kritik an Aristoteles und der Regelpoetik. Es ist aber auch eine Kritik an der Auffassung der Metapher als reiner Begriffssubstitution. Die Stelle erinnert ebenso an die Symbolauffassung der Goethezeit und deutet möglicherweise auf eine Übernahme ihrer wesentlichen Prämissen hin. Der Symbolbegriff spielt in der Literaturwissenschaft heute kaum noch eine Rolle, da ihn seine einst universelle und inflationäre Verwendung unbrauchbar gemacht hat. Symbolik, dies ist bei aller Verwirrung nach wie vor die verbreitetste Bedeutung, beruht generell auf analogischen und synekdochischen Beziehungen, wird also als Analogie oder Teil eines Ganzen aufgefasst (Kurz, 1982:66ff). Analogie und Synekdoche sind weniger problematisch als Metapher und Allegorie, deshalb kann der Symbolbegriff auch freier und unkontroverser benutzt werden. W o sich die Verwendung der Metapher annähert, mit der das Symbol einiges gemeinsam hat, kehren die Schwierigkeiten zurück. Das Symbol ist jedenfalls, das begründet den Unterschied zur Metapher und die Nähe zur Allegorie, weniger an die Sprachform gebunden. Es gehört nicht zur internen Struktur des Zeichens, da es genau genommen, nichts benennt. Es ist daher nicht durch Polysemie zu erklären und entsteht erst durch die Deutung: wie die Allegorie ist es in erster Linie ein hermeneutisches, kein semiotisches Phänomen, das freilich nicht beliebig, sondern nur durch den Textzusammenhang erschlossen wird (79). Der jüngste ernsthafte Versuch, den Symbolbegriff zu beleben, stammt von Ernst Cassirer ( 7 1983). Das neuere Interesse daran zeigt, wie dringend die Suche nach Alternativen zur durch (Post-)Strukturalismus und Semiotik vermittelten Substitutionstheorie geworden ist. Von Goethe ausgehend ist das Symbol bei Cassirer keine dem ,eigentlichen' Sprachgebrauch entgegengesetzte Ausdrucksweise, sondern die Verbindung von geistigem Inhalt mit konkreten sinnlichen Zeichen, die in verschiedenen Sphären wie Sprache, Kunst, Mythos zur Wirkung kommt. „Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft." (176f). Das in zeitliche Prozesse gelagerte Individuelle lasse sich durch die Schaffung konkreter Symbole von innen heraus vergegenständlichen. Der Unterschied ästhetischer und religiös-mythischer Symbolik lässt sich im Sinne Goethes, aber unter Verzicht auf den Allegoriebegriff erfassen: „Die künstlerische Anschauung blickt nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern sie versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr." (190) Die Sprache sei nicht nur begrifflicher Ausdruck, sondern habe ihren je eigenen „Klang- und Gefühlswert" (191): die Materialität der Kunstwerke besitzt ein gewisses Eigenleben.
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akzeptiert keine Konventionen mit Universalitätsanspruch, die sich des Textleibes bemächtigen und die das gramma gegenüber dem pneuma abwerten. Darin liegt selbst kein Verzicht auf Allegorie, sondern ein philologischer Imperativ zur erst eigentlich allegorisch bewussten Exegese264. Damit wäre die Ursache identifiziert, die zu Nietzsches Abschied vom Begriff der Metapher seit Mitte der siebziger Jahre führt. Mit dem Ausdruck ,Zeichen' können nun die metaphorischen und die allegorischen ikonischen Zeichen benannt werden. Die pneumatische Auslegung und das schlechte Lesen bleiben dagegen dem substituierenden Verfahren der Theologen und Metaphysiken und damit den in den ,Text' gelegten rein konventionellen Zeichen verhaftet. Nietzsches ,Zeichendeutung' beruht, unabhängig von der konkreten figurativen Ausformung der Zeichen, auf dem Gegenteil der Substitution, nämlich auf translatio und damit auf der Bindung an den jeweiligen Kontext. Zeichendeutung ist Kontextstudium, und zwar des Kontexts der konkreten Äußerung sowie des gesamten Werks265. Nietzsche betont deshalb für das Studium seiner eigenen Texte immer 264
Schon die Allegorieverteufelung der Klassik hatte geringe praktische Auswirkungen, wie man nicht zuletzt am Faust ablesen kann. Es ist das Verdienst Benjamins, die Allegorie in ihrem Kunst- und Ausdruckswert rehabilitiert zu haben. Leider vermied er, Allegorie und Allegorese streng zu trennen. In jedem Falle schwebt ihm eine Art Substitutionstheorie der Allegorie vor. Alles kann alles andere bedeuten, was die Dinge einerseits entwertet, aber durch den verweisenden Status auch wieder erhöht. Es ist nicht unerheblich, dass Benjamin statt des Trauerspielbuches ursprünglich eine Studie über die Scholastik geplant hatte (Menninghaus, 1980:79). Winfried Menninghaus hat gezeigt, wie sehr Benjamins Bestimmung der Allegorie vom Kontext des Buches und (sprach-)philosophischer Erwägungen abhängt; aus dem Zusammenhang könne sie nur unter großen Verlusten gelöst werden (132f). Menninghaus lässt sich denn auch selbst auf Allegorese nicht ein — er arbeitet streng in der philologischen Herangehensweise des Kommentars (vgl. seine Fußnote 1, S. 227) — und bemerkt, dass auch Benjamin nur solchen Werken allegorischen Status zuerkennt, in denen Allegorie auch stilbildend, d.h. das „dominierende Sprachprinzip" sei (141). Von der Begründung einer prinzipiell neuen Literaturwissenschaft, die eventuell für eine Auseinandersetzung mit Nietzsche relevant sein könnte, kann deshalb nicht die Rede sein. Kurz: Benjamins wichtige Einlassungen zur Allegorie sind für unsere Zwecke wenig brauchbar. Wir müssen sie — im Sinne Benjamins — am eigenen Objekt entwickeln. Benjamins Einfluss auf die Literaturwissenschaft ist aber natürlich auch darauf zurückzuführen, dass er zur rechten Zeit an die verpönte literarische Technik der Allegorie erinnerte — die in den entsprechenden Texten auch auf angemessene Weise beachtet werden muss. Aus philologischer Sicht folgt daraus der auch Nietzsche wohlvertraute Imperativ, bei der Auslegung selbstverständlich auf literarische und andere Konventionen, die eventuell in der Geschichte der Gattung begründet sind, zu achten. Literaturwissenschaft muss diese Konventionen überzeugend nachweisen, wenn sie allegorisch interpretiert; alles andere wäre Allegorese. Benjamin muss speziell zu Schopenhauer insofern ergänzt werden, als bei diesem die Allegorie zwar ausdrücklich in der bildenden Kunst abgelehnt, in der Poesie jedoch als äußerst zweckdienlich begrüßt wird — dieser Umstand passt Benjamin nicht ins Konzept (bei Benjamin ist Schopenhauer lediglich Gegner der Allegorie im Sinne Goethes; vgl. Benjamin, 1972:176f). Freilich meint Schopenhauer mit der Allegorie in der Poesie eher metaphernähnliche Konstruktionen (vgl. §50 in Die Welt als Wille und Vorstellung 1988, Bd. 1:315ff). Zu Formen und Funktionen der genuinen Allegorie s. auch Haug (Hrsg., 1979).
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Damit ist der Unterschied von Metapher und Allegorie, den Kurz (1982:32) in die Begriffe „Bedeutungsverschmelzung" (Metapher) und „Bedeutungssprung" (Allegorie) fasst, in der konkreten Exegese nebensächlich. Zwar kann man in der Tat die Metapher als Satzanweisung ausformulieren, während der Rekonstruktion der Allegorie zunächst unverbunden die Analyse des
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
wieder, man sie im Werkzusammenhang lesen. Beachtet man nämlich den Werkzusammenhang, erwirbt man neben dem Verständnis der Metaphorik auch jenes Wissen der Eingeweihten und die Hinweise, die zur Entschlüsselung der allegorischen Struktur befähigen. Literarisches Lesen erlernen bedeutet identifizieren lernen, was alles auf eine bestimmte Textsorte bezogen symbolisch heißen kann. Nur durch den Vergleich textinterner und textexterner Aspekte wird Sinn während der Lektüre erzeugt (Kurz, 1982:76). Ohne Abstriche gilt dies auch für die Lektüre Nietzsches. Für die Auslegungspraxis ergibt sich daraus ein Imperativ zur metaphorologischen Lektüre, wie sie etwa Hans Blumenberg praktizierte, d.h. die konkrete Herausarbeitung von Metapherreihen und plausiblen Allegorien im Gesamtwerk und ihre Verbindung zu außertextlichen Sachverhalten. Die auffällige Verbindung von Lesen und Reisen in Nietzsches Werk ist nur ein Beispiel, auf das Nietzsche durch die Wiederholung des Motivs versteckt selbst immer wieder verweist266. Tatsächlich greift Nietzsche in dieser wie in allen exegetischen Fragen auf die Leistungen der zeitgenössischen Philologie zurück. Die strikte Ablehnung der Allegorese bei gleichzeitiger Offenhaltung der Möglichkeit allegorischer Lektüre findet sich z.B. schon bei Boeckh. Die Auslegungsfehler der Philosophen und scheinbar wörtlichen Sinnes vorausgeht, aber dieser muss nun in beiden Fällen in seiner kontextuellen Potenz beachtet werden. 266 Viele der etwa von Blumenberg in seinem metaphorologischen Lebenswerk untersuchten Phänomene sind nach herkömmlichen Begriffen ja eigentlich Allegorien, aber da sie nicht unbedingt auf Allegorese beruhen, ist ihre Aufnahme in einen weiten Metaphernbegriff gerechtfertigt. Allegorese dagegen bezieht sich nie auf eine (fiktive) intentio auctoris oder intentio operis, sondern sucht im Text nach Belegen für die intentio lectoris, indem sie den Text als sekundär gegenüber einer vorgeschobenen Bedeutungsebene einordnet. Derridas Abwehr der Kontextualisierung in seinem Regenschirm-Beispiel (s.o.) ist bezeichnend für das schlechte, bloß substituierende Lesen. Erst wenn das Regenschirm-Fragment als kontextuell ableitbar zu rekonstruieren wäre (unabhängig vom ,Wahrheitsgehalt"), kann ich es überhaupt als ,Text' und Kommunikationsakt ansehen. Den Regenschirm durch einen Phallus zu ersetzen ist eine verhältnismäßig schlichte Operation; Scharfsinn benötigt man für sie nicht. Es lässt sich bisher kein Kontext überzeugend nachweisen, in welchem die spezielle Bedeutung des Regenschirms zusammen mit dem Phallus eine relevante übertragene Bedeutung im Gesamtzusammenhang von Nietzsches Werk annehmen könnte. Die Kontextgebundenheit ist übrigens heute selbst in der semiotischen Theorie unkontrovers. Die „Verteidigung des wörtlichen Sinns" (Eco, 1995:40) ist naiv, denn der Text legt seinem Interpreten nicht als solcher Zwänge auf (die müssten ja — gemäß der Einsicht in den Perspektivismus — für jeden verschieden sein). Zwänge entstehen vielmehr durch die Kontexte, in denen Autor, Text und Interpret gleichzeitig stehen. Das Ergebnis der Rezeption wird also nicht durch den metaphorischen Text gesteuert, sondern durch die Interaktion, die letztlich „durch den allgemeinen Rahmen der enzyklopädischen Kenntnisse einer bestimmten Kultur" (204) bestimmt sei. Zwar kann sich ein Interpret „dafür entscheiden, jede beliebige Äußerung als metaphorisch zu betrachten, wenn seine enzyklopädische Kompetenz ihm das erlaubt", aber es gibt ein „Legitimationskriterium", nämlich den allgemeinen Kontext, „in dem die Äußerung steht", d.h. den kommunikativen Rahmen. Es ist dabei freilich die Frage, ob literarische Texte, wie Eco behauptet, solche Kommunikationsformen seien, in denen jede metaphorische Interpretation zulässig ist (ebd.). Erstens würde dadurch unsere Auffassung von Literatur beträchtlich erweitert, der literarische Kanon aber andererseits auch um wichtige Texte ärmer. Drittens lässt sich die Zulässigkeit ja nur in Bezug auf bestimmte Gruppen oder gar Individuen feststellen, was den Wert dieser Literaturdefinition doch beträchtlich mindert.
4.2. Usus loquendi: Metapher und Allegorie
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Theologen zeigen sich laut Boeckh daran, dass sie aprioristisch — substitutiv — vorgingen, während philologisches Verstehen die umgekehrte Denkrichtung, also die philologische verlange (21886:75). Induktion steht für Philologie, Deduktion für Philosophie. Die allegorische Auslegung sei nur angemessen, wo z.B. der Mythos in der Produktion eines Textes auch eine Rolle spielte, wo sie also vom Autor intendiert sei. Philosophen und Theologen werden deshalb besonders für ihre spekulativen, spitzfindigen und unnötigen allegorischen Auslegungen kritisiert (92), mit deren Hilfe sie den Texten Sinn einfach „unterschieben", ohne sich genau mit grammatischen, historischen und individuellen Faktoren auseinandergesetzt zu haben, die ihre Interpretationen entkräften könnten. Die denkbar eleganteste Lösung zum Problem des eigentlich/uneigentlichen Sprechens hatte jedoch schon die Philologie, hier stellvertretend F.A. Wolf gefunden (der damit wohl seinerseits in einer längeren Tradition steht). Er fasst sie in den Begriff des usus loquendi. „Die Sprache verändert sich, Wörter verändern ihre Bedeutungen und so hat jedes Wort seine Geschichte" (1831:276). Metaphern und Allegorien weichen nicht vom sensus litteralis, etwa der Etymologie oder dem Lexikoneintrag, ab, sondern höchstens, wenn sie wirkliche Neuschöpfungen sind, vom usus loquendi — der selbst schon ein ,metaphorischer' sein kann267. Der Sprachgebrauch erschließt sich nach Wolf deshalb auch nicht aus 267
Selbst die Metaphemdefinition des Aristoteles, die nach allgemeiner Auffassung die Substitutionstheorie begründet hat, spricht bei genauerem Hinsehen eher von Übertragung aus unüblicher (nicht jUneigentlicher1) Verwendungsweise und nicht von Substitution (1982:67f); seine Beispiele sind freilich eindeutiger. Noch deutlicher ist das wichtigste rhetorische Lehrbuch aller Zeiten, nämlich Quintilians Institutio Oratoria. Der griechische Begriff der Metapher wird eindeutig als Übertragung übersetzt, und zwar als translatio „ex eo loco in quo proprium est, in eum in quo aut proprium deest aut translatum proprio melius est." (VIII.vi.5). Eine Standardparallelübersetzung dieser Stelle — „from the place to which it properly belongs to another where there is either no literal term or the transferred is better than the literal." — ist ungenau. Hinter dem Attribut proprius steckt nicht die essentialistische ,wörtliche' Bedeutung, sondern wohl eher der angemessene, übliche Gebrauch, der seine eigene Weiterentwicklung, d.h. den historischen Charakter der Sprache, schon mit einbezieht. Dementsprechend ist auch bei dem für Nietzsche entscheidenden Sprachforscher Gustav Gerber das Uneigentliche lediglich das Neue, d.h. Gegenteil des usus (vgl. 1871 ff Bd. 2.2.:21f). Erst die moderne Metapherntheorie konnte die ursprüngliche Bedeutung dieser Auffassung wieder herausarbeiten: „Die Metapher bricht punktuell eine Konvention. Die Metapher ist eine Abweichung — nicht vom wörtlichen Gebrauch [...] sondern vom dominanten Gebrauch eines Wortes." (Kurz, 1982:17). Da es natürlich keine homogene Sprache gebe, sondern diese aus vielen verschiedenen Dialekten, Gruppensprachen und Fachsprachen zusammengesetzt sei, ist der dominante Gebrauch, und damit die Metaphorik, aber nicht für alle Leser gleich verbindlich. Außerdem, so muss hinzugefügt werden, ist der Gebrauch selbst wandelbar und kann von keinem Wörterbuch und keiner Etymologie erfasst werden. Deshalb ist die Kenntnis des usus loquendi einer komplexen Literatur an breite Textkenntnis gebunden, die über die großen kanonischen Werke hinausgeht; genau das fordert ja F.A. Wolf. In der philosophischen Theorie hat auf eindrucksvolle Weise besonders Ricceur mit der Substitutionstheorie gebrochen. Ricceur (1986) konnte auch in philosophischer (und sprechakttheoretisch) geschulter Argumentation nachweisen, dass Wörter keine adäquate Erklärungsebene der Metapher abgeben und dass der Strukturalismus bei aller Verfeinerung nicht über Aristoteles hinausgekommen sei, insofern bei ihm die Metapher, statt auf Satzebene und Redezusammenhang erweitert zu werden, auf die Wortebene beschränkt bleibt. Er weist daraufhin, dass aber schon bei Saussure die Sinnveränderung und damit auch die Metapher zur Domäne
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
dem Studium von Lexika, sondern einzig und allein durch Vergleich der Schriftsteller, auch der unbedeutenden. „Wer den Demosthenes gut lesen will, muss den Lysias lesen und die übrigen, welche gleichzeitig sind." (277) Der Sprachgebrauch unterscheidet sich nach Zeiten und Gattungen (294) und natürlich auch von Schriftsteller zu Schriftsteller. Erst seine umfassende Kenntnis, die nur durch eine ebenso umfassende Lesebiographie zu erlangen ist, erlaubt dem Leser, wirkliche Sprachschöpfung zu erkennen. „Gewöhnlich nimmt man an, die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes sey ohne Bild, propria, und die figürliche Bedeutung sey erst nachher damit verbunden worden. Dies ist aber ganz falsch. Die erste Sprache war ganz voll von Bildern, und viele Wörter, die heut zu Tage propria vocabula zu seyn scheinen, haben ursprünglich eine bildliche Bedeutung gehabt." Die eigentliche Bedeutung könne sowohl die (etymologisch) ursprüngliche oder eben die jeweils „herrschende gewöhnliche Bedeutung" bezeichnen auf letztere habe man sich v.a. zu konzentrieren (Wolf, 1831:293f). Metaphern können somit nicht durch den Vergleich von Lexika oder durch etymologische Exkurse identifiziert werden, sondern nur durch eine historische Gebrauchsanalyse, die sich auf das Studium spezifischer Textkorpora stützt. Eine Allegorie darf nach Wolf femer nur angenommen werden, wenn es verlässliche Zeugen für eine allegorische Intention gibt, oder wenn der Zusammenhang keinen befriedigenden Sinn ergibt. Entscheidend aber sei, dass jeder Satz und „jede Verbindung von Sätzen" nur einen Sinn hat, soviel man sich über diesen auch streiten mag (ebd.). Wolf plädiert damit nicht für den einen idealen und kohärenten Sinnzusammenhang. Er will im Gegenteil Sinnpluralismus zulassen und lediglich den doppelten Sinn der pneumatischen Allegorese ausschließen. Metaphorologie bzw. jedes beliebige Äquivalent erlöst nicht von der Auslegung: die Metapher muss als auffällige Übertragung, d.h. als je dem Leser auffällig erkannt werden. Die Auffälligkeit ist jedenfalls ein praktikables Kriterium, über das sich streiten lässt, ohne dass entweder die Vorstellung eines eigentlichen Sprachgebrauchs zur Bedingung gemacht wird oder aber der grundlegende tropologisch-figurative Charakter der Sprache geleugnet werden muss: der parole gehört (S. 69f) — also in die Sprachpragmatik. Alle semiotisch fundierten Metapherntheorien gingen letztlich von Substitution aus, was eben in die Irre führe: hier lägen die Grenzen der Semiotik offen zutage. Es ist dies auch das Problem Heideggers (254ff) und, wie bereits demonstriert, Derridas. Das Bild von der toten Metapher (d.h. dem Begriff, der durch Abnutzung der Metapher entstehe), habe nur bei Annahme von Sinnsubstitution einen Inhalt, denn Worte haben keine eigentliche Bedeutung im Sinne einer ursprünglichen metaphysischen Bedeutung, sondern seien einfach gebräuchlich und lexikalisch erfasst oder eben nicht (267f). So sähen sich die Philosophie und der Dekonstruktivismus in Gestalt Heideggers und Derridas vereint in der Annahme der Substitutionstheorie als „angebliche Komplizität zwischen dem Metaphernpaar des Eigentlichen und des Bildlichen und dem metaphysischen Paar des Sichtbaren und des Unsichtbaren." (272) Es verstehe sich von selbst, dass die Substitution ebenso unzulässig ist, wenn sie sich auf die Substitution eines ganzen Satzes oder Redekontextes (discours) bezieht. Die Metapher sei nur als schöpferische Neudarstellung der Welt zu fassen, als lebendige Metapher. Dies, denke ich, ist sehr im Sinne des späteren Nietzsche (auf den sich Ricceur mehrfach bezieht), auch wenn dieser den Begriff der Metapher aus den angeführten Gründen vermeidet.
4.2. Usus loquendi: Metapher und Allegorie
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Mithin schwebt im Beginn ein g-ammatisch-rhetorischer [Kursivierung von mir] Wortsinn vor, der durch Sprach- und Sachkenntniss berichtigt oder begründet wird; dieser W o r t s i n n kann sich, insofern er verständig ist, weder in vielfache Gänge (multiplicitas sensuum) und subjektive Möglichkeiten verlieren, noch einem anderen, höheren oder tieferen ( t y p i c u s , alhgoricus) Gehalte widersprechen oder gar zur Unterlage dienen. Indessen mag man nicht bezweifeln, dass manche Gattungen von Autoren das Auffassen eines solchen Wortsinnes erschweren, und der unsichtbaren Divination Raum geben, weil sie den Ausdruck durch Räthsel, Schwankung der Zeichen und Verworrenheit nach vielen Seiten hin offen lassen. (Bernhardy, 1832:80)
Auch bei Bernhardy beginnt die formale oder grammatische Hermeneutik mit Grammatik und Rhetorik. Um den exegetischen Schwierigkeiten, die sich aus dieser „Schwankung der Zeichen" zu begegnen, so Bernhardy, helfe nur die Erforschung des Sprachgebrauchs, und zwar in allen „seinen Normen und Anomalieen" (81). Vom nationalen und allgemeinen Sprachgebrauch gehe man über zu dem besonderen, also den Periode und Gattung, Bildung, Denkweise und Lebenskreis transzendierenden individuellen Eigenschaften eines Autors. Die Grundregel sei also, jeden Autor aus sich selbst und seinem Sprachgebrauch heraus zu erläutern — Homerum ex Homero: „Je grösser die Freiheit und Fülle des Geistes, desto reicheres Material gewährt er für diese Hermeneutik, welche schon wegen der Seltenheit des Vortrefflichen auf eine nur mässige Zahl sich einlässt; je beschränkter die Persönlichkeit und der Kunstsinn, desto mehr tritt die Rücksicht auf den generellen Gebrauch in ihr Recht ein." - dabei sei natürlich Subjekivität und Divination des erfahrenen Exegeten, des „Erklärers" (83), gefragt. In der Ritschl-Schule ist dieser Zugang, der letztlich wohl aus der alten Parallelstellenmethode stammt, besonders ausgeprägt. Jacob Bernays, einer von Ritschis bedeutendsten und dankbarsten Schüler, schildert sein philologisches Credo in dem an seinen Lehrer gerichteten Vorwort zu einem seiner wichtigsten Werke, dem Scaliger, indem er sich selbst an seinen Protagonisten anlehnt. Scaliger habe sich das Griechische allein durch Lektüre der Schriftsteller und „aus Beobachtung der Analogie" (1965:35) angeeignet. So konnte er sich seine eigene Grammatik erstellen. Maßstab seiner philologischen Solidität ist das Beherrschen der feinsten Sprachnuancen, d.h. des usus linguae (36)268. Allein durch Beobach268
In Reflexionen zur Metapher vom Anfang der siebziger Jahre bezeichnet Nietzsche die Metapher noch als eine Art Analogieschluss, der Ähnlichkeiten entdeckt bzw. „neu belebt" (III 19[227ff]), fugt aber hinzu: „Nun aber giebt es keine .eigentlichen' Ausdrücke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher. Aber die Täuschung darüber besteht, d.h. der Glaube an eine Wahrheit des Sinneseindrucks. Die gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und als Maaß fur die seltneren. [...] Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern [...] Also der Usus kämpft gegen die Ausnahme an, das Regelmäßige gegen das Ungewöhnliche. Daher die Achtung der Tageswirklichkeit vor der Traumwelt." (III 19[228]) Der Usus ist nicht der Domäne des Metaphorischen enthoben, sondern wird lediglich nicht als tropologisch reflektiert. .Metaphorische' Wendungen werden durch häufigen Gebrauch bekanntlich usualisiert und schließlich lexikalisiert und damit weniger abhängig vom Kontext. Freilich besteht immer die Möglichkeit der Remetaphorisierung, darauf beruhen z.B. die meisten Kalauer. Nietzsche bedient sich selbst einer einflussreichen Metapher, um diesen Prozess zu be-
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
tung von Analogien und Nuancen wird man auch Nietzsches usus loquendi gerecht. Es stellt sich dabei heraus, dass letztlich nicht die Allegorie zu seinem beliebtesten Stilmittel wurde. 4.3. Kunst der Anspielung: Maske, Spielraum Schon die Entstehung der Symbolik der Goethe-Zeit ist als Versuch gewertet worden, ein Verweisungsuniversum von „Metaphern, Sinnbildern und Allegorien" neu zu erschaffen, das durch den Verlust religiöser Bindungen und dem damit einhergehenden Ableben einer ganzen Tradition von „Gedanken, Gestalten und Fabeln" nötig wurde und damit, als profanes Gegenstück der sakralen Überlieferung, den irdischen Dingen neue Bedeutsamkeit zumaß (s. Frenzel, 4 1978:35f). Der an das signum naturale geknüpfte Metapher- und Allegoriebegriff scheint angesichts der Vielschichtigkeit von Nietzsches Schriften jedoch die zahlreichen Funktionen übertragener Rede nicht ausreichend zu differenzieren269. Man mag sich darüber hinaus fragen, warum sich Nietzsche in Anbetracht seiner Ablehnung des pneumatischen Sinns nicht gleich möglichst vollständig eines Stils enthält, der Anlass zu fragwürdiger Auslegung bietet, d.h. warum er nicht jeder
schreiben. Wahrheiten seien „Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen." (WL, 1:881). Da sich das Sprachbewusstsein im Laufe der Zeit verdunkele, heißt es bei Gustav Gerber, werden aus Tropen „eigentliche" Wörter (Gerber, 1871ff, Bd. 2.1.: 94). Gerade die philosophische Nietzscheforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten dafür sehr interessiert. Abel (1984:177ff) macht im Gegensatz zu Derrida oder Kofman noch einen Unterschied zwischen Begriff und der Metapher, die diesem vorgelagert sei. Begriffe seien geronnene Metaphern, deren Herkunft nicht mehr ersichtlich und wohl auch nicht erwünscht sei. Freilich erzeugt bei Abel das Ästhetische, das in engem Zusammenhang mit der Metapher steht, erst Form und Sinn. Derrida (1972) will zeigen, dass die Metapher, gleichermaßen Objekt und Instrument der Analyse, für die Philosophie unumgänglich ist, obwohl die Metapher ein klassisch-metaphysisches Konzept darstelle (261). Derrida (1987) verteidigt und präzisiert diese Darstellung gegen Ricceurs Anschuldigung (Ricoeur, 1986), er habe die Abnutzung (usure) der Metapher als Weg zur Begrifflichkeit dargestellt (einschließlich einer höchst aufschlussreichen Passage, in der sich Derrida darüber beschwert, falsch gelesen und missverstanden worden zu sein!). Die Auseinandersetzung mit Heidegger und der Metaphysik interessieren mich an dieser Stelle nicht. Ungünstig hat sich die äußerst einflussreiche DerridaTradition aber schon deshalb ausgewirkt, weil sie die konkrete Bedeutung des eigenen Metapherbegriffs nie geprüft hat. Hier liegt auch, obwohl Derrida es selbst nicht bemerkt hat, der Kern der Auseinandersetzung mit Ricceur. 269
Claus Zittels Aussage über den Zarathustra ist insofern auf alle publmerten Schriften Nietzsches (also ausgenommen den fragmentarischen Nachlass) auszuweiten: „Der Symbol- wie der traditionelle Allegoriebegriff sind viel zu grobschlächtig, um die vielfältigen und transitorischen ästhetischen Bezugsformen des Zarathustra einfangen und ihren Sinn explizieren zu können." (2000:120) Freilich sind Zittels Ausführungen zum Allegorie- und besonders zum Symbolbegiff nicht immer stichhaltig. Weder Allegorie noch Symbol sind z.B. notwendigerweise immer „auf Sinnganzheit" (ebd.) gerichtet.
4.3. Kunst der Anspielung: Maske, Spiebaum
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allegorischen Redeweise tunlichst entsagt. Es kann wenig Zweifel daran geben, dass Nietzsche zur allegorischen Interpretation geradezu auffordert. „Der ständige Verdacht ungesagter Hintergedanken provoziert Allegoresen." (Kurz, 1982:63) Das Beispiel, das Gerhard Kurz zur Illustration dieser allgemeinen Feststellung dient, ist die in den Evangelien und der Offenbarung so beliebte Wendung: Wer Ohren hat, ψ hören, der höre! Nietzsche, der sich „wählerisch nur an wenige Ohren wendet" (GM 1.5, 5:262) benutzt besonders gerne die auch aus der Bibel stammende (häufig in der Offenbarung auftretende) Version: „wer Ohren hat, der höre" (z.B. FW 10, 6:35). Seine feinen, jede — nicht nur musikalische — Nuance registrierenden Ohren, auf deren geringe Ausmaße er besonders stolz ist, da sie, bildlich gesprochen, das Gegenteil aller allzu langen Eselsohren seien, sind ein beliebtes, oft wiederholtes Motiv (s. z.B. EH Warum ich so gute Bücher schreibe 2, 6:301f). Viele ähnliche Hinweise auf Ungesagtes verstärken den Effekt. Es scheint, als müsse man zu den Eingeweihten gehören, um in den erlesenen Kreis von Nietzschelesern aufgenommen werden. Selbst wenn man wie Gustav Gerber die Allegorie nicht nur im traditionellen Sinne als fortgeführte Metapher behandelt, sondern auch ihre Nähe zu Ironie und Sarkasmus betont, d.h. als simulatio, die erkannt sein wolle270, wäre sie für sich genommen eigentlich unverständlich „und wer also ihr Bild als solches nicht erkennt, es für das eigentlich Darzustellende hält, würde von ihr aus eines Besseren nicht belehrt werden." Sie bedarf deshalb immer besonderer Erklärung oder Wissensergänzung (187Iff, Bd. 2.2.:256f). Nietzsche greift auf das älteste Mittel überhaupt zurück, Allegorien zu deutbaren ikonischen Zeichen, zur ,Semiotik' zu machen. Er verwendet sie als Figuren (nicht Tropen) der Andeutung bzw. Anspielung und öffnet damit eine breite Anwendungspalette. Schon Quintilian beschreibt, wie die Anspielung durch Erregung eines Verdachts (suspicio) zu verstehen gibt, dass etwas anderes gemeint sein könnte, als es scheint (Inst. Or. IX.ii.65). Die Technik der Andeutung in allen ihren Erscheinungsformen ist es, die Nietzsches Schriften ihr besonderes Gepräge gibt — nicht die Verwendung der Metapher, wie Sarah Kofman meinte, und nicht der Gebrauch anderer Tropen oder Figuren. Wie das ,Lesen', so scheint freilich auch der Begriff der Anspielung seine Schärfe verloren zu haben. Neuere Nietzschekommentatoren, die den Anspielungsreichtum Nietzsches zwar identifizieren, geben sich andererseits größte Mühe, ihn zu umschreiben. Claus Zittel definiert den Zarathustra „als bewegliches Geflecht pluraler Beziehungen" (2000:151) und versucht einen Mittelweg zwischen radikaler Intertextualitätstheorie und altem Werkbegriff zu finden, indem 270
Zwar könne sich auch die Ironie der Metapher bedienen, jedoch läge darin noch nicht die Ironie als solche. Der Tropus transzendiert sich hier selbst und gerät in die Nähe der gesondert behandelten Sinnfiguren. Als Sinnfigur ist die Allegorie die Darstellung eines Gedankens in bestimmter Form, „welche ihren Zweck erfüllt, wenn alle Züge des Bildes der Bestimmtheit des Gedankens im ganzen Umfange entsprechen, wenn also von diesem kein Rest bleibt, der seine Verbildlichung nicht gefunden hätte." (1871ff, Bd. 2.1.:98ff)
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
Nietzsches Werk als „ein sich über seine Begehungen anderen Texten erst herstellendes Gebilde" oder als „Organisations-Zentrum pluraler und reziproker Verweisungen" begriffen werden soll (65f). Der Begriff der Anspielung trifft Nietzsches Schriften insofern besser, als in ihm der ludische Charakter mitschwingt, der für Nietzsche — nicht zuletzt für den Zarathustra — so wichtig ist. Quintilian identifiziert drei Funktionen der versteckten, anspielungsreichen Rede. Man bediene sich ihrer entweder, wenn man aus Sicherheitsgründen nicht offen sprechen dürfe, oder wenn dies (wohl aus Gründen des Takts) der Situation nicht angemessen sei, oder drittens, wenn Abwechslung und Freude am Versteckspiel beabsichtigt seien. Von letzterem teilweise abgesehen, sind die drei für Nietzsche ausschlaggebenden Gründe nicht darunter. So paradox es klingen mag, ist die Technik der immer an der Grenze zur Allegorie lavierenden Anspielung für Nietzsche nämlich in erster Linie eine Versicherung gegen die Allegorese und Plünderung der eigenen Texte. Wenn der Interpret vermuten muss, dass immer noch mehr gesagt wird als er ohnehin schon annimmt, wird dem Missbrauch der Texte ein Riegel vorgeschoben — dass sich dies historisch als Trugschluss erwiesen hat, ist noch kein Argument dagegen. Nietzsche hegt, wie zu zeigen ist, große Bedenken gegen die Ausleger seiner Schriften: die „Schule des Verdachts" (vgl. ΜΑ I Vorrede 1.2, 13f) ist auch eine Warnung an die Leser, mehr auf den Text zu achten. Damit ist die zweite wichtige Funktion der Kunst der Anspielung berührt. Da die Anspielung mit Argwohn und Hintergedanken rechnet, verlangt sie wie die Allegorie stillschweigend geteiltes Wissen von Autor und Leser. „Die Kohäsion von Kulturen und gesellschaftlichen Gruppen kann geradezu charakterisiert werden durch das Maß und die Selbstverständlichkeit indirekten Kommunizierens." (Kurz, 1982:37) Mit anderen Worten: Nietzsche wählt sich sein Publikum bewusst danach aus, inwieweit es seinen Anspielungen folgen kann. Seine Leser lassen sich je nach Maß des geteilten Horizonts einteilen. Schon im Begriff der Anspielung selbst steckt ja das Einverständnis und der Hinweis auf die Entschlüsselung271. Durch die ständige Rückverbindung der Anspielung auf die intentio auctoris bleibt sie im Vergleich zur Allegorie als signum naturale bewahrt. So betreibt nur derjenige Allegorese, der eine Allegorie nicht als bewusst von Nietzsche eingesetzt nachweisen kann, und offenbart gleichzeitig, nicht zu dem von Nietzsche angesprochenen exklusiven Adressatenkreis zu gehören:
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Gerhard Kurz merkt mit Recht an, dass die Wertschätzung der Allegorie im Mittelalter (und, so müsste man ergänzen, in der höfischen Kultur des Barock) auf ein sehr homogenes Publikum hindeute (1982:38). Kofman ( 2 1983), die nicht zwischen Metapher und Allegorie unterscheidet, deutet den metaphorischen Stil unabhängig von dergleichen kulturhistorischen Erwägungen als aristokratisch, weil er den Herdenmensch ausschließe und damit auch in der Hermeneutik Pathos der Distanz garantiere. Freilich liest sie die Metapher immer im Gegensatz zum Begriff: wer sich auf die Metapher stütze, müsse in einer Welt, die sich zum Begriff bekennt, mit dem Risiko rechnen, ähnlich dem tollen Menschen (vgl. FW 3.125, 3:480ff) falsch oder gar nicht verstanden zu werden.
4.3. Kunst der Anspielung: Maske, Spielraum
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Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch n i c h t verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, — er wollte nicht von „irgend Jemand" verstanden werden. Jeder vornehme Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen" seine Schranken. [...] Und nebenbei gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden und unerkannt, dass sie nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt wird? (FW 5.381, 3:633f)
Gutes Lesen wiederum heißt damit, auf mögliche Anspielungen, auf nur angedeutete, angeblickte, angeblitzte Winke hin lesen. Dazu sind hinreichende Textkenntnisse, d.h. Kenntnis des usus loquendi des Autors und seiner Zeit, sowie ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit mit dem Verfasser nötig. Die dritte Funktion der Anspielung liegt deshalb, und hier kommt das ludische Moment zu seinem Recht, im ständigen ironischen Spiel mit dem Leser, das ihn durch Verunsicherung davon abhalten soll, voreilige Schlüsse zu ziehen bzw. ihn an seiner Fähigkeit zweifeln lässt, dem Text gerecht zu werden. Bereits für den Textkritiker Ritschlscher Prägung war das auf Anspielungen achtende Lesen von essentieller Wichtigkeit, um sich feinster Nuancen zu versichern. Ob eine Interpolation oder eine Anspielung vorlag, ob eine Stelle den Leser bewusst oder unbewusst hinters Licht führte, konnte für das Ergebnis der Lektüre und der Textkonstitution entscheidend sein. Nietzsche der Philologe hat dem Verfasser Nietzsche diese Erkenntnis mit auf den Weg gegeben. Für die dreifache Funktion einer auf Anspielungskunst beruhenden Kompositionsweise und Exegese benutzt Nietzsche zwei Ausdrücke, die in den Kern seiner Auslegungstheorie (in der Domäne menschlicher Kommunikation) führen: Maske und Spielraum. Sie sind allgemeiner und zugleich spezifischer als die Ironie, mit der Nietzsche oft assoziiert wird272. Sie treffen ferner jene Eigenart Nietzsches besser, die im Begriff der Verdachtshermeneutik nur auf irreführende Weise ausgedrückt werden kann. Für die Verdachtshermeneutik wird häufig der Aphorismus „Hinterfragen" (Nietzsche prägte dieses heute abgegriffene Wort) aus der Morgenröthe als Beleg herangezogen: „Bei Allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurtheil soll es erregen? Und dann noch: bis wie weit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?" (M 5.523, 3:301) Ähnlich heißt es in Jenseits von Gut und Böse: „schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt?" (JGB 9.289, 5:233f). Kann ein Philosoph, so Nietzsches Frage, überhaupt letzte und eigentliche Meinungen äußern, liege bei ihm nicht „hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle"? Jede 272
Gegen die Ironie polemisiert schon ΜΑ 1.6.372, 2:259f. Laut Behler (1975) ist die Ironie bei Nietzsche als Dekadenzsymptom eher negativ besetzt. Im Sinne von Verstellung bezeichne sie Ranghöhe: Nietzsche vermeide wegen der romantischen Anklänge den Ironiebegriff und verwende dafür den Ausdruck der Maske, der mit der antiken dissimulatio verwandt sei.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
Philosophie verberge eine weitere, jede Meinung sei ein Versteck, jedes Wort eine Maske. „Alles was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss." (JGB 2.40, 5:57f). Jeder tiefe Geist braucht eine Maske, um ihn wachse sogar ständig eine Maske - „Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes LebensZeichens, das er giebt. —" Dahinter steht jedoch primär weder Ironie noch Verdacht, sondern die simple Einsicht, dass es in der Auslegung wie in der menschlichen Kommunikation in hohem Maße auf die Berücksichtigung der Intentionen, der bewussten wie der unbewussten, der Beteiligten ankommt. Es handelt sich letztlich um eine rhetorische Grundübung: Wer spricht wann, warum, wie und zu welchen Zwecken? Nietzsche geht es nicht um das „einfache Verstehenwollen" der Texte als intentio operis, sondern um das „einfache Verstehenwollen dessen, was der Autor sagf (ΜΑ 1.270, 2:223; Kursivierung von mir), d.h. um den Versuch der Rekonstruktion der intentio auctoris. Die Textbedeutung kann nur in der Äußerungsbedeutung vollends aufgehen. In ihrer Rekonstruktion muss sich der Exeget der Herausforderungen bewusst sein, die ihm durch Maske und Spielraum, d.h. durch die Hürden der Anspielung, gestellt werden. Das Maskenmotiv273 hat neuerdings Vivetta Vivarelli einer eingehenden Analyse unterzogen und als eine Art Understatement interpretiert, dass mit Selbststilisierung zur Vornehmheit verbunden und in erster Linie gegen die histrionische Existenz Wagners gerichtet ist: „Die Maske ist die wichtigste Metapher der Vieldeutigkeit, wie sie dem Spiel des Sagens und Verschweigens, der Undurchsichtigkeit und Durchsichtigkeit, der Verstellung und Enthüllung eignet; sie hat Symbolwert für ein Denken, das sich des Paradoxons als eines stilistischen und philosophischen Prinzips bedient." (1998:8). Die Maske entspreche der Larventradition des barocken Maskenballs und der höfischen Verstellungskunst des von Nietzsche geliebten französischen siebzehnten Jahrhunderts. Verstellung werde von Nietzsche immer mehr als Kennzeichen hoher Menschen und Kulturen interpretiert, das jenen exhibitionistischen Schauspielereien entgegengesetzt sei, die die Massen anziehen. Letztlich gehe es um eine aristokratische Haltung, um 273
Eine gute Einführung in Nietzschcs Auffassung von Maske und „Verkleidungs-Formen" in NW Der Psycholog nimmt das Wort 3, 6:435f — gerade in ihrer antiwagnerischen Stoßrichtung. Als erste hat wohl Lou Andreas-Salome die Wichtigkeit von Maske und Verstellung in jeder Lebensphase Nietzsches erkannt (z.B. 2000:40). Einflussreich war v.a. das Kapitel „Maske" in Bertram (1919:157-180). Die Maske wird bereits hier im Zusammenhang mit dem Problem des Schauspielerischen behandelt. Nietzsche gebe sich gegenüber Wagner als Anti-Schauspieler. Allerdings ist die Maske bei Bertram eher negativ konnotiert, was ja bei Nietzsche nicht der Fall ist. Obwohl Bertram die Notwendigkeit der Maske seit Menschliches, All^umenschliches anerkennt, gebe Nietzsche im Motiv der Maske später „die kluge Maxime preis, die eigentümliche Verkleidungstechnik, die seine Charakteristiken fremder Seelen und Geister zu seltsam hintergründlichen Bildnissen seiner selbst macht." Die wichtigsten Masken, d.h. Personen, durch deren Porträts Nietzsche eigentlich über sich selbst spreche, seien u.a. Sokrates, Heraklit, Empedokles, Epikur, Leonardo, Shakespeare, Pascal, Napoleon, Goethe (173), auch seine Herder-Schilderung könne man auf ihn münzen. Sterne, der Meister der Zweideutigkeit, kennzeichne Nietzsches Stil am besten (177).
4.3. Kunst der Anspielung: Maske, Spielraum
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den Aufbau von Schranken um sich herum in einer schrankenlosen Welt — ist dies nicht der Kern des Pathos der Distanz? Vergleichbar dem Dionysos als Gott der Maske, der sein Leiden apollinisch, im Stil des schönen Scheins ausdrücke, möchte Nietzsche durch die Maske verwandte Geister anziehen. Nietzsches Schlüsselwort sei „errathen" — er verlange von seinen Lesern das Bemühen, auf diese Weise hinter seine Rätsel und Masken zu gelangen (51 f). Dieser von Vivarelli überzeugend als komplementäres Gegenstück zur Maske herausgearbeitete Begriff des Erratens lässt sich mit Rücksicht auf Nietzsches Herkunft aus dem philologischen Denken unschwer auf die Divination zurückführen. Die Maske bietet dieselbe Schwierigkeit wie ein unzugänglicher Text in schwer verständlicher Sprache. An den entscheidenden Stellen ruft Nietzsche deshalb stereotyp die Philologie an. Die Maske war bekanntlich, und dies ist ohne Zweifel Nietzsches Ausgangspunkt, die Erfindung des griechischen Schauspiels, die zwar einen Typus markierte, aber ein und demselben Schauspieler die Gelegenheit gab, mehrere Rollen zu spielen, männliche und weibliche. Die daraus entstehenden Maskentypen, die dem tragischen, komischen oder satyrischen Genre entsprachen, waren als solche unmittelbar verständlich. Aber mit dem Verständnis der Rollen war das Schauspiel an sich noch nicht gedeutet. Die Aufgabe des Zuschauers war es nicht, die Psychologie des dahinter versteckten individuellen Schauspielers zu entziffern, ihn gewissermaßen zu demaskieren, sondern die Funktion der Maske im Drama zu erkennen. Um den Autor geht es, nicht um den Histrionen: um die allegorische Funktion der Masken des Autors, die die Schauspieler darstellen. Auf die enge Verbindung der divinatorischen Maskendeutung zu Nietzsches Metaphern- und Allegorieauffassung, zur ,Zeichendeutung' gibt es viele Hinweise. Schon in Menschliches, Allspmenschliches sind Psychologe und „Zeichendeuter" nahezu identisch (ΜΑ I Vorrede 8., 2:22). Ecce Homo zufolge bedient sich Piaton des Sokrates „als einer Semiotik für Plato" (EH Die Unzeitgemässen 3, 6:320). Durch Divination und Verständnis der Anspielungen kann mithin auch Piaton ,erraten' werden: zwischen Maske und Autor gibt es durchaus ikonische Beziehungen, dann nämlich, wenn der Autor mit dem Maskenträger identisch ist. Eine Maske ist zwar durch ihre starre Undurchdringlichkeit gekennzeichnet, dadurch, dass man hinter ihr gerade nichts erkennen kann. Aber tatsächlich wird hier nichts über Texte, sondern über die Urheber von Texten, genauer: über ihre psychologische Beurteilung ausgesagt. Es gibt an keiner Stelle in Nietzsches Werk Versuche einer plumpen allegorischen Auslegung anderer Autoren. Wohl aber gibt es zahllose psychologisch-divinatorische Gutachten, die sich auf den Einsatz bestimmter Masken beziehen: sage mir, welcher Masken du dich bedienst, und ich sage dir, wer du bist. Die „Höhlen", die es dabei zu entdecken und erforschen gilt, sind ein gutes Beispiel. Sie sind Metaphern für das (physiologische) Leiden des Menschen an sich selbst: Wenn man krank sei, solle man sich, wie die Tiere, am besten in eine
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Höhle verkriechen (VIII 9[103]). Man solle sich also absondern, um die übrige Gemeinschaft zu verschonen. Der Normalfall bestehe freilich darin, sich nicht etwa in der Einsamkeit auszukurieren, sondern die unverstandenen körperlichen Zustände als moralische Leiden (allegorisch-substitutiv) auszulegen und auf diese Weise an sich und anderen zu rächen. (VII 26 [206]). Ruft man sich Nietzsches Wortdefinition als Metapher eines Nervenreizes ins Gedächtnis, wird klar, worauf es hinausläuft. Masken, Selbstporträts, Texte sind ab ganzes ikonische Zeichen der Physiologie ihrer Urheber. Nicht jedem passt jede beliebige Maske. Wem es gelingt, Texte daraufhin gründlich und geduldig zu lesen, der mag vielleicht doch einen kurzen Blick hinter die Maske erhaschen — vielleicht nur deshalb, weil er sich selbst am besten erforscht hat und mit dem Anderen so weit verwandt ist, dass er sich in ihm zu erkennen vermag. Zur Zeichen- und Maskendeutung gibt es dementsprechend kein mechanisch zu befolgendes Erfolgsrezept. Nietzsche warnt davor, seine eigenen Masken aus dem Zusammenhang zu reißen. So gebe es wissenschaftliche Menschen, die sich damit nur einen heiteren Anschein verleihen wollen — Nietzsche denkt dabei wohl nicht nur an Burckhardt, sondern auch an sich selbst. „Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen sind; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen." Kann man deutlicher über sich selbst sprechen? Es gehöre „zur feineren Menschlichkeit", so resümiert Nietzsche, „Ehrfurcht ,vor der Maske' zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben."274 Auf sich selbst bezogen verbittet sich Nietzsche in einer Aufzeichnung das schnelle Urteil über die eigene Person: Ich habe bei meinen Kritikern häufig den Eindruck von Canaille gehabt: Nicht w a s man sagt, sondern d a ß i c h es s a g e und inwiefern gerade i c h dazu gekommen sein mag, dies zu sagen — das scheint ihr einziges Interesse, eine Juden-Zudringlichkeit, gegen die man in praxi den Fußtritt als Antwort hat. Man beurtheilt mich, um nichts mit meinem Werk zu thun haben: man erklärt dessen Genesis — damit gilt es hinreichend für - a b g e t h a n . (VIII 10 [20])
Welche Kritiker Nietzsche zu diesem Zeitpunkt konkret meint, ist ungewiss, leiden seine Schriften doch eher unter Nichtbeachtung. Die für Nietzsche in solchem Zusammenhang untypische judenfeindliche Äußerung, noch dazu eine solch grobe (man stelle sich Nietzsche „in praxi" vor!), gibt ebenfalls Rätsel auf. Die einzige plausible Erklärung ist, dass Nietzsche einmal mehr die mit Paulus entstandene jüdisch-christliche Allegorese verdammt, „jene jüdische Zudringlichkeit, welche Paulus gegen Gott hat" (M 3.192, 3:165) - der nahezu identische Wortlaut ist wohl kein Zufall. 274
J G B 9.270, 5:226. Hätte Nietzsche den Zarathustra unter Pseudonym, etwa unter dem Namen Richard Wagner veröffentlicht, so heißt es in Ecce Homo, „der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen", dass es sich um den Verfasser von Menschliches, ΑΙΙψmenschliches handele (EH Warum ich so klug bin 4. 6:287).
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„Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften." (EH Warum ich so gute Bücher schreibe 1. 6:298). Voraussetzung zu Divination und Psychologie ist nicht nur die richtige Empfänglichkeit, sondern Ähnlichkeit des Empfindens und der Persönlichkeit. Nur als Ebenbürtiger darf man Verständnis beanspruchen. „Zuletzt kann Niemand aus den Dingen, die Bücher eingerechnet, mehr heraushören, als er bereits weiss. Wofür man vom Erlebnisse her keinen Zugang hat, dafür hat man kein Ohr." (ebd., 299f). Noch deutlicher und auf Nietzsches bewusste Kompositionsweise bezogen: „Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten ,den Eingang', das Verständniss, wie gesagt, — während sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind." (FW 5.381, 3,634). Auf die Ohren als Anspielung auf die Anspielung muss nicht weiter hingewiesen werden. Für seine Schriften schwebt Nietzsche als idealer Leser derjenige vor, der sich zunächst in den Text selbst versetzt und mit kritischem Takt versucht, die intentio auctoris zu verstehen — die übrigens durchaus nicht nur bewusst, sondern dem Autor auch unbewusst sein kann. Dann ist freilich doppelte Vorsicht angebracht. Der ideale Leser mag sich, mit Goethe gesprochen, das Fremde amalgamieren (s.o.). Aber er sollte durch das eigene Innere ein Recht dazu erworben haben. Die flache Auslegung wird dem „tiefen Geist" (JGB 40, 5:58) nicht gerecht, wenn der Interpret seinem Objekt nicht gewachsen ist. Nietzsche fasst diesen Gedanken in das häufig zitierte Wort „comprendre c'est egaler" (VIII 1[182]), welches in Verbindung mit der Auffassung von Interpretation als Mittel, um Herr über etwas zu werden (VIII 2[148]) entscheidend zur Anstößigkeit seines Interpretationsbegriffs beigetragen hat, vor allem für die auf Dialog und „Horizontverschmelzung" gerichtete Gadamersche Schule und die daran anschließende philosophische Hermeneutik. Merkwürdig an dem vermeintlichen Skandalon ist nur, dass es sich hier um eine alte, recht traditionelle hermeneutische Vorstellung handelt, die noch aus der Aufklärungshermeneutik stammt und bis in die Frühromantik hineinreicht. Sie bildet den Hintergrund für Goethes oben zitierte Überzeugung, dass jeder nur sich selbst aus dem Buch herauslese. Besonders nachdrücklich wird die Forderung nach Ebenbürtigkeit des Interpreten in der philologischen Tradition, etwa bei Wolf erhoben (Wolf/Buttmann, 1807:38), und für Schleiermacher ist die „Gleichsetzung mit dem Verfasser" Ausgangspunkt jeder Auslegung (21928:147). Schleiermachers psychologische Auslegung wollte ja „jeden gegebenen Gedankenkomplexus als Lebensmoment eines bestimmten Menschen" auffassen, was sich nur aus Verhältnis von Sprecher und Hörer ergeben konnte: „Ist Denken und Gedankenverbindung in beiden ein und dasselbe, so ergibt sich bei Gleichheit der Sprache das Verstehen von selbst", auch wenn in der Praxis natürlich immer Differenzen bestehen (155). Nietzsche reduziert dieses Prinzip lediglich auf seinen logischen Kern und macht aus der Aus-Legung eine Aus-Lese, um zu erkennen, wer dieselbe Perspektive einnimmt, also von denselben Affekten beherrscht wird wie er selbst. Den sprachlichen Zeichen, so
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Werner Stegmaier, werden als Zeichen „Deutungsspielräume" zum Missverständnis zugestanden, ihr Gebrauch muss in der Kommunikation Vielfalt garantieren, um der Vielfalt der Individuen gerecht zu werden; individueller Zeichengebrauch scheide die Individuen voneinander (Stegmaier, 2000:48): Es ist schwer verstanden zu werden. Schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation soll man von Herzen dankbar sein: an guten Tagen verlangt man gar nicht mehr Interpretation. Man soll seinen Freunden einen reichlichen Spielraum zum Mißverständniß zugestehen. Es dünkt mich besser mißverstanden als unverstanden zu werden: es ist etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden. Verstanden zu werden? Ihr wißt doch, was das heißt? - Comprendre c'est egaler. (VIII 1 [182]; vgl. die Variante im Aphorismus (JGB 27, 5:45f)
Im Notizbuch gibt es eine durchgestrichene Seite, die als solche nicht in der KGW erscheint (Ν VII I S. 137; vgl. VII 34[86]), aber Begriffe beinhaltet, die unverzichtbar sind, wenn man Nietzsches Denkentwicklung verfolgen will275. Sie enthält eine bezeichnende Passage für die Verbindung von Nietzsches Metaphern- und Divinationstheorie: „Worte sind Tonzeichen für Begriffe: Begriffe aber sind mehr oder weniger sichere Gruppen [Bild-Zeichen] für [oft] wiederkehrender, [u eft zugleich] zusammen kommender Empfindungen." Um einander zu verstehen, müsse man dieselbe Art innerer Erlebnisse haben. Deshalb verstehen sich Menschen eines Volks besser untereinander, auch wer unter ähnlichen klimatischen Bedingungen gelebt habe usf. (vgl. dazu JGB 9.268, 5:221 f). Dies alles kann aus Nietzsches Sicht auch unter durchaus negativen Vorzeichen stehen. So verstehe der asketische Priester die Kranken und Leidenden, die „Schlechtweggekommenen" nur deshalb, weil er ihnen verwandt ist und ebenfalls leidet (GM III.15, 5:372). An anderer Stelle ist Nietzsche noch radikaler, mit faustischen Anklängen heißt es: „Dem Geist, den wir begreifen —, dem g l e i c h e n wir nicht: dem sind wir überlegen!" (VIII 2[7]). In der Fröhlichen Wissenschaft greift Nietzsche die im „Volk" verbreitete Auffassung der Erkenntnis als Rückführung des Fremden auf etwas Bekanntes an, d.h. die schon im Frühwerk analysierte Auffassung von Erkenntnis als Austausch von Metaphern verschiedener Festigkeitsstufen. Die Philosophen seien davon freilich nicht weit entfernt: „Auch die Vorsichtigsten [...] meinen, zum Mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der ,inneren Welt', von den ,Thatsachen des Bewusstseins' auszugehen, weil sie die uns bekanntere Welt sei!" Dies sei jedoch vollkommen falsch, da das Bekannte und Gewohnte am schwierigsten zu erkennen ist: „Die grosse Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente - unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte - ruht gerade darauf, dass sie 275
Die Edition der KGW verfährt oft willkürlich b2w. nach keinem klar erkennbaren Prinzip im Umgang mit durchgestrichenen Seiten oder Wörtern - selbst Druckmanuskripte weisen Korrekturen auf, die der KSA-Kommentar nicht nachweist.
4.3. Kunst der Anspielung: Maske, Spielraum
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das Fremde als Objekt nehmen" (FW 5.355, 3:594f). Das Fremde als Objekt zu nehmen: Wenn Werner Stegmaier die Problematisierung von Verständlichkeit und Unverständlichkeit bei Nietzsche als Radikalisierung der Vernunftkritik interpretiert, weil sie deutlich mache, dass zum Verstehen auch Nicht-Verstehen gehöre (1992:346f), mag das philosophiehistorisch berechtigt sein. Es lässt sich jedoch nicht belegen, dass Nietzsche seine Forderung als Beitrag zur Vernunftkritik oder in erster Linie als Auseinandersetzung mit Kant gemeint hat. Vielmehr erinnert er die Exegeten an jene Kriterien der Wissenschaftlichkeit, die er als Philologe selbst verinnerlicht hatte und für den Maßstab der Redlichkeit hielt. Die Texthermeneutik ist gezwungen, den Text zu transzendieren, wenn sie die Intention des Autors zum Leitfaden der Auslegung macht. Die Kunst liegt in der Gratwanderung, das Fremde einerseits fremd zu belassen, d.h. nicht gleich einzuverleiben und auf das eigene Bekannte zu reduzieren — ohne sich auf der anderen Seite diesem Fremden völlig auszuliefern. Die kühle naturwissenschaftliche Perspektive ist methodisches Vorbild; sie hat es freilich mit einem Objekt zu tun, das keinen festen Tatbestand bildet. Auslegung als Zeichendeutung wird damit zur Divination und ,Psychologie', die durch ihre eigenen prekären Prämissen nur dann nicht kompromittiert wird, wenn sie in der Auslegung einen Spielraum zulässt, d.h. den Verfasser nicht einseitig auf eine bestimmte Maske fesdegt. Auf diesen Spielraum kommt letztlich alles an. Ist er tatsächlich ein „'Raum', in dem sich jemand oder etwas nach eigenen ,Spielregeln' verhalten kann, der aber gleichwohl durch Regeln oder Gegebenheiten begrenzt ist, über die der, die oder das sich in ihm ,Tummelnde' nicht gebietet", also „ein Begriff oder Bild zur Regelung der Geltung von Regeln" (Stegmaier, 2000:46)? Wenn Nietzsche als Autor durch das Mittel der Maske absichtlich Spielräume zu verschiedenen (Miss-)Verständnissen schafft, so ist jede Vorstellung von regelgeleiteter Interpretation doch wohl widersprüchlich. Möglicherweise meint Stegmaier das auch, denn bei seiner Lektüre von Aphorismus 27 in Jenseits von Gut und Böse finde ich die Einsicht: „Die Grenzen der Spielräume in der Kommunikation unter Individuen werden durch die beteiligten Individuen gesetzt, willentlich oder unwillentlich." (46) Die Interpretation legt also nicht nur den Text oder den Verfasser, sondern auch den Interpreten aus. Wie die Metapher des Spielraums zeigt, soll Nietzsches Text nach seinem Willen als die Maske schlechthin gelten, an dem sich die Interpreten durch „Feinheit der Interpretation" zu bewähren haben276. 276
Das Wort ,Spielraum' stammt schon aus dem achtzehnten Jahrhundert und bezeichnete ursprünglich „bes. das Verhältnis der Weite eines Geschützrohres zu dem angepaßten, die Gleitfähigkeit gewährenden Durchmessers des Geschosses" (EWD, S. 1325). Innerhalb des Geschützrohres kann keine Rede von Regeln sein. Das Wort wird schon bald übertragen im Sinne von Möglichkeit, nicht vorhersagbarer Bewegung verwendet. Als Kompositum zweier Substantive müsste es aufgrund seines lexikalisierten metaphorischen Gebrauchs wahrscheinlich als exozentrisch klassifiziert werden, bezöge sich also nicht auf einen Raum, viel weniger noch auf ein ,Spiel'. Sehr viel eher ist es als Zusammensetzung von Verb und Substantiv aufzufassen. Die deutsche Sprache kennt viele ähnlich Fälle, in denen dieses Bildungsprinzip aufgrund des Zusammenfalls mit der Form des Substantivs verdeckt ist. Hier würde die semantische Beziehung
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
Gutwilligen Lesern seiner Texte gibt Nietzsche jedenfalls reichlich Material an die Hand. Hier liegt der Grund für den konstanten autobiographischen (autofiktiven) Unterstrom in seinen Schriften, den bisweilen narzisstisch wirkenden IchBezug. Ecce Homo ist deshalb ein zentrales Werk in Nietzsches CEuvre, weil es als Anleitung zur Lektüre dieses GEuvres gemeint ist: „Wie man wird, was man ist", verspricht der Untertitel. Nietzsche verlangt nach einem guten Leser, der alle seine Schriften berücksichtigt und sich von einer, wenn auch fiktiven intentio auctoris leiten lässt. Der gute Leser muss den guten Willen haben, das vom Autor Gemeinte zu rekonstruieren. Weil er den Autor dazu erst kennenlernen muss, liefert Nietzsche die stilisierte Selbstbiographie hinzu, um verfälschenden Darstellungen zuvorzukommen. Die Kenntnis des Autors ist nötig, um die redliche Lektüre des Werks als Zusammenspiel von Meinen und Verstehen und nicht als Auslegung einer unhistorischen intentio operis aufzufassen, die am Ende doch zur Allegorese führt. Schon F.A. Wolf hielt ein Verständnis literarischer Werke ohne biographische Kenntnisse für unmöglich (1831:398). Nietzsche fordert Kenntnis des usus loquendi, seines individuellen, aber auch des usus literarischer Konventionen, ferner Einblick in ein von ihm gestaltetes Anspielungsuniversum, das den Leser auf eine Ebene mit dem Autor heben soll. So erklärt sich u.a. die Kanonbildung, die Ecce Homo vornimmt: die Verdammung der Antipoden, mit denen Nietzsche nicht verwechselt werden will bzw. die Darstellung der Vorbilder und Inspirationsquellen. Weil Ecco Homo in Wahrheit eine Leseanleitung ist, steht hier die Feier Ritschis Seite an Seite auch mit einer Verdammung der schlechten Philologie277. Wer die figurative Schreibkunst Nietzsches zum Anlass der Allegorese und Plünderung macht, endarvt sich nicht nur als schlechter Reisender/Leser, son-
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der beiden Konstituenten lokal bestimmt sein — Raum, in dem etwas spielt/gespielt wird/,Spiel' hat {-räum ist ein häufiges Grundwort für diese Art von Bildungen). Das soll kein Versuch einer etymologisch-eigentlichen Begriffsbestimmung sein, sondern darlegen, wie der (nicht nur bei Nietzsche vorherrschende Gebrauch im Sinne von eben nicht regelgeleiteter Bewegung entstanden sein könnte. Die alternative Lesart Stegmaiers ist ebenfalls bedenkenswert. Nietzsche mache in Jenseits von Gut und Böse sowie der Genealogie der Moral die abendländische Moral der unbedingten Rechtfertigung als Gegner aus und interpretiere den redlichen Atheismus der Wissenschaften als Spitze moralischer Entwicklung, die sie sich selbst aufhebe, weil ihre Macht gebrochen sei, wenn an ihre Unbedingtheit nicht mehr vorbehaltlos geglaubt werde. An ihre Unbedingtheit werde aber in dem Moment gezweifelt, wo gezeigt wird, dass sie selbst das Werk von Individuen unter ihren jeweiligen Lebensbedingungen war: Nietzsche interpretiere nun die moralische Ontologie aus den Lebensbedingungen ihrer beiden ersten Lehrer, nämlich Sokrates (Wissenschaft) und Paulus (Religion). Um gehört zu werden, vergröbere und verkürze er bewusst dasjenige, was spätere genauere Studien differenzieren mögen. Um konsequent und intellektuell redlich zu bleiben, müsse er nun auch sich selbst als Urheber der Gegenbewegung aus seinen Lebensbedingungen zu erkennen geben und diesen Zweck verfolge Ecce Homo (1992:341 f). Etwas simplifizierend heißt es bei Ricoeur: „Mit Nietzsche vor allem ist eine ,genealogische' Art der Infragestellung der Philosophen aufgekommen, die sich nicht darauf beschränkt, ihre erklärten Absichten zu registrieren, sondern sie dem Verdacht aussetzt und ihre Gründe auf ihre Beweggründe und Interessen zurückführt." (1986: 254) Diese Art von Verdachtshermeneutik lehnt Nietzsche freilich, wie gezeigt wurde, für seine eigenen Schriften kategorisch ab.
4.3. Kunst der Anspielung: Maske, Spielraum
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dem offenbart seine christlich-platonischen Instinkte. Denn das Christentum hegt einen instinktiven Hass gegen die Realität. Von Jesus selbst — „diesem grossen Symbolisten" - stammt das Rezept dazu. Nur „innere" Realitäten habe er gelten lassen (AC 34, 6:206). Wenn wir diese Gedanken miteinander verbinden, heißt das: Jesus versuchte, die ganze Welt zurückzuführen auf das ihm Bekannte und Vertraute, auf den Phänomenalismus seiner eigenen Welt. Statt sie in ihrer Fremdheit begreifen zu wollen, betrieb er nur Allegorese seiner selbst; „den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische" nehme er „nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen" wahr (ebd.). Der gute Leser geht dagegen den umgekehrten Weg, für ihn sind natürliche oder historische Tatsachen, sofem sie sich als solche etablieren lassen, keine Zeichen für etwas, sondern es sind die Phänomene selbst, die nur in und als Zeichen erkennbar sind. Diese möglicherweise allgemeinste Definition des Lesens und Interpretierens gilt für Nietzsche nicht nur in der Domäne der Philologie, sondern überall dort, wo es auf Redlichkeit und Subtilität gleichermaßen ankommt.
4.4. Asketisches Ideal: Lesen und Interpretieren Ist der Mangel an Philologie ein Dauerkennzeichen des Christentums und aller Theologie sowie der Metaphysik und schließlich aller systematischen und dogmatischen Ansichten, so mangelt es der Philologie ihrerseits an der inneren Substanz, die sie ganz für sich allein stehen ließe. Größe und Grenze teilt die skeptische Wissenschaft nicht zufällig mit der philosophischen Haltung der Skepsis selbst, die immer schon aus formulierte Weltanschauungen voraussetzt, zu denen sie sich dann verhalten kann. Der bei Nietzsche so deutliche Gegensatz von Lesen und Interpretieren trifft genau jenen Gegensatz von schöpferischer Wirksamkeit und Instrument zur Widerlegung bzw. Abschätzung derselben. Schon oben wurde dargestellt, dass die Tugend der Empfänglichkeit schnell in ihr Gegenteil, bloße Passivität, umschlagen kann. Philologisches Lesen ist deshalb bei allen Vorzügen tendenziell stärker mit dem asketischen Ideal verquickt als die Interpretation; Lesen und Interpretieren verkörpern zwei alternative Existenzweisen. Die eine ist nicht ohne die andere denkbar, weil nur die Philologie die Fehler der Interpretation bloßlegen kann; sie selbst aber, als vor allem reaktive Kraft, auf den ersten Schritt durch die Interpretation angewiesen ist. Einer der berühmtesten Beiträge Nietzsches zum Verhältnis von Philologie und Interpretation, gleichzeitig jener, der den Kommentatoren bis heute das meiste Kopfzerbrechen bereitet, ist die folgende, in Auszügen schon zitierte Stelle: Ein andres Abzeichen des Theologen ist sein U n v e r m ö g e n z u r P h i l o l o g i e . Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden, — Tatsachen ablesen können, o h n e sie durch Interpretation zu fälschen, o h n e im Verlangen nach Verständniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren z u verlieren. P h i l o l o g i e als E p h e x i s in der Interpretation: h a n d l e es sich n u n u m B ü cher, u m Z e i t u n g s - N e u i g k e i t e n , u m S c h i c k s a l e o d e r W e t t e r - T h a t s a c h e n , - nicht z u r e d e n v o m „ H e i l der Seele"... ( A C 52, 6:233)
Alle bisher behandelten topoi sind hier nochmals versammelt, gleichsam zum Beweis, dass sie durchaus nicht allein für die aphoristischen Büchern galten: Philologie ist im Spätwerk immer noch das Gegenteil einer Geisteshaltung, die Verständnis um jeden Preis will und steht deshalb gegenüber der Interpretation aufseiten der Kritik, und zwar in allen Auslegungsdomänen. Ein schlechter Exeget achtet des Spielraums nicht und legt sich schnell fest — so verfälscht er einen ohnehin schon fragwürdigen Text noch weiter. Ein guter Leser scheut vor dem endgültigen Urteil zurück. Philologie, die auf Textkritik gegründete kritische Lesekunst, wird nun aber auch eindeutig zur universalen Methode, welche die Ableitungen von Überzeugungen und Welterklärungen aus dem christlichen Glauben oder jeder anderen dogmatischen Überzeugung ersetzt. Nietzsches Spielraum bedeutet ein Angebot zum Lesen selbst dort, wo es noch keinen Text gibt; er ist eine Warnung vor Interpretation, dem abschließenden Urteil über ein Buch, einen Menschen, eine Sache, das andere mögliche Lesarten abweist. Nietzsches bedeutungsschwangere Pünktchen und Gedankenstriche, sein häufiger und charakteristischer Gebrauch konditionaler, restriktiver, überhaupt modifizierender, den assertiven Wahrheitsanspruch abschwächender Ausdrücke wie ,vielleicht', ,gesetzt den Fall', ,wie?' hat hier sein theoretisches Fundament. Nietzsches Begriff der Ephexis gehört zu ephektikos - zurückhaltend, unentschieden im Urteil — bzw. dem skeptischen Grundsatz der epoche, der Urteilsenthaltung. Nietzsche wird auf die Ephektiker nicht zuletzt durch sein Studium des Diogenes Laertius aufmerksam (Buch IX, 70, vgl. 1821, Bd.2:167). Das Wort ephexis hat Nietzsches Lesern Rätsel aufgegeben, da es sich sonst nicht nachweisen lässt bzw. nur bei ihm die epoche bezeichnet. In der Genealogie der Moral übersetzt Nietzsche selbst das Adjektiv ephektisch mit,abwartend': M a n r e c h n e sich die e i n z e l n e n T r i e b e u n d T u g e n d e n des P h i l o s o p h e n der R e i h e n a c h v o r — seinen a n z w e i f e l n d e n T r i e b , seinen v e r n e i n e n d e n T r i e b , seinen a b w a r t e n d e n ( „ e p h e k t i s c h e n " ) T r i e b , seinen a n a l y t i s c h e n T r i e b , seinen f o r s c h e n d e n , s u c h e n d e n , w a g e n d e n T r i e b , seinen v e r g l e i c h e n d e n , a u s g l e i c h e n d e n T r i e b , seinen W i l l e n z u N e u tralität u n d Objektivität, seinen W i l l e n z u j e d e m „sine ira et s t u d i o " [...] ( G M III.9,
5:357)278. 278
Der Ephektiker wird m.W. von einem einzigen deutschen Fremdwörterbuch geführt, nämlich dem von Daniel Sanders 1871 besorgten (Leipzig, Wigand). Als Quelle wird ebenfalls Diogenes Laertius angegeben (S. 333). Andreas Urs Sommer hat eingehend, aber letztlich ohne Erfolg, die möglichen Ursprünge des Ausdrucks Ephexis untersucht und selbst byzantinisches Griechisch miteinbezogen (2000:510ff). Folgt man einer Stelle im Nachlass, die auch Sommer heranzieht, so sind sowohl Epochisten wie Ephektiker Vorläufer der eigentlich strengen „Ephexis der Wissenschaft", die im Vergleich zu ihrem bloß ironischen Widerstand gegen die „schnellen Hypothesen" die „methodischen Ansprüche" verschärft (VII 35[29]). Da sich Quellen für die Wortbildung mit der von Nietzsche damit verbundenen Bedeutung m.W. bisher nicht nachweisen lassen, muss von einer eigenwilligen Selbstschöpfung Nietzsches ausgegangen werden.
4.4. Asketisches Ideal: Lesen und Interpetieren
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Die genannten Tugenden sind diejenigen des Philologen, Tugenden freilich, deren asketische Signatur ihre eigene Problematik hat. In Victor Brochards bereits erwähnter Studie Les sceptiques grecs (vgl. Kap. 2.5.), das Nietzsche kurz vor der Niederschrift des Antichrist mit Begeisterung gelesen hatte, wurden nicht nur „epoque" und „adiaphorie" als die zwei Begriffe „qui resument tout le scepticisme" (1887:75) identifiziert, sondern in den Rahmen des skeptischen Lebensideals der ataraxia, des selbstgenügsamen Seelenfriedens gestellt, der, konträr zu den vitalsten Instinkten alles Organischen, nicht nur potentiell, sondern faktisch nihilistisch ist. Nietzsches glaubt auf der Grundlage vorläufiger Studien organischer Phänomene — man denke an seine naturwissenschaftliche Lektüre — den Charakter des Organischen schlechthin benennen zu können. Alles Lebendige ist durch den Drang nach Wachstum durch Aneignung und Einverleibung und damit Interpretation gekennzeichnet. Ihn zu leugnen oder durch Askese bezwingen zu wollen, und sei es durch Askese in der Interpretation, läuft auf Lebensverneinung hinaus: Leben selbst ist w e s e n t l i c h Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, - aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper, innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als gleich behandeln - es geschieht in jeder gesunden Aristokratie —, muss selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, u m sich greifen, an sich ziehn, Ubergewicht gewinnen wollen, — nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er l e b t , und weil Leben eben Wille zur Macht i s t . (JGB 9.259, 5:207f)
Man beachte jedoch bereits, dass Nietzsche daraus keine normativen Schlüsse zieht. Man beachte ferner, dass Leben wesentlich, aber eben nicht ausschließlich Aneignung ist. Nietzsche hat in der Genealogie der Moral eine Musterauslegung der eigenen Schriften mit der Analyse des asketischen Ideals verbunden. Askese wird bei Nietzsche besonders mit dem Gelehrtentypus des Philologen assoziiert; möglicherweise ist die gesamte dritte Abhandlung zur Genealogie eine späte Auseinandersetzung mit Wilamowitz, der in seinem Angriff auf die Tragödienschrift die Askese selbstverleugnender Arbeit eingeklagt hatte (vgl. Kap. 5.4.)279. Eine Analyse der dritten Abhandlung der Genealogie unter diesen Gesichtspunkten kann deshalb helfen, das Wechselverhältnis von Lesen und Interpretieren, Aneignung und Aufnahme, vitalen und asketischen Instinkten zu klären. 27 '
Das asketische Selbstverständnis war ein Charakterzug der Hermann-Schule und wurde nicht zuletzt an der Pforte kultiviert. Noch in seinen Vorlesungen am Ende des Jahrhunderts beruft sich Wilamowitz auf Hermann im Zusammenhang mit der Behauptung, dass der Philologe nur durch Aufopferung seiner eigenen Individualität groß werde und jedenfalls nichts mit dem Dichter und Propheten gemein habe (nach Poulsen, 1946:64).
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
„Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht ,entziffert'; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf." (GM Vorrede 8, 5:255). Mit Ablesen ist hier offensichtlich die an Grammatik und Textleib, am usus loquendi ausgerichtete Etablierung des Texts und historischen Sinns gemeint, zu welchem die Ausdeutung des sich daraus ergebenden Spielraums kommt. Die Entzifferung wäre dann die am Leitfaden der Autorintention vorgenommene Einschränkung, die vor der jeweiligen Maske Respekt bezeugt. Sie erschließt die figurativen, durch die Kunst der Anspielung erzeugten Bedeutungen. Weil der Erklärer dadurch riskiert, Allegorese zu betreiben, praktiziert er Skepsis, d.h. ,Ephexis', seiner eigenen Lektüre gegenüber. Das achte Stück der Vorrede zur Genealogie der Moral schickt der Abhandlung die gesamte Lesetheorie voraus: vom allegorischen Anruf der „Ohren" über die Forderung nach Affinität des Lesers zum Text und zur Person Nietzsches, den Hinweis auf die Wichtigkeit der künstlerischen Form bis zum Prinzip des Homerum ex Homero sowie dem Anspruch des Verfassers auf Kenntnisnahme sämtlicher Schriften durch den Leser. Er sei hier in seiner Gänze zitiert: - Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht nothwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat: diese sind in der That nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen „Zarathustra" anbetrifft, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts gemessen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürchtig Antheil zu haben. In andern Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, dass man diese Form heute n i c h t s c h w e r g e n u g nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert"; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle „Auslegung" nenne: - dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar. Freilich thut, um dergestalt das Lesen als K u n s t zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist - und darum hat es noch Zeit bis zur „Lesbarkeit" meiner Schriften - , zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls n i c h t „moderner Mensch" sein muss: d a s W i e d e r k ä u e n ... (GM Vorrede 8, 5:255f)
Nietzsche bietet, wie in der Philologie üblich, ein Exempel der von ihm geforderten Auslegungspraxis als konkreten Anschauungsunterricht. Die Musterauslegung hat, und das ist ein entscheidendes Stichwort, die Form eines Kommentars. Die Frage, der sich jede Auslegung nach dem Durchbruch der historisch-kritischen Exegese stellen muss, ob sie nämlich außer der subtilitas intelligendi auch noch subtilitas explicandi und applicandi umfasse, wird von Nietzsche damit beantwor-
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tet280. Die philologische Methode des Lesens entspricht dem Kommentieren. Das Lesen als Metapher für die distanzierende Betrachtung der Welt ist eine Art Fließkommentar zur Phänomenologie des lesenden Individuums. So aufgefasst, ist die Auslegung nie beendet, der Kommentar ist unendlich und kommentiert sich schließlich selbst. Lesen ist der Prozess des Nachvollzugs, nicht endgültige Gewinnung eines Sinns. Der Sinn, dieses Bild taucht bei Nietzsche immer wieder auf, ist flüssig und kann nur in der Bewegung nachvollzogen werden. Die Flüssigkeit des Sinns beschreibt nicht die Wandlung seiner Bedeutung im Prozess der Rezeptionsgeschichte; er ist nicht dem grammatisch-historischen Sinn entgegengesetzt. Vielmehr bezeichnet er den Spielraum des Kommentators. Die Theorie des flüssigen Sinns ist damit der denkbar größte Gegensatz zum statischen sensus der sog. dunklen Stellen bzw. seinen Nachfolgern in der Allegorese281. Der Kommentar verzichtet auf die Applikation, sofern er nicht schon selbst als solche aufgefasst wird; Lesen bedeutet ausschließlich die Kombination aus subtilitas intelligendi und explicandi. Der Kommentar als Protokoll der Lektüre ist seit den Alexandrinern der neben der Edition wichtigste Bestandteil philologischer Arbeit. Zwar ist der Kommentar bei den alexandrinischen philologoi auf Wort- und Sacherklärung eingeschränkt und geht erst während der Neuzeit darüber hinaus. Aber spätestens mit der Historisierung der Philologie zur universalen Altertumswissenschaft seit F.A. Wolf versteht er sich als allgemeine, am sensus historicus ausgerichtete kritische Praxis. Er gehört seither zu den fachbegründenden Bestandteilen der Philologie, mit dessen Hilfe die Philologen dem Text Grenzen setzen können (vgl. Senger, 1993; Fohrmann, 19 88)282. Zwar verliert sich der interpretierende Kommentar später wieder zugunsten der reinen Erläuterung283, aber seine Hauptaufgabe 280 Vgl N o w a k (2001:199). Zur Begrifflichkeit und Herkunft der verschiedenen subtilitas vgl. Kapitel II.2 in Gadamer ( 3 1972:290f). 281 In Zusammenhang mit dem flüssigen Sinn scheint auch das Motiv des Dampfes zu stehen, der als weitere Steigerung gelten kann. Während der Sinn etwa in der textuellen Exegese flüssig ist, gelten auf der Ebene menschlicher Handlungen und geschichtlicher Ereignisse, von der Natur ganz zu schweigen, andere Zustände: „[...] vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf w i r k t . " (M 4.307, 3:224f) Der ,Leser' der Weltgeschichte kann schon froh über flüssigen Sinn sein, ihm muss es darum gehen, den ,Dampf in diesen relativ handhabbaren Aggregatzustand zu verwandeln. Eine subtile begriffliche Analyse des flüssigen Sinns aus philosophischer Sicht findet sich bei Stegmaier (1994:70-88). 282
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Der griechische Kommentar der Alexandriner ist das scholion (von schole, Muße) und steckt im scholastes als Mann der Muße und natürlich im Scholaren u.a. (Raible, 1995:68). Heute gilt das Interesse am Kommentar v.a. dem Instrument zur Kompensation von Kenntnissen, die durch sozial- und bildungsgeschichtliche Entwicklungen verlorengegangen sind. Der Kommentator werde zum Souffleur (Roloff, 1993). Die Dominanz des Sachkommentars verdeckt sein interpretatorisches Potential, was sich freilich wieder ändern mag. Bei Raimar Zons (1995) finden sich interessante Anregungen zum Verhältnis von Kommentar und Interpretation. Letztere werde als professionelle, auf Sinnverstehen zielende Lektüre erst seit dem späten achtzehnten Jahrhundert privilegiert, obwohl es nach wie vor andere Auslegungsformen gab. Der Kommentar hat immer in dem Moment Konjunktur, da Kunstwerke ästhetisch autonom wer-
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bleibt es, das Verständnis historischer Texte durch Rehistorisierung und Hinweis auf Unverständlichkeiten zu garantieren. Der Kommentator vermag einerseits den Kontext, die Vorurteile und die Motive des Autors aus der Distanz besser zu übersehen, kann andererseits aber natürlich nie denselben Wissensstand reproduzieren. Der Kommentar als „Ort der Vergegenwärtigung des Entstehungszusammenhangs" macht nicht nur die editorischen Entscheidungen plausibel, sondern reichert sie, das macht ihn ja so verführerisch, mit biographischen, literaturhistorischen u.a. Begleitumständen an. Er ist dabei von Natur aus vorsichtig gegenüber der Interpretation und versteht sich traditionell eher als Berichtigung falscher Thesen, damit der Leser das letzte Wort behalte (Woesler, 1993:20-25). Nicht von ungefähr haben neuere Autoren deshalb darauf bestanden, dass der Kommentar von der Bedrängnis gar nicht berührt ist, in der die Interpretation in der neuzeitlichen hermeneutischen Theorie geraten ist. Ihn treffe der Vorwurf der Gewalttätigkeit nicht, den man der Interpretation gemacht habe (Haug, 1995). Den man ihr, so müsste man ergänzen, ausgerechnet seit Nietzsche bzw. der dekonstruktivistischen Nietzscherezeption gemacht hat284. Indem sich Nietzsche aber selbst dieser in der Philologie tradierten Unterscheidung von Kommentar und Interpretation bedient, kann er seiner Kunst des guten Lesens jene Eigenschaften des Kommentars angedeihen lassen, die ihn von der Interpretation unterscheiden. Sein Kommentar muss sich dabei nicht auf Wort- und Sacherklärung festiegen. Nietzsches gutes Lesen war ja eher nachvollziehende Empathie, um Gleichklang mit dem Autor herzustellen; und sein Begriff des Kommentars ist folglich eine Metapher für die Feinheit des Umgangs mit dem Spielraum als subtilitas der Auslegung in Verbindung mit der feinen Vornehmheit kritischer Ephexis/epoche. Dem Begriff der Interpretation ist bei Nietzsche dagegen die subtilitas applicandi vorbehalten, in welcher sich der flüssige Sinn verfestigen soll. Als Applikation dient die Interpretation letztlich immer der Unterstützung vorgefasster Absichten und lässt sich damit einem Gewaltakt, der vergewaltigenden Aneignung vergleichen. Der Schlussfolgerung Figls, wonach Nietzsches Theorie des Lesens bedeute, dass Lektüre immer zur Tat führen solle (1989:169f), muss deshalb den, d.h. aus kultischen (besser: ritualen) Kontexten herausgerissen, sozial und funktional ortlos werden. 284
Haug plädiert für eine Trennung von neuzeitlicher Hermeneutik und Kommentar, obwohl er Mischformen wie deutenden Kommentar und kommentierende Interpretation anerkennt (334). Die Neuzeit kenne im Gegensatz zum Mittelalter mit seiner Vielfalt an Kommentierungsformen fast nur noch den Sachkommentar. Dagegen setzt Gladigow den Kommentar als Kontrollinstanz zwischen Text und Leser an und bezieht ihn ganz auf die Interpretation: „In der Funktion, Verständnis oder Applikation eines Textes zu normieren, ist die Interpretation - wie schon Nietzsche gesehen hat - ein Instrument von Herrschaft." (1995:36) Die Berufung auf Nietzsche ist typisch für eine gewisse literaturwissenschaftliche Betriebsblindheit, die, ihren eigenen Grundüberzeugungen zum Trotz, sich in diesem Fall hartnäckig weigert, historischen Sprachwandel und individuellen Sprachgebrauch anzuerkennen. Eine hervorragende Übersicht zum Problem des Kommentars im 1993er Heft von „editio"; dort viele Literaturhinweise. Sehr empfehlenswert auch Assmann/Gladigow (Hrsg., 1995).
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vehement widersprochen werden. Das Gegenteil ist der Fall. Figls Unbehagen an der eigenen Theorie äußert sich im wenig überzeugenden Bemühen, Nietzsches Lesetheorie auf appellative Texte einzuschränken. Schon der junge Nietzsche macht deutlich, dass es beim Lesen um das Verständnis geht, nicht um die Umsetzung dieses Verständnisses in die Praxis. In der Vorrede zu den Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in der Nietzsche die bekannte Reihe philologischer Tugenden einklagt und den langsamen, gründlichen, mitdenkenden Leser anspricht, der zwischen den Zeilen liest, heißt es unmissverständlich: „Wenn der Leser dagegen, heftig erregt, sofort zur That emporspringt, wenn er vom Augenblick die Früchte pflücken will, die sich ganze Geschlechter kaum erkämpfen möchten, so müssen wir fürchten, daß er den Autor nicht verstanden hat." (KSA l:648ff) Noch irreführender ist die Bezeichnung der Kunst des Lesens als Fortführung traditioneller hermeneutischer Theorie seit Schleiermacher (Figl, 1989:169f). Die Hermeneutik Schleiermachers versucht noch, einen konsistenten sensus herzustellen. Die Kunst des Lesens dagegen ist Nietzsches Metapher für die Flüssighaltung des Sinns, für die, freilich nicht beliebige, Öffnung von Auslegungsmöglichkeiten. Nietzsches Musterkommentar verkörpert schon vom Ausgangspunkt her das ernsteste exegetische Problem, das man sich in diesem Zusammenhang vorstellen kann. Es ist nämlich bereits unklar bzw. umstritten, worauf sich der Kommentar, den die dritte Abhandlung der Genealogie darstellen soll, überhaupt bezieht. Zwei Kandidaten stehen zur Auswahl, für die es jeweils gewichtige Fürsprecher gibt. Entweder ist mit dem kommentierten Aphorismus das 7.arathustra-7AV&t gemeint, das als Motto unmittelbar über der dritten Abhandlung steht — dies ist die nach wie vor verbreitetste Auffassung285. Oder aber, dafür hat v.a. John T. Wilcox (1997) überzeugende Argumente gefunden, mit dem Aphorismus werde das erste Stück der dritten Abhandlung von „Was bedeuten asketische Ideale?" bis „ [...] nicht w o l l e n " (GM III.l, 5:339) bezeichnet. Die Entscheidung darüber hat naturgemäß weitreichende Konsequenzen für eine Rekonstruktion von Nietzsches Auslegungstheorie. Für Wilcox sprechen mehrere Umstände, die mittlerweile von der Forschung akzeptiert worden sind286; aber selbst wenn man sich von ihnen überzeugen lässt, hat man noch nicht die Funktion des Zarathustra-Zitats erklärt: Wilcox selbst verzichtet darauf und sieht überhaupt keine Verbindung des Mottos zum Text. Man fragt sich, warum Nietzsche es dann überhaupt so missverständlich einge285 N o c h in einem Standardwerk zur Genealogie wie Schacht (1994) wird diese Auffassung von Koryphäen wie Schacht selbst, Arthur C. Danto oder Bernd Magnus vertreten. 286 Uberzeugend etwa die Argumentation, der kurze fiktive Dialog am Ende von GM III.l beziehe sich auf die angesprochene Unverständlichkeit in GM Vorrede 8. Der Ausdruck „in anderen Fällen" unterscheidet ferner zwischen dem Zarathustra (dem das Motto entstammt) und der Form des Aphorismus. Wilcox diskutiert die inkonsistente Ubersetzung von Auslegung als wahlweise exegesis oder interpretation: sein eigener Vorschlag, explication, kommt der Sache, nämlich der Erklärung, zwar in der Tat näher, läuft allerdings Gefahr mit einer explication de texte verwechselt zu werden.
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setzt haben soll. Immerhin stammt es aus dem Abschnitt „Vom Lesen und Schieiben" (KSA 4:48ff), einem Kapitel, das nicht nur thematisch passt, sondern aus einer Aneinanderreihung kurzer Aphorismen besteht, die wie zwei Seiten Sprüche aus Menschliches, All^umenschliches ohne Leerzeilen wirken und deshalb plausibel als Quelle des zu kommentierenden Aphorismus gelten könnte. Von Wilcox bzw. seinen Anhängern ist bisher nicht beachtet worden, dass Nietzsches Zarathustra-MoXto schon früh im Zusammenhang mit Aufzeichnungen zur Genealogie der Moral vorkommt. Offenbar ist es ursprünglich als Motto des ganzen Buches geplant gewesen287, wo es allerdings in den überlieferten Fragmenten des Druckmanuskripts nicht mehr auftaucht. In der Erstausgabe steht es bereits vor der dritten Abhandlung, und zwar auf einer gesonderten Seite, woran sich die heute maßgebliche Ausgabe, nämlich die KSA skandalöserweise nicht hält288. Der Leser konnte und kann nicht wissen, dass GM III. 1 von Nietzsche tatsächlich erst später eingefügt wurde und es deshalb der vorangestellte Aphorismus sein muss, auf den sich das achte Stück der Vorrede bezieht289. Aus der behutsamen Abwägung aller vorliegenden Evidenz ergibt sich folgendes Bild. In der Tat bezieht sich das achte Stück der Vorrede, wie von Wilcox sowie dem KSA-Kommentar behauptet, auf GM III.l; dies ist der „Aphorismus", den die dritte Abhandlung kommentiert. Auf der anderen Seite muss auch das Zarathustra-Titzt bewusst gewählt worden sein; es steht in engem Zusammenhang sowohl mit dem in der dritten Abhandlung thematisierten asketischen Ideal, als auch mit Nietzsches Auslegungstheorie. Nietzsche hat es gezielt als Motto über diese Abhandlung gesetzt, nicht, wie ursprünglich geplant, über das
Vgl. Ν VII 3 S. 32 u. 34f bzw. KGW VIII 5 [74]. Die erhaltene Druckfahne (Signatur der AnnaAmalia-Bibliothek Nr. C 4616) weist freilich viele Korrekturen von Nietzsche und Köselitz auf. 288 Vgl Erstausgabe von Naumann aus dem Jahr 1887. Die KGW reproduziert das Motto auf einer separaten Seite, jedoch fehlt auch hier der sowohl im Druckmanuskript als auch in der Erstausgabe vorhandene Zusatz, der den kommentierenden, erklärenden Charakter der gesamten Genealogie verdeutlicht: „Dem letztveröffentlichten .Jenseits von Gut und Böse" zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben." (Fassung des Druckmanuskripts, vgl. Druckmanuskripte GSA 71, 27.1 und 27.2 im Goethe-Schiller-Archiv, Weimar). 289 Eine kurze Anmerkung dazu führt bereits der KSA-Kommentar (KSA 14:380). Im Druckmanuskript ist schon GM Vorrede 7 unterschrieben und datiert (ebenfalls auf Juli 1887); der Zusatz muss also kurz danach eingefügt worden sein. GM III.l ist dagegen tatsächlich als Extrablatt zum Druckmanuskript erhalten, und zwar mit einer handschriftlichen Notiz Nietzsches in der oberen rechten Ecke: „Anfang zur dritten Abhandlung." Zum Druckmanuskript gehört auch der Entwurf eines Inhaltsverzeichnisses von Nietzsches Hand mit den Titeln der einzelnen Abhandlungen und ohne Vermerk des Aphorismus. In einem Brief an Naumann vom 20. Juli 1887 erbittet sich Nietzsche das Manuskript zurück (111.5:115), am 14. August 1887 verspricht er die dritte Abhandlung, die schon zu drei Vierteln fertig sei (III.5:127f). Am 28. August 1887 schickt Nietzsche GM III und gleichzeitig zwei lose Blätter, nämlich die Inhaltsangabe sowie einen Nachtrag zur Vorrede (III.5:135f). Ahnliche Nachforschungen im Goethe- und Schiller-Archiv hat Maudemarie Clark angestellt (vgl. dazu im Anhang zu Wilcox, 1997:611-614). Das Zarathustra-Motto sei wahrscheinlich von Nietzsche auf die Druckfahnen nachgetragen worden, oder aber Nietzsche habe nunmehr verlorene Anweisungen an Naumann geschickt. Allerdings kann auch sie angesichts der unvollständigen Uberlieferung nur über einen Nachtrag spekulieren. 287
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gesamte Buch. Beide Passagen müssen somit nach ihrem Aussagewert für die Auslegungstheorie untersucht werden290. Wilcox hat schön gezeigt, wie Nietzsche im Text der dritten Abhandlung alle Elemente aus dem ersten Aphorismus (GM III.l) wieder aufgreift und diesen also linear kommentierend abhandelt. Der Kommentar werde somit seinem Genre gerecht und dekomprimiere den Ausgangstext, was man in Bezug auf das Zarathustra-Tltzt, das an keiner Stelle erwähnt wird, nicht behaupten könne. Das ist ein wichtiger Punkt. Nietzsche demonstriert in der Tat, wie weit man kommt, wenn man den Wortlaut des Aphorismus ernst nimmt und ihn paraphrasierend weiterdenkt. Er will letztlich den Beweis führen, dass seine gesamte aphoristische Produktion als ungeheures System von Abkürzungen, Andeutungen und Anspielungen verstanden werden muss. Der gute Leser müsste in der Lage sein, aus jedem von Nietzsches Aphorismen eine entsprechend explizitere und explikativere Abhandlung zu verfertigen. Der gute Leser liefert sich Nietzsche damit in gewissem Umfang aus, er denkt und liest nach den von Nietzsche gesetzten Prämissen. Von Vergewaltigung kann keine Rede sein, sonst müsste Nietzsche den eigenen Aphorismus vergewaltigen, und dafür gibt keine Anhaltspunkte. Die Form von Nietzsches Musterkommentar ist ebenfalls kompatibel mit der Auffassung vom Lesen als induktiver Methode und Kombination aus subtilitas intelligendi und explicandi. Der Exeget interpretiert erst, wenn er aus dem flüssigen Sinn eine feste Schlussfolgerung zu ziehen versucht, insbesondere wenn es sich dabei um eine deduktive dogmatische Ableitung der subtilitas applicandi handelt, denen die anderen, den Kommentar konstituierenden subtilitas untergeordnet werden. Im gesamten Spätwerk einschließlich des Nachlasses gilt, dass Auslegung, die sich als von der Applikation her bestimmt, Fälschung betreibt. Als Umsetzung des Vor-Urteils in Auslegung ist Interpretation eher Dichtung als Auslegung, eher aktiv als passiv — und deshalb dem philologischen Lesen entgegengesetzt: Die Art wie ein Theolog, gleichgültig ob in Berlin oder in Rom, ein „Schriftwort" auslegt oder ein Erlebniss, einen Sieg des vaterländischen Heers zum Beispiel unter der höheren Beleuchtung der Psalmen Davids, ist immer dergestalt k ü h n , dass ein Philolog dabei an allen Wänden emporläuft. [...] Der bescheidenste Aufwand von Geist, um nicht zu sagen von A n s t a n d , müsste diese Interpreten doch dazu bringen, sich des vollkommen Kindischen und Unwürdigen eines solchen Missbrauchs der göttlichen Fingerfertigkeit zu überfuhren. (AC 52, 6:233f)
Die auf Applikation zielende Auslegung bzw. Interpretation wird von Nietzsche immer wieder negativ mit logischen Fehlschlüssen wie der Verwechslung von Ursache und Wirkung assoziiert und als unwissenschaftlich angegriffen, wie in 290
Stegmaier geht in seinem Standardwerk aufgrund des KSA-Kommentars davon aus, dass GM III.l der fragliche Aphorismus ist (1994:296), ist aber mit Recht wenig glücklich darüber. Das Zarathustra-TAtM scheint einfach besser zu Nietzsches Aussagen über die Interpretation (nicht das Lesen!) zu passen.
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folgendem, einem von vielen Beispielen: „und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon diess, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen! aber man hat mehr gethan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des StrafBegriffs." (M 1.13, 3:26) Die Interpretation steht nicht zuletzt auf der Seite des festen Denkgebäudes im Gegensatz zur intellektuellen Rechtschaffenheit des ephektischen flüssigen Sinns: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." (GD Sprüche und Pfeile 26, 6:63). Dem aktiv-umformenden Charakter der Interpretation entsprechend, errichtet sie Gebäude einer reinen „Fiktions-Welt", die „ihre Wurzel im Hass gegen das Natürliche ( - die Wirklichkeit! —)", den an den Phänomenen ausgerichteten Tatsachensinn haben: Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christenthume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre U r s a c h e n („Gott", „Seele", „Ich" „Geist", „der freie Wille" - oder auch „der unfreie"); lauter imaginäre W i r k u n g e n („Sünde", Erlösung", „Gnade", „Strafe", „Vergebung der Sünde"), [...] eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Missverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus mit Hülfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie [...] (AC 15, 6:181 £)
Wer an der „Wirklichkeit" leide, habe es eben nötig, sich daraus wegzulügen. Diese schöpferische Lüge, die sich der Allegorese bedient — welche offensichtlich mit der „Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie" gemeint ist —, diese schöpferische Lüge also ist mit der Interpretation identisch; sie charakterisiert schon früh in Nietzsches Entwicklung die „ c h r i s t l i c h e n I n t e r p r e t e n des L e i b e s " (M 1.86, 3:80f). Die Interpretation ist damit nicht mehr allein Abzeichen des bösen Willens in der Auslegung, die sich als solche in der Kunst des schlechten Lesens auch an schriftlichen Texten offenbaren kann, sondern ganz allgemein die einzige Möglichkeit, sich einem Phänomen zu nähern, wenn ,Lesen' wegen Textmangels ohnehin irrelevant geworden ist. Selbst guter Wille und intellektuelle Redlichkeit wie in der Naturwissenschaft helfen angesichts der Komplexität und Kontingenz gewisser Phänomene nicht weiter. Auf abstraktester Ebene und um des Überlebenswillens und Erweiterungskampfs wegen muss sich das Individuum sein Dasein zurechtlegen, d.h. den nicht-erkennbaren Text fälschen, zurechtmachen, interpolieren. Schon 1881 ruft Nietzsche dies zum „Hauptgedankefn]!" aus (V 11 [7]). Wo das Leben selbst auf dem Spiel steht, ist kritischer Takt gefährlicher, dekadenter, kurz: nihilistischer Luxus. Interpretation wird in dieser Domäne lebensnotwendig, unverzichtbar. Auf diese Erkenntnis läuft Nietzsches späte Einsicht in den „interpretative [n] Charakter alles Geschehens" hinaus. Wenn die Basis der Erkenntnis die Selbsterkenntnis, die Selbsterkenntnis aber das Schwierigste überhaupt und unredliche Interpretation ist, weil wir den Kampf unserer oft unbewussten Affekte nie übersehen können, dann gibt es in der Tat „kein Ereignis an sich. Was geschieht, ist
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eine Gruppe von Erscheinungen a u s g e l e s e n und zusammengefaßt von einem interpretirenden Wesen." (VIII 1[115]). Auslesen ist das Gegenteil sowohl von Textkritik als auch von Lesen, zwei Seiten derselben Medaille des Mangels an Philologie, nämlich der Verwechslung von Erklärung und Text (VIII 15 [82]). Nur so wird die berühmte Definition von Interpretation als „Mittel, um Herr über etwas zu werden" verständlich. Es ist der organische Prozess selbst, der ständiges Interpretieren voraussetzt und verlangt (VIII 2[148]). Er sucht nicht nach Sinn in den Dingen, sondern steckt ihn hinein (VIII 1887 6 [15]), indem er instinktiv die relevanten „facta" auswählt (VII 7[228]), ohne die sein Fortkommen nicht gesichert wäre. Die unmögliche Selbsterkenntnis als Basis der Weltauslegung kann höchstens eines erreichen, das Nietzsche selbst als seine Aufgabe ansieht: die „Entmenschung der Natur" (V 11 [211]). Sie erfordert, immer und immer wieder auf die fehlerhaften anthropomorphischen Interpretationen der Welt hinzuweisen, durch die menschliche Kategorien wie Kausalität in die Welt der Phänomene projiziert werden291. Kausalität, um bei diesem für Nietzsche wichtigen Beispiel zu bleiben, ist nur bloßes Ausdrucksmittel, die Erklärung habe noch gar nicht begonnen, ehe nicht ein ungeheurer Tatbestand (also ein /Text") beschrieben sei (vgl. VII 36 [28])292. Es kann am Ende jedoch nicht nachdrücklich genug betont werden, dass diese allgemeinen Überlegungen Nietzsches zur Auslegung sich entschieden nicht auf die Auslegung von schriftlichen Texten beziehen. Es dürfte auch einleuchten, warum das logischerweise nicht der Fall sein kann: Nietzsches Vorwurf an Theologen, Moralphilosophen und Naturwissenschaftler, auf unzureichender Textgrundlage und ohne die nötige Subtilität bei der Lektüre zu arbeiten, verlöre nämlich jeglichen Sinn. Gerade weil die Auslegung von schriftlichen Texten das positive Gegenbeispiel für intellektuelle Redlichkeit abgibt, die sich in der philologischen Arbeit am Text zeigt, muss sie einen anderen Status besitzen. Nietzsche spricht von den W A u s l e g u n g e n als Symptomen eines herrschenden Triebes, nicht von Auslegungen im allgemeinen (VIII 1887 7[3]), wobei seine Begrifflichkeit gerade im Nachlass nicht immer so deutlich ist, weil ihm ja selbst klar war, 291
Baumanns Handbuch der Moral von 1879, eine unterbewertete Quelle aus Nietzsches nachgelassener Bibliothek, hat nicht nur viel zu Nietzsches Reflexionen über den Willen zur Macht beigetragen, sondern zählt schöne Beispiele dafür auf, wie kausale Urteile durch Zufall entstehen oder klare Fehlinterpretationen sind. Die falsche Willenstheorie, die das Abendland geprägt habe, gehe auf die Vermischung stoischen, christlichen und neuplatonischen Gedankenguts zurück (bes. 1879:97ff). Baumann zieht auf physiologischer Grundlage und mit naturwissenschaftlichem Duktus z.T. dieselbe ethnologische Literatur zu Rate wie Nietzsche selbst und entfaltet eine philologisch-etymologische Begriffsgeschichte, die in manchem an die Genealogie der Moral erinnert. Interessant mit Blick auf dieses Werk auch seine Unterscheidung dreier menschlicher Naturen, nämlich des wirtschaftlichen Menschen, des Muskelkraftmenschen und der geistigen Natur, die ihrerseits in intellektuelle, religiös-kontemplative und ästhetische Spielarten unterteilt wird.
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Der Glaube an die (kantischen) Vernunftkategorien wie Zweck, Kausalität, Einheit u. dergl. ist für Nietzsche kein nebensächliches Problem, sondern die Ursache des Nihilismus schlechthin, da der Wert der Welt durch sie immer an Kategorien gemessen wurde, welche sich auf eine fingierte Welt bezogen (VIII 11 [99]).
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was er meinte — die von den Kommentatoren zur Explikation von Nietzsches Interpretationstheorie meistens herangezogenen Zitate entstammen einem in dieser Hinsicht äußerst heiklen Textcorpus. In den publizierten Schriften gibt es hier jedenfalls keine Ambiguitäten. Günter Figal (2001) hatte behauptet, ohne Text gäbe es keine Interpretation, denn Interpretation sei immer Interpretation von etwas. Er hat damit den heutigen Sprachgebrauch sowie gesunden Menschenverstand auf seiner Seite, nicht aber Nietzsche. Interpretieren ist bei Nietzsche weniger rezeptiver denn schöpferischer Vorgang, ausgelöst von Konstellationen des Leibes und von den diesen Konstellationen entsprechenden negativen oder positiven Folgen begleitet. Die Philologie und ihr Verhältnis von Text und Interpretation ist deshalb keine Metapher für das beständig auslegende Dasein; Philologie ist, nach Boeckh, das Erkennen des schon Erkannten — und, nach Nietzsche, das Schaffen von Möglichkeit des Erkennens. Figal soll darin Recht behalten, dass Interpretation ,etwas' interpretiert. Aber bei diesem ,etwas' geht es eben nicht um Texte. Etwas interpretieren heißt bei Nietzsche, etwas in die Welt zu setzen, welches das auszulegende Etwas erst konstruiert. Interpretieren heißt Ausdehnung und Überwältigung; es ist im Grunde zwar nicht syntaktisch, aber semantisch intransitiv. Es ist an dieser Stelle, also bezogen auf Domänen, die außerhalb des Zugriffs der Philologie liegen, dass Abels (1984) eingangs geschilderte Rekonstruktion der Interpretation als quasi-dichterischem Fundamentalvorgang ihre eigentliche Erklärungskraft entfaltet. Wie bereits in der Einleitung sei auch hier nochmals betont, dass Figal natürlich die aktive Rolle des Interpreten nicht verkennt. Aber er scheint die Konsequenzen dieser Behauptung begrenzen zu wollen. Auch Abel betont die Konstruktionsleistung der interpretierenden Instanz: „Im Interpretieren wird nicht eine objektiv seiende Welt wiedergegeben bzw. naturgetreu abgebildet, sondern eine Welt als die So-und-so-Welt nach Maßgabe der internen Funktionen des Interpretations-Schemas, aus dem man nicht heraustreten kann, allererst konstruiert." (1984:447) Selbst die Wahrnehmung ist nicht interesselos, sondern machtgeleitet und auswählend. Alles ist Interpretation. Dies gilt jedoch bei Nietzsche nur auf abstrakter Ebene für alles Organische. Die konkrete Methodenlehre philologischer Textexegese wird davon nur zum Teil erfasst, weil der ,Text' mitgedacht sein will. Abels Behauptung, dass in der Zirkularität des Interpretationsgeschehens die Unterscheidung von Text und Interpretation und damit Natur und Schein aufgehoben werde (182), lässt sich bei Nietzsche also nicht belegen. Nietzsche wendet sich als Philologe gegen die abendländische Universalmetapher der Lesbarkeit der Welt, der etwa Blumenberg (21989) so akribisch nachgespürt hat. Die Welt als Buch gibt zunächst das Grundmuster allegorischer Interpretation ab. Das Buch der Natur gehört zu den festen Topoi der Natursymboliker und speist sich letztlich aus mystischen und neuplatonischen Quellen; beliebt bei ihnen übrigens die Metapher der Hieroglyphenschrift (vgl.
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Sorensen, 1963:144ff), die ja auch bei Nietzsche auftaucht. Wäre die Welt ein Buch, so müsste es eine intentio auctoris geben, wenn auch nur als ästhetisch begründete integrierende Funktion - Gott, beispielsweise. Wie man für einen Text einen Redaktor annehmen muss, so muss man also einen Verfasser der Erscheinungen annehmen, der aus arbiträren, konventionellen Zeichen natürliche, ikonische Zeichen macht. Für einen Antiplatoniker ist dies natürlich unmöglich. Welterklärung ist deshalb schon aus diesem Grunde notwendigerweise Allegorese. Im Buch der Welt, das bereits als Text nicht existiert, lässt sich zu allem Überfluss auch nicht lesen. Übrig bleibt deshalb nur die Interpretation. Die einzigen intentiones, die sich in der Welt erahnen lassen, sind die Myriaden von Machtquanten, welche nur durch Leiber von einander abgegrenzt sind und ein völlig undurchschaubares Auf-und-Ab des Kampfes um die Herrschaft inszenieren. „Wer die Stelle eines Autors ,tiefer erklärt', als sie gemeint war, hat den Autor nicht erklärt, sondern v e r d u n k e l t . " Typischerweise würden die Metaphysiker so verfahren. Um „zum Texte der Natur" überhaupt ihre tiefen Erklärungen anbringen zu können, „richten sie sich häufig den Text erst daraufhin zu: das heisst, sie v e r d e r b e n ihn." (WS 14, 2:551 ff). Nietzsche führt auf diese Weise Lesen und genealogische Textkonstitution zusammen. Falschmünzerei beruht auf zwei Operationen, nämlich der wissentlichen oder unwissentlichen Fälschung des Tatbestandes (des Textes), welche wiederum vor allem durch Substitution der sensus und Anwendung des sensus allegoricus zustandekommt. Nietzsches vielzitierte Einsicht, „gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ,an sich' feststellen", bezieht sich deshalb eindeutig nicht auf Texte, freilich bereits auf den Leib des Auslegenden selbst. Schon das Subjekt des Interpreten sei Dichtung, Hypothese, Auslegung. Zwar sei die Welt durchaus erkennbar, aber nur in der Form unzähliger Sinne — das nämlich ist der Perspektivismus, der aus unseren Bedürfnissen und herrschsüchtigen Trieben stammt, welche eigentlich die Welt auslegen (VIII 7 [60]). So wie die Philologen dem Text viele Sinne zugestehen, die aber nicht etwa im Sinne der patristischen Hermeneutik hierarchisch geordnet sind, besteht die Welt aus (Affekt-)Interpretationen. Der Philologe kann der sensus im von ihm idealerweise selbst hergestellten Text noch Herr werden, in dem er sie ephektisch beschreibt und erklärt, also kommentiert. Außerhalb dieser Domäne schwingen sich die sensus selbst zu Herren auf und werden Interpretationen. Peter J. Brenner beendet seine ansonsten meisterhafte historische Darstellung des Problems der Interpretation mit einem Gemeinplatz, den ich hier zu widerlegen versucht habe. Als Nietzsche feststellte, dass es keine Tatsachen sondern nur Interpretationen gebe, habe er dem Universalitätsanspruch der Hermeneutik den Boden bereitet: „Textauslegung ist Weltauslegung; und das Verstehen von Welt vollzieht sich nach dem Modell der Hermeneutik." (Brenner, 1998:322) Das Gegenteil ist der Fall. Textauslegung ist im besten Fall, nämlich dann, wenn Text und entsprechende Begabung und Ausbildung zur Verfügung stehen, subtiles
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
philologisches Lesen, Weltauslegung dagegen ist Interpretation im Sinne der subtilitas applicandi; sie ist ferner Dichtung bzw. Auslegung, die notgedrungenerweise immer ,fälscht', weil ihr kein Text zur Verfügung steht293. Die Frage, die Birus (1984:380) sinnvollerweise gestellt hat, nämlich wie Nietzsches Selbstverständnis als Philologe mit seiner Auffassung des Interpretierens als Wille zur Macht zu vereinbaren sei, stellt sich demnach gar nicht. Wie eingangs bemerkt, erkennt Birus völlig richtig und bisher als einziger, dass sich Nietzsches Interpretationsbegriff gar nicht auf die Auslegung von Texten beziehe, sondern dass die schlechte Philologie nur auf die Erfahrung eines neukantianisch inspirierten Chaos von Sinneseindrücken verweise (381ff). Interpretation muss dort einen Sinn hineinlegen, wo noch keiner existiert, also wiederum nicht in Texte; leider entgeht ihm dabei, dass Interpretieren ganz allgemein im Gegensatz zum Lesen steht294. Birus' Erklärung von Nietzsches widersprüchlichen Aussagen zur Philologie als „Doppelgesichtigkeit" erweist sich nach Beachtung der Chronologie als überflüssig. Seine Entdeckung der Forderung nach einer Kunst der Auslegung bei Nietzsche bleibt zu unkonkret, denn diese Forderung findet sich wörtlich bei anderen Philologen von Wolf bis Boeckh. Anhand der interpretatorischen Praxis Nietzsches erläutert Birus dessen Verbindung von psychologischer Tiefeninterpretation und Endarvung von Sprachkonventionen. Nietzsches Auslegungskunst sei v.a. durch zunehmende Historisierung der psychologischen und grammatischen Interpretation (in Anlehnung an Schleiermacher!) gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Schleiermacher stehe deshalb nicht so sehr der synchrone Sprachstand des jeweiligen Verfassers im Mittelpunkt, sondern die Etymologie (393) und der Mensch als „ein Feld von historischen Brüchen und Verwerfungen" (394). Mit einem Ausblick auf Foucault schließt er an die Genealogie als Aufhebung des Gegensatzes an, erkennt sie freilich nicht als philologischen Begriff und — das ist gravierender — trennt bei der Betrachtung von Nietzsches Praxis nicht mehr zwischen Texten und Nichttexten. Das „Buch der Natur", so Blumenberg (2001:175f), erstreckt sich in seinem metaphorischen Gehalt auf Wörter, Silben und Buchstaben: Syntax und Formenlehre sind normalerweise darin nicht vorgesehen (worin sich übrigens sein allego-
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Selbst ein ausgezeichneter Nietzschekenner und Philologe wie Ernst Behler meint angesichts von Nietzsches Verstehensbegriff, dass dieser sich erst vollends manifestiere, „wenn Nietzsche die charakteristischen Auslegungs- und Interpretationstechniken — das unendliche Interpretieren, den Gebrauch der Masken, die Demaskierung oder die Aufdeckung von Fehlinterpretationen — auf die großen Themen seines philosophischen Nachdenkens anwendet." Nietzsche aber propagiert keine Auslegungstechniken in diesem Sinne. Seine Auslegungstheorie ist nicht positiv, sondern kritisch, seine Gedanken über Interpretation reine Diagnose. Was Behler beschreibt, bezieht sich auf das Lesen.
294
Birus (1984:384) hat daraufhingewiesen, dass aus den zum Wesen des Interpretierens gehörenden Attributen des Vergewaltigens usw. nicht folgt, dass sich das Interpretieren datin erschöpfe. Das ist zweifellos ein guter, wenn auch etwas haarspalterischer Gedanke. Denn selbst wenn es außer dem Vergewaltigen noch ,etwas' gäbe, würde dies dadurch entwertet und wäre mithin gleichgültig.
4.4. Asketisches Ideal: Lesen und Interpetieren
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risch-substituierender Charakter verrät). Bei Nietzsche erlebt diese Metapher bzw. Allegorie zunächst ihren eigentlichen Höhenflug. Ganz buchstäblich versucht er, den Text der Phänomene zu finden, dem er als Philologe am besten beikommen kann. Die Geschichte des Menschen als lesbare „Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins" (GM III. 11, 5:362) ist freilich in erster Linie Wunsch und Absichtsäußerung. Nietzsche fordert vom Buch der Natur nun aber auch Syntax, als Philologe spielt bei ihm die ,Grammatik' vielleicht die entscheidende Rolle. Wenn man tatsächlich einen Text schaffen möchte, reicht es nicht aus, Phänomene isoliert zu betrachten. Sie müssen unter Beachtung ihrer inneren Beziehungen zu einem neuen Ganzen zusammengefugt werden. Nietzsches erfährt es am eigenen Leibe: daran scheitert der Mensch. Logische bzw. semantische Βe^iehungen-an-sich kann er ebenso wenig erkennen wie Dinge-an-sich. Er legt deshalb Kausalität und ähnliche Kategorien in die Phänomene hinein, er interpretiert295. Außerhalb des vom Menschen Erzeugten ist Lachmanns und Ritschis recensere sine interpretatione in keinem Falle möglich, die Selbstauslegung des Menschen, des ,noch nicht festgestellte[n] Tierjs] ' (JGB 3.62, 5:81), eingeschlossen296. Die anfangs gestellte Frage, ob Nietzsches Interpretationstheorie als Texthermeneutik oder Fundamentalvorgang beschrieben werden muss, ist im Rahmen dieser Arbeit entschieden. Sowohl Birus wie Abel sollen Recht behalten, aber nicht über die jeweilige Domäne hinaus. Granier (1966), der schon wesentliche Einsichten Abels (1984) vorwegnahm, stellte fest, dass sich das Sein bei Nietzsche nur durch die Aktivität des Interpretierens erschließen lasse. Die Interpretation hänge mit dem Willen zur Macht zusammen, da Sein Wille zur Macht ist (z.B. S. 463). Es zeigt sich nun aber, dass Seinserschließung erstens gar kein Ziel von Nietzsches Denken ist, dass zweitens Interpretation nicht als Methode gleich der Philologie bzw. dem Lesen aufgefasst wird, sondern als unvermeidliches Übel bzw. auch als wertfrei zu betrachtendes Geschehen im Sinne 295
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Nietzsches in diesem Zusammenhang zentraler Begriff vom falschen Urteil bezieht sich augenscheinlich auf alle dogmatischen, nicht empirisch gewonnenen Meinungen, bis hin zu den „synthetischen Urtheile[n] a priori" Kants (JGB 1.4, 5:18). Immer wieder werden sie mit Vereinfachung, also Reduktion von (textueller, leiblicher, kosmischer) Komplexität assoziiert (vgl. z.B. J G B 2.24, 5:41) — eben jenem Aspekt der Zurechtmachung, der als schlechte Philologie und Psychologie (Divination) zur Grundlage der Interpretation wird (auch J G B 3.59, 5:78) — vgl. z.B.: „Die Deutschen haben sich einen Wagner zurecht gemacht, den sie verehren können: sie waren noch nie Psychologen, sie sind damit dankbar, dass sie missverstehn." (WA 5, 6:21 f) In Thomas Manns hintergründigem Nietzsche-Roman Doktor Faustus ist der Nietzschc prägende und quälende innere Konflikt von Kunst/Philosophie und Kritik/Philologie in zwei Personen aufgespalten, nämlich in den genialischen Musiker Adrian Leverkühn und seinen Biographen, den trockenen Philologen Serenus Zeitblom. Als Adrians schwärmerischer Vater beide Knaben in die Geheimnisse der Natur, ihrer Schrift, Zeichen und Chiffren einfuhren will, verweigert Serenus sich ihm geistig: „Schon damals aber, als Knabe, begriff ich sehr deutlich, daß die außerhumane Natur von Grund aus illiterat ist, was in meinen Augen eben gerade ihre Unheimlichkeit ausmacht." (1952:26). Eine unerhört hellsichtige Stelle, wenn man Thomas Mann hier nicht zuviel unterstellt. Der Redlichkeit halber sei erwähnt, dass ich meinen vermeintlich exklusiven Fund auch bei Blumenberg ( 2 1989:18) entdecken musste, wo die Stelle zum Trost nicht in Zusammenhang mit Nietzsche gebracht wird.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
Abels 297 , dass drittens die Lektüre als bewusst exegetisches Verfahren und als Erkenntnisweise die Interpretation in bestimmten Domänen ersetzen kann. Damit ist zwar einiges, aber gewiss noch nicht das Wichtigste erklärt. Wäre Nietzsche hier stehen geblieben, hätte er lediglich die ehrwürdige nominalistische und skeptische Tradition um eine neue Spielart bereichert. Das Zarathustra-ΉΙοΧΧ,ο vom Beginn der dritten Abhandlung ist noch immer so mysteriös wie zuvor, widerspricht es doch recht unverblümt dem Plädoyer des vorsichtig-ephektischen Lesens mit seinem tendenziellen Nihilismus des asketischen Ideals: „Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig - so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann." (GM III.l, 5:339). Es genügt nicht, dahinter nur ganz allgemein die naheliegende gegenseitige Ergänzung von Lektüre und Interpretation anzunehmen. Auflösen bzw. konkreter fassen lässt sich das Rätsel von Nietzsches Auslegungstheorie nur mit Rücksicht auf den Perspektivismus. In ihm ist Nietzsche einen Schritt weiter gegangen — auch im Fortdenken der philologischen Theorie.
4.5. Zum Perspektivismus Nietzsche, der er es liebte, die berühmte Frage des Pilatus rhetorisch immer wieder neu zu stellen, verwendet im Spätwerk auffällig häufig die Begriffe der Wahrheit und Wirklichkeit, auch wenn es um Domänen außerhalb schriftlicher Texte geht. Mangelnder Respekt vor Wahrheit, Wirklichkeit und Natürlichkeit wird Moralphilosophen oder Theologen periodisch vorgeworfen; das Hohelied auf Wissenschaft und wissenschaftliche Methode wurde bereits ausführlich thematisiert. Dabei kann man sich mit Recht fragen, warum sich der Skeptiker in diesen Dingen so sicher sein kann, woher Nietzsche z.B. weiß, dass es immer Starke und Schwache gibt und gegeben hat (so Sommer, 2000:536). Eine Antwort darauf könnte sein, dass Nietzsche dergleichen Erkenntnisse für empirisch abgesichert und verifizierbar hält, dass es, wie die hier vorgeschlagene Analyse des Genealogiebegriffs erlaubt, zumindest Ansätze zu einer Recensio im Text der kulturellen und moralischen Entwicklung gibt.
297
Wenn Blondel die Deutung bzw. Auslegung als strenge Exegese von der Interpretation als „commentaire plus ou moins libre, glose surajoutee infidele au texte" und die Philologie zudem als Ethos und Garant intellektueller Rechtschaffenheit bezeichnet (1986:149ff), so ist dieser Unterschied beschrieben. Freilich spielt das Erklären doch eine andere Rolle als Blondel annimmt, seine Differenzierungen von Erklären und Ausdeuten, von Auslegen und Interpretieren sind nicht wasserfest. Er verkennt, dass sich die Interpretation bei Nietzsche kaum auf Texte erstreckt und dass der Kommentar eher dem Lesen zuzuschlagen ist. Wie bei Granier muss man auch bei Blondel darauf bestehen, dass Nietzsche mit dem Interpretieren im Unterschied zum Lesen überhaupt keinen Ehrgeiz auf Erkenntnis verbindet. Erkenntnis ist fur das Interpretieren sekundär, da es ihr eher um Selbstentfaltung geht.
4.5. Zum Perspektivismus
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Andererseits hält Nietzsche gerade auch im Spätwerk Forderung nach Redlichkeit und Ansprüche an Wahrheit in Domänen aufrecht, in denen auch theoretisch jede empirische Sicherheit illusionär ist. Setzt Nietzsches ständige Anklage der Fälschung und Falschmünzerei nicht voraus, dass es — gleich von welcher Domäne die Rede ist — unverfälschte Phänomene, dass es Tatsachen gibt, die doch unabhängig von der Interpretation sind? Was ist Wahrheit? - gilt dies nicht auch für Nietzsches Behauptungen? Sind jenen Fiktionswelten, die durch die Interpretation erzeugt werden, nicht-fiktive, nicht-interpretierte Welten entgegengesetzt? Es gibt beim späten Nietzsche viele Stellen, die der Rhetorik seiner Interpretationsauffassung widersprechen und die bei Autoren wie Günter Abel zur bereits beschriebenen Unwilligkeit führten, sich überhaupt auf die wissenschaftsverherrlichende Diktion Nietzsches einzulassen298. Nietzsches berühmter Aufsatz Ueber Wahrheit und Uige im aussermoralischen Sinne plädiert, das ist unkontrovers und allgemein bekannt, für einen pragmatischen Wahrheitsbegriff. Wahrheit ist demnach keine irgendwie geartete Abbildung von Tatsachen gleich welcher Definition im Sinne der Korrespondenztheorie mehr, sondern Fiktion und bloßer Schein, ein unentbehrliches Instrument des Uberlebenskampfes. Weniger bekannt ist, dass Nietzsche schon kurz darauf die Gefahren eines derartigen Wahrheitsbegriffs erkannte, der seinen ideologischen Gegnern die stärkste Waffe in die Hand gab: C h r i s t e n - S k e p s i s . — Pilatus, mit seiner Frage: was ist Wahrheit!, wird jetzt gern als Advocat Christi eingeführt, um alles Erkannte und Erkennbare als Schein zu verdäch-
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Denis Thouard, der sich Abel explizit anschließt, hat dennoch stärker als dieser die Relevanz der Philologie betont und muss sich naturgemäß ebenfalls die Frage stellen, wie sich die Eloge auf die Philologie als „reduction de l'interpretation" mit dem Perspektivismus der unendlichen Interpretation vereinen lasse: welchen Platz gibt es hier noch für philologische Genauigkeit und Langsamkeit? Man müsse unterscheiden zwischen kritischer Anwendung (l'usage critique) der Philologie „pour dissoudre et denoncer des interpretations conscientes", den bewussten Interpretationen einerseits und dem interpretativen und wertsetzenden Charakter (le Statut interpretatif et evaluatif) allen Wissens, aller Dinge, allen Geschehens andererseits. Die Interpretation werde nicht deshalb als Gegenteil der Wahrheit denunziert, um durch etwas anderes ersetzt zu werden, das selbst wahr sei, sondern es sei im Gegenteil die Interpretation selbst, die Wahrheit schaffe. Die kritische Philologie „garde toute sa pertinence au niveau des representations conscientes" ohne irgendeinen Objektivismus zu implizieren. Interpretationen seien zu vernichten insofern sie ungerechtfertigte Idealisierungen darstellen, die das Spiel der Kräfte verdecken, das sie erst hervorgebracht hat. Sobald die Philologie freilich nach positiven Interpretationen trachte, anstatt diese nur zu dekonstruieren, werde sie in Nietzsches Augen wieder zur Metaphysik (Thouard, 2000:167). Die Ambiguität der Philologie bestehe darin, zugleich jene unerbittliche Askese zu sein, die sich auf die Form des Diskurses konzentriert und, gefangen in der Sprache (langage) und deshalb selbst der metaphysischen Grammatik unterworfen, dieselben Fehler zu wiederholen, die sie anprangert und bekämpft. Außerdem heißt es: „Le programme de la genealogie sera quelque Sorte de defaire ['interpretation usurpatrice ä l'origine des traditions: eile aura largement recours ä la critique philologique. Mais eile opposera ä la fausse interpretation une contre-interpretation symptomatologique, une semiotique enracinee dans le refus d'interpreter." (ebd.). Thouards ansonsten gut belegte Argumentation leidet an der Vermischung der Auslegungsdomänen sowie daran, dass er die Textherstellung als Zentralpunkt von Nietzsches Philologie nicht erkennt.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren tigen u n d auf d e m s c h a u e r l i c h e n H i n t e r g r u n d e des N i c h t s - w i s s e n - k ö n n e n s das K r e u z a u f z u r i c h t e n . ( V M 8, 2 : 3 8 3 f )
Nietzsche muss nach Menschliches, All^umensch liebes einen Ausweg finden, der einerseits mit seinem Jugendwerk vereinbar ist, der also nicht einfach zur Korrespondenztheorie zurückführt, und der dabei andererseits den Missbrauch des Pragmatismus verhindert299. In einem zu Unrecht wenig beachteten Buch hat Jean Granier bereits vor geraumer Zeit vorgeschlagen, dass Nietzsches Auffassung von Interpretation und Perspektivismus — Granier behandelt sie als Synonyme (1966:314) — dieser Mittelweg ist. Granier nennt es den Mittelweg zwischen Skeptizismus und Dogmatismus. Wenn das Sein immer schon interpretiertes Sein sei, werde jeder Glauben an ein Sein-an-sich ausgeschlossen, das unter Umgehung des Perspektivismus und der Phänomene erschlossen werden kann. Auf der anderen Seite werde aber auch dem Agnostizismus der Riegel vorgeschoben, für den alle Perspektiven gleichwertig sind. Die Lehre von der Interpretation garantiere die Notwendigkeit der Hierarchisierung von Perspektiven, die sich am Kriterium eines „pragmatisme vital" orientiert. Der große Vorteil von Nietzsches Konzeption bestehe mithin darin, dass der Mannigfaltigkeit der Tatsachen (pluralisme de fait) im Bewusstsein des Menschen Rechnung getragen werde, ohne den Unterschied zwischen einer „interpretation juste" und einer „interpretation inexaete" aufzuheben. Wahrheit sei für Nietzsche die Ebene der strengen philologischen Lektüre, wobei Granier nicht näher auf die konkrete zeitgenössische Philologie eingeht. Auf die Frage nach dem Ursprung von Nietzsches Interpretation der Interpretation findet Granier nicht zuletzt aus diesem Grund keine befriedigende Antwort. Nietzsches Interpretationsphilosophie sei am ehesten eine Art offene, experimentelle Metaphilosophie, die den Perspektivismus erklärt, ihm aber nicht entkomme: „il existe un type de savoir qui, tout en eclairant les structures de l'interpretation naive, reste, d'une certaine maniere, sous la dependance de la double loi du pluralisme et du perspectivisme." (Granier, 1966:603ff) Bei aller analytischen Schärfe Graniers leiden seine Thesen an einem Textbegriff, der Nietzsche nicht gerecht wird. So glaubt er, dass Nietzsches Berufung auf den Text eine Berufung auf objektive Tatsachen sei, obwohl er die Definition des Seins als Text nicht für völlig unproblematisch hält: „L'Etre est semblable ä un texte dont nous aurions a tenter l'exegese, et cette täche est compliquee par le fait que le texte est obscur, parfois lacunaire, que plusieurs ,lectures' en sont possibles et que, meme, certains fragments n'en n'ont pas encore ete dechiffres." (316). Granier erkennt das Sein durchaus als kulturelles Artefakt an, das aus historischen Interpretationen zusammengefügt ist. Ihm bleibt indes verborgen, dass der Text eben keine Metapher des Seins, sondern nur Ideal der Auslegung ist. 299
Schon in Menschliches, All^umenschliches wird mit dem reinen Pragmatismus gebrochen. Die freien Geister, und das macht sie den gebundenen Geistern suspekt, binden ihren Begriff der Wahrheit eben nicht an den persönlichen Nutzen (ΜΑ 1.2.38, 2:61; ΜΑ 1.5.227, 2:191).
4.5. Zum Perspektivismus
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Gravierender ist das Problem des Interpretationsbegriffs selbst. Granier muss zugeben, dass Interpretieren bei Nietzsche eben nicht die geduldige Arbeit des Philologen bedeutet, sondern Eroberung, Äußerung des Lebenswillens und der vitalsten Instinkte des Willens zur Macht: Text und Tatbestand werden von der Interpretation erst erzeugt (318ff). In der Konfrontation mit der guten Philologie entdeckt Granier deshalb eine Antinomie zwischen dem „phenomenalisme perspectiviste integral·', der die Vorstellung des Textes selbst in Frage stellt, und Nietzsches Konzept der Philologie, das gefährlich nahe am Dogmatismus (!) laviere. Die Intuition vom Sein als interpretiertem Sein überwinde es durch die Überzeugung, dass derselbe Text mehrere Auslegungen zulasse und es keine richtige Auslegung gebe: Philologie helfe lediglich dabei, Fehler zu eliminieren und erlöse nicht vom Imperativ, selbst das Sein befragen und Interpretationen wagen zu müssen (320326). Granier widerspricht sich freilich selbst, wenn er Nietzsches strenge Philologie als „Interpretation animee par le respect absolu du ,texte'" bezeichnet (464) und sie lediglich auf die genaue Entzifferung des Textes, weniger dessen Herstellung bezieht. Es heißt weiter: „c'est le texte qui garantit le sens et non le sens qui est plaque sur le texte." (504) — eine unbestreitbar richtige Beobachtung. Auch das Gegenteil, nämlich die „interpretations deliberement tendancieuses", die zur „injustice" gegenüber dem Text führen (ebd.), lassen sich für Nietzsche bekräftigen. Aber beides lässt sich eben nicht unter den Interpretationsbegriff subsumieren. In diesem Rahmen allein lässt sich die Antinomie von Skeptizismus und Dogmatismus nicht lösen. Ganz anders wird Nietzsches Wahrheitsbegriff in der einflussreichen Studie von Maudemarie Clark (1990) behandelt, in der manche Traditionen der angelsächsischen Nietzscherezeption synthetisiert werden und die trotz einiger Fragwürdigkeiten300 bedenkenswerte Anstöße liefert. Clark arbeitet bei Nietzsche eine chronologische Entwicklung des Wahrheitsbegriffs heraus. Auf die Frühphase, in der noch das Apriori unseres Erkenntnisapparates die Realität falsifiziere, folge die Ablehnung des Dinges-an-sich, die mit der Haltung einhergehe, dass gar nichts gewusst werden könne und alles nur Schein sei. Diese Auffassung werde vom reifen Perspektivismus ersetzt, da sich Wissen nun nicht mehr auf Repräsentation aufbaut. Erkenntnis sei jetzt, wenn auch eingeschränkt, wieder möglich, allerdings nicht als Erkenntnis einer wahren Welt. Ab der Genealogie der Moral lasse sich somit eine Art neokantianischer Wahrheitsbegriff diagnostmeren. Wichtig ist Clarks Betonung des deutlichen Unterschieds von Früh- und Spätwerk sowie ihre Beobachtung, dass sich in den sechs letzten von Nietzsche selbst publizierten Werken „an uniform and unambiguous respect for facts, the senses, and science" feststellen lasse (1990:105). Ihr eigentlich neuer Beitrag zur Debatte liegt dabei nicht so sehr darin, dass der Perspektivismus das Ding an sich ausschließt - so300
So kann von Quellenkenntnis keine Rede sein; zum Teil sind auch Zweifel an Clarks Deutschkenntnissen angebracht. Ihre Erklärung des Perspektivismus wird von einer naiven Auffassung der Metapher als Analogie getrübt.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
weit herrscht Einigkeit —, sondern darin, dass er nicht unbedingt die von ihr so genannte „falsification thesis" aus der Zeit von Ueber Wahrheit und Lüge impliziere, also die These, dass unser Erkenntnisapparat die Wirklichkeit verzerre. Im Gegenteil werde dieser Auffassung durch den Perspektivismus die Basis entzogen. Clark widerspricht der verbreiteten Meinung, wonach die Unvergleichbarkeit von Perspektiven bedeute, dass der menschliche Erkenntnisapparat die Wirklichkeit bzw. Wahrheit verzerre, weil Wahrheit immer nur relativ zu einer bestimmten Perspektive bestehe. Dies hieße Nietzsche zu trivialisieren: er müsste seine eigenen Meinungen etwa über Moralität dann auch nur als wahr aus seiner Perspektive halten, was angesichts der vielen Beispiele, in denen Nietzsche andere Meinungen als falsch kritisiere, wenig überzeugend sei. Für die Beantwortung der Frage, ob manche Perspektiven anderen relativ überlegen sein können, benötige man jedoch kein Ding an sich mehr, sondern lediglich „standards of rational acceptability". Damit werde nicht die Kommensurabilität aller Perspektiven verlangt, sondern lediglich an die Überzeugungskraft von Rationalitätskriterien appelliert. Nietzsche kann seine Perspektive als wertvoller, da intellektuell höherwertig empfinden (Clark, 1990, bes. S. 138-141ff). Clarks auf den ersten Blick elegante Erklärung beinhaltet jedoch zwei Voraussetzungen, die sich mit Nietzsche schlecht vereinen lassen. Zunächst fordert die scheinbare Universallösung der Rationalitätskriterien den Einwand heraus, dass dadurch ein bei Nietzsche entscheidender Gesichtspunkt vernachlässigt wird: Überzeugung kommt, das wusste schon die antike Rhetorik, nie allein durch rationalen Diskurs zustande. Das Bestehen auf der Richtigkeit seiner eigenen Perspektive hat in diesem Zusammenhang wenig zu sagen. Außerdem geben nicht unbedingt die rationalen Kriterien den Ausschlag, ob das triebgesteuerte Wesen Mensch eine bestimmte Perspektive wählt oder nicht. Im Gegenteil: indem Clark die Gerichtetheit und Motiviertheit der Perspektivmetapher vernachlässigt, beschneidet sie sie um ihre wesentliche Komponente. Die Rationalitätskriterien sollen wohl eine Hintertür zur interesselosen Erkenntnis öffnen — die Nietzsche-Lesem freilich verbaut ist, da ihre Möglichkeit ausdrücklich und oft, wie übrigens auch das kantianisch inspirierte interesselose Wohlgefallen, von Nietzsche verneint wird. Ausgerechnet anhand desjenigen Abschnitts aus der Genealogie der Moral, der daran keinen Zweifel lässt (GM III. 12, 5:363ff), versucht Clark, den Perspektivismus in diesem Sinn zu entschärfen. Ihre Argumentation hängt von dem Gegensatz der Begriffe „seeing" und „knowing" (1990:128) ab, wobei „knowing" offensichtlich unabhängig von perspektivischen Eigenschaften sein soll. Im Original steht indes nicht „knowing", also z.B. „wissen", sondern „erkennen", ein Wort, das im Englischen auch Bestandteile von ,perceive' und ,recognize' enthält, also ganz und gar an der von Clark geleugneten optischen Metaphorik teilhat301. 301
Diese Praxis muss angeprangert werden, denn Clark behauptet nicht nur, den deutschen Text benutzt zu haben, sondern sogar die „excellent translations" an einigen Stellen selbst korrigiert
4.5. Zum Perspektivismus
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Damit fällt Clarks Beweisführung in sich zusammen: es gibt bei Nietzsche kein vom ,Sehen' unabhängiges ,Wissen'; dies wäre, wie es im Text ausdrücklich heißt, „ein Unbegnff und Widersinn" (GM III. 12, 5:364). Ein ebenso ernstes Problem ist Clarks Bestehen auf dem analytischen Gegensatz von wahr und falsch. Bei Nietzsche jedenfalls gibt es hier keinen Gegensatz: „Die Begriffe ,wahr' und ,unwahr' haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn." (WA Epilog, 6:51) Wenn Nietzsche Interpretationen oder Perspektiven als falsch kritisiert, impliziert dies nicht die Behauptung, dass es die eine richtige gäbe, die Nietzsche vielleicht sogar selbst besäße. In dem so oft verkürzt zitierten Brief an Carl Fuchs vom 26. August 1888 heißt es aus der Sicht des „alten Philologen": „Was ,unrichtig' ist, läßt sich in der That in zahllosen Fällen bestimmen; was richtig ist, fast nie [...] daß es überhaupt eine richtige d.h. Eine richtige Auslegung giebt, scheint mir psychologisch und erfahrungsmäßig falsch." (III.5, 399ff) Der Philologe als Experte der Auslegung erstellt nicht etwa die einzig wahre Interpretation eines Textes oder einer Sache, seine Aufgabe liegt vielmehr darin, die falschen Interpretationen als solche kenntlich zu machen. „Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es giebt keine ,richtige' Auslegung." (VIII 1 [120]). Das Gleichnis von der Musikinterpretation, um das es in dem Brief an den Musiker Fuchs vorrangig geht, zeigt nicht nur, wie Nietzsche die Philologie auf andere Gebiete überträgt, sondern macht deutlich, wie die Ablehnung des Gegensatzes zu verstehen ist. Man kann leicht nachweisen, dass beispielsweise eine Note falsch oder gar nicht gespielt worden ist; zu behaupten, dass die Noten ,richtig', oder gar auf die einzig richtige Weise gespielt worden sind, ergibt keinen Sinn. Entweder spielt man eine Note, oder man spielt sie falsch. Beim Spielen selbst gibt es naturgemäß jenen Spielraum, den der geübte Interpret in der Auslegung nutzt, solange der Text — das Notenbild — stimmt: „Der Gegensatz ist nicht ,falsch' und ,wahr', sondern ,Abkürzungen der Zeichen' im Gegensatz zu den Zeichen selber" (VIII 1 [28]). In der konkreten Aufführung bewährt sich der Musiker oder Philologe durch die individuelle Behandlung des Spielraums302. Gewiss kann Volker Gerhardt (1989) mit guten Argumenten aufwarten, wenn er Nietzsches Perspektivismus wenig revolutionär und bei Kant, ja in der Antike und im mittelalterlichen Nominalismus vorgeprägt findet. In Verlängerung der optischen Metaphorik bezeichnet er den Perspektivismus selbst als Perspektive, die streng genommen nicht wahrheitsfähig oder begrifflich zu klären sei, es sei denn mit Hilfe der Metaphysik, die Nietzsche demnach mitnichten überwunden habe. Dies sei jedoch nicht weiter tragisch, denn Nietzsche gehe es vor allem um zu haben (1990:xii). Ihre Entscheidung, ganz auf die Einbeziehung des (bekanntlich nicht in Gänze übersetzten) Nachlasses zu verzichten, erscheint nun in neuem Licht. „Le virtuose imprime ä l'oeuvre son style propre, c'est-ä-dire sa maniere inimitable de la comprendre et de l'executer." (Granier, 1966:315). Auch dem mit Quellen arbeitenden Historiker wird von Granier zugestanden „une initiative creatrice de la part de celui qui interprete, initiative creatrice qui n'est pas le signe d'une attention distraite, de la desinvolture ou du dilettantisme, mais est requise par la nature meme du ,texte'." (ebd.)
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
die Abwehr dogmatischer Behauptungen. Der Perspektivismus sei letztlich die menschliche, die anthropologische Perspektive schlechthin, nämlich als Selbstauslegung des Menschen in seiner Welt: dass verschiedene Subjekte mit unterschiedlichen Positionen und Interessen zu verschiedenen Perspektiven kommen, sei nur billig. Obwohl all dem also nicht grundsätzlich zu widersprechen ist, reicht es dennoch nicht aus, den Perspektivismus dergestalt als Metamorphose einer herkömmlichen relativistischen Weltsicht aufzustellen, damit sie um so leichter abgetan werden kann. Perspektivismus bedeutet für Nietzsche nämlich, und hier unterscheidet er sich von der Tradition, eine spezifische Analyse der Auslegung, die versucht, aus der Not der Interpretation noch eine Tugend zu machen. Die Nähe des Perspektivismus zur Philologie, die aus Nietzsches oben zitiertem Brief spricht, ist kein Zufall. Der Perspektivismus ist letztlich die konsequenteste Weiterentwicklung jener philologischen Denkmuster, die Nietzsche seit seiner Schulund Studienzeit geprägt haben. Das Abwägen verschiedener Gesichtspunkte, das Befragen eines Textes unter den mannigfaltigsten Aspekten gehört zum täglichen Brot des Philologen, sei er nun eher an kritischen oder eher an hermeneutischen Fragen interessiert. Es kennzeichnet im besonderen Maße das philologische Lesett. In seiner Vorlesung zur Enzyklopädie definierte Nietzsche es so: „Ewige Correktur durch neues Betrachten, Vergleichen! Allmähliches Erweitern, bei sicher werdendem Gefühl und Urtheil!" (KGW 11.3:405) In der kritischen Auseinandersetzung mit der philologischen Gelehrsamkeit tritt die optische Metaphorik des Perspektivismus außerhalb der Philologica bei Nietzsche zum ersten Mal auf. Er wurzelt in der philologischen Detailanalyse, die sich einem komplexen Gegenstand durch die Aufspaltung in verschiedene Gesichtspunkte und (implizit) Sehwinkel nähert: Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem andern, so rückt er den ganzen Seh-Apparat nach jenem Punkte hin. Er zerlegt das Bild in lauter Flecke, wie einer, der das Opernglas anwendet, um die Bühne zu sehen und jetzt bald einen Kopf, bald ein Stück Kleid, aber nichts Ganzes in's Auge fasst. (SE 6, 1:396)
Der Ton ist ganz anders schattiert als in der llncyclopädie. Gerade weil perspektivisches Arbeiten zur Grundausstattung des Philologen gehört, lässt sich mit der Abrechnung hier gut beginnen. Nietzsches Vorwurf besteht in der bekannten Klage, dass der Philologe über dem Detail die Gesamtschau und die Motivation vergesse, die ihn überhaupt erst zur Beschäftigung mit dem Text oder Material geführt hatte. Schließlich beurteile er das Ganze nur noch nach den einzelnen Stellen und Fehlern, nicht mehr nach dem inneren Zusammenhang. Auf dem eigentlichen Gebiet des Philologen, dem Text, ist diese Fehlentwicklung leicht zu beheben. Die perspektivierende Lektüre muss deshalb nicht aufgegeben werden; im Gegenteil, sie muss sich lediglich von Zeit zu Zeit gleichsam selbst aus der
4.5. Zum Perspektivismus
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Distanz betrachten lassen, wie Nietzsche es u.a. in der Tragödienschrift versucht hat303. Der Perspektivismus wird aber in dem Moment erstrebenswert, ja zur einzigen Möglichkeit, an der .Methode' festzuhalten, wenn es ohnehin keine Chance gibt, das Ganze zu überblicken. Was Nietzsche bei den Philologen einst rügte, erhebt er nun zur Tugend, weil es angesichts der Komplexität textferner Domänen die einzige redliche Alternative in der Wahrnehmung ihrer Phänomene darstellt. Der Perspektivismus ist deshalb vor allem auf die Erklärung außertextlicher Phänomene gemünzt. Er ist, und diese Erkenntnis setzt bei Nietzsche spätestens mit der Morgenröthe ein, Modus des Gefangenseins in notwendigerweise immer unvollkommenen Sinneseindrücken, deren spärlichen Daten wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind: I m G e f ä n g n i s s . — Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Verhängniss, dem ich nicht endaufen kann. Um jedes Wesen legt sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunct hat und der ihm eigenthümlich ist. Ähnlich schliesst uns das Ohr in einen kleinen Raum ein, ähnlich das Getast. [...] Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfindung eingesponnen: diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und „Erkenntnisse", - es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die w i r k l i c h e Welt! (M 2.117, 3:110).
Deshalb aber soll man keinesfalls auf die Sinne verzichten, denn die wirkliche Welt existiert für Nietzsche so wenig wie das Ding an sich. Der Perspektivismus ist angesichts des Dogmatismus, der gefährliche, lebensverneinende Prinzipien durchzusetzen vermag, das kleinere Übel. In einer ohnehin nicht erklärbaren Welt schützt er wenigstens vor dem Glauben, die christlich-platonische Hinterwelt bzw. die ihr korrespondierenden Ideen tatsächlich erkennen zu können. Die „Forscher und Versucher" sehen, ähnlich dem Philologen im Verhältnis zum Text, aus möglichst vielen Perspektiven auf ihren Gegenstand: Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald böse, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und Kälte nacheinander für sie haben. Dieser redet mit den Dingen als Polizist, Jener als Beichtvater, ein dritter als Wanderer und Neugieriger. Bald mit Sympathie, bald mit Vergewaltigung wird man ihnen Etwas abdringen; Einen fuhrt Ehrfurcht vor ihren Geheimnissen vorwärts und zur Einsicht; Einen wiederum Indiscretion und Schelmerei in der Erklärung von Geheimnissen. Wir Forscher sind wie alle Eroberer, Entdecker, Schiffahrer, Abenteurer von einer verwegenen Moralität und müssen es uns gefallen lassen, im Ganzen für böse zu gelten. (M 5.432, 3:266)
Aus dem Vergleich verschiedener Perspektiven — aus der Recensio — erwächst ein Text, der es dem Berufenen nun gestattet, sogar in jenen Domänen redlich zu 303
In den frühen Aufzeichnungen verwendet Nietzsche auch das optische Gleichnis vom Betrachten eines Gemäldes. Es sei dem ästhetischen Genuss abträglich, wenn das Gemälde nur noch aus allernächster Nähe betrachtet werde (vgl. BAW Bd. 5:270ff).
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
walten, in denen allein die Interpretation das Sagen hat — als eine ,Lektüre' im Reich der verschiedenen Interpretationen. Nietzsche verbindet hier die Reisemetaphorik des guten Lesens und das philologische Motiv der „Sympathie" (d.h. dem Nachempfinden) mit dem Vergewaltigen durch die Interpretation' des Plünderers. Daraus erwächst ein Hybrid, der weder allzu passiver Leser oder Spaziergänger noch allzu draufgängerischer Landsknecht, sondern eine Art Expeditionsleiter ist, der Mitarbeiter aus verschiedenen Disziplinen kommandiert. Das militärische Bild ist mit Bedacht gewählt, denn es stammt von Nietzsche selbst. Ausgerechnet in seiner Musterabhandlung zur Kunst der Auslegung wird der Perspektivismus als Interpretationsweise gefeiert, die durch gleichsam militärische Zucht der eigenen Affekte und Triebe — und das sind ja die Perspektiven — entsteht: dergestalt e i n m a l a n d e r s sehn, a n d e r s - s e h n - w o l l e n ist k e i n e k l e i n e Z u c h t u n d V o r b e reitung des Intellekts z u seiner einstmaligen „ O b j e k t i v i t ä t " , — [...] als das V e r m ö g e n , sein F ü r u n d W i d e r i n d e r G e w a l t z u h a b e n u n d a u s - u n d e i n z u h ä n g e n : so dass m a n sich g e r a d e die V e r s c h i e d e n h e i t der P e r s p e k t i v e n und AffektI n t e r p r e t a t i o n e n für die E r k e n n t n i s s n u t z b a r z u m a c h e n w e i s s . ( G M III.12, 3 6 4 f ) .
Jetzt erst wird die geheime Verbindung dieser Auslegungstheorie zum vorangestellten Motto deutlich, das hier wiederholt sei: „Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig — so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann." (GM III.l, 5:339). An der entsprechenden Stelle im Zarathustra wird das Wort ,uns' nicht hervorgehoben (Za I Vom Lesen und Schreiben, 4:49) — in der Genealogie hebt Nietzsche den Appell an die ausgewählten Leser hervor. Manche Erkenntnisse lassen sich nur über ,kriegerische' Handlungen gewinnen; besonders außerhalb von Texten. Der wahre Erkennende muss, um Rechtschaffenheit zu wahren, über ein Heer von Kriegern, über eine Division von Affektinterpretationen verfügen, was freilich einen Heerführer voraussetzt, der sich selbst und seine Affekte in der Gewalt hat — der Typus Cäsar ist Nietzsches Allegorie dafür304. Ein Krieger muss sich in der Gewalt haben, um Gehorsam sich und anderen gegenüber praktizieren zu können. Es darf hinzugefügt werden, dass bei Nietzsche ausgerechnet die Redlichkeit zu den positiven Eigenschaften des Kriegers gehört (Za I Vom Krieg und Kriegsvolke, 4:58ff)305. Zugleich behält sich Nietzsche auch auf philologischem Gebiet das Vorrecht offen, nach Belieben zu interpretieren, absichtlich Autoren so zu lesen, wie es den eigenen Zwecken dient. Wenn Nietzsche betont: „so will uns die Weisheit", dann deutet er an, dass dieses Vorrecht nicht allen, sondern nur den Schaffenden 304
305
„wenn man hier unter den ,Tyrannen' unerbittliche und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern - schönster Typus Julius Cäsar [...]" (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, 6:140). Lob der Wissenschaftlichkeit verbindet sich häufig mit dem Lob ihrer soldatischen Tugend (FW 4.293, 3:533). Im Zarathustra-Motto geht es natürlich um „Weisheit", nicht um „Wahrheit": Weisheit ist ein weniger zweideutiger Begriff, gewissermaßen Erkenntnis, die ihren fragwürdigen Charakter reflektiert hat bzw. Wahrheit, die sich Gedanken über ihren Wert gemacht hat.
4.5. Zum Perspektivismus
221
zusteht. Wenn Nietzsche für sich nur gute Leser fordert, heißt das nicht, dass er selber immer ein solcher sein muss. Im Gegenteil: wäre er seinerseits in jedem Falle der passiv-empfangende Teil, hätte er gar keine guten Leser verdient. Seine ,kriegerische' Aneignung anderer, seine bekannten fruchtbaren Fehldeutungen machten ihn ja erst eigenständig und damit interessant. Der freie Geist, das souveräne Individuum, hat es eben in der Macht, selbst zu bestimmen, wann es liest und wann es interpretiert. Es darf Ansprüche stellen, ohne ihnen notwendigerweise selbst immer zu genügen. Souveränität bedeutet, frei über die eigenen Leseund Interpretations Strategien zu verfügen. Im kleinen Wörtchen „uns" steckt letztlich eine alte lateinische Schulweisheit: quod licet Jovi, no licet bovi. Das Zarathustra-Motto über der dritten Abhandlung zur Genealogie der Moral dient somit vor allem der Versicherung gegen die nihilistischen Gefahren des Skeptizismus, die im guten Lesen stecken, das die Vorrede einfordert und von dem Nietzsche sich kraft seiner Souveränität ausnimmt. Auch der Skeptizismus muss Instrument bleiben; wer sich ihm asketisch ausliefert, hat bereits verloren. Es ist zwar nicht mehr nachweisbar, aber vieles spricht dafür, dass Nietzsche bewusst offenließ, worauf sich der „Commentar" der dritten Abhandlung zur Genealogie der Moral bezog — weil er auf beide ^Aphorismen' zugleich hinweist und auf diese Weise elegant durch Skylla und Charybdis von Skeptizismus und Dogmatismus hindurchnavigiert. Das Motto hat demzufolge sehr wohl mit dem Inhalt dieser Abhandlung zu tun. Ohne die Erinnerung an die Intentionalität der menschlichen Perspektivik geriete sie in den Geruch interesseloser Naivität. Mit dem Motto entsteht eine Ambivalenz, die bis heute ihre eigenen Leser selegiert. Da außerhalb von Texten das Lesen nicht möglich ist, werden dessen aus methodischer Sicht wesentliche Komponenten, nämlich ewiger Vergleich und Ephexis, in die Strategie des Perspektivismus gerettet — ohne zugleich die Interpretation zu leugnen, da jeder Kommentar, sobald er sein Ende erreicht, zur Interpretation wird. Nietzsche reklamiert für sich selbst „jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des ,Um-dieEcke-sehns'" im selben Atemzug wie die Macht, seine eigenen Perspektiven umstellen, d.h. austauschen zu können: er selbst kann also zwischen Perspektiven wechseln und ist folglich ein guter ,Leser' auch dann, wenn er sich nicht philologisch betätigt (EH Warum ich so weise bin 1. 6:265f). Die Mischung aus Interpretation und Skepsis ergibt zwar eine Aneignung, aber weniger in der Form einer kruden Vergewaltigung als in der wechselseitigen Verführung von ,Text' und Exeget. Schon in Menschliches, All^umenschliches geht Nietzsche auf große Distanz zur Trennung von Ding an sich und Erscheinung, da sie zu statisch sei und das ständige Werden sowie den Umstand, dass die äußere Mannigfaltigkeit der Welt v.a. der Geschichte ihrer Deutung zu schulden ist, übersehe. Erst die strenge Wissenschaft werde als Entstehungsgeschichte des Denkens erkennen lassen, dass die Welt „Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien" ist, der als „Schatz
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
der ganzen Vergangenheit" auf uns gekommen ist. Freilich scheinen diese Irrtümer noch immer lebensnotwendig zu sein - die Wissenschaft darf allenfalls schrittweise ihre Scheinhaftigkeit enthüllen (ΜΑ 1.16, 2:36ff). Dieser Auffassung bleibt Nietzsche lange Zeit, mindestens aber bis Mitte der achtziger Jahre verhaftet. Die Scheinhaftigkeit alles Erkennbaren schließt die Erkenntnis selbst aber nicht aus. Denn obwohl die Menschen „lebendige Spiegelbilder" sind, die ihre Gesetze in die Welt hineinsehen, ohne sie anders fassen zu können, „als die Folge dieser Welt" auf sie (V 6[441]), unterscheiden sie sich gleichsam durch die Anzahl der aufgestellten Spiegel: „Nur durch die V e r g l e i c h u n g v i e l e r S c h e i n e entsteht Wahrscheinlichkeit, also Grade des Scheins." (ebd.). Grade des Scheins, durch Vergleich erzeugte Wahrscheinlichkeit: das ist die Essenz des durch ,Philologie' kontrollierten Perspektivismus — „Aufgabe: die D i n g e sehen, w i e sie sind! Mittel: aus hundert Augen auf sie sehen können, aus v i e l e n Personen!" (V 11 [65])306. Es ist Nietzsche „hundertäugiger Argos", der hier beschrieben wird, der Beherrscher der Kunst des Reisens (VM 223, 2:477f; vgl. Kap. 4.1.). So erklärt sich auch, warum im Anschluss daran und spätestens mit der Fröhlichen Wissenschaft, eine neue Analyse der conditio humana entstehen kann. Lange Zeit, so schreibt Nietzsche hier, habe es im Reich der Erkenntnis nur Irrtümer gegeben, weil ihre Nützlichkeit und arterhaltende Wirkung zu groß gewesen sei, um auf sie zu verzichten. Wahr und unwahr bezeichneten jeweils das Alter der einverleibten, unangezweifelten „Grundirrthümer", also Dogmen, die genauso gut Grundwahrheiten heißen könnten307. Wenn es dennoch zum Konflikt zwischen Leben und Erkennen kam, wurde dem Leben immer der Vorrang eingeräumt und der Zweifel als Tollheit gebrandmarkt — darauf verweist nicht zuletzt die berühmte Fabel vom tollen Menschen am Ende der Fröhlichen Wissenschaft (FW 3.125, 3:480ff). Eine neue Qualität entsteht erst mit der feineren Entwicklung von Redlichkeit und Skepsis, und zwar in genau dem Augenblick, da zwei verschiedene Auffassungen auf das Leben passten, d.h. mit den Grundauffassungen in Ubereinstimmung zu bringen waren. Ab jetzt lässt sich über den Grad des 306
Man vergleiche schon F.A. Wolfs Beschreibung der philologischen Technik: „Um zu conjecturiren, dazu gehört Naturanlage und Fertigkeit. Er muss die genaueste Sprachkenntniss haben, muss den allgemeinen und besondern usus loquendi kennen und er muss alle Mittel der Hermeneutik versucht haben. [...] Das Conjecturiren kann oft auf den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit getrieben werden; es ist keine Träumerei und kein Spiel. Die Grade der Wahrscheinlichkeit sind verschieden. Der sich damit abgiebt, muss die Vorkenntnisse haben, als Alles, was die Hermeneutik auflegt, und folgende Eigenschaften des Gemüths: die kälteste, ruhigste Prüfung aller der Möglichkeiten, die bei einer Stelle eintreten könnten, und dabei ein Feuer, das darauf lossteuert, was das Wahrscheinlichste ist, eine Menge gelehrter Kenntnisse, Leetüre in Schriftstellern der nemlichen und der verschiedenen Art, eine heitere reine Seele." (Wolf 1831:325f)
307
„Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich" — „Unsere Welt als S c h e i n , I r r t h u m — aber wie ist Schein und Irrthum möglich? (Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrthum, sondern die Stellung gewisser Irrthümer zu anderen Irrthümern, etwa daß sie älter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne sie nicht zu leben wissen und dergleichen.)" (VII 34[247])
4.5. Zum Perspektivismus
223
Nutzens streiten und stoßen Erkenntnisse und alte Grundirrtümer aufeinander, am heftigsten im „Denker" selbst: hier stellt sich die Frage nach den Bedingungen des Lebens. Der Ausgang dieses Kampfes sei entscheidend, nicht zuletzt als Antwort auf die Frage, inwieweit die Wahrheit die Einverleibung in das Leben vertrage; Nietzsche behauptet, experimentell den ersten Versuch zu unternehmen (FW 3.110, 3:469f)308. Wahrheit in diesem Sinne bedeutet nicht Wahrheit im Sinne einer Korrespondenztheorie und auch nicht rein pragmatische Wahrheit, sondern neue Erkenntnis, die sich gegen alte Überzeugungen durchsetzen will. Erkenntnisse sind Mittel, um alte Dogmen abzulösen. Das gibt ihnen epistemologisch keinen höheren Status, da sie ja ihrerseits wieder zu Dogmen gerinnen, deren Zeit einst ablaufen wird. Sie haben nur solange Vorrang, wie sie sich empirisch nachweisbar als Kräfte erweisen, die dem Leben, d.h. der Entfaltung und Erhöhung des Lebens dienlich sind. Wenn dies aber der Fall ist, und das ist der entscheidende und meist übersehene Argumentationsschritt, müssen die neuen Erkenntnisse der jeweils historisch bedingten ,Wirklichkeit' doch näher sein als die bereits einverleibten Wahrheiten. Sie entsprechen der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen im konkreten Moment der Entwicklung ein wenig mehr und sind deshalb für die Erklärung temporär angemessener. Zu Irrtümern werden sie dann wiederum im historischen Prozess. Nietzsches Hauptinteresse gilt dabei nicht dieser temporären Wahrheit an sich, sondern ihrem Wert. „Wahrheit ist die Art v o n I r r t h u m , ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet zuletzt." (VII 34[253]) Jede Interpretation ist deshalb auf ihre Weise gleich richtig und gleich falsch, historisch aber von unterschiedlichem Wert und damit Erkenntnisstand. Es gibt keine Wahrheit, weil es keinen ,Text' gibt. Aber je gründlicher und sensibler die Beobachtungen sind, desto besser umschreiben sie die Welt, die den Menschen etwas angeht. Die Qualität der Beobachtung wiederum hängt von der Zahl der Perspektiven ab: D a ß der W e r t h d e r W e l t in u n s e r e r Interpretation liegt ( - d a ß vielleicht i r g e n d w o n o c h a n d e r e I n t e r p r e t a t i o n e n m ö g l i c h sind als bloß m e n s c h l i c h e - ) d a ß die bisherigen I n t e r p r e t a t i o n e n p e r s p e k t i v i s c h e S c h ä t z u n g e n sind, v e r m ö g e d e r e n w i r u n s i m L e b e n , d a s heißt i m W i l l e n z u r M a c h t , z u m W a c h s t h u m der M a c h t erhalten, d a ß jede E r h ö h u n g d e s M e n s c h e n die U b e r w i n d u n g e n g e r e r I n t e r p r e t a t i o n e n m i t sich bringt, d a ß jede erreichte V e r s t ä r k u n g u n d M a c h t e r w e i t e r u n g n e u e P e r s p e k t i v e n a u f t h u t u n d
308
„Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängen geblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von ,Ding an sich' und Erscheinung: denn wir ,erkennen' bei weitem nicht genug, um auch nur so s c h e i d e n zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das E r k e n n e n , für die ,Wahrheit': wir ,wissen' (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, n ü t z l i c h sein mag: und selbst, was hier .Nützlichkeit' genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn." (FW 5.354, 3:593)
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren a n n e u e H o r i z o n t e g l a u b e n h e i ß t - dies g e h t d u r c h m e i n e S c h r i f t e n . D i e W e l t , die u n s e t w a s a n g e h t , ist falsch d.h. ist kein T h a t b e s t a n d , s o n d e r n e i n e A u s d i c h t u n g u n d R u n d u n g ü b e r einer m a g e r e n S u m m e v o n B e o b a c h t u n g e n ; sie ist i m Flusse, als e t w a s W e r d e n d e s , als eine sich i m m e r n e u v e r s c h i e b e n d e F a l s c h h e i t , die sich niemals der W a h r h e i t nähert: d e n n - es giebt k e i n e „ W a h r h e i t " . (VIII 2[108])
Die Welt, die uns etwas angeht, ist in erster Linie vital definiert, es ist die Welt der organisch-naturwissenschaftlichen Domäne. Nietzsche behauptet nicht, dass alle Welten zwangsläufig immer Fälschungen sind. Ferner geht er auch nicht, wie es zunächst den Anschein haben könnte, von einem quasi naturwissenschaftlichheuristischen Modell der schrittweisen Annäherung an die ,Realität' aus, wie es die angelsächsische Nietzscheforschung favorisiert. Dies wäre genauso absurd wie die schrittweise Perfektionierung der Auslegung eines Textes309. Nietzsche sieht im Gegenteil, und dies ist letztlich die logische Konsequenz aus seiner durch philologische Metaphorik inspirierten Perspektive, ganz von der Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt ab, freilich schon etwas früher als Clark (s.o.) anzunehmen scheint. Bereits die Fröhliche Wissenschaft stellt sich die Aufgabe, die Trennung von Schein und Wirklichkeit zu überwinden (vgl. z.B. FW 2.58, 3:422 oder FW 1.54, 3:416f). Das gesamte erste Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, das von den Vorurteilen der Philosophen handelt, hebt den Gegensatz von Schein und Wahrheit auf, und in der Göthen-Dämmerung heißt es schließlich: „Die ,scheinbare' Welt ist die einzige: die ,wahre Welt' ist nur hinzugelogen..." (GD Die „Vernunft" in der Philosophie 2, 6:75). Nur wenig später (GD Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde, 6:80f) fasst es Nietzsche noch konsequenter: wenn die wahre Welt abgeschafft ist, dann gibt es auch keine scheinbare mehr. Dies sei die letzte und höchste Erkenntnis, die über jene Erkenntnis der freien Geister hinausgehe, dass die wahre Welt lediglich unnütz sei, was letztlich aus der nachkantischen 309
Wenn etwa Leiter (1994) die Nähe Nietzsches zu naturwissenschaftlichem Denken und Empirismus hervorhebt, die beide mit reinem Perspektivismus nicht kompatibel seien, so ist dies zwar korrekt beobachtet, geht aber am Kern vorbei. Denn als philologische Theorie ist der Empirismus durchaus mit dem Perspektivismus vereinbar. Nietzsches philologisches Denken weist jene Parallelen zur Naturwissenschaft auf, die Leiter und andere ausgemacht haben, nicht umgekehrt. Der Zwischenschritt ist allerdings entscheidend für das Verständnis. So muss Leiter zwar konzedieren, dass für Nietzsche alles interpretationsabhängig und interpretationsbedürftig zu sein scheint, versucht aber, den eigenen Standpunkt zu retten, indem er behauptet, dass Interpretation nicht negativ gemeint und mit Lesen identisch sei. Mit Recht betont er freilich, dass in der optischen Metaphorik die Möglichkeit liege, ein Objekt besser als andere zu sehen. J e mehr Perspektiven ich benutze, desto besser nehme ich ein Objekt wahr, auch wenn ich es nie vollständig sehen kann. Nietzsches Erkenntnistheorie lasse eine bescheidene Objektivität zu, die sich der Nichtexistenz uninterpretierter Fakten bewusst bleibt und in welcher alles Wissen menschlich, allzumenschlich ist — aber es sei letztlich doch Wissen und nicht einfach Meinen oder Glauben. Philosophisch sei dies vielleicht nicht sehr originell, aber Nietzsches Ehrgeiz habe ohnehin eher auf anderen Gebieten gelegen (womit Leiter am Ende Recht haben könnte — einige philosophische Einsichten Nietzsches erinnern an die staunenden Einsichten des Autodidakten in längst Bekanntes, das freilich in einer Weise formuliert wurde, die sie wieder originell erschienen lassen).
4.5. Zum Perspektivismus
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Einsicht in die Unerreichbarkeit der wahren Welt stamme310, die deshalb auch zu nichts mehr verpflichten vermag. Dies erinnert nicht zufällig an das Verhältnis von eigentlichem und allegorischem Sinn: wenn es keine über den Wortlaut hinausgehende allegorische Bedeutung gibt, dann gibt es auch keinen eigentlichen Wortsinn des Textes311. Maudemarie Clark ist insofern unbedingt zuzustimmen, als aufgrund dieser Auffassung unser gesamter unmittelbarer Erkenntnisapparat die Wirklichkeit in der Tat nicht mehr verfälschen und verzerren kann. Lüge ist nicht mehr Schein, denn die Erscheinungen sind das einzige, was wir haben; Lüge ist nur noch das Beharren auf der Existenz einer dahinter liegenden Welt bzw. das Beharren auf der Lügenhaftigkeit des Scheins. Die Göt^n-Dämmerung feiert die Sinne dementsprechend als feinste „Werkzeuge der Beobachtung" und schlägt den Bogen zurück zur Wissenschaftlichkeit als Waffe gegen alle nichtempirischen, apriorischen Disziplinen: W i r b e s i t z e n h e u t e g e n a u so w e i t W i s s e n s c h a f t , als w i r u n s e n t s c h l o s s e n h a b e n , d a s Z e u g n i s s d e r S i n n e a n z u n e h m e n , — als w i r sie n o c h s c h ä r f e n , b e w a f f n e n , z u E n d e d e n k e n lernen. D e r R e s t ist M i s s g e b u r t u n d N o c h - n i c h t - W i s s e n s c h a f t : will s a g e n M e taphysik, T h e o l o g i e , P s y c h o l o g i e , E r k e n n t n i s s t h e o r i e . O d e r F o r m a l - W i s s e n s c h a f t , Z e i c h e n l e h r e : w i e die L o g i k u n d jene a n g e w a n d t e L o g i k , die M a t h e m a t i k . In i h n e n k o m m t die W i r k l i c h k e i t gar nicht v o r , nicht e i n m a l als P r o b l e m [...] ( G D D i e „ V e r n u n f t in d e r P h i l o s o p h i e 3, 6: 7 5 f )
Die wahre Welt konnte noch bei Piaton vom Tugendhaften und Weisen erreicht und erkannt werden. Die verfeinerte Version des Christentums verlegt die wahre Welt als Belohnung der Tugend ins Jenseits (GD Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde, 6:80f). Die einzig existierende Welt aber, die Welt des ständigen historischen Wandels, die Welt, von der allein die Sinne zeugen, sie wird gerade von den ,,Begriffs-Götzendiener[n]" als Lüge verunglimpft. Bei ihnen wird Historie zum „Glaube [n] an die Sinne, Glaube [n] an die Lüge" — mit der moralischen Schlussfolgerung, dass man sich vom Leibe, jenem irrationalen, auf den Sinnen beruhenden Phänomen fernzuhalten habe (GD Die „Vernunft" in der Philosophie 1, 6:74). Vom Verfälschungsvorwurf gegenüber dem Erkenntnisapparat ist somit in Nietzsches letzten Werken ausgerechnet nur noch die abstrakte Vernunft betroffen, nicht mehr die sinnliche Perzeption.
310
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Kant machte aus der Realität einen Schein, der nicht mehr widerlegbar war und rettete die wahre Welt und damit das alte Ideal und dessen Folgen für moralische Imperative: eine erlogene Welt kann einfach (dogmatisch) behauptet werden (AC 10, 6:176f). Wichtig in diesem Zusammenhang Clarks Deutung von „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde" (GD, 6:80f); vgl. Clark (1990:109-117). Es handele sich um Nietzsches Selbstdeutung der eigenen Entwicklung. Nietzsche lehne es ab, die empirische, wissenschaftliche Welt als illusorische Scheinwelt abzutun, weil damit ja immer noch das Ideal einer wahren Welt gewahrt bleibe. Im Vergleich zum Frühwerk negiere Nietzsche nicht mehr einfach nur das Ding an sich bei gleichzeitiger Annahme einer bloßen illusorischen Scheinwelt; schließlich beruhe die Ablehnung von Wahrheit und Verfälschungshypothese auf der Annahme eines Ding an sich. Freilich würde ich diese Einsicht Nietzsches früher ansetzen als Clark.
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
Dieses skeptische Ideal des Tatsachensinns und Sinneneindrucks 312 fällt nicht unbedingt als sensualistischer Wunschtraum hinter Kant zurück. Weil Sinneseindrücke gedeutet werden müssen, kann Nietzsche sie nur als Interpretation und Vergewaltigung gelten lassen. Das menschliche Fassungsvermögen lässt wie alles Organische immer nur Abkürzungen der Zeichen statt der Zeichen selber, nur Fragment und Palimpsest zu. Verfälschung gehört deshalb zum Humanuni, mit dem einzigen Ausweg, der die intellektuelle Redlichkeit zum Teil zu retten vermag: dem Perspektivismus diesmal nicht als Beschreibung von Kogmtionsprozessen, sondern als Versuch, verschiedene Verfälschungen in derselben Weise zu vergleichen wie der Philologe verfälschte Textzeugen rezensiert, um im Archetypus zumindest eine streng methodisch erzeugte Arbeitsgrundlage zu haben. Die „reine F i k t i o n s - W e l t " des Christentums kann im Antichrist deshalb so vehement angegriffen werden, weil sie eben rein ist und erst gar nicht den Versuch unternimmt, sich von der eigenen Fiktionalisierung zu distanzieren. Sie stammt aus dem Hass am Wirklichen selbst: wer an der Wirklichkeit leidet, muss diese, also das Zeugnis der Sinne, weglügen (AC 15, 6:181f). Bei Nietzsche steht die Lüge deshalb nicht mehr in begrifflichem Gegensatz zur Wahrheit, sondern zur intellektuellen Redlichkeit; sie ist synonym zur bewussten oder unbewussten Falschmünzerei. Im Gegensatz zum Skeptiker sei der Philosoph (empirisch gesehen) in fast allen Völkern die bloße Weiterentwicklung des Priestertypus, also des Falschmünzers, der sogar vor sich selbst unredlich sei. Der Philosoph, der nolens volens vom Erkenntnistrieb geprägt ist und nur seiner Natur gemäß lebt, wenn Gedanken, Werte und Bewertungen mit Notwendigkeit aus ihm heraus wachsen (GM Vorrede 2, 6:248), hat also auch eine Schattenseite, insofern ihm „Theologen-Blut" durch die Adern fließt (AC 8, 6:174f). Es ist
312
Victor Brochards Studie des griechischen Skeptizismus weist ausdrücklich auf die Methode der Skeptiker hin, Sinneseindrücke zu vergleichen, und dadurch zu auf Beobachtung und Experiment gestützten Wahrscheinlichkeitsschlüssen zu kommen, die u.a. auch als Handlungsgrundlage dienen. Der Skeptiker halte sich allein an die Oberfläche der Dinge, die Welt der Erscheinungen (apparances) und folge dem Impuls seiner Leidenschaften genauso wie er seinen Verstand gebraucht. „Le scepticisme consiste ä comparer et ä opposer entre elles, de toutes les manieres possibles, les choses que les sens per^oivent, et Celles que l'intelligence con9oit. Trouvant que les raisons ainsi opposees ont un poids egal ( ί σ ο σ θ η ε ν ε ΐ ά ) , le seeptique est conduit ä la suspension du jugement (εποχή) et ä l'ataraxie. Cette suspension du jugement ne doit pas s'entendre en un sens trop large. Lorsqu'il y est contraint par une sensation qu'il subit, le seeptique ne s'interdit pas d'affirmer. S'il a chaud ou froid, il ne dira pas: je crois que je n'ai pas chaud ou froid. II ne doute jamais des phenomenes. Mais s'il s'agit d'une de ces choses cachees (aßt]Ad) que les sciences pretendent connaitre, il doute toujours. [...] Le seeptique a un criterium, non pour distinguer le vrai du faux, mais pour se conduire dans la vie. Ce criterium, c'est le phenomene ou la sensation subie, et qui s'impose, sur laquelle la volonte n'a aueune prise." (1887:332f) Oder auch: „Etre seeptique, dit-on souvent, c'est douter de tout. Cette formule n'est pas tout ä fait exaete. Le vrai seeptique ne doute pas des phenomenes, des sensations qui s'imposent ä lui avec necessite; il distingua ses etats subjectifs de la realite situee hors de lui. Quand il parle des suggestions de la nature, de ses dispositions passives, des lois et coutumes de son pays, ce sont de simples faits, sends ou eprouves par lui, qu'il a en vue; il ne les juge pas, il n'affirme rien au delä des phenomenes." (361)
4.5. Zum Perspektivismus
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bisweilen unklar, ob Nietzsche die Skeptiker deshalb überhaupt noch unter die Philosophen zählt313. Nietzsche argumentiert letztlich für eine Verbindung von Zweck und Mittel, die in ihrer Dialektik an das lutherische sola per fide gemahnt. Es sind die Mittel, die über den Zweck Auskunft geben, an der rechtschaffenen Methode erkennt man den rechtschaffenen Zweck - und umgekehrt. Freilich heißt es auch: „Zuletzt kommt es darauf an, zu welchem Zweck gelogen wird. Dass im Christenthum die .heiligen Zwecke' fehlen, ist mein Einwand gegen seine Mittel." (AC 56, 6:239)314 Nietzsches immer wiederkehrende theoretische Maximalforderungen verlangen naturgemäß nach einem positiven Gegenbeispiel, das zumal anhand eines Moralsystems wissenschaftliche Zurückhaltung praktiziert, wenn dies überhaupt menschenmöglich ist. Diese Funktion übernimmt in Nietzsches Spätwerk das Gesetzbuch des Manu: „es resümiert die Erfahrung, Klugheit und Experimental-Moral von langen Jahrhunderten, es schliesst ab, es schafft Nichts mehr" (AC 57, 6:241). Auch Manu kommt ohne Fiktion und Lüge nicht aus. Es ist aber eine Lüge, die sich sowohl durch ihre Ziele als auch durch ihre Methodik legitimiert315. Wie die alexandrinischen Philologen sind die indischen Gesetzgeber gewissermaßen Redakteure, die ein moralisches System auf der Grundlage langer Erfahrungswerte herstellen. Ihre Gesetzesformulierungen stützen sich 313
Eine frühe Stelle zeigt, wie der Erkenntnistrieb mit der intellektuellen Redlichkeit und dem gewohnheitsmäßigen Streben nach Gerechtigkeit zusammenhängt, das ursprünglich aus Nützlichkeit entstand (weil es Ehre brachte), nämlich in VM 26, 2:389ff. Das Kennzeichen des Priesters im Spätwerk ist nicht zuletzt die Ignoranz der Wissenschaft und die Bestimmung der Begriffe wahr und unwahr (AC 12, 6:179). Sein Glaubensbedürfnis hängt eng mit nur einer einzigen Perspektive zusammen, die eine strenge Optik und damit auch Zucht und Hingabe erfordert: dann dürfe er aber über die Begriffe wahr und unwahr nicht verfügen — eben weil ihm die Einsicht in andere Perspektiven abgeht. Verhängnisvoll werden die Einseitigen, die Monoperspektivisten dann, wenn sie als Fanatiker ihre Optik anderen aufzwingen wollen; von Savonarola bis Luther, von Robespierre bis Saint-Simon gab es viele Beispiele, die am Ende Gründen nicht mehr zugängig waren. Uberzeugungen sind unter Umständen dementsprechend „gefährlichere Feinde der Wahrheit" als bewusste Lügen, zwischen Uberzeugung und Lüge bestehe kein Unterschied. Uber Wahr- und Unwahrheit könne der Mensch in manchen (!!) Fragen gar nicht entscheiden, bisweilen sind eben die Grenzen der Vernunft erreicht, etwa in Fragen der Moral (AC 55.6,237ff). „Wir freien Geister", so Nietzsche dagegen, seien selbst schon die Umwertung aller Werte in der Kriegserklärung „an alle alten Begriffe von ,wahr' und ,unwahr'." Nietzsche lobt die „vorsichtige misstrauische Art" der wissenschaftlichen Menschen, die deshalb unter Verachtung gelitten haben. Der Wissenschaftler sei „Tschandala" gewesen: „jedes ,du sollst' war bisher g e g e n uns (!) gerichtet" (AC 13, 6:179f).
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Beweise, dass ,wahr' und .falsch' im Zweifelsfall nach wie vor an den Nutzen für das Leben gebunden sind, finden sich im Spätwerk immer wieder (z.B. AC 9, 6:175f) Mit Recht wirft Sommer Nietzsche mangelnde philologische Skepsis gegen die von ihm benutzte fragwürdige Ausgabe des Gesetzbuch des Manu vor (2000:562ff). Freilich geht es Nietzsche eindeutig darum, empirische Erfahrung gegen dogmatische Behauptung auszuspielen: Manu wird in diesem Sinne fünktionalisiert An anderen Stellen finden wir auch eine Kritik des Manu, nicht zuletzt weil hier ebenfalls der priesterliche Typus als höchster Typus propagiert wird (VIII 15[45]). Man ahnt, wie schwierig das Verhältnis von publiziertem Text und Nachlass sein kann: bei den Nachlassfragmenten wird man den Kontext nie kennen, den Nietzsche ihnen zugedacht hätte.
315
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
als „Experimental-Moral" jedenfalls auf Beobachtung und Herkommen und sind nicht aus sich selbst heraus generiert. Eine wichtige Einsicht spätestens seit der Genealogie der Moral lautete dabei, dass Perspektivismus, Wissenschaft, Erfahrung, Skepsis und Methode allein kein Gegenideal zum asketischen Ideal verkörpern, sondern ihm selbst noch dienen, ja sein jüngster und raffiniertester Ausdruck sind. Die „Redlichen und Wahrheitssuchenden" (M 3.164, 3:147) fliehen in ihrer Wahrheitssuche nach wie vor die Welt der Erscheinungen, selbst wenn sie sich als antiplatonisch oder antichristlich verstehen. So erheben sie am Ende jenen Glauben zum Ziel ihrer Bemühungen, auf dem die Herrschaft ihrer Gegner erst beruht, nämlich den Glauben an eine andere Welt als die je erfahrbare — dies gilt sogar für die Naturwissenschaft. Statt dem asketischen Ideal entgegenzuarbeiten, arbeitet ihm alle Aufklärung zu, da sie noch immer unter dem platonisch-christlichen Imperativ zur Suche nach der wahren Welt steht. Die „ganze Falschmünzerei der Transscendenz und des Jenseits" (WA, 6:43) ist mit ihr jedenfalls noch lange nicht am Ende. Zwar sei die strenge Arbeit der Wissenschaft wichtig und nützlich, am ehesten noch sei sie aber Versteck (Maske?) für jene, die an Ideallosigkeit leiden und unfreiwillig genügsam werden, als eine Art Narkose und ein Eskapismus vor den eigentlichen Fragen (GM 111.23, 5:395ff). Schon die Fröhliche Wissenschaft hatte für eine Kritik des Wahrheitswillens gestritten, insofern derjenige, der die Wissenschaft bejahe, offenbar eine andere Welt als die des Lebens bejahe und damit seine eigene verneine. Nietzsche korrigiert seinen eigenen skeptischen Optimismus des freien Geistes als „vergeistigtste Ausgeburt" des asketischen Ideals. Im Asketismus gegenüber der Interpretation als Vergewaltigung lebt der metaphysische Wert der Wahrheit an sich fort (GM 111.24, 5:398f)316. Nietzsches Auslegungstheorie hängt in ihrem Kern somit tatsächlich eng mit dem in der dritten Abhandlung der Genealogie analysierten asketischen Ideal zusammen. Das Streben nach Wissen und Wahrheit lässt sich durch die intentionale Grundverfassung des Menschen erklären. Er bevorzuge den Willen zum Nichts gegenüber gar keinem Willen, das asketische Ideal ist Füllelement der Sinnlücke, Default-Fall für das Objekt des Willens (vgl. 41 lf). Der Mensch braucht Sinn, d.h. festen Sinn. Den flüssigen Sinn bekommt er in dem Moment nicht zu fassen, da er ihn am nötigsten hat. Er muss ihn in jeder konkreten Anwendungssituation verfestigen, also interpretieren. Das bedeutende Nachlassfragment zum europäischen Nihilismus, das so genannte Lenzer-Heide-Fragment vom 10. Juni 1887, erweist sich in diesem Zusammenhang als Schlüsseltext. Hier ist der Nihilismus 316
Seit Wissenschaft sich von der Kirche emanzipiert hat, will sie mehr als nur Mittel sein (FW 3.123, 3:479f). Nietzsches modern anmutende Verteidigung heuristischer Hypothesenbildung in der Forschung ist aber bereits ironisch gebrochen. Denn dem Misstrauen gegenüber festen Uberzeugungen, das sich im Vorläufigkeitscharakter der Hypothesen ausspricht, liegt ja selbst eine sehr feste Uberzeugung zugrunde. Wissenschaft ist nie voraussetzungslos. Grundlegender als die Frage nach der Wahrheit ist die Frage nach dem Sinn der Wahrheitssuche überhaupt. Sie ist eng mit der Frage nach dem Sinn der Moral verwandt (vgl. FW 5.344, 3:574ff).
4.5. Zum Perspektivismus
229
als Sinnverlust mit dem Begriff der Interpretation verbunden: ..Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe". Die „viel zu extreme Hypothese" Gott werde, wie üblich in solchen Fällen, von einer ebenso extremen Hypothese abgelöst, welche die absolute Immoralität der Natur sowie ihre Zweck- und Sinnlosigkeit dekretiert (Ν VII 3, S. 13-24; vgl. VIII 5[71])317. Der Perspektivismus, der den intentionalen Sinn multipliziert statt erneut auf einen ausschließlichen (pneumatischen) Sinn zu setzen, ist jedoch nur der erste Schritt zur Überwindung des Nihilismus. Sobald er sich selbst überschätzt, wird er wie die Wissenschaft Bundesgenosse des asketischen Ideals. Der Perspektivismus darf nicht normativ gesetzt werden. Wirkliche Gegenmacht zu dem alles verderbenden Einfluss des asketischen Ideals kann allein die Kunst sein (GM III.25, 5:402f). Sie ist dem Nihilismus viel konsequenter entgegengesetzt als jede noch so redliche Wissenschaft. Der Perspektivismus, der immer nahe an der Utopie der interesselosen Erkenntnis laviert und sich selbst als einen „Spiegel mit hundert Augen" (s.o.) auffasst, kann leicht zum heuchlerischen Instrument jener werden, die keine Schaffenden und Zeugenden mehr sind und deshalb das Begehren verleumden (vgl. Za II Von der unbefleckten Erkenntniss, 4:156). Die ironische Selbstdistanz in der dritten Abhandlung zur Genealogie der Moral hat hier ihre logische Begründung: der perspektivische Betrachter kann zwar eine Recensio aus bisherigen Interpretationen herstellen, z.B. durch Kollation aller bekannten historischen Moralgesetze, und damit etwa die Tendenz zur asketischen Existenz von Philosophen herausfinden. Aber indem er dies tut, betätigt er sich selbst als asketischer Wahrheitssucher. Kommt es schließlich zur Deutung des Archetypus, spielt die eigene interpretierende Affektkonstellation erst recht eine Rolle und macht die Mühe erkenntnistheoretisch wieder zunichte318. Der Perpektivis317
Moral gibt dem Leiden einen Sinn, weil der Mensch immer einen Sinn nötig hat. Er kann sich die Welt nicht anders als intentional, d.h. sinngerichtet vorstellen - möglicherweise nur aufgrund der grammatischen Verhältnisse. Nehamas bemerkt ganz richtig die Verbindung von Moral und Interpretation, die eben darin besteht, ein bestimmtes Phänomen als Handlung zu verstehen und sie einem Agens zuzuschreiben. Nietzsche versuche in diesem Sinne, Interpretation zu vermeiden, indem er das Leiden eben nicht intentional auslege, sondern physiologische und soziale Gründe zu finden versuche (1994:279f).
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Mit großer Vorsicht zu genießen sind die Arbeiten Alan D. Schrifts, die vor allem im englischen Sprachraum bis heute einflussreich bleiben. Schrift (1988) behauptete, Nietzsche kritisiere die „Kunst des richtigen Lesens" im (oben zitierten) Aphorismus 270 von Menschliches, All^umenschlicheA Sie werde von Nietzsche angeblich abgelehnt „insofar as it fails to account for the rich ambiguity and multiplicity of textual meanings." (87) Vom Wunsch nach einfachem Textverständnis verblendet, verkenne der Philologe den „doppelten Sinn". Das führe Nietzsche zu einer neuen Perspektive auf die Philologie, in der die Kunst des richtigen Lesens zur Kunst des guten Lesens transformiert werde. Die Kunst des guten Lesens setze Nietzsche gleichzeitig dem scheinbaren Relativismus des Perspektivismus entgegen. Gutes Lesen heiße auch, eine gewisse Autonomie des Textes zu respektieren und offen zu bleiben „to that which the text presents" (87f). Schrift vermischt hier richtige und falsche Beobachtung, praktiziert jedenfalls weder die Kunst des guten noch des richtigen Lesens. Der doppelte Sinn ist, wie ich gezeigt habe, durchaus negativ gemeint und bezieht sich auf die Allegorese. Schrifts Fehler über diese Stelle ist auch andernorts
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
mus vermag das Schiff der Erkenntnis letztlich kaum davor zu schützen, entweder an der Scylla des Skeptizismus oder der Charybdis des Dogmatismus zu zerschellen. In der Kunst gibt es diese Probleme nicht. Die Schätzung des Scheins durch den Künstier bedeutet keine Rückkehr zur Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt etwa als Ausdruck von Dekadenz, denn „'Schein' bedeutet hier die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur ... Der tragische Künstler ist kein Pessimist, — er sagt gerade J a zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist d i o n y s i s c h ..." (GD Die „Vernunft" in der Philosophie 6, 6:78f). Auswahl, Verstärkung und Korrektur des Scheins nähern den Künstler dem Editor an: er wird zum Redaktor der ,Realität', der erfahrenen (erfahrbaren) Phänomene. In ihrer schöpferischen Umgestaltung wird er aber auch zum Interpreten, zum erobernden Krieger, der sich die Welt einverleibt,
entdeckt worden (Seigfried, 1988:100). Im Aphorismus 84 der Morgenröthe, der die schlechte Philologie des Christentums anprangert und Redlichkeit gegenüber dem Text fordert, d.h. eine strikte Trennung von Interpretation und Text, sieht Schrift ferner einen Widerspruch zu Nietzsches Perspektivismus, da dies ja einen Text außerhalb der Perspektiven impliziert. Er verkennt erstens, dass es sich bei der späten Ausarbeitung des Perspektivismus nicht um eine Interpretationsmethodik zum Studium von Büchern handelt und zweitens, dass der ,Text' von Nietzsche natürlich auch als Interpretation konzipiert ist, die bloß auf,redlichem', d.h. nachvollziehbarem Wege gewonnen wurde. Wie andere Interpreten auch versucht Schrift den Widerspruch zwischen der Behauptung, dass es außerhalb von Interpretation nichts gebe bei gleichzeitiger Forderung nach „apprehension of the text" ohne ihn durch Interpretation zu verfälschen, in Nietzsches Genealogie aufzuheben. Sie verlange einerseits genaue Hingabe an den Text und andererseits Beachtung der Geschichte der Werte. Aufgrund der metaphorischen und anthropomorphischen Ursprünge, die in sprachlichen Konzepten fixiert worden sind, muss der Genealoge den Werten auf den Leib rücken. Warum aber werde einmal die Uminterpretation des Alten Testaments zum christlichen Text durch die Theologen negativ bewertet (M 84), gleichzeitig aber die Inanspruchnahme der Griechen durch die Römer positiv (FW 83)? Der Grund liege in den Werturteilen des Genealogen selbst. Gutes und schlechtes Lesen unterscheide sich nach dem Maßstab, ob es lebensverneinend oder -bejahend ist: Nietzsche als Genealoge lege sich nicht auf das Dogma einer korrekten Interpretation fest, aber vermeide Relativismus, der alle Interpretationen gleichwertig sein lässt, indem er „a space between the interpretive demands of both philological attention and perspectival creativity" einnehme, „as neither philological nor perspectival considerations alone will suffice for assessing the merits of interpretive activity." (91) Die Güte einer Interpretation werde also nicht einseitig vom Maß der „textual attentivness" oder aber der Kreativität bestimmt. Gegen diese Darstellung ist einzuwenden, dass der Aspekt des Lebensverneinenden bzw. -bejahenden bei Nietzsche nur indirekt ins Spiel kommt, u.a. deshalb, weil er nicht nur historisch und situationsmäßig bedingt, sondern per definitionem sogar für jedes Individuum verschieden sein muss („dass Jeder sich s e i n e Tugend, s e i n e n kategorischen Imperativ erfinde", AC 9, 6:177). Somit ist nichts gewonnen; dem Relativismus kann man auf diese Weise nicht beikommen. In Schrift (1990:184) kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. Schrift unterscheidet hier die Perspektive von der Interpretation, letztere bezeichne das ordnende und systematisierende Element, welches die chaotische Perspektive integriere. Das ist eine eklatante Fehldeutung, denn Nietzsche macht ja immer wieder deutlich, dass der Perspektivismus auf den Affekten und Trieben beruht, die wiederum die interpretierende Instanz schlechthin sind. Schrifts Schlussfolgerung ist in diesem Werk paradoxerweise dennoch richtig. Durch unsere Bereitschaft, mit mehreren Perspektiven und Interpretationen zu experimentieren, erschließe sich der Reichtum der Texte bzw. der Welt und die Gefahr der Stillstandes sei gebannt.
4.5. Zum Perspektivismus
231
„die uns e t w a s a n g e h t " (JGB 2.34, 5:54). Er ist der einzige, der die tragischen Widersprüche von Leib und ,Text' aushält, indem er sie ewig zerstört und wieder neu erschafft. Diese Art der Interpretation wird von Nietzsche nur als und in der Kunst positiv bewertet. Da es ihr gar nicht um Erkenntnis oder um Aussagen über wahr und falsch geht, steht sie selbst außerhalb des Zugriffs von Verifizier- oder Falsifizierbarkeit. „Auswahl, Verstärkung und Korrektur" ist der artistische Gegenpart zur Falschmünzerei bzw. zum „Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten" usw. (GM 111.24, 5:400). Auch die Kunst verfälscht den ohnehin nicht erkennbaren ,Text' der Realität bzw. der Phänomene und Zeichen. Sie tut es, indem sie ihn umdichtet und in der Aneignung neu entstehen lässt. Jedes Kunstwerk ist eine Wiedergeburt und Wiederkehr. Die Interpretation, auf Erkenntnis oder auf normative Setzung abzielend und ihres eigenen fiktiven Status nicht bewusst, vergewaltigt und leugnet die Realität bzw. die Wirklichkeit der Zeichen. Auf diesen Unterschied kommt alles an. Es sind dergleichen Anklänge an Nietzsches Frühwerk, besonders an die Kunstmetaphysik der Tragödienschrift319, die zu dem Schluss verführt haben, Nietzsche kehre am Ende zu modifizierten Positionen seiner Jugend zurück und spare die angebliche positivistische320 mittlere Phase wieder aus, die man daher mit Recht ignorieren kann321. Es wurde bereits bemerkt, dass dazu die Hymne auf die Wissenschaft schlecht passt, die gerade im letzten großen Buch immer wieder gesungen wird322. „Grosse Geister" seien Skeptiker — Zarathustra einge319
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Zum berühmten Satz aus der Geburt der Tragödie, wonach Dasein und Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt seien, hat Barbara von Reibnitz einen bedenkenswerten Hinweis auf die wörtliche Bedeutung von aisthetikon phainomenon gegeben: die ,anschauende Erscheinung' sei der Gegensatz des Gottesbegriffes, die Lust am Schein als Kunst ist allein imstande, was Theologie und Philosophie sich lediglich anmaßten, nämlich eine Kosmozidee zu schaffen. Gleichzeitig könne sich Nietzsche auch gegen Schopenhauer wenden, da in der Lösung der Daseinsproblematik, die auch für diesen in der Kunst liegt, nicht Weltverneinung und -Überwindung angelegt sei, sondern das ganze Gegenteil (1992:169f). Schon nach traditionellem Verständnis müsste sich das Etikett des Positivismus für Nietzsche verbieten. Zwar gibt sich Menschliches, Allyumenschliches überaus metaphysikfeindlich und wissenschaftsfreundlich, aber der philosophische Hintergrund ist eher skeptisch-nominalistisch als positivistisch im klassischen Verständnis; immer wieder wird an intellektuelle Kühle und Beherrschtheit appelliert. Wert legt Nietzsche auf Entlarvungen alltäglicher, oft nicht mehr bemerkter informeller Fehlschlüsse. Die Bedeutung der Gewohnheit und Gewöhnung, in Sitte wie in Wissenschaft ist von zentraler Bedeutung: eine dem Positivismus fremde Vorstellung. Auch wenn die Wissenschaft mit falschen Größen operiere, so seien diese doch wenigstens konstant und lieferten deshalb relativ sichere, d.h. auf strengem Wege erlangte Resultate, auf die sich aufbauen lasse (z.B. MA 1.19, 2.40f). Es ist immerhin auch der Begriff der ,Strenge', die die Phänomenologie dem Positivismus entgegensetzen wird, ohne bereit zu sein, auf bestimmte Rationalitätsansprüche zu verzichten. Trotz Montinaris Vorliebe für sie kommen die mittleren Schriften Nietzsches erst in allerjüngster Zeit wieder zu ihrem Recht, so z.B. bei Brusotti (1997) oder Vivarelli (1998). Wissenschaft mache gottgleich, weil damit Priestern und Göttern ein Ende gesetzt werde, Wissenschaft sei im biblischen Mythos vom Baum der Erkenntnis die Sünde an sich, die Erbsünde, das schlechthin Verbotene. Die Priester erfinden sogar den Krieg, den Feind aller Wis-
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
schlossen (AC 54, 6:236). Der Wissenschaft gilt Nietzsches offene Sympathie, weil sie „ohne Gott, Jenseits und verneinende Tugenden" (vgl. GM III.23, 5,395ff) sei. Die „geistigsten Menschen", denen Askese Lust, Bedürfnis, ja Natur und Instinkt ist, werden sogar zum höchsten Typus ausgerufen. Sie seien die Stärksten: eben in der asketischen Selbstbezwingung liegt ihre Lust, da es ihnen um Erkenntnis gehe — die gesamte Stelle ist ein deutliches Selbstporträt (AC 57, 6:243). Nietzsche knüpft deutlich an die Wagnerkritik an, die immer auch eine Auseinandersetzung um die Rolle der Wissenschaft beinhaltet hatte. Wagner, der Leitstern seiner Frühphase, fordere wie die Christen den blinden Glauben: „Es ist ein Verbrechen am Höchsten, am Heiligsten, wissenschaftlich zu sein..." (WA 3, 6:17); die Überwindung Wagners hat Nietzsche auch als Selbstüberwindung wahrgenommen (WA Vorrede, 6:11). Es gibt in Nietzsches Spätwerk nicht nur keine Distanzierung von den mitderen Büchern, sondern im Gegenteil viele explizite Verweise auf sie (z.B. in GM III.24, 5:401 auf die Morgenröthe und die Fröhliche Wissenschaft). Seit Menschliches, All^umenschliches entwickelt sich sein Denken kontinuierlich, nicht sprunghaft. In einem späten Brief stellt er selbst eine Art Kanon der eigenen Schriften auf, unter denen der Zarathustra ganz für sich steht und nicht für jedermann geeignet sei. Er schlägt deshalb vor, mit den wichtigsten Büchern, nämlich jenseits von Gut und Böse sowie der Genealogie der Moral zu beginnen. Ihm selbst seien freilich die mittleren Bücher „am sympathischsten", die gleichzeitig die persönlichsten seien. Die Un^eitgemässen verdienten nur noch Beachtung, um seine „Entwicklung" nachzuvollziehen, die Geburt der Tragödie wird gar nicht mehr erwähnt (an Karl Knortz, 21. Juni 1988, III.5:339f). Wie lässt sich all dies mit den eben gewonnenen Einsichten in die Rolle der Kunst bei der Überwindung des Nihilismus vereinen? Man muss auch an dieser Stelle keine Zuflucht zur berühmten Widersprüchlichkeit nehmen, die Nietzsches Schriften angeblich kennzeichnet. Zwischen Kunst und Wissenschaft gibt es ein klar bezeichnetes Verhältnis, das bereits aus dem Verhältnis von Philologie und griechischem Altertum hervorgeht. Nietzsche schwankt spätestens seit Basel, möglicherweise schon seit dem frühesten geistigen Erwachen, zwischen den Polen des Schaffens und Zerstörens, der Synthese und der Analyse, Kunst und Wissenschaft. Bezeichnenderweise schreibt er in einer autobiographischen Skizze für die Professur in Basel: „Erst in der letzten Zeit meines Pförtner Lebens gab ich, in richtiger Selbsterkenntniß, alle künsderischen Lebenspläne auf; in die so entstandene Lücke trat von jetzt ab die Philologie. Ich verlangte nämlich nach einem Gleichgewicht gegen die wechselvollen und unruhigen bisherigen Neigungen, nach einer Wissenschaft, die mit kühler Besonnenheit, mit logischer Kälte, mit gleichförmiger Arbeit gefördert werden könnte, ohne mit ihren Resultaten gleich ans Herz zu greifen. Dies alles aber glaubte ich damals in der Philologie zu senschaft, um sie desto besser bekämpfen zu können (AC 48, 6:226f). Nur in glücklichen Zeiten gedeihe die Wissenschaft als „der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung" (AC 49, 6:228).
4.5. Zum Perspektivismus
233
finden [...]" (BAW 5:253) Der Rückfall sollte nicht lange auf sich warten lassen: „Sie hätten singen sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden!" (Versuch einer Selbstkritik, KSA 1:15). Nietzsches Werk kann als Dichtung gelesen werden, aber auch als Analyse; als philosophisches Gedicht oder wissenschaftliche Poesie. Aus dem Rückblick unterlegt Nietzsche diesem wellenförmigen Verlauf eine einleuchtende Entwicklungslogik: auf den jasagenden Teil seines Schaffens, also den Zarathustra, sei der neinsagende gefolgt, nämlich eine Kritik der gesamten Modernität (EH zu JGB, 6:350f). Dies schließt die Möglichkeit kommenden Schaffens nicht aus, sondern bereitet sie vor. Eines nämlich, und das ist der entscheidende Grund für Nietzsches Sinneswandel gewesen, glaubt Nietzsche aus dem gescheiterten Verhältnis zu Wagner gelernt zu haben: der Weg der Kunst steht nicht in jeder historischen Situation offen. Wagner konnte nicht, wie von Nietzsche erhofft, zum neuen Homer oder Aischylos werden und eine Kulturrevolution einleiten, die zur Wiederbelebung griechischen Geistes führen würde. In der falschen historischen Situation wird Kunst sogar, und genau dies ist der „Fall Wagner", zur lebensbedrohenden Gefahr. Da Kunst Dienerin der herrschenden Moral ist, treibt sie in der Epoche der Herrschaft des asketischen Ideals den Niedergang voran, statt die Neugeburt vorzubereiten. So wie die Kunst als Wille zur Täuschung und Heiligung der Lüge sehr viel stärker dem Glauben an eine wahre Welt entgegengesetzt ist, kann sie auch zum mächtigen Instrument der Falschmünzerei werden. Das ist eine Frage der Hierarchie von Interpretationen. Der Künsder, der (wie der späte Wagner) dem asketischen Ideal dient, verkörpert die denkbar größte Korruption (vgl. GM III.25, 5:402ff). Zwar stehen Homer und Piaton für den absoluten geistig-moralischen Grundgegensatz (ebd.) — aber sie sind eben keine Zeitgenossen, sondern durch Jahrhunderte getrennt. Nietzsches Zeitdiagnose hat sich seit Leipzig und Basel grundlegend geändert. Europa befindet sich nicht im Angesicht kommenden jugendlichen Aufschwungs — dieser Optimismus ist Nietzsche wie vielen anderen Zeitgenossen des beginnenden Fin de Siecle gründlich vergangen —, sondern ist offenbar im unaufhaltbaren Niedergang begriffen. Das Christentum ist deshalb so gefährlich, weil es sich zu einem sanften chinesischen Buddhismus entwickeln kann, der ihm einen langsamen, möglicherweise Jahrhunderte währenden Tod garantiert (vgl. Benne, 2002a). Unter diesen Bedingungen ist der sich selbst beherrschende Mensch, der seine Perspektiven in Zucht hält, noch das schönste Exemplar; er kann ja nichts dafür, einer sinkenden Kultur anzugehören. Er gehört dann zu den großen Einzelnen, die mitten im Verfall den Um- und Aufschwung vorbereiten, wie es beispielsweise in der Renaissance schon einmal geschah: ein [...] Mensch der späten Culturen und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer Mensch sein: sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der Krieg, der er i s t , einmal ein Ende habe; das Glück erscheint ihm, in Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als das Glück des Ausruhens, der Ungestörtheit, der
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
Sattheit, der endlichen Einheit, als „Sabbat der Sabbate", um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden, der selbst ein solcher Mensch war. — Wirkt aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel m e h r - , und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit sich, also Selbst-Beherrschung, SelbstÜberlistung hinzuvererbt und angezüchtet: so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alcibiades und Caesar ( - denen ich gerne jenen e r s t e n Europäer nach meinem Geschmack, den Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künsdern vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund tritt: beide Typen gehören zu einander und entspringen den gleichen Ursachen. (JGB 5.200, 5:120f)
Es hat sich eingebürgert, Nietzsche den Wunsch zuzuschreiben, Kunst und Wissenschaft zu vereinen, die in der abendländischen Geistesgeschichte in verderblicher Weise getrennt worden seien. Nietzsche habe keine Angst vor der Verwechslung von Philosophie und Dichtung, so etwa die Grundaussage Kofmans (21983), denn dies würde ja fälschlicherweise eine Trennung von Realität und Fiktion postulieren. Damit hat man jedoch die Interessenverschiebung übersehen, die Nietzsches Frühwerk von den späteren Schriften trennt. Zwar hatte Nietzsche in der Basler Antrittsvorlesung einen Zentauren als Idealwesen entworfen, indem sich Wissenschaft und Kunst gegenseitig aufheben. Ein lesendes Wesen, dem das Lesen nicht, wie Hamlet, die Kraft zum Handeln und Interpretieren nimmt. Ein Wesen, dem die Selbstauslegung auf eine Weise zur Natur geworden ist, dass es sich der daraus gewonnenen Erkenntnisse als Anleitung zur Formulierung souveräner Werte bedient. Aber Wesen mit einer derartigen synthetischen Potenz, mit dem Vermögen, tiefste Analyse mit höchster Schöpfungskraft zu verbinden, sind am Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht möglich. Von wenigen Ausnahmeexemplaren abgesehen, erlebten sie in der Renaissance ihre letzte Sattelzeit — die Zeit der Umwertung der christlichen Werte, die mit der Geburt der modernen Wissenschaften, einer Wiederbelebung der klassischen Philologie und künstlerischer Formexplosion einherging. Da die (deutsche) Reformation diese Ernte vernichtete (z.B. AC 61, 6:250ff) und eine Restaurationsepoche des asketischen Ideals einführte, die seit der Aufklärung nur unzureichend und einseitig wieder infragegestellt wurde, sind den Heutigen aus Nietzsches Sicht die Handlungsspielräume eingeengt. Nietzsches am Anfang der Arbeit geschilderte Neubewertung der Alexandriner im Spätwerk lässt sich in diesem Rahmen präzisierend begründen. Wenn die Parallelisierung von alexandrinischem Zeitalter und Gegenwart nach wie vor Bestand hat, bedarf seine Epoche mehr denn je der redlichen Philologie, um wenigstens die besseren Werte für folgende Jahrhunderte zu retten. Im Gründungsdokument der modernen historisch-kritischen Philologie, in Friedrich Au-
4.5. Zum Perspektivismus
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gust Wolfs323 Prolegomena ad Homerum — wissenschaftliche Muttermilch für Nietzsche — finden wir diesen Gedanken vorgeprägt. Das aufschlussreiche 41. Kapitel stellt die alexandrinische Periode als Zeitalter des vertrocknenden Genius dar, das Unfruchtbarkeit durch Gelehrsamkeit kompensiert - „in omnesque partes doctrinarum diffusa lectio"324, d.h. Erudition, Strenge und Gründlichkeit treten an die Stelle eigener Gedanken und zeitigen eine Kunst der Kritik und Auslegung, die es so vorher noch nicht gab. Wolf legt ebenso wie Nietzsche Wert darauf, dass dies in Zeiten des Niedergangs noch das Beste sei, was man nur erhoffen könne, denn nur dadurch sei Homer überliefert worden325, „um," wie es bei einem bedeutenden Zeitgenossen Wolfs, nämlich Friedrich Schlegel, heißt, „da die Kraft neue Schönheit hervorzubringen nicht mehr vorhanden war, wenigstens die alte auf die Nachwelt zu bringen." 326 Wenn es in der Genealogie der Moral über die Wissenschaft heißt, dass sie „einstweilen" beste Bundesgenossin des asketischen Ideals sei, so scheint das auf die Aussicht zu deuten, einst auch (wieder) Bundesgenossin — wer weiß, vielleicht der Kunst zu sein (GM III.25, 5:403). Der Verweis auf Leonardo im oben zitierten Aphorismus aus Jenseils von Gut und Böse deutet zumindest in diese Richtung. Die Kunst ist zwar der Gegensatz zum asketischen Ideal, allein überwinden kann sie es nicht aus eigener Kraft. Dazu bedarf es des Philosophen, der zugleich ein Künsder und Gesetzgeber ist, dessen Begriffsdichtung aber die Prüfung durch Kritik, Methode, Skepsis und Tatsachensinn nicht scheuen muss. Möglicherweise entsteht in Zukunft erneut der Typus jener von Nietzsche so verehrten Renaissancephilologen, den wohl einzigen empirisch belegten Exemplaren der Zentauren aus dem Basler Homer-Vortrag327. Bis dahin verbittet sich Nietzsche jedoch die Vermischung von Wissenschaft und Kunst. Im Gegensatz zu Aufklärung und Romantik gleichermaßen besteht Nietzsche bis zum Schluss auf der Trennung von Philosophie, Kunst und Kritik. Der „unbedingte redliche Atheismus (— und seine Luft allein athmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!)" (GM 323
„Der achte April 1777, wo F.A. Wolf für sich den Namen stud.philol. erfand, ist der Geburtstag der Philologie." (IV 3[2]). Es ist der Tag, an dem die Ausdifferenzierung der Philologie zu einem selbständigen, insbesondere von der theologischen Fakultät unabhängigen Fach beginnt. Dazu z.B. Wegner (1951:passim).
„(Ausgreifende) Lektüre verbreitete sich in allen gelehrten Disziplinen." Außer Wolf ( 2 1859) habe ich die übersetzte und annotierte Ausgabe von Grafton, Most und Zetzel (1985) benutzt. 325 Vgl. zu dieser Leistung der Alexandriner auch Reynolds/Wilson ( 3 1991). 324
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So Schlegel in seiner Abhandlung „Vom Wesen der Kritik" aus der Lessing-Studie des Jahres 1804 (Schlegel, 1967ff, Bd. 1.3:55). Es handelt sich um einen verbreiteten Topos der zeitgenössischen Philologie. Die Stärke der Alexandriner, schreibt u.a. Bernhardy in einem für Nietzsche wichtigen Buch (s.u.), bestand „in mühsamer Kunst und seltener Gelehrsamkeit", mit deren Hilfe sie es vermochten, die griechischen Mythen und Fabeln zu bewahren und weiterzutragen (1832:100).
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Nietzsche spielt auf das enge Wechselverhältnisses von Kritik und Kunst in der Renaissance an. Gombrich hat die wissenschaftliche Kritik in der Renaissance als ,Sauerteig' bezeichnet, der dazu beitrug, ihre Kunst auf die Höhe zu heben. Zu Nietzsches hoher Wertschätzung der sog. Poeten-Philologen der Renaissance vgl. auch Campioni (2001:141ff).
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4. Philologische Methode II: Lesen statt Interpretieren
III.27, 5:409) ist bis zum Heraufzug neuer überwältigender Mythen die einzig mögliche Existenzform. Die im Urteil zurückhaltenden, vereinsamten und harten (obgleich nihilistischen, da an die wahre Welt glaubenden) „Nordpolfahrer" (wie Taine) seien den Artisten der Wissenschaft (Renan) bei weitem vorzuziehen. Solange das asketische Ideal ehrlich ist, an sich glaubt und nicht kokettiert, müsse man Ehrfurcht vor ihm haben (GM 111.26, 5:406f). Am Ende, wir wissen es, wäre Nietzsche am liebsten doch Basler Professor statt Gott geworden — und damit ist wohl nicht nur die maskenhafte, distanzierte Lebensweise Jakob Burckhardts gemeint, die Nietzsche zum Pathos der Distanz inspirierte328. Für die eigene Zeit sieht Nietzsche nur die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit zur kritischen Analyse. Das Publikum für seinen künstlerischen Wurf, den Zarathustra, projiziert er bekanntlich in die ferne Zukunft329. Schon Menschliches, Allf^umenschliches erfindet für die Wissenschaft die Rolle als „Regulator" gegenüber religiösen und künstlerischen Exzessen (ΜΑ 1.5.251, 2:208f); das Spätwerk hat diesen Gedanken lediglich zu Ende gebracht. Philologie und Wissenschaft, streng gegen alles, sich selbst eingeschlossen330, haben offenbar die Aufgabe, durch ihr unbarmherziges Streben nach Wahrheit das asketische Ideal so weit in extremis zu führen, dass es sich schließlich selbst ad absurdum führt und aus seinen Trümmern eine neue tragisch-dionysische Kunst hervorbricht, die allein den Schmerz um den Verlust der verlorenen Welt verwinden kann331. 328 329
Brief an Burckhardt vom 6. Januar 1889 (III.5:577ff); der Ton ist allerdings eher sarkastisch. Vgl. ferner die Briefe an Ernst Wilhelm Fritzsch vom 20. August 1887 (111.5:131) und Carl Riedel vom 20. Oktober 1887 (III.5:173f), gute Beispiele dafür, dass Nietzsche noch immer nicht aufgegeben hat, mit dem ominösen „Hymnus an das Leben" auch als Musiker, also Künstler zu reüssieren, und zwar völlig unabhängig von seinen sonstigen intellektuellen Tätigkeiten in jener Periode. Sein vernichtendes Urteil über die Möglichkeit von Kunst in der Gegenwart beruht nicht zuletzt auf einem persönlichen Trauma.
330 Vgl. etwa FW 4.307, 3:544f zur Wichtigkeit der Kritik auch an der eigenen Person, und zwar selbst dann, wenn sich etwas Lebensbejahendes regt. Die ständige Spannung zwischen Schaffen und Kontrolle durch Kritik muss also vom Individuum ausgehalten werden, daran erst wächst es. 331
Ähnlich Clark (1990:198f): Nietzsche lehne zwar den blinden Glauben an die Wahrheit ab, nicht aber die Verpflichtung zur Wahrheitssuche; auf diese Weise könnten neue Ideale gefunden werden, die das asketische Ideal erst überwinden, wobei Wissenschaft das Ideal nicht selbst aufstellt. Nur so glaubt Clark, den Wahrheitstrieb aus der Determination durch die unbewusste Triebstruktur zu befreien (vgl. 194f). Letztlich geht es ihr darum, die Wahrheit im Sinne eines naturwissenschaftlichen Methodenideals zu retten, was mit Nietzsches philologischen Denkstrukturen freilich nicht vereinbar ist, da der Sinn und damit die Wahrheit für den Philologen flüssig ist. Noch nicht ausgeschöpft sind die Rückverbindungen zu Gustav Gerbers Kunstauffassungen, die besonders den jungen Nietzsche prägten. Der erste Satz in Die Sprache als Kunst lautet: „Die Werke der Kunst bringen uns Freude, gleichsam eine Bejahung unserer Natur. Wir aber suchen die Freude, wie das Leben selbst, denn diese ist eben nichts anderes, als der Genuss des Lebens." (Gerber, 1871ff, Bd. 1:1) Diese Bejahung des Lebens durch den Spieltrieb der Kunst sei in der menschlichen Natur angelegt; seine Unterdrückung führt gleich der Unterdrückung des kindlichen Bewegungsdranges zu „Pein und Qual" (4). Der Schmerz wird somit zum „Stachel" und Ursprung des Kunstwerks; er entsteht beim Menschen — im Gegensatz zum Tier — aus dem Kampf des bewussten Ich mit seiner Natur, aus dem Dilemma, Natur und doch nicht Natur zu sein (15).
4.5. Zum Perspektivismus
237
Nietzsches Philosophen der Zukunft sind zu diesem Zeitpunkt schon auf den Plan getreten und haben neue Werte geschaffen, die jener Kunst den Rahmen absteckt. Schon früh hat Nietzsche ihren Bildungsweg beschrieben. Die wahren Philosophen müssten Kritiker, Skeptiker, Dogmatiker, Historiker, Reisende (!), Rätselrater, Moralisten, Seher und freie Geister gewesen sein — allesamt Vorstufen zur Schaffung neuer Werte. Ihr Erkennen — also ihr Perspektivismus — sei letztlich ein Schaffen, dieses wiederum ein neues Gesetz (vgl. JGB 211, 5:144f)332. Das asketische Ideal war zeitweise gleichsam nur die Übertreibung einer durchaus notwendigen Tugend. Man muss lernen, Herr seiner asketischen Anwandlungen und seines Wahrheitstriebes zu werden, wie man lernen muss, Herr möglichst vieler Triebe zu werden. Im nach- bzw. vorschöpferischen alexandrinischen Zeitalter muss man sich wenigstens nach Art der besten Alexandriner verhalten und durch die Zeiten hinweg zukunftsweisende Werte retten und erhalten. Ohne die Alexandriner und ihre Bewahrung der klassischen Texte hätte es keine Renaissance gegeben — Nietzsche hat keine Wahl. Zum neuen Philosophen ist er zu früh auf die Welt gekommen: „Einige werden posthum geboren." (AC Vorwort, 6:167; EH Warum ich so gute Bücher schreibe 1, 6:298). Wenn er im Spätwerk vor allem Kritik und Skepsis hervorhebt, dann deshalb, weil er hier den größten Mangel vermutet. Bei allem künstlerischen Ehrgeiz blieb Nietzsche am Ende das harte, letztlich unbefriedigende, ja nihilistisch-dekadente Los des Skeptikers und Unentschiedenen. Nietzsche ist, aber das muss hier Anspielung bleiben, Hamlet*».
332
Der positive Begriff des Philosophen hat wenig mit dem Universitätsphilosophen zu tun, wenigstens hier bleibt Nietzsche Schopenhauer treu. Vielmehr bezeichnet er den Gesetzgeber und Schaffer neuer Werte und nicht zuletzt jemanden, der „Vieles und vielerorts gewesen" ist, der also Perspektiven austauschen kann: „Ich m u s s t e eine Zeit lang auch Gelehrter sein." (EH Die Unzeitgemässen 3, 6:320f). Schon früher hieß es: „Wir s i n d etwas Anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist, dass wir auch, unter Anderem, gelehrt sind." (FW 5.381, 3:633ff). Seit seiner Wiederentdeckung des methodischen Potentials der Philologie unterscheidet Nietzsche die Angestellten der Wissenschaft von jenen Philosophen, um derentwillen die Wissenschaft überhaupt existiert. Letztere müssen unter eigenen Bedingungen erkennen; ihre Erkenntnisse lassen sich von der Person nicht wie bei jenen anderen, den bloßen Werkzeugen, trennen (z.B. WS 171, 2:624ff).
333
Die Selbstidentifikation mit Hamlet spielt für Nietzsches eine wichtige Rolle. Hamlet zaudert bei Nietzsche nicht, wie es die Tradition will, aus einem Übermaß an Reflexion, sondern aus einem Ubermaß an Einsicht und Erkenntnis. Hamlet ist Ephektiker und deshalb ,Philologe': in einem übermütigen Brief an die Schwester vom 11. November 1885 meldet sich Nietzsche etwa als „der hamletische M a u l w u r f !
5. Wissenschaftshistorischer Exkurs 5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion Nietzsche ist als Philologe nicht nur in der Nietzscheforschung oder der Philosophie, sondern auch in den philologischen Disziplinen selbst vernachlässigt worden. Ihnen muss man daraus gewiss einen gravierenderen Vorwurf machen als jenen, hätten sie doch eher als andere Fächer in der Lage sein sollen, die Bedeutung der Philologie für Nietzsche zu ermessen. Aus der klassischen Philologie ist Nietzsche bekanntlich früh verbannt und erst spät für sie wiederentdeckt worden. Methodisches Ideal hätte er hier freilich auch dann nicht werden können, wenn man die wahre Bedeutung der historisch-kritischen Schule bei ihm wahrgenommen hätte, denn in ihrer Anwendung auf dem Gebiet der Philologie unterschied er sich kaum von seinen Zeitgenossen. Die folgenden Kapitel gehen der Frage nach, warum Nietzsche dergestalt verkannt worden ist und an welchem geistesgeschichtlichen Ort er künftig aufgesucht werden sollte. Den philologischen Disziplinen insgesamt gilt Nietzsche heute entweder, französisch inspiriert, als radikaler Vorläufer der Dekonstruktion — in diesem Fall wird fleißig und unzusammenhängend aus dem Spätwerk, dem Nachlass der achtziger Jahre bzw. aus zweiter Hand zitiert334. Oder er tritt als Essayist des Apollinischen und Dionysischen auf, als Tragödientheoretiker und Wiederbeleber der Mythenforschung sowie als ästhetisierender Verfechter der Kunstreligion und Schlüsselfigur der deutschen Geistesgeschichte. Diese, vor allem in der deutschen Literaturwissenschaft vorherrschende Tradition, bevorzugt, nahezu unter Ausschluss der anderen Schriften, die Tragödienschrift; allenfalls der vermeintliche Kritiker des Historismus, also der Verfasser der zweiten Un^eitgemässen, tritt noch in Erscheinung335. In Anbetracht der hier aufgeworfenen Fragen interessiert 334
In diesem Zusammenhang nennt Le Rider (1999:242) interessante Zahlen zur Popularität einzelner Werke Nietzsches in Frankreich. Danach ist die Genealogie der Moral das bei weitem am meisten gelesene Werk, mit großem Abstand gefolgt vom Zarathustra. Die Uti^eitgemässen stehen am anderen Ende der Verbreitungsskala, auch Menschliches, All^umenschliches wird kaum wahrgenommen - Nietzsche in seiner ,aufklärerischsten' Phase passt nicht zum Bild, das der Poststrukturalismus für eigene Zwecke verfertigt hat. Bei den Philosophen und Theoretikern spielen nach persönlichem Eindruck v.a. verschiedene Nachlasskompilationen, häufig Übersetzungen die wichtigste Rolle.
335 i 3 e n Versuch, Nietzsches Ort in der Tradition der Literaturwissenschaft zu bestimmen, hat bereits Kunne-Ibsch (1972) unternommen, vor allem hinsichtlich Nietzsches Stellungnahmen zu Gattungsfragen, ästhetischer Begrifflichkeit (besondere Berücksichtigung findet die Tragödien-
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
239
zunächst die Auseinandersetzung zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion336, da sie im Kern eine Auseinandersetzung über Nietzsches Interpretationstheorie ist. Es soll nicht darum gehen, die allzu oft dargestellten Positionen zu rekapitulieren, sondern zu begründen, warum sich Nietzsche weder als Protohermeneutiker noch als Säulenheiliger der Dekonstruktion eignet337. Im Anschluss daran werden Vor- und Nachgeschichte des philologischen Nietzsche nicht zuletzt auch deshalb nachvollzogen, urn den Kontext und die Folgen der verfochtenen Thesen schärfer fassen zu können. Die Hermeneutik hat sich mit Nietzsche traditionell schwer getan. Trotz gerade in jüngster Zeit wieder forcierter Versuche, Nietzsche in die Geschichte der philosophischen Hermeneutik einzuschreiben — hier ist besonders Johann Nepomuk Hofmann 338 zu nennen — wird Nietzsche nach wie vor eher mit dem gegnerischen Lager in Verbindung gebracht. Schon Figl (1982:2f ) bemerkt die „eigentümliche Diskrepanz" zwischen Nietzsches epochaler Bedeutung für die schrift) und Epochenbestimmungen. Obgleich im ganzen sehr hilfreich, geht es jedoch weniger um grundsätzliche philologische Entscheidungen. Nachgewiesen wird in jedem Falle, wie weitgehend sich Nietzsche selbst mit traditionell literaturwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hat, die in unserer Terminologie vor allem unter die höhere Kritik fallen würden — und zwar in mehreren Nationalliteraturen. Das Gebiet ist so umfangreich, dass es hier noch nicht einmal berührt wird; es kann nur in die konkrete Arbeit an Nietzsches Text einbezogen werden. Kunne-Ibsch kommt übrigens mit Einschränkungen zu der Auffassung, dass Nietzsche als Vorläufer der modernen Literaturwissenschaft aufzufassen sei. Vor allem seine Sprachskepsis sowie die Beurteilung des Verhältnisses von Geschichte, Psychologie und Literatur seien noch zeitgemäß, wenn auch nicht jede konkrete Ausformung dieser Beurteilungen. Der Nachteil des materialreichen Buches besteht in der nicht hinreichenden Würdigung der Tradition, in der Nietzsche selber steht. Vgl. auch Wellek (1966a), dessen traditionelle, an der Geburt der Tragödie ausgerichtete Darstellung so oder ähnlich bis heute vor allem in der Germanistik dominiert. 336
337
338
Bzw. zwischen hermeneutischer und dekonstruktiver ,Methode' oder angewandter Hermeneutik und Dekonstruktion — wenn es in beiden Fällen auch kaum gestattet ist, von Methode zu sprechen. Auch andere damit in Verbindung stehende Diskussionen um Nietzsches Person lassen sich so differenzierter beurteilen. Wenn etwa für Habermas Nietzsche die „Drehscheibe" beim „Eintritt in die Postmoderne" (1985:104-129) ist, so interpretiert er ihn im Lichte der jüngeren französischen Aneignungen und fällt eindeutig hinter Nietzsches eigenen vielschichtigen Vernunftbegriff zurück. Siehe Hofmann (1996), v.a. aber Hofmann (1994), beide mit gutem Überblick des Verhältnisses hermeneutischer und antihermeneutischcr Theorie zu Nietzsche. Das Hauptgewicht liegt auf der hermeneutischen Theorie des zwanzigsten Jahrhunderts, was schließlich auch die Grenzen der Arbeit bezeichnet. Die Hermeneutik des neunzehnten Jahrhunderts und die hermeneutische Vorgeschichte werden ausgeklammert, Quellenarbeit gibt es kaum, Philologie spielt keine Rolle. Wenn Hofmann beispielsweise Nietzsches Verweis auf die Unverständlichkeit als Betonung des individuellen Unterschieds erklärt, die letztlich Verstehen zu einer Kunst machen solle (1996:300), so müsste hinzugefügt werden, dass sie das in der philologischen Tradition von Wolf bis Boeckh immer schon war. So kann Hofmann auch die Rolle von Text und Textkritik nicht erkennen. Nietzsches Philologie wird als bloßes Ideal interpretiert, das dieser selbst als unerreichbar ansah (1994:97f). Nietzsche erscheint bei Hofmann gleichsam als systematischer Denker, der aus unerfindlichen Gründen sein System unsystematisch dargestellt hat (ein Problem vieler philosophischer Nietzscheinterpretationen). Dies sind jedoch Kritikpunkte aus philologischer Perspektive. Hofmanns Darstellung ist als philosophische Aneignung Nietzsches berechtigt und nötig als komplementärer Blick.
240
5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Auffassung hermeneutischer Grundprobleme und seinem Fehlen in hermeneutischer Theoriebildung339. Unabhängig von Figl: Gerade von Gadamer hätte man doch erwarten können, einen Autor zu berücksichtigen, dessen Gedankenwelt so offensichtlich um das Problem der Auslegung und Interpretation kreiste. Man könnte versucht sein, dies mit dem Abgrenzungsversuch gegenüber einer Verdachtshermeneutik zu erklären, die der Interpretation zwar Allgegenwart zugesteht — das wäre nur im Sinne der universalen Hermeneutik —, sie aber zugleich mit Attributen versieht, in denen sich die entsprechenden Philosophen nicht gem beschrieben sehen. Interpretation als Vergewaltigung oder eine Hermeneutik des Verdachts, welche die Offenheit des Textes betont und Horizontverschmelzung ablehnt, kann in Gadamers Verständnis eigentlich keine Hermeneutik sein340. Für Nietzsche Heß sich indes die Gegnerschaft zu einer auf bloßer Allegorese beruhenden Verdachtshermeneutik nachweisen. Gadamer kann die entsprechende Rhetorik Nietzsches nicht entgangen sein. Ein fundamentaler Unterschied ergibt sich aber, wenn man Gadamer konsequent auf seinen fiktiven, möglicherweise nie erreichbaren Punkt der optimalen Horizontverschmelzung festlegt, auch wenn der laut Gadamer in der Praxis natürlich nicht auftrete. Nietzsche strebt im Umgang mit Texten und anderen Phänomenen selbst in der Theorie primär gar keine Interpretation' oder Horizontverschmelzung an, sondern allenfalls die Verbindung von Interpretation mit Kritik. Er entwirft, wenn es um die Auslegung schriftlicher Texte geht, ein Modell des Lesens, das dem flüssigen Sinn gerecht werden soll. Das Modell der Horizontverschmelzung geht dagegen noch von zwei statischen sensus bzw. intentiones aus, die sich verschmelzen lassen. Bei zwei Horizonten, die sich in ständiger Bewegung befinden, wäre die Analogie der Verschmelzung sinnlos. Es ist letztlich der Perspektivismus, der die größte Herausforderung für eine Universalhermeneutik darstellt und der wohl der wichtigste Grund für Gadamers Distanz zu Nietzsche war (vgl. auch Hofmann, 1994:278). Man könnte einwenden, dass eben der Prozess der Horizontverschmelzung die Tatsache des flüssigen Sinns erfasse. Dagegen spricht aber der Umstand, dass Gadamer anders als Nietzsche Lesen und Interpretieren nicht als jeweils rezeptivpassive und schöpferisch-aktive Verhaltensweisen unterschied, sondern als weitgehend synonym auffasste. Lesen enthalte immer schon eine Auslegung, daher stamme die Ambiguität des Wortes Interpretation, das ebenso auf künstlerische 335
So kommt Nietzsche in einer noch immer maßgeblichen Publikation zur Hermeneutik in der jüngeren Zeit, Band IX der Reihe Poetik und Hermeneutik (Fuhrmann/Jauß/Pannenberg, 1981), praktisch nicht vor. Dezidiert gegen die Vereinnahmung Nietzsches durch die Hermeneutik auch Abel (1984:170ff).
340
Gadamers Angriff auf die Hermeneutik des Verdachts (1983:350) ist nur zu verständlich, zerstört sie doch die kosmische, hochgradig metaphorische Harmonie der Horizontverschmelzung. Die Hermeneutik des Verdachts stellt Gadamer zufolge keineswegs den Normalfall der Kommunikation dar. Wenn man Gadamer darin auch zustimmen mag: im Prozess der konkreten Auslegung schriftlicher Texte nützt diese Einsicht wenig, denn der Verdacht ist ja dadurch gekennzeichnet, dass er in freier Willkür immer bestehen kann.
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
241
Reproduktion, wie z.B. die musikalische, angewandt werde. Zwischen reproduzierender Auslegung wie in der musikalischen Darbietung und der philologischen Lektüre, so eine Hauptthese in Wahrheit und Methode, bestehe kein prinzipieller Unterschied. Allerdings weiß jeder geübte Leser, dass Lesen prinzipiell selbstverständlich anders funktioniert als Vom-Blatt-Spielen. Allein normales, flüchtiges, Sinn erfassendes Lesen ist schon auf der Ebene der Neurophysiologie ein äußerst komplexes Ineinander perzeptiver und konstruktiver Prozesse (optischlexikalisch-syntaktisch), die, das ist entscheidend, simultan verlaufen und durch Rückkopplung (,hermeneutische Zirkel' jeglicher Art) gekennzeichnet sind. Professionelles Lesen ist kein linearer Prozess, sondern arbeitet mit Stellenvergleich, Vor- und Rückspringen, Anstreichungen usf. Die Musik, die so gespielt wird wie Philologen lesen, ist bisher glücklicherweise nicht zur Aufführung gelangt. Noten ,lesen' und vom Blatt spielen sind Interpretation' in Nietzsches Sinn höchstens insofern, als der Musiker während der Aufführung nicht zurückgehen und seine Perspektive' ändern kann; er ist dem zeitlichen Verlauf unterworfen. Mit Abschluss des Konzerts ist das Stück ,interpretiert', denn es hat eine einmalige Form angenommen. Das Schöpferische dieser Interpretation zeigt sich in der affektiven Ausgestaltung des Spielens über einem bestehenden Text. Der mehrfach erwähnte Brief Nietzsches an Fuchs bezieht sich in seiner Erläuterung über Interpretation genau aus diesem Grund auf die Musik. Das philologische Lesen weist laut Gadamer wie die Interpretation ein Moment der Applikation auf (vgl. zu den folgenden Ausführungen Kap. II.2 in Gadamer, 31972). Sie bilde das Band, das die je nach Fach verschiedenen Hermeneutiken einen soll. Die Verschmelzung von subtilitas intelligendi und subtilitas explicandi zum Verstehen und Auslegen in der romantischen Hermeneutik habe zur Herausdrängung der Applikation (die erbauliche Anwendung in der Predigt, das Urteil des Juristen) aus der allgemeinen Verstehenslehre gefuhrt, die sich seitdem auf das Enträtseln und Rekonstruieren des Anderen beschränkte. Da im Verstehen aber angeblich immer „so etwas wie eine Anwendung" enthalten sei, weil der Interpret den Text auf seine gegenwärtige Situation beziehe, müsse die Applikation in die Vorstellung eines einheitlichen Vorgangs des Verstehens einbezogen werden. Mithilfe dieser klassischen Petitio principii will Gadamer die geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der juristischen und theologischen her neu bestimmen (S. 294), und in der Tat: wenn Theologie und Jurisprudenz, zumindest methodisch, die Leitwissenschaften etwa für Philologie und Historiographie abgäben, dann wäre die Interpretation' auch ihre Leitoperation. Gadamers fehlende Differenzierung zwischen Interpretation und Lesen ist jedoch nicht das Problem, sondern Symptom. Das Lesen war bei Nietzsche deshalb kein Synonym der Interpretation, weil es mehr als Hermeneutik beinhaltete. Lesen war bei Nietzsche eine philologische Strategie, die sich selbst auf Schritt und Tritt kontrollierte, das verinnerlichte Wechselverhältnis von Hermeneutik und Kritik: im Idealfall eine Übung im Perspektivismus. Gadamer vernachlässigte
242
5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
in seiner Schleiermacher-Rezeption nicht nur, wie inzwischen vielfach belegt, die grammatische Auslegung als materiale Grundlage der psychologischen Auslegung (vgl. schon Szondi, 1975:135,166)341, sondern privilegierte vor allem die Hermeneutik auf Kosten der Kritik. Erklärungs- und Auslegungskunst werden bei ihm eins mit Hermeneutik — und deshalb mit Interpretation. Gadamer war Katalysator einer fatalen Begriffsverwirrung, in der die Hermeneutik als Theorie des Verstehens mit der Hermeneutik als techne gleichgesetz bzw. diese in jener aufgelöst wurde. Wenn die Theorie der Hermeneutik selbst keine Kritik mehr beinhaltet, dann ist freilich nicht nur der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Nun hat, und das ist der entscheidende Beitrag Gadamers gewesen, die Philosophie wieder ein Wort mitzureden. Das eigentliche Ziel der philosophischen Hermeneutik, das bei Gadamer im Vergleich zu anderen Hermeneutikern nur besonders deutlich zu Tage tritt, liegt in der Rückgewinnung der Autorität der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin und Krone der Schöpfung, die mit dem ungeheuren Erfolg der Naturwissenschaften und dem Anspruch der anderen Einzeldisziplinen, ihre Methodik nun selbst zu reflektieren, in Bedrängnis gekommen war. Wenn man nachweisen konnte, dass es ein allgemeines, den Disziplinen vorgelagertes Verstehen gibt, dessen Parameter auch das spezielle Verstehen determinieren, dann hätte die Philosophie wieder einen genuinen Kern und bildete wie eh und je nach idealistischer Vorstellung die Krone im Baum der Erkenntnis. Man kann diese Strategie bei Gadamer bis ins Detail verfolgen, gerade in seiner Konfrontation mit Historikern und Philologen, den ärgsten Konkurrenten der philosophischen Hermeneutik in der Auslegungstheorie. Der Historiker interpretiere Texte auf etwas hin, das nicht in der „gemeinten Sinnrichtung" (31972:319) zu liegen brauche, in der Texte also Dokumente sind, die erst durch 341
Hierbei interessiert der Umstand, dass selbst für den von einer .einfühlenden1 Hermeneutik vereinnahmten Theoretiker das dialektische (dialogische) Zusammenwirken von Sprach- und Denkanalyse Programm war, und zwar als Erbteil der philologischen Tradition. Vgl. auch Wahrheit und Methode (31972:174), wo Gadamer ausdrücklich und ohne jede Begründung die Beschäftigung mit der grammatischen Auslegung Schleiermachers abweist. Die psychologischtechnische Auslegung, die hier auf Divinatorik verpflichtet wird, sei Schleiermachers eigentliches Interesse gewesen. Es ist Manfred Franks Verdienst, nachgewiesen zu haben, dass Schleiermachers ,Divination' rein gar nichts mit einer ,Einfühlung' zu tun hat, die den Perspektivismus des Interpreten transzendieren kann, sondern eher der Konjektur entspricht (vgl. seine Einleitung zu Schleiermacher, 1977:46ff). Komparation und Divination sind, wie man an Schleiermachers Ausfuhrungen leicht selbst überprüfen kann, vielmehr abstrakte Operationen, die auf jeder Auslegungsebene, beileibe nicht nur der psychologischen, Anwendung finden. Es handelt sich um philologisches Handwerkszeug, wie es schon bei Ast und Wolf, den primären Quellen Schleiermachers, vorkommt. Bei Schleiermacher ist die grammatische Interpretation bezogen auf die Gemeinsamkeiten von Autor und Leser bzw. Sprecher und Hörer, die technische auf das Besondere, Kunstmäßige, etwa im Stil des Autors. Die grammatische Interpretation führt über die kursorische Lektüre und mittels Komparation und Divination auch in der statarischen Lektüre zur wachsenden Sicherheit über die Bedeutung und ist Grundlage der technischen Interpretation, deren Verhältnis zur grammatischen Auslegung Schleiermacher durchgehend stark beschäftigt hat.
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
243
den Vergleich mit anderen Daten und Quellen ihre wahre Bedeutung erlangen. Philologen seien schon so weit Historiker geworden, dass ihnen die Texte nicht mehr Vorbild seien, diese also nicht mehr um ihrer selbst willen gelesen werden. Philologie sei deshalb Hilfsdisziplin der Historie geworden: „Das zeigte sich etwa an der klassischen Philologie, als sie sich selber Altertumswissenschaft zu nennen begann, so bei Wilamowitz." (320). Philologie wird hier also bereits auf das Verstehen reduziert. Die Philologie heißt freilich mitnichten erst seit Wilamowitz Altertumswissenschaft, sondern schon seit F.A. Wolf, bei dem das Verhältnis zwischen Klassizismus und Historismus komplizierter ist. Gadamer verschweigt genau die wissenschaftliche und methodische Tradition, der u.a. Nietzsche angehört. Auf diese Weise kann nun aber der Philosoph als Theoretiker der Hermeneutik den Retter der Philologie aus der tödlichen Umarmung der Historiographie geben — und diese sogar gleich mitbefreien. Er ist es, der den Philologen daran erinnert, immer schon zu applizieren insofern er „an dem großen, uns alle tragenden Geflecht aus Herkommen und Überlieferung" webe (323) — wie übrigens der Historiker auch, dessen hermeneutischer Gegenstand schließlich gleichfalls die Einheit der Überlieferung sei. Um den Herrschaftsanspruch der philosophischen Hermeneutik auszudehnen, spricht Gadamer folgerichtig vom Leser des großen Buchs der Weltgeschichte, vom „Text der Weltgeschichte" (ebd.), mit dem sich Nietzsche aus Bedenken des professionellen Textkritikers so schwer getan hatte. Die ,Applikation' in den Geisteswissenschaften, die Gadamer hier vertritt, hat freilich einen ganz anderen Status als die Applikation in Theologie und Jurisprudenz. Während sie dort zeitlich das Ende eines konkreten Auslegungsprozesses markiert — in der Predigt oder in der Anwendung des Gesetzes im Gerichtsaal bezeichnet das ,Weben' des Traditionszusammenhangs den immer neuen Anfang der Auslegung342. Es zeigte sich, dass dieses Verfahren sich nicht, wie Gadamer optimistischerweise noch angenommen hatte, „selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes" — und zwar „im Dienste dessen, was gelten soll" — unterordnet (Gadamer, 31972:295). Erreicht hat Gadamer lediglich, dass sich in den Philologien die letzten Vorstellungen vom engen Zusammenhang der Grammatik, Kritik und Hermeneutik verflüchtigten und durch die Triade der subtilitas intelligendi, explicandi und applicandi ersetzt wurden, die aus der religiösen Wurzel des Pietismus stammen. In der Applikation der Geisteswissenschaft will Gadamer jedoch nicht allein die (pietistische) Erbauung wiederbeleben, sondern einer mo-
342
Der Jurist und hermeneutische Theoretiker Emilio Betti hat gegenüber Gadamer einen trefflichen Einwand gefunden, indem er auf den wesentlichen Unterschied einer juristischen Gesetzesanwendung zur rechtshistorischen Untersuchung hinweist (1962:46). Fuhrmann (1981) zufolge lässt Gadamer offen, was mit Applikation auf dem Gebiet der Dichtkunst gemeint sei. Fuhrmann vermutet, es handele sich eigentlich nur um eine Art humanistisch-pädagogischen Imperativ, der großer Dichtung zu extrahieren sei. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, dann wäre dieser Begriff der Applikation noch fragwürdiger, denn er würde den Willen zur Erhebung ja immer schon voraussetzen.
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
nistischen Utopie huldigen, die mit Macht die auseinanderfallenden Wissensdomänen in eine organische Einheit zwingt. Allerdings haben Theologen und Juristen immer und aus guten Gründen auf ihren speziellen Auslegungsverfahren (im Sinne einer techne) bestanden, die Gadamer als bloße Kunsdehren abtat - man versuche ruhig einmal, eine Predigt aus den Anleitungen der philosophischen Hermeneutik zu formulieren oder gar auf ihrer Grundlage die Auslegung eines Gesetzes vor Gericht zu begründen. Einzig die Geisteswissenschaften, selbst unter unaufschiebbarem Legitimationsdruck und durch keinen äußeren Zwang zur inneren Verfestigung der eigenen Interpretationsgemeinschaft angehalten, ließen sich, mit fatalen Folgen für ihr Selbstverständnis, in dem Glauben darauf ein, durch die Applikation einem wie auch immer gearteten Nutzen zugeordnet werden zu können. Gadamer hat zwar ständig betont, dass seine Hermeneutik eben gerade nicht als Methode gemeint ist. Schon Heidegger ja brach mit der Hermeneutik als geisteswissenschaftlicher Methodenlehre und universalisierte sie zur Bedingung des Daseins. „Die Hermeneutik hält eine Erfahrung fest und ist keine Methode, den richtigen Sinn festzustellen, als ob dieser so je erreichbar wäre." (Gadamer, 1987:260). Paradoxerweise ist Gadamer aber gerade von den praktizierenden exegetischen Disziplinen vereinnahmt worden, ein Missverständnis, so es eines ist, an dem er freilich Mitschuld trägt, hat er sich auf dem Hintergrund der Theorie doch selbst als Exeget betätig und insbesondere den Lehren seiner geistigen Schüler nicht widersprochen, unter denen Wolfgang Isers Lesetheorie die wohl einflussreichste geworden ist343. Allen auf Gadamer aufbauenden Methodenlehren bzw. Auslegungstheorien ist die Schwächung der oder gar der Verzicht auf die (bewusste oder unbewusste) Autorintention gemeinsam. Der ohnehin unsichere Status des auszulegenden Fremden wird damit prekärer bis zu dem Punkt, wo die Erkennbarkeit des Anderen überhaupt geleugnet wird. Kritiker haben an diesen beiden Punkten angesetzt; und es zeigt sich, dass Nietzsches Lese- und Auslegungskunst eher zu den Argumenten der Kritiker passt. Bezeichnenderweise geht etwa Hirsch in seinem grundlegenden Werk (Hirsch, 1967) von jener philologischen Tradition aus, die auch für Nietzsche maßgeblich war. Hirsch beruft sich nicht zuletzt auf die Alexandriner und die Schule des Kommentars (1967:127); Philologen wie August Boeckh sind für Hirsch Vorbild der redlichen Interpretation. Wie bei Nietzsche muss auch für Hirsch die Autorintention erstes und letztes Kriterium der Auslegung bleiben. Die rhetorische Geste, sich auf den Text zu konzentrieren, ver343
Isers Auffassung vom Text als „Partitur" (1976:177) geht auf Gadamer zurück, aber als Philologe bedenkt er dennoch das prozessuale Moment des Lesens, den „wandernden (!) Blickpunkt" des Lesers (ebd.). Isers Metapher der Leerstellen im Text, die es vom Interpreten auszufüllen gelte, ist freilich mit den Grundsätzen der Hermeneutik kaum vereinbar. Die Partiturmetapher als Sinnangebot gegenüber dem Rezipienten gehört noch in den Kontext der heute überholten Kommunikationstheorie der siebziger Jahre, in welcher der Text als Realisat eines komplexen Kommunikationsaktes angesehen wurde, der zum Zwecke der Untersuchung abstrahiert werden musste (dazu Schemer, 1996:141). Die hermeneutisch geprägte Literaturtheorie hat sich in logischer Konsequenz zur Rezeptionsästhetik weiterentwickelt.
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
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decke lediglich die Intentionen des Lesers. Da es in der Natur des Texts liege, immer „somebody's meaning" (3) auszudrücken, wurde aus der Auslegung der Autorintention eben Rezeptionstheorie, gegen die Hirsch ebenso große Vorbehalte hat, wie gegen den radikalen Historismus, für den sich die Bedeutung eines Textes mit dem Wandel der Zeiten verändert. Hirschs Buch ist W.K. Wimsatt gewidmet, einem Autor mithin, der zu den bekanntesten und schärfsten Kritikern der sog. intentional fallacy gehörte: selbstverständlich sind auch für Hirsch nicht die Autoren die einzig wahren Autoritäten für den Sinn ihrer Texte. Er fällt nicht in die naive Auffassung zurück, vor der schon Nietzsche, ausdrücklich als Philologe sprechend, als einem weit verbreiteten Irrtum warnt: „Ein Dichter ist absolut keine Autorität für den Sinn seiner Verse: man hat die wunderlichsten Beweise, wie flüssig und vag für sie der ,Sinn' ist -" 344 . Die Attribute des Sinns beziehen sich hier der Kongruenz wegen eindeutig auf die Verse: ihr Sinn ist und bleibt vag und flüssig und kann deshalb vom Autor so wenig wie von anderen Auslegern verfestigt werden. Da der Mensch immer intentional, immer auf einen Sinn ausgerichtet ist und lieber das Nichts will als nicht wollen will und weil schließlich die Grammatik indoeuropäischer Sprachen immer eines Agens bedarf, so Nietzsches Einsicht schon vor der Genealogie der Moral, benötigen wir immer die Intention als Leitfaden der Auslegung, und sei sie nur fiktiv. Die Autorintention ist bei Nietzsche wie bei Hirsch ein Rekonstruktionsversuch der Entstehensbedingungen, d.h. der „aims and attitudes" (224) des Autors — obwohl Hirsch nicht ausdrücklich darauf hinweist, so umfasst dies eben auch „attitudes", die dem Autor möglicherweise selbst nicht bewusst sind. Hirsch schließt somit an die alte philologisch-hermeneutische Forderung an, den Autor besser zu verstehen als dieser sich selbst. Wichtig ist dabei Hirschs sehr frei nach Frege getroffene Unterscheidung von Sinn (meaning) und Bedeutung (significance), die mehrfach zur Unterscheidung von interpretation und criticism in Beziehung gesetzt wird. Der Sinn, d.h. die rekonstruierte Autorintention, bleibe konstant, während die Bedeutung sich je nach Interpretationskontext ständig änderte. Auf den Sinn zielt die Interpretation, mit der Bedeutung beschäftigt sich die Kritik als „that field of endeavor which describes the relationships of texts to larger contexts of reality and value" (143). Wie in der philologischen Divination geht auch die Interpretation Hirschs immer vom „guess" aus (170), der ständig überprüft werden will. Obwohl Hirsch letztlich aus denselben Quellen schöpft wie Nietzsche, gibt es dennoch Unterschiede, die eine Verwechslung ausschließen. Zwar erkennt Hirsch durchaus an, dass es offensichtlich verschiedene Interpretationen gibt, die auf unterschiedliche Perspektiven und Interessen zurückgehen, bleibt aber der Vorstellung der Interpretation als einer „progressive discipline" (170) verhaftet, die zu gültigen Interpretationen vorstoßen kann und ungültige aussortiert. Gültige Interpretationen sind selbstkritischem, rationalem Denken verpflichtet und 344
Brief an Carl Fuchs vom 26. August 1888 (III.5:399ff).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
durch Evidenz begründet. Die besten, d.h. die überzeugendsten Interpretationen345 werden sich in einer Art survival of the fittest der Vernunftentfaltung durchsetzen. Hier gilt derselbe Einwand wie gegen Maudemarie Clark (s.o.): Nietzsche ist realistischer, indem er anerkennt, dass Auslegungen auch von anderen Kriterien als Rationalitätskriterien beurteilt werden. Es ist eine seiner Grundthesen, dass sich in der abendländischen Geschichte jene lebensfeindlichen Auslegungen durchgesetzt haben, die es nach Vernunftgründen eigentlich nicht verdient hätten. In ähnlicher Weise lief auch Nietzsches Einwand gegen den Darwinismus auf die Erkenntnis hinaus, dass sich typischerweise die Schwachen gegenüber den Starken durchsetzen346. Nietzsche ist deshalb konsequenter, wenn er zunächst rein deskriptiv das gute vom schlechten Lesen und von der Interpretation unterscheidet. Als Philologe begnügt er sich mit dem Nachvollzug des flüssigen Sinns und der Entkräftung aller mit Machtanspruch auftretenden Interpretationen, auch wenn dies unter Dekadenzverdacht steht. Die scheinbar so rational gewonnene Interpretation Hirschs wäre für Nietzsche Vergewaltigung des flüssigen Sinns wie jede andere Interpretation auch. Nietzsche versuchte eine der Hauptschwierigkeiten von Auslegung und Kritik, die Möglichkeit der Wahrnehmung und des Erkennens des Fremden, durchaus traditionell zu lösen, indem er eine zwischen Autor und Exeget bestehende Kommensurabilität forderte, auch wenn die Schwierigkeit offensichtlich schon bei der Selbsterkenntnis, dem Phänomenalismus der inneren Welt beginnt. Gadamers Insistenz auf der Geschichtlichkeit allen Verstehens, d.h. auf der historischen Bedingtheit jeder Auslegung, ist damit scheinbar schwer zu vereinbaren. Die historisch diskreten Vorurteile schließen Erkenntnis des historisch Fremden nahezu aus. Schon Hirsch hält ein interessantes Argument dagegen. Wenn bei Gadamer und Heidegger der Abstand zwischen Individuen schließlich doch annähernd überwunden werden kann, so müsse auch der Epochenabstand überwindbar sein, da er ja nichts anderes als den Abstand je zweier Individuen beschreibe (1967:258). Der schärfste Kritiker Gadamers auf diesem Gebiet ist je345
Hirsch bevorzugt den Begriff der validation anstelle von verification, weil es nicht um Wahrheit gehe, sondern um die Möglichkeit von Wahrheit angesichts vorliegendenen Beweismaterials, das durch rationale Schlüsse gekennzeichnet ist und nicht, wie bei der Verifikation, durch Empirie. Die Beweisführung, d.h. die Evidenz der Auslegung, stammt offensichtlich in philologischer Manier aus dem Vergleich von Texten, aus Informationen über den Autor, den zeitlichen Kontext usf.
346
Vgl. etwa den Aphorismus „ A n t i - D a r w i n " : „Was den berühmten Kampf um's Leben betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesammt-Aspekt des Lebens ist n i c h t die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung, — wo gekämpft wird, kämpft man um Macht... Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. — Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf — und in der That, er kommt vor —, so läuft er leider umgekehrt aus als die Schule Darwin's wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen d ü r f t e : nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen n i c h t in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, — das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch k l ü g e r ..." (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14, 6:120f).
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
247
doch Emüio Betti geworden. Gleich Nietzsche bzw. der philologischen Tradition ist er der Auffassung verpflichtet, dass „nur ein Geist gleichen Niveaus und kongenialer Veranlagung Zugang zum redenden Geist gewinnt und in der Lage ist, ihn in sinnadäquater Weise zu verstehen" (1962:53). Zwar gesteht er Gadamer die Geschichtlichkeit des Verstehens und die aktive Rolle des Interpreten zu, hält aber die Unmöglichkeit von Objektivität sowie eine daraus resultierende Aufgabe des wissenschaftlichen Anspruchs für keine zwingende Folgerung. Der Begriff der Objektivität darf nicht im Sinne eines direkten, uninterpretierten Zugangs zum Ding an sich missverstanden werden. Gemeint ist vielmehr die Erkenntnis der Phänomene „in ihrem eigenen Selbstsein" (28), die auch dann nicht ausgeschlossen ist, wenn endgültige Erkenntnis in historicis nie erreichbar ist. Werde das „Eigentümliche des Anderen" (35) nicht respektiert, so wird aus dem anvisierten Dialog ein Monolog, in welchem der Interpret ein fragwürdiges Monopol auf die Wahrheit besitzt (43ff). Die „Umstellung" in eine fremde Subjektivität wird durch die eigenen Subjektivität nicht nur nicht behindert, sondern diese macht jene auf der Grundlage gemeinsamen „Menschtums" überhaupt erst möglich (12f): aus dieser Antinomie stamme die gesamte Dialektik des Auslegungsprozesses. Mit Bettis Hilfe lässt sich der Objektivitätsbegriff von seinen heutigen naturwissenschaftlichen Prämissen befreien, die für kulturelle Phänomene nicht ausreichen. Objektivität aus philologischer Sicht heißt eben - und es ist diese Denkfigur, die sich bei Nietzsche nachweisen ließ —, den Anderen in seiner Andersartigkeit zu respektieren und zu rekonstruieren. Diese Bedeutung von Objektivität lässt sich am besten mit einem philologischen Beispiel verdeutlichen, nämlich am Gleichnis der Lektüre eines in fremder Sprache verfassten Werks. Es ist ein Unterschied, ob ich es mir in einer Übersetzung aneigne oder mich der Mühe unterwerfe, die fremde Sprache zu erlernen (wobei der Lektüreerfolg hier natürlich wieder vom Grad der Sprachbeherrschung abhängt). Verstehen ist für Betti ebenso wie in Nietzsches Lesekunst das Wiedererkennen und Nachkonstruieren des Sinns, und zwar nicht als romantische Einfühlung. Auf die Subjektivität kann und soll nicht verzichtet werden, denn nur aus ihr kommen die interessanten Fragen. Aber bewusst applikativ-persönliche Interessen, Wünsche, Motive seien zurückzustellen (23). Scharf richtet sich Betti deshalb gegen Gadamers Auffassung vom applikativen Charakter des Lesens wie der Auslegung schlechthin. Applikationsleistung sei nur bei normativ ausgerichteter Auslegung angemessen; es gibt bei Betti einen qualitativen Unterschied zur eher kontemplativen Auslegung in Geschichtswissenschaft und Philologie - eine genaue Entsprechung der passiven Auslegungskunst bei Nietzsche. Tatsächlich bestimmt Betti die Gemeinsamkeit von Historiographie und Philologie sogar ganz im Geiste der historisch-kritischen Philologie in der „historischen Kritik der Überlieferung" anstelle der Applikation (48f). Als Autorität und Unterstützung seiner Auffassung der fachbegründenden Bedeutung von Kritik zitiert Betti
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
schließlich sogar Nietzsche selbst (50), ein Umstand, der die Interpretationstheoretiker merkwürdigerweise bis heute nicht stutzen ließ. Betti fand zu Nietzsche durch die Abwendung von der Heideggerschen und Gadamerschen Version hermeneutischer Theorie und indem er die eigene hermeneutische Theorie der Kritik öffnet. Einen an Nietzsche ausgerichteten konsequent antihermeneutischen Gegenentwurf hat der Dekonstruktivismus aufgestellt. Es ist bekannt und wurde auch in dieser Arbeit schon angedeutet, dass Nietzsche — gemeinsam mit Marx und Freud — zum Kampfgenossen jener Generationen seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde, die den drei großen H's, nämlich Hegel, Husserl und Heidegger, gleichwertige Autoritäten entgegensetzen wollten (s. Le Rider, 1999:21 Iff). Das Interesse an der Frage, wie berechtigt ihre Inanspruchnahme Nietzsches ist, wird gesteigert durch den Umstand, dass aus jenem Triumvirat er allein noch nennenswertes Ansehen genießt (was sich freilich schnell wieder ändern kann). Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen sollen jedoch nicht philosophische Auseinandersetzungen stehen, sondern die Folgen, die eine angemessene Würdigung der Rolle der Philologie in Nietzsches Denken für seine Instrumentalisierung durch die exegetische Praxis des Poststrukturalismus v.a. in der Literaturwissenschaft hat. Im Zentrum der Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion steht die Frage, ob die Interpretation im Anschluss an Nietzsche durch den Machtgedanken vollständig beschrieben ist347. Keiner der Beteiligten hat die spezifische Bedeutung des Interpretationsbegriffs bei Nietzsche erkannt. Keiner wollte die Funktion des Lesens als Gegenbegriff zur Interpretation wahrnehmen, weil damit die Absicht, nämlich den spezifischen Interpretationsbegriff zu universalisieren und auch auf die Domäne der Philologie, also schriftlicher Texte, auszudehnen, vereitelt worden wäre. Selbst Emst Behler, dem hervorragenden Philologen und einem der besten Nietzschekenner, ist nur mit Einschränkungen zuzustimmen, wenn er, eher auf Derridas Seite stehend, Nietzsches aktiven Interpretationsbegriff in der gegenseitigen „Durchdringung verschiedener Interpretationsweisen", in der „bewußten Auswechslung von Perspektiven" verortet (1988:97). Dabei hatte Nietzsche ja bewusst den Begriff der Interpretation weder normativ ver347
Die bekannteste und am besten dokumentierte Kontroverse fand zwischen Gadamer und Derrida (Derrida, 1984b; Gadamer, 1987; Behler, 1988; Figl, 1989:154f) statt. Für Derrida ist Heidegger und nicht Nietzsche der letzte Metaphysiker, der seinerseits vielmehr zu ihrer Uberwindung beitragen kann und, der Grundthese Heideggers entgegengesetzt, gerade kein mehr oder weniger einheitliches Denksystem errichtet hat. Der logozentristischen Sinnermittlung der Hermeneutik setzt er das mehrstimmige Zusammenspiel der Signifikanten und die Autonomie der Schrift entgegen. Gadamer, der durchaus den bisweilen gewaltsamen Charakter von Heideggers Exegesen zugibt, verteidigt aber gerade dessen Nietzschedeutung (eine vorbildliche, wenig beachtete Kurzkritik der Nietzsche-Interpretation Heideggers findet sich schon bei Granier, 1966:611-628). Er weist mit Hinweis auf die Rolle, die für ihn Gespräch und Dialog haben, den Vorwurf Derridas von sich, dass hermeneutisches Verstehen bloße Aneignung und Machtwillen verkörpere (z.B. 1987:225). Der gute Wille zum Verständnis des Anderen wird von Derrida jedoch der überholten Periode der Willensmetaphysik zugeschlagen, besonders angesichts der Möglichkeiten, die durch die Psychoanalyse eröffnet worden seien (1984b).
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
249
wendet oder noch den Perspektivismus als Heilsweg beschrieben. Denn schon jede Einsicht in das menschliche Dasein selbst als ein essentiell auslegendes wird durch die Annahme des Perspektivismus relativiert, da sich der menschliche Intellekt ebenfalls nur „unter seinen perspektivischen Formen" und jedenfalls nicht „um [seine] Ecke" sehen kann. Durch unsere Einsicht in die Begrenzung unserer Perspektive ist die Welt wieder unendlich geworden, denn sie enthält die Möglichkeit unendlicher Interpretationen. Aber, so Nietzsche, „wer hätte wohl Lust, dieses Ungeheure [...] sofort wieder zu vergöttlichen?", d.h. das Unbekannte statt den Unbekannten anzubeten? Zu viel „Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation" gäbe es dabei! (FW 5.347, 3:626f). Ein früherer, wenig beachteter und an vergleichsweise endegener Stelle publizierter Aufsatz Behlers traf es deshalb besser. Behler führt hier Nietzsches häufigen Vorwurf des Mangels an Philologie auf „ein Fehlen des kritischen Sinnes" zurück (1983:22) und beschreibt die Philologie als kritisches Pendant zum Ausbalancieren des menschlichen Schaffensdrangs. Der Perspektivenwechsel sei notwendig bei der Auslegung, um die negativen Aspekte der Interpretation auszugleichen (28)348. Derrida hat, Behler ist kein Einzelfall, vor allem in den literaturwissenschaftlichen Seminaren Anhänger gefunden. Sein Projekt der Verwischung von Gattungsgrenzen zwischen Philosophie und Literatur schien ja auf eine Ausweitung literaturkritisch-rhetorischer Methoden auf die Lektüre philosophischer Texte hinauszulaufen und damit das Fach relevanter und interessanter zu machen. Freilich konnte Derrida Nietzsches Begriff der Philologie nicht gerecht werden; seine kritischen Exegesen müssen sich selbst der Kritik des Philologen aussetzen. Ein guter Ausgangspunkt ist das Nietzsche-Buch Οίο biographies (Derrida, 1984a). Typisch für die von Derrida hier selbst demonstrierte exegetische Technik, die ja implizit behauptet, u.a. auf Nietzsche selbst zurückzugehen, ist das Ausgehen von scheinbaren Nebensächlichkeiten bei gleichzeitiger Konzentration auf den genauen Wortlaut des Textes. Die Schwierigkeiten bei der Lektüre von Derridas Text liegen in erster Linie in der graphischen Unübersichtlichkeit, die durch ständige in Klammern gesetzte Originalzitate entsteht. Schon hier stößt man auf ernsthafte Probleme, die Derridas eigene Voraussetzungen infrage stellen. Die Originalzitate Nietzsches sind nicht immer korrekt wiedergegeben, manche von ihnen ungrammatisch. Übersetzungen bedient sich Derrida mit einer Selbstverständlichkeit, die Verwunderung erregt. Insgesamt wirkt Otobiographies wie eine genau beobachtende, kommentierende Paraphrase Nietzsches und käme dem ,Lesen' nahe, wenn Derrida die Lektüre nicht ausgerechnet am Ende mit immer
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Behler erklärt an dieser Stelle allerdings auch die Diskrepanz zwischen einem positiven und einem negativen Philologiebegriff bei Nietzsche durch eine etwas verwirrende und letztlich nichtssagende Hilfskonstruktion: Nietzsche habe einen doppelten Begriff von Philologie, nämlich einen niederen und einen höheren gehabt (24). Hier kommt die Chronologie etwas durcheinander, denn das frühe Ungenügen am Beruf des Philologen spielt später keine wichtige Rolle mehr.
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
weiterreichenden Hypothesen verbände, welche die Lektüre zunichte machen und in Allegorese überführen349. Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen Literaturwissenschafdern, die sich auf einen durch die Brille des Dekonstruktivismus gesehenen Nietzsche berufen, sowie dem historischen Nietzsche selbst besteht gleichwohl in der Konjunktur des Begriffs der hektüre auf Kosten der Interpretation. „Criticism is a metaphor for the act of reading, and this act is itself inexhaustible" schrieb Paul de Man bereits in einem frühen Buch (1971:107). Ist damit dasselbe gemeint wie bei Nietzsche? Derridas Beispiel lässt daran zweifeln. Bei den redlichsten und reflektiertesten Autoren kann man freilich den Versuch beobachten, über den Umweg der antihermeneuüschen Wende des Poststrukturalismus an das komplexere philologische Lesen der Frühzeit anzuknüpfen, das noch Kritik und Grammatik einschloss und sich als Kommentar verstand. So begründet David Wellbery ein Lesen, welches sich nicht auf wahre oder falsche Lesarten versteift, sondern „welches die eigene Prozeßhaftigkeit mitreflektiert", in dem also die Sinnkonstruktion erst durch im zeitlichen Verlauf gewonnene „Selbstkorrektur" ermöglicht wird. Letztlich handelt es sich um eine Neuausgabe des close reading, in der das Ästhetische aus der hermeneudschen Forderung nach Sinn endassen wird, weil es „um eine Erfahrung des Materials als eines sich dem Verstehen Entziehenden, das sich im Prozeß der Lektüre herstellt" geht (1996:131)350. Unter den einflussreichen neueren Lesetheorien kommt diejenige Stanley Fishs der philologischen Tradition in einigen Punkten recht nahe. Die Basis von Fishs Argumentationen ist die Überzeugung von der Sinnlosigkeit des Unterschieds von eigentlicher und uneigentlicher Sprache (z.B. 1980:97), wobei er sich u.a. auf die Sprechakttheorie Searles bezieht, um zu zeigen, dass jede sprachliche Äußerung erst im jeweiligen Handlungskontext Bedeutung erlangt. „Meaning is human" (96) — banal aber richtig. Fish ist vor allem dank der Radikalität bekannt geworden, die vermeintlich jede Beziehung zwischen Leser und Text kappt. Sein eigentliches Anliegen ist jedoch ein anderes. Nicht die Beziehung zwischen Form und Inhalt soll negiert werden, sondern die Möglichkeit, diese objektiv nachzuvollziehen. Sein literaturtheoretisches Werk lässt sich als Kritik einer Bewegung verstehen, die ihre von der Grammatik letztlich unabhängigen Interpretationen auf linguistische Phänomene aufpfropft, die je nach Kontext Unterschiedliches 349
In den Eperons (1978) versucht Derrida etwa durch die ,Dekonstruktion' Nietzsches angeblicher Frauenfeindschaft zu zeigen, wie sich dessen Denken feminisieren lasse. In einem schönen Artikel hat Eric Blondel die Grenzen und philologischen Mängel vieler neuerer französischer Nietzschelektüren aufgezeigt (1981/82).
350
Dazu auch Klaus Weimars „Annotationen zu David Wellberys Thesen" im selben Band (S. 142ff), eine Verteidigung der Hermeneutik, die von groben Missverständnissen geprägt ist. Selbstverständlich geht es nicht darum, dass Lesen etwa kein Verstehen voraussetze, wie Weimar Wellbery unterstellt. Vielmehr geht es um unterschiedliche Weisen des Verstehens. Da Interpretation und Lektüre jeweils Verstehen voraussetzen, folgert Weimar weiter, könnten sie nicht in Opposition zueinander stehen (144), ein in seiner logischen Struktur eminent fragwürdiger Satz.
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
251
bedeuten können, und welche sich aber zur Untermauerung der Interpretationen auf eben jene selbst ausgewählten linguistischen Phänomene beruft (z.B. 1980:77). Wie kein zweiter hat Fish gezeigt, dass in ,linguistisch' inspirierten Analysen grammatische Kategorien auf unzulässige Weise semantisiert werden, um die rhetorische Strategie der Interpretation zu verdecken351. Die Bedeutung eines Textes, so vielleicht sein Fazit, „is not the capacity of a syntax to express it, but the ability of a reader to confer it" (83). Damit herrschen nicht zwangsläufig Beliebigkeit oder Abwendung vom somatischen' Gehalt des Textleibes, Fishs eigene Lektüren demonstrieren das (z.B. seine Milton-Arbeiten). Seine Praxis, auf die, nach eigenem Verständnis, am Ende alles ankommt, läuft auf eine Art gaya scienza des genauen Lesens hinaus, das sich selbst die Grenzen definiert und keine Illusionen über die eigene Objektivität mehr hegt. Das Gewicht liegt auf dem Prozess des Lesens und der Interaktion des Lesers mit dem Text, nicht auf dem Resultat bzw. der Extrahierung von Bedeutung im Sinne eines statischen sensus. Damit verteidigt Fish, ohne es zu wissen, die Philologie im Sinne Nietzsches gegen die Interpretation, die sich der Philologie erst im ausgehenden neunzehnten sowie im zwanzigsten Jahrhundert bemächtigt hatte. Seine Vorstellung von Rhetorik als Antiessentialismus gehört ebenso in diese frühere Tradition (vgl. besonders Fish, 1989). Allerdings zeigt sich auch hier eine — folgenschwere — Differenz zur Philologie und damit letztlich zu Nietzsche. Fish bezweifelt die Aussagekraft des sog. Wortsinnes, da dieser immer nur in einem schon gegebenen institutionellen Rahmen spezifischer Interpretationsgemeinschaften etwas bedeute. In der philologischen Tradition dagegen gibt es durchaus einen Wortsinn, der sich freilich nicht erst durch den Gegensatz zum allegorischen Sinn ergibt. Nietzsche als Philologe hat den Wortsinn als Textsoma immer als Ideal vor Augen, wenn er vom Lesen redet. Fish hat bei seinen bahnbrechenden Studien zu den Interpretationsgemeinschaften eine Interpretationsgemeinschaft vergessen oder bewusst ausgeklammert, die seine Theorie zwar nicht entkräftet, aber doch komplizierter macht. Die Rede ist von der Interpretationsgemeinschaft der Muttersprachler bzw. Sprachbenutzer, die zwar auch fiktiv oder zu allgemein sein mag, die jedoch angenommen werden muss, um die Möglichkeit von Kommunikation, Ubersetzung usf. überhaupt zuzulassen. Searles Sprechakttheorie beruht auf nichts anderem. Selbst die radikalsten Sprachskeptiker kommen um den usus loquendi nicht herum. Sogar bei Derrida finden sich Sätzen wie „Üblicherweise bezeichnet ,Sache' die chose, nicht das sinnliche oder zuhandene Ding, sondern die fragliche Sache, die Angelegenheit, die dann gegebenenfalls Anlaß zum Streit gibt." (1984b). Stützt er sich auf einen Lexikoneintrag, auf Etymologie, auf Untersu351
Stilanalysen sind nicht wertlos, aber müssen als Beschreibungen des Interpretationsaktes selbst angesehen werden; ein Unterschied an Objektivität besteht, auch nur graduell, lediglich in der Rhetorik: „typically, a stylistician will interpose a formidable apparatus between his descriptive and interpretive acts, thus obscuring the absence of any connection between them" (Fish, 1980:37).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
chungen empirischer Textkorpora? Immer wieder fragt Derrida nach der Bedeutung als dem Gebrauch eines Wortes (z.B. 1984:102f über .unheimlich1). Mit Fish lässt sich immerhin erkennen, dass Auslegungen von Texten im Kontext von vorgefassten Annahmen über Auslegung und Text stattfinden. Freilich muss man akzeptieren, dass Interpretationsgemeinschaften nicht hermetisch von einander abgetrennt sind, sondern sich zueinander wie konzentrische Kreise verhalten, die von der muttersprachlichen Interpretationsgemeinschaft des usus loquendi eingefasst werden. Aus der Tatsache, dass der Text kein Ding an sich ist, das irgendwie direkt erkannt werden könnte, folgt nicht, dass er keine Materialität besitzt. Fish bestreitet nicht den Wert des Rückgriffs auf die Materialität als gute Überzeugungsstrategie, als Strategie des Lesers, auf eine Weise Sinn zu erzeugen, die konstitutiv für eine bestimmte Interpretationsgemeinschaft, beispielsweise die philologische wird. Aber er verkennt, dass grammatische Uberlegungen — im Sinne des ursprünglichen philologischen Grammatikverständnisses - durchaus unersetzlich sind, sofern sie nicht einem positivistischen Selbstverständnis entspringen. Das bedeutet nicht die Rückkehr zur Analyse des ,Wortsinns', sondern nur die Anerkennung des Wechselspiels zwischen Aspekten verschiedener Interpretationsgemeinschaften in der konkreten Auslegung während des Leseprozesses 352 . Die Befürworter einer Renaissance des Lesens, darunter die bereits Genannten, verstehen sich trotz ihres philologischen Erbgutes paradoxerweise häufig als Antiphilologen, was angesichts des Umstands unverständlich ist, dass gleichzeitig eine Brücke zu Nietzsches Spätwerk geschlagen werden soll, in dem die Philologie besonders gefeiert wird. Ausdrücklich auf Nietzsche bezieht sich etwa Roland Barthes. Nietzsches später Begriff der Interpretation bedeute angeblich folgendes: „Interpreter un texte, ce n'est pas lui donner un sens (plus ou moins fonde, plus ou moins libre), c'est au contraire apprecier de quel pluriel il est fait." (1970:11) Dieses offene Interpretieren im polysemischen, konnotativen Text wird mit der dogmatischen Praxis der Philologen konfrontiert: „Les uns (disons: les philologues), decretant que tout texte est univoque, detenteur d'un sens vrai, canonique" (13). Mit Nietzsche hat dies offensichtlich nur am Rande zu tun; die Grenzen, die Nietzsche zwischen Lesen und Interpretieren zieht, sind bis zur Unkenntlichkeit verwischt, die Rolle des Textes bleibt ausgeblendet 353 .
352
Besonders die nicht zu unterschätzende Rolle des Grammatikgefühls, das nie durch begriffliche Grammatikkenntnisse ersetzt werden kann (weil Begriffe und Theorien die grammatische Wirklichkeit immer nur annähernd beschreiben) hat Fish übersehen. Grammatischen Formen ist ja nie eine pragmatische Funktion einfach zugeordnet, sie besitzen ein bestimmbares Funktionspotential, das, darin hat Fish recht, wieder auf die Interpretation zurückverweist. Begriffliche Grammatikkenntnisse und Grammatikgefuhl sind aber beide zur überzeugenden Argumentation notwendig (Koller, 1988:388).
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Jürgen Hochs deutsche Übersetzung von S/7. (Suhrkamp, 1987) trifft es sogar besser als das Original. Barthes Begriff der Interpretation wird hier durch das neutralere und besser geeignete Wort ,Auslegung e ersetzt. Ein stark zurechtgemachter Nietzsche auch bei Barthes (1973).
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
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Der wohl einflussreichste Literaturwissenschafticr, der mit Hilfe Nietzsches und in Anlehnung an Derrida den Versuch unternommen hat, eine dekonstruktive Art der Lektüre zu etablieren, ist natürlich Paul de Man gewesen. Als einer der wenigen neueren Theoretiker hat er den Begriff der Philologie im positiven Sinne verwendet. So legt er, zumindest rhetorisch, Wert auf „historical and philological facts as the preparatory condition for understanding" sowie als Basis der literaturwissenschaftlichen Ausbildung (s. 1986:3-20). Wie bei Nietzsches gutem Lesen widersetzt sich de Man der eindeutigen Fesdegung auf letztgültige Deutungen. In einem Interview354 definierte er die Philologie als gleichbedeutend mit Textnähe und Vertrauen in den Text. In der Selbstbeschreibung des Unterschieds zwischen Derrida und der eigenen Position klingt die alte Boeckhsche Definition des Unterschieds von Philosoph und Philologe sowie die Differenz des Interpreten und Lesers bei Nietzsche an: „The difference is that Derrida's text is so brilliant, so incisive, so strong that whatever happens in Derrida, it happens between him and his own text. He doesn't need Rousseau, he doesn't need anybody else; I do need them very badly because I never had an idea of my own, it was always through a text, through the critical examination of a text..." (118). Hier enden indes die Parallelen. Der „return to philology" (de Man, 1982), den de Man seinen literaturwissenschaftlichen Kollegen empfahl, hat mit Nietzsches Philologie wenig zu tun. Weil de Man, von den Neuphilologien geprägt, die Geburtsstunde der Philologie an das Ende des neunzehnten Jahrhunderts verlegt, kann sie nur noch am Rande mit herkömmlicher Kritik und selbst traditioneller Rhetorik zu tun haben. Sein Philologiebegriff ist stark von der positivistischen Sammlerperiode jener Jahre geprägt; subtile Lektüre ist ihm nicht automatisch untergeordnet. Dennoch: Die Rückkehr zur Philologie sei eine Rückkehr „to an examination of the structure of language prior to the meaning it produces" (ebd.). Literatur — und das schließt im Verständnis der Dekonstruktivisten ja potentiell alle Texte ein — müsse zuerst als Rhetorik und Poetik angesehen werden, ehe man zu Geschichte und Hermeneutik fortschreite. Direkt an Nietzsche anschließend betont de Man die Unhintergehbarkeit von Rhetorik und Überredungskunst, die Zentralität der Tropik (z.B. 1979:103). Nirgendwo ist Nietzsche von Paul de Man und den Dekonstruktivisten stärker missverstanden worden als hier. Nietzsches rhetorisches Tropenmodell, so de Man, liefere den Schlüssel zu seiner Metaphysikkritik (1979:109), Nietzsches „deconstruction seems to end in a reassertion of the active performative function of language and it rehabilitates persuasion as the final outcome of the deconstruction of figural speech" (131). Die Basis dafür soll anscheinend die Sprachauffassung Nietzsches hergeben, die angeblich rhetorisch auf Kosten der Referentialität sei, Sprache gewinne bei ihm Autorität nicht mehr durch Entsprechung zu außersprachlicher Referenz, sondern durch „intrinsic resources of figures" (106). Nietzsche sei als radikaler 354
Interview mit Stefano Rosso in de Man (1986).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Zweifler an einer Verbindung von Ursprung und Zweck zur Dekonstruktion genetischer Zusammenhänge jeglicher Art angetreten und folglich Gegner historischer Betrachtungsweisen an sich. In Wahrheit ist Nietzsches Genealogie jedoch, wie gezeigt werden konnte, der Versuch gewesen, genetische Zusammenhänge aufzuzeigen, die zwar nicht auf simpler Kausalität beruhen, aber dennoch nachweisbar sind. Er versteht seine Arbeit im Gegensatz zu de Mans Behauptung geradezu als Ausfluss des historischen Sinns. Diesen historischen Sinn, den er für sich beansprucht, spricht er den angelsächsischen Moralphilosophen ab. Die sprachlichen und etymologischen Untersuchungen, die dabei im Zentrum stehen, verdanken ihre Durchschlagskraft ihrer außersprachlichen Referenz in besonderem Maße; von unverbindlichem Spiel kann bei Nietzsche keine Rede sein, denn sonst verlöre sein gesamtes Werk die Motivation. Auf unzulässige Weise werden Nietzsches frühe derivative Spekulationen über die Natur der Sprache mit den Werken der Reifeperiode zusammengeschweißt. Freilich ist bereits die Behandlung von Nietzsches angeblichen rhetorischen und tropischen Denken mangelhaft bis zum Punkt der Unbrauchbarkeit. Der Titel von de Mans wichtigstem theoretischem Buch — Allegories of Reading — ist ein erster Hinweis. Die Allegorie wird bei de Man im krassen Gegensatz zu Nietzsche zum bevorzugten Tropus, weil sie die paradigmatische Operation seiner Schule verkörpert, die Substitution, unter die de Man fälschlicherweise auch die Metapher subsumiert. Dekonstruktivistische Exegesen beruhen, wie Lutz Ellrich in einer kritischen Bestandsaufnahme festgestellt hat, auf der „Unentscheidbarkeit prinzipiell zweier Bedeutungsformen, die gleichzeitig auftreten und zwangsläufig miteinander in Konflikt geraten: nämlich der Unentscheidbarkeit zwischen einer buchstäblichen und einer figuralen Bedeutung eines Ausdrucks oder eines Textes insgesamt." (1994:243, Anm. 8). Wie in der Stoa, der patristischen Tradition, im Marxismus oder der Psychoanalyse siegt die Willkür des Exegeten. Ein Nachweis über den genuin allegorischen Charakter des Textes muss nicht mehr geführt werden. Paul de Man stützte sich v.a. auf Nietzsches Rhetorikvorlesungen, die im Umfeld des Dekonstruktivismus durchgehend stark rezipiert worden sind. Mittlerweile ist bekannt, dass die Vorlesungen ein Kompendium aus dem Aristoteles und Quintilian unter Verwendung weiterer Standardwerke und nicht gekennzeichneter Zitate aus zeitgenössischen Lehrbüchern darstellen. So revolutionär wie es die Dekonstruktivisten gerne hätten, waren Nietzsches Einsichten in die Rhetorik jedenfalls nicht. Die scheinbare Radikalität der hier vorgetragenen Einsichten liegt in der rhetorischen Sprachauffassung selbst. Allerdings ist Nietzsche offenbar nie ein großer Anhänger rhetorischer Systematik gewesen, häufig äußert er sich negativ über bloße Rhetorik bzw. über die Rhetorik als künstlich kon-
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
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struiertes „Stückwerk" (WA 10, 6:35), da sie für ihn traditionell eher in die Sphäre des Histrionischen bzw. der plakativ-unsubtilen Effekthascherei fällt355. Paul de Man spielt die Rhetorik als Domäne figuraler Rede gegen Grammatik und Logik (den verbliebenen Elementen des Trivium) aus. Sein Grammatikbegriff ist restriktiv und entspricht eher der philosophischen Logik als der empirischen Gebrauchsgrammatik der Philologen. Auch eine noch so ausgereifte grammatische Analyse kann seiner Auffassung nach nicht alle rhetorischen bzw. figuralen Dimensionen eines Textes erfassen. Diese Einsicht ist zwar richtig, wird aber durch die Art und Weise ihrer Verwendung zum Problem. Durch den Verzicht, figurale Bedeutungen auf sprachlich-grammatische Phänomene sowie außersprachliche Referenzen zu beziehen sowie durch die Privilegierung der Substitution verliert auch die Rhetorik ihren Sinn. Es gibt nun nichts mehr, woran sie sich messen lassen muss, bis hin zur Autorintention: laut de Man zwingt der figurale Charakter der Sprache letztlich jeden Autor, etwas anderes zu sagen als beabsichtigt356. Selbst wenn de Mans Thesen wasserdicht wären: das System der Rhetorik ist ohnehin kein brauchbares Instrument zur Analyse von Texten. Gleich dem Regelgebäude der Hermeneutik kann es der Exeget erst auf der Grundlage einer schon erfolgten Interpretation anwenden. Rhetorik oder hermeneutische Kanones sind höchstens Begründungs- und Rationalisierungsmittel einer vorgelagerten Texterfahrung. Durch die Hermeneutik als Regelsystem oder philosophische Wissenschaft wird, wie schon F.A. Wolf erkannte, das Ziel „einen Schriftsteller zu erklären" nicht erreicht, denn: „Kunst lässt sich nur absehen. Die Hermeneutik oder Auslegungskunst kann uns kein System von Regeln verschaffen. Hier ist, 355 Vgl. die vernichtende Kritik der einflussreichen Sammlung Friedrich Nietzsche on Rhetoric and Language, hrsg. u. übers, von Sander L. Gilman, Carole Blair und David J. Parent, New Zork, Oxford 1989, die Bierl und Calder III (1992) anlässlich ihrer Neuedition des Abrisses der Geschichte der Beredsamkeit (GB) besorgt haben. Sie weisen u.a. die starke Abhängigkeit Nietzsches von seinen Quellen nach. Er gab sich keine Mühe für die Pflichtveranstaltung, die nur noch von 2 Studenten besucht wurde; selbst grammatische Unsicherheiten im Lateinischen und Griechischen lassen sich nachweisen. Glenn Most und Thomas Fries (1994) haben den ganzen Hintergrund einer ebenso fatalen und einflussreichen Textsammlung von Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy herausgearbeitet (passim). Bei Most/Fries heißt es u.a.: „In diesem Licht ist Paul de Mans Interpretation von Nietzsches Rhetorikbegriff als einer Dekonstruktion des Subjekts wahr — aber nicht nur für Nietzsche, sondern für die ganze Tradition der Rhetorik, der Nietzsche viel mehr verdankt, als man manchmal vermutet hat. Bedauerlich bleibt freilich, daß de Man nicht erkannte, daß diese Infragestellung des Subjekts nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form selbst von Nietzsches Text durch seine kompositorische Verfahrensweise vollzogen wurde." (S. 37) — nämlich durch die von de Man nicht wahrgenommene ausschließliche Verarbeitung bekannter und weniger bekannter Quellen. Interessant ist der Hinweis auf eine in Nietzsches Nachlass erhaltene, von ihm selbst sorgfältig übersetzte und in Reinschrift aufbewahrte Kopie der Aristotelischen Rhetorik. Die Rhetorik scheint mir in Nietzsches Gesamtwerk aber insgesamt eine geringere Rolle zu spielen als Most und Fries annehmen. 356
Für Paul de Man ist Nietzsche einer der wenigen Autoren (Rousseau und Kierkegaard zählen auch dazu), deren Werke sich aufgrund von Selbstkommentaren, bewusster Leseirreführung usw. selbst Rekonstruieren'. Dies würde freilich eine Interpretation voraussetzen, die man nach den Prämissen der Dekonstruktion gar nicht leisten kann.
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
wie bei allen Künsten, das Nachahmen, was zur Erlangung eigener Fertigkeit nothwendig ist." (Wolf, 1831:292ff)357. Von de Mans Rhetorikbegriff bleibt deshalb lediglich die nackte Willkür des Lesers, die Interpretation als Vergewaltigung des Texts, die Kunst des schlechten Lesens. Ernst Behler (1989) hat denn auch als wichtigsten Einwand gegen de Man mit Recht geltend gemacht, dass dessen Lektüren immer auf dieselben Schlussfolgerungen hinauslaufen (1989:305f). Die Lektüre wird reduktionistisch und routinehaft. Dekonstruktivistische Lektüren gehen meist von einer hypothetischen ,Normallektüre' (deren Herkunft und Status ungeklärt bleiben) aus, die ,gegen den Strich' gelesen wird und dadurch zu neuen Einsichten führen soll. Wo sie sich nicht auf den Nachweis der mannigfaltigen Auslegungsmöglichkeiten beschränken, suchen sie im Text meist nach Bekräftigungen politischer und soziologischer Thesen — gerne führen sie den Nachweis der Unterdrückung und Ausgrenzung auf Kosten anderer —, geraten also genau in die Falle, deren Allgegenwart aufzudecken sie ursprünglich angetreten waren. Die Auslegung bleibt statisch, der Wanderer tritt auf der Stelle. Jürgen Fohrmann hat in seiner subtilen Kritik des de Man'schen Sprach- und Rhetorikkonzepts das schöne Wort der „Überraschungsfreiheit" geprägt (1993:92)358. Von Nietzsches ,Ephexis in der Interpretation' kann in der dekonstruktiven Aneignung seiner Gedanken zur Auslegung jedenfalls keine Rede mehr sein. Zwar weist die Lektüre der Dekonstruktivisten mehr Gemeinsamkeiten mit seinen ursprünglichen Intentionen
357
Ähnlich Most (1984) in einem bedenkenswerten Aufsatz zum Verhältnis von Rhetorik und Hermeneutik, der seiner jüngeren Auffassung, dass Nietzsche von der Rhetorik beträchtlich beeinflusst gewesen sei, theoretisch z.T. widerspricht. Die Rhetorik sei tot, die zahllosen, oft monumentalen Lehr- und Handbücher „erinnern oft an Führungen durch tote Städte" (63). Gestorben sei sie endgültig mit der Romantik, die sie durch die Hermeneutik ersetzt habe; die Neuzeit ist recht eigentlich die Epoche der Hermeneutik, während die gesamte Literatur der nachklassischen Antike durch die Rhetorik geprägt worden sei. Ihre „Interdependenz von Theorie und Praxis" (65), ihre Konzentration auf die Mündlichkeit unterscheide sie von der neuzeitlichen Hermeneutik als ,,systematische[r] Ausarbeitung von Regeln zur erfolgreichen Deutung schriftlich fixierter Texte" (ebd.), die es so vorher nicht gab, wie es ja überhaupt keine wirkliche Methodenlehre der Auslegung gegeben hat. Zu jeder gegebenen Zeit, so Mösts These, herrsche entweder die Rhetorik oder die Hermeneutik, der Aufstieg der einen beinhalte den Abstieg der anderen und umgekehrt. Hermeneutik sei an schriftliche Texte gebunden und führe nicht grundsätzlich, wie es die Rhetorik bezweckt, zur praktischen Handlung. Eine umfassende Theorie literarischer Kommunikation müsste beiden gerecht werden. Noch leben wir im Zeitalter der Hermeneutik — und das bedeutet, dass uns die Vergangenheit zwar fremdartig, aber doch noch irgendwie verbindlich erscheint. In Zeitaltern, denen die Vergangenheit irrelevant ist, gebe es keine Hermeneutik. Dieser Logik, so müsste man Most vorhalten, hätte sich auch Nietzsche nicht entziehen können.
358
Bei stark theoriegeleiteten Lektüren, wie sie gerade für die nicht philologisch fundierten Literaturwissenschaften typisch sind, gilt dies bis heute: Theorien werden auf Texte appliziert und die selbst definierten Kategorien zwangsläufig gefunden; der Zirkelschluss ist perfekt. ,Aporien' im (literarischen) Text bleiben dann naturgemäß nie aus und überraschen niemanden mehr.
5.1. Alternative zu Hermeneutik und Dekonstruktion
257
auf als mit der philosophischen Hermeneutik, allerdings ist das entscheidende Kriterium, nämlich die intellektuelle Redlichkeit, auch hier nicht zu Hause359. Dem Philologen Nietzsche geht es auch in späten Werken wie der Genealogie der Moral um Rekonstruktion, nicht um De(kon)struktion. In der dekonstruktivistischen Schule ist von ,Goldschmiedekunst des Wortes' nichts mehr zu spüren. Textkritische Erwägungen jeglicher Art sind ihr fremd. Da es nach Derrida außerhalb von Texten nichts gibt (il n'y a pas de hors texte), ist die für Nietzsche ausschlaggebende Unterscheidung von Texten und Nicht-Texten hinfällig geworden. Dass sich manche Dekonstruktivisten ausgerechnet im Textbegriff Nietzsches erkannten, kann nur als sublime Rache des Textes selbst gelesen werden: die Aufladung von Nietzsches Textbegriff kann selbst dem oberflächlichen Leser schwerlich verborgen bleiben. Auf die Gefahr der Wiederholung: Nietzsche betrachtete einen auf philologischer Grundlage erarbeiteten Text als Kostbarkeit; wenn alles Text ist, herrscht Inflation — Falschmünzerei. Umgekehrt wird in der Dekonstruktion das Auslegungsmodell für Nicht-Texte, nämlich die Interpretation, auf das Lesen von Texten übertragen. Dadurch ist dann bewiesen, was behauptet worden war, dass nämlich Lesen den Machtkampf von Interpretationen darstelle. Bezeichnenderweise beschäftigen sich die Dekonstruktivisten, allen voran Derrida und Paul de Man, ausschließlich mit den großen Einzelwerken kanonischer abendländischer Autoren und bedienen sich — nicht zuletzt auch bei Nietzsche — unzuverlässiger Textgrundlagen. In de Mans Ausführungen zur Tragödienschrift hätte man gerne gewusst, auf welche Ausgabe er sich stützte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn die exotischsten Spekulationen über die Natur der Sprache und die Textlichkeit der Welt auf der Basis offensichtlich defizitärer Ausgaben entstehen360. Möglicherweise sind hier tief liegende kulturelle Prägungen am Werk, die den französisch geprägten Interpreten das Verständnis Nietzsches unmöglich machten, weil die historisch-kritische Philologie in Frankreich so gut wie unbekannt blieb361. 359
Standardarbeiten zu den Fehlern von de Mans Nietzscheinterpretation, die meine Ausfuhrungen ergänzen mögen, sind MacKenzie (2002) — eine ganze Monographie als Auseinandersetzung mit Paul de Man und der dekonstruktiven Sprachauffassung aus fundierter linguistischpragmatischer Perspektive — ferner Vickers (1994).
360
Jean Bollack weist auf die Ironie des Umstandes hin, dass die Dekonstruktivisten sich ausgerechnet auf die traditionellsten Ausgaben, jedenfalls auf meist unzuverlässige Texte stützten. Da er als klassischer Philologe viel stärker aus der Textkritik und -genese kommt, betont er gerade gegenüber der Dekonstruktion die Verbindung von Exegese und Textherstellung oder Übersetzung und verteidigt die Editoren gegen den Vorwurf, reine „techniciens du texte" zu sein (2000a: 124). Positivistisch ist Textkritik nur, wenn sie die Konstruktionen nicht auch befragt und die Einzigartigkeiten der ecriture nicht ernst nehme.
361
Michael Werner (1987) hat in einem erhellenden Aufsatz die Unterschiede der deutschen und französischen Editionspraxis als Ausfluss kultureller Prägung interpretiert. Demnach sei Deutschland noch immer von der Reformation geprägt. Die Freilegung des einzig wahren Texts sei gleichzeitig Ziel und Basis, um ältere Interpretationen anzuzweifeln. Die Methode, die Werner dabei beschreibt, trifft in der Tat auf die Tradition der textkritischen Philologie zu, der sich Nietzsche verpflichtet fühlt: Text- und Quellenkritik und Historisierung bei gleichzeitig stattfindender neuer Auslegung auf Grundlage des nun neu entstehenden Textes. Frankreichs Editi-
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Entscheidend bleibt, dass die Dekonstruktivisten im Verzicht auf den textlichen und editorischen Horizont - und trotz gegenteiliger Beteuerungen - letztlich den Fehler begingen, den Gadamer erst theoretisch als Tugend entwickeln wollte: die Auslegung von der Applikation her zu denken. Zu Hermeneutik und Dekonstruktion gleichermaßen bietet deshalb das philologische Denken des historischen, nicht des zurechtgemachten Nietzsche eine sinnvolle und redliche Alternative.
5.2. Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung? Die selbstbewusste Philologie, die in der heutigen Literaturwissenschaft eine Minderheit repräsentiert, versteht sich immer als von Hermeneutik und Dekonstruktion gleichermaßen verschieden und bedient sich dabei fortdauernd eines methodischen Arsenals und einer theoretischen Rhetorik, deren Verwandtschaft mit Nietzsches Philologieauffassung nicht zu übersehen ist. Der französische Literaturwissenschaftler Jean Bollack362, um ein renommiertes Beispiel zu nennen, setzt sowohl der Hermeneutik wie der Dekonstruktion eine radikale Historisierung entgegen, die nicht von der unendlichen Übersetzbarkeit des Sinns ausgeht, sondern ihn gleichsam archäologisch wieder zu rekonstruieren sucht. Die Autorintention ist ihm deshalb als Leitfaden unverzichtbar. Wie Nietzsche wirft er der Hermeneutik, so etwa Ricoeur, einen versteckten Piatonismus vor, der Texte nur als Illustrationen von Ideen auffasse.
onspraxis lasse sich dagegen von der Gegenreformation herleiten: „Der Text ist ein allgemeines Kulturgut, dessen Sinn primär nicht vom individuellen Interpreten jeweils neu erschlossen wird, sondern von der Gesellschaft vorgegeben ist. Interpretation ist innerhalb dieses Modells Neuformulierung eines Vorgegebenen, Traditionsbestätigung, Verbreitung der Vulgata." (140) In Frankreich spiele die Edition nach wie vor eine sehr untergeordnete Rolle, Vorrang hätten geistreiche Interpretationen der tradierten Texte sowie Theoriedebatten. Die Herkunft der Editionswissenschaft aus der von der katholischen Kirche unterdrückten protestantischen Bibelkritik war dabei nicht unerheblich: die wenigen Ausnahmen, die sich zur Edition bekennen, begründeten ihr Ethos oft mit Anleihen bei deutscher Wissenschaftlichkeit und Gründlichkeit (Bollack, 2000a). In der Tat stand die Philologie der Wolfschen Schule fest auf protestantischem Boden. In seinem Buch über Lessing, einem der Leitsterne Ritschis, beschreibt Max Kommerell die strenge Beobachtung der Uberlieferung als „Protestantismus des geistigen Verhaltens" und erläutert: „Irgendwo ist der Protestant Philologe, und wie sehr ist Lessing beides! Einer Uberlieferung erklärt er den Krieg, wofern sie dem anfänglichen Gedanken und der anfänglichen Gattung eine gewaltsame Umdeutung oder ein entstellendes Mißverständnis aufzwingt, so wie es eigenwüchsige Zeitalter in der Fraglosigkeit ihres Lebens zu tun pflegen. Im Namen der Uberlieferung kündigt er einer Uberlieferung den Gehorsam auf, um das alte Wahre wiederherzustellen." ( 4 1970:14). Kann man die Genealogie der Moral Nützet zusammenfassen? Wissenschafts traditionen in katholischen Ländern wie Italien sind dabei freilich nicht hinreichend gewürdigt. Gerade hier gibt es eine reiche philologische Tradition, die der Nietzscheforschung nicht besonders in Erinnerung zu rufen ist. Sie reicht wohl über die Reformation hinaus in die Zeit der Renaissance und des gelehrten Humanismus zurück. 362
Siehe v.a. Bollack (2000a)
5.2. Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung?
259
Die Philologie ist eine kritische, kontrollierende Tätigkeit, die sich selbst die Allegorese verbietet, die auf Kritik, Quellenforschung und ästhetischer Sensibilität beruht und immer von der textuellen Grundlage ausgeht. Gegenüber der philosophischen Hermeneutik betont Bollack das andere Verhältnis des Philologen zum fremden Text, den Abstand, den er bewusst wahre, indem er den Text immer als unbekannt empfinde und ihn deshalb historisch zu lesen versuche. Die Lektüre der kritischen, philologischen Hermeneutik beinhalte auch die Prüfung früherer Interpretationen, der eigenen eingeschlossen. Nicht nur bei Gadamer, sondern selbst bei Ricceur sei Lektüre eine Aneignung (appropriation) des Textes durch den Leser - der Theologe und Psychologe interessiere sich nicht für den Sinn des Textes an sich (2000a: 119f). Auch wenn die philosophische Hermeneutik es naiv finde, so Bollack, gebe es doch den Willen, an Texte möglichst vorurteilslos heranzugehen, gebe es ein Stadium des Unverständnisses, das Voraussetzung des Verständnisses sei. Die Dekonstruktion wiederum greift Bollack für ihren unkritischen Umgang mit dem Text sowie ihre ungenügende Aufmerksamkeit gegenüber sprachlichen Nuancen an, die über begriffliche Spekulationen hinausgehen363. Bei allen Ähnlichkeiten zum philologischen Denken Nietzsches ist Bollack nichts weniger als ein Nietzscheaner. Er sieht sich selbst in einer Tradition der Aufklärung, die eine andere Variante der Moderne darstelle als jene, die im Frankreich des zwanzigsten Jahrhunderts dominiert habe und die durch den Nietzscheanismus (nicht notwendigerweise Nietzsche selbst364) repräsentiert werde. Andererseits deutet Bollacks Ansatz auf die deutsche Frühromantik zurück; nicht umsonst bezieht er sich vor allem auf Schleiermacher (dessen Werk in Frankreich so gut wie unbekannt ist). Die Parallelen zwischen Bollack und dem in dieser Arbeit herausgearbeiteten Nietzsche müssen demnach dadurch erklärt 363 D i e s hat die Dekonstruktion mit der hermeneutischen Tradition gemeinsam. In Bollacks Auseinandersetzung mit Heidegger wird an die Wichtigkeit detaillierter Textarbeit erinnert, die nicht nur lexikalische, sondern auch gründliche syntaktische und ganz allgemein grammatische Kenntnisse erfordere. Wie die Hermeneutik geht auch die Dekonstruktion in ihrer Analyse meist nur von Begriffen statt von syntaktischen oder pragmatischen, also den eigentlich sprachlich-grammatischen Phänomenen, aus (vgl. eine vergnügliche Variante dieses philologischen Grundeinwandes gegen die Philosophie bei Most, 2002). Für Derrida, so Bollack, sei darüber hinaus nur die Sprache (langue) an sich interessant, nicht aber der konkrete Gebrauch (usage) — Wolfs usus loquendi! Die Dekonstruktion beruhe ferner schon immer auf Lektüren, die sie als traditionell voraussetzt (vgl. z.B. Bollack, 2000a:76f). 364 Nietzsche, so Bollack, könne man auch rationalistisch lesen (2000a:177f). Nictzsche wird von ihm als Autorität zitiert, wenn es um den Gegensatz von (philologischer) Lektüre und Interpretation geht. Die Früchte seiner Nietzsche-Lektüre lassen allerdings Wünsche offen; seinem Verdikt über Nietzsches Verhältnis zur Philologie kann ich nur teilweise zustimmen: „La philologie, comme instance de formation intellectuelle, est condamnee par Nietzsche parce qu'elle ne forme pas des esprits libres qui soient capables de reconnaitre le potentiel critique des textes quand celui-ci existe et de denoncer les prejuges, quand il y en a. Pour lui, les philologues, si on avait forme leur jugement, reconnaltraient les ravages du christianisme. Mais Nietzsche ne pensait pas qu'il y aurait ä decouvrir une fa9on de lire plus juste que celle qu'il avait apprise. II vivait dans sa culture et ne franchissait pas les limites de la rhetorique qu'il maitrisait." (2000a:19f)
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
werden, dass Nietzsches philologisches Denken selbst sowohl aufklärerische wie romantische Züge trägt. Nietzsches Denken ist immer wieder mit der Frühromantik, besonders mit Friedrich Schlegel in Verbindung gebracht worden365. Auch zwischen Dekonstruktion (v.a. de Man'scher Prägung) und (Schlegelscher) Frühromantik sind häufig deutliche Parallelen bemerkt worden (z.B. Frank, 1985; Moon-gyoo Choi, 1993; de Man, 1996). In der literaturtheoretischen Diskussion hat die Frühromantik in den letzten Jahren eine erstaunliche Renaissance erlebt. Es wäre allerdings voreilig, in Nietzsche nur einen Wiedergänger Schlegels zu sehen. Spätestens angesichts Nietzsches durchgehend negativer Äußerungen zur deutschen Romantik gerät man in Erklärungsnot. Sie richten sich ausdrücklich und entgegen allgemeiner Auffassung auch gegen Friedrich Schlegel und die Frühromantik, die aus seiner Sicht in einer Traditionslinie zu jenem „neu-romantischen Katholicism des Gefühls" steht, der besonders Wagner kennzeichnet (KSA 14:173). Friedrich Schlegel ist ihm sogar „deutscher Meister" der Romantiker gewesen, die, mit einem Wort Goethes „'am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken'" drohen (VIII 16[35]). Selbstverständlich ist Nietzsche wie jeder deutsche Gymnasiast früh mit dem romantischen Kanon in Berührung gekommen. Byron, Shelley und Hölderlin (damals fast noch ein Geheimtipp) gilt seine erste Schwärmerei366. Nach Bezug der Bonner Universität stattet er als erstes den Gräbern Schumanns, A.W. Schlegels und Arndts einen Besuch ab367. Nietzsches späteres vernichtendes Urteil über die Romantik ist deshalb auch ein Gericht über die eigene Person — und der Versuch, der naheliegenden romantischen Interpretation gerade des Frühwerks entgegenzuwirken368. So bekennt er im wegweisenden Aphorismus „Was ist R o m a n t i k ? " als „ H o f f e n d e r auf diese moderne Welt" losgegangen zu sein, der am philosophischen Pessimismus und an der deutschen Musik ihre Romantik verkannte, d.h. ihr Leiden nicht an der Überfülle, sondern an der Verarmung des Lebens, das auf Erlösung in Kunst, Rausch und Wahnsinn hoffte (FW 5.370, 3:619ff). Wagner gilt im Spätwerk als die letzte vergiftete Blüte der Romantik, und das bedeutet Rückkehr in den Schoß des Christentums oder die Hoffnung auf Erlösung in der politischen Utopie, die Sehnsucht nach dem Unendlich-Numinosen als Flucht vor dem Selbst369. 365 Vgl. bes. die in der Bibliographie aufgeführten Arbeiten Ernst Behlers, der gleichzeitig hervorragender Nietzschekenner sowie Herausgeber der kritischen Standardausgabe Friedrich Schlegels war. 366
Einschränkend sei darauf hingewiesen, dass gerade Byron, Shelley und Hölderlin eben nicht als Unterrichtsstoff in der Schule vorkamen, sondern für den jungen Nietzsche eine Art Gegenkanon zur Pflichtlektüre bildeten, den die lesende Jugend wohl immer nötig haben wird.
367
Brief an Mutter und Schwester vom 24./25. Oktober 1964, KGB I.2:14ff. Ausdrücklich etwa am Ende des Versuchs einer Selbstkritik (KSA l:21f). Byron und Heine sind die einzigen Romantiker, denen Nietzsche treu bleibt, nicht weil, sondern trotz ihrer Romantik. Freilich sind beide nur eingeschränkt zeittypische Epochenvertreter. Sie blieben zudem, trotz Heines Konversion, Freigeister: der Hang zum Christentum war ja Nietzsches stärkster Einwand gegen die Romantik.
368 369
5.2. Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung?
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Laut Ernst Behler, dem besten Kenner des frühromantischen Erbes in Nietzsches Werk, war Nietzsche schon seit der Pforte mit der Frühromantik vertraut. Die Quellenlage sowohl für die frühe oder späte Beschäftigung Nietzsches mit dieser Periode oder aber mit einzelnen Autoren ist jedoch außerordentlich unbefriedigend. August Wilhelm Schlegel, mit der Bonner Schule eng verbunden, hat mit seinen Vorlesungen nachweislich auf das Frühwerk gewirkt, darin erschöpft es sich aber bereits. In Bonn und Leipzig hat sich besonders Ritsehl stark zu Friedrich Schlegel bekannt (Behler, 1978:70f). Als Anhänger Schlegels und Creuzers wird Ritsehl schon von Howald (1920) geschildert. Ritsehl hat nach diesen Vorstellungen das Programm Schlegels in seiner Konzeption der Philologie weitergeführt. Die Parallelen zwischen seinem Schüler Nietzsche und Schlegel könnten damit plausibel erklärt werden. Allerdings gibt es eine überwältigende Anzahl von Belegen aus Ritschis unmittelbaren Umfeld, die ihn eher zum Gegner der Romantik und der romantischen Philologie machen. Gewöhnlich gilt Lessing als sein Vorbild und Vorläufer. Schon Ritschis Schüler und Biograph vergleicht ihn immer wieder mit Lessing (z.B. Ribbeck, 1879ff, Bd.2:451f), ebenso ein später Lehrstuhlnachfolger (Schmid, 1984:703). Für Ritsehl sei wie für Lessing Trieb und Suche nach Wahrheit über deren Besitz gegangen. Auch anderen zeitgenössischen philologischen Enzyklopädisten gilt Lessing als einer der ihren, denn er „lehrte strenges Urtheil und unbefangene Methodik, die wie in einer Uebungsstätte des Geschmacks und der kritischen Wissenschaft auch das kleinste nicht verschmähte, auf die Werke der Schrift und Kunst anwenden" (Bernhardy, 1832:18). Im Jahr 1946 versucht Ernst Bickel, ein Schüler Büchelers und ein weiterer Nachfolger auf Ritschis Bonner Lehrstuhl, wieder am humanistischen Bildungssystem anzuknüpfen, das durch die finsteren Jahre unterbrochen war. Ritsehl sei dazu am besten geeignet, denn im Gegensatz zu Zeitgenossen wie Welcker oder Schülern wie Usener sei er nie vom Geist der deutschen Romantik beseelt gewesen, sondern habe in Abkehr von Schelling, Hegel und aller Romantik sein Ideal in der kritizistischen Tradition einerseits sowie historistischen und naturwissenschaftlich-positivistischen Paradigmen andererseits gesucht. Allenfalls zu derjenigen Frühromantik weise er Gemeinsamkeiten auf, die sich ebenfalls noch dieser Tradition verpflichtet fühlte (1946:30). In dieser Einschränkung Bickels liegt des Rätsels Lösung. Die Parallelen zwischen Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche kommen dadurch zustanden, dass sie beide auf ähnliche Weise die Philologie Friedrich August Wolfs weitergedacht haben. In der Philologie nach Wolf sind, gerade in Bonn, zwei Ausprägungen der Frühromantik wirksam geworden. Auf der einen Seite jene Forschungen, die mit den Namen Creuzers, Welckers und Useners verbunden sind und den Blick auf mythologische und religionshistorische Phänomene richteten. Auf der anderen Seite stehen die philologischen Arbeiten der Brüder Schlegel, die in der Tat auch auf Ritschis historisch-kritische Methode deuten. Für die Schlegels liegt
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
wie für Ritsehl im „Geist echter Kritik" der Kern der Philologie, wobei August Wilhelm in seinen Vorlesungen Wert darauf legte, dass Kritik nicht ausschließlich darin bestehe, Fehler aufzudecken. Vielmehr erkläre sie, in idealer Verbindung historischer und ästhetischer Kritik, die Geschichte der Kunst und mache ihre Theorie fruchtbar (A.W. Schlegel, 1966:17; vgl. Wegner, 1951:171f). Angesichts der Affinität Ritschis zu Lessing ist Friedrich Schlegels LessingStudie in seiner Abhandlung Vom Wesen der Kritik aus dem Jahr 1804 natürlich besonders aufschlussreich (Schlegel, 1967ff, Bd. 3:51-60). Hier wird kein stereotyper Generationenkampf zwischen dem Romantiker und dem Aufklärer ausgefochten. Im Gegenteil: Lessing ist für Schlegel Identifikationsfigur par excellence, weil er sein Ideal eines von Wissenschaft und Kunst gleichermaßen verschiedenen dritten Wegs verkörpert — den Kritiker, in dem sich beide aufheben. Lessing, der so viele Gelehrsamkeiten und Systeme durchprobierte, habe nicht nur die alte Kritik wieder hergestellt, sondern daraus ein neues Verständnis von ihr als „Mittelglied der Historie und der Philosophie" gewonnen, „das beide verbinden, in dem beide zu einem neuen Dritten vereinigt sein sollen" (60). Die Kritik als Wissenschaft, die Lessing wiederbelebt habe, gehe auf die Textkritik der Alexandriner zurück und bezeichne die doppelte Aufgabe der ästhetischen Kritik, nämlich klassische und lesenswerte Autoren als solche zu identifizieren und daraufhin deren verschiedene Lesarten mit scharfsinniger Prüfung und Vergleichung zu behandeln: U n d v o r t r e f f l i c h w a r die M e t h o d e ihres S t u d i u m s ; ein u n a u f h ö r l i c h e s , stets v o n n e u e m w i e d e r h o l t e s S t u d i u m der klassischen S c h r i f t e n , ein i m m e r w i e d e r v o n v o r n a n g e f a n g n e s D u r c h g e h e n des g a n z e n Z y k l u s ; n u r das heißt w i r k l i c h lesen; n u r so k ö n n e n reife Resultate e n t s t e h e n u n d ein K u n s t g e f u h l , u n d ein K u n s t u r t e i l , w e l c h e s allein d u r c h das V e r s t ä n d n i s des G a n z e n der K u n s t u n d der B i l d u n g selbst m ö g l i c h ist. (53)
Die Parallelen zu Nietzsches ,gutem Lesen' und dem alexandrinischen Homerum ex Homero sind unschwer zu erkennen. Noch erstaunlicher sind sie in Schlegels fragmentarisch überlieferten Aufzeichnungen Zur Philologie. Ihr erster Herausgeber370 hat ihnen weitreichende Wirkungen zugeschrieben. Er stellte sie in die Reihe der Versuche um das Jahr 1800, eine Philosophie der Philologie zu schaffen, die beide ununterscheidbar verbinde. Nicht Schleiermacher, so Josef Körner, habe die moderne Hermeneutik begründet, wie man seit Dilthey annimmt, sondern Schlegel. Von ihm sei Schleiermacher auf verschlungenen Wegen abhängig gewesen371; Schlegels Gedanken sehe man noch in der Enzyklopädie des Schlei370
Josef Körner hat die erste Edition und Kommentierung der betreffenden Fragmente besorgt (Körner, 1928). Sie werden im folgenden nach Behlers Ausgabe zitiert, und zwar die laufende Nummer des Fragments in eckigen Klammern, nach dem Komma die Seitenzahl in Bd. 16 von Schlegel (1967ff).
371
Schleiermacher habe sich bei der Ausarbeitung seiner hermeneutischen Reflexionen wesentlich auf Schlegels Entwürfe, d.h. auf seine Hefte zur Philosophie der Philologie gestützt, ebenso wie übrigens Friedrich Ast (auf den sich Schleiermacher bekanntlich direkt bezog), dessen Arbeiten deshalb die ersten systematischen Ausarbeitungen von Schlegels Gedanken darstellten. Freilich
5.2. Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung?
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ermacher-Schülers Boeckh (vgl. Boeckh, 21866) durchschimmern. Bis in die jüngste Zeit hat diese Aufassung sich gehalten: „Schlegel's fragmentary discourse discloses a new formation', one in which hermeneutics and interpretation, precisely by virtue by [sic] their being placed on the same logicalfooting as grammar and critiasm, are actually placed in a position of priority, privileged as essential to virtually any philological inquiry." (Leventhal, 1994:287). Dies ist freilich genau der Schluss, den Schlegel vermeiden wollte. Im Kern der Schlegelschen Überlegungen steht ganz in der Tradition der philologischen Enzyklopädie das unhintergehbare Wechselverhältnis von Kritik und Hermeneutik. Beide sind untrennbar, auch wenn je nach philologischer Ausrichtung eins von beiden überwiegen muss: eine regelrechte Antinomie ([178],50). Die wahre Philologie jedoch, daran lässt Schlegel keinen Zweifel, ist Kritik (vgl. z.B. [34],62; [53],65). Philologische Interpretation selbst sei am Ende nichts anderes als „mitgetheilte hermeneutische Kritik, Unterricht in der Kritik des Sinns" ([167],76). Hermeneutik und Kritik beleuchten und kontrollieren sich gegenseitig:: „Die historische Kenntniß des Alterth. [ums] erfodert eigentlich, daß die Kritik schon vollendet sey und die Hermeneutik/ Diese beyden Arten der Philologie sind also in Wechselwirkung. Es ist wichtig, daß die Gränzen nicht verwirrt werden, wie in der neumodigen Interpret.[azion] auch wohl in der Conjekturazion." ([44], 38). Auch bei Schlegel findet sich also Skepsis gegenüber der Interpretation, deren .neumodische' (!) Verabsolutierung genauso wenig förderlich ist wie die Beschränkung auf die Konjektur. Viele Gedankensplitter scheinen direkt aus dem Studium der textkritischen Tradition zu stammen, etwa dass es gleich unnütz sei, echte Schriften nicht zu verstehen wie unechte zu verstehen ([46] ,39). Die erhaltene Überlieferung der philologischen Fragmente Schlegels rechtfertigt die überhöhte Einschätzung ihre Originalität ohnedies kaum. Unter Schlegels besten Fragmenten befinden sich zwar einige mit vergleichbarer Leuchtkraft zu den Λthenäums-¥ia.grcie.nte.n, aber unverkennbar und explizit sind seine philologischen Reflexionen Kommentare zu F.A. Wolf, auf den bereits Körner gar nicht erst eingeht372. Textkritik und Kritik insgesamt scheint für sie einem veralteten vorhermeneutischen Paradigma anzugehören, dass seit Heyne überwunden ist; seit also in dessen philologischem Seminar die Interpretation zum Zentrum der philologischen Tätigkeit geworden sei (z.B. Leventhal, 1994:70). Nur selten wird zumindest die Bedeutung Wolfs für Schlegel anerkannt, besonders seine Aus-
372
könnten die erhaltenen Fragmente nur noch einen unvollständigen Eindruck von den ursprünglichen Aufzeichnungen geben. Körner hat nie erklärt, woher er sein Wissen um die nicht mehr überlieferten Aufzeichnungen nahm. Zwar datieren Schlegels bruchstückhafte Aufzeichnungen auf einen früheren Zeitpunkte als Wolfs enzyklopädische Entwürfe. Diese sind jedoch unabhängige Systematisierungen älteren Gedankenguts und eigener Praxis, etwa der Prolegomena.
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einandersetzung mit den Prolegomena ad Homerum und der darin praktizierten genetischen Methode (Zovko, 1990:23-36)373. Zwar wollte Schlegel durchaus Wolfs Vorstellung einer autonomen Philologie noch zusätzlich erweitern. Der Kritikbegriff soll philologische, historische und philosophische Kritik vereinen374. Wolf geht für ihn zwar in die richtige, universalhistorische Richtung, aber eben nicht weit genug. Indes scheinen Wolfs Prolegomena als beste „philosophische Rhapsodie" ([213],80) seinem synthetischen Idealbild schon recht nahe zu kommen. Philologie muss sich zudem weniger als Wissenschaft denn als Kunst verstehen, und zwar nicht nur im Sinne von Kunstfertigkeit (techne). Aber in auslegungstheoretischer Hinsicht lässt sich im Vergleich zu Wolf keine Revolution feststellen. Schlegel — der übrigens wie Ranke und Nietzsche auch die Schulpforte besuchte — wiederholt vielmehr die bekannten Grundsätze der kritischen Philologie, die schlicht Jahrzehnte später für Nietzsche noch verbindlich waren. Schon Ernst Behler musste anerkennen, dass die 373
Vgl. auch Michel (1982), der den Versuch unternimmt, Schlegel als Vorläufer einer ästhetischen Hermeneutik zu instrumentalisieren, und zwar ohne die Wissenschaftsgeschichte oder Wolf in nennenswertem Ausmaß einzubeziehen. Er geht dezidiert auf die Fragmente Zur Philokgie ein (S. 43-45) und kommt nicht umhin, die absolute Unzertrennlichkeit von Hermeneutik und Kritik bei Schlegel zu konstatieren; sogar die Emanzipation der Kritik zur eigenen Wissenschaft im Sinne einer universalen Kunstkritik, die von der Philosophie inspiriert ist, wird angedeutet. Michel hat aber weder die Betonung des Lesens noch die Anlehnung an die philologische Tradition sehen wollen, obwohl sich Schlegel explizit auf sie bezog. Die Betonung Schlegels als Theoretiker des universalen Verstehens wird ihm immer nur zur Hälfte gerecht. Klaus Weimar hat in seiner Historischen Einleitung %ur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik (1975; Kurzfassung s. Weimar, 1987) eine unübertroffene Darstellung zu Geschichte der Verstehens- und Interpretationsproblematik besorgt, die gleichwohl die philologische Kritik ebenfalls völlig ignoriert. Weimar sieht selbst den Widerspruch, der zwischen einer universalen Hermeneutik und einer postulierten literarischen Hermeneutik liegt (1975:66), verlagert ihn jedoch in die Texte und Autoren, die er diskutiert. Ohne philologische Kritik gibt es keine literarische Hermeneutik. Es ist mir nicht erklärlich, warum Weimar konsequent bei der Hermeneutik als Wissenschaft des Verstehens und Interpretierens ansetzt und nicht bei umfassenderen, die Kritik beinhaltenden Auslegungstheorien, obwohl er doch die entsprechenden Quellentexte kennt. So erwähnt er zwar, dass die von Friedrich Schlegel erträumte Superphilosophie, die sich automatisch immer selber kritisiert, auch als Philologie erwogen wird, „um die Sicherheit der philologischen Kritik für die Kritik der Philosophie einzuspannen." (1975:92). Auch ist er sich der Schwierigkeiten im antinomischen Verhältnis von Hermeneutik als Verstehen und Kritik als Unterscheiden durchaus bewusst (94f). Schließlich lässt er bei Schlegel die Hermeneutik sogar in Kritik aufgehen. Die wahre Bedeutung dieses Schritts hebt er nicht hervor, im Gegenteil: Weimar stellt es nun so dar, als könne man unter Schlegels Kritik deshalb einfach Hermeneutik verstehen. In Leventhals grundlegendem Werk, Summe langer Forschungstätigkeit zum Thema (Leventhal, 1994), kommt Nietzsche nur am Rande vor und wird aus Sicht der dekonstruktivistischen Lektüre v.a. Sarah Kofmans behandelt.
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Hingewiesen sei auf einen nützlichen Aufsatz über Schlegels philologische Reflexionen aus editionswissenschaftlicher, historisch-kritischer Perspektive (Arndt, 1997). Schlegel ist hier Vorbild einer kritisch-philologischen Philosophie, die selbst historisch konstituiert ist. Letztlich geht es um ein innigeres Verhältnis von Textedition und Exegese: Arndt fordert vor allem vom Editor philosophische Kenntnisse, denn er müsse in der Lage sein, den historischen Reichtum der Texte zu erschließen. Seine Aufgabe sei es eben nicht, längst Bekanntes zu dokumentieren — eine Mahnung weniger an die Adresse der Nietzsche-Philologie, die sich hier wenig vorzuwerfen hat, als andere Großausgaben.
5.2. Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung?
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bisweilen bis in den Wortlaut oder in gemeinsame Metaphorik reichenden Ähnlichkeiten zwischen Nietzsche und der frühromantischen Schule aus gemeinsamen älteren Wurzeln ableitbar zu sein scheinen (vgl. Behler, 1978). In der Philologie ist die Gelehrsamkeit und das umfassende (enzyklopädische) Lesen recht eigentlich zu Hause, „Das beständige Geschäft", so Schlegel, „ist Sammeln, Excerp.[iren], historische Recherchen, ächte Hypothesen, Lesen aller Schriftsteller" ([41],38), denn Philologie ist „Interesse für bedingtes Wissen." ([137],46). Das Lesen ist Befriedigung des philologischen Triebes: auch Schlegel unterscheidet das Lesen in Muße oder aus Langeweile vom philologischen Lesen ([82;83],68). Alles kritische Lesen sei zyklisch, nur jenes Lesen sei wirkliches Studium, das zyklisch verlaufe ([73],67). Im "Lyceum (Fragment 27) heißt es ganz ähnlich: „Ein Kritiker ist ein Leser, der wiederkäut. Er sollte also mehr als einen Magen haben." (Schlegel, 1967ff, Bd. 2:149) - ein Bild, das auch Nietzsche liebte. Der frühromantische Drang, Kritik und Philologie zur Kunst zu erhöhen, ist bekannt375. Weniger bekannt ist, dass die frühromantischen Theoretiker dabei in vieler Hinsicht der kritisch-philologischen Tradition verhaftet blieben. Friedrich Schlegel wurde nicht zuletzt ein Mitbegründer der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Sanskrit-Philologie. Die Analyse sollte zur Synthese erweitert werden (z.B. [16],60). Aufgegeben werden sollte sie nicht376. Als die Poststrukturalisten „la relecture" (Barthes, 1970:22) zum methodischen Nonplusultra der neuen Literaturwissenschaft erhoben, erfanden sie das Rad von neuem. F.A. Wolf stand seinerseits auf vielfältige Weise mit der Romantik in Berührung. In seiner Person vermischen sich die Einflüsse des frühen Herder und Winckelmanns mit der sog. Hermeneutik der Aufklärung377 sowie den Reflexionen der deutschen Klassik und Frühromantik. Verfolgt man die Entwicklung der daraus resultierenden Auslegungstheorie durch die philologischen Enzyklopädien bzw. die Praxis der Philologen bis hin zu Nietzsche, muss man Erstaunliches feststellen: in der Altertumswissenschaft blieb bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts der Stand der Auslegungstheorie in nahezu originaler Form konser-
375
Vgl. etwa Schellings Vorlesungen über die Metbode des akademischen Studiums, die aus enzyklopädischer Sicht und zur Definition der Fachidentität noch für Ritsehl wichtig waren: „Der bloße Sprachgelehrte heißt nur durch Mißbrauch Philolog; dieser steht mit dem Künstler und Philosophen auf den höchsten Stufen, oder vielmehr durchdringen sich beide in ihm. Seine Sache ist die historische Konstruktion der Werke der Kunst und Wissenschaft, deren Geschichte er in lebendiger Anschauung zu begreifen und darzustellen hat. Auf Universitäten soll eigentlich nur Philologie, in diesem Sinne behandelt, gelehrt werden; der akademische Lehrer soll nicht Sprachmeister sein." (Schelling, 1974:40f)
376
Dazu gehört auch die Wichtigkeit der Grammatik: die sprachwissenschaftliche Forschung Schlegels wird von seinen poststrukturalistischen Adepten geflissentlich ignoriert. Vgl. auch das Athenäum-Fragment 404 (Schlegel, 1967ff, Bd. 2:241f): zur Philologie müsse man geboren sein, ohne grammatisches Interesse sei keine Philologie möglich. Die Mängel der reinen Philologie und der reinen Philosophie sind für Schlegel nur durch eine Verbindung beider zu beheben (s. dazu a u c h y l t h e n ä u m - F t a g m e a t e 92ff, ebd.:179). Ein Begriff, den ich v.a. deshalb beibehalte, weil er sich eingebürgert hat.
377
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
viert. Das wird besonders deutlich, wenn man Nietzsche mit konkreten Auslegungstheorien des achtzehnten Jahrhunderts vergleicht. Die Forschung zur Hermeneutik des achtzehnten Jahrhunderts ist noch in den Anfangsgründen und auf dem besten Weg, die Standardversion der Entwicklung der Hermeneutik von Dilthey und Gadamer zu revidieren378; sie kann hier nur in Ansätzen berücksichtigt werden. Es zeigt sich aber mit aller Klarheit, dass zwei der wichtigsten Kennzeichen von Nietzsches philologisch fundierter Auslegungstheorie schon im Zentrum der Universalhermeneutik des achtzehnten Jahrhunderts standen, nämlich die Kritik an der Allegorese einerseits und die Bedeutung der Person des Autors sowie der Autorintention andererseits. Die Kritik an der Allegorese war naturgemäß conditio sine qua non für eine Exegese, die sich aus der Bevormundung der Theologie befreien wollte. F.A. Wolf ist bekanntlich der erste Philologe, der sich von der theologischen Fakultät emanzipierte. Aber bereits seine unmittelbaren Lehrer und Vorläufer an der Göttinger Universität wie Eichhorn und Heyne betonten, aus der Bibelkritik kommend, nicht nur die Bedeutung der Kritik im hermeneutischen Prozess, sondern kritisierten explizit die Allegorese379. Schon bei ihnen ist die philologische Methodik historisch auf die kommunikative Situation des Textproduzenten ausgerichtet. Als repräsentativ (wenn auch nicht schulbildend) für die allgemeine Auslegungslehre kann das Werk Georg Friedrich Meiers gelten. Erschienen im Jahr 1756 hat es als eine der ersten systematischen Grundlegungen der Auslegungslehre die Begrifflichkeit zumindest der nächsten Jahrzehnte geprägt. Boeckh führt es in der Literaturliste zur Hermeneutik als das einzige Werk neben den Schriften Wolfs und Schleiermachers auf, das nicht ausschließlich auf das Neue Testament bezogen ist (21886:79). In Wolfs kurzer kommentierter Einführung in die Bücherkunde der Hermeneutik wird Meier gleich an erster Stelle genannt. Das Buch „enthält die allgemeine Hermeneutik oder die Grundsätze der Erklärungskunst", wird allerdings auch mit dem Attribut „wenig befriedigend" versehen (1831:271f). Wie an anderer Stelle deutlich wird, bezieht sich diese Einschätzung vor allem auf den allgemeinen philosophischen Charakter von Meiers Werk. Für die speziellen Bedürfnisse der neubegründeten Altertumswissenschaft ist es eben nur bedingt geeignet: „Es giebt im Ganzen aber so viele besondere Hermeneuti37» N a c h der Pionierarbeit Szondis (1975) sind neuerdings v.a. Forscher wie Lutz Danneberg oder Axel Bühler zu nennen. Eine sehr gute Forschungsübersicht gibt die ausführliche Einleitung von Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna zu Meier (1996). Vgl. außerdem Bühler/Madonna (Hrsg., 1994). Die Revision der Standardversion ist nötig und wichtig und derzeit eines der wichtigsten und fruchtbarsten geisteshistorischen Unternehmen. Schon lange vor Schleiermacher gab es universale philosophische Auslegungstheorien. Hier wird nicht behauptet, dass Nietzsche direkte Kenntnis verschiedener Aufklärungshermeneutiken besaß, sondern dass diese ihn vermittelt über die philologische Enzyklopädie seiner Zeit erreichten. Auf diesem Zwischenträger liegt denn auch das Hauptaugenmerk, die Aufklärungshermeneutiken liegen einen Schritt zu weit zurück, als dass sie genauer in Betracht gezogen werden müssten; jedenfalls lässt sich eine direkte Verbindung zu Nietzsche - bei allen Parallelen - nicht nachweisen. 379
Vgl. z.B. Luigi Marinos Beitrag zu Eichhorn in Bühler/Madonna (1994, 71-89).
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ken, als es besondere Sprachen giebt." Gleichwohl könne die spezielle Hermeneutik vieles aus der allgemeinen Lehre übernehmen (293f). Die allgemeine Hermeneutik lehre, so Wolf, „die Gedanken eines Andern aus ihren Zeichen zu verstehen und zu erklären. Man versteht Jemanden, der uns Zeichen giebt, dann, wenn diese Zeichen in uns eben dieselben Gedanken und Vorstellungen und Empfindungen [...] hervorbringen, wie sie der Urheber selbst in der Seele gegenwärtig hatte." Sie sei deshalb „eine völlig philosophische Disciplin", unbefriedigend auch deshalb, weil sie selbst von den Philosophen noch nicht genügend bearbeitet sei. Als philosophische Disziplin beschäftigt sie sich mit der Erklärung von Zeichen aller Art: „Hermeneutica generalis est disciplina signorum explicandorum." (Wolf, 1831:273). Diese zeichentheoretische Grundlage ist ganz das Erbe des achtzehnten Jahrhunderts; Meiers Auslegungslehre steht fest auf ihrem Boden. Allgemeine semiotische Reflexionen machen den gesamten ersten Teil seines Buches aus. Nietzsches Begriff des Zeichens und der Semiotik ist offensichtlich, über Wolf und seine philologischen Nachfolger vermittelt, von diesem Zeichenbegriff des achtzehnten Jahrhunderts geprägt, der erstaunlich vielseitig und noch immer zu wenig bekannt ist. Nietzsches Zeichenlehre der dekadenten Moral hat Vorläufer nicht 'zuletzt in der hermeneutica medica als „Auslegung der Zeichen der Krankheit" und seine Forderung nach subtiler Entzifferungskunst steht in einer Traditionslinie mit der ars deciferatoria als „Kunst, verborgene oder geheime Arten zu schreiben, auszulegen" (Meier, 1996:98). Laut Meier muss der Ausleger die Zeichen erst als solche erkennen, ehe er ihre Bedeutungen feststellen kann — wohl einer der frühesten Belege einer deutlichen Trennung von signifie und signifiant. Nur das signum verum kann ausgelegt werden, das signum adparens et falsum dagegen, das nur als Zeichen erscheint, nicht. Die Forderung nach der verlässlichen Feststellung des semiotischen Status des Auszulegenden führt in der Philologie letztlich in die Textkritik380. Ebenso wichtig ist Meiers Unterscheidung von signum naturale (Zusammenhang von Bezeichnung und Bezeichnetem), signum arbitrarium (kein Zusammenhang) und signum artificiale („nach den Regeln einer Kunst eingerichtet", Meier, 1996:14). Sie ist schon für unsere Differenzierung von Allegorie und Allegorese wichtig gewesen (s.o., Kap. 4.2.). Der Testfall für jede Auslegungstheorie, die sich der Gefahren bewusst ist, die in der Allegorese liegen, tritt vorzugweise in der Behandlung der beiden Arten konventioneller Zeichen zutage. Hier werden die Parallelen zu Nietzsches Forderungen nach Philologie und nach gutem und richtigem Lesen besonders deutlich. Meier führt die Forderung nach einer aequitas hermeneutica ein, einer hermeneutischen Billigkeit, die Nietzsches Rechtschaffenheit zum Verwechseln ähnelt. Auch die Falschmünzerei ist im Gegenteil zur hermeneutischen Billigkeit in der bloß intellektuell fundierten Scheinbilligkeit (aequitas cerebrina) bzw. der absoluten Unbilligkeit (iniquitas interpretis) schon 380
Bei Meier in die critica sensu strictissimo.
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
vorgebildet. Unterscheidungsmerkmal ist die Wahrscheinlichkeit, besonders bezogen auf die Person des Signators, also Urhebers der Zeichen. Bei der Auslegung willkürlicher Zeichen gehe man davon aus, dass sie vom Signator „klüglich erwählt worden" sind (33): so gelten sie mit ihrer Bedeutung durch einen Zusammenhang verbunden und damit den natürlichen Zeichen anverwandelt. Der Ausleger habe nur diese Art von Zeichen auszulegen, d.h. „diejenige Bedeutung willkürlicher Zeichen für hermeneutisch wahr zu halten, welche mit der Klugheit des Urhebers der Zeichen am besten übereinstimmt, bis das Gegenteil erwiesen wird" (35). Der Respekt vor dem Signator, die Bereitschaft, sich auf den Anderen einzulassen381, gehört also offensichtlich in den Kontext der so genannten hermeneutischen Gründe, d.h. akzeptabler Auslegungskriterien. Wie bei Wolf und wie bei Nietzsche findet sich schon bei Meier tendenziell eher der Begriff des Erklärens. Das Erklären oder Auslegen der Zeichen kann nur gelingen, wenn der übliche Gebrauch der Zeichen (usus signandi) solange Leitfaden bleibt, bis eine Abweichung davon überzeugend nachgewiesen werden kann. Der Sinn muss aus den Zeichen bzw. der Rede heraus, nicht hineingetragen werden. Sinnerschließung findet immer dann statt, wenn Signator und Ausleger dasselbe denken, wobei der Ausleger sogar „eine weidäufigere, größere, richtigere, klarere, gewissere und praktischere Erkenntnis des Sinnes" erlangen kann als der Autor. Er muss dazu die Sprache, derer sich der Autor bediente, genau kennen. Diese Kenntnis wird erworben durch beständige Lektüre, Studium des konkreten Gebrauchs, Sprachlehre (d.h. Vertrautheit mit dem Lexikon), Kenntnis der Regeln der Dichtkunst, Ästhetik, Philologie im weitesten Sinne (48-52). Für eine Geschichte der Auslegungstheorie ist der Umstand nicht zu überschätzen, dass bei Meier noch keine Vermischung von buchstäblichem und eigentlichem Sinn eingetreten ist, die später für soviel Verwirrung sorgen sollte. Der buchstäbliche Sinn (sensus litterae) kann laut Meier durchaus „sehr vielfach und mannigfaltig" sein. Der eigentliche (proprius) und uneigentliche (improprius) sensus dagegen unterscheiden sich nach ursprünglichen bzw. übertragenen oder figurativen Bedeutungen. Der sensus litteralis als unmittelbarer Sinn kann dabei sowohl eigentlich wie uneigentlich sein. Uber den mittelbaren Sinn (sensus mediatus bzw. mysticus), „welcher nicht der nächste Zweck der Rede", d.h. nicht intentional ableitbar ist, erklärt sich Meier nicht näher (46ff). Ein billiger Ausleger zögert sehr lange, ehe er einen mittelbaren Sinn annimmt, d.h. Allegorese betreibt. Meier gibt ihn höchstens in Verbindung mit Selbstauslegung des Autors zu, aber diese Lesart sei selbst dann 381
„Ein Ausleger also, welcher willkürliche Zeichen auslegen will, muß solche Bedeutungen annehmen, welche mit der Fruchtbarkeit, Größe, Wahrhaftigkeit des Auslegers u.s.w. am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erhellet." (Meier, 1996:38) — insofern die willkürlichen den natürlichen Zeichen ähneln, müssen die dort geltenden Regeln beachtet werden. Freilich verbindet Meier dies mit Anforderungen an den Autor bzw. Signator: „Ein weiser und vernünftiger Urheber der Zeichen bedient sich, wenn er andern etwas bezeichnet, solcher willkürlichen Zeichen, welche denen Personen, denen er etwas bezeichnet, am gemäßesten sind." (41)
5.2. Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung?
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nicht zwingend, wenn sie erst nach Verfassung des Textes erfolgte (79f). Die Herausgeber des Versuchs einer allgemeinen Auslegungskunst sehen bei Meier die Allegorese nur als äußeres Zugeständnis, um den allegorischen Sinn der Bibelauslegung immerhin nicht von vornherein auszuschließen: Ob Meier denen, die einen mystischen Sinn der Heiligen Schrift annehmen wollen, mit seiner Lehre vom mittelbaren Sinne wirklich einen guten Dienst tut, ist zu bezweifeln. Nach Meier läßt sich die Annahme des mystischen Sinnes ja nur rechtfertigen, wenn der unmittelbare Sinn sehr unvollkommen ist. Das werden jedoch Bibelexegeten bezüglich vieler Stellen, an denen sie den mystischen Sinn bemühen, wohl nicht behaupten wollen. (Meier, 1996:LXXI).
Wie nach ihm Wolf oder Nietzsche möchte schon Meier die Perspektive des Exegeten auf das Textsoma in Form des buchstäblichen Sinnes beschränken, der eben nicht notwendigerweise sensus proprius ist, sondern durch den usus loquendi — „durch den Gebrauch der Worte bestimmt" (55) ist. Bestimmend für die philologische Tradition wurde das Prinzip, Wörterbücher, Grammatiken und ähnliche Hilfsmittel nicht als hermeneutische Gründe, sondern lediglich als Wegweiser anzusehen. Dieselbe, womöglich wichtigere Rolle spielte die Parallelstellenmethode, d.h. die ebenso intensive (zyklische, ,wiederkäuende') wie extensive Lektüre des Verfassers — neben gründlicher Lektüre anderer Autoren: „je mehr Autoren ein Ausleger lieset und höret, welche sich eben derselben Sprache bedient haben", desto erfolgreicher wird er sein (ebd.)382. Da sich immer mehrere buchstäbliche Sinne unterscheiden lassen, muss man allgemein jenen bevorzugen, der sowohl mit den Ergebnissen der Parallelstellenauswertung als auch mit den billigen Erkenntnissen über den Autor am besten zu vereinbaren ist — die Lebensumstände des Autors gehören ebenso wie andere kontextuelle Fragen dazu: Ein kluger und vernünftiger Autor bestimmt seinen Willen durch seinen ganzen äußerlichen Zustand. Folglich sind der Ort, das Alter, die Zeit, das Vaterland, die Gelegenheit, die Lebensart, das öffentliche Amt, der Stand und alle Verhältnisse des Autors gegen andere Menschen, sonderlich gegen diejenigen, denen er den Sinn bezeichnet, Umstände des Autors. (63)
Diese Stelle verdeutlicht, dass der meist mit der Frühromantik in Verbindung gebrachte Psychologismus bereits in der Hermeneutik der Aufklärung im Keim enthalten ist383; F.A. Wolf bietet sich als plausibles Zwischenglied an: „Es ist hier 382
Vgl. zu Meier speziell Szondi (1975:98-134). Neben der Wichtigkeit der Autorintention streicht Szondi eben auch die Bedeutung der Parallelstellenmethode heraus. Bei Meier wie in der Hermeneutik der Aufklärung insgesamt gilt die Parallelstellenmethode (in sprachlicher und sachlicher Hinsicht) als überlegen gegenüber den Hilfsmitteln der Grammatik und des Wörterbuchs, deren Auskünfte falsch oder irrelevant sein können. Auch die Etymologie fuhrt nicht weiter, da es keinen essentiellen, sondern nur einen durch Gebrauch erhellten Sinn gibt. Freilich kritisiert vor Szondi schon Meier den unkritischen, unhistorischen Einsatz von Parallelstellen, namentlich bei der Erklärung von Metaphern.
383
Es sei wiederholt, dass Schleiermacher neben der grammatischen (d.h. linguistischen) und technischen (auf die Kunstmittel bezogenen) Auslegung die psychologische Auslegung als Kern verstand, da sie den Abstand zwischen den Individuen zu überbrücken hatte. Der zeitliche Ab-
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
die Frage: was bedeutet jedes Zeichen? Man will durch Zeichen dieselben Empfindungen bei Andern erregen, die man selbst hat, und zwar in derselben Ordnung, wie man sie hat."384 - gewiss liegt hier die Quelle von Nietzsches comprendre c'est egaler385. Über den Zarathustra schreibt Nietzsche noch 1888: „Aber das n a c h z u f ü h l e n , dazu bedarf es ganzer Geschlechter, die erst die inneren Erlebnisse n a c h h o l e n , auf Grund deren jenes Werk entstehen konnte." (KGB 111.5:340). Wie dies technisch zu erreichen sei, wird schon für Wolf zum definierenden Moment der philologischen Auslegungstheorie im Gegensatz zu den regelgeleiteten, allegorischen bzw. subsumierenden hermeneuticae sacrae bzw. juristischen Auslegungssystemen: W a s unsere [!] Hermeneutik betrifft, so ist der Hauptbegriff derselben: sie ist die Kunst, grade die nemlichen Ideen oder Empfindungen, die ein Schriftsteller durch Reihen von Ausdrücken uns hat geben wollen, völlig eben so, wie sie in seinem Kopfe waren, d.h. in der nemlichen Stärke, Verbindung etc. wieder zu fassen und uns darüber erklären zu können, oder, das, was wir im Kopfe fassen, durch Worte wieder deutlich machen zu können. (Wolf, 1831:293)3^.
Der Gedanke, dass dies nur durch das Studium der Autoren selbst, d.h. des usus loquendi statt durch Hilfsmittel aller Art wie Grammatiken und Bücher erreicht werden kann (294), ist für Meier selbstverständlich; er bekräftigt die alte Zentralität des Genres Kommentar für die philologische Disziplin387. stand zwischen ihnen lässt sich darunter subsumieren. Es geht Schleiermacher um das Hineinversetzen nicht nur in die bewusste Intention des Autors, sondern auch in dem Autor unbewusste Empfindungen. Gadamer lehnt all dies ab: der Zeilenabstand verbietet die Nachempfindung und verstellt die Applikationsmöglichkeiten auf neue geschichtliche Situationen (die wichtigste Auseinandersetzung Gadamers mit der frühromantischen Hermeneutik im zweiten Teil von Wahrheit und Methode, Abschnitt 1.1.; vgl. Gadamer, 31972). 384 Wie Meier unterscheidet auch Wolf natürliche von konventionellen Zeichen. 385 Ob dies freilich letztlich auf platonische Wurzeln verweist, wage ich nicht zu entscheiden. Auffällig ist, dass bei Schleiermacher, der sich ja einer ähnlichen Gedankenfigur bedient, der Ursprung für diese in seinen Platon-Arbeiten zu finden ist, etwa wenn er als wesentlichen Zug der platonischen Kompositionsweise herausstellt, „die Seele des Lesers zur eignen Ideenerzeugung zu nötigen" (1996:60). 386 Deshalb unterscheidet Wolf ja, wie bereits erwähnt, verstehen, d.h. intelligere („etwas gerade so fassen, wie der Andere es gefasst hat") von erklären, d.h. „den einzig wahren Sinn eines Satzes mit seinen Gründen und Beweisen aufstellen" und Begriff und Empfindung des Anderen zu verdeutlichen. Die Darstellung davon heißt auch explicatio (293f). Es sei nochmals deutlich darauf hingewiesen, dass Wolf damit nicht ausdrücken will, dass jeder Satz oder Text nur einen festen sensus hat. Vielmehr betont er, dass man sich über den Sinn durchaus streiten kann. Um dies zu tun, muss man sich aber festlegen und darf sich eben nicht auf den mehrfachen Sinn der Allegorese berufen (was wiederum nicht heißt, dass ein Text nach Anwendung der technischen Auslegung sich nicht auch als allegorisch erweisen darf!). 387 In einem gesonderten Abschnitt wird der Kommentar von der Auslegung unterschieden. Der philologische Kommentar will den Sinn explizieren, der commentator philologicus ist identisch mit dem erläuternden bzw. erklärenden Kommentator, dem commentator illustrans seu explicans — bis hin zur Übersetzung. Wenn allerdings nur die „Grundsprache" des Textes und nicht eigentlich der Sinn kommentiert wird, entsteht eine andere Form des philologischen Kommentars, ein reiner Schulkommentar (scholasticus) als Vorstufe der Auslegung. Vom philologischen Kommentator unterscheidet sich noch der commentator exegeticus, der weniger auf die Sprache
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Neben Psychologismus und Erudition findet sich so, wie das letzte Zitat Meiers demonstriert, bereits ein gut ausgebauter Ansatz zum Kontextualismus, wie er für die philologische Tradition wichtig wurde und der schließlich im Biographismus und anderen Forschungsrichtungen des Positivismus kulminiert. Nietzsche schreibt, wie angedeutet (Kap. 4.3.), Ecce Homo in erster Linie als Lesehilfe für künftige Generationen von Nietzsche-Exegeten. Die stilisierte Selbstdarstellung, die langen diätetischen oder klimatischen Exkurse sind nicht pathologisch zu lesen, sondern als Konsequenz der durch die Philologie des neunzehnten Jahrhunderts gefilterten Hermeneutik der Aufklärung, derzufolge redliche Auslegung nur dann stattfindet, wenn „der Ort, das Alter, die Zeit, das Vaterland, die Gelegenheit, die Lebensart, das öffentliche Amt, der Stand und alle Verhältnisse des Autors gegen deren Menschen" (Meier, s.o.) gebührend beachtet worden sind. Was die Poststrukturalisten zur Hermeneutik des Verdachts vereinfachten, war eine Aufmerksamkeit gegenüber den Lebensumständen des Verfassers, die demnach weder radikal neu noch ein Erbgut der Frühromantik ist, sondern weiter zurück reicht. Auch das berühmte Besserverstehen Schlegels388 oder Schleiermachers bezeichnet nicht so sehr die Enthüllung geheimer, möglicherweise unbewusster Motive, sondern die Voraussetzung zum Verständnis, d.h. zum wahren Verstehen, das noch viele andere Aspekte zu berücksichtigen hat (vgl. Behler, 1987:148)389. Schleiermachers Hermeneutik, die noch immer als erste universale Verstehenslehre und Überwinderin der Spezialhermeneutiken aufgefasst wird, erweist sich einmal mehr als Seitentrieb einer mannigfaltigen Tradition. Was gemeinhin als ein Kern romantischer Hermeneutik gilt, das Verstehen des Textes bzw. der Rede aus ihrem gesamten historisch determinierten Vorstellungs-, Entstehungs- und Lebenskomplex (ebd.), baut auf der universalen Auslegungstheorie der Aufklärungszeit auf. Die Frühromantik einfach übersprungen hat Nietzsche jedoch nicht. Zwei Bereiche beweisen, dass ihre Nachwirkung nicht spurlos an ihm vorüberging. Der erste wichtige Unterschied von Nietzsches Lese- und Auslegungstheorie zur Hermeneutik der Aufklärung betrifft das bereits angesprochene Verhältnis zum allegorischen, anspielungsreichen, esoterischen Schreiben. Nietzsche verdammt konzentriert ist, obwohl er den philologischen Kommentar mit einschließt. Immer müsse gerade soviel Gelehrsamkeit aufgewendet werden, wie zum Verständnis des Textes nötig (Meier, 1996:84f). Die Beurteilung des Kommentierens durch die Herausgeber Meiers aus der Einleitung vermag ich nicht zu teilen: „Hier geht es also nicht mehr nur um die Feststellung dessen, was der Autor gedacht hat, sondern um die Anwendung des Textes auf die Situation des Interpreten und insbesondere seines Publikums, also, wie man auch sagt, die Applikation." (LXXII) — die applizierende Form des Kommentars gilt für Meier lediglich für gewisse exegetische Kommentare, wenn der Begriff der Applikation nicht allzu allgemein verwendet werden soll. 388 j n j e n Fragmenten %ur Utteratur und Poesie steht der bekannte Satz: „Kritisieren heißt einen Autor besser verstehn als er s.[ich] selbst verstanden hat. - " (Bd. 16 992, S. 168). 3m Der Anspruch, einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst, war schon unter Philologen des achtzehnten Jahrhunderts verbreitet. Auch bei Kant kommt besseres Verstehen durch Vergleichung von Gedanken und Schriften zustande (Behler, 1987; Behler 2 1985).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
nicht, wie gezeigt werden konnte, mit der Allegorese gleichzeitig das allegorische Schreiben, wie es noch im 18. Jahrhundert üblich gewesen war, als man sich gegen das Barock abzusetzen suchte. Die Maskentechnik des Barockzeitalters gilt ihm im Gegenteil — wohl spätestens seit seiner frühen Bekanntschaft mit Schopenhauers Übersetzung von Graciäns Oraculo Manual (vgl. Gracian, 1934) — als vorbildhaft. Hier wird nicht nur die Kunst der Verstellung gefeiert, sondern Pathos der Distanz praktiziert. Nietzsches Aphorismen sind nicht nur formal an Graciän geschult390. Die Funktion der Maske bestand nach unserer Darstellung u.a. darin, an die Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten des Verstehens zu erinnern. Zwischen Friedrich Schlegels Allegorien und der Indirektheit der Maske gibt es deutliche Parallelen. Bei Nietzsche wie Schlegel weist die indirekte Schreibweise auf die Unmöglichkeit hin, Vollständigkeit der Kommunikation zu erreichen391. Schlegels Ironiebegriff steht in enger Beziehung zur Unverständlichkeit. Nietzsches ,Maske' erinnert deshalb an die bahnbrechenden Einsichten der Frühromantik in das Wesen der Ironie. Die Geburt der neuzeitlichen Hermeneutik stammt aus der Tatsache der unverstandenen Überlieferung. Bewusst eingesetzte Auslegung soll das Unverständliche in den Zusammenhang des Erklärbaren und Erklärten fugen. Schlegel setzt am anderen Ende ein. Vielleicht, so ist seine Abhandlung Über die ünverständlichkeit zu lesen, bleibt aber gerade das offensichtlich problemlos Verständliche in Wahrheit unverstanden. Für Schlegel steht nämlich, im Unterschied zu Schleiermacher, die Schrift und nicht das Gespräch im Zentrum der Verstehensproblematik392. Für die Unverständlichkeit des Athenäums, legt Schlegel am Beispiel eigener Schriften dar, sei die Ironie verantwortlich, die das Ganze durchdringt. Ironie lässt Fesdegungen von Sinn nicht zu, sie wirkt unendlich ins Unendliche und schreibt damit nur die Unverständlichkeit fest (Schlegel, 1967ff, Bd.: 1.2:363372). Nietzsche wie Schlegel kommen zu Ergebnissen, die in der Logik der Philologie als Wissenschaft der schriftlichen Überlieferung schon angelegt sind. In beiden Fällen ist, konträr zur gängigen Auffassung, die Privilegierung der Kritik über die Hermeneutik verantwortlich für die Skepsis gegenüber der endgültigen Erklärbarkeit des Fremden bzw. des Historischen. In ähnlicher Weise sind selbst beim (frühen) Schleiermacher antihermeneutische Züge festgestellt worden, die der imperialen „Wut des Verstehens" (Hörisch, 1987:20) entgegenstanden. Erst in Ablösung Schleiermachers und der frühromantischen Schule, genauer seit Dilthey, habe es einen Übergang „von den 390
Zur Genrebezeichnung des Aphorismus bei Nietzsche ist längst nicht alles gesagt. Tatsächlich tritt die von Nietzsche gewählte Form der überschrifteten, häufig längeren Passagen m.W. vor ihm nur bei Graciän auf.
391
So auch Behler, der die Indirektheit und Ironie v.a. auf das Motiv der Maske bezieht. Aufschlussreich besonders in diesem Zusammenhang seine kritische Auseinandersetzung mit Paul de Mans Nietzschelektüre (Behler, 1989). Das wäre zumindest ein Grund, der nahelegt, ihn aus der Perspektive Derridas zu lesen (Behler, 1987).
392
5.2. Tradition der Frühromantik oder Hermeneutik der Aufklärung?
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vielen Sinnen und Wahrheiten zu dem einen Sinn und der einen Wahrheit", kurz: einen Übergang von Philologie zur Philosophie gegeben (ebd.). Im Unterschied zum Philologen sei der Hermeneutiker kein Diener des Textes mehr, sondern derjenige, der ihn in Besitz nehme. Die universale Verstehenswut wachse sich zur philosophischen Hermeneutik aus: hermeneutische Interpretationen393 sagten am Ende alle dasselbe394. Es sei daran erinnert, dass sowohl Schlegels wie Schleiermachers auslegungstheoretische und philologische Reflexionen aus der konkreten philologischen Arbeit der Textkonstitution und Übersetzung stammen. In der programmatischen ersten Einleitung zum ersten Band seiner Platon-Übersetzung stellt Schleiermacher viele grundlegende, von Wolf inspirierte Überlegungen kritisch-philologischer Art im Sinne Wolfs an, besonders zu Überlieferungsfragen und zur Echtheitskritik (vgl. Schleiermacher, 1996). Dass der frühe Friedrich Schlegel, Schleiermacher und auch Novalis dagegen die Forderung nach Aufmerksamkeit gegen die vielen Buchstaben statt gegen den einen Sinn gefordert haben, wie Hörisch behauptet, ist zwar richtig, greift aber historisch gesehen zu kurz. Sie bedienten sich lediglich der viel älteren Kritik als Instrument der Differenzierung. Nie hat die Philologie in ihrer konstituierenden Phase Sinnerschließung von Texten als Hauptaufgabe angesehen. Als Kritikerin und Erklärerin der Texte gab sie dazu lediglich Hilfestellung. Die Texte selbst blieben, und das machte die philologische Theorie für die Frühromantik schließlich so verführerisch, unendlich. Philologische Arbeit wollte als Textkritik den Text so rekonstruieren, dass er erst eigentlich seine verschiedensten Facetten zeigt; als ästhetische und höhere Kritik ging es ihr nicht um Festschreibung von Sinn, sondern um Verhandlung des Wertes im ewigen Vergleich395. Philologische Kritik bot sich daher als Universalperspektive auf das unendliche Leben an. In der Transzendierung schriftlicher Texte ließen sich mit ihrer Hilfe außerhalb des engen Rahmens der klassischen Überlieferung ähnliche Effekte erzielen. Die metaphorische Übertragung philologischer Denkweisen auf die Aneignung der Welt gehört zum Kern frühromantischer Ästhetik — verstanden in der Bedeutung einer Wahrnehmungspraxis. Mit ihrer Hilfe konnten Kosmos und Leben dem Numinosen angenähert werden396. Neben der Rehabilitierung allegorischer Rede ist das die zweite Parallele zu Nietzsche, der seinerseits in vergleichbarer Weise F.A. Wolf umfunktio393
Ein unschöner Pleonasmus, der die einschlägige Begriffsverwirrung dokumentiert.
394
Jochen Hörischs Interpretation der Universalhermeneutik (die aus den vielen Buchstaben den einen und einzigen Geist herauszufiltrieren versucht) als Folge der französischen Revolution mit ihrem Chaos an Zeichen und Bedeutungen, das zur Sehnsucht nach Einheit fuhrt, ist kulturhistorisch allerdings fragwürdig. In der ausgearbeiteten Version in Hörisch (1988) wird dennoch eine anregende und bedenkenswerte Hermeneutikkritik aus Sicht der Frühromantik vorgeführt.
395
Schlegels Gespräch über die Poesie (Schlegel, 1967ff, Bd. 2.1:284-362) ist einer der Grundtexte des Komparatismus, in der Komparatistik zumal über Länder- und Zeitengrenzen hinweg betrieben wird.
396
In Schlegels Aufzeichnungen Zur Poesie II entsteht die Vision einer Art philologischen Enzyklopädie, in der Kunst, Wissenschaft und Kritik am Ende in Poesie aufgelöst werden.
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niert. Für diesen hatte die Beschränkung der Anwendbarkeit philologischer Methodik auf die schriftliche Überlieferung noch zum Berufsethos gehört. Der Stellenwert etwa schon der bildenden Kunst innerhalb der Altertumswissenschaft ist einer der Hauptdiskussionspunkte in dem fruchtbaren Austausch zwischen ihm und Goethe397. Wollte Goethe, von Winckelmann ausgehend, die Domäne der Kritik erweitern, wollten es die frühromantischen Erben des Neuhumanismus noch viel mehr. Nietzsche geht noch einen Schritt weiter und lässt diesen Ansatz in sein Gegenteil umschlagen. Er macht die strenge Methodik der Ritschl-Schule zum Kriterium der Weltauslegung, er wendet Textkritik und philologisches Lesen universell an, obwohl er um die Undurchführbarkeit einer solchen Praxis weiß. Jedes Reden über den Menschen, die Geschichte, die Welt, das mit Wahrheitsanspruch auftritt, muss sich am Maßstab der guten Philologie messen lassen — und scheitert notwendigerweise daran.
5.3. Vom Philologenkrieg zur Philologie der Zukunft Nietzsches singuläre Stellung am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wäre nach dem bisher Ausgeführten damit zu erklären, dass er, in der Tat ein Unzeitgemäßer, an Positionen einer durch historisch-kritische Methode und Frühromantik modifizierten semiotisch fundierten Aufklärungshermeneutik festhält, wie sie ihm durch die philologische Schulung seiner Jugend- und Studienjahre vermittelt und durch Lektüre und eigenes konsequentes Zu-Ende-Denken bekräftigt worden war. Semiotik und Hermeneutik stehen sich nicht feindlich gegenüber, sondern bilden eine Symbiose aus geschichtlichem bzw. genetischem und überzeitlichindividuellem Bewusstsein. Zum landläufigen Nietzschebild passt dies nicht. Wenig plausibel erscheint ferner, dass Nietzsche so unwiderruflich mit der deutschen Altertumswissenschaft brechen musste.
397
Dazu Michael Bernays' ausfuhrliche Einleitung zu Goethes Briefen an Fnednch August Wolf (Bernays, 1886), einer hervorragenden Darstellung dieser wichtigen intellektuellen Beziehung. Bernays schreibt über Wolf: „Für ihn gab es nur e i n e zuverlässige Art der Ueberlieferung, die schriftliche. Das in Schrift niedergelegt Wort war ihm der allein gültige Zeuge. Und mit diesen Zeugnissen hatte er meisterlich umzugehen gelernt. Er wußte ihre Beweiskraft auf das strengste abzuschätzen, er wußte ihnen das Datum ihrer Entstehung mit einer, wie es schien, unfehlbaren Sicherheit anzuweisen. Aus dem schriftlichen Werke trat ihm lebendig Person und Charakter des Schriftstellers entgegen. Hier, im Kreise der Literatur, hatte sein Scharfsinn sich geübt auch in geringfügigen Merkmalen untrügliche Zeichen des Echten und Unechten, des älteren und jüngeren Ursprungs zu entdecken. [...] Aus der Fülle und Genauigkeit des auf schriftlicher Ueberlieferung beruhenden Wissens erwuchs ihm also die Kritik, sowohl diejenige, welche den künstlerischen Charakter des Schriftstellers nachweist, seine Vorzüge ins Licht setzt, seine Schwächen aufzeigt, als auch jene andere, die von subtilerer und bedenklicherer Art ist, die sich mit der Divination zu berühren scheint, und die darauf abzielt, in der Masse des Ueberlieferten das Unechte vom Echten zu sondern." (1886:51 f)
5.3. Vom Philologenkrieg zur Philologie der Zukunft
275
Erst wenn man diesen Bruch näher betrachtet, wird die spätere Ignoranz des historisch-kritischen Erbes in Nietzsches CEuvre nachvollziehbar. Hier ging es nicht nur um den persönlichen Entwicklungsweg Nietzsches. Die Philologie als solche stand am Scheideweg. Nietzsches wichtigster Gegenspieler war der bald darauf berühmteste Philologe der neueren Zeit, Ulrich von WilamowitzMoellendorff. Sein Angriff auf die Tragödienschrift vernichtete Nietzsches Hoffnung, das Amt des Hochschullehrers mit den eigentlichen kulturreformerischen Ambitionen zu verbinden. Er öffnete ihm aber auch die Augen für die Leistungen einer Philologie, die über jene Ambitionen hinausgingen. Die Geburt der Tragödie kann durchaus als Antwort auf die hintergründige Frage Friedrich Schlegels aus der bereits genannten Abhandlung Uber die Unverständlichkeit gelten: „Welche Götter werden uns von allen diesen Ironien erretten können?" (Schlegel, 1967ff, Bd. 2:363-372). Nietzsches vorläufige Antworten sind bekannt. Mit Wagner als Weggenossen wagt er nur verzagt auf die auch ihm wenig realistisch erscheinende Wiedergeburt des griechischen Mythos zu hoffen oder darauf, an die Stelle der Reichsgründung ein neues Hellas zu setzen. Zunächst geht es ihm nur um die Wiederbelebung des Enthusiasmus, der noch die Gründerväter der modernen Altertumswissenschaft, namentlich Winckelmann und F.A. Wolf 398 , motiviert hatte. Das Altertum sollte zumindest wieder als Quelle neuer Produktivität und als Ideal der Lebensführung anerkannt werden, und zwar nicht in der gezähmten Version des deutschen Gymnasiums. Der Stern der Philologie, in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts zur glänzenden, ja paradigmatischen Wissenschaft aufgestiegen, war mit der Zeit verblasst und seit Mitte des Jahrhunderts im Sinken begriffen. Den Naturwissenschaften gehörte die Stunde. Logisch gesehen gab es zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Entweder richtete sich die Philologie an den Standards der Naturwissenschaft neu aus, oder aber sie beharrte auf ihrem ganz eigenen Charakter, der sie von den Naturwissenschaften unterschied. Die Generation der zu Nietzsches Zeit herrschenden Ordinarien hatte in unterschiedlicher Ausprägung den ersten Weg beschritten. Während Theodor Mommsen aus autoritativer Berliner Position in staunenswerter Produktivität und in Verbeugung gegenüber der Faktenverliebtheit des beginnenden positivistischen Zeitalters nie gekannte Massen historischen Materials synthetisierte, setzte sein Intimfeind Ritsehl an der preußischen Konkurrenzuniversität Bonn und später in Sachsen unter Vernachlässigung der von Mommsen betonten Realien nach wie vor auf die empirischexperimentelle Methodik der Textkritik, deren Affinität zur Naturwissenschaft bereits beschrieben wurde. Die junge Generation der Nietzsche und Wilamowitz wird, ebenfalls in unterschiedlicher Ausprägung, den zweiten Weg wagen. Darauf geht letztlich der Streit um die Geburt der Tragödie, darauf geht aber auch die Bedeutung der Philologie in Nietzsches späteren Schriften zurück.
398 Pfeiffer (1976) ging so weit, in Wolf den letzten großen Jünger Winckelmanns zu sehen.
276
5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Wenn man wie Nietzsche und Wilamowitz Eigenständigkeit, bleibende Bedeutung und unverzichtbaren Rang der Altertumswissenschaft betonen will, stehen grundsätzlich wiederum zwei Strategien zur Verfügung. Entweder geht man zur ursprünglichen, nun verloren geglaubten Einheit der Wissenschaft und auf den disziplinären Kern des Faches zurück, oder aber man versucht im Anschluss daran, ein neues Paradigma zu formulieren und möglicherweise das Arbeitsgebiet zu erweitern. Nietzsche wählt die erste Variante; Wilamowitz ist Protagonist der zweiten. Nietzsche will Ritschis gelehrten Humanismus entkernen und seinem Ursprung wieder näher treten. Der Gestaltungswüle der Bonner Schule soll künstlerische Form gewinnen. Wilamowitz wird Mommsens formlose Großforschung weiterführen und ins Geisteswissenschaftliche steigern399. Die Verwandlung der Philologie zur ,harten Wissenschaft' hatte zunächst in das Dilemma geführt, dass sie nicht mehr den Bedürfnissen der Schule entsprach (Paulsen, 31919ff, Bd.2:454). Die Studenten subtilster konjekturalkritischer Details wurden dem Bildungsanspruch des Gymnasiums, der Bildungsinstitution schlechthin, scheinbar kaum gerecht. Die Schuld daran wurde als dem einflussreichsten Wissenschafder dieser Richtung wesentlich Ritsehl angelastet. Er war ein Star des zeitgenössischen Wissenschaftsbetriebs wie wenige andere und musste schon allein deshalb Widerspruch provozieren. Freilich gaben letztlich handfeste ideologische Differenzen den Ausschlag. Der berühmte Bonner Philologenstreit, der zu Ritschis Rückzug aus Bonn, ja aus dem gesamten preußischen Unterrichtswesen führte, hatte zwar, wie oben (Kap. 2.3.) dargestellt, persönliche Unstimmigkeiten zum Anlass, wurde aber von politischer Seite forciert. Ritsehl als Fortführer und Bewahrer der Bonner Schule wurde gerade von den durch den Krieg um Schleswig beflügelten nationalistischen wie preußentreuen Kreisen mit Argwohn betrachtet. Die grundlegenden politischen Auffassungen waren so gegensätzlich nicht; letztlich handelte es sich um den Konflikt zwischen einem Altliberalen, der noch das Ideal wissenschaftlichen Geistes gegen jene neue nationalliberale Professorenschaft vertrat, welche die Wissenschaft zum Instrument politischer Bildung umformen wollte. Klassische Philologen argumentierten aus der Natur der Sache heraus für die republikanische Staatsform und galten christlichen Kreisen als mindestens suspekt. Zwar war Ritsehl selbst gemäßigt nationalliberal, fühlte sich aber wissenschaftspolitisch dem humboldtschen Bildungsauftrag verpflichtet. Sein Universalismus in der Folge Wolfs und Goethes brachte ihm eine reaktionäre Gegnerschaft ein, die in der Philologie die Gefahr einer „heidnisch-republikanischen
399
Vgl. Lloyd-Jones (1976) mit einer für den älteren Forschungsstand repräsentativen Arbeit. Mit unnachahmlicher britischer Saloppheit bringt er sein Ergebnis auf den Punkt: „Wilamowitz asked, ,What can we do for philology?'; Nietzsche preferred to ask, ,What can philology do for us?"' (13). Freilich ist dies nicht ganz korrekt. Nietzsche wollte durchaus etwas für die Philologie tun. Erst wenn sie wieder wirkliche Relevanz „for us" erkennen lässt, so könnte man sein Anliegen paraphrasieren, wird sie als Fach überleben.
5.3. Vom Philologenkrieg zur Philologie der Zukunft
277
Ansteckung" sah und darüber hinaus für das Universitätsstudium unmittelbare praktische Nutzanwendung forderte (Bezold, 1920:314ff). Gegen Ritsehl wirkte aus dem Hintergrund vor allem der bekannte Bonner Historiker Heinrich von Sybel, bei dem auch Nietzsche eine Vorlesung gehört hatte (dazu Hübinger, 1964). Sybel war ein typischer Vertreter jenes liberalen Bürgertums, das sich von Gegnern zu glühenden Anhängern Bismarcks gewandelt hatte400. In diesen Kreisen ging damit ein wachsender Widerstand gegen eine Universität einher, die sich selbst Zweck genug war und dem Ideal der reinen Erkenntnis anhing. Wissenschaft sollte sich im Dienste der nationalen Sache politischem Einfluss öffnen und „wertbezogen" agieren (nach Hübinger, 1964:179). Ritsehl, der, ganz im alten Stil, die Studenten um jeden Preis an der Forschung zu beteiligen suchte, und sei es im kleinsten Radius, war Sybel ein Dorn im Auge. Ritsehl forderte Selbständigkeit und Enthusiasmus, Sybel Tatsachenwissen; den Schülern Ritschis warf er immer wieder sachliche Unkenntnis vor. Sybel hatte sich aus ähnlichen Gründen bereits von seinem Lehrer Ranke entfremdet, der seine politische Entwicklung ebenfalls nicht mittrug und wie Ritsehl die historisch-kritische Methode frei von fragwürdigem pädagogischem Einfluss halten wollte. Mommsen, der in seiner unvollendeten Kömischen Geschichte (1854-1885) liberale Gesinnung mit der Bewunderung Cäsars zu verbinden wusste, war schon eher nach seinem Geschmack (auch wenn Mommsen ganz und gar kein Anhänger Bismarcks war!). Während Ritsehl langsam die Mittel ausgingen, wurde Sybel von öffentlicher Hand entsprechend stark finanziell gefördert401. Sybel, der Jahn gegen Ritsehl unterstützt hatte, stellte sich nach dessen Abgang konsequenterweise dann auch gegen Jahn selbst, da dieser sich ja zur Tradition der Bonner Schule bekannte. Im heftigen Streit um die Ritschl-Nachfolge konnte er sich aber schließlich nicht durchsetzen; Ritschis Schüler Usener, Bernays und Bücheler verhalfen der Bonner Schule noch einmal zu neuer Blüte402. Doch immerhin musste sich Ritsehl in 400
401
402
„Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden w i l l - , mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlichromantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke [sie] und ihre dick verbundenen Köpfe an —), und wie sie Alle heissen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens." (JGB 8.251, 5:192) Erwin Rohde spricht in einem Brief aus jener Zeit vom „Junkerministerium" (nach Crusius, 1902:10). Quellen und Dokumente bei Hübinger (1964). Während Jahn die Ritschl-Schüler Bücheler und Usener als Nachfolger favorisierte, wurde von der Gegenseite, die im Berufungsausschuss die Mehrheit stellte, Heimsoeth bevorzugt, und zwar ausdrücklich, weil er eine von Ritsehl abweichende Richtung der breiten Exegese vertrat und nicht für das konzentrierte kritische Studium stand, das den Schülern zu wenig Wissen vermittelte. Als Kompromiss erhielt Usener den Zuschlag; für Heimsoeth wurde ein drittes Ordinariat eröffnet; Bernays übernahm Ritschis Bibliotheksamt. Bücheler wurde nach Jahns Tod schon im Jahr 1869 dessen Nachfolger, obwohl Sybel auch dies verhindern wollte. Die Auseinandersetzung um Jahns Nachfolge war damit die letzte
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
seiner Paranoia gegenüber den „Berliner Kreisen", d.h. Mommsen, bestärkt fühlen. Mommsen versuchte sogar, Ritschis begabtesten Schüler, Jacob Bernays, gegen ihn einzunehmen, was ihm freilich nicht gelang (Wickert, 1967). Man muss diesen Hintergrund kennen, um die Verwicklungen um die Tragödienschrift und die Genese von Nietzsches Ansichten über die Philologie zu verstehen. Der Krise des Faches ist Nietzsche sich früh bewusst. Er glaubt, dass es nur durch eine Anbindung an die zeitgenössische Philosophie und Ästhetik — Schopenhauer und Wagner - zu retten sei. Nietzsche will die Wissenschaft nicht aufgeben, sondern mit avantgardistischer Kunst und revolutionärem Denken neu verschmelzen. Der musiktreibende Sokrates aus der Geburt der Tragödie ist die entsprechende „Culturform" zu diesem Programm (GT 17, 1:111). Aus sich selbst heraus, glaubt Nietzsche zunächst, wird die Wissenschaft die Erneuerung nicht vermögen: „Aus den Reden über Philologie, wenn sie von Philologen stammen, erfährt man nichts, es ist die reinste Schwätzerei z.B. Jahn (,Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland'). Gar kein Gefühl, was zu vertheidigen, was zu schützen ist: so reden Leute, die noch gar nicht darüber nachgedacht haben, daß man sie angreifen könnte." (IV 5[125]) Man darf dies nicht auf die von Jahn in dieser Arbeit verteidigte Methodik beziehen, sondern auf dessen mangelndes Bewusstsein vom schwindenden Einfluss der antiken Überlieferung, nachdem der aufgeweichte Klassizismus keinen Nachfolger gefunden hatte403. In Nietzsches Entyklopaedie der klassischen Philologie, die ja in methodischer Hinsicht herkömmlich ist und der Wolf-Hermann-Ritschl-Tradition folgt, ist vor allem die Anleitung zur Annäherung an das Altertum ungewöhnlich. Zunächst solle man innerlich empfänglich werden, einen gewissen Enthusiasmus für das Fach entwickeln als Voraussetzung, um sich selbst vom Altertum erziehen zu lassen - und dadurch andere erziehen zu können. Erst als letzte Stufe kommt die gelehrte Schulung hinzu. Am wichtigsten und schwersten sei das
403
Phase des Philologenkriegs und der letzte Triumph der Ritschl-Schule. Fakultät, sogar Freunde und Mitstreiters Sybels mussten anerkennen, dass der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit gegen Ritsehl falsch und seine Wirkung auf das Gymnasium im Gegenteil segensreich gewesen sei: „Die formale humanistische Schulung blieb ihr Panier, pragmatische oder gar nationalpolitische Tendenzen gewannen keinen Boden." (Hübinger, 1964:195). Sybel wendet sich deshalb verstärkt wieder dem politischen Wirken außerhalb der Hochschule zu. Der Aufsatz, auf den Nietzsche sich bezieht, ist abgedruckt in Jahn (1868:1-50). Es handelt sich um eine schöne Darstellung der Grundpositionen der Bonner Schule. Auch für Jahn beginnt die deutsche Philologie nach langer Vorgeschichte erst richtig mit Wolf, der seinem Vorgänger und Lehrer Heyne „überlegen durch sichere Methode in Sprachforschung und Kritik" sowie durch „schöpferischen Geist, eindringenden Scharfsinn, organisatorische Combinationsgabe und lichtvolle Darstellung" gewesen sei (S. 31). Wolf habe in seiner vorurteilslosen Betrachtung die bedingungslose Bewunderung des Altertums aufgegeben. Auch Lachmann wird als hervorragende Autorität zitiert. Gleichzeitig habe Niebuhr in der Geschichtswissenschaft auf geniale Weise Sage und geschichtliche Überlieferung getrennt und mit der „Kritik der Quellen wie der Thatsachen eine neue Methode begründet" (35). Kritik und Methode sowie möglichst vollständige Erfassung des Altertums im Sinne Boeckhs schließen sich nicht aus: „Dahin aber fuhrt allein der Weg der historischen Forschung auf Grund kritischer Prüfung der Zeugnisse, deren Bedingung die Sicherheit des sprachlichen Verständnisses ist." (32).
5.3. Vom Philologenkrieg zur Philologie der Zukunft
279
zuerst Genannte, sich „liebevoll hineinzuleben u. die Differenz zu empfinden", erst dann könne man auch erzogen werden, denn nur die Liebe erziehe und mache produktiv. Nietzsche empfiehlt, eine verwegene Forderung für Philologen, sogar eigene Kunstbetätigung. Am förderlichsten aber sei es, ein moderner Mensch zu werden. Man müsse sich mit Winckelmann, Lessing, Goethe, Schiller vertraut machen und von ihnen lernen, was Altertum bedeute. Erst wenn dies fest und unverrückbar stehe, folge die methodische Gelehrsamkeit (KGW II.3:368f)404. In gewisser Weise erinnert dies an Bernhardys Argumentation. Das Problem der Philologie, so erkannte dieser schon 1832, bestehe darin, dass „Stoff und Methode dem Alterthum angehören, Subjektivität aber und Abzweckung des Ganzen mehr oder minder der heutigen Wissenschaft und Bildung" (1832:27). Während das antike Leben abgeschlossen sei, entwickle sich das moderne Leben immer weiter. Daraus folgt natürlich, dass die Enzyklopädie, d.h. das Fach, kein starres System bleiben kann, sondern die modernen Entwicklungen mitmachen muss. Mit anderen Worten: auch die Philologie muss sich verändern, wenn ihr Gegenstand relevant bleiben soll. Das ist der Hintergrund zu Nietzsches angesichts der antiphilosophischen Traditionen der Bonner Schule geradezu revolutionären Forderung an künftige Fachgelehrte, zunächst ein Jahr Philosophie zu studieren, um sich eine Grundlage zu erarbeiten, die sie davor bewahrt, geistlose Fabrikarbeiter zu werden. Gerade der Philologe müsse an Philosophie festhalten, wenn er die Klassizität, das heißt ja nichts anderes als die Vorbildhaftigkeit des Altertums, noch immer verteidigen wolle, denn dabei handele es sich ja um ein Urteil, das es zu begründen und damit philosophisch zu verteidigen gilt (KGW II.3:369ff)4C5. Philologie so schließt Nietzsche seine Anleitung zum Philologiestudium, solle Mittel sein, „sich und der heranwachsenden Jugend das Dasein zu verklären." (437) Nicht nur der enge Zusammenhang zur berühmten ästhetischen Rechtfertigung des Daseins durch die Kunst in der Tragödienschrift (GT 5,1:47), sondern auch zum Tenor der Basler Antrittsvorlesung von 1869, Homer und die klassische Philologie (KGW 11.1:247-269) liegt hier auf der Hand. Die Philologie ist 404
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In Aufzeichnungen zur Enzyklopädie von Herbst 1867 bis Frühjahr 1868 (BAW 4:3-8) notiert sich Nietzsche einen kurzen Abriss der verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Philologie: z.B. als Polyhistorie und Polymathie, als Altertumskunde bei Wolf, als gelehrtes Studium der alten Literaturen bei Hermann, als Ästhetik bei Lessing und Winckelmann, als Pflege des Altertums wie bei Jahn, als reine Kritik in der holländischen Schule, zu der Hermann zurückkehre, nun aber Hermeneutik gleichberechtigt neben Kritik stelle. Das heißt, die Klassizität des Altertums selbst ist bereits philosophische Voraussetzung und Wertsetzung der ,klassischen' Philologie. Wodurch und durch wen wird sie begründet? Philologen, ausgezeichnet vor allem durch ihre Gelehrsamkeit, schöpfen aus Büchern. An ihre Grenzen stoßen sie, wenn sie selbst wertschöpferisch tätig werden sollen. Und auch das historische Verstehen, auf welches Philologie letztlich gerichtet ist, ist ja „nichts Andres als das Begreifen bestimmter Thatsachen unter philosoph. Voraussetzungen. [...] Denn eine Thatsache ist etwas Unendliches, ein völlig Reproduzirbares. Es giebt nur Grade des histor. Verständnisses." (KGW II.3:344f). Philosophen dagegen schöpfen aus sich selber (342) — und geben deshalb den Philologen die Richtung vor.
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
hier eine „Götterbotin", der man Dank schulde (268), weil sie der Gegenwart immer wieder aufs Neue den unersetzbaren Zauber der Antike vermittle. Nietzsche spielt nicht etwa autonome Ästhetik gegen leblose Wissenschaft oder einfühlendes Verstehen gegen richtendes Urteil aus. Gerade im Basler Vortrag kommt die Ambivalenz der philologischen Methodik zwischen Hermeneutik und Kritik, zwischen Philosophie und Historie deutlich zum Ausdruck406. Die zwei Schulen bzw. Seiten der Philologie bestehen darin, entweder „mit dem Auge des Historikers das Gewordene" zu begreifen (252), oder aber „in der Art des Naturforschers die sprachlichen Formen der alterthümlichen Meisterwerke [zu] rubrizieren, vergleichen, allenfalls auf einige morphologische Gesetze zurück[zu]bringen."407 Der Grundwiderspruch der Philologie ergebe sich dabei aus den gewissermaßen idealisierenden Tendenzen der einen, rekonstruierenden Seite und der anderen, kritischen, scheinbar den „Umsturz der Heiligthümer" betreibenden. Anhand des Umgangs mit Homer verteidigt Nietzsche in dieser Rede die historisch-kritische Philologie und nimmt sogar ausdrücklich den Einsatz von „Blut und Schweiss und [...] mühsamste[r] Gedankenarbeit (267) gegen ungerechtfertigte Vorwürfe in Schutz. Der geschilderte Zwiespalt sei nämlich von jedem redlichen Philologen verinnerlicht und für den einzelnen nicht überwindbar. Das Gesamtprojekt der Philologie sei am Ende „nichts als die endliche Vollendung ihres eigensten Wesens, völliges Verwachsen und Einswerden der anfänglich feindseligen und nur gewaltsam zusammengebrachten Grundtriebe." (252) Philologie, so ist Nietzsche an dieser Stelle zu lesen, ist im Idealfall immer ein doppeltes Verfahren: sie ist konstruktiv und destruktiv zugleich, das eine ohne das andere sei abzulehnen. Kritik unter Verzicht auf Interpretation ist, soweit dies überhaupt möglich ist, zwar die eigentliche wissenschaftliche Leistung, sie wird aber zur von Nietzsche vielerorts beklagten Kärrnerarbeit. Auslegung ohne Kritik dagegen ist unredlich. Die Philologie, die beides vereint, wird bei Nietzsche schließlich — durchaus im frühromantischen Sinne — zur wahren Philosophie: „philosophia facta est quae philologia fuit" (268). Diese Umkehrung einer Wendung Senecas408 bedeutet für Nietzsche nämlich nicht nur, dass alle philolo406 £ ) e r Vortrag ist zugleich eine unübertroffene Einführung in das Dilemma der Philologie als Universitätsfach. Sie sei gleichermaßen Geschichtswissenschaft, Naturwissenschaft (insofern sie den „Sprachinstinkt" zu ergründen versucht!) und Ästhetik, die nur unter pädagogischen Gesichtspunkten vereint wurden, aber in Wahrheit in mannigfache Kämpfe verstrickt und jedenfalls noch lange nicht verschmolzen sind (249ff). 407
Eine Epoche später benutzt Birt, ohne auch nur an Nietzsche zu denken, dasselbe Bild, wenn er Hermeneutik und Kritik als „gleichsam die beiden Augen" des Philologen (1913:1) bezeichnet. Es handelt sich offensichtlich um einen Topos, der erst mit dem Aufstieg der Hermeneutik zum exklusiven Synonym für die Auslegung verschwand. Die Auslegung wurde auf einem Auge blind.
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Im 108. Brief an Lucilius hatte Seneca formuliert: „Itaque quae philosophia fuit, facta philologia est" — „So ist das, was Philosophie war, zur Philologie geworden." (Seneca 650/651) Seneca kritisiert die Praxis des Unterrichts angehender Philosophen, die zwar noch im Argumentieren unterrichtet werden, aber nicht mehr im eigentlichen Ziel der Lebensführung. Philosophie ist also
5.3. Vom Philologenkrieg zur Philologie der Zukunft
281
gische Tätigkeit von Philosophie und Wertsetzung auszugehen habe. Sie beschreibt mit anderen Worten kaum allein die Unterordnung der Philologie unter die Philosophie, sondern genauso eine neue erhöhte Rolle der Philologie. Mit ihrer Hilfe lässt sich jene Philosophie in die Schranken verweisen, welche sich nicht auf ihre Erkenntnisse und ihre Methodik stützt409. Auf philosophischer Grundlage, aber unter Umgehung der Metaphysik wird das „wissenschaftlichkünstlerische" Amalgam aus künstlerischer Aneignung der Antike und harter Gelehrsamkeit die Kluft zwischen idealem (philosophischem) und realem (philologischem) Altertum überwinden (253). Kunst, die sich selbst in kritischer Zucht hält - das gehört genauso untrennbar zu Nietzsches Vorstellung von .Zukunftsphilologie' wie es auf die oben ausführlich behandelten späteren Gedankenwege im Umfeld des Perspektivismus vorausweist. Nietzsches Reformvorstoß läuft also darauf hinaus, die methodischen Errungenschaften der Tradition von Wolf bis Ritsehl wieder mit dem Geist und Gefühl zu verbinden, welche die Philologie überhaupt erst hervorgebracht hatten. Die Philologie sollte, ohne die kritische Schulung aufzugeben, das ästhetische Urteil nicht scheuen. Durch Rückgriff auf das synthetische Modell F.A.Wolfs - seinen „großen Vorgänger" nennt ihn Nietzsche410 - kann das Erbe der Antike auf solider wissenschaftlicher Grundlage wieder ernst genommen werden. Trotz der Revolte gegen ein Griechenbild von edler Einfalt und stiller Größe greift Nietzsche nicht einfach über den Klassizismus hinaus, sondern versucht „durch Umdeutung eine Zukunft über den Niedergang des klassischen Humanismus hinaus zu sichern" (Mattenklott, 1988-.741)411. Der Widerspruch zwischen Klassizismus
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zur akademischen Disziplin abgesunken, statt Anleitung zur Entwicklung der ganzen Persönlichkeit zu sein. Philologie und die Philosophie stehen sich also keineswegs, wie Heinz Wismann (1973) meint, wie in einem tragischen Dialog gegenüber. Auch seiner etwas ratlosen Schlussfolgerung, dass Philologie und Philosophie bei Nietzsche in einer „alternance des pulsions" auftreten, kann ich, wie meine Ausführungen zeigen, nicht folgen. Bei Wolf bezeichnete die Altertumswissenschaft ja „den Inbegriff der Kenntnisse und Nachrichten [...] die uns mit den Handlungen und Schicksalen, mit dem politischen, gelehrten und häuslichen Zustande der Griechen und Römer, mit ihrer Cultur, ihren Sprachen, Künsten und Wissenschaften, Sitten, Religionen, National-Charakteren und Denkarten bekannt machen, dergestalt dass wir geschickt werden, die von ihnen auf uns gekommenen Werke gründlich zu verstehen und mit Einsicht in ihren Inhalt und Geist, mit Vergegenwärtigung des alterthümlichen Lebens und der Vergleichungdes spätem und des heutigen, gemessen" (Wolf/Buttmann, 1807:30; Kursivierung von mir). Die breite synthetische historische Darstellung ist kein Selbstzweck. Nietzsche bezeichnet Wolf als seinen Vorgänger in einem interessanten Kontext: „Wenn Friedrich August Wolf die Notwendigkeit der S k l a v e n im Interesse einer Kultur behauptet hat, so ist dies eine der kräftigen Erkenntnisse meines großen Vorgängers, zu deren Erfassung die Anderen zu weichlich sind." (ca. 1870/1871, vgl. III 7[79]). Die Quelle, im KSAKommentar noch nicht erschlossen, ist Wolf (1807:19ff). Der Gedanke der Abhängigkeit der antiken Kulturen von der Sklaverei ist bei Nietzsche sehr wichtig und beweist einmal die Prägung durch Wolf, hier sogar in inhaltlicher Hinsicht. Mit dem Begriff des Klasshismus sei hier nicht mehr der Nachahmungsklassizismus Winckelmanns gemeint, sondern eine Grundhaltung gegenüber dem Wert der griechischen Kultur und ihrer Erzeugnisse, die das schöpferische Weiterführen ihres Erbes einschließt — so wie schon bei
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
und Historismus, der bei Wolf, letztlich schon bei Winckelmann angelegt ist, wird hier wie dort durch eine hierarchische Symbiose gelöst: der Historismus hat sich der Vorrangstellung des klassischen Altertums unterzuordnen. Die antiken Texte bzw. Denkmäler sind nicht bloße kulturhistorische Dokumente, sondern haben klassischen Rang. Sie sind potentiell lebensändernd und lebensbestimmend für den, der sich auf sie einlässt. Durch diese Art von unzeitgemäßer Philologie, so Nietzsche, finde man endlich wieder zur wahren Bildung zurück, verstanden als Prozess der ewigen Suche und Unzufriedenheit mit dem Erreichten, die sich immer neu an den selbstdefinierten höchsten Maßstäben misst. Die historischkritische Methode der altertumswissenschaftlich ausgerichteten Philologie leidet nach Nietzsche an Selbstüberhebung, da sie vergaß, dass jede historische Arbeit immer im Dienst unhistorischer Macht und unhistorischen Machtinteresses steht und aus diesem Grunde als,reine' Wissenschaft nicht möglich ist (HL 1, 1:257). In diesem Kontext steht die Tragödienschrift, stehen die XJn^eitgemässen (vor allem die beiden ersten) und die Basler Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Es sind Versuche eines jungen Philologen, eine Zukunft für sein Fach zu finden, die er selbst noch vertreten kann. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das heben ist zwar eine Auseinandersetzung mit dem Historismus in der Altertumswissenschaft, der die Uberwindung des Klassizismus mit dem Verlust von jeglichem ebenbürtigen Enthusiasmus erkauft hat412. Fatalerweise wird diese Abhandlung aber nach wie vor als Angriff auf das historische Bewusstsein schlechthin missverstanden, obwohl Nietzsche in der Vorrede — als Philologe sprechend — sein Anliegen unmissverständlich deutlich macht413:
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Nietzsches Abgott der Jugendzeit, Hölderlin (anregende Diskussionen zu diesem Thema in den beiden Bänden von Szondi, 1974). Entsprechende Reflexionen ziehen sich durch die philologisch-philosophischen Reflexionen schon seit der Studienzeit. Nietzsche beklagt, dass der gleichmachende wissenschaftliche Ansatz der rein historischen Forschung, die sich für die Texte nur noch als Dokumente interessiert, in einer „Geschichte der Masse" ende, die herausragenden Individuen nicht mehr gebührenden Platz einräumt (vgl. I.4.:362ff). „Jedes wahre Kunstwerk", so erwägt Nietzsche sogar, „muß ohne historische Voraussetz, genießbar sein. Dagegen giebt es Schriften, deren ganzer Werth in ihrer historischen Stellung liegt. Die Literaturgeschichte betrachtet sowohl die Kunstwerke als die Machwerke, sofern sie die Zeit repräsentiren. Sie steht somit im Bunde mit der Pfuscherei, oder anerkennt wenigstens auch das Geringe. Die aesthet. Würdigung verlängert nur wenigen Schriften das Leben, die litterarhistorische allen. Darin ist sie wie die Naturgeschichte: erst in zweiter Linie interessirt sie, ob ein Ding schön ist, in erster, ob es u. welche Gattung es darstellt." (360). So sind sich die Beiträge in Borchmeyer (Hrsg., 1996) weitgehend einig. Zwar benutzen sie den Text der zweiten VJn^eitgemässen in erster Linie, um ihre jeweils verschiedenen Wissenschaften zu beleuchten; der Text selbst steht also nicht im Mittelpunkt. Aber dass Nietzsche in der Historismuskritik vor allem den Eklektizismus der Gründerzeit treffen möchte, scheint unbezweifelbar festzustehen. Dass Nietzsche historische Studien nie aufgibt, wird völlig ignoriert. Dass die zweite Un^eitgemässe sich tatsächlich v.a auf die zeitgenössische Philologie bezieht, bestätigt auch Thouard (2000:160), der mit Recht daraufhinweist, dass F.A. Wolf noch viel eher als Vater des Historismus galt als etwa Herder. Im übrigen führt der Begriff des Historismusstreits in die Irre, denn eigentlich dreht sich der Streit um die andere Seite der Medaille und sollte deshalb besser Klassizismusstreit heißen. Vgl. auch Raulet (2000).
5.3. Vom Philologenkrieg zur Philologie der Zukunft
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Auch soll zu meiner Entlastung nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe, und dass ich nur, sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemässen Erfahrungen komme. So viel muss ich mir aber selbst von Berufs wegen als klassischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss - das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit - zu wirken. (HL Vorrede, l:246f)
Die ausschließlich historische Bildung, die Nietzsche in seiner Schrift und andernorts angreift, bezieht sich eher auf das der Bonner Schule konkurrierende Berliner Modell Mommsens. Wenn der Gebildete nur noch historisch gebildet ist, bleiben ihm am Ende nur jene Trivialitäten zur Entdeckung übrig, die es naturgemäß zu allen Zeiten gegeben hat und immer geben wird. Der Philister, der sich „vor dem Erhabenen" in die geschichtliche Gemütlichkeit rettet, bleibe in seinem Drang nach Erlösung von der eigenen Nichtigkeit letztlich unbefriedigt und wird „nachher hungern wie zuvor" (CV 4, l:780f) 414 . Freilich ist auch die Spezialisierung in Ritschis Umfeld (nicht bei Ritsehl selbst, sondern bei vielen Autoren des „Rheinischen Museums") eine Abirrung „von der rechten Bildung", die Flucht in die Routine des mikroskopischen Details: Es sind Jahrhunderte vergangen, in denen es sich von selbst verstand, dass man unter einem Gebildeten den Gelehrten und nur den Gelehrten begriff; von den Erfahrungen unserer Zeit aus würde man sich schwerlich zu einer so naiven Gleichstellung veranlasst fühlen. Denn jetzt ist die Ausbeutung eines Menschen zu Gunsten der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: wer fragt sich noch, was eine Wissenschaft werth sein mag, die so vampyrartig ihre Geschöpfe verbraucht? Die Arbeitsteilung in der Wissenschaft strebt praktisch nach dem gleichen Ziele, nach dem hier und da die Religionen mit Bewußtsein streben: nach einer Verringerung der Bildung, ja nach einer Vernichtung derselben. (BA I, 1:670)
Indirekt gibt Nietzsche damit jenen Recht, die Ritschis Art der Philologie als unzureichend zumindest für den gymnasialen Schulunterricht ansahen, in dessen Zentrum die klassischen Sprachen standen. Diese rein wissenschaftlichen Philologen könne man unmöglich als Lehrer auf die Jugend loslassen. Wer selbst keine Bildung habe, weil er viel zu spezialisiert sei, könne sie unmöglich vermitteln415. 414
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Die Behaglichen wandelten beizeiten alle Wissenschaften, von denen Störungen der Behaglichkeit zu erwarten waren, namentlich Philosophie und Philologie in historische Disziplinen um: „Durch das historische Bewusstsein retteten sie sich vor dem Enthusiasmus — denn nicht mehr diesen sollte die Geschichte erzeugen, wie doch Goethe vermeinen durfte: sondern gerade die Abstumpfung ist jetzt das Ziel dieser unphilosophischen Bewunderer des nil admirari, wenn sie alles historisch zu begreifen suchen." (DS 2, 1:169) „So mögen die Gymnasien auch jetzt noch Pflanzstätten der Gelehrsamkeit sein, aber nicht der Gelehrsamkeit, welche gleichsam nur die natürliche und unabsichtliche Nebenwirkung einer auf die edelsten Ziele gerichteten Bildung ist, sondern vielmehr jener, welche mit der hypertrophischen Anschwellung eines ungesunden Leibes zu vergleichen wäre." (BA III, 1:705)
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Möglicherweise könne man den griechischen Geist erst spät unterrichten, dann nämlich, wenn die Jugend von sich aus aufnahmebereit ist und selbständige ästhetische Urteile in Andacht vor dem Aufgenommenen fällen kann (z.B. BA II, 1:687). Fährt die Philologie fort wie bisher, wird sie sich bald selbst entbehrlich machen, da sie ohne das ursprüngliche Motiv ihrer Bedeutung wenig Uberlebenschancen hat. Mit ihr aber fällt die Bedeutung des klassischen Altertums für die Bildung und das Leben insgesamt — für Nietzsche angesichts der sich christlich gebärdenden nationalistischen Tendenzen des Zeitalters eine Schreckensvision: „Die Philologen gehen an den Griechen zu Grunde — das wäre etwa zu verschmerzen — aber das Alterthum zerbricht durch die Philologen selbst in Stücke!" (BA III, 1:703). Nietzsches Mitstreiter Erwin Rohde schreibt in einem privaten Aphorismus ganz ähnlich: Was es mit der Philologie, seit sie sich wirklichen Culturabsichten stolz entfremdet hat, eigentlich noch auf sich habe, zeigt wohl nichts deutlicher, als der Umstand, dass für viele Philologen, ja für eine Anzahl der gescheutesten darunter (z.B. Bendey, Madvig, Cobet etc.) die Schriften der Alten gar kein Interesse haben würden, wenn sie zufällig ganz ohne Fehler überliefert wären; eigentlich also interessiren diese Leute die Versehen und Fälschungen der Abschreiber (und ihr eigner, an deren Aufdeckung arbeitender Scharfsinn), aber nicht die Alten selbst, (nach Crusius, 1902:243)
Nietzsches und Rohdes Kassandraruf hat sich als historisch hellsichtig erwiesen. Auch das Aufblühen der Sprachwissenschaft als Konsequenz aus dem Niedergang des klassizistischen Enthusiasmus hat Nietzsche richtig vorausgesehen. In dem Moment, da die Philologen keine gleichsam persönliche Beziehung zum Altertum mehr haben, gilt es ihnen selbst als überlebt. Um die berufliche Existenz nicht aufgeben zu müssen, stürzen sie sich auf Gebiete, in denen es noch Neues zu entdecken gibt: hier überrascht den Herankommenden nicht jene abweisende majestätische Stimme, die aus der Trümmerwelt des Alterthums ihm entgegenklingt: hier nimmt man Jeden noch mit offnen Armen auf, und auch der, welcher es vor Sophokles und Aristophanes niemals zu einem ungewöhnlichen Eindruck, zu einem achtbaren Gedanken brachte, wird etwa mit Erfolg an einen etymologischen Webstuhl gestellt oder zum Sammeln endegener Dialektreste aufgefordert - und unter Verknüpfen und Trennen, Sammeln und Zerstreuen, Hin- und Herlaufen und Büchernachschlagen vergeht ihm der Tag. (BA III, l:703f)
Diese Argumentation steht im Zusammenhang mit der bekannten Kritik am Klassikerkult als bürgerlicher Bequemlichkeit, der durch die Historisierung eben die Klassiker selbst und ihre Imperative entschärft hatte. Das klassische Altertum taugt schlecht als Erziehungsmittel, weil dessen wahre Erkenntnis zum Kampf gegen die Zeitgenossen und somit gegen jene Staatsform führen müsste, welche sich just dieses Erziehungsmittel zur eigenen Affirmation gewählt hatte. Das „Epigonen-Zeitalter" ist eben wie die alexandrinische Epoche eine praktische Erfindung, um sich selbst Ruhe zu garantieren: Geschichte war die beste Rettung
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vor dem Enthusiasmus eigener Taten (DS 2, 1:168). Der Gelehrte gilt diesen Kulturen bald als höchste Instanz (DS 8, 1:205), die „ S e l b s t s u c h t der W i s s e n s c h a f t " lässt einen Betrieb entstehen, der sich nur noch aus Eigennutz am Leben erhält (SE 6, l:393f). Nietzsches programmatischer Erneuerungsansatz ist ehrgeizig und schießt angesichts der Wissenschaftsorganisation über alle realistischen Ziele hinaus. Es lässt sich schwerlich leugnen, dass Nietzsche in seiner Leidenschaft von einem geradezu gründerzeitlichen Überschwang geprägt ist: „Es wird allmählich Zeit nicht mehr über den Buchstaben zu hocken. Das Bestreben der nächsten Philologengeneration muß endlich sein abzuschließen u. das große Vermächtniß der Vergangenheit anzutreten. Auch diese Wissenschaft muß dem Fortschritt dienen." Es sind Parolen, die Nietzsche in dieser Form naturgemäß nicht an die Öffentlichkeit bringt: „Das Wiederkäuen muß aufhören. [...] Man lese Shakespeare mehr als über ihn. [...] Man muß neue Fragen stellen können, wenn man neue Antworten haben will." Schon hier handelt es sich um eine Kritik aus dem Geist eines neuen ,Klassizismus', der ein bloßes „Wissen von vielen Dingen" als zufällig und banal energisch von sich weist (I.4:397ff) Schon weit vor der zweiten Un^eitgemässen wird das „Geschichtsunwesen" (ebd.) aufs Korn genommen. Es lohnt sich deshalb, doch noch einmal genauer hinzuschauen. Horst Walter Blanke (1991) hat durch sinnvolle Scheidung systematischer Gebrauchsweisen dem Historismusbegriff einige Unschärfen genommen. Ist damit lediglich das neuzeitliche, enttheologisierte Entwicklungsdenken gemeint, die geschichtliche Dimension der conditio humana, so wäre es absurd, Nietzsche als Kritiker anzuführen. Nietzsche war sich völlig bewusst, dass seine Zeit durch und durch historisch geworden war, dass eigentlich nur der historische Sinn die Zeitgenossen von Kant, Piaton, Leibniz trennt. Dorthin führt kein Weg zurück; die neue Wissenschaft des Darwinismus etwa sei lediglich eine Nachwirkung Hegels: „wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch." (VII 34[73])416. Es wäre zwar bequem, Nietzsche einfach mit einem zugleich antiklassischen, antihumanistischen wie antihistorischen Antikebild zu assoziieren. Aber auf nicht zu übersehende Weise idealisiert Nietzsche selbst nicht nur die Antike — „naivete, geniality, originality, spontaneaous creativity, instincts to arts, worship of beauty, illusion, simplicity, unity, healthy body-consciousness, elitism, self-cultivation and self-fashioning" sind positive Eigenschaften, die den Klassizismus letztlich in der Schaffung eines archaischen Mythos nur überbieten und punfizieren sollen (Porter, 2000b:54ff) - ; in der Tragödienschrift argumentiert Nietzsche in seiner Rekonstruktion des wahren anstelle des missverstandenen Griechentums schließlich in Wirklichkeit auch unverblümt historisch, ja historistisch417. Zur Kritik der zweiten Bedeutung 416 417
Siehe auch die Ausführungen zum Entwicklungsdenken bei Stegmaier (1992). Ein Beispiel von vielen: „Das Goethische Hellenenthum ist erstens historisch falsch, und sodann zu weich und unmännlich." (III 32[67]; Kursivierung von mir). In Nutzen und Nachtheil heißt es
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des Historismusbegriffs, der das verstehende Denken der Geisteswissenschaften seit dem frühen neun2ehnten Jahrhundert meint, fühlt Nietzsche sich ebenfalls nicht bemüßigt. Als neues Paradigma der sogenannten Geisteswissenschaften spielt es erst nach Nietzsches Zeit eine nennenswerte Rolle418. Die dritte von Blanke identifizierte Definition des Historismus, nämlich die reine Faktenhuberei, Stoff- und Tatsachenforschung schließt, selbst wenn man sich von ihr distanziert, keinesfalls historisches Interesse aus. Bereits Riedel (1978:113ff) argumentiert überzeugend gegen die noch immer häufig anzutreffende falsche Gleichsetzung bzw. postulierte innere Einheit von Historismus und Positivismus. Auch Schnädelbach (2000) hat mit Blick auf Nietzsche den Historismus weiter differenziert. Historizismus, als Glaube „an die normative Kraft historischer Fakten" (S. 170) etwa im Sinne Hegels sei ebenso wenig identisch damit wie die Phase des Positivismus in den Geschichts- und Geisteswissenschaften. Als historischer Relativismus einerseits und deutsche Variante der Aufklärung andererseits ist er aber eine sinnvolle Kategorie, die sich in Absetzung vom Naturalismus und Universalismus der englischen und französischen Aufklärung mit den Namen Humboldt, Herder, Ranke, Droysen, Dilthey u.a. verbinden lasse. Der Sinn der Historie wird der naiven Auffassung unveränderlicher Werte und konstanter Menschennatur entgegengesetzt. Er schafft ein historisches Bewusstsein, das um seine eigene Historizität weiß. In dieser Tradition — sie ist letztlich die Tradition des deutschen Bildungsdenkens — steht eben auch Nietzsche. Erst aus diesem Grund kann er ja, obgleich Schnädelbach nicht darauf hinweist, den Engländern mangelnden historischen Sinn, und das heißt mangelnde Einsicht in die Leistungen des Historismus vorwerfen. Positive oder negative Bewertung des Historismus kann sich bei Nietzsche jedenfalls kaum auf die Geschichte selbst, sondern vielmehr auf die Art und Weise der Ausübung historischer Betrachtung beziehen. Die Methode, deren geistlose Ausübung Nietzsche in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fiir das lieben anprangert, ist vor allem die mechanische Ausführung der text- und quellenkritischen Arbeit der Altertumswissenschaft, die vergessen hat, warum sie überhaupt damit begonnen hatte. Der antiquarischen Historie wirft er vor, dass durch sie aller, nicht seinem Wert nach unterschiedener „Urväter-Hausrath" von der Seele Be-
ja: „Wenn dagegen die Lehren vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier — lehren, die ich fiir wahr, aber fir tödlich halte — in der jetzt üblichen Belehrungs-Wut noch ein Menschenalter hindurch in das Volk geschleudert werden, so soll es Niemanden Wunder nehmen, wenn das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden, an Verknöcherung und Selbstsucht zugrunde geht[...]" (HL 9,1:319; Kursivierung von mir). 418
Blanke hat dabei das intuitive Verstehen als zentrale Methode des Historismus herausgearbeitet (1991:224), dem gegenüber andere Verfahren (etwa komparatistische, typologisierende oder generalisierende) bedeutungslos würden. Als eigenständige Erkenntnisweise emanzipiere es sich vom Erklären und begründet nicht zuletzt den Siegeszug der Hermeneutik. Bei Nietzsche ist beides noch verbunden!
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sitz ergreife, statt umgekehrt419. Besteht der historische Mensch auf seiner ironischen, bald in Zynismus umschlagenden Haltung, deren adäquater Ausdruck die Parodie (der Weltgeschichte) ist, bleibt er irgendwann im Tatsächlichen stehen, um am Ekel über seine eigene Mittelmäßigkeit zugrunde zu gehen. Die Verabsolutierung des Werdens verträgt sich schlecht mit der Auffassung, dessen Endstufe erreicht zu haben (vgl. den gesamten 9. Abschnitt von HL). Statt in sich selbst jene „plastische K r a f t " zu suchen, die Kraft also, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben"420, hält die Gesellschaft ein verhängnisvolles wissenschaftliches Ideal aufrecht: „fiat Veritas pereat vita" (HL 4, 1:272). Es lähmt der geschwächten Persönlichkeit alle Lebenskräfte und macht wahre Bildung als Verbindung von Inhalt und Form unmöglich. Wissenschaft wie Gesellschaft enden in der Fabrik: Nun betrachte man aber gar den historischen Studenten, den Erben einer allzu frühen, fast im Knabenalter schon sichtbar gewordenen Blasiertheit. Jetzt ist ihm die „Methode" zu eigener Arbeit, der rechte Griff und der vornehme Ton nach des Meisters Manier zu eigen geworden; ein ganz isolirtes Capitelchen der Vergangenheit ist seinem Scharfsinn und der erlernten Methode zum Opfer gefallen; er hat bereits produciert, ja mit stolzerem Worte, er hat „geschaffen", er ist nun Diener der Wahrheit durch die Tat und Herr im historischen Weltbereiche geworden. [...] Glaubt es mir: wenn die Menschen in der wissenschaftlichen Fabrikarbeiten und nutzbar werden sollen, bevor sie reif sind, so ist in kurzem die Wissenschaft ebenso ruiniert wie die allzuzeitig in dieser Fabrik verwendeten Sclaven. Ich bedaure, dass man schon nöthig hat, sich des sprachlichen Jargons der Sclavenhalter und Arbeitgeber zur Bezeichnung solcher Verhältnisse zu bedienen, die an sich frei von Utilitäten, enthoben der Lebensnoth gedacht werden sollten: aber unwillkürlich drängen sich die Worte „Fabrik, Arbeitsmarkt, Angebot, Nutzbarmachung" - und wie all die Hülfszeitwörter des Egoismus lauten — auf die Lippen, wenn man die jüngste Generation der Gelehrten schildern will. Die gediegene Mittelmässigkeit wird immer mittelmässiger, die Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer. [...] Die Kärrner haben unter sich einen Arbeitsvertrag gemacht und das Genie als überflüssig decretiert — dadurch, dass jeder Kärrner zum Genie umgestempelt wird: wahrscheinlich wird es eine spätere Zeit ihren Bauten ansehen, daß sie zusammengekarrt, nicht zusammengebaut sind. (HL 7, l:300f)
Der „Meister", auf den Nietzsche anspielt, ist natürlich Friedrich Ritsehl: nicht er selbst, sondern seine gedankenlosen Adepten — Nietzsches Konkurrenten in seiner Gunst — haben sich für den Niedergang zu verantworten. Die Verbindung 419
420
HL 3, 1:265. Der „Urväter-Hausrath" erinnert an die Abkehr von der Philologie im bereits zitierten Brief an Rohde vom 16. Januar 1869. In Otto Jahns Archäologie-Kolleg, von dem eine Nachschrift Nietzsches erhalten ist, werden die antiquaria als Beschäftigung mit Kunst und antiquarischen Kenntnissen allgemein definiert, d.h. als „Orientierung in den Kunstwerken" und „Einleitung zur Kunstgeschichte" (GSA 71/42 Blatt 1), das vom ästhetischen Rang des Überlieferten zunächst absieht. HL 1, 1:251. Der Begriff der plastischen Kraft stammt wohl von Burckhardt: vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner in Borchmeyer (Hrsg., 1996:56). Plastik und plastisch gehörten freilich zu den Lieblingsvokabeln des deutschen Philhellenismus (Cancik, 1995:135).
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der ansonsten vorbildlichen textkritischen Technik mit dem alles nivellierenden historischen Geist im Sinne Mommsens bringt ein anmaßendes Geschlecht hervor, das gar nicht mehr merkt, in welchem Ausmaß es bereits der Logik der industriellen Produktionsweise gehorcht. Nietzsche weist nicht zuletzt auf die Diskrepanz von wissenschaftlicher und künsderischer Leistung hin, die einander eigentlich bedingen sollten. In einer Zeit, da die Philologie offenbar in ihrem Zenit steht, erlebt die deutsche Kultur eine andauernde Dürreperiode, die erst mit dem Erscheinen Wagners wieder Anlass zur Hoffnung auf neue Fruchtbarkeit gibt. Nietzsches Kritiker, allen voran Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, hatten insbesondere die Tragödienschrift noch als Verdammung aller historischkritischen Philologie, also auch ihrer Methodik, aufgefasst. Aus ihrer Sicht wird nicht die Anmaßung der zeitgenössischen Erben der Alexandriner beanstandet, die sich der metaphysischen Basis einer verabsolutierten Altertumswissenschaft nicht bewusst sein will, sondern deren Leistungen selbst stünden zur Debatte. Nietzsches geschichtslose Herde weidender Tiere, mit der die zweite Un^eitgemässe einsetzt (HL 1, 1:249) ist jedoch kein erstrebenswerter Zustand. Nietzsche empfiehlt das Un- und Überhistorische, das Vergessen sowie die Hinwendung zu Kunst und Religion nur als Gegenmittel, wohl wissend, dass es sich dabei je nach Dosis um Gifte handelt, an denen eine Gesellschaft auch ganz und gar zugrunde gehen kann. Jede Art der Historie (monumentalische, antiquarische wie kritische) kann unter bestimmten Bedingungen dem Leben dienlich, dann wieder verheerend sein; jeder Mensch und jedes Volk brauche die richtige Mischung der drei Arten der Historie (HL 4, 1:271). Die akademische Jugend sollte sich einer Gesundheitslehre verschreiben, welche die Wissenschaft immer am Leben misst und die Gifte nach Maß einsetzt. Die Griechen sind Vorbilder, weil sie lernten, das Chaos der vielen Einflüsse zu organisieren und fruchtbar zu machen421. Nietzsche geht es seit seinen frühen Überlegungen zum Thema weniger um den Nachteil als vielmehr um den Nutzen der Historie für das Leben: der Rezeptionsgeschichte blieb diese Akzentuierung größtenteils verborgen. Die zweite Un^eitgemässe ist in diesem Sinne auch ein Versuch, Missverständnisse auszuräumen. Schon zur Geburt der Tragödie hatte sich Nietzsche gerade Ritschis Zustimmung gewünscht, da sie doch „hoffnungsvoll für unsere Alterthumswissenschaft" sei422. Ritsehl stößt sich am allzu penetranten Einfluss 421
Wagner schließlich ist das Sinnbild des produktiven ,Philologen', der in seinem Schaffen Vergangenheit und Gegenwart auf vorbildliche und fruchtbare Weise zu verbinden vermag — vgl. Schröter (1982:33). Schröters leider zu wenig beachtete Studie bietet wichtige Beobachtungen und Deutungen von Nietzsches historischem Denken und beschäftigt sich u.a. mit dem Kontext bei Burckhardt und Droysen. Bei Nietzsche lasse sich keine Abwendung von der Geschichte feststellen; Missverständnisse entstünden, wenn man die historischen, ästhetischen und philosophischen Intentionen Nietzsches vermische.
422
Brief an Ritsehl vom 30. Januar 1872, II.l:281f. Schon am 16. Oktober 1869 (II.l:65f) fragt Nietzsche Ritsehl, der seinen Schützling zu einer Monographie angehalten hatte, um Rat, ob er ein Buch „vermischtester Dinge", ein „Leipziger Allerlei" veröffentlichen könne, indem es nicht
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Schopenhauers und Wagners. „Meiner ganzen Natur nach gehöre ich, was die Hauptsache ist, der h i s t o r i s c h e n Richtung und historischen Betrachtung der menschlichen Dinge so entschieden an", antwortet er auf die Zusendung, „daß mir nie die Erlösung der Welt in einem oder dem anderen philosophischen System gefunden zu sein schien [...]." (Brief vom 14. Februar 1872, II.2:541ff). In der Auseinandersetzung um die Tragödienschrift hält Nietzsche indes an seinem Werben um Ritschis Stimme fest, nicht zuletzt indem er seinen Gegensatz zu den Berliner Philologen (lies: Mommsen) herausstreicht (Brief an Ritsehl vom 26. Juni 1872, II.3:17ff). Rohde gegenüber erklärt er: „An Ritsehl will ich noch recht ernst und eindringlich schreiben, daß er doch den unbegreiflichen Einfall aufgeben möge als hätten wir es auf einen Angriff auf die Alterthumswissenschaft (oder die G e s c h i c h t e ! abgesehen."423 Nicht um die Verdammung der philologischen Methode oder der historischen Weltbetrachtung geht es, sondern um ein lebenskräftiges Fundament für den Historismus. Nietzsche will zurück in die Zukunft: die ästhetische Begeisterung, die allein den Wert des Altertums in der Gegenwart zu erhalten vermag, scheint ihm verloren gegangen zu sein. Er gibt aber dabei, und das ist in der Tat der entscheidende Punkt, nicht den schon erreichten Stand der Ritschlschen Tradition auf. Die harte kritische Schule soll sich lieber wieder mit neuem Enthusiasmus der zeitgenössischen Ästhetik zuwenden, statt — und dies empfindet Nietzsche ja als reale Gefahr und schlechteste mögliche Entwicklung —einer gleichgültigen Universalgeschichte. „Bei weitem nicht gelehrt genug", schreibt Nietzsche noch 1885, habe er einst versucht, das Dionysische zu erklären, so dass sein Ziel, „einigen Generationen von Philologen ein neues Feld der Arbeit zu eröffnen", verfehlt wurde (VII 34[4]). Nietzsche glaubt, in Ritschis Namen zu handeln, indem er auf die Wolfsche Konzeption der Philologie zurückgeht, und zwar gerade weil Ritsehl persönlich für seine Affinität zum Neuhumanismus der Jahrhundertwende unter Druck geraten war. Ritsehl war der klassischen und romantischen Altertumsbegeisterung gar so streng wissenschaftlich und gründlich zugehe: „Warum sollte es nicht erlaubt sein, mit einer solchen lustigen Buntheit und Unordnung ans Tageslicht zu kommen, nöthigenfalls unter halber Anonymität?" Ritsehl rät mit den Argumenten des verantwortungsvollen Hochschullehrers ab: „Zu Ihrem Gedanken an ein buntes Allerlei, mag es noch so anregende und meinetwegen geistreiche Bestandtheile haben, sage ich, wenn es sich um die erste Buchpublikation handelt, ein entschiedenes Nein. Später haben Sie Freiheit, in diesem lockern, kaleidoskopischen Genre zu machen, was und soviel Sie wollen. Aber das Recht dazu müssen Sie sich meo voto erst erkaufen durch etwas Zusammenhängendes, Einheitliches." (Brief vom 5. November 1869, 11.2:75). Barbara von Reibnitz hat den Publikationsdruck beschrieben, unter dem Nietzsche nach seiner ungewöhnlichen Basler Berufung stand: sowohl gegenüber Ritsehl wie gegenüber der wissenschaftlichen Welt wollte sie gerechtfertigt sein, ohne dass er seinen eigenen Anspruch auf Neuausrichtung der Altertumswissenschaft aufgeben musste. Die Geburt der Tragödie wird deshalb durch öffentliche Vorträge entsprechend vorbereitet (von Reibnitz, 1992:36f). 423
Brief vom 16. Juli 1872, 11.3:23. Rohde hatte schon am 12. Juli desselben Jahres geschrieben (11.4:40): „Man kann, ohne der Sache irgend zu vergeben, mit etwas milderer Form den Philologie den ja jedenfalls thörichten Wahn benehmen als ob eine, zudem unmögliche, Sprengung der Alterthumswissenschaft beabsichtigt sey und nicht vielmehr eine Zurückrufung derselben auf ihre eigentlichen und ihr gebührenden Wege."
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gegenüber offener als andere. In der Polemik gegen die reine entschlackte Geschichte, spekulierte Nietzsche, konnte er sich Ritschis wohl sicher sein. Die Verbindung von harter Bonner Kritik bei gleichzeitiger Erinnerung an die Höhe des Forschungsobjektes schien ihm die einzige Möglichkeit, den starken Tendenzen des von Mommsen angeführten gleichmachenden Historismus eine dauerhafte Konzeption entgegenzusetzen. Unzeitgemäß will Nietzsche in doppelter Hinsicht sein: indem er an den technischen Standards, die von einem pädagogisch-politischen Interessenkomplex in Frage gestellt werden, festhält, sie aber ästhetisch immer wieder mit Leben zu füllen sucht. Naturwissenschaft im Geiste des Humanismus, so viel Ästhetik wie möglich, so viel Methode wie nötig: so ließe sich sein Ansatz wohl am kürzesten auf eine Formel bringen. Das Ergebnis ist Wissenschaft, die zur Kunst drängt und mit ihr auf einer Augenhöhe steht. Auch inhaltlich verschieben sich Nietzsches philologische Interessen hin zu den Themen jener so fruchtbaren Zeit um 1800, in der Spätaufklärung und Frühromantik sich zu gegenseitiger Anregung und zum Nutzen der Wissenschaft überlagern. Der Ursprung des griechischen Wesens im Dionysischen, selbst die Antithese des Apollinischen und Dionysischen wurde bekanntlich zuerst von den Schlegels herausgearbeitet424. Der Einfluss des Nestors der Bonner Schule, Welcker, ist, wie die Forschung zeigen konnte, in der Geburt der Tragödie unübersehbar. Welcker, der Förderer Ritschis, stand Humboldts Auffassungen besonders nah (Pfeiffer, 1976:179f). Abgelöst durch Mommsen, schien mit ihm der alte Humanismus auszusterben (190)425. Nietzsches Zukunftsphilologie orientiert sich an jenen Philologen, die, eine Generation älter als er selbst, noch am ehesten die Tradition der Bonner Schule weiterführen können, die sowohl auf Welcker wie auf Ritsehl zurückgeht. Diese Art der Philologie, genannt seien vor allem Hermann Usener und Jacob Bemays, würde die methodische Strenge Ritschis mit neuer Aufmerksamkeit gegenüber der Erforschung von Mythologie, Symbolik und Religionsgeschichte verbinden, wie Welcker sie betrieb426. Bereits 1868 be424
Siehe schon Wegner (1951:171ff); von Reibnitz (1992:61f). Thouard fügt dem Hinweis auf die Abhängigkeit Nietzsches von der Frühromantik die richtige Beobachtung bei, dass die Tragödienschrift nicht so sehr wegen ihrer Sicht auf die Tragödie oder die Rolle des Dionysischen schockierte, sondern wegen der neuen Rolle, die dem Mythos zugewiesen wurde (2000:163f) — gute Literaturhinweise bei von Reibnitz und Thouard. Wahrscheinlich kommt die Anregung zur Unterscheidung des Dionysischen und Apollinischen jedoch über Welcker, der ja auch auf Bernays und Usener stark gewirkt hat. Der frühe Nietzsche ähnelt in vielem diesen Erben der Bonner Schule (Henrichs, 1986:197f; vgl. den hier zitierten Brief Nietzsches an Rohde vom 16. Juli 1872, KGB 11.3:29 fi).
425
Zur unterschätzten Bedeutung Welckers für die Bonner Tradition s. Köhnken (1986). Am stärksten war Welcker wohl seinem Freund Wilhelm von Humboldt verpflichtet. Ferner unterhielt er, verwandt dem Geist Lessings und Winckelmanns, enge Verbindung zur zeitgenössischen Kunst und Ästhetik. Die Antike war ihm noch Bildungsideal, der Mythologie galt sein Hauptinteresse (Pflug, 1986). Der Versuch, gerade auf mythologischem Gebiet Antike und Christentum miteinander zu versöhnen, musste Nietzsche jedoch abschrecken — vgl. z. B. KGW IV 5[114].
426
In diesen Kontext gehören auch Creuzer, der für Welcker wichtig war, sowie Bachofen, den Nietzsche in Basel kennenlernte.
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zeichnet Nietzsche Bernays als „den glänzendsten Vertreter einer Philologie der Zukunft (d.h. der nächsten Generation nach Ritsehl Haupt Lehrs Bergk Mommsen usw)" (Brief an Deussen 2. Juni 1868 I.2:284)427. Nietzsche ist enttäuscht, dass ihn „der brave und von mir sehr geachtete Usener in Bonn" nach Publikation der Tragödienschrift für wissenschaftlich tot erklärt (Brief an Rohde 25. Oktober 1872, II.3:70f). Während seiner späten Basler Tätigkeit hat Nietzsche versucht, diese Art von Zukunftsphilologie noch in die Lehre einzubringen, etwa in der dreiteiligen Vorlesung „Der Gottesdienst der Griechen" aus dem Wintersemester 1875-76 und dem Wintersemester 1877-78 (II.5: 355-520). Hier transzendiert Nietzsche bereits die textgebundene Philologie, indem er versucht, stattdessen in Kulten, Festen, Gebräuchen und Mythen zu lesen. Er bezieht dazu jene neuere ethnologische Literatur mit ein, die dazu beitragen soll, ihn bald ganz von der Philologie wegund zum Studium der Kultur hinzuführen. Erwin Rohde unterstützte Nietzsche auf selbsdose, die eigene Karriere gefährdende Weise. Er tat dies aber nicht nur aus Freundschaft, sondern weil er dieselben Ziele vertrat. Mit seinem großen Werk Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen (Rohde, 1925) ist er eine der Ausnahmen gewesen, die im Schatten von Wilamowitz Nietzsches Entwurf einer philologischen Wissenschaft in die Tat umgesetzt haben, die zur Ethnologie genauso offen ist wie zur Kunst; Psyche ist nicht zuletzt ein Prosakunstwerk von Rang geworden 428. 427
In seinem bereits erwähnten Kondolenzschreiben an Sophie Ritsehl vom Januar 1877 wagt Nietzsche nicht zu entscheiden, ob mit Ritsehl der letzte große Philologe gestorben sei oder aber der Vater einer Schülerschaft von nie gekannter Fruchtbarkeit (11.5:213f). Bernays, ein Verwandter Sigmund Freuds, ist neben Nietzsche die vielleicht interessanteste Figur aus der Schule Ritschis, nicht zuletzt für eine Geschichte des deutschen Judentums (als kompromissloser Jude erhielt er nie einen Lehrstuhl). In seiner Scaliger-Studie (Bernays, 1965) interessiert er sich, nicht unähnlich dem frühen Nietzsche, für das Ineinandergreifen von Theologie und Philologie auf fester historisch-kritischer Grundlage. In seinem Aristoteles-Buch (Bernays, 1970) beleuchtet Bernays die finsteren Seiten der Griechen. In seiner Einleitung beschreibt Gründer ausführlich die vielen Parallelen zur Geburt der Tragödie, die vermuten lassen, dass Bernays' Einfluss auf dieses Werk mindestens so groß war wie der Wagners oder Schopenhauers. Zu Bemays vgl. auch Bollack (1998).
428
Rohdes an Wagner gerichtete (und in dessen Verlag Fritzsch erschienene) Antwort auf Wilamowitz, Afterphilologie, war mit „Sendschreiben eines Philologen" untertitelt. Er verteidigt die Tragödienschrift als Syntheseversuch und spekulative Eindringung in „diese unerklärliche Kunst der Schmerzensfreude" der Griechen: man müsse ehrlicherweise gestehen, dass die Philologie diesen Versuch noch gar nicht ernsthaft unternommen habe (in Gründer, 1969:76/13). Sein Biograph Otto Crusius ist der Auffassung, dass Rohdes Eintreten für Nietzsche kein „Sacrifizio dell' intelletto" gewesen sei, da gerade die reifsten Arbeiten zeigten, wie tief er von den gemeinsamen Anschauungen ergriffen gewesen sei (1902:56f). Auch Rohde nahm sich später Burckhardt zum Vorbild. Er blieb seiner Jugendmeinung treu, „dass auch auf den modernen Menschen - und gerade auf den modernen mit seiner ,rafftnirten Barbarei' - die Erkenntnis griechischer Art ,Imperativisch' wirken müsse", allerdings ohne einem „flauen Classizismus das Wort zu reden und unser Ziel hinter uns zu stellen" (213). Interessant ist auch Rohdes Stellungnahme zur Frühromantik und das Problem der Allegorie. In seiner Rede „Die Religion der Griechen" von 1894 geht er zwar auf Creuzer als Initiatoren der Religionsgeschichte in der Philologie zurück, fasst dessen Ergebnisse freilich nur noch als historisch interessant auf (Rohde,
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5.4. Nietzsche, Homer, Wilamowitz In Rohdes und Nietzsches polemischer Auseinandersetzung mit Wilamowitz steht der Richtungsstreit der Altertumswissenschaft von Anfang an im Hintergrund. Conrad Bursian, der Nietzsche in seiner zeitgenössischen Philologiegeschichte, wie schon eingangs erwähnt, in die kritische Tradition der HermannSchule eingeordnet hatte, schlägt den damals noch jungen Wilamowitz der „historisch-antiquarische [n]" Richtung seit Boeckh zu (Bursian, 1883, Bd 2:70f). Obwohl sich die Ordinarien nicht einschalten, weiß jeder, dass zwischen ihnen ein stellvertretender Strauß ausgefochten wird429. Nietzsche, der den jüngeren Pförtner Mitschüler Wilamowitz eigentlich schätzt, schreibt an Rohde: „Er muß noch sehr unreif sein — offenbar hat man ihn benutzt, stimulirt, aufgehetzt — alles athmet Berlin." (Brief vom 8. Juni 1872,11.3:7).
429
1901, Bd. 2:314-339). An anderer Stelle ist die Abgrenzung gegenüber der Allegorese aufschlussreich, die für den Mythenforscher scheinbar naheliegt: „die würden irren, die (etwa wie seiner Zeit Fr. Schlegel) in falscher Deutung der Mythen befangen, eine galvanische Wiederbelebung des erstorbenen Glaubens an tiefsinnig allegorische Sagen in dem Sinne für möglich halten, wie man an historische Begebenheiten glaubt. [Absatz] In diesem Sinne glaubten aber auch die Griechen niemals an ihre Mythen. Viel höher stehend, den allersichersten Wahrheiten viel näher als phantastische Dichterträume, forderten sie dennoch einen ganz anders gearteten Glauben als die Ueberlieferungen der Geschichte. Wie wäre es sonst auch verständlich, dass von eben jenen Mythen, die doch den besten Schatz des griechischen Glaubens ausmachten, ihnen ganz klar bewusst war, dass Homer und Hesiod sie gebildet, erfunden hatten? Wie konnte es sonst ihren Glauben nicht stören, wenn sie dieselben Mythen von gottbegabten Dichtern nach ihren verschiedenen Absichten so mannigfach gestalten sahen, ja von einem und demselben Dichter zu verschiedenen Zeiten verschieden? Es muss in dem Bewusstsein der edelsten Griechen sich eine Erinnerung an die gleichnissartige (aber darum noch lange nicht durch eine allegorische Deutung in begriffliche Erkenntniss aufzulösende) Natur der Mythen, vereinigt haben mit der beglückenden Ueberzeugung von der Fähigkeit genialer Naturen, in solchen bildlichen Offenbarungen das verborgene Wesen der Welt zu verstehen und den Hörern zu deuten, tiefer und voller, als alle begriffliche Ueberlegung vermöchte." (349f) Vgl. Calder III (1983), der außer Wilamowitzens ernster intellektueller Entrüstung weitere mögliche Gründe für die Attacke nennt, wie etwa den Neid auf die Bevorzugung Nietzsches (wohl schon seit den Zeiten der Pforte) und dessen in seinen Augen ungerechtfertigte Professur, das Nachwirken des Philologenstreits — die gegen Jahn gerichtete Passage in der Geburt der Tragödie rührte an die alten Wunden, nicht zuletzt weil sich Jahn mittlerweile nicht mehr wehren konnte (Wilamowitz hat trotz seiner unüberschaubaren Publikationstätigkeit niemals in Ritschis „Rheinischem Museum" veröffentlicht). Vgl. auch den aufschlussreichen Brief von Wilamowitz an Ernst Howald aus dem Jahr 1920, den Jaap Mansfeld (1986) entdeckt hat und der zeigt, wie stark seine Feindschaft gegen Ritsehl gewesen sein muss. Auch in den Erinnerungen wirkt der Philologenstreit noch fort (Wilamowitz, 1928:84f). Nietzsche habe seinen „moralischen Ingrimm" durch den Angriff gegen Jahn „besonders" erregt (129f); freilich relativiert Wilamowitz auch die Naivität seiner eigenen Jugend. Es sei Nietzsche ja gar nicht um Wissenschaft gegangen. Wilamowitz gibt zwar zu, dass Ritsehl ein charismatischer Lehrer wie wenige andere gewesen sei (61), aber erst nach seinem Weggang sei die Bonner Schule zu wahrer Blüte gelangt. Doch selbst andere Ritschl-Schüler werden in den Erinnerungen und auch in seiner Geschichte der Philologie sehr stiefmütterlich behandelt; Rohde wird gar nicht erst erwähnt.
5.4. Nietzschc, Homer, Wilamowitz
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Gemeint ist wieder Mommsen430, zu dem Wilamowitz enge wissenschaftliche und persönliche Beziehungen pflegt und dessen Schwiegersohn er später werden soll. Rohde und Nietzsche deuten Wilamowitzens Angriffe gegen die Tragödienschrift, besonders die zweite Polemik, als taktisches Manöver, um eher an die Professur zu kommen (vgl. Brief Rohdes an Nietzsche vom 23. März 1873, 11.4:229). Richard Wagner, der sich mit einem offenen Brief an Nietzsche in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" einschaltet431, geht explizit auf die Krise der Philologie ein, wenn er bemerkt, ihr eigentliches Ziel, nämlich produktive Bildung, scheine „durch einen sonderbaren Prozeß, in welchen ihre Disziplin gerathen ist [...] einer völligen Zersetzung verfallen zu sein." (in Gründer, 1969:297) Ohne Zweifel hat Wilamowitz, bei allen großartigen Verdiensten, dem Enthusiasmus gegenüber der Antike, den Nietzsche in veränderter Form bewahren wollte, den Todestoß versetzt. Zwar ging auch er von F.A. Wolfs Altertumswissenschaft aus, betont aber den historistischen und universalhistorischen Wolf, nicht den methodischen und klassizistischen. Wie Nietzsche im Geiste Gottfried Hermanns erzogen und beeindruckt von Lachmann, sah er doch bald die Grenzen dieser Schule, wozu seine Abwendung von Ritsehl im Philologenstreit beitrug. Jahn, den er vorzog, hatte ja immerhin außer ,Wortphilologie' Kunstgeschichte und Archäologie groß geschrieben. Noch in einem Vortrag aus dem Jahr 1921 wendet sich Wilamowitz gegen die Gräkomanie der Weimarer Klassik: „Als F.A. Wolf in einer Widmung an Goethe das Programm der neuen Altertumswissenschaft aufstellte, geschah das noch mit einer so maßlosen Uberschätzung des Altertums, wie sie eigentlich nach Herder nicht mehr statthaft war." Seither seien so viele Kulturen untersucht worden, dass Griechenland nicht mehr bevorzugt werden könne; von der Antike dürfe man ferner kaum mehr als Einheit sprechen. Programm bleibe gleichwohl „die nun erst zu einer wirklichen Geschichtswissenschaft erstarkende Philologie" (Wilamowitz-Moellendorff, 1972:144153)432. Wilamowitz wird Ernst mit der synthetischen Altertumswissenschaft 430
In Basel traf Nietzsche auf Gleichgesinnte, die nicht allein aus ideologischen, sondern eben auch aus fachlichen Gründen gegen Berlin eingestellt waren. Burckhardt hatte den Ruf nach Berlin ausgeschlagen. Bachofen und Overbeck sahen in Adolf Harnack bzw. Mommsen ihre Antipoden (Cancik, 1995:26f). Dass „Berlin" sich auf das Berliner Judentum beziehe, ist die Interpretation Gersdorffs, der seinen antiliberalistisch-antimodernen Antisemitismus aus der WagnerVerehrung bezieht: vgl. seinen Brief vom 31. Mai 1872 (II.4, 8ff). Freilich war Mommsen auch erklärter und prominenter Gegner des Antisemitismus.
431
Damit erwies Wagner Nietzsche, wie oben zu sehen war, einen Bärendienst, denn nun reagierte auch Ritsehl sehr skeptisch. Der von Calder III behauptete Vorwurf Wilamowitzens an Ritsehl, die Studenten nicht mit Autoren zu konfrontieren, die ihr Leben hätten beeinflussen können, sondern nur mit Autoren, die wie Plautus aus textkritischer Sicht problematisch und nur deshalb interessant waren (Calder III, 1991:349), ist deshalb ein wenig irreführend. Eher noch würde man diese Haltung beim „dritten Humanismus", also etwa bei Wilamowitzens Schüler Werner Jaeger vermuten. Calder III sieht Wilamowitz nicht so sehr von Wolf als von Welcker ausgehend, obgleich dieser starb, als Wilamowitz gerade erst in Bonn eintraf. Werner Jaeger, normalerweise eine sehr zuverlässige
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
machen. Die in Spezialgebiete zerfallene Disziplin der Textphilologen und Historiker, Archäologen, Numismatiker, Philosophen, Kunsthistoriker sollte in einer Art universaler Kulturwissenschaft der Antike unter einem Dach vereinigt werden433. Mit Wilamowitz, dem vielleicht vollkommensten Repräsentanten des Wilhelminismus in der Wissenschaft und Verfechter des von Nietzsche verabscheuten preußischen „Cultur-Staats" (GD Was den Deutschen abgeht 4, 6:106), setzte sich in den Altertumswissenschaften ein relativierender Historismus endgültig durch, und zwar verstanden als Abwendung vom Klassizismus der Neuhumanisten und Technizismus der Ritschl-Schule zugleich. Wilamowitz und seine Schüler erschließen riesige Mengen von Primärquellen aus allen Bereichen, die den sorgfältig bewahrten Klassikern gleichberechtigt an die Seite gestellt werden. Die Rekonstruktion der Gedankenwelt des antiken Publikums steht im Mittelpunkt; ähnlich dem sog. Positivismus in anderen Philologien, etwa der Scherer-Schule in der Germanistik, spielt die Biographie eine wichtige Rolle. Textkritik sowie das genaue, minutiöse Lesen verlieren dagegen an Bedeutung — obwohl noch Wilamowitz selbst beides in Vollendung beherrschte. Hier liegt die Ursache, warum der Richtungsstreit zwischen Nietzsche und Wilamowitz als Auseinandersetzung einer der Tradition der Enzyklopädie verpflichteten Philologie mit dem positivistischen und historistischen Projekt gedeutet worden ist (s.o.; vgl. Whitman, 1986). Wilamowitz musste sich demnach von der bis dato einflussreichsten Strömung der methodisch statt stofflich definierten enzyklopädistischen Philologie absetzen, deren vielleicht letzter großer Vertreter eben Ritsehl gewesen war. Die Realien-Schule siegte, verdrängte und verschwieg die Enzyklopädisten, jene Gelehrsamkeit also, die angesichts vermeintlicher Fakten auf deren Reflexion bestand. Die Enzyklopädie mit ihrem ausgedehnten methodischen Teil war der Versuch, der Fülle der Erscheinungen und dem Zuwachs an Wissen gerecht zu werden, ohne sich einem Positivismus avant la lettre, zu überlassen. Sie betonte die methodische Durchdringung des Gefundenen und Ersammelten. Der wissenQuelle, bestreitet dagegen, dass Wilamowitzens eigentliche Universitätslehrer entscheidenden Einfluss auf ihn gewonnen hätten: weder Welcker in Bonn noch Moriz Haupt (immerhin sein Doktorvater) als Vermittler der Lachmannschen Methode käme in Frage. Otto Jahn sei schon wichtiger gewesen, aber erst die Begegnung mit Mommsen sei ausschlaggebend für seine Entwicklung gewesen. Durch ihn gewann er wieder Anschluss an das Studium des Altertums in seiner ganzen Breite wie Boeckh es gefordert hatte (Jaeger 21960:214-221). Jaegers Darstellung passt damit gut zur Chronologie des Streits um die Tragödienschrift. Vgl. ferner Calder III/Flashar/Lindken (Hrsg., 1985). „Die Aufgabe der Philologie ist es, jenes vergangene Leben durch die Kraft der Wissenschaft wieder lebendig zu machen, das Lied des Dichters, den Gedanken des Philosophen und Gesetzgebers, die Heiligkeit des Gotteshauses und die Gefühle der Gläubigen und Ungläubigen, das bunte Getriebe auf dem Markt und im Hafen, Land und Meer und die Menschen in ihrer Arbeit und in ihrem Spiele. [...] Weil das Leben, um dessen Verständnis wir ringen, eine Einheit ist, ist unsere Wissenschaft eine Einheit" (Wilamowitz, 31998:1). Vgl. auch das Lemma zu Wilamowitz in BHCS.
5.4. Nietzsche, Homer, Wilamowitz
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schaftlich Reisende wie der wissenschaftlich Lesende solle sich nicht mit den Funden selbst zufrieden geben, sondern sie in größere Zusammenhänge einarbeiten. Bernhardy beschreibt, wie stark sich die Grenzen gerade der Philologie seit dem sechzehnten Jahrhundert ausgedehnt hatten, während „die Alten", an denen man sich eigentlich orientieren wollte, wenig für die Polyhistorie übrig hatten: Hier bleiben also nicht nur die Grenzen des Materials und die Wahl dessen was erforscht werden soll unbestimmt, sondern sie werden aus Furcht vor engherziger Vereinzelung sogar zusehends in das endlose gedehnt; da sich doch jede DiszipKn in ihren eigenen Kreisen abschließt, wofern sie gedeihen will, und selbst in mancherlei Felder ausscheidet, welche die Bearbeiter nach den herrschenden Richtungen oder ihrem Talent erlesen. (1832:25ff).
Die polyhistorischen Tendenzen der Philologie, so Bernhardy an verschiedenen Stellen, können nur durch die formalen Techniken der Kritik und Hermeneutik auf dem Fundament der Grammatik im Zaum gehalten werden. Nur sie befähigen zu sicherem, kritischem Urteil. Ganz ähnlich urteilen noch Ritsehl oder auch Otto Jahn, der das ungeheure Anwachsen des philologischen Wissens durch die Ausdehnung der Reisen in die klassischen Länder kommentiert: J e mehr das Material anwuchs, um so höher steigerten sich die Ansprüche an die sorgfältigste Genauigkeit in der Behandlung des Einzelnen; die immer mehr in die Breite gehende Detailforschung konnte nur durch eine in die Tiefe gehende Auffassung des Ganzen beherrscht werden; je freier und höher die Idee dieses Ganzen, dem man zustrebte, gefaßt wurde, um so strenger und schärfer mußte die Disciplin der philologischen Methode und Technik in fortschreitender Ausbildung gehandhabt werden (1868:32).
Besonders wichtig für die Enzyklopädie war die immer neue Anpassung an den Erkenntnis stand. Sie ist nie statisch: sie folgt gleichsam dem flüssigen Sinn und weiß um die Notwendigkeit der Veränderung, wenn sie sich selbst erhalten will434. Wenn die Enzyklopädie gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus der Mode kommt, liegt das einerseits daran, dass die Philologie als Fach endgültig etabliert ist, anderseits haben sich natürlich viele ihrer ursprünglichen Bestandteile zu eigenen Fächern gefestigt. Aber es liegt auch daran, dass die Gefahren des Positivismus nicht mehr als solche erkannt werden. Sie gelten nun als Tugenden. Der Gedanke, dass der größere Uberblick immer mit einer tieferen Analyse bezahlt werden muss, schwindet aus dem Bewusstsein. Weil das methodische Fun-
„ D i e E n c y k l o p ä d i e d e r P h i l o l o g i e ist ein wissenschaftlicher Ueberblick der Kenntnisse, der Hülfsmittcl und der Methodik, welche den Organismus des Griechischen und Römischen Alterthums zur Anschauung fuhren. Da nun aber der Umfang und Gehalt einer philologischen Encyklopädie durch das Mass, das sich die Philologie selbst erworben hat oder zu erwerben fähig ist, begrenzt und bedingt wird, so gebührt ihr ein bloss historischer Werth, eine Bedeutung wie sie der Statistik von Zuständen angehören mag, und sie kann sich keine für immer gültige Gesetzgebung beilegen. Vielmehr muss sie den jedesmaligen Standpunkt des Ganzen ergreifen und auf diesem die Leistungen, die gewonnenen Thatsachen und die Mängel vollständig entwickeln." (Bernhardy, 1831:1).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
dament der Philologie an Bedeutung verliert, versandet die Enzyklopädie, nicht umgekehrt435. Für die philologische Rezeptionsgeschichte der folgenden Generationen ist damit auch das Schicksal des Philologen Nietzsche besiegelt. Selbst wenn er die Tragödienschrift nie verfasst hätte, wäre sein Ruf dem wissenschaftlichen Zeitgeist zum Opfer gefallen. Die Sache verkompliziert sich dadurch etwas, dass Wilamowitz im konkreten Streit um die Geburt der Tragödie noch nicht die Position einnahm, die ihn später kennzeichnen sollte. Hätte er unzweideutig aus Sicht der Mommsen-Schule argumentiert, wäre es Nietzsche ein leichtes Spiel gewesen, Anhänger zu finden. Es macht freilich Nietzsches spätere Reaktion umso plausibler, dass Wilamowitz, peinlich für Nietzsche, als philologisches alter ego und schlechtes Gewissen des Verfassers der Geburt der Tragödie auftritt, das ihn an die Tugenden der gemeinsam durchlaufenen Pförtner Schule gemahnt und damit gewissermaßen vom Standpunkt gesicherter Kenntnisse der Vätergeneration her argumentiert. Gerade an den eigenen Maßstäben der historisch-kritischen Tradition nicht zuletzt der Bonner Schule soll Nietzsche gemessen werden, damit sein Scheitern sich offenbare436. In Zukunftsphilologie, eine erwidrung auf Friedrich Nietzsches ord. professors der classischen philologie 3» basel „geburt der tragödie " so der vollständige Titel der Streitschrift, die 1872 bei den Gebrüdern Borntraeger in Berlin erscheint, erhebt Wilamowitz den Kardinalvorwurf der Unwissenschaftlichkeit, der viel stärker schmerzt als der Nachweis mangelnder Sachkenntnisse. Von vielen nachgewiesenen Fehlern im Einzelnen abgesehen, verlasse sich Nietzsche nicht allein auf die Intuition (was an sich schon bedenklich genug ist), seine Schrift ruhe schlimmer noch auf metaphysischen Glaubenssätzen. Statt redlich und methodisch aus der empirischen Überlieferung des Altertums selbst heraus zu arbeiten, habe Nietzsche auf gleichsam theologische Weise versucht, seine Forschung aus neumodischen Dogmen abzuleiten: also weil R. W a g n e r die v o n S c h o p e n h a u e r g e f u n d e n e exceptionelle Stellung der m u sik gegenüber den a n d e r e n künsten ,durch seinen Stempel als ewig w a h r bekräftigt', m u s t e dieselbe erkenntniss in der antiken tragödie g e f u n d e n w e r d e n , dass dies der grade gegensatz sei zu d e m w e g e der forschung, welchen die heroen unserer u n d schliesslich jeder wirklichen Wissenschaft gewandelt, unbeirrt v o n einer p r ä s u m p t i o n über das endresultat, der Wahrheit allein die ehre g e b e n d v o n erkenntniss zu erkenntniss fort zu schreiten, jede geschichtlich g e w o r d e n e erscheinung allein aus den Voraussetzungen der zeit, in der sie sich entwickelt, zu begreifen, ihre rechtfertigung in ihrer
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Zur Enzyklopädie auch Porter (2000a:167-224). Die wissenschaftshistorischen Zusammenhänge sind bei Thouard (2000:156ff) deshalb nur zum Teil richtig dargestellt. Sein Gegensatz zwischen einer Philologie als reflexiver und kritischer Analyse und „art de lire" auf der einen und der unendlichen, positivistischen Rekonstruktion des Altertums auf der anderen Seite lässt sich weder für Ritsehl noch fur Nietzsche so absolut aufrechterhalten. Nietzsches Auflehnung war nicht als neue „philologie interpretative" gemeint; im Gegenteil. Für die Rückkehr zur autonomen Altertumswissenschaft plädiert Nietzsche genauso viel oder wenig wie Wilamowitz. Dieser will sie unter die allgemeine Historie subsumieren, jener zunächst unter Philosophie und Ästhetik.
5.4. Nietzsche, Homer, Wilamowitz
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geschichtlichen notwendigkeit zu sehen: dass, sag ich, diese wenigstens im princip wissenschaftliches gemeingut gewordne historisch-kritische methode der grade gegensatz einer betrachtungsweise sei, welche an dogmen gebunden die bestätigung derselben allzeit finden m u s s : das konte auch hm. N. nicht entgehn. sein ausweg ist, die historisch-kritische methode zu schmähn (133) auf jede von ihm abweichende aesthetische ansieht zu schimpfen, (128) dem Zeitalter, w o die philologie in Deutschland vor allem durch Gottfried Hermann und Karl Lachmann auf eine nie geahnte höhe gehoben wurde, ,gänzliches verkennen der altertumsStudien' bei zu legen (115). (nach Gründer, 1969:29f).
Wilamowitz bezichtigt Nietzsche mit anderen Worten der Allegorese und macht ihm einen Vorwurf, der ihn hart treffen muss: Nietzsche wolle gleichsam ein neues Evangelium schaffen — und Dionysos sei sein Evangelist. Seine bekannte Aufforderung an Nietzsche, das Katheder zu verlassen, spielt ironischerweise mit dem Repertoire eines Klassizismus, den Wilamowitz bald selbst nicht mehr vertritt. Die philologische Jugend soll „in der askese selbstverläugnender arbeit lernen [...], überall allein die Wahrheit zu suchen, durch williges ergeben ihr urteil zu befreien, auf dass ihr das classische altertum jenes einzig unvergängliche gewähre, welches die gunst der Musen verheisst, und in dieser fülle und reinheit allein das classische altertum gewähren kann" (55). Auf das Motiv der gelehrten Askese sei hier nur noch am Rande hingewiesen. Besonders heftig entzündet sich die Polemik an der Homer-Frage, dem Gebiet, an dem sich jede Version klassischer Philologie bewähren muss. Homer als individuellen Dichter darzustellen, wie Nietzsche es in der Tragödienschrift (und bereits in der Basler Antrittsvorlesung) tat, kam einem Sakrileg am Gründungsmythos der neueren Philologie gleich. Wilamowitz wirft Nietzsche eine absichtsvolle Verletzung gegen „Wolfsche erkenntnisse" vor und verteidigt Lachmanns Rhapsodik-Thesen. Schließlich erinnert er Nietzsche gar an die Lachmannsche Schulung in der Pforte, die ihm am Beispiel des Nibelungenliedes die Augen zur Analogie bei Homer hätten öffnen müssen (37). Gerade Nietzsches Behandlung Homers zeigt jedoch, in welchem Ausmaß Wilamowitzens Vorwürfe den eigentlichen Punkt verfehlen. Wie im letzten Kapitel dargestellt, versucht Nietzsche in der Basler Antrittsvorlesung — die Wilamowitz selbstverständlich nicht kennen konnte —, kritische Philologie und ästhetische Grundeinstellung auszubalancieren, d.h. F.A. Wolfs und Goethes Homer in widerspruchsfreier Weise miteinander zu verbinden. Nietzsche meint dies durchaus ernst, es gibt keinen Beleg für Porters Annahme, er wolle lediglich die „internal self-contradictions" von Klassizismus und Historismus erkunden (2000a:68). Es sei an die bereits oben erwähnte Auffassung Goethes erinnert, der mit Blick auf Wolfs Prolegomena gegenüber Eckermann bemerkt hatte, dass Kritik zwar an religiösen Texten Schaden anrichte, da bei ihnen alles auf dem Glauben beruhe, in der Dichtung jedoch weniger schädlich sei; dem Gedicht selbst, das in seiner ästhetischen Gänze erhalten bleibe, könne sie nichts anhaben (am 1. Februar 1827; Eckermann, 1968:214). Das Problem
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5. Wissenschaftshistorischcr Exkurs
von Homers Persönlichkeit betrifft für Nietzsche entsprechend keineswegs die berechtigte wissenschaftliche Rekonstruktion des Kompositionsprozesses der homerischen Epen, sondern liegt in der Frage, auf welchem Wege überhaupt erst „verdichtete Vorstellungen" entstehen, welche die „Zustände der Sitte und des Glaubens" zu personalisieren, d.h. in einem Individuum zusammenzufassen versuchen (KGW 11.1:255). „Homer" ist rein empirisch schon immer ästhetisches Urteil, nicht Uberlieferung gewesen. Nietzsches späteres Interesse an einer Geschichtsschreibung, die wie bei Burckhardt und Taine auf dem Studium von Kunst und Literatur beruht, ist hier im Keim angelegt. Zu einer rein ästhetischen Betrachtung geht Nietzsche jedoch auf deutliche Distanz, schon allein durch die naturwissenschaftliche Metaphorik: „Nachdem die geschichtliche Kritik sich mit voller Sicherheit der Methode bemächtigt hat, scheinbar konkrete Persönlichkeiten verdampfen zu lassen, ist es erlaubt, das erste Experiment als ein wichtiges Ereigniss in der Geschichte der Wissenschaften zu bezeichnen" (ebd.). Nietzsche nennt die These der Alexandriner von der späteren Kodifizierung der ursprünglich mündlichen Überlieferung die bedeutendste Hypothese auf dem Gebiet der Literaturstudien im gesamten Altertum; sie ist ihm „im Gegensatz zu der Wucht der Gewohnheit eines büchergelehrten Zeitalters ein bewunderungswerther Höhepunkt antiker Wissenschaftlichkeit" (256). Kritisch setzt sich Nietzsche dagegen in der Tat von der Volksliedtheorie ab. Nur ein Aberglaube stelle Volks- und Kunstdichtung gegeneinander. Zwar sei die Annahme einer Volksseele als Masse und Antriebsgeschichte eine wichtige Erfindung der historisch-kritischen Wissenschaft gewesen, aber hinter der Volksdichtung müssen sich ja am Ende doch wieder Individuen verbergen. Der Begriff der Volksdichtung sei allenfalls als Kontrast zum vom Volksleben unberührten Gelehrten sinnvoll. Man muss sich also bei Homer doch immer die Frage nach dem individuellen Dichter stellen, freilich ohne die gängige mechanische Vorgehensweise eines positivistischen Biographismus: „Jetzt benutzt man die biographischen Daten, die Umgebung, die Bekanntschaften, die Zeitereignisse und glaubt aus der Mischung aller dieser Ingredienzien die verlangte Individualität gebraut zu haben. Leider vergisst man, dass man eben den bewegenden Punkt, das undefinirbar Individuelle nicht als Resultat herausbekommt." (262) In seiner Annahme des einen großen Dichters der homerischen Epen, der mit Homer allerdings nicht identisch sei, sowie der Überzeugung, dass der relativ unvollkommene Aufbau der Epen auf zwei Arbeitsphasen hinweise, einer ursprüngKch-instinktiven und einer bewussten späteren (späten Nachkömmlingen des Schillerschen Gegensatzes vom Naiven und Sentimentalischen), folgt Nietzsche letztlich einer weitergedachten Auffassung Ritschis437 und lässt sich nicht, wie Wilamowitz vermutet, von der antiwolfschen Position Schopenhauers leiten. 437 Nietzsches Homerstudien sind trotz detaillierter Behandlung bei Janz (1978) und kürzeren Studien (z.B. Acampora, 2000) noch nicht ausführlich und quellenkritisch gewürdigt worden und können hier nur umrissen werden. In einem Brief an Rohde vom 9. Dezember 1868
5.4. Nietzsche, Horner, Wilamowitz
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In der Ablehnung der Volksdichtungstheorie verfolgt Nietzsche allerdings einen tieferen Zweck. Denn hinter der Volksdichtungstheorie steht letztlich das historistische Blütezeitmodell, das den Aberglauben vom allmählichen Aussterben der Fähigkeiten eines Volks zur Dichtung zeitige, worauf sich eine Periode der Kunstdichtung anschließe. Große Dichter seien aber in jedem Zeitalter (1.2.349) erwähnt Nietzsche seine Homerstudien: „Im Punkte der letzteren hatte ich das Malheur, an einer gewissen sehr wichtigen Stelle mich selbst nicht mehr überzeugen zu können: mein guter Sänger Homer, den ich mit allen fünf Fingern festzuhalten glaubte, zerrann mir eines schönen Morgens wie ein Gespenst; jetzt ist er wieder ein mythisches Scheusal, das die seltsamsten Transformationen durchgemacht hat: welche darzustellen eine Aufgabe für Strauß und ähnliche Talente wäre." Hier zeigt sich deutlich das Dilemma, in dem sich jede Beschäftigung mit Homer befindet. Ist der ästhetische oder der historisch-kritische Zugang am besten geeignet? Die Aufgabe der Volksliedtheorie sieht Nietzsche als wissenschaftlichen Fortschritt an und mit der Überwindung der Romantik widerlegt: „ - wie haben wir in fünfzig Jahren u m g e l e r n t ! Die ganze Romantik mit ihrem Glauben an das ,Volk' ist widerlegt! Keine Homerische Dichtung als Volks-Poesie! Keine Vergötterung der großen Naturmächte! Kein Schluß aus Sprachverwandtschaft auf Rassen-Verwandtschaft! Keine „intellektuelle Anschauung" des Übersinnlichen! Keine in der Religion verschleierte Wahrheit!" (VIII 1 [IV]) - die Zusammenstellung verwandter Auffassungen ist äußerst aufschlussreich; wer an das romantische Homerbild glaubt, verteidigt letztlich offenbar die Allegorese oder fragwürdige Rassentheorien. Nietzsche hat sich mit der Homer-Frage auch später noch beschäftigt. Seine Ausgabe von Volkmanns Geschichte und Kritik der Wolfschen Prolegomena Homer (Volkmann, 1874) hat er ausgiebig benutzt und mit Lesespuren versehen. So ist im vierten Kapitel, S. 71 der Absatz zur Beweisführung Wolfs angestrichen, wonach zu Homers Zeiten der allgemeine Gebrauch der Schreibkunst unbekannt gewesen sei, sowie der Abschnitt zu Goethe, der bei aller Anerkennung der Wolfschen Leistung doch nicht auf die sinnvolle Fiktion eines Triebes und einer Quelle der homerischen Epen verzichten wollte. Angestrichen ist auch eine Stelle über Wieland, S. 74, die ein weiteres Mal belegt, warum sich Nietzsche wieder für die historisch-kritische Methode zu interessieren beginnt: „Mit einer gewissen Schadenfreude begrüsste er sie [die Prolegomena, C.B.] als Vorboten einer Kritik, deren Spitze gegen die biblischen Bücher sich richten würde, eine Ansicht, die Wolf eben recht war." Weitere rezeptionsgeschichtliche Stellen sind angestrichen, etwa Friedrich Schlegel oder Herder betreffend. Volkmann selbst ist Anhänger Wolfs und beschreibt die Neigung, seit Herder und den Romantikern bis hin zu Lachmann die homerischen Gedichte als Volkspoesie anzusehen als „verhängnisvoll" (82). Für Wolf gingen ja große Teile tatsächlich auf Homer zurück, von einer Annahme zerstückelter einzelner Lieder ist er weit entfernt. Die Meinung Nietzsches, wonach die Gedichte schon von Anfang an konzipiert seien und Volkspoesie ohnehin auch auf Individuen beruhe, wird hier interessanterweise Madvig zugeschrieben. Bei Ritsehl wiederum ist Pisistratus nicht wie bei Wolf und Lachmann der eigentliche Schöpfer, sondern lediglich der Wiederhersteller der ursprünglichen Einheit und Ordnung, die durch die Rhapsoden langsam aufgelöst worden war. Die homerischen Gesänge haben sich bei ihm so weit aufgelöst, dass sie die Arbeit der Gelehrten geradezu herausfordern. Pisistratus' Text wurde dann zu einer Art Vulgata für die späteren Alexandriner (320; vgl. Ritsehl, 1838). Ritschis Position ist also gemäßigt: er nimmt die Existenz archaischer Heldenlieder an, selbst Homeridengesänge, aber es ist dennoch Homer gewesen, der aus der Fülle des Materials einiges ausgewählt und verschmolzen habe. Freilich gehe Homers Verdienst als Schöpfer eines organischen Ganzen über die reine Zusammenstellung hinaus. Die noch immer schriftlose echte Ilias bzw. Odyssee wurden dann weiter tradiert und zwar parallel zu den alten Liedern, aus denen sie entstanden, die ebenfalls weitergesungen werden. Aus der allmählichen Aufzeichnung und Sammlung einzelner Teile stamme erst der Anordnungsversuch des Pisistratus (vgl. auch Ribbeck, 1879ff, Bd. 2:25ff). Dieser Homer Ritschis erinnert sehr an Nietzsches Zentauren: „Homer" ist fast selbst zum Philologen geworden, der allerdings noch genügend eigene Schöpferkraft aufbringt, um sich nicht vom Material erdrücken zu lassen. Zum Stand der Homer-Forschung, mit denen diese Befunde noch einmal systematisch abgeglichen werden sollten, vgl. Latacz (1991).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Volkdichter; allein die Rolle der Tradition unterscheidet das literarische von anderen Zeitaltern. Die Philologie habe durch die Pflege der Tradition daraufhinzuwirken, dass große Dichtung, die an den klassischen Vorbildern geschult ist, immer wieder möglich wird. Sie tut dies in einer dienenden Rolle, die auf ihre Weise produktiv wird: Die Philologie ist ja nicht die Schöpferin jener Welt, sie ist nicht die Tondichterin dieser unsterblichen Musik; aber sollte es nicht ein Verdienst sein und zwar ein grosses, auch nur Virtuose zu sein und jene Musik zum ersten Mal wieder ertönen zu lassen, sie, die so lange unentziffert und ungeschätzt im Winkel lag? Wer war denn Homer vor der muthigen Geistesthat Wolfs? Ein guter Alter, im besten Falle unter der Signatur „Naturgenie" bekannt, jedenfalls das Kind eines barbarischen Zeitalters, voller Verstösse gegen den guten Geschmack und die guten Sitten. (268)
Nietzsches Homerbild ist demnach als Versuch zu werten, die klassizistische Vorbildhaftigkeit angesichts wissenschaftlich wohlgemerkt berechtigter historisch-kritischer Auflösungstendenzen zu bewahren und die Wissenschaft selbst diesem Ziele zuzuführen. Wilamowitz hat dies auch später nicht gesehen, weil ihm Wolfs Klassizismus als unwichtigster, möglicherweise schädlichster Bestandteil philologischer Tradition galt, den die moderne Altertumswissenschaft zu ihrem Heile im Dienste des Fortschritts überwunden hatte. Auch ein modifizierter Klassizismus, der keiner mehr sein will, kommt um das Problem des Klassischen im Sinne des Kanonischen nicht herum. In einer zeitgenössischen Altertumswissenschaft, die bei Mommsen und Wilamowitz einsetzt, erkennt Nietzsche die Gefahr, den Begriff der Klassik auszuhöhlen und lediglich als Epochenbezeichnung zu erhalten. Bei Ritsehl fand er noch beides vereint. In dessen von Nietzsche genau verfolgter Vorlesung Historische Grammatik der lateinischen Sprache nebst Einleitung in die römische Epigraphik wird das übliche Modell der Literaturhistorie dargestellt, das auch für die römische Zeit eine archaische, eine klassische und eine sinkende Periode unterschied. „Der Begriff des Klassischen bildet dabei den Mittelpunkt." (GSA 71/54:4), d.h. den Maßstab gegenüber welchem die anderen Kategorien überhaupt erst Bedeutung erlangen. In diesem Begriff des Klassischen liegt noch eine wenig verhüllte normative Auffassung von Sprache und Literatur. Da jeder Sprache theoretisch unbegrenzte Massen an Material zur Verfugung stehen, so Ritsehl, kann Einheit (als Voraussetzung der Klassizität) nur durch Ausgrenzung erreicht werden. Zwar heißt es bei ihm zuallererst, dass es „in jeder Sprache eine Zeit" gebe, in der eine besonders adäquate Form entstehe. Klassisch ist diese Zeit aber, als Ausgleich „zwischen subjectiver Freiheit u. objectiver Notwendigkeit", auch durch ihre von zeitlicher Einbindung unabhängige Vorbildhaftigkeit (4f)438. Nietzsches eigene
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Die klassische Periode wird von Ritschl traditionell auch sprachlich durch „latinitas" und „urbanitas" definiert, d.h. durch das Heraushalten aller außeritalischen und außerrömischen sowie aller vulgären (im sozialen Sinne) Einflüsse. Die allzugroße Freiheit der Archaik ist gleichsam diszipliniert worden. Die Verfallsstufen sind dann durch Provinzialismen, etwa Gallizismen und
5.4. Nietzsche, Homer, Wilamowitz
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Vorlesung zur lateinischen Grammatik aus dem Wintersemester 1869/70 folgt dem Kolleg Ritschis zum Teil bis in den Wordaut: „Der Höhepunkt der Litteratur ist aber die k l a s s i s c h e Periode, der Zeit nach früher als die formale Vollendung. Die höchste Bildung eines Volkes schafft sich einen adäquaten Ausdruck im Stil, im Gepräge des Satzbaus, des Wortschatzes usw. [...] Der v o r k l a s s i schen Periode fehlt vor allem eine Einheit im Punkte des Geschmackes, eine für den Einzelnen verpflichtende Norm: daher lauter Experimente." (KGW 11.2:200).
Erst in seiner Geschichte der griechischen Uteratur, v.a. in deren interessantestem dritten Teil439, behandelt Nietzsche das Thema des Klassischen auf neue Weise. Nietzsches Hörer werden aufgefordert, sich den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der modernen Zeit, deren Bildung auf Lesen und Schreiben beruht, sowie der griechischen Kultur, welche Frucht einer im wesentlichen unliterarischen Bildung gewesen sei, vorzustellen. Die klassische griechische Literatur war, darin habe ihre Eigentümlichkeit gelegen, nicht für Leser oder für die Nachwelt gemacht, sondern hatte, statt eines idealen unbestimmten Publikums wie es der Idealismus noch angenommen hatte, ein konkretes, einmaliges vor Augen — oder besser vor Ohren440. Wer die klassische griechische Literatur von ihrem ursprünglichen Publikum, Anlass und künsderischem Kontext trenne und als reine Leseliteratur auffasse, verenge sie bis zur Unkenntlichkeit. „Gegen diese Verkennung muß nun die B e t r a c h t u n g sich richten: sie muß den Verband zwischen Dichtung Anlaß u. Publikum zeigen, sie muß den Zusammenhang mit den andern Künsten — den äußerst engen! — zeigen: d a r a u s e r g i e b t sich das Bild der u n l i t t e r a r i s c h e n B i l d u n g . " (KGW 11.5:278) Auf der unliterarischen Bildung ruht das unmittelbare ästhetische Urteil, das die Klassiker noch vor dem Zugriff von Literatur und Philologie erst zu Klassikern macht:
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Afrikanismen gekennzeichnet und gehen mit sozialem und politischem Verfall einher, da Rom als Zentralgewalt an Einfluss verliert (Blatt 6). Ediert für Band II.5 der KGW. Teil I und II wurden von Wintersemester 74 bis Sommersemester 75 gehalten, Teil III in Wintersemester 75/76. Für Nietzsche ist in Homers Zeiten und selbst später, als die Schrift sich schon durchgesetzt hatte, weniger die Literatur als der religiöse Kultus und die Festfeier, das Symposion und der Wettkampf Grundlage der griechischen Bildung, der griechische Leser bleibt immer „nur der s u b l i m i r t e H ö r e r " (11.5:278), der die Kunstprosa langsam, gleichsam mit den Ohren genießt. Er gleicht eher einem Musiker, der eine Partitur prüft und leise das Stück erklingen lässt. Überhaupt sei der Literaturbegriff zu sehr an den geschriebenen Buchstaben gebunden und verkürze damit ein Gebiet, das besser als Sprachkunst bezeichnet wäre. Nietzsche sieht sich mit dieser Erkenntnis einen Schritt weiter als Wolf, der die homerische Frage noch zu sehr an der Schrift ausgerichtet hatte — und nahm damit wesentliche Erkenntnisse und Debatten der Homerforschung des zwanzigsten Jahrhunderts vorweg. Die literarische Bildung der Neuzeit jedenfalls sei römischen Ursprungs, das sei ein Grund, warum die Griechen uns nicht sein können, was die Römer sind: „Man l e r n t nicht von den Griechen — ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um Imperativisch, um ,klassisch' zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je o h n e die Römer gelernt!..." (GD Was ich den Alten verdanke 2., 6:155).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Denn nicht das Lesen an sich u. ebenso wenig das Lesen von allem Beliebigen kann die Bildung schaffen; man würde diese Fertigkeit für unnütz oder für schädlich besonders in Hinsicht auf die große Masse halten müssen, wenn nicht der Maaßstab des L e s e n s w e r t h e n schon da wäre. Also: eine litterarische Bildung einer Zeit ruht auf der Anerkennung einer k l a s s i s c h e n L i t t e r a t u r als deren Grundlage. Nur in Hinsicht auf sie hat die F o r d e r u n g d e r L e s e n s S i n n . (275)
Erst das ursprüngliche ästhetische Urteil ermöglicht überhaupt Philologie. Vor aller Homer-Philologie war das ästhetische Urteil über Homer schon gefällt. Homer ist deshalb ein kanonischer Autor, weil er das ästhetische Erlebnis immer wieder zeitigt - nicht weil man an ihm philologische Theorien durchexerzieren kann. Nun aber kommt erst die Pointe. Denn Nietzsche wertet die Philologie dadurch nicht ab, im Gegenteil. Gerade weil das ästhetische Erlebnis so erschütternd ist, fordert es die Kritik — und damit die philologische Methode — heraus. Kanonisch und klassisch ist seit den Alexandrinern nicht, wie etwa Gadamer meint, jener Text, der der Kritik standhält^, sondern, und dahinter verbirgt sich eine folgenreiche Nuance, jener Text, welcher nach ihr verlangt. Klassisch ist der Text, der jener Philologie bedarf, die sich um ihn herum angelagert hat. „Ein großer Werth des Alterthums liegt darin, dass seine S c h r i f t e n die einzigen sind, welche moderne Menschen noch genau lesen."— so Nietzsche (IV 3[25]). Die Parallelen zu Friedrich Schlegel, der den klassischen Text häufig als denjenigen definiert hatte, der zyklisch studiert, d.h. gründlich wieder und wieder gelesen werden müsse442, ergeben sich wiederum aus der beiden gemeinsamen philologischen Tradition seit F.A. Wolf. Wie später Nietzsche richtet sich schon Schlegel gegen die gedankenlose Klassikerverehrung der ,Bildungsphilister'443. 441
„Es ist durchaus nicht so, wie die historische Denkweise glauben machen wollte, daß das Werturteil, durch das etwas als klassisch ausgezeichnet wird, von der historischen Reflexion und ihrer an allen teleologischen Konstruktionen des Geschichtsgangs geübten Kritik wirklich zersetzt würde. Das Werturteil, das im Begriff des Klassischen impliziert ist, gewinnt vielmehr an solcher Kritik eine neue, seine eigentliche Legitimation: Klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung, aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhält." (Gadamer, 3 1972:271)
442
Vgl. auch den Georg Vorster. „Es will verlauten: Wir hätten keine klassischen Schriftsteller, wenigstens nicht in Prosa. Einige habens laut gesagt: aber tölpisch. Andere wollen dem gemeinen Mann das Untere der Karten nicht sehen lassen, und reden leise. Wenn wir nur recht viel klassische Leser hätten: eklige klassische Schriftsteller, glaube ich, fänden sich noch wohl. Sie lesen; viel und vieles: aber wie und was? Wie viele gibt es denn wohl, welche, auch nachdem der Reiz der Neuheit ganz vorüber ist, zu einer Schrift, die es verdient, immer von neuem zurückkehren können; nicht um die Zeit zu töten, noch um Kenntnisse von dieser oder jener Sache zu erwerben, sondern um sich den Eindruck durch die Wiederholung schärfer zu bestimmen, und um sich das Beste ganz anzueignen? So lange es daran fehlt, muß ein reifes Urteil über geschriebene Kunstwerke unter die seltensten Seltenheiten gehören." (Schlegel, 1967ff, Bd. 2:79)
443
In Schlegels Gespräch über die Poesie wird die philologische Definition des Klassischen mit der utilitaristisch-philisterhaften Auffassung der „Engländer" konfrontiert, die ihre kritischen Grundsätze von Adam Smith bezögen: „so werde da auch jeder Schriftsteller, wenn er nur seine gehörige Zeit gelegen habe, zum Klassiker" (Bd. 2:289). Das Herumliegen ist offensichtlich der genaue Gegensatz der aktiven Aneignung durch die immer neue Lektüre. In „Vom Wesen der
5.4. Nietzsche, Homer, Wilamowitz
303
Zwar lässt sich die Auswahl, die im Begriff des Klassischen wie des Kanonischen liegt, durchaus als Kategorie der Wertsetzung beschreiben. Es gibt jedoch einen gewaltigen Unterschied zwischen einer absoluten Setzung einiger heiliger Bücher auf der einen und einer offenen Sammlung auf der anderen Seite, die nicht als Einschränkung, sondern Anregung von neuer Tätigkeit wirksam werden soll. Dieser letzte Begriff des Klassischen entspricht der ursprünglichen antiken Bedeutung des Kanonischen, das nicht, wie in der theologischen Tradition seit der Patristik einen unveränderlichen Textcorpus bezeichnete, sondern vielmehr einen normsetzenden Wertmaßstab, der immer auf Erweiterung und Fortschreibung ausgerichtet war (vgl. Assmann, 21999:112ff; Benne, 2004b). Der klassischkanonische Text lieferte dabei die Normen und Standards seiner Rezeption, den sog. Deutungskanon444, sowie seiner Weiterentwicklung gleich mit. Nach Aufgabe der Professur bleibt Nietzsche dieser Rolle der Philologie als Schafferin und Bewahrerin des Klassischen treu. Darin liegt nicht zuletzt ein Zugeständnis an Freund Rohde, der sich vom neuen, ganz und gar nicht ,zukunftsphilologischen' Ton Nietzsches seit Menschliches, All^umenschliches enttäuscht gezeigt hatte: E i n W o r t f ü r d i e P h i l o l o g e n . - D a s s es B ü c h e r giebt, so w e r t h v o l l e u n d k ö n i g liche, dass g a n z e G e l e h r t e n - G e s c h l e c h t e r gut v e r w e n d e t sind, w e n n d u r c h ihre M ü h e diese B ü c h e r rein erhalten u n d v e r s t ä n d l i c h erhalten w e r d e n , — d i e s e n G l a u b e n i m m e r w i e d e r z u b e f e s t i g e n , ist die Philologie da. Sie setzt v o r a u s , dass es a n j e n e n seltenen M e n s c h e n nicht fehlt ( w e n n m a n sie gleich nicht sieht), die so w e r t h v o l l e B ü c h e r w i r k l i c h z u b e n u t z e n w i s s e n : — es w e r d e n w o h l die sein, w e l c h e selber s o l c h e B ü c h e r m a c h e n o d e r m a c h e n k ö n n t e n . Ich w o l l t e sagen, die P h i l o l o g i e setzt einen v o r n e h m e n G l a u b e n v o r a u s - dass zu G u n s t e n einiger w e n i g e r , die i m m e r „ k o m m e n w e r d e n " Kritik" aus dem Jahr 1804 (Bd. 3:51-60) hatte Schlegel beklagt, dass die romantische Poesie, d.h. die Literatur des deutschen Mittelalters aus Mangel an Kritik in Vergessenheit geraten sei und zum Verlust der nationalen Poesie und Denkungsart gleichermaßen gefuhrt habe. 444 Vgl. Heydebrand (Hrsg., 1998, bes. die Zusammenfassung S. 612-625). Die Debatte um den Kanon ist zum Zentrum der Literaturwissenschaft geworden, denn auch der Streit um Theorien und Methoden ist seinem Wesen nach nichts anderes. Was die Literaturwissenschaft unter wechselnden Bezeichnungen methodisch betreibt, ist immer dasselbe: sie kritisiert und legt aus. Die Leistung der französischen Semiotiker vom Schlage eines Roland Barthes, um ein Beispiel zu nennen, war nicht die Begründung einer neuen Methode, sondern die Entdeckung neuer auslegenswerter — lesenswerter — Texte. Ebenso steht es um die derzeit aktuelle Kulturwissenschaft'. Einen sinnvollen Ansatz zum Umgang mit dem Problem des Kanons hat Gert Mattenklott entwickelt. Jeder Kanonisierung liege eine Erfahrung spontaner (ästhetischer) Intensität zugrunde, die im Nachhinein rationalisiert und legitimiert werde. Dass speziell der abendländische literarische Kanon relativ stabil und in seinem Kern unbestritten ist, lässt sich deshalb kaum mit platter politischer Einflussnahme begründen, denn es gebe keine institutionelle Grundlage für diese erstaunliche Kontinuität. Trotz aller soziologischer Bemühungen scheint es doch etwas mit der Qualität der Werke zu tun zu haben: „Der Kanon scheint Werke auszuzeichnen, deren formale Vollendung nicht mit einer Verringerung oder Verendlichung ihres Weltgehalts erkauft ist; deren Welthaltigkeit andererseits nicht mit dem Verlust der ästhetischen Souveränität bezahlt werden muß." (1991:357). Freilich sei jene Kritik am Kanon immer berechtigt, die von einer Neugier nach Leben und neuem Stoff getrieben sei und sich mit der kanonbildenden Macht die Wage halten muss, um die Erstarrung zu verhindern. Hinzuzufügen wäre eine einfache Tatsache: kanonische Werke bleiben schon allein aufgrund ihrer Rezeptionsgeschichte kanonisch, d.h. für die Auseinandersetzung verbindlich.
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
und nicht da sind, eine sehr grosse Menge von peinlicher, selbst unsauberer Arbeit voraus abzuthun sei: es ist Alles Arbeit in usum Delphinorum. (FW 2.102, 3:458f) 445
Das Lob der Philologie ist zweischneidig: der Philologe ist ja nicht selbst jener Dauphin446, er wird freilich auch nicht von vornherein ausgeschlossen — unverzichtbar für die kommende (geistige) Oberschicht bleibt er allemal. Dass in den Werken ab Menschliches, Allsymenschliches fast nur noch Lobeshymnen auf die Philologie zu finden sind, ist jedoch nicht primär Freundschaftsdienst. Das paradoxgegenläufige Verhalten des unzufriedenen Philologieprofessors, der erst nach Aufgabe seiner Tätigkeit die Philologie wieder für sich zu entdecken scheint, steht nicht im Widerspruch zur Konzeption der Zukunftsphilologie, sondern ist, wie nun gezeigt werden kann, eine ihrer direkten Folgen. Das Urmotiv der Zukunftsphilologie lag nicht im Einfluss Schopenhauers oder Wagners, sondern in Nietzsches Überzeugung, dass in der Philologie die wichtigste analytische Arbeit geleistet sei. Binnen kurzem würden die wichtigsten Textausgaben, versehen mit entsprechenden historischen Kommentaren, vorliegen. Die Gegenwart braucht nicht mehr nur Korrektoren. Obwohl noch viel zu tun bleibe, namentlich auf dem Gebiet der Literaturhistorie, ist das Altertum nicht unerschöpflich (z.B. KGW Ι Α ^ δ ί ) 4 4 7 . Nietzsche notiert die Diskrepanz zwischen Strenge der Methode und ihrer Fruchtbarkeit: „Die Macht einer strengen Methode ist immer noch selten unter Philologen. Nirgends wird solch ein Spiel mit Möglichkeiten getrieben. [...] Die dichtende Kraft und der schaffende Trieb haben das Beste in der Philologie gethan. Den größten Einfluß haben einige schöne Irrthümer erlangt." (399). Wer im Geiste der Bonner Schule erzogen ist, muss schnell frustriert werden, wenn er sich an größere Aufgaben wagt. Die geforderte mikroskopische Arbeit und genaue Lektüre ließ sich nur für kleine, überschaubare Gebiete durchhalten. Auf diese Weise gelangte man kaum jemals zu den Fragen, die Nietzsche eigentlich beschäftigten. In der Tragödienschrift versucht er gleichsam in einem benjaminschen Tigersprung jene Synthese zu erreichen, die den Weg zur Ergänzung und Fortführung des analytischen Zeitalters zeigen soll (vgl. Kap. 2.4.) Im engen Gelehrtenkreis gibt es nur geringe Ent-
445
Schon in der zweiten Uti^eitgemässen hieß es über den Philologen: „Indem er das von Alters her Bestehende mit behutsamer Hand pflegt, will er die Bedingungen, unter denen er entstanden ist, für solche bewahren, welche nach ihm entstehen sollen — und so dient er dem Leben." (HL 3, 1:265) Freilich, und da lag ja die Crux, könne Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden, sonst wird das Vergangene zur Gegenwart niedergezogen: „nur der, welcher die Zukunft baut" habe ein Recht „die Vergangenheit zu richten" (HL 6, 1:294).
446
Nietzsche spielt mit dem Ausdruck ad usum Delphini — zum Gebrauch des Dauphin, d.h. des französischen Kronprinzen bestimmt, womit besondere Ausgaben lateinischer Klassiker für den Sohn Louis XIV. gemeint waren. Zur Erinnerung: Nietzsche erkennt die erstaunlichen, gleichsam naturwissenschaftlich begründeten Einsichten der vergleichenden Sprachwissenschaften an und macht die komparatistische Methode auch für die Literaturgeschichte obligatorisch: „Die Gesetze der Litterargeschichte müssen sich durch Vergleichung ergeben." (I.4.:398).
447
5.4. Nietzsche, Homer, Wilamowitz
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faltungsmöglichkeiten - und das Bayreuther Publikum entspricht mitnichten seinen Idealvorstellungen. Andererseits hält Nietzsche die von der Philologie gefundenen Methoden für durchaus überlegen, bei aller Zeit und Energie, die sie kosten. Die Analyse muss auch in der Altertumswissenschaft auf neue Gebiete ausgedehnt werden, wie er und Rohde es bereits im Anschluss an Welcker, Usener oder Bernays beginnen, nämlich auf das Studium nichtschriftlicher Phänomene wie Kulte, Feste, Gebräuche usf. Gerade die Beschäftigung mit zeitgenössischer ethnologischer Literatur, die sich ähnlichen Aufgaben widmet, erinnert ihn an die Relevanz der philologischen Methodik und ihres Textbegriffs. Wenn in der Kernphilologie die rechtschaffene Analyse schon geleistet ist, so gilt dies noch lange nicht für Domänen, die über sie hinaus führen. Aus dem Versuch einer Selbstkritik zur Geburt der Tragödie erfährt man, dass diese Schrift das „Problem der W i s s e n s c h a f t " selbst dargestellt habe. Nietzsche findet hier kritische Worte und eine Galerie von Einwänden, die von Wilamowitz stammen könnten — und z.T. sogar von ihm stammen. „Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe: — bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiet beinahe Alles zu entdecken und auszugraben!" (KSA l:13ff). Auf die Metaphorik des Grabens, die zugleich an den in archäologischer Sache Reisenden wie an den Maulwurf denken lässt, sei hier nur noch am Rande hingewiesen. Die Phänomene, denen Nietzsche schon während seiner Philologenzeit sein Interesse zuwendet, kulturhistorische, anthropologische, ethnologische, moralund religionshistorische, sind so komplex, dass Untersuchungen auf diesen Gebieten wie zur Geburtsstunde der modernen Altertumswissenschaft wieder durch Methode legitimiert werden müssen. Das ist der Grund, warum er auf einen Diskurs der Methode und der guten Philologie zurückgreift, der in der philologischen Fachdisziplin schon aus der Mode gekommen ist. In dem ungleich schwierigeren Versuch, den ,Text' der Kultur zu entziffern, stürzt er sich in ein nie dagewesenes Lektüreprogramm aus allen möglichen Bereichen, an dem die Quellenforschung heute ihre Arbeit erst begonnen hat. Nietzsches eigentliche philosophische' Innovation besteht darin, Wolf, Bernhardy, Ritsehl oder Jahn ernst zu nehmen und bei einer Verbreiterung des Untersuchungsfeldes umso kompromissloser auf strenger (philologischer) Methodik zu bestehen. ,Philologie' definiert sich von nun an nicht mehr über ihr Objekt — obwohl die Pflege hervorragender Texte immer ihr Kerngeschäft ausmachen wird —, sondern über die Methode·, all dies wird in übertragenem Sinne zur ,guten Philologie', was in philologisch geschulter Weise bearbeitet wird. Die Einsicht in die Schwierigkeiten redlicher Erkenntnis außerhalb von schriftlichen Texten führt dann zur Interpretationstheorie. Nietzsche wird sich von nun an primär weder als Dichter noch als Philologe äußern, sondern ein einzigartiges Sprachamalgam aus künstlerischen und wissenschaftlichen Ausdrucksweisen schaffen.
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Nach 1878 äußert sich Nietzsche nur noch ein einziges Mal negativ über die Philologie. In der Göthen-Dämmerung wird die „Instinkt-Armuth der deutschen Philologen" beklagt, die etwa im Gegensatz zu Burckhardt die Relevanz des Dionysischen verkannt hätten und mit „der ehrwürdigen Sicherheit eines zwischen Büchern ausgetrockneten Wurms" agieren (GD Was ich den Alten verdanke 4, 6:158). Die Stelle findet sich unfern der überschwänglichen Feier Ritschis und richtet sich namentlich gegen Lobeck, einen Antipoden der Bonner Schule448, also nicht gegen jede Form der Philologie. Im Zarathustra-Kapite 1 „Von den Gelehrten" schließlich hat Nietzsche seinen Streit mit Wilamowitz verarbeitet. Besonders der Beginn scheint auf die Auseinandersetzung um die Geburt der Tragödie gemünzt zu sein: Als ich im Schlafe lag, da frass ein Schaf am Epheukranze meines Hauptes, — frass und sprach dazu: „Zarathustra ist kein Gelehrter mehr." Sprach's und gieng stotzig davon und stolz. Ein Kind erzählte mir's. Gerne liege ich hier, wo die Kinder spielen, an der zerbrochnen Mauer, unter Disteln und rothen Mohnblumen. Ein Gelehrter bin ich den Kindern noch und auch den Disteln und rothen Mohnblumen. Unschuldig sind sie, selbst noch in ihrer Bosheit. Aber den Schafen bin ich's nicht mehr: so will es mein Loos - gesegnet sei es! Denn diess ist die Wahrheit: ausgezogen bin ich aus dem Hause der Gelehrten: und die Thür habe ich noch hinter mir zugeworfen. Zu lange sass meine Seele hungrig an ihrem Tische; nicht, gleich ihnen, bin ich auf das Erkennen abgerichtet wie auf das Nüsseknacken. Freiheit liebe ich und die Luft über frischer Erde; lieber noch will ich auf Ochsenhäuten schlafen, als auf ihren Würden und Achtbarkeiten. Ich bin zu heiss und verbrannt von eigenen Gedanken: oft will es mir den Athem nehmen. Da muss ich ins Freie und weg aus allen verstaubten Stuben. (Za II 4:160ff)
An dieser Stelle ist nicht die Selbstdeutung Nietzsches interessant, die ohnehin fragwürdig bleiben muss: Zarathustra ist nicht Nietzsche bzw. ist es so wenig wie
448
Vgl. z.B. einen Brief von Jacob Bernays in Henrichs (1986:224). Christian August Lobeck, der v.a. in Königsberg gewirkt hatte und 1860 gestorben war, stammte interessanterweise aus Naumburg, wo sein Vater Rektor an der Domschule gewesen war, die bekanntlich auch Nietzsche besuchte. Lobeck führte die Hermann-Schule am kompromisslosesten weiter. Eine universale Altertumwissenschaft im Sinne Wolfs, Boeckhs und selbst Ritschis strebte er nicht an. Mit Werken wie De morte Bacchi von 1810 oder anderen religionshistorischen Abhandlungen machte er der romantischen Tradition Creuzers Konkurrenz und musste auch Nietzsches, Bernays' oder Useners Vorstellungen von altertumswissenschaftlicher Religionsgeschichte ablehnen. Auf grammatischem Gebiet war er so traditionell, dass er die selbst in der Ritschl-Schule noch berücksichtigte neue vergleichende Sprachforschung ganz aussparte. (Informationen zu Lobeck z.B. in ADB, Bd. 19 und NDB, Bd. 14) Nietzsche will wohl deutlich machen, dass seine philologiefreundlichen Äußerungen, seine Feier Ritschis etc. nicht im Widerspruch zu den frühen zukunftsphilologischen Entwürfen stehen. Bei aller Unzeitgemäßheit möchte er nicht mit einem genuin veralteten Paradigma verwechselt werden.
5.4. Nietzsche, Homer, Wilamowitz
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Goethe Wilhelm Meister ist449. Interessant ist vielmehr, dass selbst im Kosmos des Zarathustra den Philologen - die Metaphorik zeigt, dass es bei den „Gelehrten" vornehmlich um sie geht - wenigstens die Fähigkeit des Erkennens zugestanden wird. Zarathustra ist als Missverstandener aus dem Kreis der Gelehrten getreten. Dem Lebensinhalt und den äußeren Würden des Gelehrtentums gewinnt er nichts ab. Er kann dann kein Gelehrter sein, wenn ihm die eigenen Gedanken den Atem nehmen - so darf man die Flucht aus den „verstaubten Stuben" deuten. Dies bedeutet jedoch die Anerkennung der Leistungsfähigkeit der Philologie, sofern es sich um die Auseinandersetzung mit fremden Gedanken handelt. Nietzsches Schriften nach dem Zarathustra haben diesen Gedanken systematisiert, indem sie eine bestimmte Form der philologischen Methode in einer Art privilegierten, die in den achtziger Jahren bereits auf fast anstößige Weise anachronistisch geworden war. Durch die metaphorische Weiterverwendung philologischer Termini, Denkstrukturen und Selbststilisierungen demonstriert Nietzsche hier wie andernorts einmal mehr, dass für ihn die Philologie ihren Wert zuallererst als Instrument in der Hand des freien Geistes behält. Nietzsche hat dem Gelehrtenstand endgültig den Rücken gekehrt — aber damit nicht unbedingt allen Leistungen der Gelehrsamkeit. Die Philologie hat die ihr gemäße Domäne. Man darf sie getrost verlassen; aber wer dies tut, handelt auf eigene Gefahr.
5.5. Niedergang der Kritik Nietzsches Singularität am Ende des neunzehnten Jahrhunderts haben wir hinsichtlich seiner Auslegungstheorie und der periodischen Anrufung intellektueller Redlichkeit bisher durch sein Festhalten an frühromantisch modifizierten Prinzipien der Aufklärungshermeneutik erklärt. Sein Sensorium für die Krise der Philologie hieß ihn ferner nach einem Ausgleich zwischen Klassizismus und Historismus im Sinne F.A. Wolfs streben, einem Weg zwischen künsderischer und harter kritischer Aneignung der Antike, dem, wie so vielen dritten Wegen, nur wenige zu folgen wagten. Dass Nietzsche und sein wahrer wissenschaftshistorischer Standort von der Zunft selbst so gründlich missverstanden worden sind, lässt sich gewiss nicht nur darauf zurückführen, dass spätestens seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fast alle Lehrstühle zumindest der Gräzistik mit Wilamowitz-Schülern besetzt waren. Schuld an der partiellen Blindheit hat dagegen — bis heute — ein ungleich grundlegenderer Prozess des Paradigmenwechsels: die Wirkung Wilamowitzens gehört lediglich zu seinen Symptomen.
449 w i e dieser ist Zarathustra wohl eher ein „Armer Hund" (so Goethe über seinen missverstandenen Protagonisten; zit. nach HA Bd. 7:619), an dessen Exempel und Bildungsgang Verschiedenes demonstriert wird.
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Die Rede ist vom Niedergang der philologischen Kritik, in ihrer umfassendsten Bedeutung. Aus den ursprünglichen Fundamentaldisziplinen der philologischen Enzyklopädie wird sie im Laufe der Zeit schrittweise hinausgedrängt. In dem Moment, da sie an der Universität und in der Gesellschaft an Bedeutung verliert, erweisen sich Nietzsches weiterdichtende und versteckte Huldigungen an ihren Geist in der Tat als aggressiv unzeitgemäß und kompromisslos nicht nur gegenüber dem wissenschaftlichen Zeitgeist. Wofür Nietzsche zu stehen hatte, war für die Philologen bald eine ausgemachte Sache. Besonders die vergleichsweise junge Germanistik hat sich, wiederum aus fachinternen Gründen, auf wissenschaftshistorischen Gebiet ihren Nietzsche zurecht gemacht. Mit den Folgen haben wir noch immer zu tun. Als zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts der alte, an den Universitäten verankerte Gelehrtenstand, der im Reich so fest etabliert wie nirgends sonst war, von der neuen bürgerlichen Intelligenz herausgefordert wurde und stark an Prestige verlor, bedurfte es durchgreifender Maßnahmen zu seiner Rettung. Der Neuhumanismus war eine dieser Maßnahmen, die dem vom Prestigeverlust der Gelehrsamkeit besonders betroffenen Philologenstand (bzw. seinen Vorläufern) Meinungsführerschaft verschaffen sollte. Damit einher gingen verschärfte Aufnahmebedingungen in seine Welt — die Habilitation setzt sich durch, das Seminar wird institutionalisiert. Von entscheidender Bedeutung wurde jedoch der Methodenkult. Als Teil der Professionalisierung traten Kompetenz und Expertise an die Stelle der traditionellen Erudition; die neuen Zeitschriften versuchten auf dieser Grundlage (methodische) Dilettanten vom wissenschaftlichen Gespräch auszuschließen. Die Kritik, besonders die Textkritik, wurde deshalb zur Grundlage und zum neuem professionellen Standard. An ihrer methodischen Stringenz hatten sich Fächer und Fachleute zu messen. Der beabsichtigte Effekt der Trennung von Experten und allgemeinem Publikum, das an den Entwicklungen des Faches keinen Anteil mehr haben konnte, wurde erreicht; erst die Kritik führt die Philologie zu ihren großen Erfolgen. Bestand Kritik zunächst (in Anlehnung an bereits im achtzehnten Jahrhundert und davor entwickelte Traditionen) in der skeptischen Bewertung von Quellen, d.h. ihrer Konsistenz, Verlässlichkeit und Echtheit, so kam nun, verstärkt durch den Einfluss der Romantik (aber nicht damit identisch), die Divinatorik hinzu. Die historische Bewertung der Überlieferung verband sich mit der gewissermaßen schöpferischen Nach- und Mitdichtung auf der Grundlage riesigen Kollationsmaterials, das in genealogischen Zusammenhang gebracht worden war. Das subjektive Element wurde dadurch abgesichert, dass die Kritik gleichzeitig zum Modell intellektueller Rechtschaffenheit schlechthin avancierte — ohne dass sie zum reinen Positivismus gerann, denn das subjektive Element sollte ja nicht verleugnet, sondern nur in die rechte Bahn geleitet werden. Steven R. Turner, von dessen glänzender kleiner Studie (Turner, 1983) diese Ausführungen ihren Ausgangspunkt genommen haben, nennt neben Lachmann Friedrich Ritsehl als Protagonisten einer Kritik, die zum definitori-
5.5. Niedergang der Kritik
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sehen Mittelpunkt der neueren Philologie sowie zugleich jener bürgerlichen Schichten wurde, die sie hervorgebracht hatte. Um Nietzsches Ort in der Wissenschaftsgeschichte zu bestimmen bzw. jene Wissenschaft zu identifizieren, die er philosophisch und schriftstellerisch fruchtbar machte, müssen Turners Einsichten über die von ihm gewählte Periode hinaus weitergedacht werden. Die oben ausgeführte Krise der Philologie, die sich in Nietzsches Studienzeit zuspitzt, ist die Krise jener Kritik, die Turner als fachbegründendes Moment der ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts beschrieben hat. Als einendes Band hatte sie ihre Rolle erfüllt und damit gleichzeitig ausgedient. Das historische Eindringen in das Altertum hatte zu viele Facetten gezeitigt, die sich nicht auf Kritik reduzieren lassen wollten450. Die teilweise berechtigte Klage über die verengende Perspektive der Kritik — eine Kritik, die ihrerseits erst durch die kritische Schulung selbst möglich geworden war — setzte freilich einen Prozess in Gang, der sich für die Entwicklung der Philologien sowie der literaturwissenschaftlichen Auslegungstheorie als verhängnisvoll erweisen sollte. Kritik und ,Methode' wurden nicht allein in die ihr angemessenen Schranken verwiesen, sondern in einem Maß marginalisiert, dass sich die betroffenen Wissenschaften bis heute nicht davon erholt haben, sondern spätestens seit dem Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts permanent an Krisenerscheinungen und Selbstzweifeln laborieren. Nachdem in August Boeckhs allzu spät publizierter Enzyklopädie noch einmal die Abgrenzung und gegenseitige Bedingtheit von Kritik und Hermeneutik auf ihren (zu dieser Zeit schon anachronistischen451) Höhepunkt gekommen war (vgl. Boeckh, 21886), geriet die Kritik gegenüber der Hermeneutik immer weiter ins Hintertreffen. Als Bestandteil der allgemeinen Auslegungstheorie wurde sie bald nach Boeckh fallengelassen (Pflug, 1975). Die Gründe, die sich dafür nennen lassen (vgl. ebd.), sind ebenso vielschichtig wie undurchsichtig. Die Kritik lässt sich, wie erwähnt, immer schwerer auf die neuen Gebiete der Archäologie oder Mythologie übertragen. Ferner zeigte sich, dass die verschiedenen Ausprä450
451
Wilamowit2 in den Urinnerungen über seine Reise nach Griechenland: „Ich nahm von dieser Reise die Uberzeugung mit, daß die Archäologie als die Wissenschaft von aller monumentalen Uberlieferung, einschließlich dessen, was die ganze Natur des Landes lehrt, an Bedeutung der alten allein auf Sprache und Literatur gerichteten Philologie mindestens gleichwertig ist, aber als bloße Kunst- oder gar Künstlergeschichte noch unzureichender als die alte Grammatik." (1928:218) Das ist der wohl wichtigste Grund für die geringe Wirkung Boeckhs in der philologischen und literaturwissenschaftlichen Tradition. Wilamowitz' Gedächtnisrede aus dem Jahr 1910 (Wilamowitz-Moellendorff, 1972a) ist dementsprechend ambivalent. Auf Boeckh habe der „Platoniker Schleiermacher" am stärksten gewirkt: „Gewiß repräsentiert Mommsen den Fortschritt der Wissenschaft über Boeckh, und es darf nicht verschleiert werden, daß er sich gegen Boeckh durchsetzen mußte [...]" (S. 50). Weiter heißt es: „Die Tiefe der Auffassung und auch die Definitionen der Philologie und ihrer Teile befriedigen uns nicht mehr. Das Individuelle und vollends das Unbewußte, das doch auch erfaßt werden muß, wenn man fremdem Seelenleben nachkommen will, kommt bei dem mathematisch gerichteten Platoniker nicht zu seinem Rechte [...]" (52).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
gungen der Textkritik zu von einander abweichenden Resultaten führten — ihrem Anspruch auf Strenge und Objektivität kam dies nicht zugute. Die Gattungskritik begann eigene Wege zu gehen; eine allgemeine Gattungslehre schien in weite Ferne zu rücken. Anstoß ist also die stärkere Historisierung und kulturwissenschaftliche Verbreiterung der Altertumswissenschaft insgesamt gewesen — ein Ansatz, der das Verständnis der alten Welt im Sinne des Überbrückens des Zeilenabstandes und damit die Hermeneutik zu Ziel und Mittel wählte. Nietzsche, der einige der schärfsten Attacken gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der Kritik geführt hatte, erkannte gleichwohl die Gefahren, die in ihrer völligen Aufgabe lagen und wendet sich ihr auf neue Weise wieder zu. Wilamowitz, selbst noch in ihrem Geist großgeworden, hatte sich ihre Überwindung vorgenommen. Im Unterschied zu Tradition von Winckelmann bis Nietzsche betont Wilamowitz nicht den Abstand der modernen zur klassischen Welt, sondern die Gemeinsamkeiten; der Grieche ist ihm „Mensch wie Du und Ich" (Calder III, 1991:348). „Der methodische Inbegriff aller philologischen Wissenschaft", so Werner Jaeger über das Credo seines Lehrers in seiner Gedächtnisrede von 1932, „wird ein tief in historische Anschauung getauchtes Verstehen, wird Interpretation. Im Grunde ist alles, was Wilamowitz getrieben und geschrieben hat, Interpretation, seine Werke sind mit wenigen Ausnahmen erklärenden Inhalts. Das neue Ideal der Interpretation tritt vertiefend und erweiternd zu der alten Philologie der bloßen Observanz, Emendation und Edition. Das Verstehen ist die unendliche Aufgabe, durch die die historische Altertumswissenschaft eigentlich erst zur Geisteswissenschaft wird." (21960:218). War die Historik eines Droysen noch der Dialektik von Hermeneutik und Kritik verpflichtet, führte der Einfluss Hegels schon über Boeckh, den Droysen ebenfalls gehört hatte, hinaus452. Im Zuge der disziplinären (institutionellen wie internen) Verfestigung der Naturwissenschaften oder neuerer Fächer wie der Soziologie sowie ihrer immer weiteren Spezialisierung hatten sich eben diese vergleichsweise jungen Fächer, wie schon Dilthey erkannte, bald vom Herrschaftsanspruch der Fakultät Kants und damit der Leitung durch die Philosophie befreit. Diltheys grundlegende Reflexionen zielen in kantianischer Manier auf die
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Droysen unterscheidet verschiedene Arten von Kritik: die Textherstellung der Philologen, die ästhetische Beurteilung der Kunstkritiker und die spekulative Untersuchung Kants. Gemeinsam sei allen die „Sichtung und Untersuchung eines Gegebenen oder Getanen" ( 3 1967:92). Die Interpretation ist bei ihm die Kunst, die noch vorhandenen und überlieferten Materialien wieder zum Reden zu bringen, jedenfalls keine simplistisch-kausale Verknüpfung derselben. Gegen die Philologen setzt er sich kritisch ab, da sie mit der Bereitstellung des Materials ihre Aufgabe meist schon als beendet ansehen würden (vgl. 155f). Bedenkenswert ist der Umstand, dass die Historik noch heute weit verbreitet ist und sogar in mehreren Ausgaben vorliegt. Sie gehört zur Grundausstattung jedes Geschichtsstudenten; kein Handbuch zur Einführung in die historische Arbeitsmethodik kommt ohne sie aus. Philologische Enzyklopädien sind dagegen ganz aus der Ausbildung zumindest der neuphilologischen Fächer verschwunden.
5.5. Niedergang der Kritik
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Neubestimmung der Beziehungen der Wissenschaften untereinander ab453. Sein Konzept der Geisteswissenschaften entspricht jedoch nicht dem ausschließlich hermeneutisch-historischen Paradigma, als das es später immer wieder aufgefasst wurde454. Erst der spätere Neukantianismus fuhrt eine wirklich strenge Trennung der Kultur- und Naturwissenschaften durch (s. Rickert, 1986). Der historischkritischen Philologie war in der Neuausrichtung der Geisteswissenschaften freilich, wenn sie nicht wie bei Croce in Bausch und Bogen abgelehnt wurde455, in
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„Die Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben, suchen angestrengter als je zuvor geschah ihren Zusammenhang untereinander und ihre Begründung." (Dilthey, 1883:4). Kant, von dem Dilthey ausging, hatte noch die untere, d.h. die philosophische Fakultät als einzig freie Fakultät definiert, die aufgrund ihrer Freiheit in der Lage ist, die oberen Fakultäten zu kontrollieren. Er hatte sie in zwei „Departemente" eingeteilt, von denen das eine der historischen Erkenntnis verschrieben ist — dazu gehört neben Geschichte auch Geologie und Sprachwissenschaft, alle Humaniora und selbst das „was die Naturkunde von empirischem Erkenntniß darbietet". Daneben stehen die reinen Vernunfterkenntnisse, reine Mathematik und reine Philosophie, Metaphysik der Natur und Sitten. Diese Fakultät stehe deshalb über allen anderen (Kant, 1917:27ff) — eine Anmaßung die am Ende des 19. Jahrhunderts schnell zerbröckelte. Dilthey will laut seiner Vorrede zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) den Historismus mit der modernen Bewusstseinsphilosophie, d.h. mit Erkenntnistheorie und Psychologie verbinden. Er wendet sich bekanntlich gegen die Übertragung naturwissenschaftlicher Methodik auf historische Fächer, macht aber gleichzeitig deutlich — und das ist gern übersehen worden —, dass die empirische Methode an sich für jede Wissenschaft gilt. Er ist jedenfalls weniger schematisch gewesen als seine späteren Anhänger, denn „die Thatsachen des geistigen Lebens [sind] nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt." (6); die Bezeichnung ,Geisteswissenschaften' empfand er entsprechend als Verlegenheitslösung. Die wissenschaftshistorische Leistung der Philologie erkannte er an: „Wie die Naturwissenschaften in einer rapiden Entwicklung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sich konstituierten, so ist auch eine Periode mäßigen Umfangs, die Wolf, Humboldt, Niebuhr, Eichhorn, Savigny, Hegel und Schleiermacher, Bopp und Jakob Grimm umspannt, für die Geisteswissenschaften grundlegend gewesen. Wir müssen den inneren Zusammenhang dieser Bewegung zu erfassen suchen. Ihre große methodische Leistung lag in der Fundierung der Geisteswissenschaften auf die geschichtlich- gesellschaftlichen Tatsächlichkeiten. Sie ermöglichte eine neue Organisation der Geisteswissenschaften, in welcher Philologie, Kritik, Geschichtsschreibung, Durchführung der vergleichenden Methode in den systematischen Geisteswissenschaften und Anwendung des Entwicklungsgedankens auf alle Gebiete der geistigen Welt zum ersten Male ein inneres Verhältnis zueinander bildeten. Das Problem der Geisteswissenschaften trat damit in ein neues Stadium, und jeder Schritt zur Auflösung dieses Problems, der getan ist und weiter getan werden muß, ist von der Vertiefung in diesen neuen tatsächlichen Zusammenhang der Geisteswissenschaften abhängig, in dessen Rahmen alle späteren geisteswissenschaftlichen Leistungen bis heute fallen." (Dilthey, 1970:108).
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Auf Stoff- und Motivgeschichte etwa, klassische Domänen der philologischen Tradition, wollte Dilthey keinesfalls verzichten (Frenzel, 4 1978:6f) Croces heftigste Attacken zielten auf die historisch-kritische Quellenforschung. Ihr Vertrauen auf die Quellen sei nicht nur naiv, sondern doppelt absurd: wenn die strenge Methode wirklich radikal angewendet werde, gebe es keine Zeugen, die nicht ihrerseits wieder angezweifelt werden können. Diese Art Historie negiere sich also immer wieder von selbst und Geschichtsschreibung werde unmöglich. Andererseits ließen sich für die Verteidigung jeder Sache intelligente Männer finden; nicht einmal Berichte von Wundern könnte die philologische Methode ablehnen, wenn sie sich auf dieselbe Evidenz wie z.B. Friedensverträge stützten: „Pour eviter d'admettre l'inconcevable et pour ne pas reduire l'histoire au neant, apres avoir aneanti les temoignages, il ne reste qu'un moyen: recourir ä la pensee qui reconstruit l'histoire de l'interieur,
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
erster Line eine dienende Rolle zugedacht, etwa als Materiallieferantin der wahren geschichtlichen Betrachtung. Ihre an sich mustergültige Methode taugte aus Diltheys Sicht nur zur vorbereitenden Zurechtlegung der Tatsachen. Als Geisteswissenschaft hatte sich die alte Philologie freilich nie verstanden. Sie wird es erst durch Konzentradon auf Hermeneutik und in Absetzung von der durch die ,Methode' geprägten Kritik. Wilamowitz berichtet in seinen .Erinnerungen von der Zeit, als die Gefahr bestand, die noch von Wolf und Boeckh geforderte Einheit der Altertumswissenschaft zu verlieren und, deutlich gegen Ritsehl gerichtet, „Philologie zur Textkritik zusammenzuschrumpfen" begann: „Damals erscholl das Lob der philologischen Methode, meist als Selbstlob; hurtig wie nie drehte sich die Mühle der Produktion; es schien aber oft mehr auf das Mahlen anzukommen als auf das Mehl." Diese Zeit sei heute überwunden — zwischen den Zeilen klingt der Stolz, zu den Überwindern gehört zu haben. Die „rechte Erbin" von Konjekturalkritik und „Archetypus-Diplomatik" sei daher die „Kunst des individuellen Verstehens" (1928:301 f). Wilamowitz ist Produkt und zugleich Mitschöpfer des mächtigen Zeitgeistes am Ende des alten und Beginn des neuen Jahrhunderts, für den die Namen Dilthey oder Croce nur die berühmtesten sind (vgl. auch Oehler, 1979). Wilamowitz ist keineswegs, wie es noch häufig getan wird, dem Positivismus zuzuordnen; nur äußerlich gleicht seine Methode der Sammelwut, wie sie vor allem die Germanistik jener Jahre charakterisiert. An Erkenntnistheorie ist er gleichfalls kaum interessiert gewesen, und seine Forderung nach Vorurteilslosigkeit der Wissenschaft stammt noch aus der Hermannschen Tradition der intellektuellen Redlichkeit, nicht dem Ideal exaktester Naturforschung. Das letzte Ziel seiner Arbeit blieb immer das Verständnis der ,Seele', des Individuellen, die biographisch-psychologische Interpretation des Erlebnisses (vgl. Landfester, 1979). Der Niedergang der Kritik ist ein langsamer, in ungleicher Geschwindigkeit verlaufender Prozess. Noch Wilamowitzens Göttinger Kollege und Bewunderer Friederich Leo definiert ganz traditionell die Gabe zur Philologie als seltene Kombination von kritischem Sinn für Sprache und Ästhetik gleichermaßen, der mit positivem Wissen supplementiert werden müsse (Poulsen, 1946:77f). Wilamowitz selbst ist nicht zuletzt durch Textausgaben bekannt geworden. Seine breite Wirkung konnte er nur entfalten, weil er an Welcker, Boeckh, Wolf und Mommsen anknüpfte ohne Hermann völlig aufzugeben. Noch sein Schüler Jaeger vertritt im Vortrag Philologie und Historie von 1914 die Auffassung, dass es die Philologie und ihre Methode waren, die das Studium der Historie wissenschaftlich gemacht haben und es deshalb absurd sei, Historie und Philologie zu trennen456. Jaeger und Wilamowitz sind sich jedoch darin einig, dass es keinen ge-
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qui se temoigne ä elle-meme et nie ce qui est impcnsable simplement en ne le pensant pas." (1968:190) Bei dem Vortrag handelt es sich um Jaegers Basler Antrittsvorlesung; sie steht also in direkter Verbindung zu Nietzsches Homer-Vortrag. Der einzig wirklich entscheidende Unterschied zwischen Historie und Philologie sei die Sprache: der Philologe habe einfach bessere Sprachkennt-
5.5. Niedergang der Kritik
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schlossenen Kanon philologischer Methodik mehr gibt, sondern genauso viele Methodologien wie Philologen. Mit dem Verlust der methodischen Besonderheit geht die Philologie deshalb in der Geschichtswissenschaft auf und wird zu einer zeitlich und regional eingegrenzten Unterdisziplin derselben. Mindestens ebenso einflussreich wie Wilamowitz beim Umbau der Philologie war Hermann Usener. Als treuer Schüler Ritschis ist er der beste Beleg für den mächtigen Sog des Paradigmenwechsels. Sein Vortrag über Philologie und Geschichte von 1882 ist ein besonders aufschlussreiches Dokument der zahllosen Versuche zur Neudefinition des Faches nach dem endgültigen Sieg von Historismus und Interpretation über Klassizismus, Lektüre und Methode. In seiner wissenschaftshistorischen Übersicht stellt er ganz traditionell die Polyhistorie als Gegnerin wahrer Wissenschaft auf, die erst durch Bentleys kritische Methode überwunden worden sei: „nur die volle und genaue Kenntnis der alten Literatur, gestützt durch scharfe Prüfung antiker Zustände, konnte den Blick für die Verschiedenheit des Stils und der Denkart der verschiedenen Zeitalter in dem Grade schärfen, daß Echtes und Unechtes sich in ihm mit solcher Sicherheit schied." (Usener, 1969:14). Scharfsichtig erkennt er, dass erst in Deutschland das Studium des klassischen Altertums zu einer geschlossenen philologischen Wissenschaft zusammengefasst werden konnte, da hier die wiedererweckte klassische Literatur „auf religiös gestimmte Gemüter" (ebd.) gefallen sei und eine Verbindung mit dem reformatorischen Erbe einging, d.h. einerseits dem Imperativ, auf die unverfälschte Schrift zurückzugehen, sowie der protestantischen Ausbildungstradition
nisse und wisse mehr über Stilperioden u. dergl.; Schrift und Literatur seien deshalb seine Hauptarbeitsgebiete, anders gesagt: Philologie beschränke sich stärker. Geschichte habe mit dem „Geschehenen" zu tun, mit dem „Gewesenen" dagegen nur illustrativ. Diese Kulturäußcrungcn gehörten v.a. zur Philologie. Das „Geschaffene", also etwa die Literatur, werde von ihr nicht nur als Quelle, sondern auch als höchstes Ziel und Ideal aufgefasst. Es gebe mithin einen Unterschied zwischen Texten als Erkenntnismittel (Historie) und Erkenntnisziel (Philologie). Aus diesem reziproken Verhältnis von Historie und Philologie spricht ein neues Selbstbewusstsein der Philologie, die sich nicht als bloße Hilfswissenschaft verstehen will. Die wichtigste Aufgabe der Philologie sei es, klassische Werke in ihrer Vorbildhaftigkeit zu bewahren (Jaeger, 2 1960:1-16). Jaeger erinnert damit an Nietzsches Ausdruck von der „Götterbotin". Ihm gelingt eine neuartige Synthese zwischen dem Historismus seines Lehrers und dem klassi2istisch-humanistischen Auftrag, der nicht wenig an Nietzsche erinnert. Nicht umsonst war er einer der wenigen Philologen, die Kontakt zum Weimarer Nietzsche-Archiv hielten und die sich, revolutionär für Schüler von Wilamowitz, für Nietzsche interessierten. Die andere bedeutende Gestalt in diesem Zusammenhang, Wilamowitz-Schüler auch er, war Karl Reinhardt. Dem George-Kreis verbunden und Protagonist der Geistesgeschichte, war er dennoch methodisch strenger Philologe, dabei ein glänzender Stilist und Schriftsteller. Aufschlussreich in unserem Zusammenhang seine Beurteilung der berühmten, von Jaeger organisierten Tagung über das „Problem des Klassischen und der Antike" in Naumburg 1930, dem bewusst gewählten Ort Nietzsches. Reinhardt lobt hier Rohde und Nietzsche, trotz seiner Skepsis gegenüber dessen eigentlichen philologischen Leistungen. A u f der anderen Seite relativiert er die Bedeutung von Wilamowitz trotz dessen überragender Wissenschaft. Er sei der letzte große Vertreter des Historismus gewesen, über den Rohde und Nietzsche offensichtlich hinausreichen. Zum zeitverzögerten Einfluss Nietzsches auf die klassische Philologie s. Cancik/Cancik-Lindemaier (1999:231-249).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
andererseits, derzufolge jeder Geistliche zur selbständigen Auslegung der Schrift befähigt werden musste. Für Usener, der sich mehrfach auf Friedrich Schlegel beruft, ist Winckelmann Ausgangspunkt der neueren Kunstwissenschaft, Archäologie, Philologie und Historie: „Zum ersten Male waren hier auf ein Gebiet schöpferischer Tätigkeit die Gesetze des organischen Lebens angewendet. Das Kunstwerk entsteht nicht allein durch einen bloßen Willensakt dergestalt, daß sein Wert nur in dem Maße technischer Virtuosität beruhte, sondern es ist die Formgebung zugleich abhängig von der gesamten geistigen Strömung, dem Geschmacke der Zeit." (16) — ohne dass Usener es ausspricht, folgt daraus die Forderung nach der geschichtlichen Interpretation des Kunstwerkes. Die Logik dieser Art von historischer Aneignung ist so unerbittlich, dass sie sich letztlich gegen die Versuche der Enzyklopädieverfasser seit Wolf und Boeckh durchsetzt, das Fach begrifflich-methodisch einzudämmen. Besonders der Fortschritt der historischen Erkenntnis, das Eingeständnis, dass die Antike keine so schöne Einheit bilde wie lange geglaubt, die Einsicht in den orientalischen Einfluss auf die Griechen (kein Volk, selbst das begabteste nicht, lasse sich isoliert betrachten) sowie die Erweiterung des Geschichtsbegriffs, die Erkundung der Vorzeit, die Ethnologie und Anthropologie ließen enzyklopädische Konstruktionen unmöglich werden und zufällig erscheinen: „Schon der Schüler weiß es heute aus hundertfältiger Erfahrung, wie selbst das allernächste Verständnis der konkreten Erscheinung oft erst gewonnen werden kann nach Ablegung der Scheuklappen, die sich der Philologe sonst gerne links und rechts vor seine Augen band." (21) Usener verwirft die Möglichkeit der Begründung der Philologie auf der Hermannschen Schule, nämlich der Herstellung, Exegese und Kritik der Klassiker, da Hermann der Sinn für die organische Geschichtsbetrachtung gefehlt habe (wie sie in der Folge Winckelmanns ja von der Altertumswissenschaft auch weit in die Tradition der deutschen Literatur, bis zu Lessing, Goethe oder Humboldt reicht). Erst Hermanns größtem Schüler, Ritsehl, sei es gelungen, Boeckhs Forderung nach Reproduktion mit der Erhaltung und Herstellung der Denkmäler zu verbinden. Wie bei Wilamowitz oder Jaeger spielt nun freilich auch bei Usener die Grammatik, d.h. die genaue Sprachkenntnis, eine im Vergleich zur Kritik immer stärkere Rolle als Gegenspielerin der Hermeneutik. Nicht die Kritik soll die Interpretationen mehr im Zaum halten, sondern der „grammatische Takt"; er allein, die enge Verzahnung von Form und Inhalt eingeschlossen, hebe die philologische Auslegungskunst von der juristischen oder theologischen ab. Zwar dürfte sich die „meisterhafte divinatorisch-kritische Restitution" eines literarischen Werkes ebenso wie die kongeniale, abgerundete Interpretation Kunstwerk nennen (27), das sprachliche Interesse bleibt aber bestimmend: „Philologie ist also eine Methode der Geschichtswissenschaft, und zwar die grundlegende, maßge-
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bende. Denn nur sie besitzt in ihrer Kenntnis der sprachlichen Form die letzte Gewährleistung für das richtige Verständnis des Überlieferten." (29)457 Bei Usener sind Quellenkunde, Grammatik und Metrik Kernfächer der Philologie, vorausgesetzt, dass sie historisch fruchtbar gemacht werden können. Indem er die Philologie der Ritschl-Schule auf alle historischen Gebiete ausweitet, vollzieht er im Rahmen der Wissenschaft letztlich dasselbe, was Nietzsche in seinen Werken essayistisch und metaphorisch durchgeführt hat: In d e r T a t w i e d e r h o l e n sich auf d e n v e r s c h i e d e n e n S t u f e n g e s c h i c h t l i c h e r F o r s c h u n g nur a n graduell v e r s c h i e d e n e m S t o f f e d i e s e l b e n e l e m e n t a r e n O p e r a t i o n e n , w e l c h e die P h i l o l o g i e a u s ü b t , r e c e n s i o u n d interpretatio, Feststellung der d u r c h U b e r l i e f e r u n g geg e b e n e n T a t s a c h e n u n d d e r e n geistige D u r c h d r i n g u n g , i h r B e g r e i f e n . (32)
So wie die Naturwissenschaften sich nur wissenschaftlich nennen dürften, insofern sie mathematisch geworden seien, müssten die geschichtlichen Disziplinen auf philologischem Fundament ruhen: „Mit richtiger Einsicht haben Studierende weit abgelegener Fächer seinerzeit Ritschis Vorlesungen in keiner anderen Absicht aufgesucht, als um ,Methode zu lernen'." (33). Mit dieser auf Heinrich Rickert vorausweisenden Trennung von Naturwissenschaften und historischen Disziplinen (vgl. Rickert, 1986) ist eine Grenze überschritten. Bei Ritsehl und Nietzsche gab es sie in dieser Schärfe nicht. Es ist von daher nur konsequent, wenn Usener am Ende die Kritik in Hermeneutik aufgehen lässt: „die schöpferische oder divinatorische Kritik ist nichts anderes als transzendente, über die Tatsache der Uberlieferung hinausgreifende Interpretation." (ebd.) Die philologischen Disziplinen der Kritik und Exegese setzten historisches Wissen voraus und haben es wiederum zum Ziel; Philologie ist und bleibt „Pionier der Geschichtswissenschaft" (35)458. Nur vor diesem Hintergrund ist die Entstehung der verbreiteten, wenngleich unhistorischen Auffassung nachvollziehbar, dass „die ursprünglich geforderte Eigenart der Philologie schließlich doch nur die der Historie ist." (Wegmann, 1991:123f).
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Im englischsprachigen Raum bedeutet philology heute, wenn dieser Begriff überhaupt noch gebraucht wird, die Betonung sprachlicher Nuancen, die Aufmerksamkeit gegenüber der Grammatik in der traditionellen Bedeutung. Damit sind alle Möglichkeiten durchgespielt: Philologie, die auf der Triade von Grammatik, Kritik und Hermeneutik ruht, kann jeweils einen Teil privilegieren. Graff/Warner (Hrsg., 1989) dokumentieren die Vorbildwirkung der deutschen Philologie auf die amerikanischen Universitäten auch bei der Ausbildung der modernen Literaturwissenschaft, besonders des Faches Englisch (englische Philologie). Aber es war eine Philologie, die entweder schon wesentlich positivistisch ausgerichtet war, oder aber mit vergleichender Sprachwissenschaft assoziiert wurde. Die auf Kritik aufbauende Philologie gelangte kaum über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus. A m nächsten kommt ihr noch der in der anglistischen Literaturwissenschaft spezifisch gebrauchte Begriff des scholarship (im Unterschied zum criticism).
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Zu Usener s. auch Wegner (1951:254ff) sowie Schmid (1969).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Das Verhältnis Useners als Ritschl-Schüler zu Wilamowitz war gespannt, auch wenn sich beide um gegenseitige Respektsbezeugungen mühten459. In einem um Ausgleich bemühten Brief schreibt Usener am 20. September 1877 an den Jüngeren, dessen „Auswüchse kecker Jugendfrische" ihn „zuweilen geschmerzt" hätten, dass geistiger Gegensatz im wissenschaftlichen Kampf persönlichen Gegensatz nicht erfordere: „und was uns beide betrifft, so schließen zwei Richtungen sich nicht aus, die auf verschiedene Ziele gehen. Sie suchen die Schöpfungen des Willens in der Geschichte, ich das unwillkürliche, unbewußte Werden." (S. 6f) Ähnliches hätte auch Nietzsche formulieren können: das Interesse am unwillkürlichen, unbewussten Werden stammt bei beiden aus der genealogischtextgenetischen Philologie, die sie beide auf jeweils unterschiedliche Weise erweitern; mit dem wichtigsten Unterschied, dass Usener im Rahmen des Faches bleibt, während Nietzsche alle rein universitären Rahmen sprengt. Werner Stegmaier hat in aufschlussreicher Weise den Unterschied zwischen Dilthey und Nietzsche ganz ähnlich beschrieben wie Usener sein Verhältnis zu Wilamowitz: „Ist es Diltheys Intention, den Halt der Welt unter der Bedingung des Flusses aller Dinge zu verstehen, so sieht Nietzsche die Zeit reif geworden, den Fluß aller Dinge im Schein des Haltes der Welt aufzusuchen" (1992:280). Nietzsche sei deshalb radikaler kritisch als Dilthey, weil es ihm letztlich darum gehe, „die Grenzen der Philosophie in ihrer Suche nach Halt und Sicherheit des Lebens aufzuzeigen", um sie damit in Bewegung zu halten (ebd.). Die Radikalität ist fraglos jene der Philologie gegenüber der Geschichts- oder Geisteswissenschaft. Wissenschaftshistorisch hat es nur eine Alternative zum völligen Aufgehen der Philologie in historisch-hermeneutischer Geisteswissenschaft gegeben, nämEch die Arbeit am Text als Textedition, dieser „nie bezweifelten" Kernkompetenz der Philologie, „ein wissenschaftliches Pathos, das sich selbstbewußt auf die methodisch-kontrollierte und d.h. immer empirisch überprüfbare Arbeit am textmikrologischen Detail beruft" (Wegmann, 1991:123f). Seit der arbeitsteiligen Trennung editorisch und interpretativ arbeitender Literaturwissenschaftler schien die Textedition, das zentrale Gebiet wiederum der Kritik, freilich nicht mehr zur Fachbegründung auszureichen. Philologie im Sinne einer komplexen Aufgabe aus Text, Apparat, Konjektur und Kommentar schien an Attraktivität gegenüber interpretatorischen Problemen sowie Fragen nach dem „Gehalt" (ebd.) und pädagogischer Relevanz einzubüßen460. Zurecht hat Heinz Schlaffer festgestellt: „Seitdem für die Philologen nicht mehr die strenge Schule der Textkritik obligatorisch ist, lösen sich auch die Kriterien .richtiger' Interpretation auf — bis sie am Vgl- dazu das lehrreiche Nachwort von Calder III zum Briefwechsel (Usener/Wilamowitz, 2 1994). 460 Wegmann hat an dieser Stelle sehr schön das Dilemma der Philologie zwischen Pädagogik, empiriegeleiteter Wissenschaft, Literaturkritik und -geschichte dargestellt. In seiner Schlussfolgerung kommt er aber über Nietzsches Homer-Vortrag nicht hinaus: die Philologie müsse, wenn sie sich denn weiterhin als Einheit begreifen wolle, mit der Differenz von Pädagogik und Wissenschaft leben, ja darin die Einheit suchen (1991:125). 459
5.5. Niedergang der Kritik
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Ende für subjektiv, beliebig und überflüssig erklärt werden." (1990:180). Der Niedergang der Kritik, ausgelöst nicht zuletzt durch zunehmende Schwierigkeit und Spezialisierung der Edition, ist ein Problem auch für die Hermeneutik, der damit der stützende Pfeiler genommen ist. Dies trifft vor allem auf die Neuphilologien im zwanzigsten Jahrhundert zu, die sich zu dieser Zeit erst eigentlich auszuformen beginnen, aber von Anfang an unter dem Einfluss von Geistesgeschichte und Historismus bzw. Positivismus stehen, denen Kritik immer unwichtiger wird461. Die Anlehnung an Gadamers Universalhermeneutik markiert nur den endgültigen Bruch mit einer Tradition, der sich lange vorher angekündigt hatte. Er löst das uralte Zusammenspiel von (Erfindung und Kritik462 nur endgültig auf. Die deutsche Literaturwissenschaft, in deren Gebiet Nietzsche eigentlich gehört, hat nicht allein aus diesem Grund die Bedeutung der philologischen Kritik bei Nietzsche übersehen. Vielmehr war sie um ihrer Selbstdefinition willen aktiv am Niedergang der Kritik beteiligt - und bediente sich dazu ausgerechnet Nietzsches. Im deutschsprachigen Raum wurde Nietzsche zur literaturwissenschaftlichen Autorität in dezidierter Absage an die methodischen Prämissen der Klassischen Philologie. Zwar war die Germanistik ja einst aus demselben Geist und derselben Methodik entstanden, die auch die Altertumswissenschaft geprägt hatte. Gerade die editorischen Prinzipien sowie generell die empirisch am Text arbeitenden Methoden gingen auf sie zurück — die bloße Übernahme dieser Prinzipien ohne eigene reflektorischen Einsatz ist geradezu als Geburtsfehler der Germanistik bezeichnet worden (Stackmann, 1979; vgl. Stierle, 1979). Die Philologie der Generation eines Lachmann oder Moriz Haupt, eines Michael Bernays oder Erich Schmidt bis hin zur Scherer-Schule wurde somit nur bedingt als etwas Eigenes empfunden. Nachdem sich die Germanistik mithilfe der ,Methode' und dem daraus folgenden wissenschaftlichen Ethos institutionell konsolidiert hatte, begann deshalb eine Phase der Absetzung von der nunmehr als Altphilologie bezeichneten Disziplin, von deren Krise man sich nicht anstecken lassen wollte. Gerade die Neugermanistik (im Gegensatz zur Mediävistik) wurde nie vollkommen von der Philologie erfasst. Edition und Kommentar reichten ihr von Beginn an nicht aus, um den selbstgewählten ideologischen und erzieherischen Ansprüchen zu genügen, die sie als Nationalphilologie nach den Gründerjahren erst eigentlich legitimiert hatten463. 461
Strelka (1987:23) versteht die Überwindung des Positivismus durch die Geistesgeschichte ebenfalls als Verachtung für Textkritik und -edition, die erst nach Krieg wieder rehabilitiert werden.
462 Vgl. etwa das Lemma „Kritik" im HWP. 463
Zur Entwicklung des Philologiebegriffs und seiner Umstrittenheit s. auch den fundierten Beitrag von Dainat (1994). Bis in die neueste Geschichtsschreibung der Literaturwissenschaft hinein ist die Philologie jedoch unterrepräsentiert. In Klaus Weimars Standardwerk (Weimar, 1989) wird v.a. die Geschichte der ästhetischen und poetologischen Reflexion des Verhältnisses von Text und Leser im institutionellen Kontext erzählt, also nur ein Teil des Gesamtprojekts beschrieben. Hermand (1994) ist eher sozialgeschichtlich ausgerichtet; andere legen auf nationale oder pädagogische Kontexte wert. In den vorbildlichen Studien aus dem Umfeld der Marbacher Arbeits-
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Nietzsche wurde ähnlich wie Dilthey zum Kritiker der Detailverliebtheit zurechtgemacht (Hermand, 1994:68; Kolk, 1994:111) und gegen den Positivismus der Scherer-Schule ins Feld geführt. Praktischerweise galt er der Klassischen Philologie ja als Unperson und eignete sich deshalb umso mehr, um gegen sie zu Felde zu ziehen. Der Begriff der Philologie, der bei F.A. Wolf, bei Friedrich Schlegel oder Jakob Grimm noch so umfassend gewesen war, wurde nun eingeschränkt auf Sprachpedanterie und Lachmannsche Methode, auf Einflussforschung und, im besten Falle, Biographismus464. Die riesige Aufsplitterung des Faches durch die Grundlagenforschung, die immerhin bedeutende, noch immer gerne verwendete Hilfsmittel zur Verfügung gestellt hat465, zeitigte, wie schon in der Altertumswissenschaft Jahrzehnte zuvor, die Sehnsucht nach neuer Synthese und philosophisch begründeter Einheit. Die Angst, ebenso belanglos und einflusslos zu werden wie die Klassische Philologie, beflügelte die Entwicklung der Germanistik von einer Philologie zur Nationalphilologie auf der Grundlage von Geisteswissenschaft und Geistesgeschichte. Für die neuere deutsche Literaturwissenschaft wird die klassische Philologie zur unansehnlichen Mutter, die man, endlich erwachsen, schamhaft verleugnet (vgl. Barner, 1993; Dainat, 1994). Symptomatisch für diese Tendenz sind die wegweisenden Aufsätze Rudolf Ungers. Sie verdrängten die philologischen Traditionen in der Germanistik auf lange Zeit aus dem Zentrum. In Vom Werden und Wesen der neueren deutschen Uteraturwissenschajt aus dem Jahr 1914 beruft er sich dabei ausdrücklich auf Nietzsche (s. Unger, 1966:44), wenn er die Unhaltbarkeit des Philologismus demonstrieren und mit ihm den Positivismus der neueren Philosophie durch einen neuen Idealismus ersetzen will. In Nietzsche erblickte er offensichtlich einen Gleichgesinnten, der gleich ihm nach „organischer Zusammenfassung und universeller Synthese" (48) strebte466. Es wäre unklug, „die ästhetische, die geistesgeschichtliche,
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stelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik ist die Beziehung zur Klassischen Philologie in der Frühphase der Germanistik bisher vernachlässigt worden. Rudolf Unger definiert die Philologie 1914 als „Textkritik und Textinterpretation, Sammlung und Statistik, Edition, Literaturbeschreibung, sprachlicher, metrischer und stilistischer Untersuchung, [...] Forschung zur Bibliographie, Chronologie, Entstehungs-, Stoff- und Motivgeschichte, [...] Frage nach Quellen, biographischen Grundlagen, Vorbildern, Modellen, Beeinflussungen, Anspielungen, Umarbeitung, Aufnahme, Nachwirkung, Komposition, Typen, Tendenzen usw. einzelner Dichter oder ganzer Lebenswerke" (1966:43f). Vgl. auch Bamer (1993:203ff). Eine vergnügliche zeitgenössische Darstellung um die Auseinandersetzung der Philologie mit der jüngeren Generation anlässlich der Neubesetzung von Erich Schmidts Berliner Lehrstuhl erschien 1914 pseudonym in der „Neuen Rundschau" (Antibarbarus, 1914).
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Man denke an all jene Bibliographien, Quellenforschungen, Bücherkunden, Wörterbücher, Grammatiken, Editionen, Apparate, Biographien, Grundrisse, Tabellen und Ubersichten, Realenzyklopädien, Verslehren usf., die heute allzu leichtfertig als Selbstverständlichkeiten und bloße Hilfsmittel für das Hochamt der Interpretation vorausgesetzt werden.
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Philologie bediente nicht mehr die Interessen eines neuen bildungshungrigen Publikums, das schnelle Synthesen statt kleiner Schritte wollte (Trommler, 1993:31 Iff). Nietzsches Forderung nach Synthese konnte deshalb jenen zum Vorbild werden, die sich ohnehin als Künstler der Wissenschaft verstanden. Einschränkend sei jedoch angemerkt, dass Nietzsche für die wenigsten einflussreichen Germanisten eine Rolle spielte. Wichtiger war er bei Außenseitern wie
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psychologische und kulturhistorische Richtung der Literaturgeschichte" einfach abzutun, gerade angesichts ihrer nationalen Bedeutung. Wenn die Jugend mit „heiligem Interesse" die Hörsäle stürme, könne man sie nicht mit Philologie abspeisen (46f)467. Die Verfuhrung, die in der Aufwertung des Faches durch ihre gesellschaftlich-deutende Relevanz in der Geistesgeschichte lag, erwies sich als unwiderstehlich. Zwar wollten Geistesgeschichte und ihr verwandte Richtungen keinesfalls „die sichere Grundlage und methodische Strenge" der Philologie aufgeben; als „schöngeistiger Dilettantismus" zu gelten war wenig attraktiv (Unger 1966:47; vgl. Kolk, 1994:40). Aber das Bewusstsein über selbstverständliche und deshalb nicht mehr reflektierte Voraussetzungen einer Wissenschaft hat es an sich, mit der Zeit verlorenzugehen. So hat es während der Epoche der Geistesgeschichte kaum bedeutende Editionsprojekte gegeben, auch in der Klassischen Philologie nicht468. Es dürfte also einleuchten, dass und warum sich die deutsche Literaturwissenschaft fast ausschließlich für den jungen Nietzsche, insbesondere den Verfasser der Tragödienschrift, interessiert hat. Weil das zentrale Werk seiner Frühzeit die zeitgenössische (Klassische) Philologie entrüstete, stempelte man Nietzsche, blind gegenüber seiner Feier der Philologie im Spätwerk, zum Antiphilologen schlechthin, als man ihn zum Verbündeten gegen genau jene Abkömmlinge von Gundolf, oft bei Autoren jüdischer Herkunft, die von den etablierten Ordinarien mit Misstrauen beäugt wurden (über Gundolf und den von George kommenden Nietzsche-Einfluss vgl. Osterkamp, 1993). Paradigmatisch und stilprägend ist natürlich Ernst Bertrams Nietzsche-Studie gewesen, die als großer synthetischer Wurf entsprechend gewirkt hat. In der Einleitung heißt es: „Keine historische Methode verhilft uns — wie ein naiver historischer Realismus des 19. Jahrhunderts so oft zu glauben scheint — zum Anblick leibhaftiger Wirklichkeit, ,wie sie eigentlich gewesen'. Geschichte, zuletzt doch Seelenwissenschaft und Seelenkündung, ist niemals gleichbedeutend mit Rekonstruktion irgendeines Gewesenen, mit der möglichsten Annäherung auch nur an eine gewesene Wirklichkeit. Sie ist vielmehr gerade die Entwirklichung dieser ehemaligen Wirklichkeit, ihre Überführung in eine ganz andere Kategorie des Seins; ist eine Wertsetzung, nicht eine Wirklichkeitsherstellung." (1919:1). 467 Fast noch deutlicher wird der Aufsatz „Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft" von 1908 (Unger, 1966:1-32). Philologie in all ihrer Strenge sei gut und schön, werfe aber mehr Probleme auf, als sie löse. Ihre komparatistische Methodik führe zu Zirkelschlüssen. Vergleichung und Parallelisierung seien dort nur bedingt zulässig, wo es doch v.a. auf individuelle Eigenart ankomme. „Wer glaubt jetzt noch daran, daß Stiluntersuchungen oder Entlehnungsnachweise, Quellenforschungen oder biographische Feststellungen die vornehmsten und sichersten Mittel seien, um in die geistige Entwicklung Herders oder Goethes, Hardenbergs oder Hebbels wirklich einzudringen? Wer hofft heutzutage noch das Verständnis der Genesis mächtiger geistiger Bewegungen und Umwälzungen wie etwa des Sturms und Drangs oder der Romantik, der Aufklärungsbewegung oder des modernen Realismus durch vergleichende Parallelen und verallgemeinernde Analogie ernstlich fördern zu können? Wie ohnmächtig steht doch eine Forschungsweise, die sich psychologischer und ästhetischer Analyse prinzipiell begibt, einem Kleist oder Ibsen, einem Wagner, Hebbel oder Nietzsche gegenüber!" (S. 5). Was aber bedeutet das tiefere Eindringen? Die Geistesgeschichte schaffte in erster Linie ein neues Vokabular, eine neue Art von Begriffsdichtung. Parallel zur Instrumentalisierung Nietzsches in wissenschaftlicher Hinsicht entsteht ferner ein neues Maß an politischer Instrumentalisierung, gerade im Umfeld der Kriegspropaganda. 408 Vgl. weiter Barner/König (Hrsg., 1996) sowie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik allgemein den unverzichtbaren Band von König/Müller/Röcke (Hrsg., 2000).
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5. Wissenschaftshistorischer Exkurs
Philologen nötig hatte, gegen die er weitsichtig und unverstanden schon damals angeschrieben zu haben schien. In der Wissenschaftsgeschichte der Philologie bzw. (germanistischen) Literaturwissenschaft ist die traditionelle Deutung Nietzsches noch so lebendig, dass eine Nietzsche-Lektüre, wie sie in dieser Arbeit vorgeschlagen wird, fast undenkbar ist. Mit Nietzsches Hilfe wird nach wie vor verfälschende Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Aus seiner scharfsinnigen Analyse des Schicksals der Kritik (s.o.) zieht Heinz Schlaffer nicht die Konsequenz, für eine Rehabilitierung der Kritik, die auch die Text- oder Quellenkritik einschließt, zu plädieren; im Gegenteil. Zwar ist Kritik bei ihm notwendiger Bestandteil der Interpretation, damit ist allerdings die traditionelle höhere Kritik, die Ästhetik gemeint. Ganz im Sinne des frühen Nietzsche erinnert er die Philologie daran, dass sie sich in ihrem Auftrag, ältere Texte lebendig zu erhalten, auch ästhetischen Kriterien stellen müsse. Dies aber sei nur wenigen Vertretern des Faches gelungen (1990:193ff). Zwar richtet sich Nietzsche durchaus gegen die „Philologie als Lebensform", die Schlaffer in seinem gleichnamigen Kapitel (S. 212-233) trefflich beschrieben hat — obgleich Nietzsches eigenes Leben, vom unsteten Wanderleben abgesehen, schließlich aufs Haar der asketischen Schreibtisch- und Studierstubenexistenz entsprach, die Schlaffer mit seiner Hilfe ironisiert469. Die poetische (Literatur)Wissenschaft, die Schlaffer ebenso wie seinen zu Vorbildern erkorenen Lichtgestalten aus dem George-Kreis vorschwebt, ist Nietzsche ebenfalls nicht fremd. Auch die „Spannung zwischen dem Zauber der Dichtung und ihrer Entzauberung durch Wissen", die „im reflexionslosen Wissenschaftsbetrieb weitgehend verloren" ging (234), ist durchaus eine Obsession des jungen Basler Professors. Aber Nietzsches Verhältnis zur Philologie ist doch komplizierter als Gundolfs, Kommerells oder Schlaffers. Sie erschöpft sich nicht in der Kritik an der Askese des historistischen oder positivistischen Philologiebegriffs, von dem Schlaffer ausgeht470, sondern kann und soll gerade kraft ihrer Methodik die Komplexität 465
470
Die chronologischen Widersprüche der von ihm selbst zitierten Nietzsche-Stellen (vgl. S. 211) haben Schlaffer offenbar nicht misstrauisch gemacht. Philologische Arbeitsgebiete sind bei Schlaffer ganz in der Tradition der Definition der Geistesgeschichte v.a. Textkritik, Quellenforschung, Überlieferungsgeschichte, historischer Kommentar und Biographie (1990:161). Die Trennung von Philologie auf der einen und Poetik, Interpretation und Literaturgeschichte auf der anderen Seite (179) ist freilich unhistorisch bezogen auf eine lange, auf die entscheidende formative Periode in der Geschichte der Wissenschaft. Dass der Aufstieg der modernen Philologie mit dem Ende der antiken Traditionen in der Neuzeit verbunden sei (173), stimmt weder für die Renaissance noch für das deutsche 18. Jahrhundert. Die Entstehung der Altertumswissenschaft in Deutschland ist im Gegenteil eng mit dem Klassizismus verbunden. Uber Begriff und Inhalt der antiken Traditionen ließe sich überdies lange streiten. Freilich geht es Schlaffer vor allem um die Trennung von Liebhaber und Experten auf dem Gebiet der Literatur. Hier schränkte die Philologie in der Tat das „Mitspracherecht des Laien" (175) ein. Das ist jedoch nicht nur negativ zu bewerten. Erstens kann man der Philologie nicht in einem offensichtlichen post hoc ergo propter hoc die Schuld an der verschwindenden gesellschaftlichen Relevanz der Literatur geben. Hier müssen wohl in erster Linie soziale Veränderungen bedacht werden. Zweitens wird das Mitsprachrecht des Laien v.a. in dem Moment eingeschränkt, da es viel mehr Laien gibt, die mitsprechen wollen, ohne noch die Voraussetzungen zu
5.5. Niedergang der Kritik
321
im Verhältnis von Philologe und Text, Arzt und Kultur, Philosoph und Welt steigern. Nicht Reduktion ist ihr Zweck, sondern Differenzierung und Erhöhung. Bei Schlaffer heißt es in etymologischer Herleitung aus dem alexandrinischen Museion: „Damit die Philologie sich auf den Text als philologisches Problem konzentrieren kann, müssen die Erregungen der von den Musen hervorgebrachten Feststimmung abgeklungen sein." (1990:160). Bei Nietzsche ist es, schon und gerade in seinen zukunftsphilologischen Zeiten, genau umgekehrt: damit sich der Philologe auf den Text konzentrieren kann, muss er von ihm musisch erregt worden sein. Philologie ist weder für den frühen noch den späten Nietzsche ein Mittel, um die „rationale Herrschaft über die irrationale Poesie" durchzusetzen (165), und zwar nicht nur, weil Poesie nicht notwendigerweise irrational ist. Allein die Kritik in ihrer ganzen Breite und trotz der nihilistischen Gefahren des ihr inhärenten Skeptizismus vermag Texte in ihrem Eigensinn zu bewahren. Der Unterschied von Literatur und Literaturwissenschaft, den Schlaffer einebnen möchte, muss deshalb sinnvollerweise bestehen bleiben. Nur durch Kritik wird es Texte geben bzw. bleibt die Komplexität von Texten gewahrt, die sie für immer neue Aneignungsversuche, bereitstehen lässt. Nietzsches spätere Entdeckung bestand darin, dass man dieses Grundverhältnis des historisch-kritischen Philologen zum Tekt auch auf Domänen außerhalb des Textes übertragen konnte. Er teilt sie mit anderen philologischen Generationsgenossen und Ritschl-Schülern. Intellektuelle Rechtschaffenheit und künsderisch-spielerische Weltformung sind voneinander abhängig; nur in der Differenz kommen sie jeweils selbst zur vollen Geltung. Einen Ansatz, der Nietzsches Vorstellungen nahe kommt, hat jüngst Hans Ulrich Gumbrecht vorgeschlagen, als er eine neu-alte Art von Literaturwissenschaft entwarf, die Diltheys Erlebnis — möglicherweise meint Gumbrecht nur die ästhetische Erfahrung - mit Philologie „in the most traditional sense of the word" (über deren Inhalt man gerne Genaueres erfahren hätte) verbinden soll (Gumbrecht, 2002). Die Philologie würde dabei die Aufgabe der Komplexitätssteigerung übernehmen, z.B. durch anspruchsvolle Editionen, die das „Erlebnis" umso intensiver machten. Gumbrecht verweist auf Nietzsche nur durch die Anspielung seines Aufsatztitels: Be Untimely! Aber er stellt die vorerst letzte Etappe in einem wissenschaftshistorischen Prozess dar, der auf die Wiedergewinnung der Kritik und damit der Philologie hinausläuft. Es kann gezeigt werden, dass dieser Prozess in enger Verbindung zur Entwicklung der aktuellen Nietzscheforschung steht: dem vorerst letzen Kapitel zum Thema Nietzsche und die Philologie.
haben. Die Philologie verbietet den Laien nicht das Wort, stellt aber Anforderungen an sie, wenn sie denn ernst genommen werden wollen. Um ein Beispiel zu nennen: angesichts all dessen, was Liebhaber und Laieninterpreten Nietzsches angerichtet haben, ist man dankbar für die heute erreichten philologischen Standards in der Nietzscheforschung.
6. Schluss: Nietzsche lesen 6.1. Wiedergewinnung der Kritik Ist die Ambivalenz der Kritik als exegetisches Scheidemittel und analytisches Instrument einerseits und als ästhetisches Richtmaß andererseits in der (enzyklopädischen) Philologie des neunzehnten Jahrhunderts noch stark ausgeprägt, so beginnt die Karriere der Hermeneutik auf Kosten der Kritik in der Schleiermacher-Rezeption (nicht bei Schleiermacher selbst). Mit dem Durchbruch erst des positivistischen, dann des geistesgeschichtlichen Historismus wird die Kritik immer weiter in den Hintergrund gedrängt, da Auslegungsfragen und Methodik ohnehin nur noch technische Spezialdisziplinen ohne höhere Weihen sind. Mit der Abwendung vom Positivismus in den Philologien steht der Hermeneutik als neuer Leitwissenschaft kein ernstzunehmender Gegner mehr im Weg. Die Folgen dieser vollständigen Okkupation des Auslegungsgedanken durch die Hermeneutik waren abzusehen. Die Kritik, die immer zur Auslegung gehört hatte, musste sich nach gebotener Ubergangszeit in verwandelter Form wieder geltend machen. Denn Literaturtheorien, besonders Auslegungstheorien, erweisen sich am Ende immer als nachträgliche Legitimierungsversuche dessen, was die Logik (im Sinne eines Prinzipiensystems) der Literaturwissenschaft ohnehin produziert. Theorien kamen und gingen, aber längerfristig akzeptiert blieben Forschungsarbeiten nur, wenn sie, unabhängig vom jeweiligen Jargon, gewissen methodischen Standards genügten, d.h. dem Stand der Kritik entsprachen (z.B. die Standardausgabe verwendeten) und ein Mindestmaß an subtiler Lektüre lieferten. Die Kritik verschwand nie ganz, ihre Rehabilitierung ist deshalb voraussagbar. Über seinen verehrten philologischen Lehrer, den Ritschl-Schüler Franz Bücheler, schreibt Rudolf Borchardt am Ende eines Nachrufs aus dem Jahr 1908: „Seinesgleichen kann nicht mehr kommen. Wem wäre auch mit seinesgleichen noch gedient? Die Welt braucht Fachschulen für das Solide und Histrionen fürs Gemüt." (Borchardt, 1990:56). In der neuen Zeit scheint es nur noch die Wahl zwischen anwendungsbezogener Fachausbildung und prätentiösem Mummenschanz geisteswissenschaftlicher Charlatanerie zu geben471. Wenig später kommentiert in einem Leitartikel der „Literarischen Welt" Willy Haas, ihr Herausge-
471
Man kann hinter den Histrionen Vertreter des George-Kreises vermuten, dem Borchardt (wie auch umgekehrt) nicht wohlgesonnen war.
6.1. Wiedergewinnung der Kritik
323
ber, den Streit um die Verfälschungen des Nietzschearchivs und die Blockierung des Nachlasses folgendermaßen: Die Philologie und Textkritik, der edelsten Wissenschaften eine, ist im Aussterben. Sie hat wahrhaftig nicht viel mehr als ihre Ehre, als letztes Gut, zu verteidigen. Nun wird in ganz Deutschland herumgesprochen: Die Texte der Nietzsche-Ausgaben sind zweifelhaft; die Briefe scheinen willkürlich ausgewählt, willkürlich redigiert. Die vorbehaltlose Herausgabe aller Manuskripte und Briefe zum Zweck einer streng philologischen Kontrolle ist also ganz offenbar der einzige Weg, um der unfruchtbaren Streiterei ein Ende zu machen. Und was tut die offizielle Philologie? Man sollte meinen, daß sie sich, vom großen Willamowitz-Moellendorff [sie] angefangen, der doch wohl für eine Angelegenheit, die das Werk Nietzsches betrifft, ein besonderes Interesse haben müßte, bis hinab zum kleinsten Privatdozenten, wie ein Mann erhebt, und sagt: „Hiergeht es um unsere Ehre. Wenn diese Sache nicht bereinigt wird, in der radikalsten, unangreifbarsten Art bereinigt wird, so ist der letzte Kredit, den wir in der Oeffentlichkeit haben zerstört." [Absatz] Weit davon entfernt. Diese hilfsbedürftigste, weil „unmodernste" Wissenschaft hat es seit langem gelernt, vor der realen Macht, wie immer sie heiße, zu kriechen. (Haas, 1930)
Der Niedergang der Kritik — der niederen wie der höheren — seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist ein Tatbestand, keine Interpretation. Solange sie nicht wieder ins Zentrum der philologischen, d.h. hier: der literaturwissenschaftlichen Disziplinen rückt, verharren diese in einer Dauerkrise oder werden gar endgültig von anderen Disziplinen abgelöst bzw. absorbiert werden. Es gibt jedoch Zeichen einer Renaissance der Kritik; Borchardts Fatalismus war möglicherweise verfrüht. Nicht zuletzt das Phänomen Nietzsche hat seit den Plädoyers von Willy Haas und anderen Kritikern des Nietzschearchivs, vor allem aber durch die Forschungsgeschichte der letzten Jahrzehnte bewiesen, dass auf Philologie nur schlecht verzichtet werden kann. Freilich wird ihr gesellschaftlicher und universitärer Status auf absehbare Zeit prekär bleiben. Die Philologie ist gefährlich. Sie verkörpert die Prinzipien des Zweifels, der Nuancierung und der Subversion selbst dort, wo man es ihr nicht ansieht. Mit der Aufgabe des kritisch-philologischen Paradigmas begannen die Anleihen der sprachlich-literarisch ausgerichteten Fächer in anderen Disziplinen, namentlich der Philosophie, Kunstwissenschaft und Soziologie (vgl. Voßkamp, 1996). Im Widerstand gegen die Geistesgeschichte und die Allmacht der Interpretation erheben sich allerdings schon früh Stimmen, welche Kritik und Philologie, die natürlich nie ganz verschwanden, wieder ins Zentrum der literaturwissenschaftlichen Fächer heben wollen. Ironischerweise beklagt selbst Wilamowitz gegen Ende seines Lebens die fatalen Konsequenzen einer Bewegung, die er zum Teil mitzuverantworten hat. Besonders von der mangelnden Neigung und Befähigung der Studenten zum Lesen und zu genauer, methodischer Arbeit zeigt er sich enttäuscht. Schließlich heißt es noch: Vollends seit die Intuition als eine höhere und bequemere Methode aufgekommen ist, erlebt man die schauerlichsten Proben der anmaßlichen unwissentlichen, aber auch
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6. Schluss: Nietzsche lesen
w i s s e n t l i c h e n V e r l e u g n u n g des sprachlichen V e r s t ä n d n i s s e s , g a n z z u s c h w e i g e n v o n kaum
verhüllter
Abhängigkeit
von
Übersetzungen.
(Wilamowitz-Moellendorff,
1928:286f)
Wenn Textkritik und Grammatik (Sprachkenntnis) keine Rolle mehr spielen und höhere ästhetische Kritik nach dem Aufstieg der Interpretation ins Feuilleton abwandert, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die philologischen Fächer an der Universität entbehrlich werden. Die strenge Trennung von Wissenschaft und Vermittlung, die in Deutschland stärker ausgeprägt war (und ist) als anderswo, ließ dergleichen jedenfalls befürchten. Angesichts der großen deutschen philologischen Tradition mussten schon um der Selbsterhaltung der einschlägigen Fächer willen alternative Bewegungen entstehen, die sich die Rettung der Philologie auf die Fahnen geschrieben hatten. In einem Artikel zum Zustand der Literaturgeschichte in eben jener „Literarischen Welt", die sich (über mehrere Jahre hinweg) stark für den philologischen Umgang mit Nietzsche engagierte, griff Walter Benjamin 1931 in kritischer Auseinandersetzung mit Tendenzen der Geistesgeschichte und Kulturwissenschaft seit Rickert und Lamprecht die enge Verquickung von Geschichte mit einem wohlfeilen Wertbegriff an. Gerade der synthetische Drang geistesgeschichtlicher Forschung, der „geile Drang aufs große Ganze" sei ihr Unglück. Die heutige Germanistik sei eklektisch, „das will sagen durch und durch unphilologisch, gemessen nicht am positivistischen Philologiebegriff der Scherer-Schule sondern an dem der Brüder Grimm" (Benjamin, 1931:4)472. Den antiphilologischen Geist kritisiert Benjamin, ganz wie Borchardt, auch an den Literaturwissenschafdem im Umfeld des George-Kreises und plädiert — letztlich im Sinne Burckhardts und Nietzsches — dafür, Literatur nicht als Stoffgebiet der Geschichte anzusehen, sondern Literatur selbst als Organon der Geschichte zu beschreiben. Philologie muss sich also vor allem wieder mit den Texten selbst befassen, von ihnen ausgehen und auf sie zurückkommen. Benjamin steht mit seiner Forderung nicht allein. Im Laufe der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etablieren sich verschiedene Richtungen der Literaturwissenschaft, die auf ihre Weise versuchen, von der wissenschaftlichen Kritik zu retten, was zu retten ist. Schon die Weimarer Zeit bringt eine Gegentendenz zur Geistesgeschichte in Form der Motiv- und Stoffgeschichte hervor, die mit dem einen Bein noch im Positivismus, mit dem anderen schon in der Werkimmanenz steht473. Stiltypologische, stilvergleichende Arbeiten kommen eher aus der grammatischen als der quellenkritischen Tradition, haben aber gleichfalls philologische Wurzeln. 472 Vgl. auch Benjamin (1932), ein Artikel, der sich direkt in den Streit um die Nietzschephilologie einmischte und Willy Haas' Forderungen wiederholte. 473
Szondi bemerkte mit Recht, dass die Geistesgeschichte paradoxerweise gar nicht so philosophisch gewesen sei, da sie keine Philosophie der Kunst entwarf, sondern Kunstwerke nur als Philosopheme behandelte (1974, Bd. 1:271).
6.1. Wiedergewinnung der Kritik
325
Beim Pionier der Toposforschung, dem Hofmannsthal-Verehrer und fleißigen Nietzscheleser Emst Robert Curtius, ist die Konstanz der Topoi im Verhältnis zur philologischen Tradition Nietzsches nicht zu übersehen. Curtius verstand Literaturkritik zwar im zukunftsphilologischen Sinne als literarisches Genre, das Literatur zum Thema hat und auf Wissenschaft beruht. Sie ist aber jedenfalls keine Domäne für Geistesgeschichte, Intuition, Relativismus und „behende Synthesen" (31963:442f). Diese hätten auf geistigem Gebiet in den Nationalsozialismus geführt: da es keine unabhängige, objektive Wissenschaft mehr gab, konnte man einfach die rassische, völkische oder politische Gebundenheit jeder Forschung behaupten und gleich in die Tat umsetzen474. In diesem Sinne verteidigt Curtius zwar nicht den Positivismus, aber die historisch-kritische Philologie, wie sie in Nietzsches Spätwerk benutzt wird. Er leugnet keinesfalls, dass alle bedeutende Forschung persönliches Erleben zur Grundlage hat. Aber „ebenso gewiß muß dieses durch die strenge Zucht der Selbstkritik, der Sachlichkeit und eines umfassenden Wissens kontrolliert werden. Das Erleben muß im Feuer des Schaffens umgeschmolzen werden in das stählerne Gefüge der Erkenntnis." (ebd.) In seinem bis heute unübertroffenen magnum opus, Europäische Uteratur und lateinisches Mittelalter (Curtius, 111993), entwirft er eine historisch-philologisch fundierte und vergleichende europäische Literaturwissenschaft, die sich u.a. Friedrich Schlegel zum Vorbild erkoren hat. Wie bei Nietzsche und in der gesamten philologischen Tradition findet sich das Reisemotiv als Metapher der philologischen Arbeitsweise (vgl. z.B. S. 22). In der historisch-kritischen Tradition eines Niebuhr oder F.A. Wolf besteht seine Methodik aus einer Mischung von Kritik (Text- und Quellenkritik sowie ästhetischem Urteil), Divination und Analogieschluss bzw. Parallelstellenmethode, die in langsamer, gründlicher Lektüre vor großem Belesenheitshorizont entfaltet wird. Wenn möglich, soll das ursprüngliche Erlebnis dabei bewahrt bleiben, das zu Nachahmung und Fortschreibung führt. Die klassische Philologie galt Curtius, möglicherweise im Anschluss an Nietzsche, als ideale, wenn auch nicht eingelöste Leitwissenschaft der Neuphilologien. Er betont vor allem den Vorzug ihrer strengen Ausbildung sowie der Unterscheidung von „Reinigung, Herstellung, Interpretation von Texten" auf der Grundlage grammatischer Schulung und ,,weitausgreifender[r] Lektüre" (ebd.). Schon 1948 erkannte er, dass die Neuphilologien mangels solcher Traditionen „den Moden und Irrungen" des Zeitgeistes periodisch zum Opfer fallen würden, wie es ja mit aller Deutlichkeit auch eingetreten ist475. Die Literaturgeschichte 474
475
Zugleich sind unter den vertriebenen Philologen alter Schule viele Juden gewesen, wie z.B. der Schüler von Michael Bernays, Georg Witkowski, dessen editorisch-methodologisches Lehrbuch (Witkowski, 1924) keine Schule mehr machen konnte. Synthese und Geisteswissenschaft passten bekanntlich besser zur Ideologie. Der Niedergang der Kritik im deutschen Sprachraum wurde durch die Vertreibung jüdischer Wissenschaftler deshalb noch beschleunigt. Vgl. auch das Kapitel „Wissenschaft" in Witkowski (2003:394-447). Zur Krise der Germanistik (die wissenschaftshistorisch noch am besten untersuchte Neuphilologie) schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vgl. auch die Bibliographie zur literatur-
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6. Schluss: Nietzsche lesen
übernehme ihre leitenden Gesichtspunkte gewöhnlich aus anderen Disziplinen, anstatt durch die Analyse ihres eigenen Materials selbst zu relevanten Einsichten zu gelangen — die dann für jene Disziplinen vielleicht ebenfalls relevant sein könnten (394). Analyse ist Curtius' Zauberwort, er zitiert Aby Warburg (dem sein Buch gewidmet ist): „Der liebe Gott steckt im Detail". Wie selbst bei dem frühen, erst recht dem späten Nietzsche ist für Curtius nur eine aus der Analyse gewonnene Synthese legitim (386)476. Curtius bezieht sich oft auf die grenz- und fächerüberschreitende, aber immer am Einzelwerk ausgerichtete Methode Aby Warburgs. Dies ist insofern interessant, weil es sich auch bei Warburg um einen geistigen Nachfolger Nietzsches handelt — und zwar in ganz unerwarteter Weise. Wie Nietzsche hatte nämlich auch Warburg seine tiefste wissenschaftliche Prägung in Bonn erhalten; sein wichtigster Lehrer war Hermann Usener. Useners inhaltlicher Einfluss auf Warburg ist bekannt (Gombrich, 1970). Kaum beachtet wurde, dass Usener nicht nur Warburgs Interesse an kultur- und religionsgeschichtlichen Fragen in einer Weise anregte, die an Nietzsches Zukunftsphilologie denken lassen, sondern ihn auch methodisch im Sinne der Bonner Schule der Klassischen Philologie formte. Wie bei Ritsehl oder Nietzsche gibt es zwar auch von Warburgs Hand keine zusammenhängende methodische Darstellung477. Dieter Wuttke (21978) hat sie dennoch in vorbildlicher Weise aus seinen Arbeiten destilliert. Typisch für Warburgs Vorgehens weise sei die ausgiebige Verwendung umfangreichen Quellenmaterials. Ausgehend von scheinbaren Nebensächlichkeiten, Dokumenten und Quellen verschiedenster Art, wird das Material sehr ernst genommen und kommt als Zitat reichlich zu Wort. Lieber konzentriere sich Warburg auf ein einzelnes Werk mit all dem Kontext, der dazu gehöre, als dass er oberflächliche Überblicke gebe. Die Verwurzelung in der Quellenkritik ist unverkennbar; Warburg hat seine Methode selbst explizit als „philologisch-historisch" verstanden: „Das heißt, alles herangetragene Material ist mit der größten Genauigkeit zu behandeln und für die eigene Interpretation nutzbar zu machen in Kenntnis der jeweils spezifischen Methoden seiner Gewinnung und Erschließung." Wo eine Theorie sich nicht an Dokumenten bewährt, werde auf sie verzichtet (Wuttke, 21978:39f).
wissenschaftlichen Selbstreflexion von Holger Dainat und Cornelia Fiedeldey-Martyn in Fohrmann/Voßkamp, (Hrsg., 1994). 476 Vielleicht hat Curtius den wenige Jahre vorher entstandenen Thomas-Mann-Aufsatz Cassircrs gekannt, in dem dieser die Dialektik von Analyse und Synthese als Kennzeichen der Wissenschaft schon bei Goethe findet (1945:149). Dem Neukantianismus liegt die kantische Zusammenschau von Analyse und Synthese naturgemäß nahe. Dieter Wuttke wies als erster die I lerkunftsstelle des berühmten, oft kolportierten Zitats „Der liebe Gott steckt im Detail" nach: es findet sich unter Notizen, die Warburg nach der Eröffnungssitzung seines ersten Hamburger Universitätsseminars 1925/26 gemacht hat (Wuttke, 2 1978:41). 477
Dass Warburg keine theoretische Abhandlung oder Methodenlehre hinterlassen hat, ist nur konsequent. Warburg verwies, wie in der philologischen Tradition üblich, Studenten, die nach kunsthistorischer Einführungslektüre fragten, immer auf Spezialstudien und damit den praktischen Anschauungsunterricht (Wuttke, 2 1978:46).
6.1. Wiedergewinnung der Kritik
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In dieser möglichst allseitigen, empirischen Beleuchtung eines Werks, einer Frage, eines Problems steckt eine ähnliche Weiterführung der Bonner Schule, wie sie zu Nietzsches Perspektivismus führte. Wuttke zitiert viele Beispiele, in denen Warburg immer wieder empfiehlt, in die Tiefe statt die Breite zu gehen - eine Metaphorik, die an Nietzsches Maulwurfsymbolik erinnert. Nur Konzentration und intellektuelle Redlichkeit auch im Kleinsten führe weiter. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Warburg hier Usener und damit letztlich Ritsehl folgt. Nahezu identisch argumentierte Usener in Verlängerung der Grundsätze seines Lehrers, dass eigentlich kein einzelner Mensch leisten könne, was die philologische Arbeit erfordere. Man müsse deshalb im kleinsten Punkte die höchste Kraft sammeln: jeder suche sich ein Spezialgebiet und stelle die Verbindung zum größeren Zusammenhang immer wieder aufs Neue her; dazu gehöre die aus der philologischen Tätigkeit erwachsene peinlichste Aufmerksamkeit gegenüber dem Detail und der Genauigkeit, gegenüber Form, Inhalt und Überlieferung (Usener, 1969:32). Vergleicht man diese Charakteristik mit den oben herausgearbeiteten Grundzügen der Bonner Schule der Klassischen Philologie, erklären sich die Parallelen zwischen Warburg und Nietzsche durch den gemeinsamen ausbildungsmäßigen Hintergrund. Er äußert sich schließlich in der Unermüdlichkeit, die beide als Leser und Sammler entfalten, durch die beständige Entwicklung und Schärfung eigener Ansichten in kritischer Auseinandersetzung mit vielerlei Ansichten und Material, dass sie als Reisende - metaphorisch und real — in dieselben Regionen führte478. Warburgs Bibliothek und sein Mnemosyne-Adas stellen letztlich den Versuch dar, einen ,Text' der Kultur herzustellen, den Nietzsche erkannt, aber allein zu beschreiten nicht gewagt hatte. Nietzsches .Institutsbibliothek' steckt gleichsam in seinem Werk und wird nach und nach rekonstruiert. Es könnte fruchtbar sein, die Leistungen von Warburgs Bibliothek auf Nietzsches Texte anzuwenden: sie sollte ja allein schon durch ihre Anordnung Verbindungen der Einzelwissenschaften deutlich machen und dem Benutzer Material zuführen, das dieser sonst übersehen würde. Versuchen Nietzsches publizierte Werke nicht auch, dieses „Gesetz der guten Nachbarschaft" (s. Wessels, 2002:169f) zu verwirklichen? Edgar Wind (1979:168) hat Warburgs Bildanalyse jedenfalls im Kontext der historisch-kritischen Methode gesehen — während die Nietzscheforschung noch immer damit beschäftigt ist, den ganzen ungeheuren Bilderbogen an synthetisiertem Wissens- und Metaphernmaterial des neunzehnten Jahrhunderts in Nietzsches Werk zu entschlüsseln. 478
Warburgs berühmter Reisebericht (Warburg, 1996) ist ein gutes Beispiel für einen kulturvergleichenden Ansatz mit methodischer Nähe zur ethnologischen Reiseliteratur, der sich auch bei Nietzsche findet und der von der Philologie geprägt wurde. Was ist Warburgs großes Projekt der Rekonstruktion des Nachlebens der Antike anderes, als der Versuch, im Palimpsest des Textes der Kultur zu kratzen? In seinem instruktiven Nachwort verzeichnet Ulrich Raulff eine Reihe ethnologischer Titel, die Usener und Warburg gelesen haben; sie decken sich mit Werken aus Nietzsche nachgelassener Bibliothek und ähnlichen Werken, die er jedenfalls kannte.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Neben einer dergestalten Renaissance von Text- bzw. Quellenkritik, die freilich in der Wissenschaft lange nur noch ein von wahren Enthusiasten gepflegter Seitentrieb blieb, erstand die Wiederentdeckung der Methodik des philologischen Lesens, die ebenfalls als Trend zur Rehabilitierung der Kritik gewertet werden muss. Ganz wie an der entscheidenden Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert besann sich um die Jahrhundertmitte eine Gruppe von Forschern zurück auf den Text und damit gegen die neue Polyhistorie und der mit ihr einhergehenden intellektuellen Laxheit. Die Werkimmanenz, denn von ihr ist die Rede, verstand den Text wieder als Herausforderung an die methodische Kompetenz, nicht die Intuition des Philologen. In ihren verschiedenen Spielarten, von der Staiger-Schule bis zum angelsächsischen close reading, begann sie bald, die Neuphilologien zu dominieren. In der Werkimmanenz bzw. dem close reading geht es in der Praxis um einer wieder stärkere Beachtung von Gattungen und Formen, von allen Arten ästhetischer und poetologischer Phänomene, gepaart mit konzentriertester Aufmerksamkeit gegenüber sprachlichen Nuancen. Das zyklische Lesen Schlegels könnte Pate gestanden haben (vgl. aber auch Danneberg, 1996). Fatal für die weitere Entwicklung der philologischen Auslegung waren dabei jedoch zwei Faktoren. Erstens verstand sich die Werkimmanenz als Rückzug auf die Interpretation. Ihr Interpretationsbegriff war allzu sehr von der hermeneutischen Theorie unter dem neuen Schirmbegriff der Geisteswissenschaften geprägt, um bewusst an das alte Wechselspiel von Hermeneutik und Kritik anzuknüpfen. Spätestens jetzt gingen Edition und Auslegung endgültig getrennte Wege479, der große Traditionsbruch durch die Zäsur des Krieges sowie der mit Heidegger und Gadamer einsetzende Triumphzug einer für alle Geisteswissenschaften verbindlichen Universalhermeneutik taten ein Übriges. Die Angst, in der Reaktion gegen die Geistesgeschichte wieder mit dem Positivismus verwechselt zu werden, führte zur Distanz gegen jede Art von Quellenforschung und macht den Positivismusvorwurf in der deutschen Literaturwissenschaft bis heute zur allmächtigen Waffe. Die ursprüngliche methodische Einheit der Philologie als Kombination
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Dies gilt vor allem für die neuphilologischen Fächer, die nun aber im Paradigma an die Spitze gerückt waren. Der Kommentar des großen Editionswissenschaftlers Fredson Bowers aus den späten fünfziger Jahren hat bis heute an Aktualität nichts eingebüßt: „[...] it is still a current oddity that many a literary critic has investigated the past ownership and mechanical condition of his second-hand automobile, or the pedigree and training of his dog, more thoroughly than he has looked into the qualifications of the text on which his critical theories rest." (1966:5) Mediävistik und Klassische Philologie blieben konservativer, verschwanden dafür aber fast vollkommen aus dem öffentlichen Bewusstsein und verloren den Status, repräsentativ für Philologie oder Literaturwissenschaft zu sein. Karl Stackmann hat etwa die Aufgabe der Philologie noch beschrieben als „die Rekonstruktion der geistigen Kultur vergangener Epochen. Zur Erreichung dieses Zieles bearbeitet sie die schriftliche Hinterlassenschaft dieser Epochen." Sie sei damit Teil der Geschichtswissenschaft, achte aber besonders auf die unverfälschte Überlieferung und müsse „Mittlerin" zwischen Heute und Gestern sein (nach Grenzmann/Herkommer/Wuttke, Hrsg., 1987:VII).
6.1. Wiedergewinnung der Kritik
329
aus Textkritik, Quellenforschung, genauem Lesen und ästhetischem Urteil war damit auf verschiedene, einander verachtende Schulen aufgespalten. Die zweite, allerdings unbeabsichtigte Konsequenz der Werkimmanenz und des close reading war eine Geringschätzung des kontextuellen Wissens, kurz des nötigen Bildungshintergrunds, den jede Auslegung, nicht nur die literarische Exegese, fordert. Was für die Pioniere der Werkimmanenz noch selbstverständlich war, ging in der Folge sozialer Veränderungen und bildungspolitischer Neuausrichtungen rasch verloren480. Durch den Strukturalismus und Poststrukturalismus wurde im Laufe der Zeit die Meinung verfestigt, man könne mit Hilfe einer beliebig auf Texte applizierten ,Theorie' unabhängig vom eigenen Kontextwissen (aber nicht der eigenen Ideologie) Texte dechiffrieren. Breite Belesenheit, die den Philologen einst kennzeichnete und die Methodik überhaupt erst ermöglichte, wurde zur entbehrlichen, vortheoretischen Naivität. Die Werkimmanenz, die sich zunächst selbst noch an das bildungsbürgerliche Publikum gerichtet hatte — der amerikanische New Criticism war politisch sogar ausgesprochen konservativ — grub sich ihr eigenes Grab481. Nietzsches Kern jeder guten Philologie — die ständige Vergegenwärtigung des eigenen Standorts, die unausgesetzte Selbstbeobachtung und Selbstkritik, trat dabei gegenüber dem Vermittlungsaspekt in den Hintergrund. Allzu oft stand die Großartigkeit der ausgelegten Texte von vornherein fest. Eine Philologie, die in dieser Weise zum Transportmittel nur noch bestimmter Perspektiven und Weltanschauungen wurde, musste mit dem Schwund ihrer beflissenen Leserschaft und der Revolte gegen ihre Deutungsmacht erleben, wie nun auch die Methoden als wertlos angesehen wurden, auf die sie sich gestützt hatten. Mit den Umwälzungen, die spätestens das Jahr 1968 hervorbrachte482, nahm die Schnelligkeit im Wechsel der Theoriemoden zu. Von den ursprünglichen Funktionen der Kritik war also im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts nicht viel mehr als ein kleiner Teil der höheren Kritik übrig geblieben, das ästhetische Urteil. Diese Verkürzung der Kritik hat besonders im 480
Das close reading war ähnlich wie der später aufkommende Strukturalismus auch eine Antwort auf die Massenuniversität, in der Studenten ohne große Vorkenntnisse bald das Gros ausmachten. Ihnen musste eine gleichsam demokratische Methode geboten werden, mit deren Hilfe sie unabhängig vom Bildungsstand zu akzeptablen Ergebnissen in der Auslegung kommen konnten. Das close reading ist eng mit der Generation der Kriegsheimkehrer aller Schichten verbunden. Eckehard Simon hat den schönen Ausdruck von den „paperback-flinging troops of the New Criticism" (in Ziolkowski, 1990:13) gebraucht, die sich den Umgang mit teuren historischkritischen Ausgaben nicht mehr leisteten. Die Dekonstruktion führte in ihren popularisierten Varianten diese Tendenz nochmals in neue Abgründe.
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Es fehlt heute nicht an Versuchen, das close reading wiederzubeleben, wobei eine Absicherung gegen den Verdacht einer eventuellen konservativ-politischen Tagesordnung meist dazugehört (z.B. Donoghue, 1998). Diese Darstellung bezieht sich v.a. auf Westeuropa, ausgenommen Großbritannien, mit Einschränkungen auf die USA. In Osteuropa, namentlich der DDR, wurden unbeschadet der engen ideologischen Grenzen zumindest methodisch einige Züge der alten Philologie auch in den Neuphilologien konserviert, wie sich etwa an der Bedeutung wichtiger historisch-kritischer Ausgaben ablesen lässt. Dass dies möglicherweise mit dem hier stärker verankerten kulturellen Protestantismus zu tun hat, sei lediglich als Spekulation am Rande erwähnt.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
englischen Sprachraum eine lange Tradition, die schon Wolf bemerkte und kritisierte (1831:305f u. 385). Bereits in Samuel Johnsons Wörterbuch ist der „critick" in Anlehnung v.a. an Locke und Pope nur mehr „a man skilled in the art of judging of literature; able to distinguish the faults and beauties of writing", während der „philologer" noch sowohl den „grammarian" als auch den „critick" bezeichnen kann483. Die Kritik meldet sich erst in Form der Dekonstruktion und verschiedener anderer Kompensationsbewegungen, etwa der Ideologiekritik oder der Diskursanalyse wieder484, die freilich jeweils nur bestimmte Aspekte der alten Kritik wieder aufgreifen. Im englischen Sprachraum, wo in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch die ästhetisch wertende Funktion der Kritik heikel wurde, und zwar ohne dass ein Residuum anderer kritischer Traditionen zu erkennen gewesen wäre, war der Erfolg der kritischen Kompensationsbewegungen mithin deshalb besonders groß, weil der Mangel an kritischer Balance und historisch-kritischer Einsicht hier besonders markant ist485 — sie wurden deshalb 483
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Samuel Johnson's Oidionaty of the English language, hrsg. v. Alexander Chalmers, London, Studio Editions 1994 Das letzte Mal, dass die Dialektik von Hermeneutik und Kritik zumindest in der Theorie betont wird, scheint mir für die Germanistik in Hermann Pauls, noch stark von der klassischen Enzyklopädie beeinflusstem Grundriss von 1891 der Fall zu sein. Es gibt in der frühen Germanistik sonst kaum Enzyklopädien, da sie sich als Kind der allgemeinen, d.h. Klassischen Philologie verstand, die die prinzipiellen Fragen schon gelöst hatte — Paul etwa verweist immer wieder auf Boeckh. In Frankreich wurde die deutsche Altertumswissenschaft (und die philologische Tradition insgesamt) von jeher nur schwach wahrgenommen, und zwar nicht nur aus politischen Gründen (Bollack, 1983). Philologie galt in Frankreich höchstens als marginale Hilfswissenschaft, etwa auf dem Gebiet der Paläographie (Bollack, 2000a). In Großbritannien sind es wenige Randfiguren wie A.E. Housman gewesen, die sich der kritischen Philologie verpflichtet fühlten. Seine berühmten Aufsätze lesen sich wie Kurzdarstellungen der Bonner Schule. In The application of thought to textual entidsm heißt es „Textual criticism is a science, and, since it comprises recension and emendation, it is also an art. It is the science of discovering error in texts and the art of removing it. [...] It deals with matter not rigid and constant, like lines and numbers, but fluid and variable; namely the frailties and aberrations of the human mind, and of its insubordinate servants, the human fingers." Textkritik ist „crown and summit of all scholarship", wobei es eine Grenze der Erlernbarkeit gibt: „iriticus nasdtur, non fit." (1058f). Housman beklagt die Vernachlässigung der Textkritik in England sowie die in der Sache liegende Unmöglichkeit naturwissenschaftlich-empirischer Verifikation bzw. Falsifikation von Editionen, die methodisch natürlich wünschenswert wäre. Als positive methodische Autorität zitiert er ausgerechnet Friedrich Ritsehl und seine Plautusstudien! Interessante Parallelen zu Nietzsche, die aus derselben Wurzel stammen, sind beispielsweise die Betonung der intellektuellen Redlichkeit oder des aristokratischen, auswählenden Charakters der Textkritik. Housmans Unterscheidung von scholarship und literary criticism, die er etwa in seiner Cambridger Antrittsvorlesung The Confines of Critidsm genauer dargelegt hat, entspricht vollständig der Tradition von niederer und höherer Kritik. Die Kombination von beidem in einer Person sei selten. Er hebt die niedere Kritik besonders hervor, weil er die „literary attitude" für die „besetting sin" in England hält. Das positive Gegenbeispiel Deutschland dagegen übertreibe ins Gegenteil und verwechsele das Studium der klassischen Sprachen mit Mathematik (1969:35f). Housman ist damit ebenso unzeitgemäß wie Nietzsche (und ist es geblieben). Seine Vorstellung von literary scholarship bzw. Philologie entspricht wie Nietzsches dem vorpositivistischen aber dennoch methodischen Ideal der RitschlSchule in Verbindung mit dem Humboldtschen Bildungsgedanken. „The study of Latin is a science conversant with literature: there are therefore two ways in which it ought not to be pur-
6.1. Wiedergewinnung der Kritik
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besonders von Literaturwissenschaftlern als augenöffnend empfunden. Nicht ohne Grund war die Dekonstruktion in den Philologien erfolgreicher als in der akademischen Philosophie. Gerade an den Instituten, in denen es noch eine stabile Tradition der Werkimmanenz bzw. des close reading gab, konnte sie sich am stärksten durchsetzen486. Dass es sich bei den genannten Theorien um eine Rehabilitierung der Kritik handelt, wird vor allem an ihrem antihermeneutischen Grundgestus deutlich, der sich in äußerster Konsequenz auch gegen die Theorie selbst wieder wendet (s. de Man, 1982, 1986). Die Anhänger Paul de Mans verweisen durchaus selbstbewusst auf die Leistungen der Philologie; die mit dieser Schule verbundenen Probleme haben wir schon skizziert. Um eine genuine Anknüpfung an das philologische Paradigma handelt es sich jedenfalls nicht, auch wenn sie oft so verstanden wurde. Das Ressentiment, auf das de Man in Deutschland stieß, so Karl Heinz Bohrer, sei nicht verwunderlich angesichts einer stabilen methodischen Tradition, die an Hermeneutik, an Geistes- und Sozialwissenschaften ausgerichtet sei (7). Wenige haben den Mut, den etwa Nikolaus Wegmann in verschiedenen jüngeren Arbeiten bewiesen hat, nämlich die Philologie autonom aus ihrer eigenen Geschichte zu begründen. Doch selbst bei Wegmann spürt man etwas von der Furcht, das Plädoyer der Rückkehr zur Philologie könnte als Ansporn zu Textkritik und Positivismus missverstanden werden. Vielmehr gehe es um das „Ethos der Objektivität und Nüchternheit, einem Ethos, das ganz wesentlich aus der Nähe des Philologen zum Text, zur Schrift der Überlieferung geprägt ist und zugleich von hier aus je neu motiviert wird." (1988:350) Ironischerweise verkennt Wegmann die Bedeutung des späten Nietzsche für dieses Projekt und beruft sich auf den frühen, an Paul de Mans Interpretation geschulten Nietzsche. In einem grundlesued. It ought not to be pursued as if it were a science conversant with the operations of nature or with the properties of number and space, nor yet as if it were itself a branch of literature, and no science at all." (16) In jüngerer Zeit haben sich hervorragende Philologen wie F.W. Bateson für eine entsprechende Forschungsausrichtung eingesetzt, die aber im Klima der ,theory' vollkommen aus der Mode gekommen zu sein scheint: „Literary criticism and literary scholarship are often considered each other's antitheses. This is, I believe, a mistake. The two approaches to literature are, except at the most superficial level, complementary, both indispensable, both equally honourable apects of a single discipline." (Bateson, 1972:vii) In der englischen Literaturwissenschaft gab es zwar schon immer eine ehrwürdige philologische Tradition, die vor allem im Umfeld der großen Ausgaben (Shakespeare!) angesiedelt ist, aber sie kann sich in ihrer Außenwirkung mit den ,theory'-geleiteten Ansätzen längst nicht mehr messen. In jüngster Zeit lässt sich freilich im Umfeld der Editionen auch hier eine Rehabilitierung der Kritik beobachten. Den Leistungen des britischen scholarship ist größere Beachtung auch als wissenschaftliches Exportgut zu wünschen. 486
In einem Interview mit Stefano Rosso beschreibt Paul de Man unverblümt, wie sich Derrida an den amerikanischen Hochschulen v.a. deshalb durchsetzen konnte, weil die Textnähe seiner Verfahrensweise pädagogische Kontinuität gewährleistete und zugleich den Anstrich verlieh, mit der Zeit zu gehen (in de Man, 1986). Die Yale Critics konnten also den einmal erlernten Methoden des New Criticism treu bleiben und mussten nur den Jargon austauschen. Die Theorien der wissenschaftlichen Väter ließen sich so bequem angreifen. Literaturkritik wurde Mittel zum Zweck nicht so sehr der Metaphysikkritik, sondern der Selbstvergewisserung einer verunsicherten Generation.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
genden späteren Aufsatz (Wegmann, 1994) wird eher wieder Friedrich Schlegel und ganz allgemein die Lektüre ins Zentrum gestellt. Nietzsche, der ohnehin für all jene zum bloßen Zitatenschatz geworden ist, die die Auslegung gern auf der Lektüre begründen487, kann Wegmann auch hier nicht gerecht werden488. Unabhängig von Topos- oder Stilforschung, Werkimmanenz oder Dekonstruktion kann sich die Wiedergewinnung der Kritik auf insgesamt fünf Tendenzen jüngeren Datums stützen, die allesamt für die Rekonstruktion des historisch-kritischen Nietzsche von Bedeutung sind: Erstens geht man heute ohnehin wieder entspannter mit der Subjektivität um, das iudicium, die alte (höhere) kritische Urteilskraft des Philologen lässt sich weder ausschließen noch ersetzen (Bein, 2003:36); Szientismus und Objektivitätswahn früherer Jahre sind jedenfalls auf dem Rückzug. Dies hat, zweitens, Auswirkungen auf die Teilnahme der Lite-
So etwa in dem ansonsten interessanten Buch von Jordheim (2001), das allerdings nur auf Norwegisch erschienen ist und deshalb wenig Verbreitung finden wird. Jordheim traut der Kombination von Grammatik, Kritik und Hermeneutik keine theoretische bzw. fachbegründende Kraft mehr zu, da die Grammatik im Sprachunterricht aufgegangen, die Kritik mit dem positivistisch-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal,belastet' sei und die Hermeneutik sich von den philologischen Wurzeln gelöst habe. Seine theoretische Fundierung einer neuen Philologie als Wissenschaft vom Lesen widerspricht sich an der Stelle selbst, wo er zugibt (S. 265), dass Lesen immer nur Praxis sein kann und sich als solche wesentlich von der Theoriediskussion unterscheidet, d.h. von der Theorie oder ihren Regeln nicht kontrollierbar ist: wozu dienen Theorien, wenn darunter nicht viel mehr als nur bestimmte Fragestellungen verstanden werden? Jordheims Abschnitt zu Nietzsche (S. 70-78) ist konventionell und stützt sich auf die SchlechtaAusgabe. 488 Wegmann wäre wohl selbst der Erste zuzugeben, dass seine Textbasis zu Nietzsche wenig tragfähig ist: er stützt sich in erster Linie auf die Enzyklopädie-Vorlesung sowie „Wir Philologen". Er zeigt sich gleichwohl überrascht, dass Nietzsche im philologischen Ethos so viele Gemeinsamkeiten mit Lachmann aufweise, von dem Wegmann wegen dessen Theoriearmut ansonsten wenig hält. Für Wegmann fällt die Textkritik unverständlicherweise hinter den angeblich hermeneutischen Verstehensbegriff eines Schlegel oder Boeckh zurück, da er sie als empirisches, an positivistisch-naturwissenschaftliche Methodik angelehntes Wissen vom Text auffasst, was hinsichtlich der frühen Tradition der Textkritik zumindest unhistorisch ist. Im Gegensatz dazu versuche Nietzsche, die Philologie wie Schlegel und Boeckh über die grundlegende Operation des Lesens zu begründen. Das ist höchstens die halbe Wahrheit. Dass Philosophie und Philologie sich durch das Lesen unterscheiden (obwohl es methodisch schwer fassbar und kontrollierbar sei), ist Wegmanns zentrale, an Schlegel und Boeckh entwickelte Einsicht. In dem Versuch, das Lesen über den bei Schlegel gefundenen Gegensatz von Geist und Buchstabe zu erfassen, geht er nicht auf das naheliegende Problem der Allegorese ein, sondern behauptet, dass laut Schlegel allein das Lesen auf „adäquate" Weise Geist freisetzen könne (es ist ja gerade die Frage, was denn adäquat ist), ohne „die unhintergehbare Buchstäblichkeit" (und noch einmal: was ist das?; 1994:386f) zu vernachlässigen. Philologie sei geradezu durch die Aporie von Geist und Buchstabe definiert und schöpfe daraus ihre spezifische Systematik. Dergestalt von falschen Prämissen ausgehend schlussfolgert Wegmann schließlich, dass die Philologie als Erbin der hermeneutica sacra den Text schon immer als heilig, tief und bedeutungsvoll auffasse und sich deshalb immer „nur mit erstrangigen Werken abgeben soll" (393). Damit wird nicht nur die alexandrinische Tradition verschwiegen, sondern auch der Unterschied von statarischer und kursorischer Lektüre eingeebnet. In Wolfscher Tradition wurden die erstrangigen Werke nur durch den vergleichenden Kontrast zu zweit- und drittrangigen identifiziert. Lesen wurde traditionell nicht über die theologische Differenz von Geist und Buchstabe, sondern über die philologische von Hermeneutik und Kritik bestimmt.
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6.1. Wiedergewinnung der Kritik
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raturwissenschaftler am literarischen Leben: sehr viel mehr Philologen betätigen sich wieder als ästhetische Kritiker, als Rezensenten oder Essayisten. Drittens haben in den letzten Jahrzehnten explizit antihermeneutische Bewegungen an Dynamik gewonnen, die sich nicht auf eine Theorie festlegen lassen. Der Wendepunkt war wohl Susan Sontags Essay Against Interpretation, der unbewusst gegen den Mangel an Kritik und den Alleinbestimmungsanspruch der Interpretation antrat, denn „interpretation must itself be evaluated" (1967:7). Sontag richtete sich ganz wie Nietzsche gegen den „overt contempt for appearances" (6) der religiösen Interpretation, aber auch des Marxismus und Freudianismus und kritisierte letztlich den applikativ-allegorischen Charakter der Interpretation, die Rache des Intellekts an der Kunst, der eine Art von unmittelbarer Erfahrung entgegenzusetzen sei: „In place of a hermeneutics we need an erotics of art." (14) 489. Viertens gibt es seit etwa dreißig Jahren eine neue Blüte der Editionswissenschaft, die zwar den Mainstream der interpretativen Literaturwissenschaft noch nicht erfassen, aber zumindest an ihre eigene Bedeutung erinnern konnte (Oellers, 1996). Die letzte große Zeit der Edition war die vorletzte Jahrhundertwende; deshalb deutet sich hier in der Tat ein Paradigmenwechsel an. Gerade die Nietzscheforschung beweist, dass Editoren heute keine Kärrner, sondern selbst kritische Interpreten sind. Aus dem Umfeld großer Editionen stammen heute die solidesten Arbeiten. Schließlich kündigt sich in der Literaturwissenschaft eine Renaissance der Textsorte Kommentar an, wie er in der Nietzscheforschung schon seit geraumer Zeit gerade in einigen der besten Arbeiten praktiziert wird: Barbara von Reibnitz versteht die Kommentartechnik ganz in philologischer Tradition des guten Lesens als „Detailerklärung des Textes" anstelle geschlossener Interpretation (1992:4); eine Verteidigung der Kommentarform findet sich auch bei Sommer (2000:3 lf). Wenn sich die Dekonstruktion gegen die Interpretation wendet, dann meint sie Auffassungen von Kohärenz und Einheitlichkeit des Textes. Sie trifft sich deshalb mit der philologischen Tradition in der Vorliebe für den Kommentar, ohne deshalb mit ihr identisch zu sein: Insofern der Kritiker auf diese Weise nur die im Text selbst angelegte Dekonstruktion fortschreibt, macht er sich zum Medium nicht mehr eines „Sinns", sondern jener Energien, die er selbst gegen jeden Formalisierungs- und Totalisierungsversuch zur Entfaltung bringt. Das war einmal das Programm romantischer divinatorischer Kritik, die freilich nirgendwo in der Literaturwissenschaft Nachfolger gefunden hat. Aus deren Perspektive erübrigen sich aber nicht nur alle Versuche, die ästhetische Dimension eines Textes durch Applikation auf ein vorgängiges kunstphilosophisches Totalitätsideal zu erschließen, sondern auch die Unterscheidungen zwischen Literatur und
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Das große Interesse an der deutschen Frühromantik in den letzten Jahren deutet in dieselbe Richtung. Vgl. ferner Spree (1995) zu verschiedenen interpretationskritischen Ansätzen aus ästhetisch-literarischer und wissenschaftsinterner Perspektive der letzten Jahrzehnte.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Literaturkritik, zwischen Text und Metatext, zwischen Text und Kommentar. (Zons,
1995:405)«° Wenn in dieser Arbeit eine philologische Lektüre Nietzsches begründet wird, liegt darin auch die Aufforderung an die Literaturwissenschaft, sich auf ihr eigenes Erbe zu besinnen. Nur eine historische und kritische, komparatistisch und gleichzeitig methodisch fundierte Literaturwissenschaft wird Nietzsche gerecht nicht zuletzt deshalb, weil er seine Leser selbst dazu aufgefordert hat. 6.2. Text und Quelle Eine allgemeine Geschichte der modernen Wissenschaften würde für viele Disziplinen namentlich der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten folgendes Muster beschreiben. Das neunzehnte Jahrhundert erfand die Geschichte bzw. die durchgehend historische Betrachtung der Phänomene; das zwanzigste Jahrhundert setzte die Entdeckung der Struktur dagegen und unterschied nun zwischen diachroner und synchroner Betrachtungsweise. Die synchronstrukturelle Betrachtungsweise wurde (und wird: etwa in der modernen Linguistik) bis zum Exzess betrieben und musste notwendigerweise ihrerseits an Grenzen stoßen. Seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mehren sich deshalb die Versuche, die historische und die strukturelle Analyse neu miteinander zu verbinden, sei es als Geschichte von Strukturen, sei es als Struktur der Geschichte. Vor allem in der Literaturwissenschaft haben entsprechende Theorieangebote (etwa die Diskursanalyse, die Kultursemiotik oder der New Historicism) viele Anhänger gefunden. Die Sehnsucht nach einer Einheit von Diachronizität und Synchronizität gerade in dieser Disziplin lässt sich wohl nur durch die verschüttete, aber nachwirkende Erinnerung an die einstige Einheit der Philologie erklären. Die diachron-synchrone Kombination aus Textgeschichte, d.h. z.B. Quellenkritik, Literaturgeschichte und textgenetischer Betrachtung sowie genauem Lesen der so etablierten Texte existierte für einen kurzen Augenblick,
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Zons geht hier von Paul de Man aus. Am Kommentar hat sich auch Derrida in Glas (1974) versucht, allerdings ist es eine Kommentarform, die an religiöse Vorbilder angelehnt ist und den Kommentar vom Text nicht trennt. Manfred Windfuhr schreibt mit Recht: „Der Kommentar ist in einzelnen Fachgebieten wie der Theologie, dem Rechtswesen und der Altphilologie noch geläufig, ansonsten aber ziemlich vernachlässigt. Die letzte Blütezeit des Kommentars, bezogen auf antike und biblische Texte, war die Renaissance. Wir haben hier innerhalb der Germanistik und vermutlich auch in anderen Literaturwissenschaften einen großen Nachholbedarf." (1991:175). Dagegen zeigt sich etwa Martens (1993) skeptisch gegenüber der Leistungsfähigkeit von (Sach)kommentaren bei hochkomplexen Texten, da sie oft einschränken oder in die falsche Richtung führen. Stattdessen solle man das Gewicht auf die Darstellung der Textgenese legen, d.h. den Leser durch Offenlegung von Quellen, Vorstufen, Überarbeitungen aktiv in den Prozess der Bedeutungskonstitution einbeziehen. Dies ermögliche ein besseres Eindringen in die Welt des Autors als die bloße Suggestion. Fraglich bleibt freilich, wieviele Leser bereit sind, einen so gewichtigen Teil der Arbeit auf sich zu nehmen.
6.2. Text und Quelle
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ehe sich die Philologie dem Historismus, dann dem Positivismus ergab, die beide von einem Strukturalismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen abgelöst wurde. Der Ort, an dem diese synthetische Arbeit noch stattgefunden hatte, war der Text: die Geschichte des Textes berührte auch seine Form, seinen kulturellen Kontext, seine Folgen — man denke nicht zuletzt an die Entwicklung der Genres und der dazu gehörigen Theorie —; seine Form und Struktur wiederum konnte nur im Rückgriff auf die Geschichte angemessen gewürdigt werden. Die Philologie versuchte, das Werden, die Entwicklung selbst in der Form der Textstruktur festzuhalten. Indem sie Sprache, Texte oder Kulturen als Organismen auffasste, legte sie sich auf eine genetische Betrachtungsweise fest, die historische und strukturelle Komponenten vereinte. Die historisch-kritische Philologie in ihrer deutschen Ausprägung wäre ohne ihre spezifische, besonders Humboldt folgender Sprachauffassung nicht denkbar: sie geht zu einem guten Teil auf sie zurück. „Die Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst," so Humboldt in der Einleitung zum Kawi-Werk, „ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn." (1963:418) Organismen sind endgültig seit Kant dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren telos in sich tragen; sie sind kein bloßes Mittel zum Zweck. Sprache und die mit ihrer Hilfe verfertigten Gebilde, also Texte, können deshalb nie auf bestimmte Funktionen reduziert werden. Ihre Eigenschaften kann man vielmehr nur beschreibend nachvollziehen. Um Texte wie Sprache zu bestimmen, muss man ihre Geschichte darstellen — ein Prozess, der im Grunde unendlich ist, denn der Text lässt sich immer nur für kurze Zeit dem Werden entziehen. Texte sind instabile Gebilde, flüssig wie der Sinn, den sie transportieren. In Ritschis Kolleg Institutiones grammaticae linguae latinae, das Nietzsche mit ornamentalen Schnörkeln versehen ins Reine geschrieben hat, steht der programmatische Satz: „Um das Werden zu finden, sind die Vorstufen wichtiger als der Abschluss." (GSA 71/43:Blatt 3). Den Begriff des Textes zu definieren ist angesichts der unendlichen vorliegenden Versuche ein letztlich fruchtloses Unternehmen und scheint selbst nur noch historisch-beschreibend möglich (so bei Scherner, 1996). Es muss aber an den wesentlichen Unterschied erinnert werden, der den für Nietzsche verbindlichen Textbegriff vom heute vorherrschenden trennt. Für Nietzsche ist der Text ein Gewordenes und Herzustellendes — heute bezeichnet der Text in der Sprachwissenschaft, im Alltagsverständnis und selbst für die meisten Literaturwissenschaftler ein Gegebenes, eine vorliegende Struktur und ein zu Rezipierendes. Dieser Unterschied ist nicht nur, wie bereits gezeigt, für das Verständnis von Nietzsche folgenreich, sondern auch für den Umgang mit Nietzsches Texten
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6. Schluss: Nietzsche lesen
selbst. Nietzsches texteditorische Theorie und Praxis ist historisch491. Sein grundsätzliches Verhältnis zum .Text' ist es nicht. Die philologische Textauffassung könnte einen Beitrag zur Diskussion um den Textbegriff liefern, die in der Textlinguistik auf Grund gelaufen ist. Übrig bleibt vom Text nach allen Debatten in der Linguistik nicht viel mehr als ein intentionales, vom Rezipienten als kohärent aufgefasstes, intern strukturiertes Zeichengebilde, das in einem kommunikativen Interaktionskontext steht. Kohärenz stellt dabei das wichtigste Textkriterium dar; die anderen klassischen Kriterien, wie sie von de Beaugrande und Dressler aufgestellt worden sind, erwiesen sich als vernachlässigbar (s. schon Vater, 1992:65)492. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass Kohärenz allein von der Interpretation des Textes abhängig ist — womit man wieder beim Ausgangspunkt wäre, nämlich der Unmöglichkeit, Texte als solche zu bestimmen. Die Textlinguistik hat mittlerweile eingesehen, wie stark sie ihren Textbegriff, allen theoretischen Voraussetzungen zum Trotz, am niedergeschriebenen Text entwickelt hat493. Hinzu kommt die Bedeutung des kommunikativen Kontexts, die den Text nur im Spannungsfeld anderer Kommunikationsakte bestimmen lässt. Die Intertextualitätsdebatte, mediale Veränderungen (wie die Entstehung der Textsorte Hyper-
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Nietzsche glaubte mit seinen Zeitgenossen noch an die Inspiration des Editors und an die Möglichkeit, Texte von den meisten .Fehlern' zu reinigen. Heute neigt man im Zweifelsfall dazu, den Editionen sog. Fehler zu belassen. Historisch haben sich zwei grundlegende Editionsverfahren herausgebildet: das Sammeln von Varianten, aus denen dann ein Text hergestellt wird oder die Auswahl eines verlässlichen Grundlagentextes oder einer Leithandschrift (copy text), an dem andere Zeugen gemessen werden. Das erste Verfahren war vor allem in Deutschland üblich, das zweite in England und Frankreich. Wichtig wurde die Debatte um Autorintention und Autorisation. Während man sich in der deutschen Neuphilologie lange an der Ausgabe letzter Hand orientierte, neigt man heute dazu, prinzipiell jede Fassung als gleichwertig zu betrachten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt autorisiert worden ist. In der angloamerikanischen Editionstheorie wurde der Autor dagegen lange nur als ein Zwischenglied in der Herstellung der Texte begriffen. Nietzsches Texttheorie weist veraltete Merkmale aus beiden Traditionen auf. Zunächst stellt die Philologie zu seiner Zeit Mischtexte her, d.h. Texte, die so selbst nie existiert haben. Solche Mischtexte werden heute meist als kontaminiert abgelehnt — obwohl sich die RitschlLachmannsche Recensio selbst ursprünglich gegen die eklektisch-unmethodische Aufbereitung von Archetypen aus vielen Überlieferungen gerichtet hatte. Stattdessen konzentriert man sich auf die Rekonstruktion tatsächlicher historischer Fassungen bis in die Darstellung der Textgenese hinein, inklusive einem Apparat von Varianten und Lesarten. Wie in der angloamerikanischen Edition ging es zu Nietzsches Zeiten aber auch, selbst wenn dies nicht immer deutlich wird, um die Rekonstruktion des vom Autor gewollten Textes, da das Original unerreichbar war. Damit verbunden war das Ziel der definitiven Ausgabe, die aufgrund der Kenntnis des Autors, seiner Zeit und Sprache möglich wurde. Die Umstellung auf die Autorisation und auf Textgenese schränkt diese Möglichkeit ein. Autorisation ist darüberhinaus bei zensierten Texten oder etwa bei Nachlasseditionen schwierig — siehe den Fall Nietzsche. Grundlegende Literatur zum Thema u.a.: Kanzog (1991), Senger (1986), Tanselle (1990).
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Die klassischen Kriterien der Textualität nach de Beaugrande/Dressler (1981) sind Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situatdvität, Intertextualität. Die Textlinguistik ist besonders im deutschsprachigen Raum, hier vor allem in den protestantischen Regionen verbreitet. Möglicherweise handelt es sich noch immer um eine Spätfolge der Bibelkritik.
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6.2. Text und Quelle
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text) machen Definitionsversuche noch komplizierter494. Ferner scheint sich die Textsortenlinguistik auf Umwegen der philologischen Genretheorie anzunähern. Für Textologie bzw. Texttheorie könnte es einen Weg aus dem definitorischen Dilemma geben, nämlich jenen, der von der einseitigen Konzentration auf Struktur und Rezeption wegfuhrt und zur Genese und Produktion hinfuhrt. Was ein Text ist, lässt sich am besten bestimmen, wenn man seine Entwicklung nachvollzieht und seinen Urheber, bzw. die Umstände seiner Entstehung untersucht. Ein Text wäre demnach ein gewordenes und geschaffenes Gebilde, dem in einem bestimmten Zustand eine gewisse Dauer eignet. Liegt diese Dauer nicht auf natürliche Weise vor, kann sie vom Editor bzw. Rezipienten künstlich hergestellt werden495. Interpretation lässt sich auf diese Weise nicht ausschließen, wird aber auf eine neue Basis gestellt. Wenn Textologie und Philologie Texte unter dem Gesichtspunkt ihres dynamischen Charakters betrachten, entgehen sie den Aporien der reinen Hermeneutik. Diese nämlich beruht wie die strukturalistische und semiotische Texttheorie auf dem Grundsatz, den Klaus Weimar in seiner literaturwissenschaftlichen Enzyklopädie unmissverständlich so ausgedrückt hat: „Texte verändern sich nicht." — sie seien sogar „zeltlos und vollendet" (1980:40f). Einen größeren Gegensatz zur philologischen Tradition, gerade jener Tradition der Enzyklopädie, auf die Weimar sogar selbst zurückgreift, lässt sich kaum denken. Das einstige Markenzeichen des Philologen, sein Misstrauen gegenüber der Überlieferung, hat hier einem naiven Vertrauen Platz gemacht. Das Spannungsverhältnis zwischen interpretatio und emendatio ist zusammengebrochen (vgl. Maurer, 1984:325). Es ist daher nur konsequent, wenn Weimar die Berufung auf den Text in der Auslegung als prinzipiell sinnlos zurückweist, da der gelesene und verstandene Text schon Eigenprodukt des Rezipienten ist und nicht mehr in seiner Fremdheit erfasst werden kann (Weimar, 1996:113) — die Vorstellung, man entnehme dem Text etwas darin Enthaltenes und müsse sich vor dem Hineinlegen hüten, reiche für den „Alltagsgebrauch", sei aber für die Theorie ganz unbrauchbar. Abgesehen von dem fragwürdigen Ansatz, der die Anforderungen der Theorie über jene der Praxis stellt, sind es Weimars Prämissen, die in die Irre führen. Ein Blick in die Geschichte der Nietzsche-Edition genügt, um sie zu 494 495
Zur aktuellen Debatte s. Fix/Adamzik/Antos/Klemm (2002). Die Textualitätskritierien könnte man so etwa um +/— Durativität ergänzen (und daraus folgend möglicherweise +/— situationsgebunden). Dies wäre noch immer unabhängig vom Medium, also nicht an schriftliche Texte gebunden, wobei es dennoch sinnvoll wäre, schriftliche (d.h. literate) Texte wieder von mündlichen (oraten) Sprechhandlungen zu unterscheiden. In der gängigen Auffassung, die hier nicht diskutiert werden kann, wird der Textbegriff allzu leicht mit dem des Sprechaktes identifiziert und zeitigt dadurch große Erklärungsnot — und zwar nicht nur weil ein weiter Kommunikationsbegriff oder eine handlungstheoretische Textlinguistik die Abgrenzung zur Conversation Analysis erschwert, sondern weil damit die spezifische Leistung literater gegenüber oraten Texten vernachlässigt wird. Die inzwischen gut etablierte Textproduktionsforschung hat den gängigen Textbegriff der Linguistik noch nicht zu verändern vermocht. Vgl. etwa Arne Wrobel, Schreiben als Handlung. Überlegungen und Untersuchungen %ur Theorie der Textproduktion, Tübingen, Niemeyer, 1995 und dazu meine Rezension in der „Zeitschrift für Germanistik" 3 (1996), 739-742
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6. Schluss: Nietzsche lesen
widerlegen496. Es ist an der Zeit, das simplifizierende Modell von Sender und Empfänger, welches etwa die Linguistik bis heute prägt, nicht nur mithilfe der Hermeneutik abzulösen, sondern der Hermeneutik selbst nachzuweisen, dass sie das Problem nur verschoben hat, in dem sie sich durch die Zirkelmetapher auf das Gespräch und den gegenseitigen Austausch von Sender und Empfänger konzentrierte, beide Kategorien letztlich aber beibehielt497. In der Editionstheorie wird nunmehr schon seit geraumer Zeit vorgeschlagen, den von Louis Hay, dem Pionier der französischen critique genetique, als ,dritte Dimension' der Literatur bezeichneten Aspekt bei der Textauslegung ins Zentrum zu stellen, nämlich die Entstehung des Textes. Die Textgenese versteht sich nicht als Ersatz der Interpretation, sondern als Ergänzung und Korrektiv. Sie ist die Chance, die Jürgen Fohrmann in einer vorbildlichen Darstellung nicht zufällig unter Hinweis auf Foucaults Interpretation von Nietzsches Genealogie beim Namen nennt, nämlich „den Text durch die Entstehung des Textes, also wieder durch Texte" zu kritisieren, d.h. „zu sich selbst als Fremden in Beziehung setzen zu lassen und damit zusätzliche Komplexität zu gewinnen." (1994:350f). Die Textgenese arbeitet konkret am empirischen Objekt der ecriture und besitzt ein antistrukturalistisches Selbstverständnis. Sie versteht sich als Blick hinter die Kulissen der Werkstatt, als quasi-archäologisches Projekt, das auch den sozialen und institutionellen Kontext des Schreibprozesses berücksichtigt. Editionswissenschaft soll keine technische Spezialdisziplin mehr sein, sondern Verbindung von Geist und Buchstabe, Edition und Interpretation als genaue Arbeit am Text praktizieren (Hay, 1984; Zeller, 1989)498. Literaturwissenschaft und Editionswissenschaft müssen sich wieder in stärkerem Maße für einander öffnen. Als Versuch einer Überwindung der „age-old separation of powers between scholars and critics" (Falconer, 1993:2) illustriert die textgenetische Literaturwissenschaft auf vorbildliche Weise die oben diagnostizierte Wiedergewinnung der Kritik, d.h. 496
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Man denke hier nur an die Wirkung der verschiedenen Nachlasskompilationen oder das Verhältnis von Nietzscheforschung und Entwicklung der Nietzsche-Edition insgesamt. Das Kommunikationsmodell allein fiir schriftliche publizierte Texte wird z.B. schon durch die Anteile von Drucker, Verleger, impliziertem Leser weiter verkompliziert (vgl. Falconer, 1993). Grundlegend dazu Gunter Martens: „Denn hier geht es ja nicht wie im normalen Lese- und Interpretationsgeschäft darum, für einen feststehenden Textträger eine Sinndimension zu erschließen, sondern gerade umgekehrt, aus der Annahme eines Sinns den Textträger erst zu konstituieren. [...] Text ist als ein komplexes Zeichen, als ein unauflösbarer Zusammenhang von signifiant und sigmfie (de Saussure) oder dynamischer Strukturzusammenhang von Zeichenträger, Interpretant und Zeichenobjekt (Peirce), immer in Bewegung, ist aus der Sicht des bedeutungssetzenden Rezipienten niemals voll fixierbar." (1989:12). Interessant in diesem Zusammenhang der Lektürebegriff eines der Pioniere der critique genetique als „operation par laquelle on fait surgir un sens dans un texte, au cours d'un certain type d'approche, ä l'aide d'un certain nombre de concepts, en fonction du choix d'un certain niveau auquel le texte doit etre parcoru [...] Le lecteur ne travaille pas comme un recepteur en face d'un emetteur, il n'est pas le destinaire d'un message, il ne se preoccupe pas des intentions de l'auteur: il est coproducteur du texte, en ce qu'il rassemble um serie d'effets de sens." Die Lektüre zeige sich als Phantasiegebilde (fabulation), ihre Wahrheit sei immer phantastisch, sie sei eine Investition in jeder Bedeutung des Wortes, und als solche aleatorisch (Bellemin-Noel, 1972:16).
6.2. Text und Quelle
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einer Auslegung, die sich auf Vorstufen und Varianten eines untersuchten Textes stützt, ohne sich dadurch vom Lesen entbunden zu fühlen: Gegenstand einer textgenetischen Betrachtungsweise ist der Fixierungsprozeß eines literarischen Textes. Der Fixierungsprozeß aber ist von der ersten Notiz bis zur Druckfassung Gegenstand der Textanalyse. Der textanalytische und interpretatorische Anteil muß, vielleicht in Form eines fortiaufenden Selbstkommentars, bei der Apparatgestaltung und in der dokumentierenden Rekonstruktion der Textgenese einer historischkritischen Ausgabe sichtbar gemacht werden, (in Gellhaus u.a., Hrsg., 1994b:325)
Für die Nietzscheforschung ist vor allem der Umstand interessant, dass die Literaturwissenschaft mit dieser Perspektive erstmals seit mehr als einhundert Jahren an Methoden anschließt, die für Nietzsche selbst noch verbindlich waren. Mit ihrer Hilfe lassen sich Nietzsches Texte nicht nur besser ,verstehen', sie lassen sich überhaupt erst auf eine Weise rekonstruieren, die Nietzsche gerecht wird. Wenn der Respekt vor dem Gegenüber gebietet, die Vorgaben zu berücksichtigen, nach denen er verstanden werden will, den Takt, den er mit Recht einfordern kann, so gibt es keine Wahl. Nietzsches schon zitierter Wunsch nach einem Leser, der ihn liest „wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen." (EH Warum ich so gute Bücher schreibe 5, 6:305) fordert zuallererst die Rücksicht auf den Textstand. Eng verbunden mit der Etablierung des Textes als der historischen Komponente der Texterklärung ist die synchron-analytische des Lesens. Wie das Zitat von Axel Gellhaus beweist, ergibt sich daraus zwangsläufig eine Art Kommentar, wie er schon als Nietzsches Idealvorstellung der Lektüre herausgearbeitet wurde. Die Symbiose von Textkritik und Interpretation, die sich, im Gegensatz zum späteren Positivismus nicht auf die genetische Reduktion des Textes einlässt499, ist die bedeutendste Gemeinsamkeit der textgenetischen Kritik mit der alten Philologie: So prekär es ist, den Vorstufen eines Textes materielle Deutungshinweise für das Verständnis des späteren Produkts entnehmen zu wollen, so fruchtbar hat sich seit den Tagen Friedrich August Wolfs die Berücksichtigung der spezifischen Produktionsund Vermitdungsweise, gewissermaßen der ,Natur' eines Textes erwiesen, wie sie sich nicht zuletzt an seiner Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte ablesen läßt. Die Homerischen Epen sind erst angemessen gewürdigt worden, seitdem ihr auf Mündlichkeit beruhender Charakter - improvisierte Darstellung einer Geschehensphase in festgefugten traditionellen Redeformen - von den Interpreten berücksichtigt wurde. (Maurer, 1984:347)
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Falconer (1993) weist zwar darauhin, dass viele Eigenschaften der Textgenese nicht neu seien, setzt die Entstehung der „literary genetics" aber unverständlicherweise in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts an, womit er die moderne Textgenese freilich bequem u.a. von der positivistischen Einflussforschung absetzen kann.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Bei der v.a. in Frankreich entwickelten critique genetique500 handelt es sich also einmal mehr um eine deutsche Tradition, die erst als Re-Import wieder salonfähig wurde. Entwickelt von französischen Germanisten bzw. nach Frankreich ausgewanderten deutschen Wissenschaftlern, passt sie schlecht in die noch immer an der kanonischen Ausgabe ausgerichtete französische Tradition501. Ihr Hauptgegner war deshalb zunächst der Strukturalismus. Ausdrücklich wollte man sich auch der seit Foucault und Barthes verbreiteten These vom Tod des Autors widersetzen, die mittlerweile ohnehin als intellektuell tot gelten kann502. Einzelne Vertreter haben sich ferner auf Nietzsche bezogen503. Mit dem Interesse selbst an der Materialität der Handschriften und Schreibwerkzeuge stellt die critique genetique die konsequenteste Wiederbesinnung auf den Textleib dar. Die Textgenetiker sind sich dessen bewusst, keinen privilegierten Zugang zu den Texten zu besitzen, und reklamieren lediglich den Vorteil, sich über die Prozesshaftigkeit der Textentstehung im Klaren zu sein, über Nietzsches flüssigen Sinn. Die Rückkehr zu den Handschriften, den Entwürfen und Überarbeitungen, die unter dem Oberbegriff des avant-texte zusammengefasst werden, geht ganz in philologischer Tradition mit einer Wiederbelebung der bei Nietzsche beschriebenen Reisemetaphorik einher: D i e M e t a p h e r , die i m D i s k u r s der „critique g e n e t i q u e " a m deutlichsten dieses Z u g l e i c h w i d e r s p i e g e l t — die in alle R i c h t u n g e n s t r e b e n d e L u s t u n d die v o r a u s s c h a u e n d k ü h l e B e r e c h n u n g — ist die des W e g e s u n d des u n m i t t e l b a r d a m i t v e r b u n d e n e n W o r t f e l d e s : Strecke, P f a d , Spur, L a u f , V e r l a u f , B a h n , F a h r t , F ä h r t e , K r e u z u n g , G a b e lung, Reise. D e r k ö n i g l i c h e n Schloßallee, der T e l e o l o g i e der g e r a d e n Linie, d e r u n a u f h a l t s a m e n B e w e g u n g a u f ein Ziel hin, stehen M e t a p h e r n g e g e n ü b e r , die g e w u n d e n e r e
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c r itique genetique hat ihr Zentrum am Institut des textes et manuscrits modernes (I.T.E.M.) des Centre National de la Recherche Seientifique (CNRS). Ihr wichtigstes Organ ist die Zeitschrift „Genesis". Zur Terminologie z.B. Les editions critiques (1984). Grundlegend Hay (Hrsg., 1989) sowie Gellhaus u.a. (Hrsg., 1994) - hier auch eine gute, noch immer aktuelle Bibliographie. Im Zentrum der modernen critique genetique steht das sog. dossier genetique: eine Einführung in die Genese der jeweiligen Textstufen; die Identifizierung, Lokalisierung, Datierung, Beschreibung der vorliegenden Dokumente, der Produktionsbedingungen, der spezifischen Geschichte und einem eigentlichen Dossier, das neben dem Faksimile die (diplomatische) Transkripition beinhaltet (s. z.B. Gresillon, 1999).
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Die deutsche Tradition der kritischen Werkausgabe hat bis zur Entwicklung der critique genetique in Frankreich nie Fuß fassen können. Diese radikalisierte dann die deutschen Vorbilder; bis heute gibt es Berührungsängste zwischen beiden Schulen. In der Abwehr des Werks als Ziel der Edition, in der Auffassung von Literatur als Prozess, Produktion, Dynamik usw. spielt wohl auch der Zeitgeist der siebziger Jahre eine nicht unerhebliche Rolle, nicht zuletzt im Verlangen nach ,Authentizität'. Im avant-texte steckt ferner die Idee der Avant-Garde.
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Dann allerdings sollte man es richtig tun. Es ist peinlich, dass eine Protagonistin der critique genetique wie Almuth Gresillon Nietzsche ausgerechnet nach der Ausgabe des InselTaschenbuchs zitiert (1999:252).
6.2. Text und Quelle
341
Wege beschreiben: Irrwege, Abzweigungen, Abweichungen, Umwege, Abkürzungen, Umkehrungen, Sackgassen, Unfälle, Fehlstarts. (Gresillon, 1999:19f)504
Der dynamische Charakter der Textentstehung ist seit Friedrich Beißners und Dietrich Satders Hölderlinausgaben auch in der deutschen Editionswissenschaft wenig umstritten. Die critique genetique setzt sich von der Tradition der historisch-kritischen Ausgabe, deren Vorbildhaftigkeit sie anerkennt, insoweit ab, als sie die definitive historisch-kritische Ausgabe nicht als Ziel, sondern nur als Etappe eines endlosen Prozesses betrachtet. Produktion und Prozesshaftigkeit sind wichtiger: die stemmatische Hierarchie zur Darstellung von Bezügen wird durch das liegende Rhizom ersetzt, das die Gleichberechtigkeit von Fassungen versinnbildlichen soll, sich aber gleichwohl derselben organischen Metaphorik bedient. Die Mainstream-Literaturwissenschaft, noch immer vor allem an Interpretation interessiert, hat die Textgenetik bisher kaum beachtet505. Die Aufspaltung in ein fest der hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Tradition verpflichtetes Lager einerseits und einer schwer überschaubaren Vielfalt an modernen Theoriemoden andererseits hat dies bisher verhindert. Allenfalls im Umfeld großer Ausgaben hat die Textgenese Einfluss ausgeübt — zuletzt in der jüngsten Entwicklung der Nietzsche-Edition. In einem programmatischen Aufsatz haben Wolfram Groddeck und Michael Kohlenbach (1995:21-39) aus textgenetischer Perspektive gewichtige Einwände gegen die Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken gemacht und für eine konsequent genetische Darstellung plädiert506. Ihre Anregungen und Bemü„Dem Logos der Teleologie, Philologie und Chronologie folgt in der .critique genetique' ein vagabundierendes, tastendes, in alle Richtungen schweifendes Lesen der Handschriften. Es geht nicht mehr um zeitliche Ordnung, sondern um das Erfassen jener vielfaltigen Wege, die sich zum Teil auch in den Seitenstraßen, den Um- und Abwegen des Schreibprozesses niederschlagen." Das dossier genetique soll philologisch exakt aufbereitet sein, aber dann den idealen Ausgang für „genetische Entdeckungsreisen" bilden (Gresillon, 1999:172f). 505 Ebenso die Klassische Philologie, aus naheliegenden Gründen, da von antiken Texten natürlich keine Autographen vorliegen. Die Editionstheorie ist hier noch immer an Maas ( 3 1957) ausgerichtet. Vgl. aber auch Most (Hrsg., 1998). 504
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Groddeck und Kohlenbach weisen darauf hin, dass zur angestrebten originalgetreuen Wiedergabe nicht nur Orthographie, sondern eben auch typographische, ja buchtechnische Details wie Papierqualitäten u. dergl. gehören, möglicherweise sogar die Distributionsweise — ad infinitum. Schwerer wiegen ihre Einwände gegen irreführende Chronologien der KGW, die etwa wegen der Publikation des Erstdrucks die Geburl der Tragödie an erste Stelle setzt, aber den Zweitdruck (mit einigen Veränderungen) der Edition zugrunde legt und ihr zu allem Uberfluss den viel späteren Versuch einer Selbstkritik voranstellt. Uberzeugend legen sie dar, wie willkürlich selbst die scheinbar chronologische Edition des Nachlasses der KGW gewesen ist, deren Unterscheidung zwischen Vorstufe (im Apparat) und Fragment (im Haupttext) schwer nachvollziehbar ist. Diese Präsentationsform hat ein Scheinwerk entstehen lassen, das eine teleologische ausgerichtete Lektüre unterstützt und zu Texten das macht, „was Nietzsche in der Textur seines publizierten Schaffens unberücksichtigt ließ" (1995:29). Groddeck und Kohlenbach halten auch sinnvollerweise an dem in der radikalen critique genetique nicht akzeptierten Unterschied zwischen Text und Aufzeichnung fest, d.h. einem Schreibprozess, der nur in bestimmten Fällen zum autorisierten Text führt. Die editorischen Unzulässigkeiten des KGW-Nachlasses hat auch Inga Gerike in ihrem Beitrag zu D'Iorio (Hrsg., 2000) aufgezählt: 1. Die Bezeichnung Fragment ist nicht kon-
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6. Schluss: Nietzsche lesen
hungen haben zur Manuskriptedition507 des späten Nachlasses als Ergänzung zu Collis und Montinaris Jahrhundertprojekt gefuhrt. Groddeck hat darüberhinaus eine faszinierende textgenetisch fundierte Lektüre der Dionysos-Dithyramben vorgelegt. Im zweiten Band findet sich eine knappe Einführung in die Methodik, die, ohne dies ausdrücklich zu betonen, in der Tradition des philologischen Lesens steht. Groddeck bezeichnet seine Arbeit am Text bewusst als~Lektüre\„Damit ist ein philologisches Verfahren gemeint, das auch als ,Kommentar' oder ,Textanalyse' oder Interpretation' bezeichnet werden könnte, das aber die gesuchte Nähe zum thematisierten Text zugleich mit einer gewissen Zurückhaltung gegen seine Übersetzbarkeit und Verfügbarkeit zu verbinden strebt." Die philologische Lektüre tendiere mit anderen Worten zur Kritik und ist vorsichtig gegenüber schnellen Aneignungsversuchen. Die Lektüre berühre sich deshalb mit Nietzsches Ephexis, definiert als „eine alternierende Mischung von Textanalyse, Interlinearkommentar und Interpretation [...] die als Leitfaden das Nacheinander des Textes beim Lesen beibehält, aber gegenüber einem erstmaligen Durchlesen ein artifizielles Vorgehen darstellt, das nur so tut, als ob der Text sukzessive und erstmals gelesen würde. ,Lektüre' ist ein Darstellungsmodus, um das ,Erratene' nachträglich in die Abhängigkeit einer kohärenten Argumentation zu zwingen." Lektüren lassen sich nicht zusammenfassen und sind immer unvollständig, Lektüre deute den Text nicht, sondern stelle ihn durch Deutungen zur Diskussion. Auf simple Applikationen bekannter oder unbekannter Theorien verzichtet Groddeck ebenso wie auf Zitate von Autoritäten, die der methodischen Absicherung dienen (1991:XIXf). Groddeck steht in der historisch-kritischen, philologischen Tradition Montinaris508, geht aber in einer Weise über ihn hinaus, die ihn noch näher zu Nietzsche führt. Ich verstehe meine Arbeit nicht zuletzt als Theorie zu dieser Praxis. Dies liegt vor allem an der Praxis der Lektüre selbst, die Nietzsche nicht, wie es in der Nietzscheforschung der letzten Jahrzehnte nicht selten geschah, ausschließlich durch eine spezielle Art der Vortexte, nämlich der Quellen zu erklären sequent, sonst müssten auch Ecce Homo und Ueber Wahrheit und Lüge als Fragmente bezeichnet werden. 2. Den als Fragmenten bezeichneten Texten kommt nun ein neuer Status zu, den sie in der materialen Grundlage der Notizhefte nicht haben; sie werden dadurch unzulässigerweise in die Nähe der literarischen Form des Fragments gerückt. 3. Vorstufen und nachgelassene Fragmente lassen sich nicht einfach und klar unterscheiden. Sie weist daraufhin, dass durch die riesigen Kosten der Manuskriptedition und der KGW insgesamt die Bände und Nachberichte von de Gruyter nicht wie ursprünglich geplant erscheinen können. Die Bände der Manuskriptedition sollen die Nachberichte zu KGW VI.2 und VIII. 1-3 ersetzen: so entstehen gleichzeitig zwei unabgeschlossene Ausgaben. Faksimile-Ausgaben mit der entsprechenden Transkription sind dort, wo keine klare Autorintention oder Autorisation vorliegt, die sauberste Lösung, die dem Leser die Deutung überlässt. Bei dem heutigen Stand der Editionswissenschaft gab es dazu keine Alternative. 508 Vgl. das Gespräch Koch/Montinari (1983). Für Montinari ist die Edition selbstverständlich Grundlage der Interpretation, aber neben dem Text bleibe die Aufgabe der Exegese bestehen, die diesen erst rechtfertige. Er betont die Bedeutung des Lesens, das mit dem Verstehen nicht identisch sei und (in einer antihermeneutischen) Wendung, diesem sogar vorgelagert sei. 307
6.2. Text und Quelle
343
versucht. Die Leistung des textgenetischen Ansatzes - unabhängig von Groddecks Praxis einerseits oder extremen dossiers genetiques andererseits — liegt in der Möglichkeit, das Studium der Quellen in die Betrachtung der Textgenese und die Lektüre gleichermaßen einzubeziehen. Die avant-textes können als Spuren des Zeitgeistes, als Epochensignaturen und metaphorologisches Kontextmaterial aufgefasst werden, das Intertextualität jeder Art berücksichtigt (vgl. Gresillon, 1999:21 Off) und welches vor allem - das ist der entscheidende Punkt - den Sprachgebrauch des Autors besser erkennen lässt509. Grammatik, Kritik und Hermeneutik sind somit erneut vereint510. Die critique genetique ist, zumindest in den theoretischen Modellen, recht weit gegangen und hat einen in der Praxis schwer realisierbaren globalen Horizont entworfen, der die textgenetische Darstellung mit kulturhistorischem, soziologischem oder den Medienwandel betreffendem Material unterstützt511. Freilich muss sich die Rolle des Autors nicht zwangsläufig in einem Geflecht von ,Einflüssen' auflösen, sondern wird vielmehr gestärkt. Wie Nietzsches Homer, so wird der Verfasser zum eigenen Arrangeur und Editor des Materials, das künftige Generationen wieder herauszuarbeiten haben — und zwar indem sie wiederum selbst zu Autoren werden512, die sich von der Wahrnehmung des Umgangs mit Quellen, Ideen, Formen inspirieren lassen (vgl. Martens, 1989:22). Der Produkti509 Vgl. schon Klaus Hurlebusch: Nur dann sei eine historisch-kritische Edition wirklich kritisch, „wenn sie durch ihre Darstellung der Erhellung der operativen Sprachverwendung in überlieferter Rede dient. Im Hinblick darauf ist auch die chronologische Anordnung von Texten neu zu begründen: Sie ist ein Hilfsmittel zur Rekonstruktion der Entwicklung von Sprachverwendung bzw. Sprachverwendungsweisen." (1971:142) 510
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Es bedürfte einer zweiten Abhandlung, die konkreten historischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede darzustellen. Auch lässt sich die weitere Entwicklung der Textgenetik noch nicht sehr weit absehen. Die beste Strategie scheint im Moment wieder die epoche zu sein: Distanz zu einem Prozess zu entwickeln, in welchem man sich selber noch befindet. In Anschluss an Louis Hay unterscheidet die Textgenetik zwischen Endogenese und Exogenese von Texten. Die Endogenese bezieht sich auf Textquellen, gelesene und zitierte Bücher, textuelle und intertextuelle Aspekte. Die Exogenese bezieht den weiteren kulturellen, soziologischen, psychologischen Kontext mit ein. Mitterand (1989) hat vorgeschlagen, die critique genetique ganz zur am Text ausgerichteten Kulturgeschichte auszubauen — was bei seinem bevorzugten Objekt, dem naturalistischen Roman, natürlich besonders gut funktioniert. Flier würde ein ganzes soziokulturelles Universum beschrieben, all das, was sich an kleinsten Veränderungen im avant-texte ablesen lässt. Lektüren aller Genres würden ausgewertet und mit zeitgenössischen Lexika und Handbüchern verglichen usw. (so wie es derzeit in der italienischen Nietzscheforschung praktiziert wird). Raymonde Debray-Genette hat darauf hingewiesen, dass der historische Ansatz der Textgenese gestatte, die implizite von der expliziten Entwicklung des Autors zu unterscheiden, etwa hinsichtlich der „stereotypes d'epoque" (1982:167), die dem Autor durchaus nicht bewusst sein müssen. Schließlich schreibt Almuth Gresillon: „Sollte man nicht über eine Erweiterung des Begriffs der ,Schreibspur' im textgenetischen Sinne nachdenken? Wäre es nicht sinnvoll, den Handschriften und Autographen jedes Schriftstück hinzuzufügen, das in direktem Zusammenhang mit der Textproduktion steht? Dann nämlich würden Dokumente wie Briefe, Zeugnisse Dritter, Presseartikel, vor oder während der Textabfassung konsultierte Werke, die der Textgenetiker ohnehin stillschweigend in seine Analysen einbezieht, einen realen Stellenwert erhalten [...]" (1999:265). Vgl. Briegleb (1971) zum Editor als Autor.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
onsprozess setzt eine Autorintention voraus, die nicht naiv-kausal aufgefasst wird (s. Heath, 2002), sondern vielmehr notwendigerweise ein ästhetisches Urteil im Sinne Nietzsches und ebensosehr eine „sustaining fiction" (Most, Hrsg., 1998:2) repräsentiert, d.h. eine unverzichtbare Metapher, die auf bequeme Weise verschiedene Rezeptionsweisen bündelt513. Intentionen müssen nicht bewusst sein, d.h. der Absicht des Autors bzw. seiner Selbstinterpretation entspringen; sie müssen nicht unbedingt statisch sein. Auch wenn wir annehmen, dass Individuen komplexe Kompositionen aus verschiedenen ,Diskursen' sind, muss ihnen als Prismen der verschiedenen Einflüsse auch Nietzsches Spielraum zugestanden werden. Die reine critique genetique hat sich immer gegen das Vorbild der Quellenforschung gesträubt, wohl weil diese nach wie vor zu stark mit simplistischer Einflussforschung des Positivismus verbunden wird. Diese ist zurecht in Verruf geraten. Der bereits angeführte Pionier der Geistesgeschichte, Rudolf Unger, nennt die bis heute gültigen Gründe. Was heißt es schon, schreibt er im Jahr 1908, Spuren aus Goethe, Schiller, Kleist oder Heine in einem Autor nachzuweisen. Was sonst sollte man von einem durchschnittlich gebildeten Verfasser erwarten? In dieselbe Kategorie einer zunehmenden Mechanisierung der wissenschaftlichen Literaturforschung gehört die Tendenz, womöglich die gesamte Lektüre eines Dichters, die wirkliche samt der wahrscheinlichen oder möglichen, auf Anspielungen oder Reminiszenzen in seinen Werken hin durchzuprüfen. Das heißt doch im Grunde kaum etwas anderes, als den Grundsatz des Feuerbachschen Materialismus: „der Mensch ist, was er ißt", auf das geistige Gebiet zu übertragen. Der Genius des Dichters erscheint so fast als ein in seiner leidigen Irrationalität möglichst zu ignorierender Durchgangspunkt zwischen dem Bücherberg, der seinen Geist genährt hat, und dem Bändehaufen, der uns nun als das Produkt dieses geistigen Verdauungsprozesses vorliegt. (Unger, 1966:8)
Vorwürfe, die sich gegen die zum Teil exzessive Quellenarbeit in der jüngsten Nietzscheforschung richten, fügen dem im Grunde nichts hinzu. Zittel (2000:59f) kritisiert berechtigterweise die Praxis, von Lesespuren in Nietzsches nachgelassener Bibliothek auszugehen und nach Belegen in Nietzsches Texten zu forsten, anstatt sich vom Text ausgehend mit der Lektüre Nietzsches zu beschäftigen. Es stimmt auch, dass der in Weimar erhaltene Quellenbestand zu einem gewissen 513
Ähnlich argumentiert Gumbrecht (1998). Gegen die Annahme einer intentio operis wendet er mit Recht ein, dass dahinter immer nur die angenommene Autorintention stecke. Die Editionstheorie, die sich ansonsten von der Autorintention wegbewegt hat, kommt doch ohne ein Minimum der Autorisierung nicht aus. In seinem Aufsatz „The Editorial Problem of Final Authorial Intention" schreibt Tanselle: „if the edition is to be a work of scholarship — a historical reconstruction - the goal itself must involve the author's 'intention'" (1990:27). In seinem Werk wird deutlich, wie der Editor gezwungen ist, eine Autorfunktion zu erfinden, der er eine Intention zuweisen kann. Vgl. aber auch Martens/Zeller (Hrsg., 1971) sowie Nowak (1996). Terminologisch werden heute Varianten (autorisierte Abweichungen) eines Textes von Lesarten (unautorisierten Abweichungen) unterschieden.
6.2. Text und Quelle
345
Grad dem Zufall geschuldet ist und nur die Spitze des Eisbergs darstellt514. Die Quellenforschung insgesamt aber deshalb als „Totengräberprojekt" und „Begräbnisstätte" von Nietzsches Philosophie zu bezeichnen (ebd.), klingt eher nach dem Grundsatz, dass Angriff die beste Verteidigung ist; Verteidigung nämlich gegen den möglichen Vorwurf der Vernachlässigung eigener Quellenforschung515. Die Quellenforschung habe dazu geführt, so Zittel, „daß inzwischen vielerorts eine Interpretation geringer geschätzt wird, [sie] als ein simpler Quellenfund." (ebd.) Dies hängt naturgemäß von der Qualität der Interpretation genauso ab wie von der Bedeutung der Quelle. Der Fehlschluss — angesichts der gängigen Wissenschaftsgeschichtsschreibung durchaus nachvollziehbar - besteht jedoch in der Annahme, Quellenforschung und Interpretation oder genaues Lesen schlössen einander aus. Aus Sicht der Philologie können beide voneinander nur profitieren; ein Beispiel aus Zittels eigener Zarathustra-Lektüre, die ansonsten voller interessanter Beobachtungen und überzeugender Argumente ist, mag es belegen. Zittel zitiert folgende Stelle aus dem vierten Teil des Zarathustra: „So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen." (Za IV, 4:334) Das Zitat stammt aber nicht, wie Zittel behauptet, aus dem „Munde Zarathustras" (2000:24), sondern aus jenem des „Berg-Predigers", ein entscheidender Unterschied. Im Gegensatz zu Zittel, der die Stelle zustimmend zur Begründung seiner eigenen Vorgehensweise zitiert, hat das Wiederkäuen im Zarathustra eher eine negative Konnotation. Die subtile Ambivalenz, die das Wiederkäuen in Nietzsches Gesamtwerk kennzeichnet, hängt mit seiner Herkunft als philologischer Topos zusammen. Das wiederkäuende Lesen ist, wie gezeigt werden konnte, zwar vorbildhaft, aber gerade in seiner Redlichkeit nah am Nihilismus. Ohne derartiges, nur durch Quellenstudium gewährleistetes Kontextwissen, gehen Bedeutungsfacetten verloren516; die Lektüre verarmt in der Tat, im Sinne Nietzsches — zur Interpretation.
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So erwähnt Nietzsche an keiner Stelle Gustav Gerber, dessen Bedeutung für ihn doch zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte (s. Meijers, 1988). Gerechterweise muss man Zittel zugestehen, dass der von ihm untersuchte Zarathustra eine andere Vorgehensweise verlangt als Nietzsches aphoristische Bücher. Der Einsatz der Quellenforschung stellt hier eine besonders große Herausforderung dar. Zur komplexen Werkstruktur, zum parodistischen Umgang Nietzsches mit sich und den Quellen auch außerhalb des Zarathustra vgl. indes Groddeck (1997). „Dans le domaine proprement litteraire, le contexte implique une familiarite avec d'autres textes, connus de l'auteur, ou utilises par lui, ou leurs equivalents, pour etre bien en etat de mesurer les possibilites de sens." (Bollack, 2000a:131). Vgl. allgemein auch Venturelli (1994). Ein Gedanke zu dem Beispiel aus Zittel (2000): den wiederkäuenden Kühen werden im Zarathustra Adler und Schlange entgegengestellt, die auf eine Weise beschrieben und eingesetzt werden, die eine allegorische Deutung auf Wagner und Ritsehl erlaubt, zwischen denen Nietzsche selbst gestanden hat: Zarathustra wäre dann derjenige, der die vergewaltigende, aneignende, unterwerfende Bewegung der Interpretation (Kunst) mit der listigen, schleichenden Lesekunst (Philologie) verbände. Dies
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Schon 1972 verfocht der französische Germanist Richard Roos auf einem mittlerweile berühmten Nietzsche-Symposion eine philologische Lektüre Nietzsches — vor versammelten Größen der damaligen intellektuellen Welt und Nietzsche-Forschung517. In der zum Teil abgedruckten anschließenden Debatte wurde er stark angegriffen. Seine Rhetorik war im damaligen Kontext natürlich anstößig. So wollte er — eine offensichtliche Stichelei gegen andere Teilnehmer — keine neue Hermeneutik begründen, sondern vergessene Methoden wiederbeleben (285). Nietzsche sei nicht anders zu behandeln als andere Autoren auch, eine spezielle Nietzsche-Philologie mithin überflüssig: „Contre les annexions abusives et les recuperations partisanes, il n'y a qu'un seul moyen de defense: c'est le retour aux textes. Or l'examen minutieux et methodique des textes, sans preventions et sans visees annexionnistes, c'est ce qu'on appelle la philologie." (284). Es handelte sich also um die Verteidigung einer Interpretationsgemeinschaft, die sich in die Defensive gedrängt sah, und Roos konnte dabei viele Stellen bei Nietzsche auswerten. Roos plädierte für die Akzeptanz des Colli/MontinariProjekts, für die streng chronologische Lektüre des Nachlasses und vor allem das Studium des deutschen Originals (!) — damals wie heute keine Selbstverständlichkeit. Sprachlich-stilistische Genauigkeit „demande avant tout une Oreille fort exercee ä reconnaitre les allusions et les citations, et une connaissance solide du langage metaphorique usuel de l'epoque." (297) - das ist der usus loquendi. Die philologische Lektüre soll auch wieder eine Lektüre von Kontexten werden und sich schließlich mit der Genese, mit Quellen und Einflüssen des Textes auseinandersetzen (303ff). Die historische Perspektive sei wesentlich für den Philologen (um einen hermeneutischen Dialog mit unserer Zeit überhaupt zu ermöglichen), Nietzsche müsse auch als Kind seiner Zeit betrachtet werden, z.B. als Deutscher der Bismarckzeit und des Kulturkampfes: „II est trop facile de dire que ce professeur de philologie classique, myope et malade, voyageant ä l'etranger, ignorait les realites politiques et sociales on s'en desinteressait. L'ignorance est plutot du cöte des commentateurs." (312). Das waren starke Worte und Roos beeilte sich naturgemäß mit einer Absicherung gegen die Exzesse des Positivismus genauso wie gegen den berühmten ,lufdeeren Raum'. Textbereinigung, historischer, kritischer und sprachlicher Kommentar, Philologie ohne Philosophie reichten allein nicht aus — Philosophie ohne Philologie aber sei erst recht „inadmissible"; der Philologe, so schließt Roos, sei am Ende das schlechte Gewissen der Philosophie, an welcher sich der Text bei Nichtbeachtung räche518.
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ist möglicherweise allzu kühn und biographisch gedacht und bisher jedenfalls durch keine gründliche Lektüre und Quellenforschung gedeckt. Anwesend waren u.a. Karl Löwith, Jacques Derrida, Sarah Kofman, Eric Blondel, Eugen Fink. Interessanterweise lässt sich in jüngster Zeit auch in Frankreich wieder eine Rückkehr zu philologischen Werten erkennen. In einem neuen Nietzsche-Reader, der besonders wichtige und trotz ihres Alters zukunftsweisende Artikel aus der Nachkriegszeit versammeln möchte, werden v.a. die Philologen Blondel und Roos hervorgehoben (Balaude/Wotling, Hrsg. 2000). Außer seiner beim Text ansetzenden Pionierarbeit (S. 17) wird Blondels genaues Lesen in Verbindung mit philologischer Akribie herausgestrichen. Foucault wird für seinen Genealogie-Aufsatz v.a.
6.2. Text und Quelle
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Richard Roos war der wichtigste Anreger für das Editionsprojekt von Colli und Montinari (vgl. KSA 14:8). Der Geist jener Edition, die die Nietzscheforschung revolutioniert hat, stammt mithin selbst aus der historisch-kritischen Philologie. Die Nietzsche-Edition wurde dadurch fester Bestandteil der Bewegung zur Wiedergewinnung der Kritik, deren letzte Schritte nun noch ausstehen. Montinari hat sich immer gegen den Eindruck verwahrt, durch Kommentar und Quellenforschung den Text auf den Zeitgeist zu reduzieren oder ihn durch den Nachvollzug seiner Entstehung schon für erklärt zu halten. Vielmehr gehe es um einen „Kontrasteffekt", der dem Text, der immer im Zentrum zu stehen habe, historische Tiefe verleihe (1987:249). An anderer Stelle hat er für den Quellenkontext die Metapher von der Nährlösung für Nietzsches Denken benutzt, die darüberhinaus die Funktion habe, dem Leser immer wieder die Fragwürdigkeit des Textes vor Augen zu führen: der Editor solle Material zur Verfügung stellen, aber keine Interpretation suggerieren (nach Campioni, 2003; vgl. auch Campionis Nachruf auf Montinari in Campioni, 1989). Collis und Montinaris philologischer Ansatz blieb, besonders nach Montinaris Tod, größtenteils in der Edition stecken und weitete sich nicht auf die Art und Weise der Lektüre aus. Hier hat Zittels Kritik seine Berechtigung. Zum perspektivischen Lesen, das die genauen Funktionen von Nietzsches Metaphern nachvollzieht, sind die Philosophen wohl in der Lage. Aber selten sind sie dazu bereit. Die Nietzscheforschung nicht nur der Montinari-Nachfolge ist von Philosophen oder Geistesgeschichtlern dominiert worden, bei denen der Umgang mit Quellen bisweilen hinter den in den Literaturwissenschaften schon erreichten Stand zurückfiel. Die Quellenforschung lässt bisher in jedem Falle eine metaphorologische Komponente vermissen: In Menschliches, All^umenschliches warnt Nietzsche selbst vor der „Erbsünde der Philosophen", nämlich die „land- und stadtsässige Wahrheit eines Jahrzehends" ohne weitere Prüfung zu verabsolutieren (KSA 2:382)519. Die Kenntnis der Quellen ist bei Nietzsche eben nicht allein deshalb unverzichtbar, weil er für seinesgleichen schreibt und eine Bildung voraussetzt,
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als „lecteur attentif" gelobt (S. 20). Im Vorwort nimmt Jean-Francois Balaude (wissentlich?) die cum-grano-salis-Attitüde Thomas Manns (vgl. den berühmten Vortrag Nietzsche's Philosophie im Uchte unserer Erfahrung an und betont damit die Wichtigkeit, Nietzsche zu lesen, anstatt ihn beispielsweise politisch zu interpretieren. Die Mission der Anthologie ist es zu zeigen „comment la comprehension de la philosophic nietzscheenne est inseparable de la rigeur philologique et hermeneutique. Apprendre a bien lire, motif nietzscheen s'il en est." (8) Jede Epoche, so bemerkte Ernst Cassirer, „besitzt ein Grundsystem letzter allgemeiner Begriffe und Voraussetzungen, kraft deren sie die Mannigfaltigkeit des Stoffes, den ihr Erfahrung und Beobachtung bieten, meistert und zur Einheit zusammenfugt." (1906:168). Die Analyse von Nietzsches Quellen sagt uns am Ende nicht nur mehr über den intellektuellen Nährboden Nietzsches und über Hintergrundmetaphern, die, selbst ihm unbewusst, sein Denken konfigurierten, sie lehrt uns auch einen tieferen Einblick in die Epoche selbst, ohne dass dies erklärtes Ziel gewesen wäre. Die Quellenforschung sollte sich mit anderen Worten zur Toposforschung und Metaphorologie weiterentwickeln. Beide, Toposforschung und Metaphorologie, gehören zu den ältesten Privilegien der philologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft. Das neuerliche Interesse an der Philosophie der symbolischen Formen der Cassirer, Curtius, Panofsky und Warburg in den Philologien kann als Rückkehr zu ureigenen Instinkten gedeutet werden.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
die heute - man denke nur an die Vertrautheit mit den Autoren des Altertums nicht mehr selbstverständlich ist. Auch der Umstand, dass Nietzsche in einsamer, halbblinder Existenz sein Wissen fast ausschließlich aus Büchern schöpfte und manche Verfasser (gerade Philosophen) häufig nur aus zweiter oder dritter Hand kennenlernte, ist kein zureichender Grund für das Ausmaß, das die Quellenforschung heute angenommen hat. Ausschlaggebend ist vielmehr, was Glenn Most und Thomas Fries anlässlich ihrer quellenkritischen Erkundung von Nietzsches Rhetorikvorlesung festgestellt haben: „Für viele Einzelaussagen dieses Textes ist Nietzsche nicht so sehr als ein Autor anzusehen, sondern vielmehr als ein zustimmender Leser." (1994:37)520 Man muss das Material kennen, mit dem Nietzsche spielt, das er parodiert oder missbraucht. Hier hat die Quellenforschung erst eigentlich einzusetzen — tut sie es, so hat sie sich bereits auf das Feld der Textgenese begeben. Nietzsche selbst hat diese Verbindung schon in der eigenen philologischen Arbeit hergestellt. In Aufzeichnungen zu Diogenes Laertius aus der Leipziger Zeit heißt es: Die Frage „welche Bücher hat ein Autor benutzt?" hat wenig Aussicht auf präzise Beantwortung, wenn jener Autor ein seinen Quellenschriftstellern überleg. Kopf ist, der mit voller Freiheit über sie schaltet und waltet und der alles, was er an Material aus ihnen entnimmt, in neue Form gießt und mit dem Stempel seiner Individualität versieht. (BAW 5:126)
Interessanterweise stellt sich Nietzsche den strengen Kriterien der Naturwissenschaft: nicht Hypothesenbildung oder Methode an sich seien problematisch, sondern die empirische Basis. Da es in den meisten Fallen einfach zu wenige Zeugen gäbe, sei keine zwingende Beweisführung möglich. Statt einer sicheren Restauration halte man am Ende „sein eigenes Machwerk" in den Händen (127f). Nietzsche schließt aus all dem aber nicht auf die Verzichtbarkeit von Quellenforschung, im Gegenteil. Stattdessen muss ein höheres Maß an Subtilität bei der Quellenforschung zum Ziel führen: wir wollen mehr sehen als das fertige Buch, wir wollen die Genesis eines Buches, die Geschichte seiner Zeugung und Geburt vor unserm Auge sehen: und es ist weiter der Fall, daß uns mehr an den Eltern als an dem Kinde, mehr an den Quellen als an ihrem Bearbeiter gelegen ist. Wir wünschen, daß der Prozeß seines Werdens sich langsam vor unserm Blicke enthülle. (126)
Nietzsche spricht hier von Diogenes Laertius, den er nicht eben für einen jener überlegenen Köpfe hält, die das Quellenstudium erschweren. Nicht in jedem 520
Most und Fries weisen Nietzsche die von ihm so verachteten spätantiken Techniken des Epitormierens (verkürzte Exzerpte) und Kompilierens (Zusammensetzung mehrere Quellen) nach, wobei sich Nietzsche insoweit unterscheide, als er auch noch hinzufuge und kontrolliere. Nietzsches Kompilationen seien nicht einfach grob zusammengeschweißt, sondern ähnelten komplexen Mosaiks — eine Charakterisierung, die man sicher auch auf andere Texte Nietzsches übertragen kann.
6.2. Text und Quelle
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Falle ist ihm mehr an den Eltern als an den Kindern gelegen521. Intuitiv richtig hat deshalb Andreas Urs Sommer die Quellenforschung fern von simplen Kausalitätsgedanken mit Nietzsches Genealogie verglichen und damit zu begründen und verteidigen versucht. Es gilt nun lediglich die Reihenfolge umzukehren. Für Nietzsches Genealogie ist Ursache und Wirkung deshalb nicht ausschlaggebend, weil sie schon auf den methodischen Prinzipien der vorpositivistischen Quellenkritik beruht. Der Quellenforschung, so Sommer, eigne in dem Versuch, den Denkprozess Nietzsches nachzuvollziehen, ein starkes kritisches Moment, sie wirke entkanonisierend. Das ist genau der Punkt. Sommer scheut sich freilich, das Kind beim Namen zu nennen: Diese Art der Forschung ist philologisch. Die von ihm verteidigte Revitalisierung der Nietzsche-Forschung durch Misstrauen gegenüber Nietzsche ist angemessen, weil sie philologische Quellenkritik im Sinne Nietzsches praktiziert522. Die philologische Tradition der akribischen Lektüre in Verbindung mit Textgenese und Quellenforschung konvergiert auf diese Weise mit dem nicht zufällig in den letzten Jahrzehnten entstandenen Konzept der Intertextualität, die ihrerseits als Teil der Bewegung zur Wiedergewinnung der Kritik zu verstehen ist. Den verschiedenen Intertextualitätstheorien ist die Herkunft aus dem Strukturalismus freilich meist noch anzusehen. Texte gelten als gegebene Größen, deren Wechselwirkung zu analysieren ist. Die fortgeschrittensten Entwürfe, repräsentiert etwa von Genettes Palimpsestes, vermögen dafür aber wieder an die subtilere Auswertung von Quellen anzuschließen, wie sie Nietzsche vorschwebte und wie sie durch die positivistische Einflussforschung in Vergessenheit geraten war523. 521
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Ich kann Sommer in seiner anregenden Diskussion der Quellenforschung nicht folgen, wenn er angesichts verschiedener Stellen in Nietzsches philologischem Nachlass meint, Nietzsche stelle die Quellen generell über den vorgefundenen Text (2000a:303). Das halte ich — selbst auf der Grundlage der Beiträge %itr Quellenkunde und Kritik des l^aertius Diogenes von 1870 — für zu wenig belegt und darüber hinaus: selbst wenn Nietzsche an den ,Eltern' mehr interessiert scheint als an den Kindern, heißt das noch nicht, dass er sie über das Kind stellt. Das Kind wird lediglich über seine Herkunft befragt, um es dadurch besser zu verstehen, sonst gäbe es ja keinen Anlass zur genealogischen Untersuchung. Davon abgesehen gibt es, wie im vorliegenden Fall, natürlich auch philologische Quellenarbeit, die in erster Linie darauf gerichtet ist, verwertbares Material für das Studium anderer Texte zu finden, z.B. zur Emendatio oder um Aufschluss über den Inhalt älterer Texte zu erlangen. Sommer projiziert den aus der Quellenforschung möglicherweise erwachsenden philosophischen „Mehrwert" in die Zukunft, in der es die Erkenntnisse aus den Quellen zu „instrumentalisieren" (!) gelte. Wie dies aussehen könnte, wird nicht verraten (2000a:316), möglicherweise weil es philosophisch eben schwer vorstellbar ist. Auf dem Gebiet der Nietzscheforschung gilt die von Nietzsche umgekehrte Wendung Senecas in der Originalfassung, und zwar ohne negativen Beigeschmack: Itaque quae philosophia fuit, facta philologia est. (s. Abschnitt 5.3.) Genette (1982) vertritt einen offenen Strukturalismus, der sich im Gegensatz zum geschlossenen nicht nur intern in einem Text bewegt (und die Frage erlaubt, ob er sich dadurch nicht selbst negiert). Er hat ein beeindruckendes Schema für die Verhältnisse bereitgestellt, die Texte zueinander einnehmen können (Transtextualität). Unterschieden werden Intertextualität (Zitate, Plagiate, Anspielungen usw.), Paratextualität (Verhältnis der Texte zu den Paratexten, in die er eingebettet ist, z.B. Vorworte, Klappentexte usw.), Metatextualität (Kommentare usw.), Architextualität (Verhältnis zum Leser und umgekehrt), Hypertextualität (das Verhältnis des
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Die unendlichen Funktionen der Hypertextualität können von Genette nur angedeutet werden. Ein Lektürerezept sind auch sie nicht, vor allem ersetzen sie nicht die gesamte philologische Perspektive. Wenn die moderne Intertextualität der alten Einflussforschung zwar die größere Aufmerksamkeit gegenüber nicht-stofflichen Parallelen voraus hat, seien andererseits z.B. die metrischen und genre-theoretischen Reflexionen der Philologie dagegen gehalten, die in der Intertextualitätsforschung oft vernachlässigt werden. In einer grundlegenden Arbeit hat sich Manfred Pfister (1985) mit Recht skeptisch gegenüber dem vermeintlichen Fortschritt bzw. Erkenntnisgewinn des Intertextualitätsbegriffs gegenüber traditionellen Untersuchungen der Literaturwissenschaft zu Parodie und Anspielung, Zitat und Imitation, Übersetzung oder Adaption gezeigt524. Es sind zuletzt solche Kategorien, auf die es in der Zukunft der Nietzscheforschung ankommen wird. Eine textgenetische und quellenfundierte Forschung — hier sollten sich besonders die (potentiellen) Nutzer des HyperNietzscheProjekts525. angesprochen fühlen, verlangt nach den richtigen Fragen, auf welche
Textes zu seine Hypertexten als Transformations- bzw. Imitationsverhältnis). Ein Blick auf die Nietzscheforschung verrät, dass hier die Arbeit noch gar nicht begonnen hat. Nietzsches Spiel nicht nur mit der Intertextualität, sondern ebenso sehr mit den eigenen Paratexten, seine Anspielungen, gerade auch in Hinsicht auf Hypertextualität, müsste eigentlich viele Literaturwissenschaftler anziehen. 524
Pfister zeigt sich auch skeptisch gegenüber einem zum Teil sehr weiten Intertextualitätsbegriff, bei dem alles schon Text und Zeichensystem und jedenfalls nicht unbedingt an Sprache gebunden ist. Dann wäre Intertextualität kein Merkmal bestimmter Texte oder Textklassen mehr, sondern Intertextualität wäre schon von der Textualität garantiert (Pfister, 1985:7f). Der Auflösung des Subjektbegriffs und damit der Intention, die den Autor zum „Projektionsraum des intertextuellen Spiels" (8) macht, setzt er eine Unterscheidung intertextueller Verfahren entgegen, die in Absetzung vom radikalen poststrukturalistischen Programm ein gewisses Maß an Autorintention voraussetzen und damit philologischen Modellen anschließbar bleiben.
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HyperNietzsche ist ein ambitiöses, im Internet publiziertes open source Projekt (). HyperNietzsche suggeriert Vollständigkeit, bzw. strebt eine Vernetzung sämtlicher Quellenforschung, Sekundärliteratur und texteditorischer Bemühungen an, und zwar auf textgenetischer Grundlage. Idealerweise soll es irgendwann sogar einmal Meta-Hypertexte geben, in denen HyperNietzsche mit entsprechenden Projekten anderer Autoren, ihren Quellen etc. vernetzt wird (vgl. D'Iorio, Hrsg., 2000). HyperNietzsche stellt zu einem gewissen Grad das Optimum von guter Philologie dar (wenn es denn tatsächlich jemals über die Anfangsgründe und die Schwierigkeiten mit dem Copyright hinausgelangt). Jedoch würde allein die gründliche Lektüre aller Texte, Prätexte, Quellenbefunde ein halbes Forscherleben in Anspruch nehmen, von der Sekundärliteratur zu schweigen. Inga Gerikes Versuch (ebd.), anhand des dossier genetique zu Der Wanderer und sein Schatten die Grenzen der Papieredition und die Vorteile der elektronischen Publikation aufzuzeigen, lässt selbst dem motiviertesten Philologen den Mut sinken. Ein komplettes dossier genetique dieses kleinen Werks allein würde leicht etwa 1000 faksimilierte Seiten umfassen, hinzu käme dieselbe Menge an diplomatischer Transkription sowie ein kritischer Apparat. Eine zusätzliche Darstellung der Genese würde nochmals ca. 1000 Seiten addieren. Soll HyperNietzsche nicht zum Synonym einer megalomanen Sackgasse werden, muss es mit den richtigen Fragen konsultiert werden. Die Frage ist, ob es bei dem zu erwartenden geringen Aufkommen an Forschern, die dazu bereit sind, das herkömmliche Archiv nicht auch tut.
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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die textgenetische Edition schon die verfrühte Antwort war (prinzipiell dazu auch Stackmann, 1988; Gellhaus, in Gellhaus u.a., Hrsg., 1994a).
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie? Die Arbeit soll mit einer Darstellung der Konsequenzen beschlossen werden, die sich aus dem bisher Gesagten ergeben. Es handelt sich dabei um zwei Bereiche: um jene Konsequenzen, die über die Nietzscheforschung hinaus Bedeutung haben, und um jene, die den Umgang mit Nietzsche, die also die Nietzscheforschung selbst betreffen. Namentlich die Frage, ob sich die Rekonstruktion historisch-kritischen Denkens bei Nietzsche zu einer veritablen Philosophie der Philologie weiterentwickeln lässt, scheint sich mit Dringlichkeit zu stellen. Dabei ginge es um die Fragen, ob der philologischen Nietzsche mit traditionelleren Deutungen zu vereinbaren ist und ob nicht dadurch der Blick auf das wahre Gewicht der Philologie in der Geschichte des Denkens freizulegen wäre. Schon August Boeckh hatte in seiner Enzyklopädie F.A. Wolf den Vorwurf gemacht, die Elemente der Philologie nur empirisch gefunden zu haben und versuchte im Gegensatz dazu, die Philologie aus ihrem Begriff und im Kontrast zu Philosophie und Geschichtsschreibung abzuleiten, eine Philosophie der Philologie zu verwirklichen, wie sie von Friedrich Schlegel begründet worden war. Möglicherweise stellen auch Nietzsches Schriften von Anfang bis zum Ende die Frage nach der Möglichkeit einer Philosophie der Philologie, die zuallererst geklärt werden müsste. Aus philosophischer Sicht könnte es lohnen, die wirkliche Erklärungskraft des philologischen Denkens bei Nietzsche zu prüfen, zu fragen, inwieweit ihm die philologischen Denkstrukturen selbst immer bewusst waren oder er nur mit ihnen spielte. Nietzsche will in seinem Denken ja „die beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte" miteinander verbinden, nämlich jenen des „Werdens" und den vom „Werthe des D a s e i n s " (VII 24[7]). Lässt sich diese Synthese Hegels und Schopenhauers aus der philologischen Theorie herleiten, nämlich als das Zusammendenken niederer (die Genese untersuchender) und höherer (scheidender und urteilender) Kritik? An einer bereits in anderem Kontext zitierten Stelle der Genealogie der Moral spricht Nietzsche jedenfalls nicht nur ausdrücklich von einer nötigen „Kritik der moralischen Werthe" (GM Vorrede 6, 5:253), sondern verbindet die Philologie in auffälliger Weise mit der Kombination von historischer und urteilender Betrachtung: „Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborner wählerischer Sinn in Hinsicht auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andre: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse? und w e l c h e n W e r t h h a b e n sie selbst?" (GM Vorrede 3, 5:249f). Nietzsche folgend könnte man dann in ähnlicher Weise nach dem Wert der Wertfrage selbst fragen und damit nach der Bedeutung der Kritik. Friedrich Schlegel schrieb in seinem als Verteidigung der
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Unverständlichkeit getarnten Hymnus auf die Kritik, dass die Unverständlichkeit besser als ihr Ruf sei: „das Heil der Familien und der Nationen beruhet auf ihr", d.h. den Menschen würde Angst und Bange werden, wenn die Welt tatsächlich einmal verständlich würde (Schlegel, 1967ff, Bd. 2:363-372). Möglicherweise ist der kritische Takt die grundlegende Institution, die menschliche Gemeinschaft erst stiftet. Die Sehnsucht nach vollem Verständnis als voller Aneignung des Anderen zerstört dann ihre feine Balance. In Nietzsches Feier der Kritik Regt vielleicht der Keim einer Ethik, die auf der freiwilligen Zurücknahme der eigenen interpretativen Selbstentfaltung gründet, wie sie in der Skizze des souveränen Individuums, welches allein versprechen darf, in der zweiten Abhandlung zur Genealogie der Moral aufgeworfen wird. Weitere philosophische Anschlusspunkte an der Schnittstelle von Philosophie und Philologie bestehen darin, die hier dargestellten historischen Zusammenhänge über die Herkunft des Zeichen- und Textbegriffs bei Nietzsche mit systematischen zeichentheoretischen Überlegungen zu verbinden, die bereits anfangs kurz erwähnt wurden (v.a. Stegmaier, 2000), sowie in einer Querverbindung zur Phänomenologie und insgesamt zur Philosophie der Wahrnehmung. Husserl ist gewiss kein historischer Zufall, sondern Produkt eines geistigen Klimas, das Nietzsche mitgeschaffen hat. Hier ergibt sich wiederum eine unerwartete Parallele zur Wissenschaftsgeschichte, denn Husserls Phänomenologie stand auch bei der Entwicklung von Stilkritik und Werkimmanenz Pate, die sich als Reaktion gegen die Geistesgeschichte verstanden (Szondi, 1974, Bd. 1:271). Ist die Phänomenologie eine späte Metamorphose des philologischen Lesens? Stammt daher die Affinität der Philologen zur Phänomenologie und ihr neuerdings wieder steigendes Interesse an Husserl526? Oder ist die Phänomenologie nur ebenfalls dem Wissenschaftsideal des frühen neunzehnten Jahrhunderts, der Ablehnung von Dogmatik, der Betonung von Erfahrung, von Strenge und Vernunftkritik verpflichtet? Husserl war bekanntlich stark von Franz Brentano geprägt worden, dem Zeitgenossen Nietzsches, dessen Intentionalitätsbegriff und Psychologie vom empirischen Standpunkt aus dem Jahr 1874 in mancher Hinsicht an Nietzsches eigene Quellen erinnert. Schließlich ist die Rolle der Ästhetik und der ästhetischen Theorie (letztere glänzt in Nietzsches späteren Schriften vor allem durch Abwesenheit) für Nietzsche nicht befriedigend geklärt. Dass seine philologisch-antimetaphysische Grundeinstellung dafür mitverantwortlich sein könnte, wäre zumindest eine Uberlegung wert. Aus mangelnder Kompetenz müssen diese Aufgaben jedoch Andeutung bzw. Wunsch nach Fortsetzung bleiben. Die Philosophie der Philologie kann hier nur aus Sicht des Philologen eine Rolle spielen. Im letzten Abschnitt soll deshalb ein den Themen dieser Arbeit näherliegendes Problem verhandelt werden, das sich als Zusammenfassung und Abschluss besonders deshalb eignet, da in ihm die 526
Für pädagogische Zwecke gibt es in der Literaturwissenschaft nach wie vor kaum vernünftigeres als etwa Strelka (1989), der der phänomenologischen Tradition Roman Ingardens folgt.
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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wichtigsten hier erörterten Perspektiven zusammenlaufen, und welches die Voraussetzung schafft, die künftige Ausrichtung philologischer Forschung im allgemeinen und der Nietzscheforschung im besonderen zu begründen. Es ist das Problem der philologischen Erkenntnis aus Sicht des Philologen, die Voraussetzung gleichsam, einer noch zu formulierenden Philosophie der Philologie. Dabei kann ein allgemeines Plädoyer zur philologischen Lektüre Nietzsches nicht die einzige Schlussfolgerung dieser Arbeit sein: hier stehen bereits zu viele Türen offen, die einzurennen nicht verlohnt — und ob die philologische Lektüre zum Haupttor wird oder nicht, ist letztlich unerheblich. Vielmehr soll es am Ende, ausgehend vom Problem der philologischen Erkenntnis, um konkrete Aufgaben der philologischen Lektüre gehen. Entschieden werden soll insbesondere, ob es die Philologie im Verständnis von Nietzsches Früh- oder Spätwerk ist, an der sich die künftige literaturwissenschaftliche Nietzscheforschung zu orientieren habe. Nietzsches Auseinandersetzung mit der Philologie, die sich durch das gesamte Werk zieht, läuft gewiss auf die Frage hinaus, ob es eine spezifisch philologische Erkenntnis gibt, die sich der Interpretation zumindest teilweise entziehen kann. Seine schillernden Schriften selbst scheinen diese Frage nur unter Vorbehalt zu bejahen. Obwohl sich die Philologie als Richtmaß der Auslegung erwies, beinhaltete sie auch die Gefahr des Nihilismus, welche die Auslegungserfolge wieder relativiert. Nicht die Erkenntnis an sich wird als philologische von anderen unterschieden, sondern der Weg, auf dem man zu ihr gelangt ist. Das Mittel verrät den Zweck. Nietzsche hat sich gegen die Philologie gestellt, wenn sie sich den legitimen Ansprüchen des Lebens verweigerte. Auf die Interpretation als Inbegriff des in seiner Entfaltung die Umgebung überwältigenden und umformenden organischen Prinzips kann nicht völlig verzichtet werden; außerhalb der eigentlichen Domäne der Philologie wird die Interpretation aufgrund der Beschränktheit menschlicher Mittel ohnehin zur grundlegenden Operation alles Lebendigen. Insgesamt lässt sich dennoch feststellen, dass für Nietzsche die Philologie nicht notwendigerweise wieder zur ancilla theologiae werden muss, gegen die F.A. Wolf seine revolutionäre Neubegründung gerichtet hatte — und zu ancilla philosophiae nur insofern sich die Philosophie selbst ihren Kriterien unterwirft. Von zeitgenössischen Versuchen, die Philologie ganz offensichtlich vorgefassten Zielen unterzuordnen, distan2ierte Nietzsche sich, wie etwa das Beispiel Renan zeigte. Zwar bleibt Philologie philosophischen Werten untergeordnet, kann aber aufgrund ihrer dynamischen Eigenschaften sowie dem ihr eingepflanzten Ethos diese Werte mitgestalten. Es sei deshalb lieber einmal zu viel betont, dass die hier dargestellte Bedeutung der Philologie bei und für Nietzsche keinen Verzicht auf Philosophie mit sich führt. Philologie ist nur für den Umgang mit schriftlichen Texten zwingend vorgeschrieben und dann, wenn man den Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit erhebt. Aber selbst hier behält sich der freie Geist auch die unphilologische Aneignung von Texten und Autoren vor. Die Redlichkeit gebietet es unter diesen
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Umständen lediglich, auf die unbekümmerte Aneignung aus eigener Kraft und Stärke auch hinzuweisen und eben keinen Anspruch auf interpretative Plausibilität zu erheben. Hier unterscheiden sich möglicherweise die auslegenden Theologen nochmals von den auslegenden Philosophen. Völlig autonom und folglich unangreifbar wird Philosophie nur durch die radikale Lösung vom asketischen Ideal der Wahrheitsfindung, dann also, wenn sie ganz Wertsetzung und Begriffsdichtung und damit Kunst geworden ist. Da man außerhalb von schriftlichen Texten ohnehin meist zur Interpretation gelungen ist, kann auf Philosophie in diesem Sinne auch fürderhin nicht verzichtet werden. Sie muss aber Skepsis und Philologie aushalten können. Zur abschließenden Würdigung der philologischen Erkenntnis bei Nietzsche und ihrer Folgen für Nietzscheforschung und Selbstverständnis der Literaturwissenschaften bzw. Philologien wird zunächst ein kurzes Resümee der positiven Attribute und Eigenschaften notwendig sein, die Nietzsche mit der Philologie verbunden hat. Nietzsche unterscheidet schlechte Philologie bzw. den Mangel an Philologie von guter Philologie, die sich methodisch und ethisch an den Alexandrinern orientiert und große Parallelen zu historisch-kritischen Methode in der Ausprägung der Bonner Schule der Klassischen Philologie aufweist, die er selbst durchlaufen hatte. Philologie bezeichnet die Herstellung, Reinhaltung und Erklärung der Texte, d.h. die seit den Zeiten der alexandrinischen Bibliothekare praktizierte Kombination aus (genealogischer) Textkritik und behutsam deutendem Kommentar. Philologie ist auch die Kunst (techne) des richtigen, d.h. langsamen, zyklischen, perspektivenreichen und genauen Lesens als Voraussetzung und Ziel der Kritik, als Grundlage und Ergebnis des Kommentars. Philologische Lektüre verzichtet auf Allegorese und richtet die beobachtende, durchaus sinnliche Aufmerksamkeit auf den Texdeib in all seiner Komplexität. Der Verzicht auf Allegorese bedeutet deshalb keinen Verzicht auf Subtilität, sondern einen geschärften Sinn für (historische) Vieldeutigkeit. Bedingungen des guten Lesens sind guter Wille zur Redlichkeit, Selbstbeobachtung und Selbstdisziplin, wozu das Vermögen gehört, sich selbst zu widerlegen und zumindest seine bewussten Motive unter Kontrolle zu haben. Zweitens gehört ein hohes Maß an Empfänglichkeit und Empfindsamkeit dazu, die es erlaubt, das Fremde als Fremdes zu erleben und zu belassen — so wie der Philologe den authentischen Text herzustellen versucht, statt ihn nach eigenem Bilde zurechtzumachen. Daraus ergibt sich die Forderung nach Takt und Feinheit, die Bereitschaft, schwer oder nicht Verständliches nicht mit Macht deuten zu wollen. Viertens fordert die gute Philologie die Affinität des Philologen zu seinem Objekt, eine zu große Distanz oder gar die völlige Inkommensurabilität machen jede noch so ehrlich gemeinte Bemühung zunichte. Wenn die Ausstattung des guten Philologen in dieser Hinsicht vollendet ist, bedarf es noch zwei weiterer Voraussetzungen zur intellektuellen Rechtschaffenheit. Erstens muss überhaupt ein Text vorliegen bzw. herstellbar sein: ein Mangel
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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an verlässlichen Zeugen oder Überlieferungen schließt die Möglichkeit dazu ebenso aus wie allzuviel Material. Zweitens muss der Philologe eine genügend große Kenntnis anderer Texte besitzen, die zur Vergleichsbasis dienen können — Texte des auszulegenden Autors selbst, aber auch Texte aus seinem Umfeld, vorhergehende und nachfolgende Texte. Wenn eine Erkenntnisform, die sich auf die ständige Veränderung und den mannigfachen Perspektivenbruch gründet, natürlicherweise praktische Schwierigkeiten mit sich führt, so ist es bei Nietzsche anscheinend doch möglich, sie von anderen Erkenntnisweisen zu unterscheiden. Der schlagende Beweis für die Bedeutung, die Nietzsche ihr einräumt, besteht in den Anleitungen zur Lektüre seiner selbst. Kein Zweifel, Nietzsche strebte den Status eines modernen Klassikers an, der auf ebenso respektvolle Weise gehandhabt und auf so genaue Weise gelesen werde wie die Griechen und Römer seiner Schul- und Studienzeit. Von seinen Lesern fordert er zumindest den Willen zur philologischen Erkenntnisweise. Möglicherweise hat er z.B. sein Quellenversteckspiel als geheime Rätselaufgabe für künftige Generationen verstanden. Wie ein Kant oder Hegel jedenfalls will Nietzsche nicht interpretiert werden, überhaupt kaum als Philosoph, sondern eher noch als philosophischer Schriftsteller vom Schlage eines Piaton oder Pascal. Wen freilich die „intellektuellen Gewohnheiten des Gelehrten-Typus einer Zeit" am meisten interessieren — wer also Texte lediglich als Dokumente einer Kultur- oder Mentalitätsgeschichte verwendet — der lese Bücher „welche von Vielen geschrieben sein könnten" (VIII 11 [412]). Philologie benötigt man dazu nur in bescheidenem Umfang: Ich kenne einigermassen meine Vorrechte als Schriftsteller; in einzelnen Fällen ist es mir auch bezeugt, wie sehr die Gewöhnung an meine Schriften den Geschmack „verdirbt". Man hält einfach andre Bücher nicht mehr aus, am wenigsten philosophische. Es ist eine Auszeichnung ohne Gleichen, in diese vornehme und delikate Welt einzutreten, — man darf dazu durchaus kein Deutscher sein; es ist zuletzt eine Auszeichnung, die man sich verdient haben muss. Wer mir aber durch H ö h e des Wollens verwandt ist, erlebt dabei wahre Ekstasen des Lernens: denn ich komme aus Höhen, die kein Vogel je erflog, ich kenne Abgründe, in die noch kein Fuss sich verirrt hat. Man hat mir gesagt, es sei nicht möglich, ein Buch von mir aus der Hand zu legen, — ich störte selbst die Nachtruhe... Es giebt durchaus keine stolzere und zugleich raffinirtere Art von Büchern: - sie erreichen hier und da das Höchste, was auf Erden erreicht werden kann, den Cynismus; man muss sie sich ebenso mit den zartesten Fingern wie mit den tapfersten Fäusten erobern. Jede Gebrechlichkeit der Seele schliesst aus davon, ein für alle Male, selbst jede Dyspepsie: man muss keine Nerven haben, man muss einen fröhlichen Unterleib haben. [...] Insgleichen ist jeder „Feminismus" im Menschen, auch im Manne, ein Thorschluss fur mich: man wird niemals in dies Labyrinth verwegener Erkenntnisse eintreten. Man muss sich selbst nie geschont haben, man muss die H ä r t e in seinen Gewohnheiten haben, um unter lauter harten Wahrheiten Wohlgemuth und heiter zu sein. Wenn ich mir das Bild eines vollkommnen Lesers ausdenke, so wird immer ein Unthier von Mut und Neugierde daraus, außerdem noch etwas Biegsames, Listiges, Vorsichtiges, ein geborner Abenteurer und
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Entdecker. Zuletzt: ich wüsste es nicht besser zu sagen, zu wem ich im Grunde allein rede, als es Zarathustra gesagt hat: wem allein will er sein Rätsel erzählen? Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, — euch, den Räthsel-Trunkenen, den Zwielicht-Frohen, deren Seele mit Flöten zu jedem Irrschlunde gelockt wird: - denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten; und wo ihr err a t h e n könnt, da haßt ihr es, zu e r s c h l i e s s e n . . . (EH Warum ich so gute Bücher schreibe 3, 6:302ff)
Der ideale Leser als „Unthier" einer Mischung aus Mut und List, Neugierde und Vorsicht, Abenteurer und Entdecker, in den höchsten Höhen ebenso zuhause wie in den tiefsten Tiefen, hart und biegsam zugleich — könnte es sich am Ende um eine Kreuzung aus Adler und Schlange, den Tieren Zarathustras handeln? Ist die Schlange auf denselben „Schleichwegen" unterwegs, die Nietzsche nur Ritsehl und sich selbst zugestand (EH Warum ich so klug bin 9, 6:295)? Lässt man sich vom pathetischen Ton, der Ecce Homo insgesamt kennzeichnet, nicht irrefuhren, fallen die vielen Anspielungen auf die Philologie ins Auge, die von Nietzsche gleichsam in Form einer Einlasspforte für ausgewählte Leser zusammengestellt worden sind. Nietzsche kennt seine Vorrechte als Schriftsteller „einigermassen" — eine litotische Anspielung auf die philologische Vorbildung und Professur. Voraussetzung zur sinnvollen Lektüre ist ein Mindestmaß an Affinität oder Wahlverwandtschaft. Wer dies nicht empfindet, wird den Texten nie genügen können. Nietzsche führt damit, wie gezeigt werden konnte, einen Grundsatz weiter, der mindestens bis in die Aufklärungshermeneutik, womöglich viel weiter zurückreicht. Der Leser ist ein Reisender, ein Suchender, ein Eroberer, auch diese Metaphorik ist tief in Tradition getaucht. In der Verbindung von „zartesten Fingern" und „tapfersten Fäusten" — jene verkörpern den taktvollen Zugriff der Kritik, diese die zupackende Aneignung der Hermeneutik — gelingt es dem Leser, das Objekt Nietzsche einerseits in seiner Fremdheit und Unverständlichkeit zu akzeptieren, es aber andererseits auf eine Weise zu benutzen, die die kritische Sorgfalt erst rechtfertigt. An Nietzsche soll sich nur versuchen, wer angesichts der „Räthsel" Lust empfindet, wer sich durch die diffusen Grautöne der (Götterdämmerung angezogen fühlt. Die Irrwege, in die dergleichen Entdeckungsreisen führen, sind verzeihlich — so wie sich Nietzsche wohl selbst verzieh, einst der Flöte Wagners in den „Irrschlund" gefolgt zu sein. Umso leichter gerät man auf Abwege, als man der Führung anderer enträt und sich lieber auf die eigene Divination verlässt. Nicht die Rolle des Theseus hat sich Nietzsche in seiner privaten Version des Ariadnemythos zugedacht, sondern die des Dionysos, der sich der Ariadne nach dem Tod des Minotaurus auf Naxos vermählt — die Identifikation dieser Figuren mit Cosima und Richard Wagner seit den Tagen von Tribschen und bis in die letzten Briefe hinein ist bekannt. Spätestens mit der Tragödienschrift schlug Nietzsche verächtlich den Ariadnefaden aus,
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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der ihn sicher durch das Labyrinth des Altertums geleitet hätte und verließ sich auf seine Divination (deren Schärfe ihm ja Ritsehl immer wieder bestätigt hatte), teils weil er sich geschult genug wusste, teils weil er bei sich eine größere Affinität zum Altertum als bei seinen Zeitgenossen empfand. Wenn Nietzsche nach seiner Wende in den siebziger Jahren die zarten Finger und die Notwendigkeit der philologischen Kritik besonders betont, dann weil er darin — mit Recht! — den wundesten Punkt kommender Exegesen vermutete. Nietzsche weist auf die Unmöglichkeit der perfekten Übersetzung und Übersetzbarkeit hin. Das aber bedeutet nicht, das es nicht Übersetzungen gibt, die dem Original näher kommen als andere oder die, bei allen äußerlichen Abweichungen, dessen Geist tiefer zu erfassen vermögen. Aneignung, Instrumentalisierung und Hermeneutik sind immer schon im Überfluss vorhanden. Skepsis, Takt, Philologie dagegen sind die Mangelware, die Nietzsche für sich beansprucht, weil er weiß, wie wenige Menschen bereit sind, sich dergestalt auf das Fremde einzulassen. Seit Gadamer steht die Forderung nach Affinität von Autor und Leser im Verdacht unheilbarer Romantik: „Es ist ganz abwegig, die Möglichkeit des Verstehens von Texten auf die Voraussetzung der ,Kongenialität zu gründen, die Schöpfer und Interpret eines Werkes vereinigen soll. Wäre das wirklich so, dann stünde es schlecht um die Geisteswissenschaften." (31972:294) Es steht aber schlecht um die Geisteswissenschaften — besonders, wenn man eine Behauptung dadurch begründet, dass man ihre Konsequenzen zu wenig wünschenswerten erklärt. Die Ursprünge der Forderung nach Affinität reichen historisch gesehen länger als bis in die Romantik zurück. In einer klassischen Darstellung ästhetischer Kritik aus dem Jahrhundert der Aufklärung heißt es beispielsweise unmissverständlich: „A perfect Judge will read each Work of Wit/With the same Spirit that its Author m i f \ i 2 1 Immer hat die philologische Literaturwissenschaft gewusst, dass nicht jede Kunst, „vielleicht überhaupt keine Kunst allen zugänglich [ist]" (Witkowski, 1924:131). Diese Einsicht wurde ja zu einer wesentlichen Voraussetzung kommentierender Philologie528. Nietzsche greift die Affinitätsforderung nicht auf, weil er unbewusst ein später Erbe der Romantik war, wie sein eigener Vorwurf an Wagner lautete, sondern weil er die Gefahren sah, die in der Loslösung der Methode von der Persönlichkeit lagen. Das Meinen soll bei ihm das letzte Wort haben, nicht das Verstehen: auf den Autor, nicht den Interpreten kommt es an. Nietzsches Ideal (nur bedingt seine Praxis) ist durch hermeneutische Entspanntheit geprägt. Gemeinsam mit dem Positivismus ist ihm die Feindschaft gegen die Metaphysik, die empirisch-sensualistische Grundhaltung; von hier leitet sich seine Bewunderung Taines her, sein Interesse am biographischen Moment 527
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In Alexander Popes Essay on Critiäsm aus dem Jahr 1711 (Pope, 1992:151, Vers 233f; Hinweis bei Leventhal, 1994:2) Witkowski an derselben Stelle: „Der Erläuterer soll sich bewußt sein, daß gegen diese Gesetzlichkeit nicht angekämpft werden kann. Unheilbar Blinde sind nicht sehend zu machen; aber verschlossene Augen lassen sich mit geübter, feinfühliger Hand öffnen." (1924:131)
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6. Schluss: Nietzsche lesen
jener Autoren, Gelehrten, Künstler, mit denen er sich näher befasste. Bei dem modernen Klischee, dass alle Tatsachen Interpretationen seien, handelt es sich um eine grobe Vulgarisierung Nietzsches und im Grunde um eine Banalität, die sich genauso gut umdrehen lässt: alle Interpretationen sind Tatsachen. Dann erst wird es interessant. Nietzsche verpflichtet zur Philologie im nachschöpferischem Zeitalter. Wer die synthetische Kraft verspürt, der soll als Dichter oder Künstler ausdrücken, was er auszudrücken hat. Ansonsten bescheide man sich und bleibe redlich. Philologischer Takt bedeutet am Ende nichts anderes, als die Maßgaben zu respektieren, die ein Autor zu seiner Rezeption setzt. In der Germanistik, zu deren Untersuchungsgegenständen Nietzsche formal gehört, ist, um das Gleichnis des Fremdsprachenerwerbs ein letztes Mal zu bemühen, das Bewusstsein vom Fremdsein der eigenen Muttersprache, das sich im historischen Wandel zeigt, verloren gegangen. Wer eine fremde Sprache hervorragend beherrscht und damit die Bereitschaft ausdrückt, sich auf das Fremde auch einzulassen, ist nicht automatisch ein subtiler Interpret der fremdsprachigen Schriften. Aber ohne Sprachbeherrschung ist auch die verführerischste Auslegung wenig wert. Seit dem alles beherrschenden Paradigma der Nationalphilologie und seiner Ablösung durch die ,Literaturtheorie' glaubt man in weiten Teilen der Germanistik, im Gegenteil etwa noch zur Klassischen Philologie, auf die genaue sprachlich-historische und kritische Aufmerksamkeit verzichten zu können, da man die Sprache ja ohnehin beherrsche. Diese Abhandlung hat zu zeigen versucht, dass es bei der Nietzschelektüre nicht gleichgültig ist, welchen historischen Sinn etwa die Begriffe der Philologie oder des Textes haben. In der Nietzscheforschung hingegen ist die philologische Herangehensweise an Nietzsche heute nicht mehr umstritten. Der philologische Imperativ in Nietzsches Werk ist so stark, dass nun selbst tief in der hermeneutischen Theorie verwurzelte Philosophen wie Manfred Riedel nach „höchster Lesekunst" verlangen und, mit Montinari, zur „philologisch inspirierte [n] Lektüre" auffordern (1996a:226f)529. In der Nietzscheforschung ist die Philologie, ganz im Gegenteil zu den Mainstream-Literaturwissenschaften, wieder zur Avantgarde geworden. Sie wurde unter philologischer Anleitung von Philosophen gewissermaßen neu erfunden, da sie aus der Germanistik nicht von selber kam — von der italienischen Germanistik natürlich abgesehen. Möglicherweise kann die Nietzscheforschung sogar zu einer Wiederbelebung der philologischen Tradition insgesamt führen, wenn sie auf ihrem Weg nur fortschreitet. Geboren aus dem kritischen Geist der Text- und Quellenkritik, beginnt sie nun allmählich in der Form subtilerer Lektüren, die auf ihren komplexen Ergebnissen aufbauen, Früchte zu tragen. In der Entwicklung wissenschaftlicher Paradigmen lässt sich immer wieder beobachten, dass es die schwer erklärbaren Randphänomene sind, die tradierte Auffassungen infragestellen und damit auch den Kern neu bestimmen. Nietzsche ist so ein 529
Riedel verweist an dieser Stelle ebenfalls kurz auf die Wichtigkeit der Verbindung von Hermeneutik mit niederer und höherer Kritik bei Nietzsche, freilich ohne näher darauf einzugehen.
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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Randphänomen, in der Geschichte der Philosophie genauso wie in der Literaturgeschichte. Die Editionsproblematik begleitet und konfiguriert seine gesamte Rezeptionsgeschichte. Der Stellenwert etwa, den man Nietzsches handschriftlichem Nachlass gibt, bedingt die Sicht auf das restliche Werk530. Ohne Philologie kann man Nietzsche nicht beikommen, und ohne Philologie versagt sich die Literaturwissenschaft ihre interessantesten Forschungsobjekte. Die Beachtung der philologischen Nietzscheforschung seitens der Literaturwissenschaften ist schon allein deshalb geboten, weil sich die Philosophie mit der fortschreitenden Philologisierung Nietzsches entweder von Nietzsche selbst oder von der Philologie wieder abwenden wird. Die Quellenforschung geht, trotz ihrer ständigen Verfeinerung, manchem bereits jetzt zu weit. Schließlich wird vor allem die textgenetische Manuskriptedition des späten Nachlasses die Bruchstelle sein, an der sich die Geister scheiden; Anzeichen dafür gibt es bereits531. Die Philosophie, die andere Erkenntnisinteressen verfolgt als die Philologie, wäre aus Sicht ihrer Disziplinarität und Integrität berechtigt, den hyperphilologisierten Nietzsche abzulehnen — aber der Abbruch der philologischen Nietzscheforschung in einem Moment, da es zweifelsohne erst eigentlich interessant zu werden verspricht, wäre außerordentlich bedauerlich. Die Weiterfuhrung der Nietzschephilologie etwa in der Germanistik könnte, abgesehen von Inseln in Italien oder der Schweiz (Basel), allerdings durch den in dieser Arbeit aus seinen Anfängen in der Altertumswissenschaft entwickelten Philologiebegriff behindert werden; noch scheinen Germanistik und Literaturwissenschaft nicht bereit zur Wiederentdeckung ihrer Vorgeschichte zu sein, die ja am Ende eine neue Vorbildhaftigkeit der Klassischen Philologie impliziert einer Wissenschaft, die aus der Natur der Sache heraus immer noch eng an die Fremdsprachen einerseits und an Edition und Kommentar andererseits gebunden ist532.
Foucaults Problematisierung des Werkbegriffs verdankte sich ja v.a. der Schwierigkeit, Nietzsches Schriften als Werk aufzufassen (Le Rider, 1999:209). 531 Vgl. z.B. Henning Ritters kurzen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" mit einer sehr skeptischen Reaktion aus Sicht der traditionellen Philosophie, die von Editionsphilologie wenig versteht und das „Autoritative des Druckbildes" vermisst. Aus der Kritik am „WerkstattNietzsche" spricht eine kaum verhehlte Nostalgie nach der Ära der Großinterpretationen Heideggers, Jaspers oder Löwiths. Den naheliegenden Schluss, Nietzsches Hauptwerk eben nicht mehr im Nachlass zu suchen, der sich in der Tat als Sammelsurium von Aufzeichnungen und Exzerpten erwiesen hat, sondern in den publizierten Schriften, zieht Ritter nicht (vgl. Ritter, 2002). 530
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Statt ständig neuer literaturtheoretischer Einfuhrungsbücher und Sammelbände könnte es zur lohnenden Aufgabe werden, einen internationalen Kanon philologischer Klassiker zu schaffen, der über sprachliche Grenzen und Epochen hinweg die wichtigsten Gelehrten aufnimmt. Die Namen F.A. Wolf, August Boeckh, Friedrich Schlegel, Jacob Bernays, Wilamowitz, Ernst Robert Curtius, Peter Szondi würden ebenso dazugehören wie einige alexandrinische Gelehrte oder bedeutende neuere Editoren. Es wäre an der Zeit für eine neue universale philologische Enzyklopädie.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Am wenigsten problematisch wäre heute vielleicht die philologische Ausrichtung an der Autorintention; der Exeget darf den Autor auch gerne wieder besser verstehen als dieser sich selber, solange keine biographische Reduktion stattfindet (es gibt ja durchaus noch Ansätze, die Nietzsches Werk auf die Kontingenz seiner persönlichen Entwicklung festlegen). Diskutiert werden müsste dementsprechend allein die Reichweite der Autorintention, die eine Diskussion nicht nur der Rolle des biographischen Elementes sondern auch der erlaubten Fiktionalisierung ist. Im Unterschied zur Philosophie sind es in den Neuphilologien ferner weder Textgenese noch Quellenforschung, die dem philologischen Paradigma im Wege stehen, sondern ein viel allgemeineres Problem. Die Textgenese ist ohnehin kein Allheilmittel, lediglich eine nützliche Gegenindikation zur langen Vernachlässigung der kritischen Komponente. Nicht alle Texte aus allen Perioden eignen sich dazu. Auch die Quellenforschung wird unterschiedliche Formen annehmen müssen533. Der Haupthinderungsgrund zur Ausbreitung philologischen Bewusstseins in den modernen Literaturwissenschaften besteht dagegen im Misstrauen der Philologien gegenüber der eigenen, der philologischen Erkenntnisweise. Durch den Mangel an sauberer Trennung von Utei&tmtheone und literaturwissenschaftlich-philologischer Methodik, die sich auf intellektuelle Redlichkeit, Textkenntnis und geduldige Detailarbeit gründet, ist eine existentielle Angst vor Theorielosigkeit aufgekommen, die unterschiedslos jede Quellenforschung und Archivarbeit dazu zwingt, sich gegen den schlechten Ruf der Einflussforschung, des naiven Positivismus zu verteidigen534. Statt Texte als gewordene Produkte 533
Die unterschiedlichen Editionstheorien sind auch immer an unterschiedlichen Texten oder Epochen entwickelt worden; die germanistische Tradition an mittelalterlichen Handschriften bzw. an Goethe, die angelsächsische an Shakespeare. Für die textgenetische Betrachtung hat Axel Gellhaus Hölderlin zum ersten logischen Fall deklariert, da bis zu Schiller die Vorstufen von Texten noch vernichtet wurden — sie wäre also v.a. für bestimmte Texte des neunzehnten bis zwanzigsten Jahrhunderts relevant (ob die Zukunft papier- und damit schreibspurlos sein wird, kann noch nicht entschieden werden, darf aber bezweifelt werden). Textgenese ist, wie der Fall Hölderlins auf dramatische Weise zeigt, letztlich vielleicht nicht so sehr Voraussetzung als Folge des Textverständnisses. Wie für die Hermann-Schule wäre die Edition, in diesem Falle die Darstellung der Textgenese, wieder „die letzte und schwierigste Aufgabe" des Literaturwissenschaftlers (in Gellhaus u.a., Hrsg., 1994a:23f). Wo keine Vorstufen vorliegen, wird das Quellenstudium wichtiger. „Wie aber sollte auch nur die tägliche Zeitungslektüre eines Autors sinnvoll ausgewertet werden?" (Gellhaus, in Gellhaus u.a., Hrsg., 1994b:325). Philologische Feld-, Archiv- und Quellenforschung bleibt aus meiner Sicht trotz dieser Einwände aber angemessen bei Autoren, die wie Nietzsche, Kafka, Hölderlin oder Celan in besonderem Maße zur allegorischen Lektüre einladen.
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Der um Literaturtheorien entbrannte Streit ist besonders sinnlos in einer Zeit, da das Objekt jener Theorien, d.h. die literarischen Texte selbst, immer weiter aus dem öffentlichen Bewusstsein schwinden. Nicht Literaturtheorie, sondern Literatur sollte wieder studiert werden. Es ist absurd, dass die moderne Literaturtheorie heute auch in der Klassischen Philologie Ansätze zu machen beginnt, die als letzte philologische Disziplin noch in nennenswertem Ausmaß die alten Tugenden pflegt. In seinem knappen Abriss zur Geschichte der Philologie in der Neuzeit in Nesselrath (Hrsg., 1997) zeigt sich Ernst Vogt mit Recht skeptisch — es wäre das Ende der Disziplin (vgl. v.a. S. 129-132). Ziolkowski (1990) bemerkt, dass die Philologie, die angeblich so traditionell und machtvoll herrschend sei und gegen die sich alle neuen Ansätze durchsetzen wollen, heute zumindest an den amerikanischen Universitäten selbst eine unterdrückte Minderheit
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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aufzufassen, die darum nicht auf das Werden reduziert sein müssen, herrscht bis heute machtvoll das Dogma der unbedingten ästhetischen Eigenständigkeit automatisch jedes Textes, den die Literaturwissenschaft zu ihrem Gegenstand erklärt. Innerhalb der Literaturwissenschaft entstand es in der Folge der Werkimmanenz einst als späte Reaktion gegen den Positivismus und platte Reduktionen des Werks auf Zeitumstände oder biographische Gegebenheiten aller Art und hatte darin eine durchaus positive Wirkung (außerhalb der Wissenschaft reichen die Wurzeln natürlich weit in den Idealismus zurück). Die Vorstellung von der unverhandelbaren ästhetischen Eigenart des Werks gehört ja durchaus noch in das historisch-kritische Paradigma, denn dieses möchte den Gegenstand in seiner Eigenart und nur in dieser Eigenart bewahren und verstehen. In äußerster Konsequenz bedeutet die absolute ästhetische Eigenständigkeit jedoch die Unmöglichkeit jeglicher Literaturwissenschaft, denn dann gibt es ja keine Kategorien mehr, die man auf das Werk anwenden könnte. Die Werkimmanenz, und das ist bis heute in seiner Tragweite nicht erkannt, unterhöhlte sich damit selber. Homerum ex Homero war nun nicht mehr ohne weiteres möglich, die Parallelstellenmethode als ihr wichtigstes Instrument wurde fragwürdig. Dass die Literaturwissenschaft von nun an Zuflucht in der Theorie suchte, hatte seinen systematischen Grund darin, dass sie ihrer ureigenen Methode und Erkenntnisfähigkeit nicht mehr traute. Die Parallelstellenmethode, die sich aus dem alten Prinzip des Homerum ex Homero entwickelte, ist in ihrer mechanischen Anwendung und als naiver Glaube an die Objektivität ihrer Ergebnisse in mehreren Arbeiten von Peter Szondi, einem Schüler Emil Staigers, in Frage gestellt worden (z.B. 1975 o. 1978). Seine Reflexionen stehen im Zusammenhang einer grundsätzlichen Prüfung philologischer Erkenntnis und stammen aus dem letzten großen Abgrenzungsversuch darstelle. Ein von ihm ediertes Sonderheft versuchte die Frage zu beantworten, ob Philologie als reine Technik überhaupt in der Lage sei, eigenständig das Fach zu bestimmen, bzw. es interessant und relevant zu machen. Genaues Lesen erscheint interessanterweise als kleinster gemeinsamer Nenner aller Argumentationen; gleichzeitig wird die Forderung erhoben, zum universaleren kulturwissenschaftlichen Ansatz der Anfänge zurückzukehren. In einem Sonderheft der „Zeitschrift für deutsche Philologie" (ZfdPh 116, 1997) mit dem Titel „Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte" wird die sog. New Philology diskutiert, die in den mediävistischen Fächern Fortschritte macht. Da die Mediävistik theoretisch und methodisch konservativer geblieben war und aus der Natur der Sache heraus stärker der Edition und damit der Philologie verhaftet blieb, meint die New Philology eher die Öffnung gegenüber neueren Theoriediskussionen. Es geht aber auch um neue editorische Prinzipien (die kritische Auseinandersetzung mit Lachmann wirkt bisweilen freilich etwas anachronistisch), z.B. um die neue Bedeutung von Textvarianten, sowie um z.T. berechtigte Einwände, Kategorien wie Autor und Werk auf volkssprachliche Texte des Mittelalters angewendet zu haben. Die New Philology bleibt aber, und das ist entscheidend, textzentriert, auch wenn sie etwa medientheoretische Fragen stellt. Auf dem Gebiet der Bibelexegese wird der historisch-kritische Zugang heute ausgerechnet in dem Augenblick fragwürdig, da ein Festhalten an erreichten methodischen Standards geboten wäre. Die Proliferation unendlicher theoretischer' Zugänge, wie sie etwa Barton (Hrsg., 1998) erkennen lässt, gleicht die Bibelauslegung der modernen Literaturwissenschaft immer weiter an und wird für den Status und die Rolle der Heiligen Schrift nicht folgenlos bleiben.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
einer dezidiert literarischen Hermeneutik, deren Wurzeln Szondi in bahnbrechenden Arbeiten bis in die Aufklärungshermeneutik zurückverfolgte535. Szondi hat an derselben historisch-kritischen Tradition teil wie Nietzsche auch, wenn er die Hermeneutik als „Instrument der Kritik" (1975:191) verstanden wissen will, d.h. die Balance zwischen Hermeneutik und Kritik in einer Weise zu wahren versucht, die eben das gesuchte Spezifikum der philologischen Erkenntnis ausmacht536. Szondi ist für den Fall Nietzsche besonders deshalb interessant, weil er seine Auslegungstheorie an einem durchaus vergleichbaren Untersuchungsobjekt entwickelte, nämlich an Hölderlin. Die Hölderlininterpretation ist ähnlich wie die Nietzscheinterpretation stark von der gewählten texteditorischen Grundlage abhängig537. Szondis Hölderlinlektüren entzündeten sich immer wieder an textkritischen Fragestellungen und demonstrieren auf vorbildliche Weise das Ineinandergreifen von Edition, genauem Lesen und vermittelndem, aber nicht determinierendem Kontextwissen. Szondis Bestimmung einer besonderen philologischen Erkenntnis ist deshalb gleichermaßen gegen Positivismus und Idealismus gewendet. Er selbst sah die Literaturwissenschaft zwar als Kunstwissenschaft an und ist somit letztlich eher Nachkömmling Winckelmanns denn F.A. Wolfs. Immer wieder betont er aber die kritische Tätigkeit des „Scheidens und Entscheidens", die, und das sei das Besondere der philologischen Erkenntnis, als „perpetuierte Erkenntnis" (1978:283) ewig Prozess bleibe. Philologie sei keine Lehre, sondern eine Tätigkeit „Das philologische Wissen darf also gerade um seines Gegenstands willen nicht zum Wissen gerinnen" (1978:266). Wenn Szondi den Irrglauben in die Schranken verweist, man könne dem individuellen Einzelwerk durch langatmige historische Kontext- und Quellenstudien näherkommen — „jenes Wunschbild der Geraden, die vom Faktischen stracks zur Erkenntnis führen soll" (279) —, so kritisiert er in erster Linie deren ausschließliche Anwendung, die sich nicht der darüber hinaus gehenden Mühe subtiler Lektüre unterzieht: aus allen seinen Schriften spricht ja der philologisch 535
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Szondis Versuch ist als grundsätzlicher Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Theorie zu werten. Zwar beklagte er besonders den Zustand der Germanistik, die nie eine explizite, eigenständige Formulierung ihrer Theorie und Methode gekannt habe. Es wird aber deutlich, dass er alle philologischen Fächer meint. Zu Szondi siehe v.a. Mattenklott (1981) sowie Bollack (1985; 1990; 2000a: 190ff). Das ist ein entscheidender Punkt, der vor allem in der hermeneutischen Szondi-Rezeption untergegangen ist. Jauß (1981) setzt sich schließlich sogar von der literarischen (hier: philologischen) Hermeneutik ab, da Edition, Quellenkritik und historische Auslegung keine Privilegien der Philologie oder Literaturwissenschaft gewesen seien, sondern auch in Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und Historiographie vorkämen. Er verkennt, in welchem Ausmaß die Kritik wissenschaftshistorisch Unterscheidungsmerkmal der Philologie gewesen ist; mit Szondi will er lediglich Philologie und Ästhetik versöhnen. Ist es Zufall, dass sich Heidegger in seinen späten Arbeiten ausgerechnet auf zwei auch sonst verwandte Autoren konzentriert, bei denen der Textstand besonders umstritten ist? Nietzsche hätte Heidegger ohne Zweifel aufgrund seines ,Mangels an Philologie' abgetan. Heideggers kategorischer Ablehnung der historisch-kritischen Nietzscheausgabe ist symptomatisch. Vgl. Szondis Vernichtung von Heideggers Hölderlin-Interpretationen in seinen eigenen, bis heute wichtigen Hölderlin-Studien.
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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legitimierte Imperativ zur historischen Angemessenheit von Interpretationsstrategien, da die Historizität des einzelnen Textes zu seiner Besonderheit gehöre538. Der hermeneutische Zirkel endässt den Philologen nicht aus der Beschäftigung mit der Materialität der Zeichen, im Gegenteil: „der Beweischarakter des Faktischen wird erst von der Interpretation enthüllt, während umgekehrt das Faktische der Interpretation den Weg weist." (ebd.) Szondi ist mit anderen Worten bereit, die Parallelstellenmethode und andere Verfahren des Homerum ex Homero unter der Voraussetzung zu bewahren, dass man sich mit ihnen als Spender von Hinweisen begnügt und sie nicht als Lieferanten unschlagbarer Beweise überfordert: Wie aber verfährt eine Auslegung, für welche die Fakten eher Hinweise denn Beweise sind? Sie versucht, den statischen Zusammenhang des Faktischen, den die Verzettelung zu Belegen allemal zerreißt, in der Rekonstruktion des Entstehungsvorgangs dynamisch nachzuvollziehen. Für diese Rekonstruktion werden die Fakten sowohl zu Wegweisern als auch zu Warnungen vor Irrwegen. Keines der Fakten darf übersehen werden, soll die Rekonstruktion Evidenz gewinnen. (279)
Szondi schließt damit wieder an die genetisch-genealogischen Verfahren der alten Philologie, der Philologie Nietzsches, an. Literaturwissenschaft wird zur Analyse des dichterischen Prozesses einer, Adorno folgenden, Logik des Produziertseins. Evidenz ist das Kriterium philologischer Erkenntnis, sie verpflichtet zu intellektueller Redlichkeit und Nachvolkiehbarkeit, die sich bereits in der genetischen Betrachtungsweise selbst zeigt. Es kann nicht zu den Aufgaben des Philologen gehören, Doppeldeutigkeiten aus der Welt zu schaffen. Wo ein Text mehrere Lesarten zulässt, sei lediglich daraufhinzuweisen (283). Philologisches Wissen ist hier wieder perspektivisches Lesen und Ephexis geworden. Aus Szondis Arbeiten lässt sich wie bei Nietzsche lernen, philologische Genauigkeit und Interpretation strikt zu trennen, ohne darauf illusorische wissenschaftliche Objektivität zu begründen. Philologische Erkenntnis dient lediglich als Hilfsmittel einer Auffassung von Verständnis, das jeden Text sowohl als unvergleichbar wie auch als Produkt seiner Ästhetik und Entstehensbedingungen ansieht. Vergleich ist nun wieder möglich, weil er die Eigenart nur deutlicher hervortreten lässt. Parallelstellen haben nicht mehr Beweis-, sondern Überzeugungscharakter. Wie in der Tradition Wolfs und bei Nietzsche auch hat das Homerum ex Homero vor allem die Funktion, die Glaubwürdigkeit des Lesers und seiner redlichen Absichten zu erhöhen, da es seine gründliche Vertrautheit mit dem Text beweist.
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So kritisiert er u.a. selbst die grammatisch-historische Interpretation dafür, dass sie sich des eigenen geschichtlichen Wandels nicht bewusst ist und natürlich ohnehin nach Unmöglichem strebt, nämlich festzustellen, wie es in Wahrheit gewesen sei. Eine adäquate literarische Hermeneutik darf nach seiner Auffassung nicht alte philologische Modelle übernehmen, sondern muss sich an ihrem jeweiligen historischen Ort auch immer wieder mit der zeitgenössischen Ästhetik versöhnen. Auch sie ist, um wieder auf Nietzsche zurückzukommen, dem flüssigen Sinn unterworfen.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
Die Parallelstellenmethode ist deshalb bei einem Autor wie Nietzsche, der sich selbst so stark kommentierte und offensichtlich viele Quellen verwendete, unverzichtbar. Nietzsche fordert nicht umsonst von seinen Lesern immer wieder, alle seine Schriften zu berücksichtigen — schon dieser Umstand allein sollte Heideggers Thesen über die Oberflächlichkeit des veröffentlichten Werks ad absurdum führen. Die Fähigkeit des Philologen, Texte miteinander kommunizieren zu lassen, so dass sie Licht aufeinander werfen, muss wieder als Kunst begriffen und geübt werden, und zwar textintem genauso wie intertextuell: „Ein Ding, ganz allein, würde gar nicht existieren - es hätte gar keine Relationen. Z.B. mein Buch."(V 12[17]). Das Eigene, so könnte man eine mittlerweile banale Einsicht formulieren, wird nur am Andern erfahren: Komparatistik sollte sich für jede Literaturwissenschaft von selbst verstehen. Heute hat die Germanistik freilich noch einige andere Sorgen. Nicht nur mehr die Verabsolutierung der ästhetischen Autonomie des Werks steht einer Wiederbelebung philologischer Methodik entgegen, sondern auch das ganze Gegenteil: die Abwendung von der ästhetischen Eigenart literarischer Texte. Eine Ebene des Ausgleichs zwischen dieser Alternative scheint nicht in Sicht. Trotz unübersehbarer Tendenzen zur Wiedergewinnung des kritischen Paradigmas hat in der deutschen Literaturwissenschaft die sog. Kulturwissenschaft Konjunktur, die sich zwar aus mannigfaltigen Quellen speist (etwa der Ethnologie oder der Anthropologie), deren verschiedenen Spielarten jedoch gemeinsam ist, Texte zu Dokumenten zu degradieren. Die Intensität, mit der sich Philologen einst dem individuellen Text widmeten, geht dabei, neben vielem anderen, verloren539. Warum die Kulturwissenschaft ausgerechnet in einem literaturwissenschaftlichen Fach angesiedelt sein soll, statt unter der Ägide der Geschichtswissenschaft, wird dabei wohl Geheimnis ihrer Erfinder bleiben. In der heutigen Debatte um das Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft540 wiederholt sich jedoch, von ihren Protagonisten unbemerkt, die Debatte
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Vgl. nochmals Mattenklott (1991), der die geringe ästhetische Kompetenz der Geisteswissenschaften und ihre damit einhergehende geringe moralische Autorität beklagt. Mit der Enteignung ihrer Gegenstände und der Beliebigkeit ihrer Behandlung und Darstellung haben sie sich zwar akademischen Frieden erkauft, aber gleichzeitig Bedeutungslosigkeit über die engen Fachgrenzen hinaus eingehandelt. Er plädiert für Wertmaßstäbe, die wieder qualitative Gewichtungen zwischen Joyce' Ulysses und einer Fernsehwerbung erlauben. Gegen die sog. Medienwissenschaft, der in ihrer Orientierungslosigkeit jegliche prägende ästhetische Erfahrung fehlt, ist damit alles gesagt (vgl. auch Mattenklott, 1989). Der Medienwissenschaft fehlt ferner, so könnte man hinzufügen, die Textkritik, wiewohl sie selbst teilweise einen Versuch darstellt, gewisse kritisch-materiale Komponenten der alten Kritik unter neuen Voraussetzungen wiederzubeleben. Wenn sich medientheoretische Ansätze statt in technischen Details zu verharren als Teil einer umfassenden kritischen Wissenschaft verstünden, könnten sie in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Zur Diskussion um Kulturwissenschaft und Grundbegriffe wie Text etc. s. bes. JBDSG 42 (1998), 457-507.
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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um den Historismus bzw. den Klassizismus zu Nietzsches Zeiten541. Wilamowitzens Institutsgründung an der Berliner Universität, die alle das Altertum betreffende Fächer (wieder) unter ein Dach führte, erinnert unverkennbar an heutige kultur- oder regionalwissenschaftliche Vorstöße. Die Probleme sind ebenfalls dieselben geblieben. Wenn die Kulturwissenschaften ihre literaturwissenschaftliche Herkunft einbringen wollen, indem sie die Kultur-als-Text-Metapher bemühen (z.B. Böhme/Scherpe, Hrsg., 1996:15), so fehlt in ihrer Konzeption jegliche Reflexion über die Bedeutung der Textkritik542. Hatten Ritsehl, Jahn oder Usener und ihnen folgend Nietzsche oder Warburg angemahnt, dass bei einer Ausweitung des Untersuchungsgegenstands gleichzeitig desto strenger die methodischen Grundlagen gepflegt werden müssen, ist hier jegliches Bewusstsein der methodischen (nicht der theoretischen) Problematik der Textmetaphorik verlorengegangen. Die Kulturwissenschaft wird nicht an dem ihr oft (und oft zu Unrecht) vorgeworfenen Dilettantismus, sondern an der Unmöglichkeit scheitern, ihren vermeintlichen Gegenstand zu textualisieren. Aus Sicht von Nietzsches Zukunftsphilologie müsste man nun folgendermaßen argumentieren. Für die Zukunft der Literaturwissenschaft kommt es auf eine neue Disziplinierung des Faches an — alle Konnotationen dieses Begriffes eingeschlossenen. Erst wenn die Philologen sich wieder als Experten für bewahrenswerte, komplexe Texte und deren Kontexte verstehen (deren Studium durch die Beschäftigung mit den Texten befruchtet wird und selbst wieder befruchtend wirkt), werden sie im interdisziplinären Austausch etwas Unverzichtbares anbieten, das sie besser als Vertreter anderer Disziplinen beherrschen. Gerade in Zeiten forcierter Interdisziplinarität ist die Stärkung der Disziplinarität geboten: wenn alle auf demselben Gebiet konkurrieren, werden nur wenige überleben543. 541 Wegweisend war Böhme/Scherpe (Hrsg., 1996). Die Wissenschaftsgeschichte der Philologie scheint den Herausgebern jedoch fremd zu sein; in ihrem programmatischen Vorwort werden die Begriffe historisch-hermeneutisch und philologisch nahezu synonym verwendet. Sie können die Philologie deshalb konsequenterweise unter die Geisteswissenschaften subsumieren, deren Einheit unwiderruflich dahin sei, und sie als bloße „deutsche Traditionen" (S. 9) abtun, die im Zeitalter immer größerer internationaler Verflechtung anachronistisch geworden seien. Die Philologie ist von derlei nationalen Kategorien aber unabhängig. Vielmehr sollte es um verbindliche, durchaus internationale Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens gehen, die Begründung einer Interpretationsgemeinschaft. „Monomedialität und Monokulturalität" (11) sind gleichfalls kein eigentliches Problem der Philologien, sondern der Wissenschaftsorganisation. Der Trend zur „Pluralisierung der Quellen" (11), der angeblich den Kulturwissenschaften zu verdanken ist, kann nur im Kontrast zu einem sehr verengten Philologiebegriff originell wirken. Es sind die Philologen gewesen, die durch ihre Sammelleidenschaft und Entdeckerfreude — man denke nur an die Brüder Grimm! — von jeher die Quellenbasis erweitert haben. 542
Die textuelle Verfasstheit der Welt gilt auch für eine Reihe anderer Ansätze in der neueren Literaturwissenschaft, so z.B. für den sog. New Historicism, dessen Bezeichnung bereits in die Irre führt. Dieser eigentlich symphatische und teilweise durchaus fruchtbare Ansatz, der genaue Lektüre im Sinne der Werkimmanenz mit historischer Analyse verbinden möchte, leidet konsequent an seinen eigenen universalhistorischen Tendenzen und verliert im Zuge der Arbeit am ,Text' der Welt die eigentlichen Texte immer mehr aus den Augen.
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Aby Warburg, der immer wieder als Bannerträger der Interdisziplinarität angeführt wird, ist ein gutes Beispiel. Wuttke ( 2 1978:44ff) betont zwar, wie wichtig es Warburg war, den Studenten die
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Die Literaturwissenschaften haben nur dann eine Zukunft, wenn sie, wie es in der Anfangsphase der Philologie für kurze Zeit der Fall war, Historismus und Klassizismus sowie Hermeneutik, Kritik und Grammatik ins Gleichgewicht bringen. Es wäre allerdings verfrüht, der Rückkehr in die gute alte Zeit der Nationalphilologie das Wort zu reden. Im Gegenteil: hat diese doch in ihrer Glanzzeit vom Ende des neunzehnten bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Entwicklung und Verbreitung der eigentlichen philologischen Theorie und Methode eher behindert. Das ist einerseits den geschilderten wissenschaftsinternen Faktoren, etwa der Verengung des Philologiebegriffs geschuldet. Andererseits haben fachexterne Einflüsse eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Die philologische Theorie und Methodik war ursprünglich von nationalen Paradigmen völlig unabhängig. Durch die Zentralität, die methodisch der Vergleich auf allen Ebenen einnahm, war sie aus der Natur der Sache heraus schon komparatistisch ausgerichtet: man denke an die Brüder Schlegel oder an Lachmann, der zwischen Alt- und Neugermanistik, Latein, antikem Griechisch und Koine wechseln konnte. Die Belesenheit Nietzsches in den wichtigsten Literaturen Europas war Regel, nicht Ausnahme; Übersetzung und Übersetzungskritik galten als wichtige Bestandteile der Philologie. Die Ausbildung eines timfassenden komparatistischen Faches, zu dem es auch in Deutschland Ansätze gegeben hatte, scheiterte schließlich am Nationalismus (Dainat, 1994:519), der „Krankheit dieses Jahrhunderts" (WS 87, 2:592f)544. Das Klima, das er schuf, war der Klassischen Philologie feind-
Bedeutung der Hilfswissenschaften und der Interdisziplinarität darzulegen, aber er verlangte andererseits unbedingte fachliche Kompetenz und habe nie dafür plädiert, die Kunstwissenschaft aufzulösen. Wie bei Nietzsche geht es also darum, von einer fachlich-methodischen Grundlage aus andere Bereiche zu erschließen. Sinnvolle Kommentare über die Voraussetzung der Disziplinarität füir die Interdisziplinarität bei Voßkamp (1996), der die Interdisziplinarität nicht aufgeben möchte: erst als interdisziplinäres (d.h. aber eben auch auf einer disziplinaren Tradition begründetes) Fach hat die Literaturwissenschaft eine bedeutende Rolle in Wissenschaftssystem und kultureller Öffentlichkeit gewonnen. 544
Nietzsche stellt an nämlicher Stelle eine komparatistische philologische Schulung, die das Schreiben umfasst, explizit als Gegnerin des Nationalismus dar: „Besser schreiben aber heisst zugleich auch besser denken; immer Mittheilenswertheres erfinden und es wirklich mittheilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, dass alles Gute Gemeingut werde und den Freien Alles frei stehe; endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge v o r b e r e i t e n , wo den guten Europäern ihre grosse Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur. — Wer das Gegentheil predigt, sich n i c h t um das gut-Schreiben und gut-Lesen zu kümmern — beide Tugenden wachsen mit einander und nehmen mit einander ab —, der zeigt in der That den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr n a t i o n a l werden können: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister." (ebd.) Es ist in diesem Zusammenhang eine Anmerkung wert, dass die ersten, die philologisch orientierten germanistischen Literaturwissenschaftler auch Komparatisten waren und dem Nationalismus fern standen. Michael Ber ti ays (er erhielt den ersten neuphilologischen Lehrstuhl in Deutschland überhaupt) war u.a. ein großer Shakespeareforscher; Erich Schmidt publizierte 1875 eine wichtige Studie über Richardson, Rousseau und Goethe.
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lieh gesinnt; Lachmann sattelte nicht zuletzt deswegen auf die Germanistik um (Jacob, 1983). Ein Blick zurück auf die inhaltliche Ausrichtung von Nietzsches und Rohdes Zukunftsphilologie zeigte jedoch, dass diese nicht nur einen erneuerten Klassizismus (Enthusiasmus) zum Inhalt hatte, sondern schon von selber begann, Texte zu transzendieren, indem sie sich verstärkt der Analyse mythologischer, religiöser, kultischer, ritueller Phänomen zuwandte. Das Studium dergleichen kultureller Phänomene trug dann, wie dargestellt, ganz dazu bei, Nietzsche endgültig aus dem Fach herauszuführen. Damit ist ein in Nietzsches Entwicklung entscheidender Punkt eingetreten: entscheidend zunächst für sein Verhältnis zur Philologie. Es konnte festgestellt werden, dass Nietzsche die Zukunftsphilologie anfangs in Absetzung von anderen Forschungsausrichtungen innerhalb des Faches noch über die Untersuchungsobjekte definiert hatte. In einer Kehrtwendung geht er zu den enzyklopädischen Wurzeln zurück und bestimmt darauffolgend das Wesen der Philologie von nun an über die Methodik. In Uberwindung der inhaltlichen Festlegung von Fachlichkeit bei gleichzeitiger Beibehaltung der Methodik ist Nietzsche, bei allen Vorzügen Useners, der erste bedeutende Geist, der die philologische Erkenntnisweise konsequent von der Bindung an die Disziplin und ihre tradierten Forschungsgegenstände löst. Nietzsche hat die philologische Erkenntnis nicht erfunden, sondern auf ihrer Grundlage seine neuen Fragen gestellt: er hat die Philologie zu Ende gedacht. Von F.A. Wolf und Friedrich Ritsehl geprägt, geht er weit über sie hinaus. Zwar stellt Nietzsche bis ans Ende die Beschäftigung mit den „werthvolle[n] und königliche[n]" (FW 2.102, 3:458) Büchern ins Zentrum der eigentlichen universitären Disziplin. Ob jemand ,Philologe' ist oder nicht, hängt aber nicht mehr davon, sondern von der Folgerichtigkeit ab, mit der philologische Methodik und Erkenntnisweise zum Kriterium der Erkenntnis überhaupt gemacht werden — als Methode wohlgemerkt und nicht als Theorie; als Methode, die eben nicht wie eine beliebige Theorie mechanisch appliziert werden kann. Der epochale Gegensatz zu Wilamowitz ist nicht zu übersehen. In Abwehr gegen jede methodisch fundierte Philologie hatte dieser festgestellt: „Die Philologie, die immer noch den Zusatz klassisch erhält, obwohl sie den Vorrang, der in dieser Bezeichnung liegt, nicht mehr beansprucht, wird durch ihr Objekt bestimmt, die griechisch-römische Kultur in ihrem Wesen und allen Äußerungen ihres Lebens." (Kursivierung von mir) — es ist diese objektbezogene Definition, die jenen kulturwissenschaftlichen Ansätzen noch heute zum Problem wird, die nicht (wie etwa die Schule Warburgs) ein ähnliches methodisches Bewusstsein entwickelt haben wie Nietzsche. Die im Titel dieses Kapitels versteckte Frage, ob die Nietzscheforschung zur Zukunftsphilologie taugt oder nicht, erweist sich damit als gegenstandslos. Der Begriff der Zukunftsphilologie ist eng an eine bestimmte Phase in der Geschichte der Altertumswissenschaft gekettet, und zwar als Versuch einer Synthese, der sich
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kaum auf andere Disziplinen übertragen lässt. Indem Nietzsche wieder an die enzyklopädische Tradition anschließt und nicht mehr die Objekte, sondern die Methodik als fachbegründend auffasst, öffnet er dann den Horizont unbegrenzter Forschung, die sich mit allem beschäftigen darf, solange die Standards gewahrt bleiben. Es wäre daher allzu einfach, die kulturwissenschaftlichen Tendenzen der modernen Literaturwissenschaften lediglich aus der zukunftsphilologischen Perspektive des jungen Nietzsche anzugreifen, wie es jene lieben, die zwar mit Recht nach wie vor auf dem ästhetischen Eigenwert von Texten bestehen, aber vor neuen Fragen prinzipiell die Ohren verschließen. Nietzsches Revision des eigenen zukunftsphilologischen Standpunktes sollte zu denken geben. Statt kulturhistorische Forschungen unter historiographischen oder philosophischen Vorzeichen zu betreiben, könnte vor diesem Hintergrund vielleicht doch ein philologischer Zugang zu kulturellen Phänomenen aller Art als eigenständiges Paradigma entstehen. Von dieser Warte aus darf und muss die bisherige kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft konstruktiv kritisiert werden, hat sie doch die eigenen kritischen Stärken vergessen. Sie will schon synthetisieren, wo noch lange Zeit Analyse geboten ist — und das gilt selbst noch auf den ureigensten Gebieten der Philologie. Sogar auf dem vergleichsweise gründlich vermessenen Gebiet der Nietzscheforschung ist das Stadium der Analyse noch längst nicht erschöpft. Vorbildliche (Nietzsche-)Philologie ist deshalb heute nur jene Forschung, die die Spannung zwischen Analyse und Synthese aushält, die immer wieder die Grenzen der Analyse zu überwinden trachtet, um am Ende aber auf neuer Stufe wieder in sie einzutauchen. Auf dieser Wanderung hält man um der Gefahr willen ein, nie wieder die Energie zum Weiterwandern aufzubringen. Die großen Syntheseversuche „mit tapferen Fäusten" können den „zartesten Fingern" allenfalls im Gröbsten zur Hand gehen. Die Analyse allein, die in den letzten Jahren durch die Nietzscheforschung geleistet worden ist, hat Nietzsche zu einem interessanteren, komplexeren Autor gemacht — und schließlich auch auf zahllose kulturhistorische Phänomene und Entwicklungen neues Licht geworfen. Philologie in diesem Sinne bedeutet, einen Sinn für Prioritäten zu entwickeln. Die analytischen Kräfte der Philologie steigern indes nicht nur die Komplexität, sondern führen einige Probleme mit sich, die am Ende angesprochen werden müssen, weil sie für den historischen Niedergang der Philologie mitverantwortlich waren und nur im Bewusstsein ihrer Existenz umgangen werden können. Zunächst sind die Abhandlungen der redlichen Philologen bisweilen schwer und umständlich zu lesen. Es war nicht zuletzt die Diskrepanz zwischen dem technischen Aufwand der Philologie und ihrem Auftrag als ,Götterbotin', die Nietzsche seine Herausforderungen außerhalb der akademischen Grenzen suchen ließ. Hinzu kommt, dass jedes auch noch so redliche Lesen aus Notwendigkeit in Interpretation mündet, denn jede menschliche Handlung, so perspektivenreich
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sie auch sein mag, findet irgendwann ihr Ende. Abgesehen davon, dass intellektuelle Redlichkeit also möglicherweise völlig nutzlos ist, weil der Status ihrer Ergebnisse sich in nichts von denen unterscheidet, die auf anderen Wegen erzielt worden sind, muss in diesem Zusammenhang auch Adornos Polemik gegen die intellektuelle Redlichkeit (etwa in Aphorismus 50 der Minima Moralia) ernst genommen werden, die alle entscheidenden Einwände versammelt. Gemünzt auf die positivistische Rhetorik, mit der er sich im amerikanischen Exil konfrontiert sah, wirft Adorno der Redlichkeit drei Dinge vor. Sie laufe auf „Sabotage der Gedanken" hinaus, da diese eben nicht an universaler Kommunizierbarkeit messbar seien, sondern ihr Wert proportional zum Abstand vom Bekannten wächst. Standardisierte Darstellung produziere deshalb Banalität und Langeweile, „die sich nicht nur auf die Spannung bei der Lektüre, sondern auf ihre eigene Substanz bezieht". Die Forderung nach intellektueller Redlichkeit sei am Ende selbst unredlich: Gäbe man ihr selbst einmal die fragwürdige Anweisung zu, die Darstellung solle den Denkprozeß abbilden, so wäre dieser Prozeß so wenig einer des diskursiven Fortschreitens von Stufe zu Stufe, wie umgekehrt dem Erkennenden seine Einsichten vom Himmel fallen. Erkannt wird vielmehr in einem Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen, kurz in der dichten, fundierten, aber keineswegs an allen Stellen transparenten Erfahrung. (1969:99ff)
Zur Entgegnung möge ein Gleichnis dienen, das Nietzsches bereits beschriebene Eisenbahn-Analogie aktualisiert. Man stelle sich zwei unterschiedliche Arten des Reisens vor. Der eine reist mit dem Flugzeug. Er weiß genau, wo er ankommt und wann er zurück sein wird, er weiß, was ihn erwartet. Der andere hat kein Ziel, höchstens ein vages Ungenügen am Bleiben. Die Gegenden, die er, zu Land unterwegs, bereist, hat er vorher gründlich studiert. Er kennt ihre Kartographie, ist mit geologischen und ethnologischen Tatsachen vertraut. Er beobachtet genau, vergleicht und erkennt. Der Zufall und verschiedene Motive, über die er sich nicht ganz im Klaren ist, aber klar zu werden versucht, bringen ihn schließlich an denselben Ort, an dem der erste Reisende schon vor langer Zeit ankam. Beide schreiben über ihre Reiseerlebnisse, der erste eine Postkarte, der zweite ein Buch. Postkarte und Buch: beide sind Interpretationen' desselben ,Etwas', sie unterscheiden sich nur in der Darstellungsart und den unterschiedlichen Wegen, auf denen sie entstanden sind. Je nach Lage möchte man kaum die eine mit der anderen eintauschen. Das Buch des zweiten Reisenden mag voller Fehler stecken, es tut nichts zur Sache. Der nächste Reisende wird sie berichtigen. Neue Reisende müssen immer kommen, denn die Gegend verändert sich, die Reiseführer veralten — flüssiger Sinn. Erst eine große Anzahl von informed travellers wird sich gegen die Masse der Pauschaltouristen behaupten können. Nach Nietzsches Uberzeugung kam in einer Welt, die ohnehin als Ausfluss anthropomorphischer Fiktion angesehen werden muss, alles auf den Willen zur
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Redlichkeit an. Und das schlägt sich am Ende auch in den Resultaten nieder, im Beziehungsreichtum des Reisens beispielsweise: „Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zuviel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt über sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese Gewöhnung ist sein Verdienst." (IV 19[1]). Das „Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen", das laut Adorno richtigerweise den Denkprozess kennzeichnet, könnte ebenso gut für das ,Lesen' stehen. Intellektuelle Redlichkeit erhebt keinen höheren moralischen Anspruch etwa auf größere Objektivität. Im Gegenteil: sie bezeichnet die Offenlegung und damit Relativierung des eigenen Zugangs, Ephexis in der Interpretation. Erst die Offenlegung des Entstehungsprozesses macht aus der Interpretation Philologie. Auch wenn der Interpretation eine noch so rigorose und selbstkritische Lektüre voranging, zählt sie nur als wahrhaft philologische Lektüre, wenn die Interpretation erkennbar und organisch aus ihr erwachsen ist. Interpretation und Lektüre erfahren ihren Wert nur anund ineinander, das ist der eigentliche hermeneutische Zirkel. Adornos Vorwurf der Banalität kann so gleich mitausgeschlossen werden, denn er gehört zum selben Argument. Banal ist nicht notwendigerweise all das, was ich problemlos nachvollziehen kann, sondern höchstens der Neuigkeitswert der dargestellten Zusammenhänge — und der lässt sich nur für den Einzelnen bestimmen. Zustimmung soll Adorno hingegen erhalten, wenn es um die Langeweile geht. Redlichkeit kann ermüdend sein. Schon Hirsch bemerkt, dass im redlichen Freilegen der Analyseschritte immer die Gefahr der Langeweile droht (Hirsch, 1967:171) — Leser der vorliegenden Arbeit werden ihm sicher beipflichten. Gewiss sind die großen Redlichen der Weltliteratur zumeist, wie Charles Bovary, die noch größeren Langweiler. Entweder sterben sie zur Erleichterung des Lesers selbst früh oder treiben durch ihre Langeweile die anderen Figuren in den Tod. Die redlichsten, gründlichsten Werke der Wissenschaften, besonders jene der Philologie, zeichnen sich nicht selten durch Langatmigkeit aus. Das ist naturgemäß kein Problem der Wissenschaftlichkeit an sich, aber im Gegensatz zur Philosophie ist die Philologie den Erfolgen ihrer Mittlertätigkeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, in noch höherem Maß als selbst die GeschichtssSchreibung. Adorno scheint die Geisteswissenschaften frei nach Nietzsche zum Aphorismus oder mindestens zum Essai ermuntern zu wollen. Wenn sich die Literaturwissenschaft tatsächlich als Götterbotin auffasst, dann ist die Effektivität der Vermittlung ein wichtiger Aspekt. Es spricht damit einiges für den Verzicht auf übergenaue Dokumentation und ferner dafür, begrenzten Verlust an Überzeugungskraft in Kauf zu nehmen. Andererseits ist diese Darstellungsform nicht jedem gegeben. Das Urdilemma der Philologie beschrieb schon Ernst Robert Curtius. Philologie ist „als literarische Komposition betrachtet, eine Rechnung, die nie rein aufgeht". Der Historiker habe sich eben auf Quellen zu stützen, der Philologe auf
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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Texte, sonst verdienen sie diese Bezeichnungen nicht: „Gibt der Autor zu viele Belege, so wird sein Buch unlesbar; gibt er zu wenige, so schwächt er die Beweiskraft." ( n 1993:386) 545 . In der Synthese aber liegt ein eigenständiges, schöpferisches Moment, das in der Form zutagetritt. Natürlich ist es ein Unterschied, ob man wie Curtius einen Blick über Jahrhunderte wirft, oder ein einzelnes Werk auslegt. Zur Nachdichtung bis zu einem gewissen Grad kommt es, wie bei jeder Übersetzung, wie bei jeder Übertragung einer Metapher in eine andere Metapher, in jedem Falle. Intellektuell redliche, aber in der Darstellung defizitäre Arbeiten offenbaren nur, dass die Evolution von der Analyse zur Synthese noch nicht ganz vollzogen wurde. Man denke dabei an Autoren, die sich, selbst wenn sie alle Hoffnungen auf Unwiderlegbarkeit fahren gelassen haben, trotzdem eines szientistischen Begriffs- und Analyseapparates bedienen, der ihren Prämissen Hohn spricht. Es muss sich wieder die Erkenntnis durchsetzen, dass keine Theorie und Methode den Passagierschein für die Chartermaschine abgeben kann, die viele Reisende schnell und billig zum selben Ort transportieren kann, sondern dass philologische Arbeit einer beschwerlichen Fußwanderung gleicht, welche die Mühsal allenfalls mit gesteigerter Selbsterfahrung lohnt546. Aus diesem Grund ist die Person Nietzsches — des unsteten Wanderers und Liebhabers endloser Spaziergänge und Gewaltmärsche — besser als andere geeignet, um über das Verhältnis von Analyse und Synthese neu nachzudenken. Sein ganzes Werk lässt sich ja hinsichtlich der Lesefrüchte als riesige Synthese des Gedankenguts des neunzehnten Jahrhunderts lesen, die nun erst durch die Analyse seit Montinaris Quellenforschung als solche wieder erkannt wird — und wiederum neue Synthesen fordert. Nietzsches Art der Darstellung gewinnt einen Eigenwert, an deren Vorbild sich die Literaturwissenschaft zu einem Genre ganz eigener Art wandeln könnte, vergleichbar dem traditionell literarischen Genre der Geschichtsschreibung. Spätestens seit Hayden White häufen sich auch hier die Zeichen zur Rückkehr in die narrative Heimat. Das alles ist selbstredend nicht normativ gemeint. So verschiedene Autoren wie Curtius und Benjamin sind als Philologen mit Recht literarische Klassiker geworden. Wenn das Ideal auch selten erreicht wird, sollte es Ziel einer Praxis bleiben, die nicht in bloßer Aufrechterhaltung der eigenen Tätigkeit das Richtmaß ihres Selbstverständnisses sieht. Als Bonus müsste die Literaturwissenschaft sich nicht länger im Sinne Gadamers als rückwärtsgewandte Verwalterin historischen Erbes auffassen, sondern könnte durch eigenen Einsatz zur zeitgenössischen Ästhetik aufschließen. Nietzsche wäre ihr dann wieder ein Gegenwartsautor, an dem sich die Sinne genauso schär545
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„Es ist seltsam bestellt um die Literaturwissenschaft. Wer sie betreibt, verfehlt entweder die Wissenschaft oder die Literatur." So Emil Staiger in der Einleitung von Die Kunst der Interpretation (Staiger, 5 1967). Das entlastet nicht zuletzt von der Notwendigkeit zum Fachjargon, der als feste Begrifflichkeit in der Philosophie berechtigt, ja unverzichtbar, aber in der Literaturwissenschaft kontraproduktiv ist. Der Jargon weist dem Schreiben die Grenzen eines bestimmten Sprachspiels zu, den Horizont, der außerhalb seiner selbst keine Erkenntnisse zulässt.
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6. Schluss: Nietzsche lesen
fen lassen wie an den neuesten Neuerscheinungen — und zwar ohne dass der sensus historicus darunter zu leiden hätte. Nietzsches zukunftsphilologische Forderung aus der zweiten Un^eitgemässen wäre damit Genüge getan: „Nur aus der h ö c h s t e n K r a f t der G e g e n w a r t d ü r f t ihr das V e r g a n g e n e deuten [...] Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch nieder." (KSA 1:293f). War mit dem oben geschilderten zweiten Reisenden ein ,Philologe' im Sinne Nietzsches gemeint, lassen sich selbstverständlich mannigfaltige Bücher denken, die, je nach Vorlieben, auf solch einer Reise entstehen können, so wie die Reise selbst zwischen Pilgerfahrt und Feldforschung angesiedelt sein mag. Das jeweilige Publikum wird Schreibweise und die „Frage der Proportion" (Curtius, n 1993:384) im Anteil von Dokumentation der Analyse und synthetischer Darstellung schon bestimmen. Debatten in der Literaturwissenschaft sollten heute nicht mehr um die Art des Reisens — die philologische Methodik —, sondern über lohnende Ziele und unerforschte Gelände geführt werden. Die oft bereisten Länder müssen deswegen nicht vernachlässigt werden; bei näherem Hinschauen bergen sie noch manche Überraschung. Den idealen Nietzscheforscher stelle ich mir nach dem Vorbild des großen italienischen Germanisten Claudio Magris vor: die Nietzscheforschung sollte sich von seiner Erkundung des Donauraumes inspirieren lassen. Hier ist ein Reisender, der nicht unfreiwillig unterwegs ist wie Odysseus, der sich nicht faustisch zur Weltformel getrieben fühlt, kein Argonaut auf der Jagd nach dem goldenen Vlies. Sensible unmittelbare Aufnahmekraft verknüpft sich mit unterschwelliger Selbstreflexion, wie sie typisch für die besten Reisetagebücher ist. Die Entgrenzung der Anschauung durch immer neue Bilder und Perspektiven, der Fluss oder besser Strom als Bild des Auslegungsprozesses, dem es bis in die kleinsten Mäander nachzuspüren gilt, all dies begründet eine existentielle Haltung, die gar keines Fluchtpunktes bedarf, der über das eigene Ich hinausgeht. Trivial gesprochen: der Weg ist das Ziel. Etwas weniger trivial: Mitteleuropa in seinem Sprachen- und Kulturennetz als physische und mentale Inkarnation von Nietzsches Perspektivismus, der im großen, wahrhaft synthetischen Werk dieses Kulturraums als — von Nietzsche inspirierter — „Möglichkeitssinn" schon einmal kulminierte, nämlich in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (vgl. bes. das vierte Kapitel). Es ist dies eine sinnliche Erkundung: nicht um Wahrheit geht es, sondern um den Text-Leib; die an der Ratio ausgerichtete Methode hat sich immer wieder am Soma zu korrigieren. Möglicherweise steckt deshalb allein in der philologischen Praxis die wahre ästhetische Theorie. Wenn Nietzsches Werk dem Donau-Strom des flüssigen Sinns entspricht, kommt es darauf an, von den Quellen ausgehend immer wieder bis in die kleinsten Seitenarme vorzudringen. Das ziel- aber nicht zwecklose, aus der Sehnsucht geborene Umherstreifen, das an Nietzsches nie erfüllte Suche nach dem zuträglichsten Klima, der bekömmlichsten Küche erinnert, kann kein mythologisches, wohl aber ein literarisches Vorbild zitieren. Eines, dem sich Nietzsche zeitlebens verwandter gefühlt hat als anderen. Childe Harold, irgendwo zwischen gloomy
6.3. Nietzscheforschung als Zukunftsphilologie?
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wanderer und mediterranem Flaneur, der byronische Pilger und Held aus Nietzsches Jugendzeit: er verkörpert die gleichsam emblematische Identifikationsfigur eines Lehrsatzes, der von Nietzsche stammen könnte — nur durch die Erfahrung der Fremde erfährt man das Eigene; und das Paradigma dieser Erfahrung heißt Lesen. Nicht der Satz aus der Vorrede zur Morgenröthe soll deshalb diese Zeilen beschließen: „Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen!" (KSA 3:17). Sondern der Entschluss, die Reise auch anzutreten, die diesen Überlegungen erst Sinn verleiht. Kein modischer ,Selbsterfahrungstrip' wird dadurch beschrieben. Sondern der einzig erlaubte Weg, über Nietzsche noch mitreden zu können; es war doch das Gespräch, das die Hermeneutik wollte — And from his native land resolved to go, And visit scorching climes beyond the sea; With pleasure drugg'd, he almost long'd for woe, And e'en for change of scene would seek the shades below.547
547
Childe Harold's Pilgrimage, Canto I.vi., 1912:177
Literatur- und Siglenverzeichnis A. Nietzsches Texte: A . l . Textausgaben und Briefe A.2. Archivalien A.3. Siglen B. Hilfsmittel: B . l . Spezialbibliographien B.2. Nachschlagewerke B.3. Nietzsches Lektüre C. Siglen der Zeitschriften und Jahrbücher
D. Quellen und Sekundärliteratur
A. Nietzsches Texte
A.l. Textausgaben BAW = Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Hans Joachim Mette, Karl Schlechta und Carl Koch, 5 Bde., München, C.H. Beck 1933ff GA = Großoktavausgabe: Friedrich Nietzsche, Nietzsche's Werke, 19. Bde. u. 1 Registerbd. Leipzig, Kröner - Naumann 1894ff GB = „Abriss der Geschichte der Beredsamkeit" Α New Edition, hrsg. v. Anton Bierl und William M. Calder III, in: NSt 21 (1992), 363-389 KGB = Friedrich Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, de Gruyter 1975ff KGW = Friedrich Nietzsche, Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin — New York, de Gruyter 1967ff KSA = Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München — Berlin — New York, Deutscher Taschenbuch Verlag — de Gruyter 21988 ME — Manuskriptedition: Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Neunte Abteilung: Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription, hrsg. v. Marie-Louise Haase und Michael Kohlenbach, Berlin — New York, de Gruyter 2001 ff MusA = Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke, 23 Bde., München, Musarion 1920-1929 Ν VII1-3 = Nietzsches Oktavhefte April/Juni 1885ff, in: ME (9. Abt. der KGW) SA = Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, München, Hanser 1954ff
Literatur- und Siglenverzeichnis
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TA = Taschenausgabe: Friedrich Nietzsche, Nietzsche's Werke. Taschenausgabe, hrsg. v. Elisabeth Förster-Nietzsche, 10 Bde., Leipzig, Naumann 1906 Außerdem wurden benutzt:
Friedrich Nietzsche, Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung, in: RM 22 (1867), 161-200 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Leipzig, Naumann 1887 (Erstausgabe) HyperNietzsche: A.2. Archivalien Im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar erhaltenes Archivmaterial: Kollegnachschriften philologischen Inhalts von Nietzsches eigener Hand (in Klammem die Anzahl der Blätter) sowie die verwendeten Druckmanuskripte, geordnet nach laufender Signaturnummer zur Gruppe 71.
GSA 71/27.1./27.2. Druckmanuskripte Zur Genealogie derMoral GSA 71/37 Friedrich Ritsehl, Des Plautus Miles gloriosus (15) GSA 71/42 Otto Jahn, Archäologie (31) GSA 71/43 Friedrich Ritsehl, Institutiones grammaticae linguae latinae (7) GSA 71/44 Georg Curtius, Geschichte der griechischen Literatur (JS) GSA 71/46 Georg Curtius, Geschichte der griechischen Uteratur (24) GSA 71/ 47 Friedrich Ritsehl, Geschichte der griechischen Tragödie und Einleitung zu des Aeschylus' Sieben gegen Theben (84) GSA 71/48 Friedrich Ritsehl, Geschichte der griechischen Tragödie und Einleitung des Aeschylus' Sieben gegen Theben und Vermischte Aufzeichnungen (12) GSA 71/49 Friedrich Ritsehl, Die römische Epigraphik als Hülfsmittel zum Studium der lateinischen Grammatik (20) GSA 71/50 Georg Curtius, Griechische Grammatik (86) GSA 71/51 Georg Curtius, Griechische Grammatik, Aufzeichnungen zur lateinischen Grammatik und philologische Notizen GSA 71/52 Georg Curtius, Erklärung derEragmente der griechischen Lyriker und Weitere Aufzeichnungen zur klassischen Philologie (84) GSA 71/53 Friedrich Ritsehl, Einleitung und Anleitung zur lateinischen Grammatik (85) GSA 71/54 Friedrich Ritsehl, Historische Grammatik der lateinischen Sprache nebst Einleitung in die römische Epigraphik (98) GSA 71/56 Konstantin v. Tischendorf, Palaeographie und Friedrich Ritsehl, Die wichtigsten Lehren der lateinischen Grammatik sowie Vermischte philologische Notizen (66)
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Literatur- und Siglenverzeichnis
A.3. Siglen Aufgeführt werden nur die tatsächlich verwendeten Siglen (vgl. die umfassende Ubersicht in Bd. 14 der KSA).
AC = Oer Antichrist BA = Ueber die Zukunf unserer Bildungsanstalten C V = Fünf Vorreden ^u fiinf ungeschriebenen Büchern DS = Un^eitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller EH = Ecce Homo FW = Die fröhliche Wissenschaft GD = Göthen-Dämmerung GM = Zur Genealogie der Moral GT = Die Geburt der Tragödie Μ = Morgenröthe HL = Un^eitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und 'Nachtheil der Historie für das Leben JGB = Jenseits von Gut und Böse MA = Menschliches, Allvjimenschliches NW = Nietzsche contra Wagner SE = Un^eitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher VM = Vermischte Meinungen und Sprüche WA = Der Fall Wagner WL = Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne WS = Der Wanderer und sein Schatten Za I-IV = Also sprach Zarathustra, 1 .-4. Buch
B. Hilfsmittel
B.l. Spezialbibliographien Β = Babich, Babette E, Nietzsche - Ancient Philology, Ancient Philosophy, and the Classical Tradition: A Research Bibliography, in: NNS 4:1/2 (2000), 171191 BHCS = Calder III, William M. und Daniel J. Kramer, An Introductory Bibliography to the History of Classical Scholarship Chiefly in the XlXth and XXth Centuries, Hildesheim - Zürich - New York, Georg Olms 1992 BKA = Hübner, Ernst Willibald Emil, Bibliographie der klassischen Alterthumswissenschaft. Grundriß Vorlesungen über die Geschichte und Encyklopädie der klassischen
Literatur- und Siglenverzeichnis
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Philologie, Berlin, Wilhelm Hertz 21889 (Nachdruck Hildesheim - New York, Georg Olms 1973) WNB = Weimarer Nietzsche-Bibliographie, Bearbeitet v. Susanne Jung, Frank SimonRitz, Clemens Wahle, Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff und Wolfram Wojtecki, 5 Bde., Stuttgart - Weimar, Metzler 2000ff B.2. Nachschlagewerke An dieser Stelle werden lediglich die im Rahmen dieser Arbeit am häufigsten konsultierten sowie die zitierten Nachschlagwerke aufgeführt.
ADB = Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. v. der Königl. Akademie der Wissenschafen, Berlin, Duncker & Humblot 21967-1971 CBE = Briggs, Ward W. und William M. Calder III (Hrsg.), Classical Scholarship: A Biographical Encyclopedia, New York — London, Garland 1990 EWD = Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, hrsg. ν. Wolfgang Pfeifer, München, Deutscher Taschenbuch Verlag 41999 GG = Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon %wpolitisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart, Klett-Cotta 1972-92 GW = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, hrsg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Leipzig, Hirzel 1965ff HSK 18.2 = Auroux, Sylvain, E.F.K. Koerner, Hans-Josef Niederehe und Kees Versteegh (Hrsg.), Histoiy of the Language Sciences/ Geschichte der Sprachwissenschaften / Llistoire des saences du langage, Bd. 2, Berlin — New York, de Gruyter 2001 HWP = Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970ff HWR = Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Tübingen, Niemeyer 1992ff NDB = Neue Deutsche Biographie, hrsg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Duncker & Humblot 1953ff NPAU = Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Stuttgart, Metzler 1996ff PAU = Pauljs Realeniyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft, Stuttgart, Druckenmüller 1893-1978 RAC = Reallexikon für Antike und Christentum, hrsg. v. Theodor Klauser u.a., Stuttgart, Hiersemann, 1950ff RDG = Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begründet v. Paul Merker u. Wolfgang Stammler, hrsg. v. Werner Kohlschmidt u.a., Berlin, de Gruyter 21958-1988
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Literatur- und Siglenverzeichnis
RGG = Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hrsg. v. Kurt Galling u.a., Tübingen, Mohr (Siebeck) 31957-65 B.3. Nietzsches Lektüre Bibliothek Nietzsches: Verzeichnis in systematischer Anordnung nach Oehler, Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek 1997 (unveröffentlicht) Brobjer, Thomas H., Nietzsche's Reading and Private Library 1885-1889, in: JHI 58 (1997), 663-693 Campioni, Giuliano, Paolo D'Iorio, Andrea Orsucci, in Zusammenarbeit mit Maria Cristina Fornari und Francesco Fronterotta, Nietzsches Bibliothek, Vorläufiger Katalog, unveröffentlichtes Manuskript, Weimar (ohne Jahresangabe) Crescenzi, Luca, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869-1879), in: NSt 23 (1994), 388-442 HyperNietzsehe: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch: heben — Werk — Wirkung, Stuttgart - Weimar, Metzler 2000 Ratsch-Heitmann, Rüdiger und Andreas Urs Sommer. Beiträge zur Quellenforschung: Register zu den Bänden 17-30. NJ730 (2001), 435-473
C. Siglen der Zeitschriften und Jahrbücher AA = Antike und Abendland: Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens AfB = Archiv für Begriffsgeschichte AR = arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft BWG = Berichte zur Wissenschaftsgeschichte CJ = The Classical Journal CL = Comparative Uterature CR = Cahiers de Royaumont DVjS = Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte ED = editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft EG = Etudes Germaniques. Revue trimestrielle de la Societe des Etudes Germaniques Euph = Euphorion FAZ — Frankfurter Allgemeine Zeitung HER = Hermes. Zeitschrift für Klassische Philologie HJ = Historisches Jahrbuch HT = History and Theory. Studies in the Philosophy of History HZ = Historische Zeitschrift ISP = International Studies in Philosophy JBDSG = Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft
Literatur- und Siglenverzeichnis
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JHI = Journal of the History of Ideas JIG — Jahrbuch für Internationale Germanistik JSN = Jahresschrift der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.\r. LOG = Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur LW = Literarische Welt MER = Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken MH = Museum Helveticum Nf = Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft NNS = New Nietzsche Studies NR = Neue Rundschau NSt = Nietzsche-Studien OL = Orbis Litterarum. International Review of Literary Studies POE = Poetica RC = Ruperto Carola RIP = Revue internationale de philosophie RM = Rheinisches Museum für Philologie TK = Text und Kontext TKB =' Textkritische Beiträge TLS = The Times Literary Supplement UM = Universitas Moguntina VWP = Vierteljahrsschriftfiir wissenschaftliche Pädagogik ZfdPh = Zeitschrift für deutsche Philologie ZLS = Zeitschrift für literarische Socialisation ZNK = Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der Alteren Kirche ZOG = Zeitschriftfiir die österreichischen Gymnasien ZPF = Zeitschriftfiir philosophische Forschung
D. Quellen u n d Sekundärliteratur Um das Nachschlagen der im Text angebenen Titel zu erleichtern, wurde auf eine bibliographische Trennung von Quellen und Sekundärliteratur, wissenschaftshistorischer Literatur und Nietzscheliteratur verzichtet. Die mit Asteriskus gekennzeichneten Titel stammen entweder aus Nietzsches nachgelassener Bibliothek oder gehören zu seinen nachweisbaren bzw. mit großer Wahrscheinlichkeit vermuteten Quellen. Es werden jedoch nur Nietzsches unmittelbare Quellen, nicht aber andere Kontextmaterialien hervorgehoben. In einigen Fällen wurde, vor allem aus arbeitstechnischen Gründen, aus anderen Ausgaben als jenen zitiert, die sich in Nietzsches Bibliothek befinden. In diesen Fällen sind alle benutzten Stellen mit dem Nachlass-Original in Weimar verglichen worden. Nichtpublizierte Archivalien werden durch Angabe der Signatur als solche kenntlich gemacht.
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Literatur- und Siglenverzeichnis
Abel, Günter, Nietzsche. Die Dynamik der Willen ^ur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin - New York, de Gruyter 1984 Abel, Günter und Jörg Salaquarda (Hrsg.), Krisis der Metaphysik, Berlin — New York, de Gruyter 1989 Abraham, Werner, Linguistik der Metapher, in: ders., Linguistik der uneigentlichen Rede: linguistische Analysen an den Rändern der Sprache, Tübingen, Stauffenburg 1998, 227-265 Acampora, Christa Davis, Nietzsche's Problem of Homer, in: Nf5/6 (2000), 553-574 Adorno, Theodor W., Minima Moralia, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1969 Altick, Richard D. und John J. Fenstermaker, The Art of literary Research, New York - London, Norton 41993 Andler, Charles, Nietzsche, sa vie et sapensee, 6 Bde., Paris, Editions Bossard 19201931 Andreas-Salome, Lou, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, mit Anm. v. Thomas Pfeiffer hrsg. v. Ernst Pfeiffer, Frankfurt a.M. - Leipzig, Insel 2000 Antibarbarus (Pseud.), Germanistennöte, in: NR 25:1 (1914), 295-298 und 438440 Apel, Karl-Otto u.a., Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1973 Arens, Hans, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis %ur Gegenwart. München — Freiburg, Karl Alber 21969 *Aristoteles, Rhetorik, übers., mit einer Bibliogr., hrsg. v. Franz G. Sieveke, München, Fink 51995 *—, Poetik, Griechisch/Deutsch, übers, u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart, Reclam 1982 Arndt, Andreas, Philosophie der Philologie. Historisch-kritische Bemerkungen zur philosophischen Bestimmung von Editionen, in: ED 11 (1997), 1-19 Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, C.H. Beck 21999 Assmann, Jan und Burkhard Gladigow (Hrsg.), Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, München, Fink 1995 Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.), Kultur als Text: Die anthropologische Wende in der Uteraturwissenschaft, Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch 1996 Balaude, Jean-Frai^ois und Patrick Wotling (Hrsg.), Lectures de Nietzsche, Paris, Le Livre de Poche 2000 Barbera, Sandro und Giuliano Campioni, Wissenschaft und Philosophie der Macht bei Nietzsche und Renan, in: NSt 13 (1984), 279-315 Barner, Wilfried, Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte, in: König/Lämmert (Hrsg.), 1993, 201-231 Barnei, Wilfried und Christoph König (Hrsg.), Zeitenwechsel. Germanistische Uteraturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch 1996
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Gesamtregister Abel, G., 5, 9, 10, 11, 12, 43, 186, 208, 211, 213, 240 Abraham, W., 174, Acampora, C.D., 298 Adamzik, K., 337 Adler und Schlange (Tiere Zarathustras), 345, 356 Adorno, T.W., 363, 369, 370, Affekte, 121, 125, 154, 193, 206, 220, 230 Afrikanismus, 301 Ägyptizismus, 141 Aischylos, 233 Alcidamas, 47 Alewyn, R., 46 Alexandria, 29, 30, 37, 40, 41, 42, 48, 108 Alexandriner, Alexandrinismus, 20, 27, 29, 30, 31, 33, 34, 37, 38, 39, 40, 41, 44, 47, 48, 50, 60, 73, 81, 94, 95, 104, 108, 114, 201, 227, 234, 235, 237, 244, 262, 288, 298, 299, 302, 321, 354 Allegoreseverbot, 170, 172 Allegorie, Allegorese, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 85, 94, 95, 101, 102, 104, 111, 117, 146, 152, 158,162, 165, 166, 170, 171, 172, 173, 177, 178, 179,180, 181, 182, 184, 186, 187, 188, 191,192, 196, 200, 201, 206, 209, 211, 220, 225, 229, 240, 250, 254, 259, 266, 267, 268, 270, 272, 291, 297, 299, 332, 345, 354 Also sprach Zarathustra, 18, 68, 88, 104, 110, 111,143,159, 164, 170, 180, 186, 187, 192, 200, 203, 204, 205, 212, 220, 221, 229, 231, 232, 233, 236, 238, 270, 306, 307, 345, 356 Altertum, s.a. Antike, 20, 24, 27, 29, 32, 39, 41, 52, 57, 58, 60, 62, 66, 70, 77, 79, 81, 82, 90, 95, 162, 232, 275, 278, 279, 281, 282, 284, 289, 293, 294, 295, 296, 298, 302, 304, 309, 313, 348, 357, 365 Altertumswissenschaft, 31, 46, 47, 52, 54, 58, 68, 79, 118, 131, 201, 243, 265, 266, 274, 275, 276, 281, 282, 286, 288, 289, 292, 293, 296, 300, 305, 310, 312, 314, 317, 318, 320, 330, 359, 367 Altliberale, 276 Ambiguität und Vagheit, 173
Analogie, 62, 66, 67, 71, 82, 83, 86, 164, 174, 180, 185, 215, 240, 297, 319, 325, 369 Analyse, 17, 36, 44, 45, 50, 51, 55, 60, 73, 74, 75, 77, 81, 83, 92, 101, 103, 114, 130, 131, 136, 141, 149, 173, 181, 186, 190, 199, 201, 212, 218, 222, 232, 234, 236, 252, 255, 259, 265, 295, 296, 305, 319, 320, 326, 334, 337, 347, 363, 365, 367, 368 Anders-Verstehen, 6 Andler, C , 46, 101,380, 385 Andreas-Salome, L., 21, 61, 190 Aneignung, 1, 95, 199, 202, 221, 231, 239, 248, 256, 259, 273, 281, 302, 307, 314, 352, 353, 356, 357 Anspielung, Anspielungskunst, 43, 51, 104, 115,133, 164, 186, 187, 188, 189, 193, 200, 237, 321, 350, 356 Anthropologie, 19, 42, 140, 141, 145, 314, 364 Antibarbarus, 318, 380 Antichrist, 1, 8, 15, 18, 21, 27, 28, 30, 31, 36, 40, 42, 44, 45, 91, 104, 108, 114, 115, 116, 118, 120, 123, 129, 154, 170, 197, 198, 199, 205, 206, 225, 226, 227, 230, 232, 234, 237 Antike, s.a. Altertum, 37, 41, 47, 52, 57, 95, 107, 112, 161, 217, 256, 280, 281, 285, 290, 293, 307, 313, 314, 327 Antinomie, 215, 247, 263 Antisemitismus, 42,104, 192, 277, 293 Antos, G., 337 Aphorismus, 28, 33, 42, 44, 49, 60, 74, 87, 90, 115,124,128, 139, 143, 144, 153, 162,163, 165, 189, 194, 195, 200, 203, 204, 205, 221, 229, 235, 246, 260, 272, 284, 369, 370 apollinisch, 191, 238, 290 Apollodorus, 40 Aporie, 126, 256, 332, 337 Applikation, 33, 201, 202, 205, 241, 243, 244, 247, 258, 271, 333 Archaik, 300 Archäologie, 52, 54, 65, 76, 258, 287, 293, 309, 314 Archetypus, 99,100, 102, 113, 121, 127, 143, 226, 229,312
410
Gesamtregister
Archiv, 19, 204, 313, 350, 360 Arens, Η., 74 Ariadnemythos, 356 Aristarchos, 29, 31, 37, 38, 39, 40 Aristophanes, 49, 284 Aristophanes von Byzanz, 29 Aristoteles, 9, 25, 26, 30, 65, 73, 90, 171, 180, 183, 254, 291 Arndt, Α., 264 Arndt, E.M., 260 ars deciferatoria, 267 Arzt der Kultur, 108,119, 135 Askese, asketisches Ideal, 38, 42,143,144, 150, 163, 197, 199, 204, 212, 213, 228, 229, 232, 233, 234, 235, 297, 320, 354 Asklepiadeische Odenstrophe, 111 Assmann, J., 202, 303 Assoziationspsychologie, 126 Ast, F., 69, 81, 85, 86, 87, 242, 262 ästhetisch, Ästhetik, 29, 52, 57, 66, 77, 86, 87, 98, 105, 138,164, 175, 178,179,186, 201, 209, 219, 262, 264, 268, 273, 278, 279, 280, 282, 287, 288, 289, 290, 296, 297, 298, 303, 312, 317, 320, 330, 333, 352, 361, 362, 363, 364, 368, 371 Ataraxie, 92, 199 Atheismus, 90, 196, 235 Atomismus, 65 Aufklärung, 42, 52,160, 228, 234, 235, 258, 259, 265, 269, 271,286, 357 Aufklärungshermeneutik, 84, 85, 193, 258, 265, 266, 269, 271, 274, 307, 356, 362 Augustinus, 28, 234 Ausdeutung, 35, 88, 121, 129,177, 200 Auslegung, Exegese, 5, 7, 8, 11, 12,14, 15, 19, 35, 36, 37, 38, 40, 41, 42, 59, 63, 69, 70, 71, 72, 73, 75, 77, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 94, 100,101, 102, 106, 110, 112, 113, 114,119,122, 125, 128, 129, 132, 144, 151,152,153, 155, 164, 170, 172, 177, 181,183,184, 186, 189, 191, 193, 195, 196, 200, 201, 202, 203, 205, 206, 207, 209, 210, 212, 214, 217, 218, 220, 224, 235, 240, 242, 243, 244, 246, 247, 248, 249, 252, 254, 256, 257, 258, 264, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 277, 280, 314, 315, 322, 328, 329, 332, 337, 339, 342, 353, 357, 358, 362, 363 Auslegungstheorie, 5, 13, 75, 82, 84, 85, 87, 92, 189, 203, 204, 210, 212, 220, 228, 242, 244, 264, 265, 266, 267, 268, 270, 271, 307, 309, 322, 362 Autorintention, intentio auctoris, 85,121, 182, 188,190,193, 196, 200, 209, 244, 245, 255, 258, 266, 269, 336, 342, 344, 350, 360
Autorisierung, 336, 342, 344 avant-texte, 340, 343 Bachmann-Medick, D., 146 Bain, Α., 125 Banalität, 6, 63, 152, 250, 285, 358, 369, 370 Barner, W., 318, 319 Barnes, J., 26 Barock, 188, 272 Barthes, R., 166, 168, 252, 265, 303, 340 Barton, J., 361 Basel, 1, 2, 3, 4, 19, 20, 21, 22, 24, 25, 26, 40, 45, 47, 48, 65, 69, 71, 72, 87, 120, 137, 162, 232, 233, 234, 235, 236, 279, 280, 282, 289, 290, 291, 293, 297, 312, 320, 359 Bastian, Α., 120 Bateson, F.W., 331 Bauer, B., 140 Baumann, J.J., 207 Baumgartner, M., 2 Bausinger, H., 160 Bayreuth, 26, 32, 46, 305 Beaugrande, R.A. de, 336 Bedeutung, 2, 5, 6,10, 12, 14, 15, 20, 22, 24, 27, 30, 33, 34, 36, 37, 38, 41, 46, 57, 58, 60, 63, 64, 70, 72, 73, 74, 76, 88, 94, 96, 99, 109, 124, 129, 130, 136, 137, 150, 152, 155, 158, 167, 171, 172, 173, 174, 175, 179, 180, 182, 183, 184, 186, 198, 201, 225, 231, 238, 239, 242, 243, 245, 247, 248, 250, 252, 254, 263, 264, 266, 268, 269, 273, 275, 276, 278, 284, 285, 290, 294, 295, 296, 300, 303, 308, 309, 313, 315, 317, 319, 329, 331, 332, 336, 338, 342, 345, 351, 353, 355, 361, 365, 366 Beethoven, L. van, 88 Begriffsdichtung, 88, 235, 319, 354 Behaviourismus, 126 Behler, E., 16, 175, 189, 210, 248, 249, 256, 260, 261, 262, 264, 271, 272 Bein, T , 332 Beißner, F., 341 Belesenheit, 4,19, 64, 104, 325, 329, 366 Beliebigkeit, 34, 122, 136, 146, 158, 174, 180, 242, 251, 317, 329, 364 Bellemin-Noel, J., 338, 381 Benjamin, W., 178, 181, 324, 371 Benne, C , 18, 43, 96, 138, 139, 233, 303 Bentley, R., 56, 77, 78, 80, 99, 108, 284, 313 Beobachtungsfähigkeit, 125 Bergk, J.A., 89,156, 161, 291 Bergk, T., 89 Berlin, 47, 49, 51, 52, 53, 55, 57, 58,112, 137, 163, 205, 275, 278, 283, 289, 292,
G e s amtregis ter 293, 296, 318, 365 Bernays, J., 185, 278, 290, 306, 359 Bernays, M., 274, 317, 325, 366 Bemhardy, G., 69, 70, 71, 75, 77, 81, 95, 98, 103, 110, 185, 235, 261, 279, 295, 305 Bertram, E., 319 Besserverstehen, 271 Betti, E., 243, 247, 248 Beyrer, K., 160 Bezold, F. von, 277 Bibel, 20, 33, 36, 37, 38, 39, 42, 45, 63, 96, 97, 100, 101,102, 112, 114, 116, 124, 152, 170, 187, 230, 266, 269, 361 Bibelkritik, 30, 33, 45, 75, 84, 102, 110, 113, 114, 116, 118, 137, 258, 266, 336 Bibliothek, 4, 19, 28, 30, 41, 45, 48, 53, 56, 59, 72, 116, 120, 125, 129, 132,135, 156, 161, 162, 167, 176, 204, 207, 327, 344 Bickel, Ε., 46, 49, 58, 59, 60, 62, 64, 261 Bierl, Α., 255 Büdung, 25, 28, 42, 52, 70, 128, 153, 160, 185, 262, 276, 279, 282, 283, 287, 293, 301, 302, 347 Bildungsbürgertum, 329 Biographismus, 271, 298, 318 Birt,T., 68, 97, 113, 280 Birus, H., 11, 12, 210, 211 Bismarck, O. von, 277, 346 Blair, C , 255 Blanke, H.W., 285, 286 Blondel, E., 11,12, 94,148, 149, 212, 250, 346 Blumenberg, H., 173, 182, 208, 210, 211 Boas, F., 145 Boeckh, Α., 47, 52, 56, 68, 69, 72, 73, 79, 80, 82, 85, 86, 137, 152,182, 208, 210, 239, 244, 263, 266, 278, 292, 294, 306, 309, 310, 312, 314, 330, 332, 351, 359 Böhme, H., 365 Böhner, P., 38 Bohrer, K.H., 331 Bollack, J., 168, 257, 258, 259, 291, 330, 345, 362 Bonn, 3, 4, 20, 33, 45, 46, 47, 48, 49, 51, 52, 53, 54, 55, 59, 60, 61, 62, 64, 66, 67, 70, 76, 78, 80, 89, 96, 99, 117, 119, 157, 260, 261, 275, 276, 277, 278, 279, 283, 290, 292, 293, 296, 304, 306, 326, 327, 330, 354 Bonner Philologenstreit, 52, 56, 59, 274, 276, 278, 292, 293 Bonner Schule, 3, 20, 45, 46, 47, 53, 54, 55, 59, 60, 62, 66, 76, 78, 80, 89, 96, 99,117, 119, 157, 261, 276, 277, 278, 279, 283, 290, 292, 296, 304, 306, 326, 327, 330, 354
411
Bopp, F., 72,120, 311 Borchardt, R., 107, 322, 324 Borchmeyer, D., 50, 282, 287 Bornmann, F., 4, 43, 113 Bowers, F., 328 Brahms, J., 47 Brandes, G., 27, 105, 106, 116, 117 Bratuschek, E., 79 Brenner, P.J., 5, 92, 113, 160, 209 Brentano, F., 352 Breslau, 68, 76 Briegleb, K., 343 Brobjer, T., 54 Brochard, V., 91, 92 Brusow, M., 18, 27, 231 Bücheler, F., 89, 107, 261, 277, 322 Buckle, I I., 125, 135 Buddhismus, 91, 92, 120, 233 Bühler, Α., 266 Bülow, H. von, 47 Burckhardt, J., 34, 41, 47, 137,138, 140, 145, 161, 192, 236, 287, 288, 291, 293, 298, 306, 324 Bursian, C , 26, 48, 49, 56, 58, 68, 99,100, 292 Buttmann, P., 57, 68, 70, 193, 281 Byron, G.G.N. Lord, 260 Calder III, W.M., 58, 255, 292, 293, 310, 316 Campioni, G., 77,115, 116, 117, 133, 235, 347, 378, 380, 385 Cancik, H., 2, 3, 22, 58, 287, 293, 313 Cancik-Lindemaier, H., 2, 22, 313 Cartesianismus, 70 Cäsar, 220, 277 Cassirer, E., 180, 326, 347 Cataldi, L., 266 Celan, P., 18, 168, 360 Certeau, M. de, 168 Chemie, 19, 24,117, 118 Chirurg, Chirurgie, 91, 107, 108,109, 131 Christen, Christentum, 11, 15, 20, 27, 28, 29, 31, 32, 35, 37, 40, 41, 42, 43, 44, 52, 55, 74, 101,103, 104, 106, 108, 115, 117, 120, 123, 136, 141, 142, 167, 170, 171, 192, 197, 198, 206, 207, 213, 219, 228, 230, 232, 233, 234, 260, 276, 277, 284, 290 Christmann, U., 154 Chur, 135 Cicero, 77 Clark, M., 204, 215, 216, 224, 225, 236, 246 Clemens von Alexandria, 40 close reading, 250, 328, 329, 331 codex unicus, 115 Colli, Giorgio, 15, 342, 346, 347
412
Gesamtregister
Comte, Α., 118, 133, 135 Corssen, W., 53 Crescenzi, L., 4, 69 Creuzer, F., 179, 261, 290, 291, 306 critique genetique, s.a. Textgenese, 338, 340, 341,343, 344 Croce, B., 131, 132, 311,312 Crusius, O., 48, 51, 277, 284, 291 Curtius, E.R., 37, 108, 325, 359, 370, 372 Curtius, G., 44, 69 Dainat, H., 317, 318, 326, 366 Danneberg, L., 266, 328 Danto, A.C., 203 Darstellung der antiken Rhetorik, 175, 176, 178 Darwin, C , 125,140, 142, 246 Darwinismus, 129, 246, 285 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, 283, 285 Debray-Genette, R., 343 decadent, Dekadenz, 108, 154, 230 Dekonstruktion, Dekonstruktivismus, 5, 6, 146, 173,184, 202, 238, 239, 248, 250, 254, 255, 257, 258, 259, 260, 264, 329, 330, 332, 333 Demokrit, 24, 43, 44, 104,105 Demosthenes, 184 Der Fall Wagner, 74, 104, 114, 211, 217, 228, 232, 233, 255 DerFlorentinische Trartat über Homer und Hesiod, 50 Der Gottesdienst der Griechen, 34, 291 Der Wanderer und sein Schatten, 24, 74,110, 120, 133, 153, 209, 237, 350, 366 Descartes, R., 73 Deussen, P., 20, 23, 27, 30, 47, 49, 51, 59, 291 Deutungskanon, 303 Dichtung, 47, 73, 93, 109, 205, 209, 210, 233, 234, 243, 297, 299, 301, 320 Diderot, D., 140 Diels, H., 26, 48 Dierse, U , 69 Dilthey, W., 6, 83, 84, 87, 262, 266, 272, 286, 310, 311,312,316, 318 Ding an sich, 9, 88, 123, 148, 150, 211, 215, 219, 221,223, 225, 247, 252 Diogenes Laertius, s.a. Laertiana, 26, 92, 198, 348, 349 Dionysos, dionysisch, 35, 111,163, 171, 191, 230, 289, 297, 342, 356 Dionysos-Dithyramben, 342 Diskursanalyse, 146, 147, 330, 334 Disziplin, Disziplinarität, 1,19, 57, 59, 68, 69, 87, 107, 152, 168, 242, 267, 270, 281, 293, 294, 295, 317, 334, 359, 360, 365,
366, 367 Divination, 58, 77, 84, 85, 86, 115,116, 119, 125, 127,134, 136, 138, 165, 185, 191, 193, 195, 211, 242, 245, 274, 325, 356 Dogma, 34, 35, 38, 65, 89, 123, 170,171, 172, 214, 215, 219, 221, 222, 223, 225, 230, 296, 361 Domäne, 8,10, 12, 111,114, 122, 123, 127, 128, 129, 130, 139, 171, 183, 185, 189, 197, 206, 208, 209, 211, 212, 213, 219, 224, 248, 255, 274, 305, 307, 311, 321, 325, 353 doppelter Sinn, 35, 38, 124, 153, 184, 229 Dorfmüller, P., 53 dossier genetique, 340, 341, 343, 350 Dressler, W., 336 Dritter Humanismus, 293 Droysen, J.G., 56, 69, 103, 137, 286, 288, 310 Dubois-Reymond, E., 47 Ecce Homo, 7, 18, 22, 51, 61, 91, 117, 129, 137, 153, 156, 157, 187, 191, 192, 193, 196, 221, 233, 237, 271, 339, 342, 356 Echtheit, 57, 58, 75, 76, 78, 308 Eckermann, J.P., 110, 155, 297 Eco, U., 182 Ecriture, 257, 338 Edition, Editionswissenschaft, 1, 3, 16, 17, 57, 75, 85, 94, 97, 112, 113, 189, 194, 201, 209, 230, 257, 258, 262, 264, 273, 310, 316, 317, 318, 328, 333, 336, 337, 338, 340, 341, 342, 343, 344, 347, 351, 359, 360, 361, 362 Ehrhardt, W., 59 Eichhorn, J.G., 266, 311 Einflussforschung, 133, 318, 339, 344, 349, 350, 360 Einfühlung, 67, 84, 242, 247 Eisenbahnverkehr, 159, 165,166, 167, 369 Ellrich, L., 254 Emendatio, 96, 97, 98, 100, 107, 109, 310, 337, 349 Empathie, 156, 165, 202 Empedokles, 190 Empfindsamkeit, 161, 170, 354 empirisch, Empirie, 33, 36, 59, 64, 65, 66, 70, 71, 74, 77, 83, 84, 86,126, 128, 130, 145, 148, 211, 212, 223, 224, 225, 226, 235, 246, 252, 255, 275, 296, 298, 311, 316, 317, 327, 330, 338, 351, 352, 357 Enzyklopädie der klassischen Philologie, 4, 57, 69, 70, 76, 80, 86, 108, 218 Enthusiasmus, 52, 275, 277, 278, 282, 283, 284, 285, 289, 293, 367 Enzyklopädie, 29, 58, 62, 68, 69, 73, 77, 86,
Gesamtregister 103, 110, 151, 182, 218, 262, 263, 265, 266, 273, 279, 294, 295, 296, 308, 309, 310, 314, 330, 332, 337, 351, 359, 368 Ephexis, ephektisch, s.a. epoche, 198, 200, 202, 209, 221, 256, 342, 363, 370 Epikur, 233 Epikur, Epikuräer, 30, 43, 44, 104,190 epoche, s.a. Urteilsenthaltung, 92,198, 202, 343 Eratosthenes, 29, 37, 48 Erbauung, 37, 155, 241, 243 Erkenntnis, Erkenntnistheorie, 2, 3,10, 15, 21, 28, 30, 32, 51, 57, 60, 72, 78, 88, 93, 103, 115,121, 123, 124,125, 126, 127, 129, 134,146,148, 165,166,170, 179, 189, 194, 206, 212, 215, 216, 219, 220, 222, 223, 224, 229, 231, 232, 234, 237, 242, 246, 247, 268, 277, 281, 284, 291, 301, 305, 311, 312, 314, 325, 349, 353, 354, 355, 361, 362, 363, 367, 371 Erkenntnistrieb, 27, 103, 226, 227 -Erklärung, Erklärungskunst, 28, 35, 38, 71, 81, 83, 84, 85, 94, 95, 102, 104, 106, 114, 115, 116, 123, 127, 129, 131, 141,145, 147,187, 192, 203, 207, 210, 215, 216, 219, 223,266,267, 269,354 Erlebnis, Erlebtes, 122,130, 142, 165, 193, 194, 205, 270, 302, 312, 321, 325 Erscheinung, 5, 7, 52, 123,126, 127, 128, 148, 156,163,179, 207, 209, 221, 223, 225, 226, 228, 231, 238, 294, 314 Erudition, 137, 138, 235, 271, 308 Ethik, 41, 87, 90, 131, 352 Ethnologie, Ethnologen, s.a. Kulturanthropologie, 120, 130, 140, 145, 146, 160, 168, 291, 314, 364 Ethos, 27, 59, 60, 78, 100,136, 147, 212, 258, 317, 331, 332, 353 Etymologie, 29, 54, 60, 72, 74, 93, 101,107, 155, 161, 171, 183, 184, 196, 207, 210, 251, 254, 269, 284 Euripides, 33 Europa, 19, 90, 118, 142, 152,153, 160, 169, 228, 233, 366 Experiment, experimentell, 64, 65, 66, 108, 167, 223, 226, 275, 298 Experimental-Moral, 227 Explikation, 84, 85, 208, 270 Fabian, B., 156, 157, 162 factum brutum, 14, 123, 135 Falconer, G., 338, 339 Fälschung, Falschmünzerei, 8,17, 35, 36, 42, 55, 93, 101, 102,103, 104, 105,106,107, 115, 116, 122, 127, 132, 140, 151, 205, 209, 213, 226, 228, 231, 233, 257, 267
413
Feinheit, 21, 23,138,149, 153, 189,194, 195, 197, 202, 234, 354 Feldforschung, 120,168, 169, 372 Fest, 123, 291 Feuerbach, L., 344 Feuilleton, 166, 324 Fiedeldey-Martyn, C , 326 Figal, G., 13, 14, 208 Figl, J., 11,12, 17, 33, 56, 65, 87, 100, 202, 239, 248 Figuren, 35, 115,162, 171, 175, 180, 181, 187, 200, 268, 291,356, 370 Fiktion, 126, 127, 213, 227, 234, 299, 369 Fink, E., 346 Fish, S., 250, 251,252 Fix, U , 337 Flanieren, Flaneur, 166, 167, 373 Flashar, H., 81, 85, 97, 294 Flaubert, G., 116 flüssiger Sinn, 201, 203, 205, 206, 228, 240, 246, 295, 340, 363, 369, 372 Fohrmann, J , 201, 256, 326, 338 Form, 16, 22, 27, 30, 31, 37, 38, 55, 60, 61, 63, 65, 66, 70, 73, 74, 77, 82, 85, 86, 88, 90, 95, 97,102, 111, 118,127, 134, 141, 160,167, 172, 178, 180, 186, 187, 195, 200, 203, 205, 209, 213, 221, 241, 250, 255, 265, 269, 270, 272, 276, 285, 287, 289, 293, 300, 306, 307, 314, 322, 324, 327, 330, 335, 339, 342, 348, 356, 358, 371 Forschungstrieb, 167 Forster, G., 302 Förster-Nietzsche, E., 17, 18, 21, 26 Foucault, M., 92, 93, 146, 147,148, 210, 338, 340, 346, 359 Frank, M., 242, 260 Franzmann, Β., 154 Französische Revolution, 118 Frege, G., 245 Freigeist, 24, 115, 117, 166, 214, 224, 227, 260, 366 Fremder, das Fremde, 51, 94, 95, 126, 153, 158, 161,165,169, 172, 193, 194, 195, 199, 244, 246, 272, 338, 354, 357, 358, 373 Fremderfahrung, 169 Frenzel, E., 186, 311 Freud, S., 92, 248, 291 Friedrich II., 90 Fries, N., 173 Fries, T., 255, 348 Fritzsch, E.W., 236, 291 Fröhäche Wissenschaft, 34, 35, 42, 43, 44, 74, 123,125, 135, 138, 139, 140, 143,187, 188,189, 193, 195, 220, 222, 223, 224,
414
Gesamtregister
228, 230, 232, 236, 237, 249, 260, 304, 367 Frosch, 142 Frühromantik, 193, 258, 259, 260, 261, 265, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 280, 290, 291, 307, 333 Fuchs, C , 8,15, 47, 217, 241, 245 Fuhrmann, M., 240, 243 Fünf Vorreden finf ungeschriebenen Büchern, 283 Gadamer, H.-G., 11, 14, 87, 92, 154, 201, 240, 241, 242, 243, 244, 246, 247, 248, 258, 259, 266, 270, 302, 317, 328, 357, 371 Gallizismus, 300 Gattungskritik, 310 gaya scienza, 165, 251 Gebhard, W., 139, 389 Geburt der Tragödie, 4, 12, 15, 25, 26, 31, 32, 33, 35, 40, 47, 48, 49, 50, 51, 67, 78, 81, 89, III, 116, 155, 163, 180, 199, 219, 231, 232, 238, 239, 257, 275, 278, 279, 282, 285, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 296, 297, 304, 305, 306, 319, 341, 356, 376 Geduld, 27, 105, 197 Geertz, C , 144, 145, 168 Geist, 16, 20, 22, 23, 30, 31, 32, 36, 38, 39, 41, 44, 52, 58, 60, 61, 63, 67, 79, 84, 90, 98, 104, 106, 108, 110, 111, 115, 117, 118, 119, 128, 132, 135, 139, 141, 142, 143, 154, 156, 157, 160, 165, 177, 179, 185, 189, 190,193, 194, 205, 206, 221, 228, 233, 247, 261, 262, 273, 276, 277, 278, 281, 284, 285, 288, 290, 307, 308, 310, 317, 324, 331, 332, 338, 344, 347, 353, 357, 358, 367 Geistesgeschichte, 132, 234, 238, 313, 317, 318, 319, 320, 323, 324, 325, 328, 344, 352 Geisteswissenschaft, 12, 19, 64, 67, 83, 243, 244, 286, 310, 311, 312, 316, 318, 325, 328, 357, 364, 365, 370 Gelehrte, Gelehrsamkeit, 26, 29, 30, 31, 37, 38, 40, 44, 45, 50, 51, 54, 58, 61, 65, 67, 68, 73, 79, 81, 89, 103, 113, 114, 120, 122, 132, 133, 138, 142, 143, 149, 156, 157, 159, 160, 165, 166, 218, 235, 237, 265, 271, 279, 281, 283, 285, 287, 294, 298, 299, 303, 306, 307, 308, 355, 358, 359 Gelehrtenpoeten, 29 Gellhaus, Α., 339, 340, 351, 360 Geher, H., 47, 162 Genealogie, 10, 15, 18, 42, 61, 74, 93, 96, 99,
101, 111, 129, 131, 132, 133, 134, 135, 140, 143, 146, 147, 148, 149, 154, 171, 196, 198, 199, 200, 203, 204, 207, 210, 215, 216, 220, 221, 228, 229, 230, 232, 235, 238, 245, 254, 257, 258, 308, 338, 346, 349, 351, 363 Genealogie der Moral, 8, 10, 18, 22, 42, 61, 74, 93, 94, 104, 109, 117, 129, 131,132, 133, 135,140, 141, 142, 143, 144, 146, 148, 149, 150, 154, 164, 171, 187, 194, 196, 198, 199, 200, 203, 204, 205, 207, 211, 212, 215, 216, 220, 221, 226, 228, 229, 231, 232, 233, 235, 238, 245, 257, 258, 351 Genette, G., 343, 349 Genre, Genretheorie, 153, 157, 168,179, 191, 205, 270, 272, 289, 325, 335, 337, 343, 371 George, S., 319, 322, 324 Gerber, G., 71, 175, 176, 183, 186,187, 236, 345 Gerhardt, V., 167, 217 Gerike, I., 341 Germanistik, 46, 74, 239, 294, 308, 312, 317, 318, 319, 324, 325, 330, 334, 337, 358, 359, 362, 364, 367 Gerratana, F., 3 Gersdorff, C. von, 23, 24, 47, 51, 59, 88, 104, 105, 148 Geschehen, 9, 11, 126, 206, 211, 213 Geschichte, Historie, 2, 4, 19, 24, 26, 30, 32, 33, 34, 36, 37, 41, 42, 45, 46, 47, 50, 53, 55, 56, 58, 69, 71, 73, 76, 77, 78, 79, 84, 86, 95, 97, 101, 102,104, 105, 112, 113, 116, 118, 119, 120, 121, 122, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 139, 141, 147, 154, 155, 160, 168, 169, 171, 177, 181, 183, 211, 221, 225, 230, 239, 243, 246, 253, 255, 262, 264, 265, 268, 274, 277, 280, 282, 283, 284, 286, 288, 289, 290, 291, 292, 296, 298, 299, 301, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 319, 320, 324, 331, 334, 335, 337, 340, 348, 351, 359, 360, 367 Geschichtswissenschaft, 55, 69, 117,131, 247, 278, 280, 293, 313, 314, 315, 328, 364 Geschmack, 28, 79, 122, 142, 159, 189, 234, 261, 277, 300, 355 Gesellschaftskritik, 166 Gesetzgebung, Gesetzgeber, 227, 235, 237, 295 Gesundheit, 107, 108, 124 Gigante, M., 2, 26 Gilman, S.L., 171, 255 Gilson, E., 38
Gesamtregister Gladigow, Β., 202 Glaube, 28, 31, 36, 41, 44, 49, 53, 83,115, 118, 135, 136, 142, 172, 185, 198, 207, 214, 219, 223, 224, 225, 228, 232, 233, 236, 244, 286, 292, 297, 299, 303, 361 Goethe, J.W., 56, 58, 65, 79, 107, 109, 110, 128, 133,139, 155, 158, 161, 165, 178, 179, 180,181,186, 190, 193, 204, 260, 274, 276, 279, 283, 293, 297, 299, 307, 314, 319, 326, 344, 360, 366 Goldschmiedekunst, 105,106,158, 257 Gombrich, E.H., 235, 326 Goncourt (freres), 116 Göttingen, 52, 160, 266, 312 Göthen-Dämmerung, 23, 70, 108, 115,117, 122, 141, 177, 206, 220, 224, 225, 230, 246, 294, 301, 306 Graciän, B., 272 Graf, F., 68 Graff, G., 315 Gräkomanie, 293 gramma, 36, 154, 181 Grammatik, Grammatikbegriff, 10, 31, 37, 44, 49, 64, 66, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 81, 82, 86, 95, 97,108, 151, 185, 200, 211, 213, 223, 243, 245, 250, 255, 265, 269, 295, 300, 309, 314, 315, 324, 332, 343, 366 grammatikos, grammatikoi, 29 Granier, J., 13, 15, 27, 130, 211, 212, 214, 217, 248 Grant, R.M., 36, 37, 38, 42 Greifswald, 26 Grenzmann, L., 328 Gresillon, Α., 340, 341, 343 Grice, 174 Griechenland, Griechen, 22, 27, 30, 32, 33, 34, 35, 41, 44, 47, 55, 69, 70, 71, 73, 91, 98, 122, 123, 191, 226, 230, 233, 235, 275, 281, 283, 284, 288, 290, 291, 293, 301, 309, 314, 355 Grimm, J , 311, 318, 324,365 Groddeck, W., 18, 341, 342, 345 Groeben, N., 154 Großoktavausgabe, 22 Gründer, K., 163, 291, 293, 297 Gründerzeit, 282, 285 Gumbrecht, H.U., 321, 344 Gundolf, F., 319, 320 Guyau, J.-M., 25 Gymnasium, 48, 142, 275, 276, 283 Haas, W., 18, 322, 323, 324 Habermas, J., 239 Halle a.d.S., 52 Hamlet, 234, 237
415
Handschriften, 17, 76, 97, 99,112, 122, 153, 340, 341, 343, 360 I-Iarnack, Α., 293 Hass, J., 101 Hast, 153, 155, 156 Haug, W., 172,181, 202 Haupt, M., 294, 317 Hausmann, S., 170 Havemann, D., 43 Hay, L., 338, 340, 343 Heath, Μ., 344 Hegel, G.W.F., 14, 33, 56,104,117,136, 171, 248, 261, 285, 286, 310, 311, 351, 355 Heidegger, M., 17, 18, 184, 186, 244, 246, 248, 259, 328, 359, 362, 364 Heine, H., 42, 104, 260, 344 Hellenismus, 36, 43, 73 Heller, E., 137 Helmholtz, H., 47 Henrichs, Α., 290, 306 Heraklit, 169, 190 Herder, J.G., 83, 91, 107, 159, 161, 190, 265, 282, 286, 293, 299 Herkommer, H., 328 Herkunft, 11,19, 21, 27, 29, 38, 39, 42, 51, 66, 67, 86, 93,121, 132, 143, 144, 147, 149, 177,186, 191, 201, 256, 258, 319, 345, 349, 352, 365 IlermandJ., 317, 318 Hermann, G., 26, 39, 48, 52, 53, 56, 58, 78, 80, 83, 91, 96,108,120,199, 278, 279, 290, 292, 297, 306, 312, 313, 314, 326, 330, 360 hermeneutica medica, 267 hermeneutica sacra, 332 Hermeneutik, 5, 6, 12, 15, 37, 62, 63, 68, 69, 70, 73, 75, 76, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 85, 86, 87, 88, 92, 94, 95, 97, 101, 102, 107, 109,110, 129, 151, 152, 158, 180, 185, 188,193, 202, 203, 209, 222, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 248, 250, 253, 255, 256, 257, 258, 259, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 279, 280, 286, 295, 309, 310, 312, 314, 315, 317, 322, 328, 330, 331, 332, 337, 343, 346, 356, 357, 358, 362, 363, 366, 373 Hermeneutik des Verdachts, 92, 94, 180, 189, 196, 240, 271 hermeneutische Billigkeit, 267 Herodot, 169 Herter, H., 46 Hessel, F., 166 Heuristik, 96, 99,103, 224, 228 Heydebrand, R. von, 303
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Gesamtregister
Heyne, G., 160, 263, 266, 278 Hinterwelt, 43, 94, 110, 111, 123, 219 Hirsch, E.D. Jr., 244, 245, 246, 370 historischer Sinn, sensus historicus, 29, 33, 45, 93, 94, 140,141, 147, 169, 200, 201, 254, 286, 358, 372 Historisch-kritische Gesamtausgabe, 29, 53, 56, 65, 69, 79,143, 219, 233, 279, 348 Historismus, 34, 83, 143, 238, 243, 245, 282, 285, 286, 289, 290, 294, 297, 307, 311, 313, 317, 322, 335, 365, 366 Historismuskritik, 282 Histrio, histrionisch, 190, 191, 255, 322 Hobbes, T., 43 Hoch,J., 252 Hödl, H.G., 18, 33, 40,176 Hoffding, H., 129 Hofmann, J.N., 5, 239, 240 Höhle, 90, 189, 191 Hölderlin, F., 18, 111, 260, 282, 341, 360, 362 Homer, 36, 37, 38, 49, 50, 58, 60,128, 233, 235, 279, 280, 292, 297, 298, 299, 300, 302, 312, 316, 343 Homer und die klassische Philologie, 279 Homerallegorese, 36, 37, 39 Homerum ex Homero, 38, 185, 200, 262, 361, 363 Horaz, 157, 339 Hörisch,J., 272, 273 Horizontverschmelzung, 193, 240 Housman, A.E., 330 Howald, E., 2, 261, 292 I-Iübinger, P.E., 58, 277 Humanismus, 44, 52, 58, 77, 87, 258, 276, 281, 290, 293 Humanität, 159,161 Humboldt, W. von, 55, 58, 71, 72, 77, 120, 139, 174, 175, 286, 290, 311, 314, 335 Hunger, H., 38, 121, 124 Hurlebusch, K., 343 Husserl, E., 248, 352 HyperNietzsche-Projekt, 350 Hypertext, Hypertextualität, 337, 349, 350 hyponoia, 37 Ikone, ikonisch, 121, 176, 178,191, 192, 209 Indogermanistik, 71, 79, 101 Industriezeitalter, 141, 166, 288 Ingarden, R., 352 Instinkt, 27, 33, 72, 115, 121, 123, 135, 197, 215, 220, 232, 306 intentio operis, 182, 190, 196, 344 Intention, 36, 85, 184, 195, 245, 270, 316, 344, 350 Interdisziplinarität, 154, 365
Interpolation, 97, 98, 100, 102, 189 Interpretation, 1, 3, 5, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 36, 39, 56, 70, 71, 73, 75, 82, 83, 85, 92, 94, 96, 97, 100, 101, 103, 109, 114, 119, 121, 122, 123, 124, 125, 127, 129, 132, 139, 144, 145, 146, 150, 151, 153, 154, 155, 158, 170, 171, 173, 174, 182, 187, 193, 194,195, 197, 198, 199, 201, 202, 205, 206, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 217, 218, 220, 221, 223, 224, 226, 228, 229, 230, 231, 240, 241, 242, 244, 245, 248, 250, 251, 252, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 263, 273, 280, 293, 310, 312, 313, 314, 315, 316, 318, 320, 323, 324, 325, 326, 328, 331, 333, 336, 337, 338, 339, 341, 342, 345, 347, 353, 354, 363, 368, 370, 371 Interpretationsgemeinschaft, 5, 244, 251, 252, 346, 365 Interpretationstheorie, 6, 8, 9, 11, 12, 85, 100, 129, 157, 208, 211, 239, 305 Intertextuaütät, 336, 343, 349, 350 Intuition, 58, 61, 67, 84, 87, 99, 147, 149, 215, 296, 323, 325, 328 Ironie, 5, 35, 46, 115,146, 187, 189, 257, 272 Iser, W., 244 Israel, 45, 116 Italien, 159, 160,161, 258, 359 Jacob, M., 367 Ja:ger, H., 136 Jaeger, W., 293, 310, 312, 313, 314 Jahn, O., 51, 54, 55, 58, 62, 65, 76, 277, 278, 279, 287, 292, 293, 294, 295, 305, 365 Janz, C.P., 20, 25, 47, 51, 298 Jaspers, K., 14, 27, 359 Jauß, H.R., 240, 362 Jean Paul, 164,175, 179 Jenseits von Gut und Böse, 8, 42, 83, 87, 89, 90, 91, 103, 109, 117, 119, 124, 129, 137, 138,140, 142, 144, 164, 189, 192,193, 194, 195, 196, 199, 204, 211, 224, 231, 232, 233, 234, 235, 237, 277 Jensen, P.J., 62, 70 Jesus, 33, 40, 114, 115, 117, 140, 197 Johnson, S., 330 Jordan, L., 5 Jordheim, H., 332 Judäa, 42, 106 Juden, Judentum, 40, 41, 42, 43, 104,192, 291, 293, 319, 325 Jurisprudenz, 152, 241, 243, 362 Kalümachus, 29, 48 Kaltbrunner, D., 167 Kanon, kanonisch, 64, 83, 182, 183, 232, 257, 260, 302, 303, 313, 340, 359
Gesamtregister Kant, I., 14, 24, 52, 55, 72, 83, 87, 90, 91, 104,109, 125, 148, 151, 171, 195, 207, 211, 215, 216, 217, 225, 226, 271, 285, 310, 311, 326, 335, 355 Kanzog, K., 336 Kärrnerarbeit, 2, 22, 54, 280, 287, 333 Kaschuba, W., 166 Kaufmann, W., 1, 20, 65 kausal, Kausalität, 34, 83, 123, 126, 139, 140, 144, 150, 205, 207, 211, 232, 254, 344, 349 Kavalierstour, 159, 160 Keil, K., 53 Kirchenväter, 28, 37, 39,116 Kittsteiner, H.-D., 287 Klassizismus, Klassizität, 2, 45, 66, 74, 77, 88, 179, 186, 243, 278, 279, 281, 282, 285, 291, 294, 297, 300, 301, 302, 303, 307, 313, 317, 318, 319, 320, 326, 327, 330, 354, 358, 359, 360, 365, 366, 367 Kleist, H. von, 319, 344 Klemm, M., 337 Knortz, K , 232 Koberstein, K.A., 54 Koch, M., 342 Koebner, T., 166 Kofman, S., 171, 173, 186, 187, 188, 234, 264, 346 Kohärenz, 333, 336 Kohlenbach, M., 341 Kohler, J., 120 Köhnken, Α., 290 Kolk, R., 318, 319 Kollation, 96, 98,148 Kollegnachschriften, 17, 74, 375 Koller, W., 73, 86, 252 Kommensurabilität, 216, 246 Kommentar, 3, 8, 11, 12, 35, 42, 72, 97, 109, 115, 117, 125, 168, 181, 194, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 212, 221, 244, 250, 263, 270, 281, 316, 317, 320, 328, 333, 334, 339, 342, 346, 347, 349, 354, 359, 366 Kommereil, M., 258, 320 Komparatistik, komparatistisch, 76, 120, 273, 334, 364, 366 König, C , 319 König, D. von, 155 Königsberg, 306 Konjektur, 62, 65, 77, 82, 86, 97, 98, 128, 242, 263, 316 Konjekturalkritik, 3, 56, 62, 87, 96, 312 Kontextualismus, 271 Kontextwissen, 329, 345, 362 Konvention, konventionell, 78,174,178, 181, 183, 196, 332
417
Korff, G., 160 Körner, J., 262, 263 Körper, 63, 72, 106, 110, 111, 126, 134, 154, 178, 179,192, 199 Köselitz, H. (Peter Gast), 51,116, 117, 135, 204 Kosmopolitismus, 65 Krates von Mallos, 37, 39 Kreuzritter, 167 Kritik, 3, 5,15, 20, 31, 42, 45, 46, 51, 52, 56, 57, 58, 61, 62, 63, 66, 68, 69, 70, 71, 73, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 85, 86, 87, 88, 89, 91, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 101, 102,103, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 115,116, 118, 119, 129, 136, 137, 143, 148,151,152, 153, 157, 163, 164, 169, 180, 194, 198, 211, 227, 228, 233, 235, 236, 237, 239, 240, 241, 242, 243, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 253, 255, 256, 259, 262, 263, 264, 265, 266, 272, 273, 274, 278, 279, 280, 284, 285, 290, 295, 297, 298, 299, 302, 303, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 314, 315, 316, 317, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 338, 339, 342, 343, 347, 349, 351, 354, 356, 357, 358, 359, 362, 364, 366 kritikös, criticus, 29, 107, 330 Kultur, Kulturen, 14, 21, 27, 31, 32, 33, 34, 40, 55, 68, 107, 108,114, 115, 119, 121, 122,123, 125, 132, 134, 137, 138, 139, 140, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 152, 159, 160, 166, 168, 177, 182, 188, 190, 233, 281, 285, 288, 291, 293, 294, 301, 305, 311, 321, 327, 328, 335, 355, 365, 367 Kulturanthropologie, s.a. Ethnologie, Ethnologen, 120, 144, 145, 168 Kulturgeschichte, 34, 41, 60, 69, 119, 130, 137,138, 343 Kulturkritik, 166 Kulturphilosophie, 61, 130 Kulturrevolution, 32, 55, 233 Kulturstufe, 120 Kulturwissenschaft, 294, 303, 324, 364, 365 Kultus, 34,120, 123, 291, 301 Kunne-Ibsch, E., 238 Kunst, 8, 9, 10, 27, 28, 31, 34, 39, 44, 47, 50, 57, 60, 69, 70, 71, 73, 76, 79, 81, 82, 86, 88, 93, 116, 124, 143, 152, 153, 154, 155, 156,160, 166, 167, 168, 169, 170, 179, 180,181, 186, 188, 195, 197, 200, 202, 203, 206, 210, 211, 220, 221, 222, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 239, 255, 256, 260, 261, 262, 264, 265, 267, 270, 272, 273, 274, 278, 279, 281,
418
Gesamtregister
287, 288, 290, 291, 298, 309, 310, 312, 324, 333, 345, 354, 357, 364, 370, 371 Kunst der Auslegung, 200, 210, 220 Kunst des Lesens, 81, 151, 152, 155,198, 203, 247, 345, 358 Kunst des Reisens, 151, 169, 170, 222 Kunstmetaphysik, 231 Kunstreligion, 163, 238 Kunstwissenschaft, 314, 323, 326, 362, 366 kursorisch (Lektüre), 63, 64, 242, 332 Kurz, G., 172, 174, 175, 180, 182, 183, 187, 188 Kytzler, B., 58 Lachmann, K , 57, 61, 96, 99, 100, 101, 105, 112, 211, 278, 293, 297, 299, 308, 317, 332, 361, 366 Lachmannsche Methode, 96, 100,101, 113, 294, 318 Lacoue-Labarthe, P., 255 Laertiana, s.a. Diogenes Laertius, 47, 91, 349 Lamprecht, K., 324 Landfester, M., 79, 312 Lange, F.A., 20, 24, 30, 31, 43, 65, 84, 88, 116, 120, 125, 126, 148, 222 Langeweile, 157, 265, 369, 370 Langsamkeit, 82, 114, 153, 213 Latacz, J., 19, 26, 299 latinitas, 300 Le Rider, J., 238, 248, 359 Lebrecht, P., 19 Lehrs, K , 39, 291 Leib, 14, 24, 28, 38, 106, 107, 108, 109, 111, 121, 125, 127, 136, 138, 139, 147, 148, 154, 171,176, 178, 206, 208, 209, 230, 231, 283, 372 Leibniz, 9, 14,104, 285 Leipzig, 3, 4, 20, 24, 29, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 57, 58, 67, 69, 7 0 , 1 2 2 , 1 6 2 , 198, 233, 261,288, 348 Leiter, B., 224 Lektüre, 1, 6, 7, 16, 17, 18, 24, 33, 63, 64, 70, 71, 77, 80, 94, 110, 118, 120, 133, 134, 137, 149, 155, 156, 157,158, 168, 171, 174,178, 182, 185, 189, 195, 196, 199, 200, 201, 202, 207, 212, 214, 218, 220, 222, 235, 241, 242, 247, 249, 250, 253, 256, 259, 264, 268, 269, 274, 302, 304, 313, 320, 322, 325, 332, 334, 338, 339, 341, 342, 344, 345, 346, 347, 349, 350, 353, 354, 355, 356, 358, 360, 362, 365, 369, 370 Lenk, C , 145 Len^er-Heide-Fragment, 228 Leo, F., 312 Leonardo da Vinci, 190, 234, 235
Lesart, 5, 13, 21, 56, 78, 79, 88, 89, 94, 97, 98, 113, 119, 128, 146, 151, 196, 198, 250, 262, 268, 336, 344, 363 Lesbarkeit, 7, 154, 200, 208 Lesbarkeit der Welt, 208 Lesen, Leser, 5,11, 12, 14, 15, 28, 29, 44, 59, 63, 64, 78, 81, 89, 93, 147, 149,151,152, 153,154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161,162, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170,172, 173, 177, 178, 181, 182, 187, 189, 191, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 204, 205, 206, 207, 209, 210, 211, 212, 216, 218, 220, 221, 224, 229, 234, 240, 241, 244, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 256, 257, 262, 264, 265, 267, 274, 294, 301, 302, 323, 328, 329, 332, 333, 334, 339, 341, 342, 345, 346, 347, 352, 354, 355, 361, 362, 363, 364, 366, 368, 370, 373 Lesetrieb, 152 Lesewut, 156, 167 Lessing, G.E., 55, 58, 63, 91, 109, 112, 134, 179, 235, 258, 261, 262, 279, 290, 314, 381 Leventhal, R.S., 263, 264, 357 Liebmann, O., 127 Lindken, T., 294 Literatur, 2, 4,15, 18, 19, 57, 64, 69, 76, 77, 84, 105, 114, 118, 137, 172, 182, 183, 207, 239, 249, 253, 256, 271, 274, 291, 298, 300, 301, 302, 303, 305, 309, 313, 314, 320, 321, 322, 324, 325, 333, 336, 338, 340, 360, 364, 371 Literaturgeschichte, 19, 54, 64, 69, 78, 105, 136, 138, 163, 304, 319, 320, 324, 325, 334, 359 Literaturkritik, 316, 325, 331, 334 Literatursoziologie, 133 Literaturtheorie, 244, 322, 358, 360 Literaturwissenschaft, 1, 4, 6,12, 16, 73, 133, 134, 146,147, 168, 172, 174, 180, 181, 238, 248, 256, 258, 265, 303, 315, 317, 318, 319, 321, 322, 324, 325, 328, 331, 333, 334, 338, 339, 341, 344, 347, 350, 352, 354, 357, 358, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 365, 366, 368, 370, 371, 372 litterati, 29 Lloyd-Jones, H., 276 Lobeck, C.A., 306 Logik, 10, 66, 71, 78, 82, 225, 255, 256, 272, 288, 314, 322, 363 Lubbock, J., 120, 125, 130, 140, 142 Lüge, 178, 206, 213, 216, 225, 226, 227, 233, 342 Luther, M., 39, 227 Lysias, 184
Gesamtregister Maas, P., 96, 99, 341 Mach, Ε., 47 Machtdynamik, 147 Machtquanten, 9,125, 209 MacKenzie, I., 257 Madvig, J.N., 61, 69, 73, 99, 284, 299 Magnus, B., 203 Magris, C , 372 Malinowski, B., 144, 168 Man, P. de, 92, 250, 253, 254, 255, 256, 257, 260, 272, 331, 334 Mangel an historischem Sinn, 33, 140, 141, 286 Mangel an Philologie, 8, 87, 95, 118,124, 151,197, 207,249, 354,362 Mangel an Rechtschaffenheit, 206 Mann, T., 211, 326, 347 Mansfeld, J., 292 Manu, 227 Manuskriptedition, 122, 342, 359 Marino, L., 266 Markschies, C , 37 Martens, G., 334, 338, 343, 344 Marx, K., 92, 248 Marxismus, 92, 94, 254, 333 Maske, 24, 35, 44, 186, 189, 190, 191,192, 195, 200, 210, 228, 272 Massenuniversität, 329 Materialismus, 24, 30, 106, 126, 130,135, 344 Mattenklott, G., 111, 139, 167, 168, 281, 303, 362, 364 Maulwurf, 140,142, 237, 305 Maurer, K., 337, 339 Mediävistik, 112, 317, 328, 361 Medienwissenschaft, 364 Medizin, 15, 19, 23, 31, 40, 106, 107,108, 109, 147, 149, 233 Mehrdeutigkeit, 173, 174 Meier, G.F., 266, 267, 268, 269, 270, 271 Meijers, Α., 175, 345 Menninghaus, W., 181 Menschliches, AU^umenschliches, 18, 22, 23, 24, 29, 33, 34, 44, 49, 65, 81, 84, 93, 96,104, 119,120,122, 124, 131,141,154, 162, 166,170,188, 189, 190,191, 192, 204, 214, 221, 229, 231, 232, 236, 238, 303, 304, 347 Metapher, Metaphorik, 9, 35, 56, 87, 90, 91, 100, 106,108, 109, 110, 127, 131, 138, 145, 147,158,161, 162, 170, 171,172, 173, 174, 175,176, 177, 179, 180,181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 190, 191, 194, 195, 201, 202, 203, 208, 210, 214, 215, 216, 217, 218, 224, 230, 244,
419
254, 265, 269, 298, 305, 307, 325, 327, 340, 341, 344, 347, 356, 365, 371 Metaphysik, 15, 35, 70, 73, 100, 104,117, 126, 128,130,148, 186, 197, 213, 217, 223, 225, 281,311,357 Methode, Methodenlehre, 2, 3, 7, 12,14, 15, 16, 20, 21, 25, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 37, 38, 41, 44, 45, 46, 48, 49, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 68, 69, 74, 76, 77, 78, 79, 84, 86, 87, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 96, 99, 100, 101, 102, 103, 106,109, 111, 113, 114, 115, 117, 118, 119, 120, 126, 127, 128, 130, 134, 135, 136, 137, 140, 146, 147, 149, 151, 157, 162, 163, 198, 201, 205, 208, 211, 212, 219, 226, 227, 228, 235, 239, 241, 242, 244, 249, 256, 257, 261, 262, 264, 265, 266, 270, 274, 275, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 286, 287, 288, 289, 290, 294, 295, 298, 299, 302, 303, 304, 305, 307, 309, 311, 312, 313, 314, 315, 317, 318, 319, 320, 322, 323, 325, 326, 327, 328, 329, 331, 332, 339, 342, 346, 348, 354, 357, 360, 362, 364, 366, 367, 368 Michel, W., 264 Mikrologen, 142 Mikroskopie, 21 Mill, J.S., 125,135, 140, 142 Minotaurus, 356 Misstrauen, 100,103, 115, 124, 150, 228, 319, 337, 349, 360 Missverstehen, Missverständnis, 5, 7,12, 35, 44, 122, 125,151,155, 194, 244 Mittelalter, 29, 36, 108,155, 188, 202, 303, 325, 361 Mitterand, Η., 343 Moderne, 31, 166, 259 Möglichkeitssinn, 372 Mommsen, T., 56, 275, 276, 277, 278, 283, 288, 289, 290, 293, 294, 296, 300, 309, 312 Montaigne, M. de, 140 Montinari, M., 15, 16, 18, 231, 342, 346, 347, 358, 371 Moon-gyoo Choi, 260 Moral, 8,18, 42, 52, 61, 74, 90, 93, 121, 122, 129, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 140, 142, 143, 144, 146, 147, 148, 149, 154, 164, 171, 177, 178, 196, 198, 199, 200, 204, 206, 207, 215, 216, 221, 227, 228, 229, 232, 233, 235, 238, 245, 257, 258, 267, 352 Moralphilosophie, 93, 116, 121, 122, 130, 138, 141, 143 Morgenröthe, 2, 36, 44, 47, 85, 104, 105,
420
Gesamtregister
119, 124, 140, 142, 149, 153, 156, 157, 158, 170, 189, 192, 199, 201, 206, 216, 219, 228, 230, 232, 265, 334, 338, 340, 343, 344, 373 Moses, 41, 45 Most, G., 2, 37, 39, 235, 255, 256, 259, 341, 344, 348 Müller, H.H., 319 Müller, L., 4 Müller-Lauter, W., 9 Museion, 28, 39, 40, 321 Mushacke, H., 24, 46 Musik, 34, 55, 59, 90, 176, 187, 241, 260, 300 Musil, R., 372 Muße, 156, 157, 201,265 Mythos, 33, 34, 35, 67, 147, 180, 183, 231, 235, 236, 275, 285, 290, 291, 292 Nachlass, 1, 3, 6, 11, 12,15, 17, 18, 28, 69, 90, 91, 129, 135, 151, 163, 186,198, 207, 227, 238, 255, 349, 359 Naeke, A.F., 52 Nancy, J.-L., 255 Nationalismus, 153, 366 Nationalliberale, 276 Nationalphilologie, 317, 318, 358, 366 Nationalsozialismus, 325 Natur, 13, 18, 28, 35, 38, 53, 64, 77, 83, 84, 110, 114, 117, 123,124, 126, 127, 128, 129, 141, 159, 175, 201, 202, 207, 208, 210, 211, 226, 229, 232, 234, 236, 245, 246, 254, 257, 276, 289, 292, 309, 311, 336, 339, 359, 361, 366 Natursehnsucht, 166 Natursymbolik, 208 Naturwissenschaft, 23, 24, 26, 27, 28, 30, 64, 65, 67, 83, 87, 88, 100, 106, 117, 118, 128, 129, 134, 136, 139, 140, 163, 206, 224, 228, 236, 242, 247, 275, 280, 290, 310, 311, 315, 332, 348 Naumann, C.G., 47, 74, 204 Naumburg, 52, 306, 313 Nehamas, Α., 143, 229 Nervenreize, 124,176, 192 Nesselrath, H.-G., 38, 68, 360 Neuhumanismus, 46, 274, 289, 308 Neukantianismus, 125, 210, 311, 326 New Criticism, 329, 331 New Historicism, 146, 334, 365 New Philology, 361 Nibelungenlied, 297 Niebuhr, B.G., 39, 47, 55, 56, 81, 91, 99, 109, 132, 162, 278, 311, 325 Niebuhr, C , 162 Niemeyer, C., 50 Nietzsche contra Wagner, 190
Nietzsche, F.W., 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17,18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25 , 26, 27, 28, 29, 33, 34, 35, 36 37, 38, 39, 40, , 49, 50, 51, 44, 45, 46, 47 55, 56, 57, 58 59, 60, 61, 62, 67, 68, 69, 70 71, 72, 73, 74, 79, 80, 81, 82 83, 84, 85, 86, 90, 91, 92, 93 94, 95, 96, 97, 101, 102, 103 104, 105, 106, 110 111 112 113, 114,115 118 119 120 121 122, 123 126 127 128 129 130, 131 135 136 137 138 139, 140 143 144 146 147 148, 149 152 153 154 155 156, 157 161 162 163 164 165, 166 169 170 171 172 173, 175 178 179 181 182 183,185 188 189 190 191 192, 193 196 197 198 199 200, 202 205 206 207 208 209, 210 213 214 215 216 217, 218 221 222 223 224 225, 226 229 231 232 233 234, 235 238 239 240 241 243, 244 247 248 249 250 251, 252 255 256 257 258 259, 260 264 265 266 267 268, 269 272 273 274 275 276, 277 280 281 282 283 284, 285 288 289 290 291 292, 293 297 298 299 300 301, 302 306 307 308 309 310, 312 317 318 319 320 321, 322 325 326 327 329 330, 331 335 336 337 338 339, 340 343 344 345 346 347, 348 351 352 353 354 355, 356 359 360 362 363 364, 365 368 369 370 371 372 Nietzscheforschung, 1, 3, 4, 5, 6, 7, 16, 18, 19, 21, 40, 54, 65, 73, 186, 224, 238, 258, 321, 324, 327, 333, 338, 339, 342, 343, 344, 347, 349, 350, 351, 353, 354, 358, 359, 367, 368, 372 Nihilismus, 10, 91, 92, 93, 133, 135, 152, 164,199, 207, 212, 228, 229, 232, 237, 345, 353 Nominalismus, 212, 217 Nordmann, J.-T., 136 Novalis, 273 Nowak, H., 344 Nowak, K., 201 Nuance, 133, 149, 186, 187, 189, 221, 259, 302, 315, 328
Gesamtregister numinos, 260, 273 Numismatik, 35, 69, 103, 106, 127 Nützlichkeit, 142, 222, 223, 227 Objekt, 9, 52, 70, 72, 86, 94, 114, 173, 181, 186, 193, 195, 223, 224, 228, 305, 338, 343, 354, 356, 360, 367 Objektivität, objektiv, 66, 198, 208, 220, 224, 247, 250, 251, 310, 331, 361, 363, 370 Ockham, W. of, 103 Oehler, K., 312 Oellers, N., 333 organisch, Organismus, 9, 24, 63, 71, 106, 135, 138, 139, 175, 179,199, 207, 222, 224, 244, 295, 299, 314, 341, 353 Organismusdenken, 107, 135, 139 Organon, 57, 69, 324 Origenes, 36, 37, 38, 40, 41, 45 Original, 100, 113, 122, 216, 252, 336, 357 Orsucci, Α., 120,177 Ossian, 58 Osterkamp, E., 319 Otto, D., 173 Overbeck, F., 40, 43, 44, 45, 47, 118, 293 Pädagogik, pädagogisch, 22, 23, 25, 48, 70, 79, 105, 114, 243, 277, 280, 290, 316, 317, 331, 352 Paläographie, 3, 75, 78, 122, 153, 330 Palimpsest, 97, 101,122, 226, 327 Pannenberg, W., 240 Panofsky, E., 136, 347 Papst Leo X., 42 Parallelstellen, Parallelstellenmethode, 38, 65, 82,185, 269, 325, 361, 363, 364 Paratexte, Paratextualität, 349 Parent, D.J., 255 Parodie, 114, 287, 350 Pascal, B., 140, 190, 355 Passow, Α., 120 Pathos der Distanz, 188, 191, 236, 272 Patristik, Patristiker, 36, 37, 40, 303 Paul, H., 330 Paulsen, F., 52, 53, 58, 60, 276 Paulus, 31, 36, 41, 42, 43, 44, 116, 117, 192, 196 Peirce, C.S., 338 Pentateuch, 45,115 Pergamener, 37, 38 Perspektive, Perspektivismus, 2, 4, 6, 8, 10, 12, 13, 14, 27, 36, 39, 46, 56, 67, 130, 138, 146, 148, 150, 153, 154, 166, 171, 182, 193, 195, 209, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 226, 227, 228, 229, 233, 237, 239, 240, 241, 242, 245, 248, 257, 264, 269,
421
272, 281, 309, 327, 329, 333, 339, 341, 346, 350, 353, 368, 372 Pessismismus, 260 Peter, K.L., 53 petit faitalisme, 135, 136 Pfeiffer, R., 29, 38, 40, 73, 275, 290 Pfister, M., 350 Pflanze Mensch, 139 Pflanzenmetaphorik, 139 Pflug, G., 118, 290, 309 Phänomen, Phänomenalismus, 9, 70, 72, 73, 93, 98, 104,109,119, 121, 122, 127, 130, 136, 138, 144, 145, 147, 168, 173,174, 175, 177, 180, 182, 197, 199, 206, 207, 211, 213, 214, 219, 225, 229, 230, 231, 240, 246, 247, 250, 255, 259, 261, 305, 323, 328, 334, 367, 368 Phänomenalismus der inneren Welt, 197, 246 Phänomenologie, 201, 231, 352 Phantasie, 59, 62, 79, 84, 85, 87, 98,119, 179 Philologe, Philologie, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 11, 12, 14, 15, 17, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 37, 38, 39, 40, 42, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 51, 52, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 95, 96, 97,100, 101, 102, 103, 105, 106, 107, 108, 109, 112, 113, 114, 115, 116, 118, 119, 121, 122, 124, 127, 128, 129, 131, 132, 136, 138, 139, 140, 141, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 157, 160, 162, 167, 168, 170, 173, 176, 182, 183, 189, 191, 195,196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 217, 218, 222, 226, 229, 232, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 241, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 251, 252, 253, 257, 258, 259, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 334, 335, 336, 337, 339, 341, 345, 346, 347, 350, 351, 352, 353, 354, 355, 356, 357, 358, 359, 360, 362, 363, 365, 366, 367, 368, 370, 372 Philologica, 3, 7, 12, 17, 26, 87, 90, 101, 113, 218 Philologiekritik, 154
422
Gesamtregistcr
philologos, 29 Philon von Alexandria, 36, 37, 40, 41, 42 Philosoph, Philosophie, 2, 3, 4, 6, 13,16, 17, 21, 22, 23, 24, 25, 27, 29, 31, 34, 39, 40, 41, 50, 52, 62, 65, 72, 73, 80, 81, 82, 83, 86, 88, 90, 91,101, 104, 106, 109, 111, 118, 125, 131, 132, 141, 149, 152, 171, 183, 184, 186, 189, 211, 224, 225, 226, 230, 231, 234, 235, 238, 242, 243, 249, 253, 259, 262, 264, 265, 273, 278, 279, 280, 281, 283, 296, 310, 311, 316, 318, 321, 323, 324, 331, 332, 345, 346, 347, 351, 352, 353, 355, 359, 360, 362, 370, 371 Philosophie der Philologie, 262, 351, 352 Philosophiegeschichte, 19, 26, 88, 91,152 Phyrron, 44, 91, 92 Physik, Physiker, 83, 117, 128, 129, 130 Physiologie, 23, 88, 105, 126, 136, 147, 149, 192 Pietismus, 243 Pilatus, 212, 213 Piaton, 25, 43, 44, 83, 85, 95, 104, 106, 123, 129, 151, 179, 191, 225, 233, 258, 270, 273, 285, 355 Piatonismus, 10, 43, 44, 101, 104, 106, 111, 123, 129, 179, 197, 219, 228, 258, 270, 309 Plautus, 48, 49, 67,107, 293 pneuma, pneumatisch, 35, 36, 37, 38, 41, 42, 83, 105, 124, 152, 153, 154, 178, 181, 184, 186, 229 Poetik, 73, 240, 253, 320 Pohlenz, M., 42, 43 Polyhistorie, 157, 279, 295, 313, 328 Polysemie, 174, 180 Pope, Α., 156, 357 Pöppel, E., 154 Porphyrio, 38 Porter, J.I., 2, 3, 24, 65, 77, 90, 285, 296, 297 Pöschl, V., 22 Positivismus, 10, 84, 87, 99, 117, 118, 126, 131, 132, 133, 135, 140, 231, 271, 286, 294, 295, 308, 312, 317, 318, 322, 324, 325, 328, 331, 335, 339, 344, 346, 349, 357, 360, 362, 369 Post, A.H., 120 Postmoderne, 239 Poststrukturalismus, 5, 238, 248, 250, 329 Poulsen, F., 199, 312 Pragmatik, 175, 184 Priester, 36, 74,104, 108, 116, 117, 132, 194, 231 Prolegomena den Choephoren des Aeschylus, 98 Protestantismus, 258 Provinzialismus, 300
Pseudoepigraphie, 3, 75 Psychoanalyse, 92, 94, 333 Psychologe, Psychologie, 2, 8, 86,116, 124, 125, 126, 129, 136, 154, 191, 192, 193, 194, 195, 206, 211, 221, 225, 239, 259, 311,352 Psychologismus, 269, 271 Quelle, Quellenkritik, Quellenforschung, 3, 11, 12, 16, 18, 19, 26, 29, 32, 33, 37, 38, 39, 40, 41, 43, 46, 48, 49, 50, 54, 55, 56, 59, 60, 64, 69, 71, 75, 76, 77, 81, 89, 97, 98, 99, 100, 104, 113, 116, 130, 131, 136, 137, 138,143,145, 146, 147, 152, 163, 164, 165, 198, 204, 207, 208, 217, 242, 243, 245, 255, 257, 259, 270, 275, 277, 278, 281, 294, 299, 305, 308, 311, 313, 318, 320, 325, 326, 328, 334, 342, 343, 344, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 352, 358, 359, 360, 362, 364, 365, 370, 371, 372 Quintilian, 175, 177, 183, 187, 188, 254 race, milieu, moment, 133, 134, 136 Raffael, 88 Raible, W., 201 Ranke, L. von, 10, 39, 51, 56, 131, 132, 137, 264, 277, 286 Rassenverwandschaft, Rassentheorien, 299, 325 Rath, I.W., 17 Ratio, s.a. Vernunft, 31, 66, 82, 84, 98, 99, 372 Rationalität, Rationalitätskriterien, 9, 216, 246 Raulet, G., 282 Raulff, U., 327 Rausch, 260 Realien, 29, 62, 68, 69, 77, 79, 275, 294 Realität, Realitäten, 9, 10,13, 27, 65,101, 102, 119, 122, 123, 128, 148, 177, 197, 201,215, 224,225, 230, 234 Recensio, 97, 100, 101, 103,104, 109, 112, 115, 119, 140, 144, 164, 212, 219, 229, 336 Redaktor, 113, 114, 125, 127, 209, 230 Redlichkeit, Rechtschaffenheit, 20, 27, 36, 44, 49, 56, 87, 91, 95, 102, 103, 106,109, 110, 111, 113, 115, 116, 122, 124, 128, 136, 144, 147, 154, 169, 170, 195, 196, 197, 200, 206, 207, 211, 212, 213, 220, 222, 226, 227, 230, 234, 244, 257, 267, 280, 307, 308, 312, 321, 327, 330, 345, 353, 354, 360, 363, 368, 370 Ree, P., 93,116, 117, 140, 143, 148 Referenz, 253, 404 Reformation, 42, 45, 112, 172, 234, 257
Gesamtregister Reibnitz, Β. von, 3, 4, 18, 35, 180, 231, 289, 290, 333, 399 Reinhardt, K., 15, 34, 313 Reinigung, 113, 325 Reise, Reisen, Reisende, 24, 120, 158, 159, 160,161, 163, 164, 165, 167, 169, 170, 172,180,182, 237, 295, 305, 309, 327, 340, 369, 371, 372, 373 Relativismus, 142, 229, 286, 325 Religion, 31, 32, 33, 34, 41, 47, 93, 104, 111, 118, 123, 141, 160, 196, 206, 288, 291, 299 Religionsgeschichte, 290, 291, 306 Renaissance, 42, 44, 77, 162, 233, 234, 235, 237, 252, 258, 260, 320, 323, 328, 333, 334 Renan, E., 115, 116, 117, 118, 133,136, 148, 164, 236, 353 Ressentiment, 331 Reynolds, L.D., 235 Rheinisches Museum, 26, 47, 50, 51, 54 Rhetorik, 5, 22, 26, 32, 71, 132, 133, 137, 138, 146, 149, 168, 171, 172, 175, 176, 178, 180, 183, 185, 190, 213, 216, 240, 244, 251, 253, 254, 255, 256, 258, 346, 369 Rhizom, 341 Ribbeck, O., 46, 47, 49, 54, 55, 56, 58, 60, 62, 63, 64, 65, 67, 68, 69, 71, 76, 81, 84, 85, 86, 89,119,161,261,299 Richardson, S., 366 Rickert, H., 311, 315, 324 Ricceur, P., 14, 92, 183, 186,196, 258, 259 Riedel, C., 236 Riedel, M., 3, 80, 83, 236, 286, 358 Ritsehl, F., 3, 20, 21, 23, 39, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 71, 72, 76, 78, 79, 80, 81, 83, 84, 85, 86, 89, 96, 97, 99, 100, 101,104, 106, 107,108, 113, 118, 119, 122, 152, 161, 163, 185, 189, 196, 211, 258, 261, 262, 265, 274, 275, 276, 277, 278, 281, 283, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 298, 299, 300, 305, 306, 308, 312, 313, 314, 315, 316, 321, 322, 326, 327, 330, 335, 336, 345, 356, 357, 365, 367 Ritsehl, S., 49, 291 Ritter, H., 359 Robespierre, M. de, 227 Rohde, E., 24, 25, 47, 48, 49, 51, 62, 67, 132, 140, 155, 163, 277, 284, 287, 289, 290, 291, 292, 293, 298, 303, 305, 313, 367 Roloff, H.-G., 201 Rom, Römer, 7, 20, 27, 30, 40, 42, 55, 69, 106, 160, 162, 205, 230, 281, 301, 355
423
Romantik, s.a. Frühromantik, 52, 55, 90, 139, 154, 159, 235, 256, 260, 261, 265, 271, 299, 308, 319, 333, 357 Roos, R., 346, 347 Rosenkranz, K., 105 Ross, W., 20, 59 Rosso, S., 253, 331 Rötger, K., 87 Rousseau, J.J., 126, 253, 255, 366 Rubow, P.V., 99 Rückblick auf meine sp>ei Leipziger Jahre, 24, 29, 46, 48, 59, 122 Rumelhart, D.E., 174 Sachkenntnis, 52, 83, 296 Said, E., 118 Saint-Simon, C. de, 227 Salaquarda, J., 24, 106 Sanders, D., 198 Sanskrit-Philologie, 265 Saussure, F. de, 73, 183, 338 Schaarschmidt, C , 47 Schacht, R., 143, 203 Schaefer, H., 77 Schaffer, E., 3, 237 Scharfsinn, 51, 67, 79, 84, 85, 104, 110, 112, 182, 192, 274, 278, 284, 287 Schäublin, C , 38 Schein, 13,14, 65, 126, 148,191, 208, 213, 215, 222, 224, 225, 230, 231, 316 Schelling, F., 84, 104, 128, 261, 265 Scherer, W., 294, 317, 318, 324 Scherner, M., 112, 244, 335 Scherpe, K., 365 Schiller, F., 204, 279, 298, 344, 360 Schlaffer, H., 316, 320, 321 Schlechta, K., 2, 15,18, 22, 332 Schlegel, A.W., 55, 260, 261, 262 Schlegel, F., 55, 235, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 271, 272, 273, 275, 290, 292, 299, 302, 314, 318, 325, 328, 332, 351, 359, 366 Schleicher, Α., 72, 101 Schleiermacher, F., 65, 73, 79, 82, 84, 85, 86, 87, 104, 193, 203, 210, 242, 259, 262, 266, 269, 270, 271, 272, 309, 311, 322 Schlözer, A.L., 161 Schmeitzner, E., 133 Schmid, W., 46, 48, 49, 61, 63, 261, 315 Schmidt, E., 317, 318, 366 Schmidt, H.J., 20, 53, 91 Schmidt, P.L., 99, 100 Schnädelbach, H., 286 Schön, E., 154 Schopenhauer als Erzieher, 26, 51,157, 218, 285 Schopenhauer, Α., 17, 20, 24, 32, 33, 43, 46,
424
Gesamtregister
51, 82, 104, 106, 122,123, 140,151,156, 1 5 7 , 1 6 3 , 1 7 2 , 1 8 1 , 231, 237, 272, 278, 289, 291, 296, 298, 304, 351 Schreibspur, 343 Schrift, A.D., 15, 229 Schröder, R., 46 Schröter, H., 288 Schulpforte, 1, 4, 20, 51, 52, 53,132, 142, 199, 232, 261, 292, 296, 297 Schumann, R., 260 Searle, J., 174, 250, 251 Seelenwanderung, 164 Segalen, V., 168 Sehen, Sehweise, 165, 166, 170, 217 Selbstauslegung, 211, 218, 234, 268 Selbstbeobachtung, 124, 125, 130, 144, 169, 329, 354 Selbstdenker, 156 Selbsterfahrung, 169, 371, 373 Selbsterkenntnis, 124, 128, 144, 169, 206, 246 Selbstreferentialität, 6, 125 Selbstüberwindung, 144, 232 Semantik, 158, 175 Semiotik, s.a. Zeichenlehre, 9 2 , 1 2 2 , 1 7 7 , 180, 184, 187, 191, 267, 274, 337 Seneca, 41, 65, 280, 349 Senger, H.G., 201, 336 Sensualismus, 83, 129 sensus allegoricus, 36, 141, 185, 209 sensus improprius, 268 sensus litteralis, sensus litterae, 36, 37, 39, 1 7 0 , 1 7 1 , 1 7 2 , 1 7 3 , 1 8 3 , 268 sensus mediatus, 268 sensus mysticus, 268 sensus proprius, 183, 268, 269 sensus spiritualis, 36, 3 7 , 1 7 2 Seume,J.G., 166 Seydlitz, R. von, 140 Shakespeare, W., 190, 285, 331, 360 Shapiro, G., 115,148 Shelley, P.B., 260 Signator, 268 signum adparens et falsum, 267 signum arbitrarium, 178, 179, 267 signum artificiale, 178, 179, 267 signum naturale, 178,180, 186, 188, 267 signum verum, 267 Sils Maria, 170 Silverman, H.J., 149 Simon, E., 329 Simon, J., 14, 227, 329 Skepsis, Skeptiker, 21, 25, 35, 44, 70, 74, 89, 90, 91, 92, 95, 103, 108, 137, 141, 158, 197, 198,199, 200, 212, 213, 214, 215, 221, 222, 226, 227, 228, 230, 231, 235,
237, 263, 272, 308, 313, 321, 354, 357, 359 Smith, Α., 302 Sokrates, sokratisch, 31, 33, 41, 190, 191, 196, 278 sola per fide, 227 Soldaten, soldatische Tugend, 91, 153, 165, 220 somatischer Sinn, 38, 107 Sommer, A.U., 9, 18, 27, 40, 42, 44, 45, 96, 105, 115, 133, 140, 143, 166, 198, 212, 227, 333, 349 Sontag, S., 333 Sophisten, 31, 37, 41 Sorensen, B.A., 46,179, 209 Souveränität, souveränes Individuum, 165, 221, 303 Soziologie, 136, 310, 323 Spätaufklärung, 290 Spencer, H., 125, 130, 140,142 Spezialisierung, 65, 68,156, 283, 310, 317 Spielraum, 186, 189, 194,195, 198, 201, 202, 217, 344 Spieltrieb, 51, 236 Spinoza, 9, 43 Spiritualität, 42, 43,106 Spon, J., 160 Sprache, 15, 25, 43, 44, 52, 60, 63, 69, 70, 71, 72, 73, 75, 81, 83, 88, 98, 99, 101, 110, 128, 132, 138, 144, 167, 168, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 179, 180, 183,184, 191,193, 195, 213, 236, 247, 250, 253, 255, 257, 259, 268, 269, 270, 300, 309, 312, 335, 336, 350, 358, 366 Sprachgebrauch, s.a. usus loquendi, 70, 74, 75, 97, 98, 176, 180,183, 184, 185, 202, 208, 343 Sprachkenntnis, 56, 78, 83, 118, 314, 324 Sprachkritik, 3 Sprachspiel, 11 Sprachtheorie, 178 Sprachwissenschaft, Linguistik, 15, 30, 70, 71, 73,130, 265, 284, 311, 315, 334, 335, 337, 338 Sprechakttheorie, 250, 251, 337 Spree, Α., 333 Stack, G.J., 24 Stackmann, K., 97, 317, 328, 351 Staiger, E., 328, 361, 371 statarisch (Lektüre), 63, 64,157, 332 Stegmaier, W., 6, 10,14, 18, 86, 87, 101,194, 195, 196, 201, 205, 285, 316, 352 Steinhart, C , 53 Steinthal, H., 120 Stemma, 96, 99, 100, 113, 143, 171 Stendhal, 136, 137
Gesamtregister Sterne, L., 161, 165 Stierle, K., 317 Stil, 28, 76, 78, 97, 110,186, 188, 190, 191, 193, 242, 277, 301, 313 Stingelin, M., 75 Stoa, Stoizismus, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 94, 140, 254 Strauss, D.F., 292, 299 Strelka, J.P., 317, 352 Strenge, 26, 31, 32, 34, 39, 44, 46, 47, 49, 57, 58, 59, 60, 70, 81, 91, 99,113, 131, 133, 151, 231, 235, 290, 295, 304, 305, 310, 313, 319, 352, 365 Strohschneider-Kohrs, I., 79 Strukturalismus, 92, 180, 183, 329, 335, 340, 349 Subjekt, 66, 70, 72, 99, 121, 123, 148, 209, 223 Subjektivität, subjektiv, 66, 75, 98, 103, 126, 247, 279, 317, 332 sublimierter Hörer, 301 Substitution, Substitutionstheorie, 176,180, 181, 183, 209, 254, 255 subtilitas explicandi, 200, 241 subtilitas intelligendi, 200, 205, 241, 243 Subtilität, 21, 169, 175, 197, 207, 276, 348, 354 Sumpf, 142, 143 Svoboda, K., 2 Sybel, H. von, 277 Symbol, 140, 172, 179, 180, 186, 290 Symptomatologie, 122, 177 Synthese, 33, 81, 148,163, 232, 265, 304, 313, 318, 325, 326, 351, 367, 368, 371 Szientismus, 83, 332, 371 Szondi, P., 37, 38, 85, 172,174, 179, 242, 266, 269, 282, 324, 352, 359, 361, 362, 363 Taine, H., 10, 47, 131, 132, 133, 134,135, 136, 137, 138, 140, 164, 165, 236, 298, 357 Takt, 8, 28, 62, 71, 153,193, 206, 314, 339, 352, 354, 357, 358 Tanselle, G.T., 336, 344 Tarsus, 41, 42 Taschenausgabe, 22 Tatbestand, 8, 13, 14, 96, 123, 124, 129, 132, 139, 150, 153, 195, 207, 209, 215, 224, 323 Tatsachen, Facta, 8,14, 27, 33, 55, 61, 101, 105,119, 122, 123, 127, 130, 131, 132, 134, 135, 142, 151, 167,170,177, 194, 197, 209, 213, 214, 224, 278, 279, 286, 294, 295, 311, 312, 315, 358, 363, 369
425
Tatsachensinn, 27, 111, 122, 123,128, 147, 206, 235 techne, 76, 80, 82, 94, 109, 155, 167, 242, 244, 264, 354 Teichmüller, G. von, 25 telos, teleologisch, 9, 23, 36, 141, 302, 335, 340, 341 Teskey, G., 178 Text, Textbegriff, 1, 3, 5, 6, 8, 11, 12,14, 15, 16,17,18, 28, 29, 30, 32, 35, 36, 37, 38, 39, 46, 55, 57, 58, 59, 60, 62, 63, 64, 66, 71, 73, 75, 76, 77, 81, 84, 85, 86, 87, 89, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 105, 106, 107, 108, 109, 112, 113, 114, 115, 116, 118, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 127, 129, 133, 134, 136, 138, 139, 143, 145, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 157, 162,164, 169, 171, 172, 173, 174, 177, 178,180, 181, 182, 183, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 195, 196, 198, 200, 201, 202, 203, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 214, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 223, 224, 225, 227, 229, 231, 237, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 246, 248, 249, 250, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, 264, 269, 270, 271, 273, 282, 297, 299, 302, 303, 305, 313, 316, 317, 320, 321, 323, 324, 325, 327, 328, 329, 331, 332, 333, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344, 346, 347, 348, 349, 350, 352, 353, 354, 355, 356, 357, 358, 360, 363, 364, 365, 367, 368, 371, 372 Textgenese, s.a. critique genetique, 18, 22, 91, 113, 153, 334, 336, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 348, 349, 350, 351, 359, 360 Textkritik, 4, 14, 15, 16, 37, 38, 54, 58, 59, 61, 62, 64, 73, 78, 85, 91, 94, 96, 99, 100, 107, 111, 113, 118, 198, 207, 239, 257, 262, 263, 267, 273, 275, 294, 308, 310, 312, 316, 317, 318, 320, 323, 324, 329, 330, 331, 332, 339, 354, 364, 365 Textlinguistik, 336, 337 Textsoma, 63,126, 251, 269 Textualisierbarkeit, 114 Thatcher, D.S., 120 Theognis, 53, 54, 113, 114 Theologie, Theologen, 2, 8,11, 20, 25, 33, 36, 41, 42, 45, 54, 65, 87, 88, 96, 100, 102, 104,105, 113, 117, 118, 119, 128, 151, 152, 170, 171, 179, 181, 183, 197, 207, 212, 225, 226, 230, 231, 241, 243, 244, 266, 291, 334, 354, 362 Theseus, 356
426
Gesamtregister
Thouard, D., 3, 80, 81, 115, 213, 282, 290, 296 Timpanaro, S., 96, 99 Tischendorf, K. von, 122 Toposforschung, 325, 347 Tradition, 3, 4, 9, 11, 14,18, 21, 27, 28, 32, 39, 42, 46, 47, 52, 53, 54, 55, 56, 60, 68, 71, 77, 80, 81, 83, 86, 87, 90, 93, 97,100, 101,104,107,112, 113, 116, 118,132, 139, 141,147,148, 149, 152, 156,166, 171, 175, 176, 179,183, 186, 193, 212, 218, 237, 238, 239, 242, 243, 244, 247, 250, 251, 254, 255, 257, 258, 259, 261, 263, 264, 265, 269, 271, 277, 278, 281, 286, 289, 290, 292, 294, 296, 300, 302, 306, 309, 310, 311, 312, 314, 317, 320, 324, 325, 326, 330, 331, 332, 333, 337, 340, 341, 342, 349, 352, 356, 358, 360, 362, 363, 366, 368 Tragödie, 15, 26, 31, 32, 33, 35, 40, 47, 48, 50, 78, 155, 163, 180, 231, 232, 239, 275, 278, 288, 289, 290, 291, 292, 296, 305, 306, 341 Traum, 111, 124 Treitschke, H. von, 277 Tribschen, 356 Trieb, Triebstruktur, 16, 103, 121,123, 124, 125, 126, 150, 171,177, 198, 220, 236, 237, 261, 304 Trommler, F., 318 Tropik, tropologisch, 175, 176, 178, 180, 186,187 Tschandala, 227 Turner, M., 175 Tylor, E., 120, 144 Überlieferung, 14, 45, 59, 62, 63, 64, 66, 73, 78, 89, 92, 94, 99, 110, 112, 114,115, 116,123,152, 179, 186, 204, 243, 247, 258, 263, 272, 273, 278, 296, 298, 308, 309, 315, 327, 328, 331, 337 Ubermensch, 43 Übersetzung, 14, 15, 37, 53, 57, 61, 80, 94, 97, 104, 117, 120, 203, 238, 247, 249, 251, 252, 257, 270, 272, 273, 324, 350, 357, 366, 371 Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 88, 153, 155,158, 203, 282, 283, 284 Ueber Wahrheit und Lüge, 213, 216, 342 Ueberweg, F., 41 Umwertung, 15, 27, 30, 105, 106, 132, 227, 234 Unger, R., 318, 319, 344 Unredlichkeit, 88 Unverständlichkeit, 195, 203, 239, 272, 275, 352, 356
Un^eitgemässe Betrachtungen, 2, 21, 115, 132, 138, 143, 191, 220, 232, 237, 238, 246, 282, 285, 304, 372 urbanitas, 300 Ursprung, 39, 71, 91, 93,100,116, 131, 147, 148, 149, 168, 171, 193, 214, 236, 254, 270, 274, 276, 290, 301 Urteilen, 75, 77, 90, 99, 112, 119,122, 165, 166, 211,218, 219, 261 Urteilsenthaltung, s.a. epoche, 92, 198 Usenet, H., 26, 48, 89, 261, 277, 290, 305, 306, 313, 314, 315, 316, 326, 327, 365, 367 usus loquendi, s.a. Spachgebrauch, 74,183, 186,189, 196, 200, 222, 251, 252, 259, 269, 270, 346 usus loquendi, s.a. Sprachgebrauch, 97, 170, 185 Utopie, 127, 154, 229, 244, 260 Variante, 42, 98, 102, 113, 144, 151,159, 194, 259, 276, 286, 329, 336, 339, 344 Venturelli, Α., 345 Verdacht, 92, 93, 94, 102,180, 187, 188, 190, 196, 240, 271, 329, 357 Verderbnis, 93, 110 Vergewaltigung, Vergewaltigen, 8, 11, 109, 115, 154,165, 170, 202, 205, 210, 219, 220, 221, 226, 228, 240, 246, 256 Vergleich, 24, 38, 45, 76, 77, 78, 79, 84, 86, 90, 97, 99, 100, 103,113, 116, 122,130, 133, 146, 150, 153, 156, 165, 173, 182, 184, 188, 198, 219, 221, 222, 225, 242, 243, 246, 264, 273, 314, 363, 366 Vermischte Meinungen und Sprüche, 103,122, 123, 153, 161,163, 165, 169, 170, 214, 222, 227 Vernunft, s.a. ratio, 34, 41, 72, 106, 115, 123, 141, 148, 162, 224, 225, 227, 230 Verstehen, Verständnis, 6, 15, 35, 36, 52, 71, 75, 76, 78, 80, 81, 82, 83, 85, 86, 92, 94, 95, 118, 146, 167, 170, 173, 174, 179, 182, 183, 191, 193, 195, 196, 198, 202, 203, 209, 224, 231, 239, 240, 241, 242, 243, 247, 248, 250, 251, 253, 257, 262, 264, 271, 279, 280, 286, 294, 310, 312, 314, 315, 319, 335, 339, 342, 352, 353, 357, 363 Verstehenswut, 272 Versuch einer Selbstkritik, 233, 305, 341 Vickers, B., 257 Virchow, R., 120 Vischer-Bilfinger, W , 25, 47 Vivarelü, V., 190, 191, 231 Vogt, E., 52, 360 Vöhler, M., 160
Gesamtregister Völkerpsychologie, s.a. Anthropologie, 125, 168 Volkmann, D., 53 Volkmann, R., 299 Volksliedtheorie, Volksdichtung, 298, 299 Voltaire, 33, 123 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie, 32, 55, 132, 138, 143, 154, 238, 282, 283, 285, 286, 287, 288, 304, 372 Vorsokratiker, 26 Vorstufen, 237, 334, 335, 339, 342, 360 Vorurteil, 3,144, 154, 189 Voßkamp, W., 323, 326, 366 Wach, J., 87 Wackernagel, W., 72, 176 Wagner, C , 50, 356 Wagner, R., 2, 21, 23, 26, 32, 43, 45, 47, 50, 51, 55, 67, 7 4 , 1 1 5 , 1 1 6 , 117, 122, 123, 163, 165, 190, 192, 211, 232, 233, 260, 275, 278, 288, 289, 291, 293, 296, 304, 319, 345, 356, 357 Wahrheit, Wahrheiten, 12,13, 14, 24, 28, 32, 33, 38, 49, 51, 55, 60, 77, 78, 79, 88, 90, 9 9 , 1 0 1 , 1 0 2 , 103, 104, 107, 109, 114, 116, 118, 142, 143, 146, 147, 154,172, 176, 178, 185, 196, 212, 213, 214, 216, 220, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 236, 241, 242, 246, 247, 254, 261, 270, 272, 273, 280, 287, 292, 299, 306, 332, 338, 342, 347, 355, 363, 372 Wandern, Wanderer, 74, 120, 161, 162, 164, 165, 166, 167, 219, 256, 350 Warburg, Α., 168, 326, 327, 347, 365, 367, 389, 401, 405, 406, 407 Warner, Μ., 315 Weber, M., 144 Wegmann, N., 77, 315, 316, 331, 332 Wegner, M., 56, 235, 262, 290, 315 Weimar, 19, 96, 204, 250, 264, 293, 313, 317, 324, 337, 344 Weimar, K., 250, 264, 317, 337 Weisheit, 30, 41, 48, 143,169, 212, 220 Welcker, F.G., 47, 54, 55, 261, 290, 293, 305, 312 WeUbery, D., 250 Wellek, R., 136, 239, 381 Wellhausen, J., 45, 115 Weltschmerz, 166 Werkimmanenz, 38, 324, 328, 329, 331, 332, 352, 361, 365 Werner, M., 18, 20,194, 195, 257, 293, 310, 316 Werte, 30, 33, 34, 90, 105,106, 132,144, 147, 226, 227, 230, 234, 237, 286, 346, 353
427
Wertsetzung, 88, 106, 279, 281, 303, 319, 354 Wessels, Α., 327 Weygold, G.P., 41, 104 Wheler, G., 160 White, H., 371 Whitman, J., 68, 69, 294 Wickert, L., 278 Wiederkäuen, s.a. zyklisch (Lektüre), 154, 200, 260, 265, 285, 345 Wieland, C.M., 24, 299 Wilamowitz-Moellendorff, U. von, 4, 6, 22, 35, 49, 56, 63, 155, 163, 199, 243, 275, 276, 288, 291, 292, 293, 294, 296, 297, 298, 300, 305, 306, 307, 309, 310, 312, 313, 314, 316, 323, 324, 359, 365, 367 Wilcox, J.T., 203, 204, 205 Wilhelminismus, 294 Wille zum Verstehen, 35 Wille zur Macht, 9 Williams, B., 147 Wimsatt, W.K., 245 Winckelmann, J.J., 58, 90, 107, 139, 159, 265, 274, 275, 279, 281, 282, 290, 310, 314, 362 Wind, E., 327 Windfuhr, M., 334 Windisch, E., 47, 55 Wir Philologen, 2, 6, 21, 22, 23, 27, 109, 118, 332 Wirklichkeit, 9, 30, 74, 180, 206, 212, 216, 223, 224, 225, 226, 231, 252, 285, 311, 319 Wissenschaft, Wissenschaftlichkeit, 1, 10, 22, 23, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 40, 42, 44, 45, 46, 49, 51, 53, 55, 56, 58, 59, 64, 65, 66, 68, 69, 70, 76, 78, 79, 81, 84, 87, 88, 89, 90, 99, 108, 109, 114, 116, 117, 118, 122, 123, 126, 127, 128, 131, 132, 135, 136, 137,140, 142, 143, 162, 165, 166, 167, 168, 170, 194, 196, 197, 198, 212, 220, 221, 222, 224, 225, 227, 228, 229, 231, 232, 234, 235, 236, 237, 255, 258, 261, 262, 264, 265, 272, 273, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 282, 283, 285, 287, 288, 290, 291, 292, 294, 298, 300, 305, 309, 310, 311, 312, 313, 315, 316, 318, 319, 320, 323, 324, 325, 326, 328, 332, 359, 361, 364, 370, 371 Wissenschaftsgeschichte, 5, 6, 7, 12, 19, 49, 69, 78, 87, 101, 148, 264, 309, 319, 320, 352, 365 Witkowski, G., 325, 357 Wittgenstein, L., 73 Wittmann, M., 154 Woesler, W., 202
428
Gesamtregister
Wolf, F.A., 39, 52, 53, 55, 56, 57, 58, 68, 69, 70, 71, 73, 74, 78, 79, 80, 81, 83, 84, 85, 86, 87, 90, 91, 93, 96, 99,107,108, 109, 110, 118,121,128, 132, 154, 160,176, 179, 183,184,193, 196, 201, 210, 222, 235, 239, 242, 243, 255, 259, 261, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 273, 274, 275, 276, 278, 279, 281, 282, 289, 293, 297, 299, 300, 301, 302, 305, 306, 307, 311, 312, 314, 318, 325, 330, 339, 351, 353, 359, 362, 363, 367 Wortsinn, 15, 39, 172, 174, 176, 185, 225, 251, 252 Wortstatistik, 80 Wundt, W., 47 Wuthenow, R., 138,160 Wuttke, D., 326, 327, 328, 365 Yale Critics, 331 Zdekauer, Κ. von, 117 Zeichen, Signum, 14, 36, 37, 59, 66, 73, 92, 121, 125,136, 144, 148, 154, 176, 177, 178, 179,180,181, 185, 186, 187, 188, 190, 192,193,194, 197, 209, 211, 217, 226, 231, 267, 268, 270, 273, 274, 323,
338, 352, 363, 371 Zeichenbegriff, 267 Zeichendeutung, 181,191, 192, 195 Zeichenlehre, s.a. Semiotik, 225, 267 Zeichenrede, 122, 177 Zeitalter der Vergleichung, 119 Zeitgeist, 4, 46, 136, 141, 166, 296, 308, 312, 325, 340, 343, 347 Zeller, E., 26, 48 Zeller, H., 26, 48, 338, 344 Zenodotus von Ephesos, 29, 40, 48 Ziolkowski, J., 329, 360 Zittel, C , 186,187, 344, 345, 347 Zons, R., 201, 334 Zovko, J., 264 Zukunftsphilologie, 22, 78, 281, 290, 291, 296, 304, 326, 351, 365, 367 Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung, 53, 54 Zurechtmachen, 11, 36, 101, 102, 105, 115, 129, 211 Zürich, 25 zyklisch (Lektüre), s.a. Wiederkäuen, 38, 75, 157, 262, 265, 269, 302, 328