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German Pages [188] Year 2014
https://doi.org/10.5771/9783495860113 .
Roman Lesmeister / Elke Metzner (Hg.)
Nietzsche und die Tiefenpsychologie
VERLAG KARL ALBER
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Ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen zur Nietzsche-Rezeption untersuchen die Beiträge des vorliegenden Bandes die Zusammenhänge zwischen Nietzsches Denken und den tiefenpsychologischen Konzeptionen der Psychoanalyse (S. Freud), Analytischen Psychologie (C. G. Jung) und Individualpsychologie (A. Adler). Im Mittelpunkt steht die Idee des schöpferischen Menschen als Subjekt tätiger Selbstund Weltgestaltung. Der thematische Horizont des Bandes schließt Reflexionen zur Nietzsche-Rezeption innerhalb des Judentums ein und erweitert damit den Blickwinkel auf eine zeitgeschichtliche Dimension, die in den tiefenpsychologischen Diskursen – genannt oder ungenannt – präsent ist.
Die Herausgeber: Roman Lesmeister, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DGAP, DGPT) in eigener Praxis; Dozent, Supervisor und Lehranalytiker an der Akademie für Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychosomatik Hamburg (APH) und am C. G. Jung-Institut München. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Theorie- und Rezeptionsgeschichte der Analytischen Psychologie sowie zu Themen von Subjekt, Selbst und Individuation. Mitbegründer und -leiter des Arbeitskreises »Analytische Psychologie und Philosophie«. Elke Metzner, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin (DGAP, DGPT) und Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis in Nürnberg; Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut München; seit 2001 Leitung des Arbeitskreises »Analytische Psychologie und Philosophie« gemeinsam mit Roman Lesmeister.
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Seele, Existenz und Leben Band 16:
Roman Lesmeister / Elke Metzner (Hg.)
Nietzsche und die Tiefenpsychologie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Seele, Existenz und Leben Herausgegeben von Günter Funke und Rolf Kühn in Zusammenarbeit mit dem Institut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie Berlin (www.guenterfunkeberlin.de) sowie dem Forschungskreis Lebensphänomenologie, Freiburg i. Br. (www.lebensphaenomenologie.de)
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48439-5
(Print)
ISBN 978-3-495-86011-3 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Inhalt
Vorwort (Elke Metzner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harald Seubert: ›Verwechselt mich vor Allem nicht!‹ Nietzsches Text-Partitur und ihre Realisationen. Grundprobleme einer Hermeneutik von Rezeption . . . .
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Günter Gödde: Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . .
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Almuth Bruder-Bezzel: Alfred Adlers Nietzsche-Bezug und die schöpferische Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Lindner: ›Ein tiefstes Erlebnis‹. C. G. Jungs Lektüre von Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ anhand seiner Seminare von 1934–39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Daniel Krochmalnik: Um den Sinai. Der Jüdische Nietzscheanismus in religionsgeschichtlicher Perspektive . 121 Angelica Löwe: Erich Neumanns Tiefenpsychologie und Neue Ethik im Kontext jüdischer Nietzscherezeption . . . 146 Eckhard Frick: Vom Übermenschen zum schöpferischen Menschen. Erich Neumanns Anthropologie der Kreativität . 168 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
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Vorwort
Erste Spuren zu dem vorliegenden Buch wurden im Jahre 2000 auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Analytische Psychologie in einem Seminar zum Thema »C. G. Jungs Denken im Spannungsfeld esoterischer Erneuerungsideen und faschistischer Ideologie« gelegt. 1 Nietzsches Philosophie und die Bedeutung ihrer Rezeption auf die unterschiedlichen Entwürfe, die nihilistische Krise der christlich-abendländischen Kultur zu überwinden, fand hier Beachtung. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die Individualpsychologie Alfred Adlers und die Analytische Psychologie C. G. Jungs sind als solche Entwürfe zu verstehen. Auf ihre Theoriebildungen nahm auch die Rezeption der Philosophie Nietzsches bedeutenden Einfluss. Um die Erforschung der kulturgeschichtlichen und philosophischen Grundlagen der psychoanalytischen Theoriebildung, insbesondere der auf C. G. Jung zurückgehenden Richtung der Analytischen Psychologie fortsetzen zu können, wurde 2001 der »Arbeitskreis Analytische Psychologie und Philosophie« gegründet. Angeregt durch ihre Forschungen zu Erich Neumanns Beeinflussung durch den jüdischen Nietzscheanismus, warf Angelica Löwe (siehe ihren Beitrag in diesem Buch) in diesem Arbeitskreis das Thema der Nietzsche-Rezeption in der Analytischen Psychologie auf. Sie war die wesentliche Impulsgeberin für ein Symposion, welches der Arbeitskreis 2010 durchführte. Hier wurden noch nicht wissenschaftlich erforschte Zusammenhänge und Verhältnisse zwischen Nietzsches Philosophie, Zionismus, Nationalsozialismus und analytischer Psychologie thematisiert. Aus zeitlichen Gründen musste die Rezeption der Philosophie Nietzsches durch Freud und Adler auf dem Symposion unberücksichtigt bleiben. Umso erfreulicher ist es, diese in dem vorlieVgl. R. Lesmeister u. E. Metzner, Der neue Mensch, in: Analytische Psychologie 32 (2001) 138–157.
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Vorwort
genden Band durch die Beiträge von Almuth Bruder-Bezzel und Günter Gödde hinzufügen zu können. Walter Kaufmann weist darauf hin, dass Nietzsche so sehr Teil des deutschen Lebens geworden sei, dass eine Untersuchung über die Geschichte seines Ruhmes »sich zu einer Kulturgeschichte Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert ausweiten« dürfte. 2 Aschheim fügt hinzu, »die problematische Bedeutung des Einflusses von Nietzsche in Deutschland« liege gerade darin, »dass er sich überall geltend macht, dass er in vielfältiger und oft widersprüchlicher Weise auf den entscheidenden Schauplätzen des politischen wie kulturellen Lebens zutage tritt. Es wäre in der Tat richtiger, nicht von einem, sondern von vielen Einflüssen Nietzsches zu sprechen, die sich im Wandel der Zeiten widerspiegeln«. 3 Aschheim legte die bisher umfassendste Rezeptionsgeschichte zu Nietzsches Werk vor und stellt auch Zusammenhänge zu dessen Einflüssen auf Freud, Adler und Jung dar. Er verweist auf den Nietzscheanismus in den verschiedenen Zirkeln der intellektuellen, künstlerischen und literarischen Avantgarde, die sich im Fin de siècle gebildet hatten. Hier beschäftigte man sich mit den Problemen des Wandels der traditionsgeleiteten zur modernen Gesellschaft. Nietzsches Philosophie galt der Aufklärung, der Gesellschaftsund Kulturkritik, bot aber auch Überwindung und Herausforderung zu einer Entwicklung zum »Übermenschen« an: »Im allgemeinen machten sich diese Kreise zwei Tendenzen im Werk Nietzsches zu eigen, die günstigstenfalls in einem Spannungsverhältnis und schlimmstenfalls in offenem Widerspruch zueinander standen: den dynamischen Entwurf einer radikal gottlosen Selbsterschaffung des Menschen und das dionysische Moment seiner vollständigen Selbstpreisgabe. In beinahe allen Manifestationen der von Nietzsche inspirierten Avantgarde traten diese beiden Tendenzen zutage, die vielen Zeitgenossen durchaus bewusst waren. Autoren wie Ludwig Klages beispielsweise lehnten eine nietzscheanische Selbstschaffung ausdrücklich ab und befürworteten ganz entschieden, was sie für eine dionysische Preisgabe des Selbst im Sinne des Philosophen hielten. Die am weitesten verbreiteten Reaktionen bestanden jedoch darin, entweder die Spannungen zwischen beiden Tendenzen zu verleugnen oder die individualistischen (und so-
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Vgl. S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Stuttgart 2000, 2. Ebd. 2.
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Vorwort
gar antisozialen) Momente mit der Suche nach neuen Formen einer ›Totalen‹ Gemeinschaft verschmelzen zu wollen.« 4 Hier ging es noch nicht um den Nihilismus Nietzsches, wie er – nach Auschwitz – im Poststrukturalismus zentral wurde, sondern vielmehr um die schöpferischen und positiven Aspekte seines Werkes, durch welche der Nihilismus überwunden werden sollte. Auffallend war, wie bei Nietzsche selbst, die unpolitische Haltung seiner Anhänger. Politisches Leben wurde als Banalität abgetan, dagegen standen die Ideale des individuellen und des sozialen Lebens, der Macht und der Kultur. 5 Dies bedingte bei Alfred Adler in den zwanziger Jahren, im Zusammenhang mit der Einführung des »Gemeinschaftssinnes« in seine Psychologie, eine Distanzierung von Nietzsches Philosophie. Hier verhielt er sich wie »viele der frühen Expressionisten, die später Nietzsches antigesellschaftliche Einstellung ablehnten und wieder auf die bindende Macht menschlicher Solidarität vertrauten«. 6 Die Psychoanalyse wurde von Beginn an in engem Kontext zu Nietzsches Philosophie vermutet. H. Ellenberger 7 und G. Gödde 8 stellen ausführlich das Verhältnis Freuds zu Nietzsche dar. Aschheim formuliert die Affinität zwischen Freud und Nietzsche: »Beiden ging es darum, auf teleologische und metaphysische Erklärungen zu verzichten und tiefergehende Regungen zu demaskieren. Beide betonten die Notwendigkeit einer ›Selbsterschaffung‹ des Menschen (auch wenn sie darunter jeweils etwas anderes verstanden). Beide formulierten, wie Jung bemerkte, eine grundlegende Kritik an ihrer eigenen Zeit und suchten nach einer Antwort auf die Krankheit des 19. Jahrhunderts«. 9 Erwähnt werden auch die Unterschiede. Bei Freud erscheine das Unbewusste demokratisiert: »Das Projekt einer ›Selbsterschaffung‹ des Menschen bleibt bei ihm, anders als bei Nietzsche, nicht auf einige wenige beschränkt.« Freud habe im Gegensatz zu Nietzsche und seinen Anhängern darauf bestanden, dass sich seine Untersuchungen in einem »wissenschaftlichen Rahmen« bewegten. 10 C. G. Jung sieht in Nietzsche, gerade weil Freud eher individualisEbd. 52. Vgl. ebd. 53. 6 Ebd. 71. 7 Vgl. Die Entdeckung des Unbewussten. Bern 1973. 8 Vgl. Traditionslinien des Unbewussten. Tübingen 1999. 9 Vgl. S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, a. a. O., 54. 10 Ebd. 55. 4 5
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Vorwort
tisch und rationalistisch eingestellt war, den scharfsichtigeren und auf eine tiefere Wirklichkeit eingestimmten Denker: »Es ist eine große Entdeckung, dass es unter oder neben der eigenen Psyche, dem eigenen Bewusstsein oder Geist eine andere Intelligenz gibt, die man selbst nicht gemacht hat und von der man abhängig ist. Wie Sie sehen, besteht Freuds große Angst darin, dass es etwas außerhalb geben könnte, was nicht Ich ist. Wer behaupten wollte, dass es außerhalb des eigenen Geistes eine größere Intelligenz gibt, der müsste verrückt sein. Eben wie Nietzsche. Doch zu Freuds Unglück war Nietzsche nicht der einzige, dem solche Gedanken gekommen waren. Vielmehr waren Jahrtausende vor Nietzsche davon überzeugt, dass die Intelligenz des Menschen nicht das letzte Wort ist, dass auch sein Geist hervorgegangen ist aus etwas, das im Jenseits bleibt – dass wir uns also nicht machen, sondern gemacht werden. Ihr Geist ist nicht der Schöpfergott, der eine Welt als ganzes hervorgehen lässt aus dem Nichts. Er ist seinerseits vorbereitet und hergestellt. Dem Bewusstsein voraus liegt ein Unbewusstes, aus dem es einst entstanden ist. Und das ist eine Intelligenz, die gewiss grenzenlos über die unsere hinausreicht.« 11 Arnold Zweig setzt entgegen, Freud habe gerade das Verlangen gehabt, sich das Unbewusste nutzbar zu machen, es zu behandeln wie es zu verstehen. Damit habe er sich gegenüber Nietzsche einen Vorteil verschafft. Zweig schreibt an Freud: »Ich sehe nämlich die Sache so, dass Sie alles getan haben, was Nietzsche intuitiv als Aufgabe empfand, ohne jedoch imstande zu sein, es mit seinem von genialen Inspirationen durchleuchteten Dichteridealismus auch wirklich zu erreichen. Er versuchte, die ›Geburt der Tragödie‹ zu gestalten, Sie haben es in ›Totem und Tabu‹ getan, er ersehnte ein ›Jenseits von Gut und Böse‹, Sie haben durch die Analyse ein Reich aufgedeckt, auf das zunächst einmal dieser Satz passt. Die Analyse hat sich alle Werte umgewertet, sie hat das Christentum überwunden, sie hat den wahren Antichrist gestaltet und den Genius des aufsteigenden Lebens vom asketischen Ideal befreit. Sie hat den Willen zur Macht auf das zurückgeführt, was ihm zu Grunde liegt … und, dank der Tatsache, dass Sie ein Naturforscher sind und ein Schritt für Schritt vorwärtsgehender Psychologe dazu, das erreicht, was Nietzsche gern vollbracht hätte: die wissenC. G. Jung, Nietzsches Zarathustra: Notes of the Seminar given in 1934–1939 (Hg. J. J. Jarret), 2 Bände. Princeton N.J. 1988, hier Band 1, 370 f., zit. S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, a. a. O., 55.
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Vorwort
schaftliche Beschreibung und Verständlichmachung der menschlichen Seele – und darüber hinaus, da Sie ja Arzt sind, ihre Regulierbarkeit, den heilenden Eingriff gelehrt und geschaffen«. 12 In dem vorliegenden Buch wird der Versuch unternommen, die Aufklärung des Verhältnisses zwischen Nietzsches Philosophie und tiefenpsychologischer Theoriebildung zu vertiefen. Dabei kann es sich nur um fragmentarische Ansätze handeln, die einer Fortführung bedürfen. Harald Seubert führt mit einem Beitrag über Hermeneutik von Rezeption ein. Nietzsches eigene Betrachtungen zum »Verstehen« werden vorgestellt, auf im Denk-Text angelegte Verzerrungen hingewiesen. In jeder neuen Lesart sei auch Unerwartetes über den zugrundeliegenden Text selbst zu erkennen. Ausführlich wird die Nietzscherezeption der NS- Zeit behandelt. Der Autor versteht in »diesen Verhunzungen den verzerrten Nietzsche, den Fehlschlag seines gewagtesten Gedankenexperimentes und eben nicht einfach etwas, das mit ihm nichts zu tun hätte«. Anschließend wird Nietzsches Denken in unvermittelten Dichotomien und Gegen-Begriffen dargelegt. Oberfläche und Tiefe, Bewusstsein und Unbewusstes, erfahren in gleicher Weise Bedeutung. Hinter den ›guten‹ Tendenzen werde der Willen zur Macht gewahr. Der Verlust einer »wahren Welt« bei gleichzeitiger Insistenz auf Wahrhaftigkeit fordere ein Ertragen der Gegensätzlichkeit zwischen Wahrhaftigkeit und Auslöschung der Differenz von wahr und falsch. Es bestehe eine Antithetik von Erinnerung und Vergessen. Bringe der Willen zur Macht im Zeit übergreifenden Gedächtnis auch das Ressentiment hervor, so sei er doch unerlässlich, um das Bleibende, die Wiederkehr des Gleichen, zu stiften. Nach Ausführungen zu Nietzsches Verhältnis zum Judentum und seiner Neuen Ethik verweist Seubert nochmals auf Probleme der Rezeption. Nietzsche könne nicht in die Geschichte des deutschen Irrationalismusproblems und der Genealogie einer »Zerstörung der Vernunft« einbezogen werden. Die Vernunft bleibe auf Nietzsche verwiesen. Der aus Frankreich zurückkehrende, semiotisch gebrochene Nietzsche ließe in immer weitergehender Textualisierung tausend Zeichen erkennen, in den Zeichen aber keine Welt. Nietzsche werfe noch immer Fragen auf. Er unternehme das Wagnis der Doppelexistenz des 12 Sigmund Freud und Arnold Zweig, Briefwechsel. Frankfurt/M., 1968, 35 f., zit. ebd. 56.
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Vorwort
Mythologen und des psychologisch tiefenpsychologischen Entzauberers der Mythologie. Er nehme dabei die Ambivalenz der Moderne auf. Nietzsche als »Aristoteles der Moderne« verweise auf die Unhintergehbarkeit der letzten Fragen am Grund. Mit dem folgenden Beitrag rückt die Rezeption der Philosophie Nietzsches durch die Gründerväter der Tiefenpsychologie in den Fokus. Im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses geht Günter Gödde in seinem Beitrag den Fragen nach, inwieweit Nietzsches Moral- und Gewissenspsychologie die Grundlage für Freuds Konzeptualisierung des Gewissens bilde. Strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen beiden werden untersucht und Folgerungen für eine Auseinandersetzung zwischen der gegenwärtigen Psychoanalyse und der Nietzsche-Forschung formuliert. Bedeutsam erscheint Göddes Anregung, Psychoanalyse und Nietzsche-Forschung sollten sich aufeinander zu bewegen. Die nach wie vor virulenten Berührungsängste gelte es abzubauen, um Nietzsche als einen geistig Verwandten und in vieler Hinsicht Verbündeten, aber auch als einen Herausforderer und Gegenspieler neu zu entdecken. Freud habe mit seinem »szientistischen Selbstmissverständnis« (Habermas) auf die am Perspektivismus und Konstruktivismus orientierte Nietzsche-Forschung lange Zeit abschreckend gewirkt. Einiges an den anthropologischen Prämissen von Freuds Gewissenstheorie lasse sich anzweifeln, und neuere Erkenntnisse der psychoanalytischen Forschung ermöglichten einen Brückenschlag zu Nietzsches Entwürfen für ein gewandeltes und befreites Gewissen. Gödde sieht in den Werken Nietzsches und Freuds gewaltige Schatzkammern, in denen noch viel zu entdecken sei. Almuth Bruder-Bezzel stellt die Beziehung zwischen den Werken Alfred Adlers und Nietzsches dar. Im Verhältnis zur sehr umfangreichen Literatur Freud/Nietzsche, falle die Literatur zum Verhältnis Adler/Nietzsche nur spärlich aus. Dies erstaune, da es als selbstverständlich gelte, Adler zu Nietzsche in einen mehr oder weniger engen Zusammenhang zu bringen. Adler habe Nietzsche als eine »tragende Säule« seiner Theorie bezeichnet und vor allem der Dimension der »Macht« in seiner Theorie einen zentralen Stellenwert eingeräumt. Adlers Dissidenz oder Freuds Rausschmiss von Adler ebenso wie die Dissidenz von C. G. Jung werden im Zusammenhang mit Nietzsche vermutet. Bruder-Bezzel stellt in übersichtlicher und klarer Form in einem ersten Teil chronologisch Nietzsche-Bezüge in Adlers Werkabfolge dar. In einem zweiten Teil werden Spuren Nietzsches in den 12 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Vorwort
zentralen Topoi der Adlerschen Psychologie skizziert: Kompensation, Wille zur Macht, Streben nach Vollkommenheit und das Schöpferische. Der Einfluss Nietzsches auf Adler selbst dürfe jedoch nicht überschätzt werden. Vor allem in ihrem sozialen und politisch geprägten Menschenbild gebe es erhebliche Differenzen. Von den drei Begründern der Psychoanalyse bekannte sich C. G. Jung am stärksten zu Nietzsche. Als Student von den ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹ »restlos begeistert«, versetzte ihn die Zarathustralektüre in Schrecken: »wie mir der Faust eine Tür öffnete, so schlug mir ›Zarathustra‹ eine zu, und dies gründlich und auf lange Zeit hinaus«. 13 Über 20 Jahre später, in einer von Faschismus und Nationalsozialismus durchdrungenen Atmosphäre, hielt Jung von 1934–39 über 6 Jahre seine Zarathustra-Seminare in englischer Sprache. Für ihn war Nietzsches ›Zarathustra‹ eine Gestalt, an der er interpretatorisch seine Lehre vom kollektiven Unbewussten entfalten konnte. Nietzsches Zarathustra erregte auch das Interesse der Nationalsozialisten. Da die Psychologie C. G. Jungs mit der NS-Ideologie kompatibler schien als Freuds Psychoanalyse und dem Reichsleiter des »Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie«, Matthias Heinrich Göring, die Möglichkeit bot, »die jüdisch-marxistisch verseuchte Psychoanalyse und die Adlersche Individualpsychologie durch Verschmelzung mit der Jungschen Lehre zu einer an diesem Institut zu entwickelnden nationalsozialistisch orientierten ›Deutschen Seelenkunde‹ zu ersetzen«, 14 legte der »Arbeitskreis Analytische Psychologie und Philosophie« immer wieder einen besonderen Schwerpunkt auf die Erforschung der kulturgeschichtlichen Hintergründe des Phänomens, welche die Psychologie C. G. Jungs mit der NS-Ideologie kompatibel zu machen scheinen. Michael Lindners Beitrag ist Jungs Zarathustra-Seminaren gewidmet. Im Gegensatz zur Neigung der Philosophen, in Nietzsches Zarathustra das Ergebnis eines souveränen Denkakts zu sehen, wird die These vertreten, Nietzsche sei einem archetypischen Geschehen erlegen, welches er nicht durchschaute. Jung sehe Nietzsches geistige Erkrankung nicht als Resultat einer organischen Gehirnveränderung, sondern als Ergebnis einer Inflationierung seines Bewusstseins durch Zit. A. Jaffe, Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Freiburg 1977, 108 ff. J. Grunert, Zur Geschichte der Psychoanalyse in München, in: Psyche 38 (1984) 865– 904. 13 14
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Vorwort
den Archetyp. Nietzsche werde als »pathologische Persönlichkeit« verstanden, sein ›Zarathustra‹ als großer intuitiver Versuch einer Selbstanalyse, aber ohne Gewinn an bewussten Einsichten. Die starke Abgrenzung, die Jung Nietzsche gegenüber vornehme, könne auch als Abwehr der Einsicht interpretiert werden, wie viel die Jungsche Psychologie Nietzsche verdanke. Es liege offenbar eine »Doppelgängerscheu« vor: Nietzsche und Jung als abtrünnige Pfarrerssöhne, lebenslang von Gott verfolgt, dem christlichen Gott im Hass verbunden. Erich Neumann, der bedeutendste Schüler C. G. Jungs, war maßgeblich an der Weiterentwicklung der Analytischen Psychologie beteiligt. Angelica Löwe konnte in bisher unveröffentlichten Quellen wichtige Hinweise über die Beschäftigung Neumanns mit der jüdischen Identitätsthematik im Horizont der Psychologie C. G. Jungs finden, welche sich in dessen bisher ediertem Werk allenfalls spurenhaft nachweisen lassen. In der ›Jüdischen Rundschau‹ 15 schrieb Neumann: »Die jungsche Psychologe wird entscheidend sein bei der Bemühung der Juden, zu ihren Fundamenten zu kommen. Der ›zionistische‹ Charakter seiner Erkenntnisse, die eben wie der Zionismus das Irrationale des schöpferischen Urgrundes mit einbeziehen, wird hier wegweisend wirken.« Um das Werk Erich Neumanns, in welchem Nietzsches Philosophie mit Chassidischer Lehre und der Analytischen Psychologie C. G. Jungs verwoben ist, besser erschließen zu können, wird den beiden Arbeiten zu seiner Tiefenpsychologie Daniel Krochmalniks Beitrag zum Jüdischen Nietzscheanismus vorangestellt. Nach einer Darstellung der Nietzsche- Impulse auf jüdische Intellektuelle um 1900 wird die für den Jüdischen Nietzscheanismus zentrale Ausdrucksform der Counter-History erläutert. Bezogen auf Nietzsches Schrift ›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben‹ werden die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Counter-History an Beispielen aus Werken jüdischen Nietzscheanismus’ entfaltet. Kriterium der Counter-History der jüdischen Nietzscheaner sei die Umwertung aller Werte; sie betrachteten sich als Brecher der alten Tafeln und Stifter neuer oder vielmehr als Entdecker uralter, verborgener Tafeln. Im Antichrist werde die Geschichte Israels als Paradigma der »Entnatürlichung der Natur-Werte« dargestellt. Jüdische Nietzscheaner forderten eine Entlarvung der großen Geschichtsfälschung, die aus der 15
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Vorwort
großen Zeit Israels eine Sünde mache, für die Israel mit dem Exil büße. Die jüdischen Nietzscheaner wollten die Umkehrung der Werte wieder umkehren und durch die doppelte Negation das ursprüngliche, natürliche Leben wiederfinden; die Kritik der jüdischen Geschichte im jüdischen Nietzscheanismus stimme sehr mit der nietzscheanischen Kritik der Geschichte überein: Geschichte werde als Anschlag auf das Leben betrachtet; jüdischer Nietzscheanismus sehe sich als auftrumpfende Behauptung der jüdischen Identität gegen die schuldbewusste Tradition und die verschämte Assimilation. Abschließend geht Krochmalnik auf das Verhältnis zwischen jüdischem Nietzscheanismus und der zionistischen Kulturrevolution ein. Im Zionismus sei Kritik der Geschichte üblich; die Diaspora werde verneint, eine Überwindung der Diasporajuden gefordert. Jüdische Nietzscheaner gingen in einem Punkt weiter als die üblichen Zionisten: sie forderten mit der Verneinung des Exils auch die Verneigung der Ursachen des Exils, erstrebten eine Anknüpfung an eine vorexilische Religion. Sie gaben den guten Juden die Schuld am Exil, die Entfremdung der Juden von der Erde, vom Leben, von der Natur. Die Counter-History der jüdischen Nietzscheaner sei eine extreme Erscheinung der nationalistischen Umwertung aller jüdischen Werte: Nietzsche sei hier Prophet und Lehrer Israels wider das Judentum. Der jüdische Nietzscheanismus könnte die Frage erhellen, warum einige jüdische Psychoanalytiker sich mehr zur Analytischen Psychologie C. G. Jungs hingezogen fühlten als zur Psychoanalyse Freuds oder zur Individualpsychologie Alfred Adlers. So hatte sich Erich Neumann gewünscht, in seinen Arbeiten über die jüdische Religion von Jung unterstützt zu werden. Jung gewährte ihm diese Hilfe nicht, vermutlich aus eigener Inkompetenz in Fragen jüdischer Religion, wie er an einigen Stellen bemerkte. Jung selbst hatte einen christlich-jüdischen Dialog mit Leo Baeck, Martin Buber und Gershom Scholem begonnen, der nicht weitergeführt worden ist. Angelica Löwes Beitrag weist auf ein Bemühen hin, die Fäden zu diesem Dialog wieder aufzugreifen. Sie reflektiert Erich Neumanns ›Tiefenpsychologie und Neue Ethik‹, geschrieben nach Auschwitz, im Kontext jüdischer Nietzscherezeption. Die soziobiographische Einführung zeigt auf, dass Neumanns Denken sowohl vom Werk C. G. Jungs als auch vom Jüdischen Nietzscheanismus bestimmt ist. Neumanns tiefenpsychologische Erklärung des Versagens der alten Ethik und die sich daraus ergebenden Symptome werden dargelegt. Er setze unter15 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Vorwort
schiedliche moralische Entwicklungsstufen in ein Verhältnis dazu: dem Gewissen als Repräsentanten des kollektiven Über-Ichs werde die höher entwickelte Instanz der »Stimme« als Ausdruck innerer Offenbarung des Neuen gegenübergestellt. Löwe rekurriert auf die von Krochmalnik dargestellte Rezeptionsgeschichte Nietzsches und ihrer Bedeutung für Neumann. Nietzsches Blick begleite nicht nur Neumanns Entwurf einer Tiefenpsychologie des jüdischen Menschen, sondern zeige sich auch in grundsätzlichen Gedanken seiner ›Neuen Ethik‹. Diese werde als Transposition von Neumanns Nietzsche -Lektüre verstanden, insbesondere des ›Zarathustra‹. Individuelle biographische Bezüge in Form eines Vater-Sohn-Konfliktes werden in Betracht gezogen. Löwe stellt drei für Neumanns Ethik wesentliche begriffliche Kontrastpaarungen dar: Gewissen – Stimme, Vater – Sohn, der hässlichste Mensch. Für Neumann führe das Leben in seinem Verwiesensein auf Leib, Erde und Natur, die für ihn heilende Aspekte der eigenen psychischen Tiefe, die »Tiefe des eigenen Urgrunds« repräsentieren, unweigerlich zur Frage des Bösen, welches zugleich die Ausgangsfrage der Ethik gewesen sei. Die ›Neue Ethik‹ erweitere die Verantwortung der Persönlichkeit auf das Unbewusste, wenigstens auf den persönlichen Anteil des Unbewussten, welchen die Schattenfigur beinhalte. Neumann habe mit seiner ›Neuen Ethik‹ die Züricher Jungianer irritiert, es wurde ihm ein »alttestamentarischer Standpunkt« vorgeworfen. Er war verblüfft und bezeichnete die Reaktion als »geistige Unredlichkeit«. Sein Hauptvorwurf richte sich gegen die seiner Meinung nach falsch verstandene Funktion des Unbewussten. Zu dieser heftigen Kontroverse von damals sowie zur Thematik der Verständigung über Konzepte von Moral und Ethik zwischen Jung und Neumann gebe es aufgrund des unveröffentlichten Materials bislang noch keine Debatte. Jung selbst sei von der Idee einer »radikalen Individualisierung der Ethik« ergriffen gewesen. Im letzten Beitrag führt Eckhard Frick in Neumanns Anthropologie der Kreativität ein. Zunächst wird Nietzsches »Übermensch« und dessen Bezug zum Schöpferischen vorgestellt. Kreativität bedeute für Nietzsche Opposition gegenüber einem Christentum, das nihilistischlebensverachtend dem Willen zur Macht entgegenstehe, und Hinwendung zum Dionysos-Mythos. Neu bewerte er Mühe und Schmerz, für den schöpferischen Prozess charakteristisch, der sich durch Verlust und Zerstörung auszeichne. Neumann betone in seiner Anthropologie des Schöpferischen die Angewiesenheit des Ichs auf ein Nicht-Ich, ein 16 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Vorwort
Selbst sei Garant zum Kontakt der Einheitswirklichkeit, zum schöpferischen Ursprung. Neumann verbinde diese Idee mit dem chassidischen Mythos von den göttlichen Funken. Der Mensch sei hier nicht nur Geschöpf, sondern auch Schöpfer Gottes, Gott nicht nur das vollkommene Wesen, sondern auch in Entstehung. Diese Qualität komme jedem Menschen zu: jede und jeder sei Adam: schöpferisches Geschöpf, im Akt der Namensgebung das wesenhaft Begegnende mit dem Du ausdrückend. Der für das semitische Denken zentrale Begriff der »Lebendigkeit« werde betont. Die schöpferische Qualität des Ich werde hervorgehoben und die Notwendigkeit, dessen Ebenbildlichkeit wiederherzustellen. Der schöpferische Einzelne sei nie isoliert, sondern immer auf seine Gruppe, auf das Ganze der Menschheit bezogen. Er sei ein Gefährdeter. Schöpferische Psychotherapie stelle demütig die Ich-Selbst-Achse wieder her, die jungianischen Konstrukte Persona, Schatten, Animus und Anima seien dafür hilfreich. Neumann verweise auf die Erfahrung des Chassidismus von der Unfestgelegtheit der Welt und Menschen. Das »Neu-an-jedem-Tag« sei eine Revolution von ungeahntem Ausmaß gerade für das Judentum. Im Chassidismus bestehe Möglichkeit, zur schöpferischen Natur der Seele zurückzukehren. Im Gegensatz zu Nietzsche, dessen schöpferischer Mensch als Übergang, als ein vom Untergang bedrohter zu sehen sei, beziehe sich Neumann in seiner Einschätzung des schöpferischen Menschen auf Hölderlins Satz: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Die Beiträge dieses Buches verdeutlichen den eminenten Einfluss Nietzsches auf die Theoriebildungen Freuds, Adlers und Jungs trotz deren Heterogenität. Dieser Einfluss wurde sowohl anerkannt als auch verleugnet oder einfach nicht wahrgenommen. Möglich scheint ein Verständnis dafür nur durch die »Offenheit und umgestaltende Kraft im Erbe Nietzsches zu sein.«16 Die vielfältigen Möglichkeiten, Nietzsche zu verstehen und sich auf seine Lehren zu beziehen, konnten auf dem Feld der tiefenpsychologischen Schulen nachgewiesen werden. Für Freud war Nietzsche als Aufklärer wesentlich. Freud stützte sich in seinen Arbeiten über die Auswirkung der Moral auf Individuum und Gesellschaft auf Nietzsches Analysen, entwickelte sie weiter und fand auch Distanz zu ihnen. Auch für Adler war Nietzsches aufklärerischer Blick das zentrale Moment: die Analyse von Machtstrukturen und de16
S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, a. a. O., 4.
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Vorwort
ren destruktive Wirkung. Jung hingegen fand im Zarathustra seinen Individuationsgedanken bestätigt. Wie für Neumann spielten für ihn die von Nietzsche hervorgehobenen schöpferischen Aspekte zur Heilung vom alten, kranken und zur Entwicklung des neuen, gesunden (Über)Menschen eine zentrale Rolle. Das vorliegende Buch soll Anregung geben, den von Günter Gödde geforderten Dialog zwischen der nietzscheanischen Philosophie und der Psychoanalyse zu begünstigen, ebenso wie den von Angelica Löwe erneut aufgegriffenen christlich-jüdischen Dialog fortzuführen. Durch ihren und Daniel Krochmalniks Beitrag wird deutlich, wie sehr dieser Dialog von Nietzsches Philosophie beeinflusst worden ist. Abschließend soll den Autoren für ihre engagierte Mitarbeit und den fachlichen Austausch gedankt werden. Der Wilhelm-Bitter-Stiftung gilt Dank für die finanzielle Unterstützung des Symposions. Mit diesen Mitteln konnte die Veröffentlichung dieses Tagungsbandes ermöglicht werden. Dank gilt ebenfalls der Hochschule für Philosophie München, die als Mitveranstalterin dem Symposion durch ihre Tagungsräumlichkeiten einen würdigen Rahmen zur Verfügung gestellt hat. Dem C. G. Jung-Institut München als Mitveranstalterin sei gedankt für die Übernahme der Organisation. Ausdrücklicher Dank gilt hier Christine Bahnsch für ihr großes Engagement Elke Metzner
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Harald Seubert
›Verwechselt mich vor Allem nicht!‹ Nietzsches Text-Partitur und ihre Realisationen. Grundprobleme einer Hermeneutik von Rezeption 1
I.
Vom Verstehen
(1) Nicht verwechselt zu werden, war Nietzsches ständige Forderung, so als hätte er geahnt, dass die Vielgestaltigkeit und Diversität der Nietzsche-Lesarten (Alfons Reckermann), 2 dieses Irisieren und oft auch die Verfälschung, ein Grundzug der Rezeption sein werde. Angelegt war dieser Zug in Nietzsches perspektivischem Denken. Denn unstrittig legt Nietzsche umgekehrt Verwechslungen nahe und provoziert sie in seiner rhetorisch philosophischen Schreibweise; Nietzsches Einzigartigkeit zeigt sich in dieser Ambivalenz. Sie zu erkennen, bedeutet immer, hinter die Masken zu blicken. Wenn man das Kaleidoskop von Nietzsche-Lesarten aus dem im engeren Sinne philosophisch hermeneutischen Zusammenhang löst und auf die reale Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts bezieht, kommt man, wie das Buch Steven Aschheims ›Nietzsche und die Deutschen‹ (1996) eindrücklich zeigt, in ideologieund ideengeschichtlicher Perspektive noch auf viel weitergehende, bedrückende Untiefen: Sie reichen von der avantgardistischen Anverwandlung über den ›Schützengraben-Nietzscheanismus‹ des Ersten Weltkriegs bis in Ausbildungen eines genuin Nietzscheschen Sozialis-
Die Struktur und Systematik des vorliegenden Beitrags richtet sich nach dem Tableau des nachfolgenden Symposions und damit auch dieses Bandes. Man wird bemerken, dass ich sie nicht immer argumentativ begründet habe. Dies würde den Rahmen sprengen. Ich deute die Ligaturen mitunter eher metaphorisch, im Sinne Hans Blumenbergs: in einer Schwebe zwischen Begrifflichkeit und Unbegrifflickeit, an. Eine Nietzsche-Monographie aus meiner Feder soll in absehbarer Zeit manche Züge im Detail sichtbar machen. 2 A. Reckermann, Lesarten der Philosophie Nietzsches. Ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960–2000. Berlin 2003. 1
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mus. 3 Die Nietzsche-Pflege aus der Villa Silberblick mit dem kupierten und verhunzten, auf den vulgären ›Willen zur Macht‹ gebrachten Nietzsche markiert ein vorläufiges Ende, das noch immer seinen Schatten wirft. Umso mehr muss man fragen, wie sich Text und Rezeption zueinander verhalten. Die Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer begreift den Text, die fixierte Partitur eines vergangenen lebendigen Geistvollzuges, als Ermöglichung eines unendlichen Gesprächs; das Überlieferungsgeschick ist voller Vorurteile, ohne die umgekehrt Verstehen nicht möglich wäre. Die Suche nach Vorurteilsfreiheit, diesem Nullpunkt des Verstehens, ist also bestenfalls eine Illusion. Der junge Nietzsche hat es schärfer, aber im selben Sinn formuliert: »Jedes Wort ist ein Vorurteil«. 4 Was ein Text an inneren Dimensionen und Horizonten enthält, entspinnt und entwickelt sich erst sukzessive in der Genese seiner Rezeption. Tendenziell sind diese Realisierungen unendlich. Von dieser Einsicht ist es nicht weit zu Nietzsches schönem Sinnbild für das Verstehen: dem Stein, der an einem Punkt in ein Wasser geworfen wird und vielfache, konzentrische Kreise nach sich zieht. Ein anderes Bild ist jenes vom perspektivischen Verstehen. Man versteht so, wie man ein Basrelief oder eine Säule umwandernd, neue Facetten in den Blick bekommt, zugleich aber früher Wahrgenommenes aus dem Blick schwindet oder zurücktritt. Doch den hermeneutischen Garanten einer Kontinuität, die verhindert, dass der Gesprächsfaden je reißt, kennt Nietzsche nicht, anders als Gadamer, der mit seinem ›Vorgriff auf Vollkommenheit‹ eher in klassizistischen Bahnen blieb. 5 Nicht die Entwicklung ist Nietzsches Grundmodell des Verstehens, aber auch nicht die Emphase augenblicklichen Ineins-Seins, jener Absolutpunkt, mit dem der Zeitenabstand wie in einer Kristallisation ausgelöscht scheint. Eher schon folgt er dem großen Schleiermacher, der den Traum vom unbedingten Verstehen verband mit dem Blick in die Abgründe des Nicht-Verstehens, dem
S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart, Weimar 1996, 168 ff. 4 Vgl. dazu den Sammelband: M. Riedel (Hg.), ›Jedes Wort ist ein Vorurteil‹. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken. Köln, Weimar, Wien 1999 (Collegium Hermeneuticum Band 1). 5 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1986 (Gesammelte Werke Band 1), insbes. 346 ff. 3
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anderen Extrempunkt des völligen Dunkels. Zwischen beiden Extrema entfaltet sich Verstehen in einer ›unendlichen Annäherung‹. 6 (2) In der ›Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung‹ hat Nietzsche Verstehen als ein großes und hohes Gespräch unter Wenigen Seltenen begriffen, eine Zwiesprache der Lebenden mit den Toten. Dies geschieht namentlich in der monumentalischen Historie (von lat. monere: mahnen), die in der archivalisch antiquarischen Art der Historie, die es bei dem Bewahren belässt, und in der kritischen Historie nach Art des modernen Philologen, der destruiert und dekomponiert, ihre Neben- und Vorgestalten hat. 7 Mit Nietzsche haben wir freilich allen Grund, auch den Destruktionen und Emanzipationen zu misstrauen; denn auch in ihnen sedimentieren sich Vorurteile. Ich will im Folgenden den Versuch unternehmen, einige Ankerpunkte zu einem Verständnis des großen Philosophen-Philologen zu exponieren. Dabei sollen wie in einem Vorklang von Nietzsche her die Themen angedeutet werden, die in den anderen Beiträgen entfaltet werden: die durchaus strittigen Anklänge an eine jüdische Nietzscherezeption bei Nietzsche selbst; die Einsatzstellen für eine tiefenpsychologische und auf den Mythos orientierte Nietzsche-Lesart, die ›neue Ethik‹, die den Abgrund und das Böse nicht ausschließt, sondern einbezieht und schließlich das Feld Nietzscheschen Ethos der Selbst-Formung, der über sich hinausweisenden Deutung des Menschen, die in engem Zusammenhang mit der Artistenmetaphysik und der ›Vis creatrix‹ des Übermenschen zu sehen ist. Nicht zuletzt wird aber auch die Problematik des traumatischen nationalsozialistischen Schattens, der sich mit der Nietzsche-Rezeption und dem Jungianismus verbindet, mit in Rede stehen. Davon ist nicht abzusehen, wenn es um tiefenpsychologische Nietzsche-Anverwandlung jüdischer Denker wie Erich Neumanns geht, die zugleich profilierte Jung-Schüler waren. (3) Der renommierte Erforscher der Renaissancephilosophie Stephan Otto, hat in einem zu wenig rezipierten grundlegenden Werk darauf hingewiesen, in einer Rezeption Darstellbares müsse in den Texten, auf die es sich bezieht, auch bereits dargestellt sein, DargestellVgl. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt/Main 1977. Dazu auch M. Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher. Frankfurt/Main 2 1985. 7 Vgl. Nietzsche, Zweite unzeitgemäße Betrachtung KSA 1, insbes. 258 ff. 6
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tes auch in den Wirkungen irgend darstellbar. 8 Wenn man auch Interpretationen und Rezeptionen kaum einfach falsifizieren kann (wie naturwissenschaftliche Hypothesen), wenn auch gerade im Missverstehen oder Danebenzielen hohe spekulative Potenziale liegen können, so muss doch auch die Verzerrung im Text angelegt sein. Jede neue Lesart gibt damit auch Unerwartetes über den zugrundeliegenden Text selbst zu erkennen. Dies ist eine kleinere, präzisere und realistischere Münze als der ›Vorgriff auf Vollkommenheit‹ der Gadamerschen Hermeneutik. Und damit ist sie dem Verhältnis Nietzscheschen Denkens zu seiner Rezeptionsgeschichte angemessen, die doch in eklatanter Weise Verfälschung war und von der Albert Camus zu Recht sagte: »niemals wird man das Unrecht gut machen können, das man ihm (Nietzsche) angetan hat.« 9 Das ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Denn umgekehrt wurde Nietzsche auch Ehre angetan, in einem Denken contre coeur, und nicht zuletzt in den Konstellationen, die heute mit der jüdischen Rezeption in Rede stehen. Eines sollte man dabei stets im Blick haben: Der Text Nietzsches ist immer zugleich die Auslegung des Selbst und der Welt. Die destruierende Operation des Philologen im historistischen Zeitalter ist ihm zweite Natur geworden. Deshalb konnte es nicht bei dem ›alles zermalmenden‹ Philologen bleiben. Er musste nach einer neuen plastischen Kraft suchen. 10 Von der Destruktion als dem Kern von Nietzsches Denken ist damit nichts zurückgenommen. Der Genealoge der Moral wurde indes zugleich Mythologe, Selbst-Entwerfer und er blieb Psychologe: Untröstlichkeit und letzter Röntgenblick. An der Philologie und dem historistischen Zeitalter, dem sie zugehört, hat Nietzsche vor allem kritisiert, dass ein Gedächtnis, das nicht vergessen kann, zu jedwedem Selbstentwurf unfähig macht. 11 Nietzsche ist mithin von früh an auf der Suche nach diesem bildenden Vermögen gewesen. Dabei ist er, wenn man alles andere abzieht, Denker einer unvermittelten, ja unvermittelbaren Differenz! Er spricht von Dazu S. Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft. Zweiter Teil. München 1992, insbes. 29 f. u. 77 ff. 9 Zit. nach M. Riedel, Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama. Leipzig 1997, Umschlag. 10 Vgl. Nietzsche, KSA 1, 251 ff. 11 Vgl. dazu neben der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung passim auch Nietzsche, Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, KSA 1, 641 ff. 8
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der ›Leuchtkraft starker Gegenbegriffe‹. Sie haben bis heute fasziniert und zugleich vor den Kopf gestoßen. Im Sinn des Torweggleichnisses und des Gedankens, den Nietzsche als den ›abgründlichsten Gedanken‹ auszeichnete: eben der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹, ist dies, sich selbst ins Auge zu blicken, selbst gegen sich zu denken, geradezu der Dreh- und Angelpunkt von Nietzsches Selbstverständnis. Nietzsche bringt jene Gegen-Begriffe nicht in einen dialektischen Begriffszusammenhang. Sie divergieren aber auch nicht in einfach postmodernen Differenzen. (4) Die Lesarten und die Rezeptionsweisen, nach denen man Nietzsche auffassen kann, unterliegen rapiden Revisionen, je nach dem, welcher Linie der starken Gegenbegriffe sie sich anvertrauen: Die Extreme werden bezeichnet durch den Ausgang von Nietzsches ›Lehren‹ einerseits, vielleicht in der Variante seines ›Systems‹, der kohärenten Bauform seiner Metaphysik und einem bloßen Text- und Zeichengefüge andrerseits. Nietzsche wollte dezidiert ›gelesen‹ sein: ein Philosoph der Schrift, nicht des sokratischen Dialoges. Die Lektüre sollte aber gleichsam ›vokalisiert‹ werden. Sie sollte in Musik, Rhythmus, Metrum zurückverwandelt werden, die im Zeichengefüge stumm angedeutet sind, weshalb Nietzsche an die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Gedanken erinnerte. 12 Jene Verkennung der inneren Musikalität hat Nietzsche als Barbarei des modernen in der technomorphen Welt ›rasenden‹ Europäers begriffen. 13 Fokussiert sind diese Linien dadurch, dass Nietzsche Selbstdeutungen vorgegeben hat, wie jene von den drei Verwandlungen des Geistes im ›Zarathustra‹ : In der ersten Verwandlung ist der Geist Kamel, ›tragsam‹, aufnehmend, Eigenes und Fremdes liebend; in der zweiten wird er zum Löwen, der auch noch das ihm nächste und Liebste zerreißt und verschlingt. Diese Gewaltsamkeit schreit aus Nietzsches Texten mitunter grell heraus. Schließlich aber wird der Geist, in Erinnerung an eine Figur bei dem Vorsokratiker Heraklit, zum spielenden 12 Vgl. dazu u. a. die Vorreden Nietzsches zu ›Menschliches Allzumenschliches‹ und zu ›Fröhliche Wissenschaft‹. Eine übersichtliche Zusammenstellung in der Edition: F. Nietzsche, Ecce auctor. Die Vorreden von 1886, herausgegeben und eingeleitet von C.-A. Scheier. Hamburg 1990. 13 Dazu vor allem Menschliches Allzumenschliches. Fünftes Hauptstück: Anzeichen höherer und niederer Cultur, KSA 2, 187 ff. Sechstes Hauptstück: Der Mensch im Verkehr, KSA 2, 239 ff.
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Kind (PAIS PAIZON), in einer neuen Unschuld des Werdens, einer Hinnahme seiner selbst. 14 In den großen Gedanken-Kristallisationen wie ›amor fati‹ oder der ›ewigen Wiederkehr‹ mag Nietzsche sich diesem Ideal genähert haben, im Letzten realisiert hat er sie nicht. Die vielfachen Brechungen des Spätwerkes, die wechselseitige Durchkreuzung von Kammerton und Weltton, von der Rüdiger Safranski gelegentlich sprach, weisen auf die bleibende Dissonanz hin.
II.
Nietzsche im 20. Jahrhundert: Der Sturz
(1) Den NS-Ideologen konnte die Vieldeutigkeit und zugleich die Radikalität Nietzsches nicht gefallen. Sie mussten ihn mehrfach halbieren, doch dabei konnten auch sie an Züge anknüpfen, die bei Nietzsche dargestellt sind. Im Nietzscheschen Sinne ›lügen‹ diese ideologischen Lesarten, weil zu lügen bedeutet, etwas nicht sehen zu wollen, schon gar nicht nach seinen verschiedenen Seiten. Die NS-Ideologie spaltete Nietzsche auf, und sie verstrickte sich freilich in alle die grundsätzlichen Missgriffe, die Nietzsche selbst bei den unmusikalischen, ungenauen, verfälschenden Lesern mit höchster Genauigkeit ausfindig machte. (Kitsch als unangemessener Ausdruck ist, wie uns Hermann Broch belehrte, auch eine moralische Kategorie 15 ). Bei Alfred Baeumler etwa wird Nietzsche zum Exponenten eines ›heroischen Realismus‹. Der Wille zur Macht ist der einzige, alles andere dominierende Gedanke, ihm wird zugleich schon die Unschuld des Werdens zugeschrieben, in einer rebarbarisierenden Rückführung in vitalistische, biologistische Natur. 16 Es nimmt nicht wunder, dass hier (und auch schon bei Ernst Bertram) der Schmerz und die ›medicina mentis‹ des Nietzscheschen Dazu grundlegend: G. Wohlfart, ›Also sprach Herakleitos‹. Heraklits Fragment B 52 und Nietzsches Heraklit-Rezeption. Freiburg, München 1991. 15 H. Broch, Der Kitsch, in: ders., Dichten und Erkennen. Essays Band I. Zürich 1955, 342 ff. 16 A. Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker. Leipzig 1931. Vgl. dazu auch die treffenden Analysen bei Riedel, Nietzsche in Weimar, a. a. O., S. 90 ff. und: Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, 251 ff. Überdies danke ich Claudius Strube für eingehende Diskussionen zu diesem Thema und dafür, dass er mir in sein unveröffentlichtes Manuskript: ›Philosophie des Nationalsozialismus‹ Einblicke gegeben hat. 14
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Selbstblicks nicht ausgehalten werden. Von der großen Bejahung, die Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr signiert, diesem Ja (›Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!‹) hat Baeumler im Sinn seines ›halbierten‹, kupierten Nietzsche dekretiert, dass es mit allen Nietzscheschen Grundlehren in Widerspruch stehe. Der Abgrund-Gedanke, die ewige Wiederkehr wird ausgelöscht und zur Privat-Mythologie erklärt, die in der Sache nichts austrage. Im Sinne seiner regressiven Remythisierung, dem Rückgang ins Irrationale hatte zuvor schon Ernst Bertram Nietzsche zum ›Mythologen der Moderne‹ erklärt, eben auf Kosten des Psychologen. Bertrams und Thomas Manns Wege hatten sich eben an dieser Stelle für immer getrennt! 17 . Baeumler indessen sah durchaus durch das Kaleidoskop unterschiedlicher Nietzsche-Bilder und -Brechungen: den Seher, den angreifenden Nietzsche, den ›Umwerter aller Werte‹ und Umstürzler. Doch entscheidend sei, dass Nietzsche nicht ›wurde‹, schon gar nicht im Sinne des altgriechischen, der Lou Salomé zuerst ins Stammbuch geschriebenen ›Werde, der/die du bist!‹, sondern dass er nach eigenem Willen sich entworfen habe, bewusste Schöpfung seiner selbst, Hyperleben ohne Abgrund, purer Akt ohne Erleiden! Im Letzten ist Nietzsche für Baeumler Politiker. Er entspreche dem Typus, der das, was er denkt, immer zugleich tut. Man denke an die bruchlose Verschmelzung von Theorie und Praxis, wie sie Baeumler vorgeschwebt haben mag, der seine Antrittsvorlesung an der TU Dresden im Mai 1933 in den Marsch zur Bücherverbrennung hatte münden lassen. 18 Die Fälschungs-Chimäre des ›Willens zur Macht‹, Nietzsches vermeintliches nachgelassenes Hauptwerk (Elisabeth Förster-Nietzsche) und Baeumlers Kommentare waren immens wirkmächtig. Dergleichen Rezeption löst sich von der tastenden, fragenden, dann wieder in Gewissheit bejahenden Musikalität der Gedanken. Nietzsches Denkbewegung verstummt und es entsteht die »Philosophie des NietzscheArchivs«. Kampf und Agon werden auf die Rechtfertigung eines Angriffskrieges bezogen, gegen den europäischen, ja Welt-Zusammenhang, 17 E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1929, Nachdruck Bonn 1965. Vgl. zu geistesgeschichtlichen Verbindungen und dem seinerzeit kurrenten Nietzscheanismus jetzt auch: W. Martynkewicz, Salon Deutschland. Geist und Macht 1900– 1945. Berlin 2009. 18 Dies dokumentiert Strube in dem Manuskript: ›Philosophie des Nationalsozialismus‹. Es ist zu hoffen, dass dieser Text bald als Buch erscheint.
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den Nietzsche in seiner transversalen Hermeneutik niemals aus den Augen verlor. Nordische Ideologeme einer Welt als Kampf, atavistische Instinkte sind es, die in petrifizierender pseudo-›wissenschaftlicher‹ Rede, in ein ›System‹ eingefasst werden, so als hätte Nietzsche nicht die Systemform radikal verflüssigt und sie nicht als Mangel an Redlichkeit begriffen.: Der NS-Nietzsche im stählernen Gehäuse, als dessen Testamentsvollstrecker aber der Gefreite aus Braunau firmieren sollte. Andere wussten es besser und legten jene ›Apperzeptionsverweigerung‹ (H. von Doderer) niemals an den Tag: Heidegger hat Nietzsche (»Der Name des Denkers steht für die Sache seines Denkens«) als grundlegende, letzte metaphysische Grundstellung gelesen. 19 Nietzsche-Sätze seien ontologische Grund-Sätze und erforderten eine ebenso aufmerksame Wahrnehmung wie die Grund-Sätze des Aristoteles. Er werde verfälscht zum ›öffentlichen Wortführer der Vielen‹ hat Heidegger angemerkt, und sein eigener jüdischer Schüler Karl Löwith hat es zugespitzt: Nietzsche sei nicht mit einer spezifischen historischen Zeit und ihren dogmatisch ideologischen Vorgaben zu verrechnen.20 Ein Denken wie das Nietzschesche habe seinen Ort »über und zwischen« den Zeiten, und entwickle sein Denken auf »längste Sicht«. Darin, dass Nietzsche bei den NS-Ideologen umstritten blieb, zeigt sich contre coeur seine Inkommensurabilität mit der Halbierung und Verhunzung. Wenn Nietzsche von ›Züchtung‹ spricht, so schwingt darin doch immer die Formkraft der PAIDEIA nach. Paideia und Zucht als jene Übung, die unser Leben ändern muss, 21 sind nicht Gegenstücke; und Nietzsches ›neuer Mensch‹ führt, wie manche NS-Schergen nicht übersahen, geradezu zwingend auf eine ›Mischrasse‹,- um es in ihrer Sprache zu sagen. Auch der freie Geist musste post festum belauM. Heidegger, Nietzsche. 2 Bände Pfullingen 1961. Dazu H. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens. Köln, Weimar, Wien 2000, sowie: W. Müller-Lauter, Nietzsche-Interpretationen Band 3: Heidegger und Nietzsche. Berlin 2000. In der Zwischenzeit ist die Forschung weitergegangen. Dazu: Heidegger-Jahrbuch Band 2: Heidegger und Nietzsche. Freiburg, München 2005. 20 K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Berlin 1935, siehe auch die Neuveröffentlichung mit einem Anhang, in: Löwith, Sämtliche Schriften, Band 6. Stuttgart 1987, 363. Vgl. auch Löwiths Gedenkrede, Sämtliche Schriften Band 6, 396 ff. 21 Dazu jetzt P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/Main 2009. 19
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ert werden. Gerierte sich doch die NS-Ideologie als ›wahre Demokratie‹, begründet auf Führung und Gefolgschaft, und mussten Ideologen erkennen, dass der freie schweifende Geist zum Bau des NS-Reichs nicht brauchbar sei, denn »er würde auch heute protestieren« (Steding). 22 Oder noch deutlicher bei Ernst Krieck, einem Volksschullehrer, den die Partei in den Rang des Ordinarius für Philosophie gebracht hatte: »Alles in allem: Nietzsche war Gegner des Sozialismus, Gegner des Nationalismus und Gegner des Rassegedankens. Wenn man von diesen drei Geistesrichtungen absieht, hätte er vielleicht einen hervorragenden Nazi abgegeben«. 23 Das Misstrauen führte zu der, in allen totalitären Systemen gängigen liquidatorischen Einschmelzung von Tradition auf eine bloße Vorgeschichte. Nietzsche, der Philosoph der Umwertung, finde seine Vollendung erst in Adolf Hitler, dem »Philosophen der Tat«. Damit kann es genug sein mit der barbarischen Sprache, der Verhunzung des Denkens. Sie bestätigt letztlich nur Nietzsches Selbstaussage über den freien Geist, der »dem Volk verhaßt ist wie ein Wolf den Hunden, der Fessel-Feind, der Nicht-Anbeter, der in Wäldern Hausende. Ihn zu jagen aus seinem Schlupfe: das hieß immer dem Volke ›Sinn für alles Rechte‹«. 24 Immerhin bemerkte Curt von Westernhagen in einer bemerkenswerten Streitschrift gegen die NS-Verfälschungen: ›Nietzsche. Juden. Antijuden‹ (1936), Nietzsche habe den Antisemitismus verabscheut, und mit ihm den Nationalismus. Jedwede ›Rasselüge‹ habe er zurückgewiesen. Westernhagen gibt jedoch vor allem den Hinweis, das martialisch gewordene Deutschland könne mit Nietzsche nichts anfangen, weil er mit Klarheit in die Tiefe dringender ›Psychologe‹ sei, die Deutschen jedoch gerade missverstanden und nicht psychologisch entschlüsselt werden wollten. 25 (2) Der Nietzsche-Exorzismus nach 1945 zeigt ebenfalls ein höchst unerfreuliches Gesicht, eine Fratze gegen den Geist. 26 Es ist, 22 Chr. Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. Hamburg 1938, 160. Dazu auch eingehende Erörterungen bei Riedel, Nietzsche in Weimar, a. a. O., 130 ff. 23 E. Krieck, Völkisch-politische Anthropologie. Band 1. Leipzig 1936, S. 31. Zit. auch bei Riedel, Nietzsche in Weimar, a. a. O., 131. 24 Also sprach Zarathustra: Von den berühmten Weisen, KSA 4, 132. 25 Curt von Westenhagen, Nietzsche, Juden, Antijuden. Weimar 1936. Vgl. auch: H. Langreder, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Nietzsches. Kiel 1971. 26 Vgl. hierzu insbes. G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Darmstadt und Neuwied
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dies darf man vor allem bei Georg Lukács nicht vergessen, aber zugleich der Selbstexorzismus einstiger Nietzscheaner und Décadents. Ernst Bloch ist Lukács (dem Naphta in Thomas Manns ›Zauberberg‹) nicht gefolgt. Er hat die – fragile – Nietzsche-Gemeinsamkeit beschworen und anlässlich von Lukács 80. Geburtstag gegen dessen Liquidation ästhetischer und philosophischer Avantgarde, darunter auch Nietzsches, zu bedenken gegeben: »Die Banalität ist die Gegenrevolution« (ein Satz Isaak Babels). Lukács nimmt in seiner Kritik – dies muss als Antistrategie zu den NS-Interpretationen auffallen –, die Grundlehren Nietzsches zusammen. Der ›Wille zur Macht‹ wurde ihm zum eisernen Gehäuse des Imperialismus, die ›ewige Wiederkehr‹ aber zur Garantin dafür, dass jener Ungeist gleichsam auf Ewigkeit hin befestigt werden sollte. Lukács fügte der Tendenz nach hinzu, dass alle Nietzsche-Verfälscher eher verharmlosend gewirkt hätten, die Wahrheit noch einmal schlimmer sei. Noch in den letzten Monaten der DDR kehrte, durch Wolfgang Harich vermittelt, einen hoch begabten, zutiefst gebrochenen frühen Nietzsche-Enthusiasten und Schüler Nicolai Hartmanns, diese Anti-Nietzsche-Rancune wieder; das ›Feindbild spätbürgerlicher Philosophie‹, des geistigen Urhebers des Angriffskrieges. 27 Dieser Exkurs in die Untiefen der Ideologiegeschichte des letzten Jahrhunderts, in deren Nähe der Abgrund der physischen Vernichtung der hintersinnigen Selbsterprobungen freier Geister lauert, ist deshalb unumgänglich, weil er wie kaum etwas anderes zeigt, in welch vermintes Gelände Nietzsche führt. Gewiss wurde ihm in ideologischer Vereinnahmung und Verwerfung schlimmstes Unrecht getan. Denn – und dies scheint mir der springende Punkt zu sein, – der verführende Rhetoriker, der rauschhafte Beschwörer des Mysteriums bejahter Welt ist immer zugleich der hinter- und nebensinnige Moralgenealoge, Psychologe und Philologe. Und dennoch war er tatsächlich Dynamit, bleibt sein Denken ein ungeheures nicht-konventionelles Wagnis. Und dennoch ist bei ihm auch gesagt, was, abgelöst von den Phrasierungen und 1974. Werke Band 9. Siehe auch ders., Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik, in: ders., Beiträge zur Geschichte der Ästhetik. Berlin 1954, 286 ff. Über das Verhältnis Lukács-Bloch in dieser Frage: Riedel, Nietzsche in Weimar, a. a. O., 215 ff. 27 W. Harich, Revision des marxistischen Nietzschebildes?, in: Sinn und Form 39/5 (1987) 1018 ff. Dazu mit einschlägigen Nachweisen aus der Nietzsche-Debatte in ›Sinn und Form‹ am Ende der DDR: Riedel, Nietzsche in Weimar, a. a. O., 273 ff., sowie 354 ff. Vgl. ferner: E. Heftrich, Auf deinen Namen werden die Buben schwören. Das Leiden an Nietzsche war eine Form des Leidens an Deutschland, in: FAZ 17. 9. 1996, 40.
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Variierungen, in die tiefsten Zerwürfnisse der Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts führt. In den skizzierten Verhunzungen begegnet immer noch der verzerrte Nietzsche, der Fehlschlag seines gewagtesten Gedankenexperimentes und eben nicht einfach etwas, das mit ihm nichts zu tun hätte: Nietzsche, ist aus dem Zeitenabstand gelesen, auch ein Albtraum, in den die realen Züge eines Denkens mit verwoben sind, das sich wie kaum ein zweites selbst exponierte. Nietzsche-Karikaturen bringen dies immer wieder zur Darstellung: Nietzsche als Tanzender, als martialischer ›Übermensch‹ : die Differenz der inneren Fragilität zum Ja! auch gegenüber dem beschädigten Leben, ein großartiger Gedanke, überschreit sich mitunter und verliert dann ihre Überzeugungskraft. Jenen Ambivalenzen nun wird man nur entgehen können, wenn man, wie es in einer immer differenzierteren Forschung auch geschieht, Nietzsche historisiert und ihn in den von ihm nicht zu Unrecht mit kühlem Abstand betrachteten akademischen Deutungsbetrieb vereinnahmt. Psychoanalytische Nietzsche-Rezeption, oftmals von den Verfolgten seiner falschen Adepten wie Erich Neumann begründet, lässt uns diesen Ausweg ins Flach Unverbindliche indes nicht! Insofern kommt ihr auch für das Nietzsche-Verständnis wegweisende Bedeutung zu. (3) Kommen wir von den Realisierungen und Fehlrealisierungen auf den Text und seine Ambivalenzen zurück. An die Seite der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung sollte man Nietzsche jedenfalls nicht ohne weiteres rücken. 28 Dafür sind die Brüche und Höllen der Moderne, der ›fleurs du mal‹, bei Nietzsche allzu tief. Eine Rückkehr in das bürgerliche Zeitalter versagt sich vor seinem großen Selbstexperiment, diesem monumentalischen und zugleich zarten ›Ecce homo‹. Sein ›Jenseits von Gut und Böse‹ ist auch den manichäischen gnostischen Ideologemen voraus (im Sinne von Rilkes ›Sei allem Abschied voran, als läge er hinter dir, wie der Winter, der eben geht!‹). Dieser Gestus war für Nietzsche zunächst Zeichen der Bejahung und einer heiteren Philosophie des Vormittags (›ganz des Lichts genießend/ ganz des Schattens‹), in der sich aber die Selbst-Entgegnungen zutragen und in die jählings Schatten fallen. »Da, Freundin wurde eins zu zwei, und Zarathustra ging an mir vorbei«. Damit führt die Entgegnung zugleich in eine Abschüssigkeit des Labyrinths des Selbst, der 28
Dies die Tendenz bei Riedel, Nietzsche in Weimar, a. a. O., 15 ff. und 300 ff.
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gegenüber alle Haltepunkte fehlschlagen. Im Nietzscheschen Labyrinth gibt kein Ariadne-Faden Halt. Hohe Berge und tiefes Meer sind die gegenläufigen Richtungen, in die diese Selbstauslotung führt. Die Tiefenanalyse, das genauere Gehör und subtilere Gespür, von denen alle Tiefenpsychologie zehrt, sind der Grund, aus dem Nietzsches Ethos hervorgeht, und unlösbar davon ist seine Beschwörung des Schöpfers und des Schöpferischen. Man kann an Max Schelers Diktum erinnern, Tiefenpsychologie bedürfe zu ihrer Entsprechung einer Höhenpsychologie! Nietzsches Suche nach dem Schöpferischen führt ihn zu dem Ausruf: »– und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. / Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische«. 29 Immer spricht Nietzsche in solchen Zusammenhängen auch von sich selbst; er variiert die Antwort: ›Warum ich ein Schicksal bin‹ so: »… gute Menschen reden nie die Wahrheit. Falsche Küsten und Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten«. 30 Nietzsche denkt dabei nicht so sehr symbolisch, als vielmehr vom ›Symptombegriff‹ her. Eben dies macht ihn für den psychologischen Analytiker zu einer unhintergehbaren Instanz. In diesem Horizont hat Klaus Heinrich daran erinnert, dass das Symptom (von gr. ›sympiptein‹ : zufällig Zusammenfallen) darauf hinweise, wie das zufällig gemeinsam Auftretende zu reden beginne. 31 Symptome verweisen in ihrer Widerständigkeit darauf, dass das Ganze nicht anders als über jenen punktuellen Widerstand, also: symptomatisch zum Reden kommen kann. Dann müsse man aber wissen, was das ›Subjekt‹ ist, das in einem solchen Lebenszusammenhang zutage tritt. Für Nietzsche ist es, unstrittig, die abgründige, große Vernunft des Leibes, in die der Geist verwoben ist, die einen Begriff der Widerständigkeit trägt, »der in Verneinung nicht aufgeht, sondern […] behauptet, dass die […] bedürftige und begehrende Natur sich zur Wehr setzt, wenn ihre Bedürftigkeit und ihr Begehren zerschlagen werden«. 32 Jener Widerstand ist zugleich Ecce Homo, Warum ich ein Schicksal bin, KSA 6, 366. Ebd. 368. 31 K. Heinrich, arbeiten mit ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft. Berlin 1993 (Dahlemer Vorlesungen Band 3), 12 ff. Vgl. auch ders., psychoanalyse. Berlin 2001 (Dahlemer Vorlesungen Band 7). 32 Heinrich, arbeiten mit ödipus, a. a. O.,260. 29 30
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›Verwechselt mich vor Allem nicht!‹
die ermöglichende Voraussetzung eines Bündnisses und einer Vereinigung, welche die Differenz nicht tilgt, die im Sinn von Erich Neumanns Forderung nach einer ›neuen Ethik‹, das Böse nicht abspaltet, sondern zu integrieren sucht.
III. Die Leuchtkraft starker Gegenbegriffe Nietzsches perspektivisches System in Aphorismen durchbricht den Anschein der metaphysischen Einheit, der, wie er in grandioser Einseitigkeit sagt, in den großen Begriffsdomen der Vergangenheit, also in der Geschichte der Metaphysik, erweckt wurde. 33 Ebensowenig hat die perspektivistische Hintergründigkeit aber etwas gemeinsam mit den banalen Humanisten und Emanzipatoren, deren Hahnenschrei schnell in Kettenhunde-Ressentiment umschlägt und die Nietzsche, wie wohl er ihnen immer wieder sardonisch den Spiegel vorhält, bis heute anzieht. Seine Aussage, dass wir im Zeichen des Perspektivismus die erste Generation seien, die die Wahrheit nicht hat, 34 bedeutet gleichermaßen Einblick in das offene Meer des Interpretations-Unendlichen und Abschieds-Schmerz. Einige der unvermittelten Dichotomien und GegenBegriffe sollen von diesen Grundstimmungen her skizziert werden.
1.
Oberfläche und Tiefe
Das Tiefste liegt offen zutage. Diese Lektion hat Nietzsche in seiner Philosophie des Vormittags zuerst entwickelt. Doch Vormittag kann es erst werden nach dem Abstieg in den tiefen Schmerz am Grunde der Kultur, den er in der griechischen Tragödie wahrnimmt. Die Form eines Philosophierens am Leitfaden des Leibes folgt dieser Maxime. Wenn man die Fiktionen der Spitze des ›Ego cogito‹ des Bewusstseins aufbricht, so kommen fragile Lagen zum Vorschein, die immer wieder den Abgrund sichtbar machen. Dabei setzt jene heitere Philosophie des Vormittags eben dort ein, wo der ›Kothurn des Gefühls‹, die schöne und erhabene Formgebung Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: KSA 1, 873 ff. KSA 12, 37 ff. u. ö. vgl. dazu F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie. Köln, Wien 1980. 33 34
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des tragischen Zeitalters der Griechen, endet. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Nietzsche den Text des ›homo natura‹ und der Nähe zu den nächsten Dingen wählt, um die Schriftzüge des tragischen Zeitalters vorübergehend einzuklammern, nicht aber um sie zu entschärfen. Nietzsche nimmt eine Umschrift vor, folgt aber nach wie vor derselben Untersuchungsrichtung wie in seinen Anfängen. Er spricht mit kristalliner Klarheit von tiefsten Abgründen. Daher bietet er ähnlich kristallinen Geistern die Möglichkeit einer Annäherung an die mythische haltlose Tiefe, ohne dass sie dabei ihre Rationalität aufgeben und in Regressionen verfallen müssten. Ihre Rationalität wird konturierter, voller, nicht dumpfer. Nietzsche ist, was Thomas Mann als Romancier wieder zu werden suchte, in einem in-Spuren-gehender Mythologe und subtiler Psychologe, der die Archetypen erneut träumt, zugleich aber weiß, dass er träumt. Seine Perspektive ist gerade die einer höheren Aufklärung. Sie durchbricht deshalb jede naive Emanzipation, weil sie auch ihre eigenen ›guten‹ Tendenzen durchschaut und den Willen zur Macht dahinter gewahrt. 35 (Hier zeigt sich eine gewisse Affinität zur ›Dialektik der Aufklärung‹, ohne dass Nietzsche doch einen dialektischen Modus wählte.) Zu dieser Klarheit zweiten Grades, die in den Abgrund geblickt hat, gehört es, dass Nietzsche in der Genealogie der Moral eine luzide Destruktion der leitenden Moralität einer Hinterwelt, von Platonismus und Christentum entfaltet. Er zeigt, dass das Sollen, auf dem jedwede Moral beruht, nicht reine Idee ist, sondern nicht auskommt ohne die Ritzung in das Menschenfleisch, ohne einen Akt der Gewalt. Zugleich aber weiß Nietzsche, in der Abwehr einer Betrachtung des Menschen nach seiner ›condition honteuse‹, wie er den Darwinismus der Zeit, namentlich des Freundes, Paul Rée konterkariert, um die Unhintergehbarkeit der ethischen Prägungen und der Lebensformen, die sie hervorgebracht haben. Ohne sie droht die Regression in die Kretinhaftigkeit und in den Schwachsinn. Nietzsche ist von jedweder Sophistik und jedem postmodernen Larifari dadurch aufs schärfste unterschieden, dass er nicht den Normalfall einer geordneten Rechtlichkeit voraussetzt, um sie dann in Frage zu stellen, was Platon in seinen gegen die Sophisten gerichteten Dialogen wie dem ›Protagoras‹ als eine allzu Vgl. hierzu unter anderem: Menschliches, Allzumenschliches I, Fünftes Hauptstück: Anzeichen höherer und niederer Cultur, in: KSA 2, 187 ff., sowie: Jenseits von Gut und Böse, Zweites Hauptstück: Der freie Geist, KSA 5, 41 ff.
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leichte und daher leere Übung entlarvt. 36 Nietzsche weiß vielmehr, auf wie fragilem Boden wir gehen. Dieselbe Ambivalenz kehrt wieder, wenn der Genealoge der Moral die von ihm ausgemachten Typen, namentlich den Kleriker, entlarvt, zugleich aber eingesteht, dass seine eigene Genealogie und Lebensform ohne diese Typen nicht existieren könnte. 37 Das, was Nietzsche unter dem europäischen Buddhismus versteht und mit der Christlichkeit in ihrem jeweiligen Hier und Jetzt gleichsetzt – einer Verklärung des Augenblicks durch eine ›sehende‹ Liebe, ist für sein eigenes Denken bestimmend, das Oberfläche und Tiefe ineinander spiegelt. Man entgeht daher vor dem Hintergrund dieser Duplizität und Komplementarität nicht nur einer regressiven Neigung zur Mythologie. Zugleich wird man auf den Hintersinn der Aufklärung aufmerksam werden. Die Urszene dürfte in den beiden Natur- und Kunstgewalten des Apollinischen und Dionysischen zu finden sein; den beiden Gottheiten, denen gleichermaßen zu opfern ist, wie der weise alte Athener dem aus unserer Zeit Zugereisten am Ende von Nietzsches Erstling zu verstehen gibt.
2.
Endlichkeit und Interpretations-Unendliches
Nietzsches Denken gilt – durchaus zu Recht – als Inbegriff eines ›endlichen Denkens‹. Die Schwindel erregenden Systeme hat er auf Lebensvollzüge und -krisen hin durchleuchtet. Doch dies ist eben kein naturalistischer Reduktionismus, keine platte Geste positivistischer Entlarvung des ›Nichts anderes als‹. Bei Nietzsche findet sich nicht, wie Peter Sloterdijk zu Recht bemerkt, die Suggestion, das Biwak sei schon der Gipfel! 38 Tiefreichende Diagnosen werden aus der Selbstbeobachtung und daraus resultierenden Selbstschaffung des Denkers gewonnen. Nirgends sonst, außer vielleicht bei Kierkegaard, sind seismographische Selbstanalyse und gedankliche Verdichtung so dicht ineinander gelegt. Vor allem hat Nietzsche uns gelehrt, dass alle Erkenntnis nur perPlaton, Protagoras 321a ff. im Anschluss an einen Kulturentstehungsmythos. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? KSA 5, 339 ff. u. 361 ff. 38 Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern!, a. a. O.,176 ff. mit dem Gedanken einer ›Höhen-Psychologie‹ im Zentrum. 36 37
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spektivisch, von einer jeweiligen Welt-Ecke bedingt, umgrenzt und umschleiert ist. Diese Einsichten sollte die Phänomenologie im 20. Jahrhundert vertiefen, wenn Heidegger davon spricht, wie die Wahrheit (ALETHEIA) an ihrem Grunde verborgen ist und sich nur gelegentlich lichtet, wenn Husserl vom Versprechen voller Phänomenerkenntnis handelt, das aber in der Realität doch nur in Abschattungen begegnet. Doch dahinter zeigt sich eben nicht das Schulterzucken der letzten Menschen, nicht das Aufbegehren der wild gewordenen Barbaren, die sich melden, wenn alle Kultur zerstört ist (gewiss: beide Spezies begegnen unter Nietzscheanern), sondern die immer tiefere Erforschung jener Wahrheit. Auch darin ist Nietzsche mit Freud, der tiefenanalytischen Schule und den Phänomenologen in einem Zusammenhang zu nennen. Und dieses Deutungsgeschehen verweist in ein spezifisches Ethos. Die Wahrheitssuche führt auf eine letzte Negation des Willens: nicht zu wollen und nicht, wie der Schopenhauersche Pessimist, das Nichts zu wollen. 39 Nicht zu wollen indes, dieser vielfach anvisierte europäische Buddhismus scheint schon dem jungen Nietzsche ein tiefstes Ziel: er wäre letztlich im Einvernehmen mit dem Leben, in seiner letzten Nichtigkeit und Vergeblichkeit.
3.
Wahrhaftigkeit und Auslöschung der Differenz von wahr und falsch
Indem wir die wahre Welt nicht mehr haben, verlieren wir auch den Schein, so hat Nietzsche insistierend bemerkt und gefragt: »Was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ›wahr‹ und ›falsch‹ gibt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesamttöne des Scheins? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht, – nicht eine Fiktion sein?« (KSA 5, 53 f.). Damit verbindet sich aber jene unbeugsame Insistenz auf der Wahrhaftigkeit. Sie führt niemals auf einen letzten Punkt, ein au fond. Vielmehr muss sie im Dazu insbesondere: Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 25 ff. Vgl. auch M. Riedel, Ein Seitenstück zur ›Geburt der Tragödie‹. Nietzsches Abkehr von Schopenhauer und Wagner und seine Wende zur Philosophie, in: Nietzsche-Studien 24 (1995) 45 ff.
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Innersten als durchdringende Beunruhigung ausgehalten werden. Und sie hält sich selbst in den äußersten Gedanken der ewigen Wiederkehr und wird dadurch auf die Probe gestellt. Auch die Wissenschaft hat Nietzsche nicht in der Neutralität belassen, in der Selbstgefälligkeit des Baconschen ›Über uns selbst schweigen wir‹. Er hat sie auf ihre Beweggründe befragt – und damit auch sich selbst. Dies zeigt sich beispielhaft am Grundbegriff des Nihilismus. Nietzsche diagnostiziert ihn in seinen vielfachen Facetten. Doch jeder Nihilismus durchschlägt gleichsam den gordischen Knoten von Welt und Selbst, weshalb Platonismus und Christentum für Nietzsche seine Exponenten sind. Nur wer die Vergeudung und Nichtigkeit bejaht, hat in der ewigen Wiederkehr und dem ›Amor fati‹ gleichsam den Nihilismus verwunden. 40
4.
Erinnerung und Vergessen
Es ist eine entschiedene Verkennung und Entschärfung des Nietzscheschen Perspektivismus, wenn man ihn als bloßes Spiel versteht. Interpretation ist selbst Wille zur Macht, sie ist somit eine ontologische Bestimmung des Seienden im Ganzen – und in sich selbst Abgrund, Bejahung der eigenen Wiederkehr. Kein Verstehen kommt deshalb nach Nietzsche ohne Festhalten zu fixierender Gesichtspunkte aus. Das Zeit übergreifende Gedächtnis bringt immer auch Ressentiments hervor. Sie sind unabdingbar, um zu verstehen – und auch die Konvention ist es, in ähnlicher Weise, wie die ›Persona‹ bei C. G. Jung. Ressentiments sind unerlässlich, um einen Stil zu prägen, im Fluxus der Person das Bleibende zu stiften. Nietzsche, der schärfste Kritiker und Genealoge der asketischen Ideale, hat ähnlich wie Freud gesehen, dass ohne sie nur der blinzelnde letzte Mensch möglich ist, der etwas Gift braucht, um zu leben, und etwas mehr Gift für seinen gnädigen Tod. 41 »Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis.« Die Leuchtkraft der starken Gegenbegriffe durchzieht auch einzel40 Vgl. Heidegger, Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht, in: ders., Nietzsche Band 2, a. a. O., 7 ff. Dazu – auch im Verhältnis zwischen Heidegger und Nietzsche näher – Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a. a. O., 122 ff. 41 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, 18 ff.
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ne Nietzschesche Grundgedanken selbst. Sie sind Kampf-Plätze des Sich-Entgegenblickens: dies zeigt sich exemplarisch an dem ›Willen zur Macht‹. Heidegger hat eine bedeutende Intention verfolgt, wenn er meinte, Nietzsches Wille zur Macht sei auf die Aristotelische Möglichkeitsdimension: das Gefüge von ›dynamis‹ und ›energeia‹, zu beziehen. Der Wille zur Macht ist das letzte Faktum, zu dem wir hinunterkommen, bemerkt Nietzsche, und damit wird eine Semantik der Welt im Ganzen sichtbar, ohne dass ihr doch ein Telos eingestiftet wäre. 42 Alles, vom Einzeller bis zum philosophischen System oder zur Religionsstiftung, ist nach Nietzsche ein Gefüge von Willen zu MachtQuanten. Jene Willensmetaphysik macht ein unauflösbares Geflecht und Gefüge von Macht und Gegenmacht aus, und buchstäblich nichts, was ist, ist davon frei. Eben dem gilt es standzuhalten – gerade darin wird der schöpferische Mensch seinen nervus probandi finden. Gewiss hat das Denken im ›Willen zur Macht‹ auch einen Zug ins gewaltsam Überwältigende. Dies zeigt sich vor allem, wo der ›Wille zur Macht‹ zur Großen Politik wird. Doch eigentlicher nervus probandi ist die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹, Inbegriff von amor fati. Bei allen mundanen Erprobungen in naturwissenschaftlichen Experimenten, die Nietzsche anstellt und noch weiter vertiefen wollte 43 – der Wille zur Macht kann nur umgeschaffen und gleichsam verklärt werden, nämlich in der Annahme der ewigen Wiederkehr. Damit wird der Wille zur Macht verneint, zugleich aber im letzten als eine rancunefreie, gehäutete, homerisch strahlende Bejahung bewährt. Aber auch etwa in Beziehung auf Nietzsches vielberufenes Thema der Geschlechter-Dualität und der Frau findet man die Leuchtkraft solcher starken Gegenbegriffe: Einerseits »Allzu lange war im Weibe ein Sklave und ein Tyrann versteckt«, und damit verbunden die Aussage, was das Weib betrifft, neige er zur orientalischen Behandlung. Dann solche Reife- und Herbstsentenzen wie: »Man muß es in aller Tiefe nachempfinden, welche Wohlthat das Weib ist. Erst durch die Berührung des Weibes kommen viele Große in ihre Bahn«. Auflösen lässt sich eine solche gegenbegriffliche Antithetik ohnedies nicht. Sie zeigt ein Selbst-Experiment, das Phänomene in ihre äußersten Extrempunkte hinein auslotet und nicht eher aufgibt, bis ihr Licht und ihr Schatten Vgl. KSA 12, u. a. 373 ff., 439 u. ö. Vgl. dazu u. a. B. B. Babich, Nietzsches Wissenschaftstheorie. Übersetzung von Harald Seubert Frankfurt/Main, New York u. a. 2010.
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in größter Kraft sichtbar geworden sind. Sie heben sich dabei, anders als in Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ nicht durch den Umschlag in ihre Kehrseite auf! Sie bleiben wahr – und der Bogen spannt sich zwischen den Extremen. In diesem ›Ausschmecken‹ (sapor/sapientia) kommen die Erprobungen des Selbst zu sich und damit zur Weisheit. Dies führt auf die unbalancierte Spannung zwischen Schaffen, Zerstören und Bewahren in Nietzsches Denken, die sich ästhetisch ebenso zeigt wie politisch. Nur jene, die die alten Tafeln zerbrechen, werden neue errichten. 44 Doch der Hintersinn, der Schatten des Wanderers, ist zugleich mit im Spiel: Wenn nicht ein Andenken an das Gewesene bleibt, Heimwehschmerz, Nostalgia, dann werden die neuen Tafeln fantastische und entsetzliche Ausgeburten hervorbringen. Dabei ist ein Grundzug aus der Form Nietzscheschen Philosophierens wichtig: Das ›System in Aphorismen‹ ist kein Abschied von einem Ausgriff des Denkens auf die letzten Dinge, die freilich die nächsten sind. So sehr ihm Momente des Fragmentarischen anhaften, ähnlich wie sie die romantische Ironie kultivierte, so trauert es doch zugleich um den tiefen Absturz aus dem hohen Flug. Die Aphorismen sind komponiert, sie haben Zentralperspektiven, ›Maximae sententiae‹, die durch kleinere, vorausgehende Sätze vorbereitet werden müssen. Wenn man Nietzsches Denkbewegung aus dieser sich selbst unvermittelt entgegenblickenden Hermeneutik herausbricht, wenn man Nietzsche parteiisch vereinnahmt, so folgt man im Letzten immer der Struktur jener Konzeption, die auch der nationalsozialistischen Einvernahme und der fatalen Rezeptionsgeschichte Nietzsches eigen war. Der Chefideologe Baeumler tilgte nicht ohne Grund den Hintersinn des Gedankens ›ewiger Wiederkehr des Gleichen‹, und transponierte Nietzsche in die brutale Eindeutigkeit des Willens zur Macht. Nietzsche aber gehört nicht in die Geschichte der ›Zerstörung der Vernunft‹, vielmehr in die Genese einer anderen, tieferen Vernunft, die dem Leitfaden des Leibes folgt und an Höhen- und Tiefenpsychologie ihren Horizont ausrichtet. Es ist nicht zu viel gesagt, dass man ihr nur näher kommen wird in einer Zwiesprache von Kunst und Religion, von Philosophie und Tiefenpsychologie, die noch kaum begonnen hat. Regu-
44 Vgl. dazu auch die Metaphorik der ›neuen Tafeln‹ in der jüdischen Counterhistory und bei Erich Neumann. Hierzu insbes. die Beiträge von A. Löwe und D. Krochmalnik im vorliegenden Band.
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liertes Denken, destruirende Partialisierungen werden davon keine Ahnung gewinnen.
IV. Jüdische Spur Besonders prekär ist in dem Zusammenhang dieses Bandes der Text, in dem sich Nietzsches eigenes Verhältnis zum Judentum manifestiert. Es ist im Zusammenhang seiner Frage nach der Religion zu sehen. Diese ist ihm nicht einfach ein Gespenst, das gerade wieder umgehe in Europa. – Ein großer Unterschied zwischen Nietzsche und seinen heutigen Epigonen, die, wie mir scheint, auch aufgrund einer gewissen Negativitäts-Vergessenheit, meinen, Religion schlicht beiseite setzen zu können. Es ist unstrittig, dass Nietzsche gerade in seiner rigiden Kritik Religion als eine innere Frage der Existenz begreift. Nicht nur ein Teil des Menschseins, dieses selbst ist zuinnerst betroffen. In diesem Sinne hat er eingestanden, »daß eine Menge Glauben da sein muß, daß geurtheilt werden darf«. 45 Ein solcher Glaube sei geradezu Existenzvoraussetzung alles Lebendigen. Mit bösem und zugleich luzidem Blick hat Nietzsche von hier her die Juden als priesterliches Volk betrachtet – und dabei hat er immer wieder über die Vornehmheit und Freiheit der Juden gegenüber so viel ›deutschem Hornvieh‹ geseufzt. »Rom gegen Judäa – Judäa gegen Rom«, darin hat Nietzsche eine Grundschrift gesehen, die »über alle Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb«, einen ›todfeindlichen Widerspruch‹. Nietzsche fragte sich, was Europa ›den Juden‹ verdankte, und er gab zur Antwort: »Vielerlei, Gutes und Schlimmes, vor allem eins, das vom besten und Schlimmsten zugleich ist: den großen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen.« 46 Dieser ›große Stil‹ (und wer wollte bestreiten, dass damit tatsächlich Nietzsches Tiefstes, Eigenstes, Neuralgisches berührt war!), hängt im Letzten und Ersten nicht an einem Priestertum, sondern an dem Bund des Volkes mit seinem Gott, an der expliziten UnterscheiVgl. hierzu H. Fischer, Nietzsche Apostata oder die Philosophie der Ärgernisse. Erfurt 1931, sowie die tiefe Auslotung des Anti-Verhältnisses Nietzsches zum Christentum J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus. München 1993, 106 ff. 46 Nietzsche, KSA 5, 192. Siehe dazu auch L. Schestow, Auf Hiobs Waage. Über die Quellen der ewigen Wahrheiten. Berlin 1929; und ders., Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie. Graz 1938. 45
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dung von Reinheit und Unreinheit. Die Besonderheit, die Nicht-Indifferenz (Lévinas) ist es, die Nietzsche am Judesein anzog. Die Priester sind im Judentum nicht abgesondert; es ist selbst als Volk von Priestern zu begreifen. Deshalb kann die abgestandene Voltairesche Religionskritik, die Religion als ›Priesterbetrug‹ missdeutet, das Judentum nicht erreichen. Nicht nur die Moralisten, auch die Artisten unter den Philosophen sollten, Nietzsche zufolge, den Juden dankbar sein, denn jedes höhere Leben und sein Geschmack müsse Sinn für diese Besonderheit haben; ein Volk qua Geist, nicht qua ius sanguinis oder ius soli. Eine Verwandtschaft mit seinem eigenen Ideal der ›Vornehmheit‹ hat Nietzsche jüdischer Existenz immer zuerkannt. Auch wenn er später in seinem ›Antichrist‹, der Schrift, die selbst gegen das Verdikt, nicht dem ›Geist der Rache‹ zu verfallen, verstößt, wie keine andere, die Entnatürlichung der Naturwerte proklamiert, deutet sich doch in seiner Wertschätzung der Juden eine zweite, ebenbürtige, Europa bestimmende geistige Signatur an, neben der griechischen Tragödie. Diese Konsequenz hat Nietzsche selbst freilich nie explizit gezogen. Jüdisches Selbstsein, um von Identität nicht zu sprechen, bedarf nicht der Nation, wie Nietzsche klar erkannt hat, und darin mochte das entscheidende Motiv dafür liegen, dass er mit Entschiedenheit zum Anti-Antisemiten wurde. 47 In diesen Zusammenhang gehört es aber auch, dass Nietzsche in seinem ›Antichrist‹ sich vor allem wegen des ›Possenspiels‹ mit dem Alten Testament gegen Paulus wendet. Das Skandalon bestehe darin, dass Paulus dem Judentum das Alte Testament unter den Füßen wegziehe. – Scholem oder Taubes haben es im 20. Jahrhundert nicht anders gesehen. Nietzsche hat, wie Jacob Taubes treffend bemerkt, sich als Gegen-Paulus begriffen. 48 Wenn es ihm gelinge, eine neue Gesetzgebung auf neuen Tafeln niederzulegen, dann entmachte er gleichsam Paulus als Gesetzgeber: doch dies ist seinerseits eine Revision des Unrechtes der Entmachtung des Judentums. Es war dieser hoch innovative, zugleich umstrittene jüdischer Denker, eben Jacob Taubes, der zeigte, wie Nietzsche sich gleichsam als dritter Gesetzgeber gegen 47 Nietzsche Werke Band III. Hg. von K. Schlechta. München 1956, 556. Vgl. hierzu Taubes, a. a. O., 114 ff. Siehe auch die durchgehend hoch instruktiven Beiträge des Sammelbandes W. Stegmaier u. D. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus. Berlin 1997. 48 J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, a. a. O., 119 ff.
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Judentum und Christentum positioniert, eben als Anti-Paulus. (›sein bester Lehrer für Paulus‹, so hat Taubes auch gesagt, sei Nietzsche gewesen!). Dionysische Umzeichnung, Verflüssigung des christlichen Gesetzes, das Leben selbst in seiner Wiederkehr und Zerstörung als Leiden formt Nietzsches Denken aus, wohingegen der ›Gott am Kreuz‹ ein Fluch auf das Leben sei, dies ist schon für Nietzsche selbst nicht nur ein Rekurs auf ›Ältestes Altes‹ im tragischen Zeitalter der Griechen. Dieser Gedankengang steht auch in eminenter Verbindung mit einer jüdischen Linie. Daher gibt es gute Gründe, anzunehmen, dass Nietzsche hier, im Spannungsfeld von Juden- und Christentum, tiefer berührt ist, als gegenüber dem Ende des tragischen Zeitalters mit Sokrates. Am Leitfaden des Leidens den schöpferischen Menschen zu denken und eine neue Ethik zu begründen, führt zu weitreichenden tiefenpsychologischen Folgerungen. So hat Nietzsche bemerkt: »Es ist nicht ganz unmöglich, daß auch die Seelen des Paulus, des Dante, des Calvin und ihresgleichen einmal in die schauerlichen Geheimnisse solcher Wollüste der Macht eingedrungen sind«, und er sieht gerade im Sog des jüdischen Gesetzes, »daß unsere Moralität und deren Ereignisse nicht mit unserem b e w u ß t e n Willen sich decken«. 49 Auch dies dürfte der jüdische Nietzscheanismus und die Nietzsche-Berufung Erich Neumanns geahnt haben: »Der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung des Lebens. Er wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.« 50 Es ist der Messianische Sog (Römer 7), der Taubes von Nietzsche her auf das Paulinische Problem gelenkt hat – ihm gegenüber sieht er alle späteren Reprisen einer ›Umwandlung der Denkart‹ als blasse Reprisen an, einschließlich der Kantischen – und anders als das in eine deutsch-jüdische Symbiose nach kulturprotestantischem Vorbild eingezeichnete bürgerliche Judentum, aber auch im Unterschied zur jüdischen Mystik, hält er an dem messianischen Überschuss fest. 51 Mir scheint, dass eben hier, von Nietzsche aus, ein Zusammenhang anklingt, der in den weiteren Beiträgen dieses Sammelbandes beleuchtet werden wird: ein deutsch-jüdisches Gespräch, in Abgrund und Klarheit, KSA 12, 214. Ebd. 773. Dazu die tiefen Überlegungen bei Taubes, a. a. O.,115 ff. Vgl. auch E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt/Main 1985. 51 Dazu L. Schestow, Athen und Jerusalem, a. a. O., siehe auch: ders., Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren. München 1994. 49 50
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dessen Protagonisten in der letzten Differenz von Opfern und Tätern einander gegenüberstanden. Die jüdische Seite ist indessen weitgehend verstummt, ähnlich wie es der Kommentar Gershom Scholems bei Abschluss von Martin Bubers Schriftübersetzung wollte, dass die Adressaten dieser Übersetzung nicht mehr lebten. 52 Von solchen Landschaften des Todes her bleibt die Aussage, dass Lieder zu singen seien jenseits der Menschen (Celan) in zutiefst beunruhigender Weise wahr. Nietzsche hat bis in die Zeit seines ›Antichrist‹ hinein darauf insistiert, dass das Grundproblem der Welt das Problem des Sinnes von Leiden sei. Was Nietzsche von jeder naturalen vitalistischen Lebensphilosophie unterscheidet, ist eben die Einsicht, dass das Leiden unhintergehbar ist, wenn man den Sinn erkennen will. »Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr, bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung.« Den Gott am Kreuz hat Nietzsche bis in seine späten Wahnsinnszettel als einen Fluch am Leben verstanden, als Verheißung, sich vom Leben selbst zu erlösen, wohingegen »der in Stücke geschnittene Dionysos […] eine Verheißung des Lebens« sei, in dem der Schmerz aber nicht getilgt ist. »Er wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.« 53 Deshalb ist nicht nur die ewige Wiederkehr die revolutionäre Umwendung des christlichen »ephapax«: des ein für allemal. Das Ineinandergreifen von Zerstörung und Geburt dringt (so Taubes zu Recht!) bis ins Innerste in das Geheimnis des christlichen Mysteriums ein. Tut man Nietzsche, dem ganz und gar Doppeldeutigen, der gegen sich selbst verstanden werden wollte, nicht eigentlich Recht, wenn man diesen genuin gläubigen Gegenblick auf ihn wendet, der Nietzsche an Dostojevski und vor allem an Pascal aufgegangen ist?
V.
Nietzsches neue Tafeln. Das Böse und das Schöpferische
(1) Nietzsches ›neue Ethik‹ hat die Einsicht in den Tod Gottes zur Voraussetzung, der ausgelöst ist durch jene blinzelnden ›letzten Menschen‹, die nicht wissen, was sie tun, und die die kosmische Dimension des Geschehens nicht einmal von Ferne ermessen können. Wenn man 52 G. Scholem, An einem denkwürdigen Tage, in: ders., Judaica Band 1. Frankfurt/Main 1963, 207 ff. 53 Nietzsche, Werke, Hg. K. Schlechta, a. a. O., 773.
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von einer Ethik Nietzsches sprechen will, so muss man sie in einem eigenen Sinn Lebenskunst nennen. 54 Dazu gehört, wie Babette Babich jüngst gezeigt hat, dass sich das Selbst formen und modellieren soll wie eine Skulptur. 55 Die Abstraktion einer jeden normativen Ethik des Sollens wird damit von Grund auf überschritten, denn sie würde ignorieren, dass sie selbst ›Wille zur Macht‹ ist. Deshalb droht sie jederzeit nicht redlich mit ihrer eigenen Redlichkeit zu sein. Die Ethik des Mitleids war Nietzsche verächtlich, und jeder Universalismus im Namen der hypertrophen letzten Ziele von Sozialismus oder Liberalismus ist Teil der Auslöschung von Differenz, des Nicht-Egalitären und daher: ›Vornehmen‹, das sich nur im ›Pathos der Distanz‹ erschließt. Die ›schenkende Tugend‹ spielt in Nietzsches Lebenskunst eine entscheidende Rolle. Er hat sie in prachtvollen Farben gemalt. Doch man darf seine Selbstaussage nicht vergessen, dass er den eigenen Gedanken am tiefsten misstraue, wenn sie am schönsten glänzen und glitzerten. So wird am Ende des vierten Teils von ›Also sprach Zarathustra‹ die Wiederkehr dessen vor Augen geführt, das der Übermensch überwinden soll. Nicht nur zeigt sich, dass der Tod bei Göttern immer ein Vorurteil ist. Auch das Mitleiden kehrt wieder, und es richtet sich nun auf den »höheren Menschen«, »Wohlan! Der Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reif, meine Stunde kam« (KSA 4, 408). Und ganz am Ende sind sie doch mit sich selbst alleine. Erst hier rundet sich der Bogenschlag der Zarathustra-Dichtung: der Interpret und der Therapeut treten zurück in die Einsamkeit des innersten Herzens. Doch auch mit der spätantiken Lebens-Kunst, wie sie Pierre Hadot 56 und Michel Foucault 57 in Erinnerung gerufen haben, kann Dies auch gegen die ansonsten sehr sorgfältige Darstellung der Nietzscheschen ›Ethik‹ : M. Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches. Berlin 2000. Siehe aber die ausgezeichnete genealogische Studie: E. Düsing, ›Heilige Selbstsucht‹ (Immoralismus) oder Sich-quälen-Lassen vom Himmel des Ideals (Hypermoralismus). Nietzsches Konzept des individuellen Gesetzes, in: dies. und K. Düsing, sowie H.-D. Klein (Hg.), Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Lévinas. Würzburg 2009, 261 ff. Ferner: E. Düsing, Nietzsches Denkweg. Theologie-Darwinismus-Nihilismus. München 2006. 55 B. B. Babich, Die Naturgeschichte der griechischen Bronze im Spiegel des Lebens. Übers. von Harald Seubert, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 7 (2008) 127 ff. Siehe auch dies., Eines Gottes Glück voller Macht und Liebe. Beiträge zu Nietzsche, Hölderlin, Heidegger. Übers. von Harald Seubert. Weimar 2009. 56 P. Hadot, Philosophie als Lebensform: Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. Frankfurt/Main 2002. 57 M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82). 54
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und will Nietzsche nicht ohne weiteres verwechselt werden. Er formuliert nicht Übungen für Andere, sondern zeigt zunächst den Menschen mit sich alleine, in einer Schrittfolge, die – nach einem Wort von Manfred Riedel – nicht ins allgemein Menschliche, wohl aber in das uns jeweils berührende Allmenschliche führt. 58 Indem Nietzsche jeden Sinn und Hintersinn der Seele ausleuchtet, kultiviert er zugleich eine höchste Achtung des Selbst, die es gleichsam aus dem Nadelöhr der Kritik fädelt und auf den Höhenweg des Monumentalischen (Erinnernswerten) führt. All dies hat selbstredend nichts mit vitalistischer Zucht, auch nicht mit bloßer PAIDEIA, wohl aber mit einer recht verstandenen Therapie zu tun, die den Modus der Selbsttherapie und Selbstübung in sich einschließt. Sie ist darin mehr und anderes als Anthropotechnik, da sie an Leiden und Negativitätserfahrung ihren eigentlichen Antrieb hat, während dagegen die Selbstlebens-ÄnderungsKonzeptionen, die im allgemeinen heute reüssieren, von diesem Nichts und Leiden nichts wissen. Dass der ›Wille zur Macht‹ für Nietzsche das letzte Faktum ist, zu dem wir hinunterkommen, ist so zu verstehen, dass jener Wille, nicht einfach ein ontologisches Prinzip ist, sondern sich erst durch die Methode der Analogie, also interpretativ erschließt. Als Willen zur Macht werden auch Interpretation und das interpretierte Sein ununterscheidbar eins. Dies dürfte für eine tiefenanalytische Zugangsweise ein entscheidendes Strukturmerkmal sein, in dem sie sich durch Nietzsche vielfältig inspiriert sehen mag: die Übertragung des Erkennenden auf das zu Erkennende, und mit ihr die Anthropomorphie, erweisen sich für Nietzsche als unhintergehbar. So fragt sich Nietzsche einmal in ›Jenseits von Gut und Böse‹ : »Gesetzt daß nichts Anderes als real ›gegeben‹ ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften«, dass es also keine andere, tiefere Realität gebe als die der eigenen Triebe, so müsse doch die Frage erlaubt sein, ob dies eine Gegebene nicht ausreiche, um aus seinesgleichen »auch die sogenannte mechanistische (oder ›materielle‹) Welt zu verstehen?« (JGB, KSA 5, 54 f.). Darin sieht Nietzsche letztlich die Grundaufgabe gestellt, wenn man vom Selbst als dem Urtext des ›homo natura‹ ausgeht, um »über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Frankfurt/Main 2004 und ders., Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France (1982/83). Frankfurt/Main 2009. 58 M. Riedel, Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne. Tübingen 2009, 1 ff.
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Herr [zu] werden«, in denen der Mensch sich suggeriert, ›mehr‹, ›höher‹, ›anderer‹, besserer Herkunft zu sein. Bekanntlich kann auch der Topos vom Übermenschen diesen Täuschungscharakter annehmen. Hypothetisch hat Nietzsche daher erwogen, die Willens-Causalität als die einzige anzunehmen. Und ebenso ist hier seine unvergleichliche Topologie des Traumes verortet, die sich schon sehr früh abzeichnet, als Signatur des Apollinischen gegenüber dem dionysischen Rausch. Dies bedeutet nichts anderes als, dass Eidos, Gestalt, für Nietzsche nur als geträumte wahr werden kann. Der Traum nämlich verweist in eine große Genealogie zurück. Später (in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹) gibt Nietzsche diesem Gedanken seine präzisere Kontur: »Ich habe für mich entdeckt, daß die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthaßt, fortschließt –, ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewußtsein, daß ich eben träume und daß ich weiterträumen muß, um nicht zu Grunde zu gehen« (KSA 3, 416 f.). Von hier her hat Nietzsche auch einen folgenreichen Schritt hinter das stoische ›Naturae convenienter vivere‹ getan. Dies könne nur heißen, gemäß dem Leben als seinem Interpretations-Verhältnis zu leben. Auf eine reine Natur kann man ebenso wenig zurückgreifen wie auf die Trennung von Geist und Natur. Vor dieser Voraussetzung ist für Nietzsche die Selbstformung immer auf Symptom-Erkenntnis zurückzuführen: wissen wir doch, dass das Symptom (gr. sympiptein) das Unauflösliche, die »Verknotung«, ist, im Sinne der Aussagen von Klaus Heinrich. Für Nietzsche jedenfalls sind auch Gedanken, Begierden, Bewegungen nichts anderes als Symptome (u. a. KSA 12, 59). An diesem Punkt sollte man innehalten: Man muss dieser Nietzscheschen Konzeption nicht anhängen, man muss sich ihre philologischen Durchschauungs- und Destruktionsbewegungen nicht zu eigen machen. Doch in ihr ist eine sich selbst misstrauende Demaskierung, eine Aufklärung, die um ihre eigenste Dialektik weiß, vollzogen, die seither nur um den Preis unzulässiger Naivität unterboten werden kann – und dies gilt gleichermaßen, wenn man die Linien der Transzendentalphilosophie, der Ontologie oder der Tiefenpsychologie weiterverfolgt. Die ewige Wiederkehr, den abgründlichsten Gedanken, hat Nietzsche zwar gelegentlich als die »wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen« begriffen. Doch darin scheint mir nicht die eigentliche Poin44 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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te zu liegen. Beide entscheidenden Gedanken, Wille zur Macht und ewige Wiederkehr des Gleichen, liegen gerade nicht auf einer Ebene. Es ist allein der Wille zur Macht, der epistemischen Status hat. Heidegger hat mit seiner Zuweisung der Wiederkehr zur Essentia, des Willens zur Macht zur Existentia der Schul-Metaphysik etwas Treffendes gesehen. Ich spreche im Sinn des ›umgekehrten Platonismus‹ lieber von dem dunkelsten Gedanken als dem Anhypotheton der höchsten Idee, das aber bei Nietzsche zugleich die CHORA, Grund und Abgrund des Werdens, ist. 59 Ihm gegenüber ist nur Bejahung möglich oder Verneinung. Nietzsche hat dies in der Ansinnung des nächtlichen Dämons ausgesprochen, der in die »einsamste Einsamkeit« kommt und sagt: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsägliche Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und Alles in seiner Reihe und Folge« – ein Gedanke, der sich als literarisches Muster u. a. bei Sartre und Max Frisch in die Literatur der Moderne eingeschrieben hat. 60 Dies bedeutet Selbst-Entgegnung und gerade nicht, wie das Drehorgellied der Tiere nahelegt, die in sich kreisende Auffassung, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe. Deshalb nehmen die Tiere Zarathustras Auffassung vom schwersten Gedanken zu leicht, und fallen gerade damit in die Schwere der Rancune zurück. Der Wiederkehrgedanke wird, mit ›amor fati‹ verschmelzend, erst dort in der ihm gemäßen Weise und dem ihm zukommenden Tempo gedacht, wo die beiden Wege, zwei Ewigkeiten, einander widersprechen und entgegenblicken. Die Analogie zur Kunst hat Nietzsche schon in den ersten Anbahnungen dieses Gedankens gezogen: »Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat« (KSA 9, 11 [165]) – nicht als Genießender, sondern als Schaffender, nicht als abständiger Zuschauer, sondern im Sinne der tragischen Involviertheit in das Grundgeschehen, und doch da capo rufend! Hier berührt sich ganz offensichtlich Nietzsches Denkbewegung mit der religiösen Kon59 Zur CHORA vgl. Platon, Timaios 47 e 3. Eine spätmoderne Positionierung dazu: J. Derrida, CHORA. Wien 1990. 60 Vgl. insbes. Zarathustra III: Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4, 197 ff. und: Von der großen Sehnsucht, KSA 4, 278 ff.
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templation und transponiert deren eminenten Charakter auf die schöpferische Tugend. Das ›vielspältige‹ in sein Leben verstrickte Selbst wird zu einer Art theoretikos: einem Festzuschauer des Theaters. Man berührt hier ein Muster seit der frühgriechischen Philosophie, die dort, wo sie sich aus dem Mythos löst, schon davon die Rede ist, dass wir in das Leben wie in ein Fest eintreten! Und damit reicht der abgründigste Gedanke »an das Ideal des übermüthigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen«, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus« (KSA 5, 74 f.) heran. Zugleich steht hier aber die Selbst-Entgegnung Nietzsches, Zarathustras, des Lehrers der Lehre selbst auf dem Spiel, wie er in der Topologie des ›Genesenden‹ angezeigt ist: »Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Loos, – als Verkündiger gehe ich zu Grunde« (KSA 4, 276). Man könnte an Ingeborg Bachmann denken: »zu Grund gerichtet wach ich ruhig auf, von Grund auf weiß ich jetzt und ich bin unverloren« (Böhmen am Meer). Wenig dürfte davon zu erwarten sein, ›Nietzsches neue Ethik‹ in Strukturen einer allgemeinen Ethik zu transformieren, und auch Begriffe der ethischen Tradition wie Wohlwollen und Glück, Sollen und Pflicht tragen nicht in den Kern. 61 Nietzsches Denken ist, untrennbar von seinen Lehren, Übergang und Untergang, Warten und Inkubationszeit: Spaltung und Wieder-Einung: Warten des schwersten Gedankens auf seinen Lehrer und des Lehrers auf den Gedanken. Genesung und Krankheit oder Sehnsucht (neomai: Heimweh) kennzeichnen seine Rhythmik. So hat Nietzsche einen engen Zusammenhang zwischen dem Willen zur Macht und einem – freilich im antiken Sinne von ›agathon‹ (areté) verstandenen höchsten Guten im Hier und Jetzt hergestellt. »Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den ›Willen zur Macht‹, die Macht selbst im Menschen erhöht« (Antichrist, KSA 6, 170). Jene Macht verweist auf Überwindung des Widerständigen, Kleinen. Sie ist Steigerung des Lebens zu einem ›Mehr als Leben‹ : nicht als Flucht, sondern seine Formgebung. In den späten Notizen heißt es sehr treffend: »Über das Chaos Herr werden das man ist; sein Chaos zwinDies u. a. gegen Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches, a. a. O., oder U. Schneider, Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Friedrich Nietzsche. Berlin 1983. Demgegenüber die den Umbruch sehr genau erfassende Rezeption bei E. Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik. Zürich 1949.
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gen, Form zu werden; Notwendigkeit werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden-: das ist hier die große Ambition« (KSA 13, 14 [61]). Nietzsche denkt, auch hier ganz im Sinne der ›Leuchtkraft starker Gegen-Begriffe‹, das Selbst, in seiner großen Leibvernunft, nicht als In-dividuum, sondern als ›dividuiert‹. Deshalb bleibt der Imperativ des ›Werde, der/die du bist‹ eine Grundmaxime. Damit richtet er zugleich sein ganzes Augenmerk auf die Einzelnheit und Individualität. Er macht sie aber vor dem Grundtext der Notwendigkeit thematisch, des Chaos am Grunde von Selbst und Welt. Was unsere Lehre sein könne, hat er gefragt, und darauf die Antwort gegeben: »Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängnis, man gehört zum Ganzen, man ist im ganzen.« Deshalb kann Nietzsche als immanentes Ideal dieser Selbstformung nichts anderes begreifen als Vornehmheit, für die weder die Handlungen noch der Werke entscheidend seien, sondern ein Glaube, »irgend eine Grundgewißheit« (so Nietzsche in fast mystischen Worten), »die die Seele über sich selbst hat. Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich selbst« (KSA 5, 232 f.). Damit verbindet sich das Pathos der Distance, der Umgrenzung, des Fernhaltens, das vor Verwechslungen schütze. Diese Selbstformung hat Nietzsche gleichermaßen als ›Für-sich-sein-Wollen‹ und als ›Anders-sein-können‹ beschrieben; und ›Lust‹ hat er als das Differenz-Bewusstsein in diesem Verhältnis angezeigt. Dabei sind deutliche, wenn auch feine, Unterscheidungen einzuüben. Denn das gesuchte große Selbst, das nicht abspaltet, ist niemals einfachhin präsent. Nur in Vorgestalten kann man davon eine Ahnung haben: »Wie? Ein großer Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler des eignen Ideals« (KSA 5, 9). Es ist Sache des ›Pathos der Distanz‹, den Anderen nicht als den Nächsten, sondern als Fernsten zu sehen – ein Gedanke, an den die Persona bei Jung anschließen könnte. Nicht das ›schlechtes Gewissen‹ und Ressentiment evozierende ›Mitleid‹, die Mitfreude denkt Nietzsche als die ›Hilfe‹ derjenigen, »deren Noth du ganz verstehst«, in der Achtung vor dem ›eigenen Weg‹, der »eine zu harte und anspruchsvolle Sache« sei und »zu ferne von der Liebe und Dankbarkeit der Anderen« (KSA 3, 567). Nichts wäre irrtümlicher als die (in heutiger Leibphänomenologie mitunter begegnende Vorstellung), die Umzeichnung von dem singulären Ich-Pol auf das Selbst führe auf eine neue Unmittelbarkeit. Dies Selbst ist Nächstes und Fernstes in einem: Es ist eine Einheit in der Vielspältigkeit seines leiblichen, nervösen, affizie47 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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renden, perzepierenden Organismus, den Nietzsche, anders als Kant nicht mehr als teleologisches Gebilde denken kann. Nietzsche hat gleichwohl nicht aufgehört, den Mangel an Telos zu beklagen, und gerade darin antwortet er Kants Deutung des Teleologischen als einer Selbstauslegung, und eben nicht als objektiver Tatsache und Eigenschaft von Einzeldingen: »Noch hat die Menschheit kein Ziel. / Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch – sie selber noch?« (Za I, KSA 4, 76: Tausend Ziele). Es ist gerade die – wie Nietzsche sehr wohl weiß: von den Griechen gefürchtete – Unendlichkeit (das ›Grenzenlose: APEIRON), auf die dieses Ethos verweist, weshalb Nietzsche seine Ethik auf die Suche nach einer Lust, die Ewigkeit will, dieses APEIRON schlechthin, bezieht. In diesen Zusammenhang gehört das gerechte, richtende Auge, oder: die Liebe mit sehendem Auge, für Nietzsche ein Vorklang »höchster Meisterschaft auf Erden«, dem er wohl selbst nur selten nahe kam. Man wird darin auch ein Maß für die Selbstsorge im Wissen um die tiefenpsychologische Dimension des Selbst erkennen; und nicht zuletzt für jedes therapeutische Intersubjektivitäts- und Selbstverhältnis, jedenfalls dann, wenn sie nicht ent-mündigen, nicht in eine ›Condition honteuse‹ führen wollen. Mit der Einsicht, nicht Herr im eigenen Haus zu sein, ist keine Exkulpation verbunden, sondern die Nietzschesche Einsicht, dass alle (Autonomie voraussetzenden) Begriffsdome, »so feierlich, so end- und letztgültig [sie] sich auch gebärde[n], doch nur edle Kinderei und Anfängerei« seien (JGB, KSA 5, 11). Jede Tugend ist Dummheit, hat Nietzsche, direkt und indirekt, zu verstehen gegeben. Indessen kann ein leicht spöttisches – und zugleich vergoldetes – Abendlicht dieses Ethos der Redlichkeit erhellen, wenn es auf die alteuropäische Kultur blickt, mit einer leichten Verachtung, zugleich aber einem Gran Seligkeit und rückschauender Liebe. Das Ethos des Selbst besagt auch, nichts gegen die Notwendigkeit zu unternehmen; die grausen Moiren bleiben der Schatten, keine Entmischung verschlägt etwas. Doch hier treffen wir wieder auf die starken Gegenbegriffe. Denn dies bedeutet auch, sich selbst auf die Probe der eigenen Unabhängigkeit zu stellen: »Nicht an einer Person hängen bleiben: und sei sie die geliebteste, – jede Person ist ein Gefängnis, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben […]. Nicht an einer Wissenschaft […] Nicht an seiner eigenen Loslösung […] Nicht an unseren eigenen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer 48 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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irgend einer Einzelheit an uns werden […]. Man muss wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit (JGB 41, KSA 5, 58 f.). Dem gleichsam tiefenanalytischen Imperativ, zu werden was man ist, fügt Nietzsche deshalb als Kommentar hinzu, »Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist« (EH, KSA 6, 293). Damit ist eine Distanziertheit angesonnnen, die heutigen Nietzsche-Lesern besser ansteht, als jeder sich selbst trauende Triumphgestus der Vergangenheit: eine sich selbst misstrauende Unverfügbarkeit – als Achtung vor der Incommensurabilität seiner selbst. Sie scheint mir auch dort noch längst nicht erreicht, wo, unstrittig mit einem gewissen Recht und auf Nietzsches Spuren, die Übung als eine Revolution aller Philosophie proklamiert wird, deren hauptsächliches Problem es sei, dass sie noch zu sehr in den Bindungen der Religion befangen bleibe (Sloterdijk). Wenn Stefan George auf Nietzsche bezogen dichtete: »sie hätte singen sollen diese seele«, und eben nicht sprechen, nicht reflektieren, dann ist darin eine Sehnsucht nach einem Nietzsche der ›erlösenden‹ Einheit artikuliert, den es nicht geben konnte. Der Preis war hoch: Nietzsche hielt Dualismen aufrecht; wie die Spaltung (Selbst-Spaltung) zwischen Starken und Schwachen. Dies bedeutet aber auch, wie zuletzt Michael Steinmann eindrücklich gezeigt hat: »Die Ethik der Autarkie negiert die Moral also nicht, in dem Sinn, dass ein autarker Mensch meinen dürfte, lügen, stehlen oder morden zu dürfen; sie kann ihre Funktion aber auch nicht ersetzen, da nicht angenommen werden kann, dass jeder in autarker Weise lebt.« 62 Nietzsches neue Tafeln der ›Autarkie‹ sind der Verallgemeinerung nicht zugänglich, allenfalls dem ›Ansinnen‹ an ein Du in der ›stillsten Stunde‹, das für Nietzsche (ähnlich wie für Platon) jedem Dialog zugrunde liegen muss. (2) Deshalb hat Nietzsche auch die Grenze zwischen Ethik und Kunst durchlässig gemacht: Die Wissenschaft durch die Optik der Kunst zu betrachten, die Kunst aber durch jene des Lebens, dies ist der lebensethische Anspruch Nietzsches, weshalb er dem – vermeintlichen – Kantischen Fehlgriff der Bestimmung der Kunst als ›Wohlgefallen ohne Interesse‹ widersprach. Nietzsche hielt bekanntlich mit Stendhal die Formel das Schöne sei ›une promesse du bonheur‹ dagegen: ein Versprechen von Glück, noch einmal: ein Versprechen nicht mehr! 63 62 63
So Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches, a. a. O., 192. KSA 5, 349.
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Nietzsches Ethik verweist auf den schöpferischen Menschen: Die Rede ›Von alten und neuen Tafeln‹ in der ›Zarathustra‹-Dichtung hat dabei zu Recht eine tiefe Wirkung ausgeübt. Offensichtlich formuliert jener Passus eine Inversion des Zorns des Moses angesichts der Gesetzesbrecher. Der Zorn richtet sich gegen die Tafeln selbst und die ›Weg-Müden‹, ›Nimmer-Frohen‹, Welt-Verleumder: der Akt des Zerbrechens ist revolutionär.
VI. Zum Anfang zurück: Verwechseln und Verstehen Die Nietzsche-Rezeptionen haben seit dem Erlöschen des Nietzscheschen Ingeniums große, teils dramatische Metamorphosen durchlaufen. Der freie Geist und einsame europäische Wanderer zieht nach seinem Zusammenbruch erstmals größte europäische Aufmerksamkeit auf sich. Eine Faszinationsgeschichte sondergleichen, offen und verdeckt, eine Ausstrahlungsgeschichte auf bildende Kunst, Literatur, nicht zuletzt Tiefenpsychologie. In ihrem Sog gerät Nietzsche in den Bürgerkrieg der Ideologien. Und nur ein Exorzismus gefährlichen Denkens schien seiner unheimlichen Wirkung nach 1945 Abbruch tun zu können. Wenn Georg Lukács Nietzsche in die Geschichte des – unleugbaren – deutschen Irrationalismusproblems und der Genealogie einer ›Zerstörung der Vernunft‹ einbezog, so war dies freilich ein fatales Missverständnis, ja Indiz einer Verdrängung: Die Vernunft, die aus der Oberfläche in die Tiefe steigt, bleibt auf Nietzsche verwiesen. Semiotisch gebrochen kehrte er wieder, vor allem aus Frankreich. Seine letzten Fragen wurden dabei einer Epoché unterzogen. Die letzten metaphysischen Fragen werden bei Derrida, Deleuze oder Lyotard eingeklammert. Dies bedeutet freilich nicht, dass sie damit aufgelöst wären. Jener Nietzsche aus Frankreich ließ in immer weitergehender Textualisierung tausend Zeichen erkennen, in den Zeichen aber nicht mehr die Welt Jenseits von Gut und Böse: eine Krankheit, die sich mit den Epigonen der Meister der Dekonstruktion immer tiefer einnistete. Nietzsche wirft nach all dem noch immer Fragen auf, die noch längst keine Antwort gefunden haben. Und ich kann auch nicht erkennen, dass die leitenden Paradigmata heutiger ›Kulturwissenschaft‹ dazu in der Lage wären: weder ist dies von einer zeichentheoretisch konstruktivistischen Lesart zu erwarten, die die tiefe Melancholie angesichts der verlorenen Unmittelbarkeit im Geschehen der Interpretationen ver50 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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kennt, noch von den Erwartungen einer wiederkehrenden neuen Präsenz (Gumbrecht). 64 Wie auch? Nietzsche dringt in das Innere des Selbst und seiner Zeit ein, das in seinen Abgrund, seine ›grausen Moiren‹ blicken – und sich gerade so finden soll; jenseits der abstrakten Fiktion des auf dem Eisberg schwebenden ›Ich denke‹ und diesseits des sorglosen Geschwätzes vom aufgelösten Subjekt. Er unternimmt das Wagnis der Doppelexistenz des Mythologen und des psychologisch tiefenphilosophischen Entzauberers der Mythologie. Damit nimmt er die Ambivalenz der Moderne in sich auf und hält ihren vermeintlichen Emanzipationen einen wenig erfreulichen Spiegel vor, der umso treffender wird je eindimensionaler und negativitätsvergessener diese Moderne sich selbst feiert, dem tanzenden Volk auf der untergehenden Titanic gleichend, ihre Alternativlosigkeit beschwört. Der Missbrauch Nietzsches durch Ideologen ist nicht so weit entfernt von der Geschichte seiner Verdrängung: eine klassische Sündenbockerzählung, im Sinne von René Girard. 65 Die heutige Nietzsche-Rezeption scheint domestiziert. Es gibt eine hoch differenzierte Forschung, die alles bewahrt und nichts vergessen kann; die antiquarische Geschichtsforschung hat ihren luzidesten Kritiker eingeholt. Von den Brosamen, die von seinem Tisch fallen, leben Excellenzcluster und kulturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen. Was bei ihm Schlag und Erschütterung, Schmerz und Jubel der Erkenntnis ist, goldene Heiterkeit und äußerste Verzweiflung des Lebens und Denkens, wird zum unverbindlichen, flachen »Theoriedesign«. Und daneben lädt Nietzsche besonders zur Erinnerungspflege und zum Vereins-Philosophieren ein, er wird in die Cura genommen von den üblichen Verdächtigen: den alten Atheisten und Kettenhundfreigeistern, den Relativisten, den absolut kommod und unkritischen Modernen, den Lebenskunst-Anhängern, sie alle reklamieren ihn für sich. Und er würde mit der zarten verletzt verletzenden ZarathustraAttitüde eine leise, doch unhintergehbare Geste der Verachtung ihnen allen andeuten – und ihnen immer schon voran sein. Mein spanischer Doktorand Jordan Berzal ein selbst vom Leiden geschlagener freier Geist, sagte mir neulich, Nietzsche sei für ihn der 64 Vgl. H. U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz. Frankfurt/Main 2004. 65 Dazu, wieder pars pro toto, R. Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Neuausgabe. Freiburg, München 2009.
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Aristoteles der Moderne; denn er verweist auf die Unhintergehbarkeit der letzten Fragen, die dem Seienden auf den Grund gehen. Mir scheint, mit diesem Gedanken der Kern einer künftigen Nietzsche-Befragung angezeigt – und mir scheint, dass die in manchem selbst das Pathos der Distanz wahrende tiefen- und höhenpsychologische Nietzsche-Wahrnehmung auch interessieren muss, weil sie davon eine Ahnung hatte und weil sie diese Einsicht, anders als Heidegger, nicht auf das konventionelle metaphysische Tableau zurückführte. Jene Nietzsche-Rezeptionen, von denen hier die Rede ist, das Nietzsche-Gespräch der jüdischen Jungianer, unterscheiden sich jedenfalls von den Ligaturen aus Unverbindlichkeit und Idee fixe, die den kurrenten Nietzsche vereinnahmen: Eigenste Fragen nach der neuen Ethik, aber auch namentlich jüdischen Selbstverständnisses werden mit und aus und gegen Nietzsche zur Sprache gebracht; auch, wo deutlich wird, dass er ein Feind war und ein Faszinosum blieb. Jene Gedanken, die man gegen sich selbst denkt, verdienen besondere Beachtung. Sie wiegen schwerer, oder: im Sinne des verwundenen Geistes der Rache leichter, als die anderen. Wer solche Gedanken zu denken wagt, ›verwechselt‹ Nietzsche nicht, auch wenn er ihn nicht im Letzten verstehen, ja verfehlen mag. Die jüdische Rezeption, Erich Neumann in ihrem schmerzlich affinen Verhältnis zu C. G. Jung können also die Alterität Nietzsches wieder sichtbar machen. Nicht verwechselt zu werden heißt, um auf den Anfang zurückzukommen, für Nietzsche gerade nicht, schon verstanden zu werden. Comprendre c’est égaler, hat Nietzsche hervorgehoben – und darin liege etwas Beleidigendes. An der ›fremden Vernunft‹ findet das Verstehen seine Grenze und seinen Grund: dieses Gesetz hat Nietzsche jedweder Rezeption vorgeschrieben, nicht zuletzt der eigenen.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
Einführung zum Freud-Nietzsche-Diskurs In der geistigen Entwicklung Nietzsches und Freuds gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen: die dramatisch erlebte Einbuße an Gottes-, Welt- und Selbstgewissheit in der Jugend, die frühe Loslösung von der Religion, dann die radikale Infragestellung der Metaphysik und die verstärkte Hinwendung zu den Naturwissenschaften. Im Studium und in ihrer beruflichen Sozialisation wandten sie sich sehr unterschiedlichen Professionen zu: der eine der Klassischen Philologie, der andere der biologischen Naturforschung und Spezialisierung als Nervenarzt. Durch ihre Beteiligung an maßgeblichen wissenschaftlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts über die menschliche Evolution, Triebe, Moral, Kultur, Physiologie, Psychologie, Unbewusstes, Krankheit und Gesundheit u. v. a. kam es zu einer Annäherung. Der Philologe und Philosoph Nietzsche unterzog die herkömmliche Moral einer radikalen Kritik und wuchs dabei zu einem wirkmächtigen Psychologen des Unbewussten heran. Freud schlug von seiner neurologischen Praxis aus eine Brücke zur Psychologie und Psychotherapie und erkannte dabei den engen Zusammenhang von individuellen und kulturellen »Krankheiten«, von Verdrängung und repressiver Moral. Wenn wir ihre psychologischen Ansätze miteinander vergleichen, so verstärkt sich der Eindruck ihrer geistigen Verwandtschaft. So sprach Freud explizit davon, dass Nietzsches »Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken«. 1 Bei näherer Betrachtung kann Nietzsches »entlarvende Psychologie« als Vorstufe und Ergänzung, in mancher Hinsicht aber
S. Freud, Selbstdarstellung, in: Gesammelte Werke (GW) 14. Frankfurt/M. 1972, 31– 96, hier 86.
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auch als kritisch-kreativer Gegenpol zu Freuds »Tiefenpsychologie« betrachtet werden. 2 Der Freud-Nietzsche-Diskurs stand von Anfang an unter keinen guten Vorzeichen. Ein erstes und bedeutsames Dokument für diesen Diskurs sind die Protokolle der 1902 von Freud gegründeten »Mittwoch-Gesellschaft«, der Keimzelle der psychoanalytischen Bewegung, In die wöchentlichen Sitzungen des Freud-Kreises wurde Nietzsche »immer wieder hineingezogen, sei es um ihn zu analysieren, sei es, um ihn zur Unterstützung der psychoanalytischen Thesen zu gebrauchen«. 3 An einem »Nietzsche-Abend«, der am 28. Oktober 1908 stattfand, machte Freud eine Äußerung, die für die Nietzsche-Rezeption der frühen Psychoanalyse als charakteristisch gelten kann: »Was uns stört, ist, dass er das ›ist‹ in ein ›soll‹ verwandelt hat. Der Wissenschaft ist aber ein Soll fremd. Er ist da noch Moralist geblieben, ist den Theologen nicht losgeworden.« 4 Nietzsche wird zwar als höchst intuitiver Psychologe anerkannt, aber als bloßer Philosoph, Moralist bzw. Theologe betrachtet und damit aus den »wissenschaftlichen« Bestrebungen der Psychoanalyse gleichsam »ausgegrenzt«, was sich als Weichenstellung mit Langzeitfolge erwies – sehr zum Nachteil für die Psychoanalyse selbst. Die Verwendung pathographischer Kategorien tat ihr Übriges, um durch Argumente ad hominem den Blick auf Nietzsches Denken selbst zu verstellen. Umgekehrt wurde Freud von der Nietzsche-Forschung zunehmend kritisch unter die Lupe genommen. Im Kern ging es um Zweifel an der von Freud behaupteten geistigen Unabhängigkeit von Nietzsche 5 – bis hin zu Plagiatsverdächtigungen. Zudem waren die meisten Vergleichsstudien zu Nietzsche und Freud auf bestimmte rezeptionsgeschichtliche Episoden und eine Parallelisierung bestimmter Theoreme und Textpassagen beschränkt. Nach Vgl. G. Gödde, Nietzsche und Freud – Übereinstimmungen und Differenzen zwischen »Entlarvungs«- und »Tiefenpsychologie«, in: J. Figl (Hg.), Von Nietzsche zu Freud. Übereinstimmungen und Differenzen von Denkmotiven. Wien 1996, 19–43. 3 P. Giampieri-Deutsch, Alfred von Winterstein und die Rolle der Philosophie in den Diskussionen der Mittwoch-Gesellschaft, in: E. Federn u. G. Wittenberger, Aus dem Kreis um Sigmund Freud. Zu den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Frankfurt/M. 1992, 69–95, hier 69. 4 H. Nunberg u. E. Federn (Hg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Band II, 1908–1910. Frankfurt/M. 1967, 28. 5 Vgl. M. Kaiser-El-Safti, Der Nachdenker. Die Entstehung der Metapsychologie Freuds in ihrer Abhängigkeit von Schopenhauer und Nietzsche. Bonn 1987, 233 ff. 2
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
Vorarbeiten von P.-L. Assoun, 6 J. Golomb, 7 R. Haslinger, 8 R. Lehrer, 9 J. Figl 10 u. a. hat sich Reinhard Gasser in seinem 1997 erschienenen Buch »Nietzsche und Freud« der Aufgabe eines umfassenden Werkvergleichs gestellt und eine große Materialfülle durchgearbeitet, um die wissenschaftshistorischen und theoretisch-systematischen Bezugspunkte beider Denkwelten zu erfassen. In »Traditionslinien des ›Unbewußten‹ – Schopenhauer, Nietzsche, Freud« habe ich den wissenschafts- und philosophiehistorischen Kontext der beiden Denker und ihrer Werke weiter zu erhellen versucht.11 Ein neuer Freud-NietzscheDiskurs, wie er sich seit den erwähnten Arbeiten angebahnt hat, setzt voraus, dass man sich von Jahrzehnte lang vorherrschenden Klischees und der damit einhergehenden wechselseitigen Abwertung befreit und sich unbefangen dem Denken der jeweils anderen Seite öffnet. In meinem Beitrag möchte ich folgenden Fragen nachgehen: Inwieweit bildet Nietzsches Moral- und Gewissenspsychologie (I) die Grundlage für Freuds Konzeptualisierung des Gewissens (II)? Inwieweit bestehen strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen beiden (III)? Welche Folgerungen könnten sich daraus für die Auseinandersetzung zwischen der gegenwärtigen Psychoanalyse und der Nietzsche-Forschung ergeben (IV)?
I.
Die Entwicklung einer Moral- und Gewissenspsychologie bei Nietzsche
Seit dem Werk ›Menschliches, Allzumenschliches‹ (1878) wird die Infragestellung, Kritik und Perspektivierung der Moral zu einem zentralen Anliegen Nietzsches, und zugleich rückt eine neuartige entlarvende Psychologie in den Brennpunkt seines Schaffens. Bereits im ersten Aphorismus tritt er programmatisch für eine »Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen« 12 Vgl. Freud und Nietzsche (1980). London, New York 2000–02. Vgl. Nietzsche’s Enticing Psychology of Power. Jerusalem 1987. 8 Vgl. Nietzsche und die Anfänge der Tiefenpsychologie. Regensburg 1992. 9 Vgl. Nietzsche’s Presence in Freud’s Life and Thought. On the Origins of A Psychology of Dynamic Unconscious Mental Functioning. New York 1995. 10 Vgl. Von Nietzsche zu Freud, a. a. O. 11 2. überarb. u. erweit. Aufl. Gießen 2009 12 Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). München 1980, Band 2, 24. 6 7
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ein – diese Metapher für die Analyse, die Zergliederung eines komplexen psychischen Gefüges in elementare Motive und Triebregungen verwendet später auch Freud. 13 Im Kapitel »Zur Geschichte der moralischen Empfindungen«, das an die französische Moralistik anknüpft, setzt Nietzsche das »Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches« ausdrücklich mit »psychologischer Beobachtung« gleich (KSA 2, 57). Die Auferweckung der »moralischen Beobachtung« sei nötig geworden, weil es in der Geschichte der Moralphilosophie schwer wiegende Irrtümer gegeben habe, die endlich der Aufdeckung und Korrektur bedürften. Aufgrund einer irrtümlichen Analyse »der sogenannten unegoistischen Handlungen« habe sich eine »falsche Ethik« mit einer starren Aufspaltung zwischen dem Egoistischen als dem Bösen und dem Unegoistischen als dem Guten aufgebaut, die eine »Selbstzertheilung des Menschen« bewirkt habe. Solche tief sitzenden moralischen Vorurteile müssten überwunden werden, um dem Menschen dazu zu verhelfen, aus sich eine »ganze Person« zu machen (ebd. 60, 76 u. 92).
1.
Hinwendung zur Moralpsychologie
Seinem Werk ›Morgenröte‹ (1881) gibt Nietzsche den Untertitel »Gedanken über die moralischen Vorurteile«. Wie er später in ›Ecce homo‹ (1888) konstatiert, habe er damit seinen »Feldzug gegen die Moral« begonnen (KSA 6, 329). In Aph. 38 (1881) wird der durchdringende Einfluss der Moral auf die Triebformung angesprochen: »›Die Triebe durch den moralischen Charakter umgestaltet‹. – Der selbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefühl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der Demuth, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich an’s Herz gelegt und gut geheissen hat. Das heisst: es hängt sich ihm entweder ein gutes oder ein böses Gewissen an!« (KSA 3, 45). Nietzsche will darauf hinaus, dass der Trieb, der zunächst keinen moralischen Charakter hat, ihn erst unter dem prägenden Einfluss der Moral als seine »zweite Natur« erwirbt. Dies liege daran, dass die Moral das gute oder böse Gewissen des einzelnen und damit auch dessen »Triebschicksal« prägt, um einen Ausdruck Freuds zu gebrauchen. 13
Vgl. Wege der psychoanalytischen Therapie (1919), GW 12, 184.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
In der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ (1882) betont Nietzsche nachdrücklich, dass das Problem der Moral bisher in Wissenschaft und Philosophie verleugnet worden sei: »Ich sehe Niemanden, der eine Kritik der moralischen Werthurteile gewagt hätte« (KSA 3, 578). Eine solche Kritik setzt »eine Stellung ausserhalb der Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen, klettern, fliegen muss«, um eine Loslösung von »kommandirenden Werthurtheilen« zu vollziehen, die »uns in Fleisch und Blut übergegangen sind (ebd. 633). Immer wieder prangert Nietzsche die »Moral des Mitleidens« (KSA 3, 131) bzw. »Mitgefühls-Moral« (Götzendämmerung: KSA 6, 137) oder »Entselbstungs-Moral« (Ecce homo: KSA 6, 372) an. In ›Jenseits von Gut und Böse‹ (1886) wendet er sich gegen die »Moral der Furchtsamkeit« bzw. »Herdenmoral« (KSA 5, 123) und führt die Unterscheidung zwischen »Herren-« und »Sklavenmoral« (ebd. 208 ff.) ein. Eine Nähe zu Freud zeigt sich in seiner Kritik der »Absichtenmoral«, wonach eine Handlung ursächlich auf eine bewusste Absicht zurückzuführen sei. Er betont, »dass gerade in dem, was nicht-absichtlich an einer Handlung ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre Absichtlichkeit, alles, was von ihr gesehn, gewusst, ›bewusst‹ werden kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, – welche, wie jede Haut, Etwas verräth, aber noch mehr verbirgt?« (ebd. 51). Da die herkömmliche Absichtenmoral die unbewussten Motive und Konflikte ausblendet, muss sie nach Nietzsches Einschätzung überwunden werden. Während die gesamte bisherige Psychologie an »moralischen Vorurteilen und Befürchtungen hängen geblieben« sei, wolle er sich gerade in diese Tiefe vorwagen. Ein »Physio-Psychologe« seiner Art habe »mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen«. Nur wenn er einen »eignen Rest Moralität« überwunden habe, könne er in eine tiefere Welt der Einsicht vorstoßen. In diesem Kontext definiert Nietzsche seine Psychologie als »Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht« (ebd. 38). Nach ›Jenseits von Gut und Böse‹ schreibt Nietzsche im Jahre 1886 ›Neue Vorreden‹ zu seinen bisherigen Büchern, in denen er seine eigene Erkrankung an der alten Moral und seine persönliche Loslösung auch im Sinne einer Genesung in vielen Nuancen thematisiert, um dann die Frage aufzuwerfen: »Sollte mein Erlebnis – die Geschichte einer Krankheit und Genesung, denn es lief auf eine Genesung hinaus – nur mein persönliches Erlebnis gewesen sein? Und nur gerade mein 57 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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›Menschlich-Allzumenschliches‹ ?« 14 Dass es sich nur um eine rhetorische Frage handelt, ist klar. Krankheit wird nunmehr als Durchgangsstadium zu einer neuen stärkeren Gesundheit verstanden: »Erst der große Schmerz, jener lange langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsere letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmütige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsere Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu tun«. 15 Eine Fortsetzung dieser moralischen Selbstanalyse, wie man es nennen könnte, findet sich in den Stellungnahmen zu seinen Büchern in ›Ecce homo‹. Dort spricht er von »jener unwürdigen ›Selbstlosigkeit‹«, aus der er sich durch die Krankheit langsam herausgelöst habe, und der dadurch erreichten Wandlung: »Jenes unterste Selbst, gleichsam verschüttet, gleichsam still geworden unter einem beständigen HörenMüssen auf andre Selbste […] erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft – aber endlich redete es wieder« (KSA 6, 326). Als Ideal taucht wiederum die »grosse Gesundheit« auf: »das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess« (ebd. 338). In der ›Genealogie der Moral‹ (1887) widmet sich Nietzsche einer Kulturgeschichte der Moral. Aus seinen genealogischen Bemühungen, Moral »als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständnis«, aber auch »als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift« (KSA 5, 253) zu erkennen, erwächst nach W. Stegmaier 16 eine »Anti-Ethik«, der die Auffassung zugrunde liegt, dass Moral ein Mittel des Lebens und damit Manifestation einer Macht sei. »Nach ihrem Selbstverständnis will Moral aber gerade eine Manifestation der Macht nicht sein, sondern im Gegenteil die Aufhebung aller Macht. Wird sie durch die Erklärung ihrer Entstehung dazu gebracht, sich selbst als Macht zu erkennen, muss sie sich selbst aufheben«. 17 Im zweiten Teil der Abhandlung geht es um die These, dass die lebensfeindlichen Werte der christlichen Moral beim Individuum zu 14 15 16 17
Ecce Autor. Die Vorreden von 1886 (Hg. C. A. Schreier). Hamburg 1990, 23. Ebd. 37. Nietzsches ›Genealogie der Moral‹. Darmstadt 1994, 6. Ebd. 54.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
einer schwerwiegenden Trieb- und Affektunterdrückung, im weiteren zu einer »Verinnerlichung« der nach außen gehemmten Affekte und damit zu einer »Wendung gegen die eigene Person« sowie zur Herausbildung des »schlechten Gewissens« geführt hätten (KSA 5, 322 f.). Nietzsches moralpsychologisches Anliegen war es, die »ganze unbewußte Seite unserer Moralität, z. B. unsere unbewußte Heuchelei« zu erfassen (Nachgelassene Fragmente 1884–85: KSA 11, 345). Hinter den »grundsätzlichsten Verschiedenheiten der Philosophien« stehe die »unbewußte Führung durch moralische Hinterabsichten«, so dass »das moralische Problem radikaler ist als das erkenntnißtheoretische« (Nachgelassene Fragmente 1885–87: KSA 12, 155). Diese kritische Perspektivierung der Moral hat in der Philosophischen Anthropologie, Ethnologie, Soziologie, Soziobiologie u. a. große Wirkungen entfaltet. Die Moral erschien »mehr und mehr als bedingt durch die Naturgeschichte, die Lebensbedingungen der Völker, der Institutionen der Gesellschaft, die Triebschicksale der Einzelnen«. In diesen Denkbahnen hat sich auch Freud bewegt, indem er das moralische Handeln als »Resultante aus einer begehrlichen, abenteuerlichen und unberechenbaren Natur des Einzelnen und einer autoritären, disziplinierenden und rationalisierenden Macht der Gesellschaft« deutete. 18
2.
Zur Psychologie und Genealogie des »schlechten Gewissens«
Im Rahmen seiner Perspektivierung der Moral hat Nietzsche zentrale Begriffe wie Gewissen und Schuld neu interpretiert. In ›Menschliches, Allzumenschliches‹ äußert er Zweifel am »guten Gewissen« bei den angeblich »guten Charakteren«: »Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich.« Was den »Charakterstarken« fehle, sei die Kenntnis der vielen Möglichkeiten und Richtungen ihres Handelns – die Freiheit des Intellekts. Sie seien noch »gebundene Geister«, die erst eine Wandlung ihres Gewissens vollziehen müssten, um zu »freien Geistern« werden zu können (KSA 2, 192). 18
Stegmaier, Nietzsches ›Genealogie der Moral‹, a. a. O., 15.
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Wenn Moralität nichts anderes als »Gehorsam gegen Sitten« sei, erklärt Nietzsche in der ›Morgenröte‹, dann wäre der freie Mensch »unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet ›böse‹ so viel wie ›individuell‹, ›frei‹, ›willkürlich‹, ›ungewohnt‹, ›unvorhergesehen‹, ›unberechenbar‹. […] Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die seltneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, dass sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja dass sie sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen« (KSA 3, 22 u. 24). In ›Jenseits von Gut und Böse‹ wird das Bedürfnis nach Gehorsam als »eine Art formalen Gewissens« bezeichnet, da es ein Sollen oder Nicht-Sollen gebiete: »du sollst irgend etwas thun, irgend etwas unbedingt lassen«. Dieses Bedürfnis nehme an, »was ihm nur von irgend welchen Befehlenden – Eltern, Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen – in’s Ohr gerufen wird« (KSA 5, 119). Problematisch sei aber auch, dass die »Unabhängigen« an ihrem »schlechten Gewissen« leiden und sich nicht anders davor zu schützen wissen »als dadurch, dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden«, sei es »der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes«, oder dass sie sich als »erste Diener ihres Volks« oder als »Werkzeuge des gemeinen Wohls« ausgeben (ebd. 119 f.). Über die ›Genealogie der Moral‹ schreibt Nietzsche im Rückblick: Die erste Abhandlung behandle »die Psychologie des Christenthums aus dem Geiste des Ressentiments«, die zweite »die Psychologie des Gewissens«, aber nicht die Stimme Gottes im Menschen, sondern den »Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach aussen hin sich entladen kann«, und die dritte »die ungeheure Macht des asketischen Ideals«, obwohl es »das schädliche Ideal par excellence« sei (KSA 6, 352). In unserem Zusammenhang ist die zweite Abhandlung von besonderem Interesse, da sie das »schlechte Gewissen« zum Gegenstand hat, das Freud später im Rahmen seiner Über-Ich-Theorie konzeptualisiert, ohne explizit auf Nietzsche Bezug zu nehmen. Beim Menschen habe sich in einer langen Evolutionsgeschichte und Form-Verwand60 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
lung ein Gedächtnis für Verantwortung herausgebildet: »das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominirenden Instinkt«, den das autonom gewordene Individuum »sein Gewissen« nennt (KSA 5, 294). Eine solche Entwicklungsstufe des Gewissens ist aus Nietzsches Sicht allerdings kaum je erreicht worden. Die meisten Menschen litten an schlechtem Gewissen und moralischen Schuldgefühlen, deren »aussermoralische« Herkunft Nietzsche mit Hilfe verschiedener genealogischer Hypothesen aufzudecken sucht. Nietzsches eigene Hypothese über die Herkunft des schlechten Gewissens lautet sinngemäß: Es sei nichts anderes als ein an der äußeren Entladung gehemmter, nunmehr nach innen gewendeter Instinkt der Grausamkeit. »Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand«. Die daraus resultierende Unterdrückung der Aggression habe zu einer verhängnisvollen Verinnerlichung geführt: »Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne« (ebd. 321 f.). Mit der Verinnerlichung der Aggression wuchs »erst das an den Menschen heran, was man später seine ›Seele‹ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist«. Mit dem Einsatz gesellschaftlicher Machtmittel sei in einem langwierigen menschheitsgeschichtlichen Prozess erreicht worden, »dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten«. Mit dem schlechten Gewissen sei die »größte und unheimlichste Erkrankung« in der Menschheitsgeschichte eingeleitet worden: »das Leiden des Menschen am Menschen, an sich«. Es sei die Folge »einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte« (ebd. 322 f.). Die krankhafte Dynamik von Affektunterdrückung, Wendung der Affekte gegen die eigene Person und schlechtem Gewissen ist für Nietzsche in erster Linie ein phylogenetisches Problem, woraus er eine umfassende Zivilisationskritik herleitet. Dadurch sei »ein ungeheures 61 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Quantum Freiheit aus der Welt, mindestens aus der Sichtbarkeit geschafft und gleichsam latent gemacht worden«, und »dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in’s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen« (ebd. 325). In der dritten Abhandlung wird die Genealogie des schlechten Gewissens und der damit verbundenen Schuldgefühle unter dem Gesichtspunkt der »asketischen Ideale« vertieft. Die Herleitung der Schuldgefühle aus unterdrückter Grausamkeit sei noch ein »Stück Thierpsychologie«. Unter den Händen des christlichen Priesters habe sich dann eine Umdeutung des schlechten Gewissens in das Eingeständnis einer persönlichen Sündhaftigkeit vollzogen: »Der Mensch, an sich selber leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch, […] bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester, den ersten Wink über die ›Ursache‹ seines Leidens; er soll sie in sich suchen, in einer Schuld, in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen Strafzustand verstehn …« (ebd. 389). Mit der Umdeutung von Leiden in »Sünde« wurden masochistische Phänomene wie das Schwelgen in Leidens- und Strafbedürfnissen oder das Lechzen nach Schmerzen legitimiert. Und tatsächlich schien sich mit solchen Affektentladungen »die alte Depression, Schwere und Müdigkeit« überwinden zu lassen. Das Leben wurde wieder farbig und lebendig: »wach, ewig wach, übernächtig, glühend, verkohlt, erschöpft und doch nicht müde – so nahm sich der Mensch aus, ›der Sünder‹, der in diese Mysterien eingeweiht war«. Die »methodische Anwendung von Buss-Quälereien, Zerknirschungen und Erlösungskrämpfen« hatte aber die Kehrseite, dass »jedes Mal die Krankhaftigkeit unheimlich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen ist«. Statt geheilt zu werden, verschlimmerten sich die ursprünglichen Symptome in erschreckendem Maße. Zu den Folgeerscheinungen gehörten: »zerrüttetes Nervensystem«, »furchtbare Lähmungen und Dauer-Depressionen«, »Hexenhysterie«, »Massendelirien« und »religiöse Neurose« (ebd. 390 ff.). Waren schlechtes Gewissen und Schuldgefühle im Christentum stets als Ausdruck besonderer Moralität und Sensibilität idealisiert worden, so hat Nietzsche sie auf reaktive, trieb- und lebensfeindliche Kräfte im Seelenleben zurückgeführt und damit radikal in Zweifel gezogen. In Zukunft solle der Mensch nicht mehr seine natürlichen Trie-
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
be, sondern seine asketischen Ideale mit dem schlechten Gewissen verschwistern (ebd. 335).
3.
Das gewandelte und befreite Gewissen bei Nietzsche
Schon in seinem Frühwerk schwebt Nietzsche ein anderes, ein höheres Gewissen als das konventionelle vor. In ›Schopenhauer als Erzieher‹ grenzt er sich von denjenigen ab, die ein »böses Gewissen« haben, wenn sie aufrichtig zu ihrer Individualität stehen, anstatt die Unannehmlichkeiten, die man als Einzelgänger aushalten muss, zu vermeiden. Damit verbindet er einen Appell an die junge Generation: »Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ›sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst‹« (KSA 1, 338). Ein weiterer Appell Nietzsches bezieht sich darauf, sich den Freiraum für die eigene Selbstentfaltung nicht nehmen zu lassen. Bei den »geplagten Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungen und der Moden«, springe »der Mangel an Schicklichkeit allzu peinlich in die Augen« (ebd. 392). An diesen Faden anknüpfend tritt er später dafür ein, »das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken«, um wieder »das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen« (KSA 2, 332 f.). Die Wege zur Freiheit des Geistes aber auch zur Krankheit oder Gesundheit seien individuell. »Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. […] Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite« (KSA 3, 556 f.). In ›Menschliches, Allzumenschliches‹ antwortet Nietzsche auf die Frage nach der Moral des »reifen Individuums«: »Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in’s Auge fassen – das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer« (KSA 2, 91 f.). Hat Nietzsche schon bei früheren Gelegenheiten vom »intellectualen« und »ästhetischen« Gewissen gesprochen, so konstatiert er in ›Die fröhliche Wissenschaft‹ : »den Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen; […]. die Allermeisten finden es nicht verächtlich, diess oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein 63 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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zu geben, – die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen ›Allermeisten‹« (KSA 3, 373). Auch und gerade gegenüber der Wissenschaft fehle »jenes strenge Gewissen für Das, was wahr und wirklich ist«, so dass milde Toleranz unangebracht sei. »Ihr kennt Das nicht«, kritisiert Nietzsche, »was ihr so tolerant behandelt« (KSA 3, 212). In diesem Zusammenhang spricht er später von »Toleranz aus Schwäche« und hält ihr die »große Toleranz« entgegen. 19 Der freie Geist sei zur Unabhängigkeit bestimmt, ist die Botschaft in ›Jenseits von Gut und Böse‹. Er müsse sich immer wieder Bewährungsproben aussetzen, um nicht an einer Person, einem Vaterlande, einem Mitleiden, einer Wissenschaft und auch nicht an seiner »eignen Loslösung« oder »eignen Tugenden« hängen zu bleiben. Die stärkste Probe der eigenen Unabhängigkeit sei, »sich zu bewahren« (KSA 5, 59). Der freie Mensch tendiere zu einer vornehmen Moral. Er fühle »sich als werthbestimmend«, sei »wertheschaffend«, habe »das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte« und ehre in sich »den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat« (ebd. 209 f.). In den ›Neuen Vorreden‹ betont Nietzsche seinen Ekel vor der »ganzen idealistischen Lügnerei und Gewissensverweichlichung«, von der er sich befreien musste, und die »antiromantische Selbstbehandlung«, der er sich unterzogen habe. 20 Dabei wendet er sich an die »Seltenen, Gefährdetsten, Geistigsten, Mutigsten«, die in Zukunft das »Gewissen der modernen Seele« sein müssten. 21 Sich selbst in ein »Wir Immoralisten« einbeziehend spricht er von »Menschen des Gewissens«, die »nicht wieder zurück wollen in das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas ›Unglaubwürdiges‹, heiße es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe« oder gar in jene »Artisten-Gewissenlosigkeit« à la Richard Wagner. 22 In der ›Genealogie der Moral‹ entwirft er ein Kontrastbild zum schlechten Gewissen mit der Fähigkeit, »Versprechen« geben und halten zu können, einem »Gedächtnis des Willens«, einem »Macht- und Freiheitsbewusstsein« und dem stolzen Wissen um das »Privilegium der Verantwortlichkeit« (KSA 5, 291 ff.). An die Stelle von Scham19 20 21 22
Vgl. W. Stegmaier, Philosophie der Orientierung. Berlin 2008, 609–613. Ecce Autor. Die Vorreden von 1886, a. a. O., 19. Ebd. 23. Ebd. 9 f.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
und Schuldgefühlen treten beim gewandelten Gewissen Emotionen von Stolz, Verantwortung und Freiheit. Als weiteres Desiderat kommt die Loslösung von den asketischen Idealen, auch und gerade vom Glauben an die Wissenschaft hinzu: Die »moderne Wissenschaft« sei »einstweilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals und gerade deshalb, weil sie die unbewussteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist« (ebd. 403).
II.
Die Konzeptualisierung des Gewissens bei Freud
Ausgehend von den für die Gewissensthematik maßgeblichen Texten Freuds scheint mir, dass zwei Perspektiven für seine Auseinandersetzung mit den Themen von Über-Ich, Gewissen, Schuldbewusstsein, unbewusstem Schuldgefühl und Strafbedürfnis zentral sind: einerseits eine psychodynamische Sicht, die in therapeutischen Erfahrungen und Erkenntnissen gründet, entwicklungspsychologische Hypothesen entwickelt und sich in erster Linie auf Konflikte zwischen Ich und ÜberIch bezieht, und andererseits eine moral- und kulturtheoretische Sicht des Gewissens, die von kulturellen Erscheinungsformen wie religiösen, psychosozialen und massenpsychologischen Erfahrungen ausgeht und den Ursprung von Massenphänomenen, Moral, Krieg, Gewalt u. a. zu erhellen sucht. Bereits vor der Einführung des Über-Ichs beschäftigt sich Freud in verschiedenen Kontexten mit Gewissensphänomenen. 23 In ›Zur Einführung des Narzißmus‹ 24 verwendet er erstmals die beiden Termini von »Ich-Ideal« und »Gewissen«. Das Ich-Ideal bringt er mit der narzisstischen Entwicklungslinie in Verbindung und bezeichnet es als »Ersatz für den verlorenen Narzißmus«, den das Kind zu seinem Ideal gemacht hatte. Das Gewissen habe die Aufgabe, »über die Sicherung der narzißtischen Befriedigung aus dem Ichideal zu wachen«. Aufgrund dieser Wächterfunktion sei es »eine Verkörperung zunächst der elterlichen Kritik«, an die sich in der weiteren Entwicklung »die Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle anderen Personen des Milieus angeschlossen haben« (GW 10, 163). Der Einfluss von Gewissensregungen, insbesondere Schuldgefüh23 24
Vgl. z. B. Die Traumdeutung (1900), GW 2–3, 148 ff. u. 493 ff. Vgl. GW 10, 137–170.
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len, findet dann Berücksichtigung bei einer Reihe klinischer Phänomene wie dem Beobachtungswahn paranoider Menschen (ebd. 162 ff.), der gesteigerten Gewissenhaftigkeit in der Zwangsneurose 25 und der Selbstherabsetzung in der »Melancholie«. 26 Als weitere Beispiele für die Wirksamkeit unbewusster Schuldgefühle werden die »negative therapeutische Reaktion« 27 und das Scheitern am Erfolg 28 herangezogen. Wie Freud betont, können es »Gewissensmächte« sein, die »der Person verbieten, aus der glücklichen realen Veränderung den lange erhofften Gewinn zu ziehen«. 29 Das paradoxe Verhalten des »Verbrechers aus Schuldgefühl« 30 wird mit Nietzsches »bleichem Verbrecher« aus den Reden Zarathustras 31 verglichen. In der für die psychoanalytische Gewissenstheorie grundlegenden Schrift ›Das Ich und das Es‹ (1923) führt Freud dann das »Über-Ich« als dritte Instanz neben dem Ich und dem Es ein, wobei er das »Gewissen« als Teilfunktion des Über-Ichs betrachtet. 32 Unterscheidet er in diesem Kontext Ideal- und Verbotsfunktionen, so teilt er das Über-Ich später in die drei Bereiche von Selbstbeobachtung, Idealbildung und Gewissen auf. 33
2.
Die psychodynamische Perspektive im Rahmen der Über-Ich-Theorie
Dem Einfluss des Über-Ichs misst Freud für bestimmte klinische Phänomene eine das Leiden bestimmende Rolle bei. Seine besondere Leistung kann man in der Analyse der psychischen Dynamik »unbewusster« Schuldgefühle sehen. So spricht er von einem typischen Konflikt zwischen Ich und Über-Ich und einem damit verbundenen SchuldgeVgl. Die Verdrängung, GW 10, 248–261, hier 259 f. Vgl. Trauer und Melancholie, GW 10, 428–446, hier 431 ff. 27 Vgl. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, GW 10, 126–136, hier 131 ff. 28 Vgl. Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit, GW 10, 364–391, hier 370 ff. 29 Ebd. 372. 30 Ebd. 389 ff. 31 Vgl. Also sprach Zarathustra (1884), KSA 4, 45 f. 32 GW 13, 237–289, hier 265; vgl. G. Gödde, Sigmund Freuds Strukturmodell in ›Das Ich und das Es‹ und seine Bedeutung in historischen und aktuellen Diskussionen, in: B. Jörissen u. J. Zirfas (Hg.), Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden 2010, 19–36. 33 Vgl. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW 15, 72. 25 26
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
fühl der Hysterika, das deshalb unbewusst bleibe, weil es der Verdrängung seitens des Ichs erliege. Bei zwei anderen psychischen Störungen, der Zwangsneurose und der Depression erscheint das Schuldgefühl zwar als »überstark bewusst«, was darauf zurückgeführt wird, dass das Über-Ich mit besonderer Strenge und oft sogar Grausamkeit gegen das Ich vorgehe (GW 13, 280 f.). Die dem Schuldgefühl zugrunde liegende Konfliktdynamik erweist sich aber bei näherer Betrachtung ebenfalls als weitgehend unbewusst. Für die Zwangsneurose sei charakteristisch, dass das Ich den Schuldvorwurf des Über-Ichs als unberechtigt erlebt und sich dagegen wehrt. Bei genauerer Analyse treten zumeist verdrängte aggressive Impulse – sowohl ein Wunsch nach Selbstbehauptung als auch die Wut über die dem Ich auferlegten Einschränkungen – zutage, so dass sich das ich-dyston erlebte Schuldgefühl als motiviert, wenn auch nicht notwendig berechtigt im moralischen Sinne erweist. Ein solcher unbewusster Schuldkonflikt ist gleichsam der Nährboden für skrupulöse Formen der Gewissensprüfung, der Reinigung sowie vielfältiger Rituale bis hin zu übertriebenen religiösen Praktiken. Da viele Patienten beim Abklingen der Zwangssymptome depressiv werden, kann man dem Zwang nach Quint eine »kontradepressive Funktion« beimessen. In der Depression besteht zwar ebenfalls ein ausgeprägtes Schuldgefühl; es fehlt aber in der Regel ein Aufbegehren dagegen. Das Ich bekennt sich vielmehr offen zu seiner Schuld und ist bereit, die »gerechte« Strafe auf sich zu nehmen. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Für Freud handelt es sich bei der Zwangsneurose um »anstößige Regungen, die außerhalb des Ichs geblieben sind; bei der Depression aber ist das Objekt, dem der Zorn des Über-Ichs gilt, durch Identifizierung ins Ich aufgenommen worden« (GW 13, 281). Bei der Zwangsneurose und Depression setzt Freud den Akzent auf den »gesteigerten Sadismus des Über-Ichs« und damit auf eine »unbewusste Fortsetzung der Moral«. Beim moralischen Masochismus sei es hingegen das Ich, das nach Strafe vom Über-Ich oder von äußeren Mächten verlangt. Der Person bleibe »das masochistische Streben des Ichs« in der Regel verborgen und müsse aus ihrem Verhalten erschlossen werden. 34 Das Auftreten solcher klinischer Phänomene lässt sich nach Freud auf Beziehungs- und Konfliktmuster zurückführen, die in der kindli34
Vgl. Das ökonomische Problem des Masochismus, GW 13, 371–383, hier 381 f.
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chen Entwicklung via Identifizierung und Gegenidentifizierung, Fixierung und Regression vorgeprägt wurden. Die Bildung des Über-Ichs betrachtet er als das Ergebnis zweier höchst bedeutsamer Faktoren, die er als »biologisch« bezeichnet, obwohl sie doch sehr viel mit der psychischen Entwicklung zu tun haben: zum einen der langen Hilflosigkeit und Abhängigkeit des menschlichen Kindes, zum andern der Verarbeitung des für unumgänglich gehaltenen Ödipuskomplexes. Das Kind müsse in der ödipalen Phase auf die Befriedigung seiner mit Verbot belegten ödipalen Wünsche – die Liebe zum gegengeschlechtlichen und die Rivalität zum gleichgeschlechtlichen Elternteil – verzichten und die aggressive Besetzung der Eltern in Identifizierungen mit ihnen umwandeln. »Das Über-Ich wird den Charakter des Vaters bewahren und je stärker der Ödipuskomplex war, je beschleunigter (unter dem Einfluss von Autorität, Religionslehre, Unterricht, Lektüre) seine Verdrängung erfolgte, desto strenger wird später das Über-Ich als Gewissen, vielleicht als unbewußtes Schuldgefühl über das Ich herrschen« (GW 13, 263). Von der Annahme ausgehend, dass »die Entstehung des Gewissens innig an den Ödipuskomplex geknüpft ist, welcher dem Unbewußten angehört«, liegt die Folgerung nahe, dass »ein großes Stück des Schuldgefühls normalerweise unbewußt sein müsse«. Daher spreche einiges für den paradox klingenden Satz, dass »der normale Mensch nicht nur viel unmoralischer ist, als er glaubt, sondern auch viel moralischer, als er [von sich] weiß«, und das besagt, dass »die Natur des Menschen im Guten wie im Bösen weit über das hinausgeht, was er von sich glaubt, das heißt was seinem Ich durch Bewußtseinswahrnehmung bekannt ist« (ebd. 281 f.). Im Weiteren wirft Freud die Frage auf, wie sich die außerordentliche Härte und Strenge des Über-Ichs bei bestimmten psychischen Störungen erklären lässt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nun Verbindungen zwischen dem psychodynamischen und dem triebtheoretischen Theoriestrang der Psychoanalyse hergestellt werden, wobei insbesondere der Dualismus von Eros und Todestrieb als Hintergrundannahme ins Spiel kommt: Wenn das Über-Ich bei schweren Formen der Depression »gegen das Ich mit schonungsloser Härte wütet, als ob es sich des ganzen im Individuum verfügbaren Sadismus bemächtigt hätte«, so habe sich »die destruktive Komponente […] im Über-Ich abgelagert und gegen das Ich gewendet. Was nun im Über-Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes, und wirklich gelingt es diesem oft genug, das Ich in den Tod zu treiben, 68 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
wenn das Ich sich nicht vorher durch den Umschlag in Manie seines Tyrannen erwehrt« (ebd. 282). Auch bei der Zwangsneurose hat es den Anschein, als sei »der Destruktionstrieb frei geworden« und wolle »das Objekt vernichten«. Wie das Es benehme sich auch das Über-Ich, als läge die gesamte Verantwortung und Schuld ganz beim Ich. »Nach beiden Seiten hilflos, wehrt sich das Ich gegen die Zumutungen des mörderischen Es wie gegen die Vorwürfe des strafenden Gewissens. Es gelingt ihm, gerade die gröbsten Aktionen beider zu hemmen, das Ergebnis ist zunächst eine endlose Selbstqual und in der weiteren Entwicklung eine systematische Quälerei des Objekts, wo dies zugänglich ist« (ebd. 283 f.). Diese an klinische Beobachtungen anknüpfenden, dann aber ins Metapsychologische übergreifenden Ausführungen münden in die verallgemeinernde Aussage ein: »Die gefährlichen Todestriebe werden im Individuum auf verschiedene Weise behandelt, teils durch Mischung mit erotischen Komponenten unschädlich gemacht, teils durch Aggression nach außen abgelenkt, zum großen Teil setzen sie gewiss unbehindert ihre innere Arbeit fort« (ebd. 284). Die Verwendung einer solchen naturwissenschaftlichen Sprache und Metaphorik erscheint aus heutiger Sicht fragwürdig. Dies gilt auch für Freuds Antwort auf die Frage, warum das Über-Ich bei schweren Depressionen zu einer »Sammelstätte der Todestriebe« werden kann: »Das Es ist ganz amoralisch, das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann hypermoralisch und dann so grausam werden wie nur das Es. Es ist merkwürdig, dass der Mensch, je mehr er seine Aggression nach außen einschränkt, desto strenger, also aggressiver in seinem Ichideal wird« (ebd.). Diesen nietzscheanischen Faden der Introversion des Schuldgefühls nimmt Freud an späterer Stelle wieder auf und betrachtet nunmehr die Kastrationsangst als »Kern, um den sich die spätere Gewissensangst ablagert«. Auch die Todesangst könne als Verarbeitung der Kastrationsangst angesehen werden. In der Depression gebe sich das Ich auf, »weil es sich vom Über-Ich gehaßt und verfolgt anstatt geliebt fühlt«. Die große Bedeutung des (unbewussten) Schuldgefühls könne man daran erkennen, dass »die gemeine neurotische Angst in schweren Fällen eine Verstärkung durch die Angstentwicklung zwischen Ich und Über-Ich (Kastrations-, Gewissens-, Todesangst)« erfahre (ebd. 288 f.). Werden die Schuldgefühle innerhalb der Freudschen Über-IchKonzeption dem Gewissen zugeordnet, so die Schamgefühle dem anderen Strang des Ich-Ideals. Dieses lässt sich am besten als Richtung 69 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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gebende und Wert orientierende im Unterschied zu den verbietenden und Grenzen setzenden Funktionen des Gewissens beschreiben. 35 Rückblickend betrachtet steht in Freuds Werk die Beschäftigung mit Schamgefühlen und ihrem Zusammenhang mit narzisstischen Tendenzen ganz im Schatten der Analyse von Schuldgefühlen und ihrem Zusammenhang mit ödipalen Konflikten. Erst seit den 1980er Jahren ist allmählich eine Wende eingetreten, zu der die aufkommenden Narzissmustheorien maßgeblich beigetragen haben. Die hier skizzierte psychodynamische Sicht des Gewissens hat auch Freuds kulturtheoretische Überlegungen zur Massensuggestion und Kollektivseele sowie zum Kultur-Über-Ich grundiert.
2.
Die Erweiterung durch eine moral- und kulturtheoretische Konzeptualisierung
Sieht Freud den Ursprung des Gewissens in der Auseinandersetzung des Kindes mit den eigenen ödipalen Wünschen, so nimmt er gleichwohl eine Erweiterung und Ausdifferenzierung des Gewissens durch vielfältige sekundäre – moralische und kulturelle – Einflüsse und damit einhergehende Identifizierungs- und Verinnerlichungsprozesse an. Auf die Moral als Krankheitsfaktor stößt er erstmals im Kontext der sexuellen Verdrängung. »Eine Ahnung sagt mir noch, als ob ich es schon wüßte – ich weiß aber gar nichts –«, schreibt er am 31. Mai 1897 an seinen Berliner Freund Wilhelm Fließ, dass »ich nächstens die Quelle der Moral aufdecken werde«. 36 Etwa ein halbes Jahr später klärt er über diese Quelle auf und berichtet erstmals über seine Entdeckung des später sogenannten Ödipuskomplexes. 37 In der Abhandlung ›Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität‹ (1908) wendet sich Freud dann dagegen, dass bestimmte sexuelle Handlungen wie Masturbation, voreheliche oder außereheliche Sexualität prinzipiell als unmoralisch gelten. Solche aus der christlichen Moral abgeleiteten Einschränkungen der SexualbetätiVgl. W. Mertens u. B. Waldvogel (Hg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart, 3. überarbeit. u. erweit. Aufl. 2008, 318 ff. 36 Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, ungekürzte Ausgabe, Hg. J. M. Masson, Bearb. d. deutschen Fassung v. M. Schröter. Frankfurt/M. 1986, 266. 37 Ebd. 293. 35
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
gung würden besonders bei schwächeren Menschen wertvolle Kräfte absorbieren, die Willenskraft schwächen und die Genussfähigkeit beeinträchtigen: »Es ist eine der offenkundigen sozialen Ungerechtigkeiten, wenn der kulturelle Standard von allen Personen die nämliche Führung des Sexuallebens fordert, die den einen dank ihrer Organisation mühelos gelingt, während sie den anderen die schwersten psychischen Opfer auferlegt« (GW 7, 143–167, hier 255). In ›Totem und Tabu‹ (1912–13) entwickelt Freud erste Hypothesen über den gesellschaftlich-kulturellen Ursprung von Schuldgefühlen, schlechtem Gewissen und Triebverzicht. Den ödipalen Grundkonflikt postuliert er nun als Wiederholung einer »archaischen Erbschaft«, der Ermordung des Urhordenvaters durch seine Söhne. Zur Bewältigung dieses Urverbrechens habe es des Verzichts auf inzestuöse Triebbedürfnisse und der Umwandlung der aggressiven in soziale Tendenzen bedurft, so dass sich ein »Tabugewissen« (GW 9, 85) herausgebildet habe, das als verinnerlichte moralische Instanz dazu diente, den ödipalen Konflikt zu bewältigen. In der »Massenpsyche« könne das »Tabuschuldbewußtsein« wegen des Jahrtausende zurückliegenden Vatermordes »fortleben und in Generationen wirksam bleiben, welche von dieser Tat nichts wissen konnten«. Bei den Neurotikern wirke es in asozialer Weise, um »neue Moralvorschriften, fortgesetzte Einschränkungen zu produzieren, als Sühne für die begangenen und als Vorsicht gegen neu zu begehende Untaten« (ebd. 189 u. 191). Diese Geschichtsrekonstruktion hat den Charakter eines wissenschaftlichen Mythos, der sich »nicht auf eine einfache Unterscheidung ›außen‹ (Kultur) versus ›innen‹ (Psyche)« beschränkt, sondern »eine bis ins biologische Innere der Menschen hinreichende Auswirkung der gesellschaftlichen Zwangsinstitutionen« postuliert. Das bedeutet für die Theorie Freuds, dass »die historischen und gesellschaftlichen Konflikte sich nicht wie eine äußere Schale um den individualpsychologischen Kern der Psychoanalyse herumlegen, sondern konstitutiv zu diesem Kern gehören«. 38 In ›Zeitgemäßes über Krieg und Tod‹ (1915) wirft Freud die Frage auf, durch welchen Vorgang ein einzelner Mensch »zu einer höheren Stufe von Sittlichkeit« gelangt. Seine Antwort geht dahin, dass es im Menschen Triebregungen »elementarer Natur« gebe. Sie werden in 38 V. Roelcke, Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914). Frankfurt/M., New York 1999, 197.
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einem langen Entwicklungsprozess »gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete gelenkt, gehen Verschmelzungen miteinander ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teil gegen die eigene Person«. Dabei spielen Reaktionsbildungen eine Rolle: die eine inhaltliche Veränderung vortäuschen, »als ob aus Egoismus – Altruismus, aus Grausamkeit – Mitleid geworden wäre«. Tatsächlich ist das aber nur eine Fiktion. Realitätsnäher sei die Annahme einer Triebmischung bzw. einer Gefühlsambivalenz: »Der Mensch ist selten im ganzen ›gut‹ oder ›böse‹ in dieser Relation, ›böse‹ in einer anderen oder ›gut‹ unter solchen äußeren Bedingungen, unter anderen entschieden ›böse‹. Interessant ist die Erfahrung, dass die kindliche Präexistenz starker ›böser‹ Regungen oft geradezu die Bedingung wird für eine besonders deutliche Wendung des Erwachsenen zum ›Guten‹« (GW 10, 331 ff.). Wie Freud in seiner Schrift ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹ (1921) unterstreicht, sei die Wertorientierung der Einzelnen immer auch abhängig von dem jeweiligen sozialpsychologischen Kontext, in dem er lebt und sich entwickelt: »Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie«. 39 Unter dem Einfluss einer »psychologischen Masse« haben die Individuen Anteil an einer »Kollektivseele«, so dass sie »in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jeder von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde« (GW 13, 77). Mittels der Konzepte der Internalisierung, die sich in die drei Reifungsstufen von Inkorporation, Introjektion und Identifizierung aufgliedern lassen, und der Idealisierung kann Freud zeigen, dass die moralischen Werte, die der Einzelne internalisiert hat, nicht nur aus familiären Quellen und individuellen Erfahrungen stammen, sondern immer auch im Kontext übergreifender kultureller Einflüsse zu sehen sind: »Jeder Einzelne ist ein Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung vielseitig gebunden und hat sein Ichideal nach den verschiedenen Vorbildern aufgebaut. Jeder Einzelne hat so Anteil an vielen Massenseelen, an der seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemeinschaft, der Staatlichkeit usw., und kann sich darüber hinaus zu einem Stückchen Selbständigkeit und Originalität erheben« (ebd. 144). GW 13, 71–161, hier 73; vgl. G. Gödde u. J. Zirfas, Psychoanalyse der Werte, in: A Schäfer u. Ch. Thompson (Hg.), Werte. Paderborn u. a. 2010, 77–108.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
Als verinnerlichte moralische Autorität fungiert das Über-Ich auch als verlängerter Arm der Kultur und vermittelt uns deren Maßstäbe und Ideale. In der Abhandlung ›Das Unbehagen in der Kultur‹ (1930) geht Freud noch einen Schritt weiter und behauptet, dass »auch die Gemeinschaft ein Über-Ich ausbildet, unter dessen Einfluss sich die Kulturentwicklung vollzieht« (GW 14, 419–506, hier 501). In diesem Zusammenhang spricht er explizit von einem »Kultur-ÜberIch«, das wie das individuelle Gewissen strenge Idealforderungen aufstellt, deren Nichtbefolgung durch »Gewissensangst« bestraft, d. h. durch Erzeugung von Schuldgefühlen Nachdruck verliehen wird. Als prototypisches Beispiel für das Wirken eines kulturellen Über-Ichs erscheint das christliche Gebot der Nächstenliebe, dessen Berechtigung Freud grundlegend in Frage stellt. Die wichtigste Methode der Kultur, um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen und vielleicht auszuschalten, sieht Freud in der Introjizierung, Verinnerlichung und Wendung der Aggression gegen das eigene Selbst. Durch die Verinnerlichung bilde sich das schlechte Gewissen, das gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübe, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen ausgelassen hätte. Die Kultur bewältige die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es »schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt. überwachen lässt« (ebd. 482 f.). Im weiteren gelangt Freud zu der gewichtigen These, dass das Schuldgefühl »das wichtigste Problem der Kulturentwicklung« sei (ebd. 494). Die nicht nach außen ausgelebte Aggression wende sich nach innen – gegen sich selbst. »Jeder Triebverzicht wird nun eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder neue Verzicht steigert dessen Strenge und Intoleranz, und wenn wir es nur mit der uns bekannten Entstehungsgeschichte des Gewissens besser in Einklang bringen könnten, wären wir versucht, uns zu dem paradoxen Satz zu bekennen: Das Gewissen ist die Folge des Triebverzichts; oder: Der (uns von außen auferlegte) Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert« (ebd. 488). Noch ein letzter Satz zum KulturÜber-Ich, dessen Ideale zur Regelung der sozialen Beziehungen dienen und die Ethik bilden: Die Ethik sei gleichsam »ein therapeutischer Versuch« mit dem Ziel, »durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war« (ebd. 502).
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3.
Möglichkeiten der Gewissensentwicklung als Wandlung und Befreiung
Wenn man mit Nietzsche das Gewissen in einen eher unentwickelten, defizitären, krankhaften und einen eher entwickelten, differenzierten, gesunden Bereich aufteilt, so steht bei Freud das erstere als schlechtes, repressives, Schuld-Gewissen im Vordergrund, sowohl in seiner Neurosenlehre, seiner Über-Ich-Konzeption als auch in seiner Moral- und Kulturtheorie. Die andere, die ideale, unabhängige und freiheitliche Seite des Gewissens wird weit weniger explizit angesprochen geschweige denn ausformuliert. Die Vorbild- oder Idealfunktion, die Freud in ›Zur Einführung des Narzissmus‹ dem Ich-Ideal zugeschrieben hat, gehört zu den Basiserfahrungen für ein idealisierungsfähiges und höher entwickeltes Gewissen. Als James J. Putnam, ein amerikanischer Psychoanalytiker, einen »Trieb zu ethischer Besserung« als integralen Bestandteil des menschlichen Lebens postuliert, zeigt sich Freud allerdings skeptisch. In seinem Antwortbrief vom 8. Juli 1915 äußert er, er selber halte sich »für einen sehr moralischen Menschen«, der »an Rechtsinn und Rücksicht für den Nebenmenschen; an Missvergnügen, andere leiden zu machen oder zu übervorteilen«, glaube und »es mit den besten, die ich kennengelernt habe, aufnehmen« könne. »Wenn ich mich frage, warum ich immer gestrebt habe, ehrlich, für den Anderen schonungsbereit und womöglich gütig zu sein, und warum ich es nicht aufgegeben, als ich merkte, dass man dadurch zu Schaden kommt, zum Amboß wird, weil die Anderen brutal und unverläßlich sind, dann weiß ich allerdings keine Antwort. […] Man könnte gerade meinen Fall also als Beweis für Ihre Behauptung anführen, daß ein solcher Idealdrang ein wesentliches Stück unserer Anlage bildet. Wenn nur bei den Anderen mehr von dieser wertvollen Anlage zu bemerken wäre! Ich glaube im geheimen, wenn man die Mittel besäße, die Triebsublimierungen ebenso gründlich zu studieren wie ihre Verdrängungen, könnte man auf recht natürliche psychologische Aufklärungen stoßen, und sich Ihre menschenfreundliche Annahme ersparen«. 40 Freud ist zeitlebens bei dieser »natürlichen« Erklärung anhand der Triebschicksale von Sublimierung und Verdrängung geblieben. Wenn er in ›Jenseits des Lustprinzips‹ einen allgemeinen »Trieb zur Höher40
Briefe 1873–1939, Hg. E. u. L. Freud. Frankfurt/M., 2. Aufl. 1980, 320 ff.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
entwicklung« in der Tier- und Pflanzenwelt in Abrede stellt, obwohl »eine solche Entwicklungsrichtung tatsächlich unbestritten bleibt« (GW 13, 43), kann man diese Äußerung auf die Auseinandersetzung mit Putnam zurückbeziehen. In diesem Kontext findet sich auch eine kritische Anspielung auf Nietzsche. An einen »Trieb zur Vervollkommnung«, der den Menschen »auf seine gegenwärtige Höhe geistiger Leistung und ethischer Sublimierung gebracht hat, und von dem man erwarten kann, daß er seine Entwicklung zum Übermenschen besorgen wird«, könne er nicht glauben. Einen solchen inneren Trieb betrachtet er als »wohltuende Illusion«. Was man an einer Minderzahl als »rastlosen Drang zu weiterer Vervollkommnung« beobachten könne, lasse sich »als Folge der Triebverdrängung verstehen, auf welche das Wertvollste an der menschlichen Kultur aufgebaut« sei (ebd. 44). In ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹ wird Identifikationen mit emotional bedeutsamen Personen eine wichtige Rolle bei der Übernahme von Werten und ethischen Maßstäben zuerkannt. Die damit verbundene Idealisierung wird in der Psychoanalyse grundsätzlich als entwicklungsfördernder Faktor betrachtet, da sie zur Bildung und Ausgestaltung der sog. Idealinstanzen der Person (Ideal-Ich, Ich-Ideal, Ideal-Objekt) beitrage. Jede Form der Idealisierung lässt Rückschlüsse auf das eigene Ich-Ideal zu. Man liebt das idealisierte Objekt »wegen der Vollkommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Umweg zur Befriedigung seines Narzissmus verschaffen möchte« (GW 13, 124). Problematisch sind jene Arten der Idealisierung, die mit einer – zumeist aus Resignation erfolgenden – Aufgabe des eigenen, nicht erreichten Ich-Ideals einhergehen. Dann kann es zwar durch die Ausrichtung auf das idealisierte Objekt vorübergehend zu einer narzisstischen Selbst-Aufwertung kommen. Zumeist handelt es sich aber um eine undifferenzierte Wahrnehmung und Übernahme der Art des Auftretens und Verhaltens des Objekts im Sinne einer Introjektion. Das Ich verarmt, wenn es das Objekt überbesetzt, sich ihm ganz hingibt, ausliefert oder unterwirft, anstatt sich wie bei einer Identifizierung um die Eigenschaften des idealisierten Objekts zu bereichern. Der »Sittlichkeit der Massen« begegnet Freud mit Ambivalenz. Er befürchtet, dass im Kollektiv »alle individuellen Hemmungen entfallen und alle grausamen, brutalen, destruktiven Instinkte, die als Überbleibsel der Urzeit im Einzelnen schlummern, zur freien Triebbefriedigung geweckt werden«. Aber Massen seien auch hoher ethischer 75 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Leistungen und der Hingabe an wertvolle Ideale fähig, so dass eine »Versittlichung des Einzelnen durch die Masse« durchaus möglich erscheint (ebd. 84). Freud hat sich wiederholt gegen den Vorwurf zur Wehr gesetzt, dass sich die Psychoanalyse »um das Höhere, Moralische, Überpersönliche im Menschen nicht kümmere«. Man müsse doch einsehen, dass »die psychoanalytische Forschung nicht wie ein philosophisches System mit einem vollständigen und fertigen Lehrgebäude auftreten konnte, sondern sich den Weg zum Verständnis der seelischen Komplikationen schrittweise durch die analytische Zergliederung normaler wie abnormer Phänomene bahnen musste«. Wie die Analyse des Ich zeige, sei das höhere Wesen das Ich-Ideal, »der Repräsentant unserer Elternbeziehung. Als kleine Kinder haben wir diese höheren Wesen gekannt, bewundert, gefürchtet, später sie in uns selbst aufgenommen« (GW 13, 264). Nachdem Ludwig Binswanger in einem Festvortrag zu Freuds 80. Geburtstag dessen »Idee des homo natura« zur Diskussion gestellt hat, antwortet der Geehrte am 8. Oktober 1936: »Natürlich glaube ich Ihnen doch nicht. Ich habe mich immer nur im Parterre und Souterrain des Gebäudes aufgehalten – Sie behaupten, wenn man den Gesichtspunkt wechselt, sieht man auch ein oberes Stockwerk, in dem so distinguierte Gäste wie Religion, Kunst und andere hausen. Hätte ich noch ein Arbeitsleben vor mir, so getraute ich mich, auch jenen Hochgeborenen eine Wohnstatt in meinem niedrigen Häuschen anzuweisen. […] Aber wahrscheinlich reden wir doch aneinander vorbei, und unser Zwist wird erst nach Jahrhunderten zum Ausgleich kommen«. 41 Einen Anhaltspunkt für Freuds Vorstellungen von einem gewandelten und befreiten Gewissen kann man seinen Behandlungsschriften entnehmen. Als Maßstab dienen: die Steigerung der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, die Wahrhaftigkeit« als ethischer Wert, die Vereinigung bisher abgespaltener Triebregungen, ein »Mehr von seelischer Freiheit«, »die Befreiung und Vollendung« des eigenen Wesens. 42 Bemerkenswert ist die auf die Therapeuten bezogene Formulierung: »Wir dienen dem Patienten als Autorität und Elternersatz, als Lehrer und Erzieher« und »lassen uns die Autorität seines Über-Ichs Briefe 1873–1939, a. a. O., 446 f. Vgl. J. Zirfas, Präsenz und Ewigkeit. Eine Anthropologie des Glücks. Berlin 1993, 123–236, hier 229.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
übertragen, feuern es an, den Kampf um jeden einzelnen Anspruch des Es zu beseitigen und die Widerstände zu besiegen, die sich dabei ergeben«. 43 In einem Rückblick auf die wechselnden Behandlungsziele der Psychoanalyse hat sich ein enger Bezug zu den drei Instanzen und insbesondere zum Über-Ich ergeben: Milderung der Strenge des ÜberIchs, Förderung der Ich-Autonomie, Verbesserung der Triebkontrolle, Verstärkung der Sublimierungsfähigkeit u. a. 44 Insgesamt bleiben Freuds Aussagen über die Ethik der Psychoanalyse recht allgemein. Nach seiner eigenen Aussage handle es sich im Wesentlichen um »negative Züge« wie die »Betonung der realen Außenwelt« und »die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen« (GW 15, 197).
III. Zum Vergleich zwischen Nietzsches und Freuds Moral- und Gewissenspsychologien Aus dem Vorangegangenen ist erkennbar, dass Nietzsche in seinen Denkbemühungen in erster Linie um das Themenfeld Moral, Moralität, moralische Gefühle, Affekte und Werte (Mitleid, Schuldgefühl, Scham, Egoismus, Rache, Ressentiment u. a.) kreist, während Freud sich vornehmlich auf klinische Phänomene im Kontext bestimmter psychischer Störungen (Paranoia, Zwangsneurose, Depression, Masochismus, Verbrecher aus Schuldgefühl, negative therapeutische Reaktion u. a.) konzentriert. Aus diesem Grunde betont Reinhard Gasser 45 zu Recht, dass »beide Theoriekomplexe für sich stehen«. Dennoch ist auch und gerade hinsichtlich der Thematik der beiden Moral- und Gewissenspsychologien eine geistige Nähe deutlich spürbar, denn Nietzsche verfolgt seine Gefühls- und Wertanalysen bis in die Bereiche psychischer und psychiatrischer Krankheiten hinein, und Freud widmet sich auch der Erhellung moralischer Emotionen (Angst, Trauer, Scham, Schuld, Ekel u. a.). Zudem greifen beide auf vergleichbare kulturtheoretische, insbesondere phylogenetische bzw. genealogische Hypothesen zur Herkunft des schlechten Gewissens zurück. Gasser listet eine Reihe von analogen Einsichten auf: »etwa zu Erkenntnissen über die Unangemessenheit des traditionellen Gegen43 44 45
Abriss der Psychoanalyse, GW 17, 63–138, hier 107. Vgl. J. Sandler u. U. Dreher, Was wollen die Psychoanalytiker? Stuttgart 1996, 204. Nietzsche und Freud, a. a. O., 707.
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satzdenkens (Liebe – Haß, Mitleid – Grausamkeit, Altruismus – Egoismus, gut – böse usw.), über die lustgesteuerten, destruktiven, letztlich unbewußten Quellen des menschlichen Denkens und Handelns, über die idealistische Verherrlichung bestimmter Einstellungen im Alltagsleben (z. B. die Uneigennützigkeit der Elternliebe) und anderes mehr.« Des Weiteren führt er eine Reihe psychologischer Vorgänge an, die für die Psychoanalyse relevant seien: »Sublimierung, Verinnerlichung, Projektion, Verdrängung, Wiederkehr des Verdrängten, Rationalisierung, Verkehrung ins Gegenteil, Reaktionsbildung, Hemmung und Abreagieren«. 46 Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass die beiden Denker in ihrem Hauptanliegen und in wesentlichen damit eng zusammenhängenden anthropologischen, kulturphilosophischen und epistemologischen Fragen divergieren. Nietzsche strebt als Freigeist und Immoralist eine Überwindung des von ihm diagnostizierten Nihilismusproblems an und orientiert sich dabei an den übergreifenden Konzeptionen des »Willens zur Macht« und der »ewigen Wiederkehr des Gleichen«. Freud hingegen sucht Halt in einer wissenschaftlichen Psychologie des Unbewussten und einer darauf aufbauenden psychotherapeutischen Praxis, wobei er die Idee des Ödipuskomplexes und dessen Überwindung ins Zentrum seiner Krankheitslehre und Therapie rückt. Der hier in unterschiedlichen Kontexten verwandte Begriff »Überwindung« erscheint bei Freud »sowohl unpathetischer als auch unhistorischer angelegt« als bei Nietzsche. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Nietzsche und Freud »überhaupt zwei unterschiedliche Typen des strategischen Denkens repräsentieren«. Beide beschönigen »den realen und psychischen Krieg im Leben« keineswegs; Nietzsche mute dem Menschen aber zu, »diesen Krieg stets aufs neue zu gewinnen«, während Freud sich damit begnüge, »ihn mit möglichst wenig Verlusten« zu überstehen.47 Bei der folgenden Gegenüberstellung suche ich die wesentlichen Übereinstimmungen und Differenzen herauszuarbeiten.
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Ebd. 710. Ebd. 707 ff.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
1.
Strukturelle Ähnlichkeiten
Nietzsche und Freud trafen sich an einem für ihre Denkentwicklung richtungweisenden Ausgangspunkt: der Wendung gegen die vorherrschende metaphysisch orientierte Ethik, die »in Aufnahme und Ausformung christlicher Grunddogmen das allgemeine Bewußtsein von der Antike bis zum Deutschen Idealismus entscheidend geprägt« hat. 48 Freuds Moralpsychologie steht in der Tradition jener radikalen Metaphysik- und Moralkritik, die Nietzsche im 19. Jahrhundert mitinitiiert hat. Besteht Übereinstimmung in der Kritik der triebrepressiven Moral, so würde Nietzsche wohl auch dem Vorschlag Freuds beipflichten, »mit der Strenge der Triebverdrängung nachzulassen und dafür der Wahrhaftigkeit mehr Raum zu geben. Gewisse Triebregungen, in deren Unterdrückung die Gesellschaft zu weit gegangen ist, sollen zu einem größeren Maß von Befriedigung zugelassen werden«. 49 Eine frühe programmatische Äußerung Nietzsches findet sich in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ : »Der Inhalt unseres Gewissens ist Alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmässig gefordert wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten. […] Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens: es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen.« (KSA 2, 576). Sowohl die Herleitung aus der Kindheit als auch aus dem Kontext von Autoritätsbeziehungen, die als Stimme des schlechten Gewissens verinnerlicht werden, sind Basisannahmen, an die Freud anknüpfen konnte: »Die Anregung zur Bildung des Ichideals, als dessen Wächter das Gewissen bestellt ist, war nämlich von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern ausgegangen, an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm alle anderen Personen des Milieus angeschlossen hatten«. 50 In der Nachfolge Schopenhauers gingen Nietzsche und Freud vom Primat des Triebhaft-Unbewussten im Seelenleben aus. Daher hat die Konfliktdynamik zwischen den natürlichen Trieben und der repressiven Moral für die Gewissenspsychologie und insbesondere die Heraus-
48 49 50
W. Schulz, Philosophie in einer veränderten Welt. Pfullingen 1972, 639. Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, GW 14, 99–110, hier 107. Zur Einführung des Narzissmus, GW 10, 163.
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bildung eines »schlechten«, zu Scham- und Schuldgefühlen tendierenden Gewissens vorrangige Bedeutung. Übereinstimmung besteht darin, dass die Triebe unter dem Einfluss der Moral überformt werden: als Verstärkung bei übermäßiger Triebbefriedigung, als Abschwächung bei Triebhemmung oder -unterdrückung und schließlich als Überwindung im Sinne einer Triebsublimierung. Ein unter repressiven Bedingungen zustande gekommenes »Triebschicksal« würde den Menschen in seiner gesamten Persönlichkeitsentwicklung schwächen und anfällig für psychische und psychosomatische Krankheiten machen. Bereits Nietzsche hat eine Art Konflikt-Abwehr-Modell entwickelt, wonach widerstreitende Impulse, Affekte und Triebe zu inneren Spannungen und Konflikten führen, die für den Einzelnen so schwer erträglich sind, dass er sie mit bestimmten Techniken und Strategien, den »Abwehrmechanismen« im Sinne Freuds, unwirksam zu machen sucht. Auch was das Schicksal der verdrängten Aggression anlangt, stimmt Freud mit Nietzsche überein: »Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet«. 51 Die »Verinnerlichung« von Aggression wird vorzugsweise für die Bildung des ÜberIchs herangezogen: »Es ist merkwürdig, daß der Mensch, je mehr er seine Aggression nach außen einschränkt, […] desto mehr steigert sich die Aggressionsneigung seines Ideals gegen sein Ich. Es ist wie eine Verschiebung, eine Wendung gegen das eigene Ich« (GW 13, 284). Beide Termini, die Verinnerlichung und die Wendung gegen sich selbst, hat Nietzsche bereits wörtlich verwendet (KSA 5, 322 f.). Erscheint das Schuldgefühl in der ›Genealogie der Moral‹ als ein kulturell bedingter Krankheitsfaktor ersten Ranges, so kommt in ›Das Unbehagen in der Kultur‹ eine ähnliche Intention zum Ausdruck. Das Schuldgefühl sei »das wichtigste Problem der Kulturentwicklung«, da die Glückseinbuße »als Preis für den Kulturfortschritt« vor allem durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt werde (GW 14, 493 f.). Während Freud die Herkunft des schlechten Gewissens auf den Urvatermord zurückführt, entwickelt Nietzsche eine Reihe vergleichbarer phylogenetischer Hypothesen, so dass man sagen kann, dass »beide Theorien am Knotenpunkt der Beziehung von Schuld und Grausam-
51
Das Unbehagen in der Kultur, GW 14, 482.
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
keit zusammenlaufen« und zudem »ein kulturelles Wachsen des Schuldbewußtseins« erkennen lassen. 52 Beiden Denkern schwebt eine »Diätetik der Triebe« im Sinne einer Sublimierung der eigenen Triebe und Affekte vor. »Gute Handlungen sind sublimirte böse«, schreibt Nietzsche, »böse Handlungen sind vergröberte, verdummte, gute« (KSA 2, 104). »Fast Alles, was wir ›höhere Cultur‹ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit« (KSA 5, 166), heißt es an anderer Stelle. Eine ähnliche Tendenz findet sich in Freuds Satz: »Unsere besten Tugenden sind als Reaktionsbildungen und Sublimierungen auf dem Boden der bösesten Anlagen erwachsen«. 53 Bei Nietzsche ist der Sublimierungsbegriff allerdings weiter gefasst als bei Freud. Nach Kaufmann sei er unlösbar mit dem Willen zur Macht verbunden. Nur wer seine sinnlich-vitalen Kräfte beherrscht und sublimiert, könne sie in produktive Bahnen lenken. Mit Beherrschung und Sublimierung ist gemeint, dass der Mensch eine Ordnung in das durch seine Leidenschaften hervorgerufene Chaos bringt, ohne jedoch die Energie und Leidenschaft seiner Triebe zu schwächen oder gar zu unterdrücken. 54 Zu den zentraler Aspekten von Heilung gehört bei Nietzsche und Freud die Befreiung von hemmenden und quälenden Schuld- und Schamgefühlen. Als Gegenmodell für »eine wirkliche Kranken-Heilung« dient der asketische Priester, der Krankheit auf Schuld und Sünde zurückführte und sich mit »einer blossen Affektmedikation« begnügte: »nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm bekämpft, nicht deren Ursache, nicht das eigentliche Kranksein«. 55 In diesem Punkt berührt sich Nietzsche aufs Engste mit dem therapeutischen Anliegen Freuds. Die hier zusammengestellten Übereinstimmungen zwischen Nietzsches und Freuds Moral- und Gewissenspsychologien lassen sich zu einer ähnlichen psychodynamischen Struktur verbinden. 56 Gasser, Nietzsche und Freud, a. a. O., 302. Das Interesse an der Psychoanalyse, GW 8, 389–420, hier 420. 54 W. Kaufmann, Nietzsche Philosoph – Psychologe – Antichrist. Darmstadt 1982, 245 ff. 55 Zur Geneaologie der Moral, KSA 5, 375 ff.; vgl. Ch. Niemeyer, Psychologie, in: ders. (Hg.), Nietzsche-Lexikon. Darmstadt 2009, 285–292, hier 290. 56 Vgl. G. Gödde, Traditionslinien des »Unbewussten«, a. a. O., 501–545; R. MüllerBuck, Psychologie, in: H. Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2000, 509–514, hier 511 f. 52 53
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Günter Gödde
2.
Differenzen beider Moral- und Gewissenspsychologien
Nietzsches Kampfansage gegen alle Arten von Verschleierungen, Mystifizierungen und Ideologisierungen seitens der repressiven Moral kommt Freud in manchen leidenschaftlichen Passagen seiner Kulturschriften nahe. Sieht man die Anstößigkeit der Freudschen Lehre »im Aufdecken, im Zur-Debatte-Stellen kulturell unerlaubter Regungen in den Lebensentwürfen der Menschen«, 57 so war er aber kein »Umwerter aller Werte« im Sinne Nietzsches, der »seinen Mitmenschen eine Skala moralischer Wertbegriffe aufprägen wollte«. 58 Stattdessen betonte er in merkwürdiger Verkennung seiner eigenen Position, die Psychoanalyse könne sich nur der »wissenschaftlichen Weltanschauung anschließen«; sie sei »unfähig, eine ihr besondere Weltanschauung zu erschaffen« (GW 15, 197). Im Falle Freuds kann man annehmen, dass ein großer Teil seiner Ethik auf dem Wissenschaftsideal der Objektivität beruhte und ihn im Rahmen seiner Behandlungskonzeption dazu veranlasste, die »drei Gebote« von Abstinenz, Anonymität und Neutralität hervorzuheben. Die in diesem »puristischen« Typus von Ethik implizierten Konzepte legen eine Behandlungstechnik nahe, die »den Einfluss der Wertsysteme von Analytiker und Patient auf die psychoanalytische Transaktion leugnet« und damit »gleichzeitig eine fundamentale psychische Wirklichkeit hinter jeder psychoanalytischen Partnerschaft« bestreitet«. 59 Wird der ›Wille zur Macht‹ bei Nietzsche als monistischer Grundtrieb betrachtet – »unser gesammtes Triebleben [ist] als die Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären« (KSA 5, 5) –, so ist Freuds Triebtheorie von Anfang an dualistisch angelegt: »wir anerkennen zwei Grundtriebe und lassen jedem sein eigenes Ziel« (GW 15, 115). Die beiden Grundtriebe in Freuds Spätwerk, Eros und Todestrieb, haben bei Nietzsche kein pendant. Die erotischen Triebe sind in erster Linie am Lustprinzip orientiert und haben den Charakter des Drängenden, während der Todestrieb die »Wiederherstellung eines früheren Zustandes« zum Ziel hat. 60 Bei Nietzsche hinA. Lorenzer, Freud: Die Natürlichkeit des Menschen und die Sozialität der Natur, in: Psyche 42 (1988) 426–438, hier 433. 58 H. Hartmann, Psychoanalyse und »moralische Werte«. Stuttgart 1973, 15. 59 N. Treurniet, Über eine Ethik, in: Psyche 50 (1996) 1–31, hier 4, 6 u. 25. 60 Jenseits des Lustprinzips (1920), GW 13, 1–69, hier 38. 57
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gegen sind »Lustgewinn und Vermeidung von Unlust nichts Antreibendes, Bewegendes, sondern Epiphänomene. Unlust und Leiden stimulieren gerade zur Überwindung des Widerstandes gegen das Mehrwollen an Macht. 61 Wie ist die Differenz zwischen dem zwar abgewandelten, im wesentlichen aber aufrecht erhaltenen Lustprinzip bei Freud und dem in der eigenen Denkentwicklung immer stärker pointierten Machtprinzip bei Nietzsche einzuschätzen? Das Lustprinzip rückt Freud vornehmlich in Verbindung mit dem Realitätsprinzip in den Fokus. Bei seinen Nachfolgern wird dessen universelle Geltung in Frage gestellt und als Ergänzung oder Alternative ein Sicherheitsprinzip affektiv-narzisstischer Art postuliert: der Mensch sei ein Wesen, das neben seinen Triebbedürfnissen auch ein eminent starkes Bedürfnis nach innerer Sicherheit, Wohlbefinden und Selbstwertgefühl hat. 62 Für Nietzsche geben alle hedonistischen Vorstellungen von Lust als Freisein von Leiden keine tragfähige Basis ab, denn wer nur Seelenruhe und Behaglichkeit haben will, kann den Zustand freudiger Macht nicht erreichen; Intensität des Lebensgefühls setzt mutiges Ringen mit den Problemen und Widerständen der Welt voraus. Umgekehrt taucht bei Freud die Dimension der Macht nur am Rande auf. Im Rahmen der dritten Triebtheorie erwähnt er erstmals »Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe«, die er aber gerade nicht, wie man erwarten könnte, den Lebenstrieben, sondern als Partialtriebe dem Todestrieb zuordnet (GW 13, 41). Einige Jahre später modifiziert er seinen Standpunkt dahingehend, dass er die Annahme von reinen Lebens- und Todestrieben ablehnt und »Destruktionstrieb, Bemächtigungstrieb, Wille zur Macht« auf eine Vermischung der beiden Triebarten zurückführt (GW 13, 376). Solche Aussagen sind dunkel und lassen viele Fragen offen. »Eine spezifisch psychoanalytische Theoriebildung erscheint notwendig, steht aber noch aus«, meint Böllinger. Von psychoanalytischer Seite seien insbesondere die Prozesse zu untersuchen, »durch die Macht psychische und soziale Realität gewinnt, wie Triebschicksale im lebens- und sozialgeschichtlichen Kontext zur Gerinnung einer sozia61 Vgl. A. K. Wucherer-Huldenfeld, Grundgedanken bei Freud und Nietzsche im Hinblick auf die Sachproblematik der Metaphysik des Willens, in: J. Figl (Hg.), Von Nietzsche zu Freud, a. a. O., 45–68, hier 56. 62 Vgl. W. Joffé u. J. Sandler, Über einige begriffliche Probleme im Zusammenhang narzisstischer Störungen, in: Psyche 21 (1967) 152–165, hier 161 ff.
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len Machtwirklichkeit beitragen, welche ihrerseits auf diese Triebschicksale einwirkt, welche Rolle dabei Triebregungen, deren Abwehr, unbewusste Phantasien und Wiederholungszwang, Übertragung und Gegenübertragung etc. spielen«. 63 Bei Freud hängt die Bildung des Über-Ichs maßgeblich von der jeweiligen Bewältigung des ödipalen Konflikts ab, da er intensive Liebes- und Hass, Loyalitäts- und Schuldgefühle mobilisiert und in der Psychoanalyse zur »Hauptbezugsachse der Psychopathologie« wird, indem sie nach Laplanche und Pontalis »für jeden pathologischen Typus die Formen seiner Position im Ödipuskomplex und seiner Lösung zu bestimmen« sucht (S. 351). Das strikte Festhalten an der Annahme, dass die trianguläre Struktur des Ödipuskomplexes allgemeingültig sei, unterstreicht Freud mit den Worten: »Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es nicht zustande bringt, ist der Neurose verfallen«. 64 Bei Nietzsche gibt es kein Pendant zur Lehre vom Ödipuskomplex als »Kernkomplex der Neurose« (ebd.). Eine ähnlich grundlegende Bedeutung in seiner Krankheitslehre hat nach Gasser der »nihilistische Grundkomplex«, der mit Sinnverlust und Depressivität verbunden sei und daher dringend einer Überwindungsstrategie bedürfe. Diese beiden Krankheitskonzeptionen sind aber in so unterschiedlichen Erfahrungs- und Denkzusammenhängen entstanden, dass gewisse Übereinstimmungen letztlich nicht entscheidend ins Gewicht fallen. 65 Schon in den Anfängen der Psychoanalyse erkennt Freud einen engen Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und einem Leben in Wahrheit. Die Entstellung der Wahrheit durch Abwehr und Verdrängung wirke krank machend, deren Überwindung, also das Mittel der Wahrheitsfindung, hingegen befreiend und heilend. Daher unterstreicht er die Bedeutung der Wahrhaftigkeit des Patienten gegenüber dem Therapeuten und sich selbst. Aber auch der Therapeut müsse die »blinden Flecken« in der eigenen Wahrnehmung, der »Gegenübertragung«, erkennen und überwinden (GW 9, 382). Als gemeinsame Leitmaxime, in der Freud mit Nietzsche übereinstimmt, kann man die
Vgl. L. Böllinger, Macht, in: Mertens u. Waldvogel (Hg.), Handbuch psychoanalytischer Grudnbegriffe, a. a. O., 441 f. 64 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905 [1920], GW 5, 33–145, 127 f., Fn. 2. 65 Vgl. Gasser, Nietzsche und Freud, a. a. O., 465 ff. 63
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
»zur kompromißlosen intellektuellen Redlichkeit in psychologicis« betrachten. 66 Auf der anderen Seite erkennt Nietzsche hellsichtig, dass der »Wille zur Wahrheit« vom Willen zur Macht abhängig, d. h. triebverwurzelt und auf Machterweiterung angelegt sei. Aus dieser Sicht stellt sich die Frage, ob sich der Therapeut seinem Forschungsgegenstand überhaupt in einer »objektiven« Haltung zuwenden kann. Kann er als Therapeut nach Wahrheit streben und sich dennoch die Fähigkeit zur Relativierung des eigenen Standpunkts bewahren? Nietzsche hat Impulse zu einer radikalen Infragestellung der Konzeptionen von Erkenntnis, Wahrheit, Realität und Wissenschaft gegeben. Die Wahrheit sei »ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volk fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind«. 67 Wenn die Wahrheit keine Eigenschaft der Realität ist, dann gibt es nur perspektivische Deutungen und Konstruktionen der Realität. An diesem Punkt der Auseinandersetzung wird oft der Einwand der Beliebigkeit ins Spiel gebracht. Es wäre in der Tat fatal, alles Erkennen der Beliebigkeit zu überlassen oder gar den Anspruch auf wissenschaftliche Orientierung aufzugeben. Die Abgrenzung des Perspektivismus vom Relativismus ist gerade im Bereich der Psychotherapie, wo es um existenzielle Wertungen wie Gesundheit und Krankheit oder Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit geht, von einiger Brisanz. 68 Die Frage bleibt: Wie soll man sich dazu einstellen, dass man sich in einem plural geprägten Feld bewegt, ohne einen Standpunkt außerhalb oder darüber besetzen zu können? Als Freud 1923 das »Es« einführt, bringt er es ausdrücklich mit Nietzsche in Zusammenhang. Seine Formulierung, das »Ich« pflege »den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wä-
Ebd. 704. Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, 873–890, hier 880 f. 68 Vgl. M. Hampe, Pluralität der Wissenschaften und Einheit der Vernunft – Einige philosophische Anmerkungen zur Psychoanalyse, in: M. Leuzinger-Bohleber, H. Deserno u. S. Hau (Hg.), Psychoanalyse als Profession und Wissenschaft. Stuttgart 2004, 17– 32, hier 24. 66 67
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re«, deutet explizit auf jene Denktradition hin, in der der ›Wille‹ als steuernde Macht ›hinter‹ den seelischen Erscheinungen betrachtet wird (GW 13, 251 Fn. 2). Das Ich erscheint als bloßer Vollstrecker der Triebe, der ihren Kämpfen ohnmächtig ausgeliefert sei. Es gibt aber in Freuds Ich-Psychologie noch eine andere – gegenläufige – Sicht, wonach das Ich eine »zusammenhängende Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person« (ebd. 243) sei, welche die Konflikte mit dem Es auszubalancieren, sich von dessen Herrschaft zu befreien und selbst die Oberhand über das Triebchaos in sich zu gewinnen sucht. An diese Vorstellung eines zwar abhängigen, aber potentiell entwicklungsund wandlungsfähigen Ichs knüpfen auch und gerade die psychoanalytischen Bemühungen um Veränderung und Heilung an: »Ärztliche Tätigkeit wäre unmöglich, wenn der Arzt vermeinte, dass das Triebgeschehen sich grundsätzlich in sich selbst unabänderlich und unbeeinflussbar vollzöge. […] Die Analyse zielt darauf ab, den Menschen dahin zu bringen, dass ihm eine gewisse Herrschaft über die Triebe möglich wird«. Entgegen der kulturpessimistischen Sichtweise zeigt sich hier, dass die Beherrschung der Triebe auch »erfreuliche Seiten« zeigt: sie »bricht deren dunkle und vom Unbewussten her gesteuerte Herrschaft« und versetzt den Menschen in die Lage, »mit seinen Trieben umgehen zu können«. 69 Zwischen Nietzsche und Freud gibt es eine ganze Reihe von Unterschieden in ihren Vorstellungen von therapeutischer Behandlung und Heilung. So bewegen sich Freuds therapeutische Überlegungen ihrer Grundtendenz nach im Bezugsrahmen eines paternalen Modells von Gesetz, Schuld und Über-Ich, während man Nietzsche mit seiner Vision der ›Unschuld des Werdens‹ eher einem maternalen Modell zurechnen kann. 70 Auf der anderen Seite verweist Nietzsche auf einen Problemkreis, den man »als historische Neufassung der menschlichen ›Sinnfrage‹ fassen kann« – ein Aspekt, der in Freuds Therapeutik nur eine untergeordnete Rolle spielt. 71
Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, a. a. O., 682 u. 685. Assoun, Freud und Nietzsche, a. a. O., 76. 71 Gasser, Nietzsche und Freud, a. a. O., 710; vgl. I. Yalom, Und Nietzsche weinte. Mit einem neuen Nachwort des Autors. München, Zürich 2003. 69 70
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IV. Warum sich Psychoanalyse und Nietzsche-Forschung aufeinander zubewegen sollten Nietzsche blieb innerhalb der Psychoanalyse bis in die jüngste Zeit hinein der Andere, der Fremde, der schwer zu Integrierende. Es gilt daher erst einmal, nach wie vor virulente Berührungsängste abzubauen, um ihn als einen geistig Verwandten und in vieler Hinsicht Verbündeten, aber auch als einen Herausforderer und Gegenspieler neu zu entdecken. Umgekehrt hat Freud mit seinem »szientistischen Selbstmissverständnis« (Habermas) auf die am Perspektivismus und Konstruktivismus orientierte Nietzsche-Forschung lange Zeit abschreckend gewirkt. Vom Glauben an eine allgemeingültige Wahrheit hat man sich mittlerweile im main stream der Psychoanalyse mehr oder weniger gelöst, und Freuds Ursprungskonzeption hat sich in einen Pluralismus verschiedener Theorie- und Schulrichtungen verzweigt. Wenn die Psychoanalyse aus Angst vor Identitätsverlust aber allzu loyal an den Freudschen Konzepten festhält, besteht die Gefahr, dass sie ihre avantgardistische Position verliert. Sie kann dann »nicht mehr andere Wissenschaften inspirieren, sondern braucht selbst, will sie nicht ermattet zurückbleiben, theoretische Infusion«. 72 Als nachhaltige Wirkung von Freuds Über-Ich- und GewissensKonzeption bleibt, dass seither »keine naive bewusstseinspsychologische Betrachtung moralischen Handelns mehr möglich ist, nach der unsere moralischen Prinzipien für jeden jederzeit reflexionsfähig sind«. 73 Die im Über-Ich verinnerlichten Normen und Werte sind nämlich nur partiell bewusst, schränken unsere Autonomie ein und bestimmen in erheblichem Umfang unser Handeln. Dennoch lässt sich einiges an den anthropologischen Prämissen von Freuds Gewissenstheorie anzweifeln. Fragwürdig ist sowohl die Grundannahme, dass das Kind von Geburt an aggressive und antisoziale Triebbedürfnisse zu befriedigen sucht, als auch die weitere Annahme, dass es sich nur aus Angst vor Liebesverlust und zur Regulierung seines Selbstwertgefühls den moralischen Anforderungen der Eltern unterwirft und sie durch Identifizierungen verinnerlicht. »Das bei gesunden Kindern bereits beobachtbare M. B. Buchholz, Psychotherapie als Profession. Gießen 1999, 211. W. Mertens, Über-Ich, in: ders., Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe. München 1992, 265–270, hier 269. 72 73
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Bedürfnis nach prosozialem und einfühlsamem Verhalten lässt eher an einen autonomen Kern moralischen Handelns denken und die Bestimmung des Über-Ichs als einer total heteronomen Instanz tendenziell fragwürdig erscheinen«. 74 In der neueren Psychoanalyse wird daher unterschieden zwischen »einem anfänglichen, auf Angst vor Liebesverlust beruhenden Über-Ich und einem reifen, der Selbstbestimmung dienenden, […], das auf der Assimilation, dem identifikatorischen Sich-zu-eigen-Machen äußerer Werte, beruht«. 75 Von hier aus lässt sich eine Brücke zu Nietzsches Entwürfen zu einem gewandelten und befreiten Gewissen schlagen. Freuds Hauptthese, dass die Entstehung des Über-Ichs »aufs innigste mit dem Schicksal des Ödipuskomplexes verknüpft« sei, und dass es dazu der Umwandlung von Objektbesetzungen in Identifizierungen bedürfe, lässt viele Fragen offen: Was bedeutet es z. B., dass »das Über-Ich in seiner Stärke und Ausbildung verkümmert, wenn die Überwindung des Ödipuskomplexes nur unvollkommen gelingt«? Im Hinblick auf das weitere Schicksal des Über-Ichs nach der ödipalen Phase meint Freud, dass es sich im Normalfall immer mehr von den Eltern entferne, »unpersönlicher« werde, sich mit anderen Autoritäten und Vorbildern identifiziere, so dass aus dem ödipalen zunehmend ein »soziales« Über-Ich wird. 76 Weiterhin stellt sich die Frage, ob überhaupt die Aufspaltung in Ich und Über-Ich sinnvoll und berechtigt sei. Aus Fetschers Sicht gibt es nur Konflikte innerhalb des Ich und »keine intersystemischen Konflikte, weil weder Es noch Über-Ich/Ich-Ideal eine Wahrnehmungs-, Urteils- oder Handlungsfunktion haben«. 77 In einer neueren Arbeit wird die These vertreten, dass bei der Ausformung von moralischen Haltungen und Werten weniger die Eltern, sondern vor allem die Alters- und Geschwistergruppen eine entscheidende Rolle spielen. 78 Diese Beispiele zeigen, dass die psychoanalytischen Grundbegriffe von Gewissen, Ich-Ideal und Über-Ich in manchen Punkten neu überdacht und geordEbd. M. Hirsch, Schuld, Schuldgefühl, in: Mertens u. Waldvogel (Hg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, a. a. O., 671–677, hier 675. 76 R. Fetscher, Ich-Ideal und Über-Ich im Rahmen einer modifizierten Strukturtheorie, in: Psyche 57 (2003) 193–225, hier 2008. 77 Ebd. 222. 78 Vgl. J. Lichtenberg, F. Lachmann u. J. Fosshage, Werte und moralische Haltungen, in: Psyche 50 (1996) 407–443. 74 75
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Gewissen und Moral im Kontext des Freud-Nietzsche-Diskurses
net werden müssten. Warum nicht in Auseinandersetzung mit Nietzsches moral- und gewissenspsychologischen Konzepten? In allen Spielarten der dynamischen Psychotherapie spielen implizite Konzepte der Moral und Lebenskunst als Hintergrundannahmen eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn der Therapeut und der Patient kreisen in ihren Verständigungsbemühungen um die Frage, was für den Patienten in seiner aktuellen Lebenssituation »gut« und »richtig« sei. Solche impliziten Konzepte bleiben nicht selten aufgrund subtiler Abwehrprozesse unbewusst und können daher wie Vorurteile wirken und unser Wahrnehmen, Denken und Gefühlen stark einengen. 79 Treurniet 80 hat »sieben Gebote« einer neuen Ethik der psychoanalytischen Technik aufgestellt, wobei er diese Aufzählung idealer Qualitäten nicht überbewertet, sondern explizit darauf hinweist, dass »die Beschaffenheit des Gewissens des Analytikers und seine Rolle im analytischen Prozeß bei dieser Frage eine zentrale Rolle einnimmt«. In diesem Kontext könnte es von großem Interesse sein, Nietzsches Anliegen »einer Typenlehre der Moral« (KSA 5, 105) aufzugreifen und mit den klinischen Erfahrungen der Psychotherapeuten in Verbindung zu bringen. Es gebe »Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an’s Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen […] – kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte« (ebd. 107). Man könnte aber auch umgekehrt sagen, die Affekte sind die Zeichensprache der Moral. Freiheit war für Freud nur eine Illusion und doch zugleich das erklärte Ziel seiner therapeutischen Bemühungen. So wandte er sich ausdrücklich gegen den tief wurzelnden Glauben an die »psychische Freiheit« (GW 15, 104), betonte aber an anderer Stelle, dass die Psychotherapie »dem Ich des Kranken die Freiheit schaffen soll, sich so 79 Vgl. Sandler, Die Beziehungen zwischen psychoanalytischen Konzepten und psychoanalytischer Praxis, a. a. O.; G. Gödde u, J. Zirfas, Das Unbewusste in Lebenskunst und Psychotherapie, in: M. B. Buchholz u. G. Gödde, Das Unbewusste., Band III: Das Unbewusste in der Praxis. Erfahrungen verschiedener Professionen. Gießen 2006, 746–782. 80 Über eine Ethik, a. a. O., 28.
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oder anders zu entscheiden« (GW 13, 480 Fn). Während die Freiheit bei der Alternative von Willensfreiheit versus Determinismus von außen her, objektiv, um- und mitweltbezogen betrachtet wird, bezieht sich die Polarität von psychischer Freiheit versus Zwang auf das subjektive Erleben unterschiedlicher Freiheitsgrade. Da die erkenntnistheoretische Annahme des Determinismus auf einer höheren Abstraktionsebene liegt, schließt sie die Möglichkeit psychischer Befreiung von Ängsten, Zwängen, Depressionen und anderen psychischen Störungen keineswegs aus. Man kann psychologisch sehr wohl von Wollen, Wahl und Entscheidung als Ich-Leistungen sprechen, ohne auf das metaphysische Postulat der Willensfreiheit zu rekurrieren. Die Polarität von psychischer Freiheit und Zwang lässt sich auch auf die ethische Frage nach der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln beziehen. Dabei sind die Genese und die moralische Geltung einer Tat strikt zu unterscheiden. Die Psychotherapie kann durch die Aufdeckung unbewusster Zusammenhänge dazu beitragen, die gleichsam willentliche Übernahme der moralischen Verantwortung zu ermöglichen. 81 Schließlich kann man sich fragen, ob sich die Kategorien der Moral- und Gewissenspsychologien Nietzsches und Freuds eignen, um aktuelle moralpsychologische Problemlagen zu erfassen, und wie sie sich im Hinblick auf gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen modifizieren und perspektivieren lassen. Eine relative Geschlossenheit der Kulturmoral und des Kultur-Über-Ichs wie zu Nietzsches und Freuds Zeiten besteht heute nicht mehr. An ihre Stelle sind individualisierte Lebensformen getreten, die nicht mehr ohne weiteres durch ein gemeinsames Band von moralischen Werten und Normen zusammen gehalten werden. Die Werke von Nietzsche und Freud sind große Labyrinthe, in denen man sich leicht verirren kann. Sie sind aber auch gewaltige Schatzkammern, in denen noch viel zu entdecken ist. Und sie sollen offene Systeme sein und bleiben, die der kritischen Auseinandersetzungen bedürfen. Daher spricht bei aller Anerkennung der Differenzen viel dafür, Brücken zwischen beiden Denkwelten zu schlagen und sich dem »gemeinsamen Dritten« zuzuwenden.
G. Gödde u. W. Hegener, Zur Bedeutung des Willens in Psychoanalyse und Psychotherapie, in: H. Petzold u. J. Sieper (Hg.), Der Wille in der Psychotherapie, Band 1: Tiefenpsychologische und humanistische Verfahren. Göttingen 2004, 203–248, hier 240 ff.
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Almuth Bruder-Bezzel
Alfred Adlers Nietzsche-Bezug und die schöpferische Kraft
I.
Einleitung
Es gilt als selbstverständlich, Adler zu Nietzsche in einen mehr oder weniger engen Zusammenhang zu bringen. Trotzdem gibt es in jüngeren Zeiten keine Studien dazu – außer meiner eigenen von 2003 1 – vielleicht weil man nicht wirklich sicher ist, ob man über diese Einordnung glücklich sein soll. Adler galt wohl bereits zu seinen Lebzeiten, trotz seines Konzepts »Gemeinschaftsgefühl«, als »Verkünder« des »Willens zur Macht«, galt auch als »ein 2. Nietzsche«, wie Adlers Anhänger Carl Furtmüller 1946 bedauernd schreibt. 2 Aber Adler gab zu diesen Zuschreibungen natürlich Veranlassung, indem er Nietzsche verschiedentlich zitierte, ja Nietzsche einmal als eine »ragende Säule« seiner Theorie 3 bezeichnete und vor allem der Dimension der »Macht« in seiner Theorie einen zentralen Stellenwert einräumte – und dafür zeitenweise Nietzsches Ausdruck »Wille zur Macht« übernahm. Er schien Nietzsche-Anhänger zu sein, aber in seiner Machtkritik war er ein grundlegender, scharfer Nietzsche-Kritiker, was er auch in späteren Jahren ausdrückte und dann jegliche Nähe zu Nietzsche schroff zurückwies. Freud, der ja seine Verstrickung mit Nietzsche verleugnete und darüber hinaus generell ein Interesse an Philosophie zurückwies, wurde natürlich immer wieder mit Nietzsche konfrontiert, – weil man um Vgl. A. Bruder-Bezzel, Nietzsche, Freud und Adler, in: A. Bruder-Bezzel u. K. J. Bruder, Kreativität und Determination. Studien zu Nietzsche, Freud und Adler. Göttingen 2003, 122–169. 2 C. Furtmüller, Alfred Adlers Werdegang, in: L. Furtmüller (Hg.), Carl Furtmüller: Denken und Handeln. München, Basel 1983, 231–287. 3 A. Adler (1913), Der nervöse Charakter, in: A. Adler (Hg. mit Carl Furtmüller). Heilen und Bilden: ärztlich-pädagogische Arbeiten des Vereins für Individualpsychologie. München 1914, Reprint Frankfurt/M. 1973, 123–133. 1
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Nietzsche gar nicht herum kam. Aber auch in seinem Mittwochkreis gab es immer wieder Nietzsche-Abende. Und Adler brachte den Aggressionstrieb und Machtbegriff hinein, C. G. Jung attackierte ihn förmlich mit Nietzsches Zarathustra. 4 Der Graben dieser beiden Dissidenten zu Freud wurde auch damit vertieft. Der Gedanke, dass Adlers Dissidenz oder Freuds Rausschmiss von Adler ebenso wie die Dissidenz von C. G. Jung (auch) im Zusammenhang mit Nietzsche steht, liegt daher nahe. So schrieb Venturelli, dass in der Polemik »zwischen Freud und Alfred Adler oder zwischen Freud und Jung« »eine unterschiedliche Einschätzung sowohl Nietzsches als auch der Beziehung zwischen Wissenschaft und Philosophie in Erscheinung tritt«. 5 Einen ganz ähnlichen Gedanken bezüglich Adler hatte bereits C. G. Jung selbst in seinen »Erinnerungen«: Angesichts von Adlers »Machthypothese« habe er Freuds (Sexual)Psychologie »als einen Schachzug der Geistesgeschichte« gesehen, der »Nietzsches Vergötterung des Machtprinzips kompensierte. Das Problem lautete offenbar nicht ›Freud versus Adler‹ sondern ›Freud versus Nietzsche‹. Es schien mir viel mehr zu bedeuten als ein Hausstreit in der Psychopathologie« 6 . Das (scheinbar) Nietzscheanische an Adler also war für Freud unerträglich und gehörte zumindest mit zum Hintergrund des Bruchs mit Adler. Während es zum Verhältnis Freud/Nietzsche inzwischen eine sehr umfangreiche Literatur gibt, fällt die zu Adler/Nietzsche recht spärlich aus. Von einigen seiner damaligen Anhänger gibt es nur ein paar Bemerkungen, die allerdings eine enge Beziehung Adler-Nietzsche konstatieren, ohne dies wirklich auszuführen. So sieht die Berliner Individualpsychologin Ada Beil Schopenhauer und Nietzsche »als Vorläufer unserer Anschauung« 7 oder es bezeichnet Hedwig Schulhof 8 Nietzsche als »intuitiven Individualpsychologen«, bzw. fordert Arthur Vgl. R. Lehrer, Nietzsche’s Presence in Freud’s Life and Thought. New York 1995, 119 f. 5 A. Venturelli, Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien, in: Nietzsche-Studien 13 (1984) 448–480, hier 477. 6 C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken (Hg. A. Jaffé). Zürich, Stuttgart. 1962, 157. 7 A. Beil, Zur Psychologie von Welt- und Lebensanschauung, in: E. Wexberg (Hg.), Handbuch der Individualpsychologie, Band 2. München 1926, Nachdruck Amsterdam 1966, 1–39 hier 28. 8 Der Schauspieler, in: Ebd. 140–149, hier 149. 4
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Kronfeld 9 dazu auf: »Die Schüler Adlers sollten sich als Schüler Nietzsches bekennen.« Robert Freschl 10 und der Engländer Francis Crookshank 11 – beide Nietzsche-Verehrer – behandelten die Beziehung etwas ausführlicher. Adler sei eine von Nietzsches »Philosophie kongruente Psychologie« 12 und zeige sowohl »weitgehende Übereinstimmung« als auch »wesentliche Differenzen«. 13 Crookshank zeigt in einer über 70seitigen Broschüre an Hand einer chronologischen Darstellung Nietzsches an verschiedenen einzelnen Punkten ein »Kontinuum Individualpsychologie und Nietzsche« auf. Diesem – etwas pauschalen Muster – folgen auch Heinz Ansbacher 14 und Walter Kaufmann. 15 Neuere Autoren schließen sich ihnen eher an, sind aber speziell mit dem Begriff »Willen zur Macht« zurückhaltend oder lehnen, neuerdings, Adlers kritische Haltung zur Macht überhaupt ab.
II.
Adlers Quellen für Nietzsche
Es war bereits vor der Jahrhundertwende nicht möglich, Nietzsche nicht zu kennen, auch dann, wenn man ihn nicht wirklich gelesen hat. Nietzsche war ja in aller Munde und Gespräche und Diskussionen über ihn waren für seine Verbreitung mindestens ebenso wichtig. Es entwickelte sich ein Kult um ihn, der vor allem in den Reihen von Dissidenten und Radikalen jeglicher Couleur entbrannte, in der Philosophie, Psychologie, vor allem in der Kunst und bei Künstlern (Musik, Architektur, Malerei, Literatur), bei Theologen, Feministinnen, bei der Avantgarde jeglicher Spielart. Nietzsche wurde vor dem 1. Weltkrieg Die Individualpsychologie als Wissenschaft, in: E. Wexberg (Hg.), Handbuch der Individualpsychologie, Band 1. München 1926, Nachdruck Amsterdam 1966, 1–29. hier 12. 10 Das Lustprinzip bei Nietzsche, in: Zentralblatt für Psychoanalyse 3 (1912) 516 ff. 11 Individual Psychology and Nietzsche. Individual Psychology Pamphlets 10 (London 1933). 12 R. Freschl, Vorbemerkungen zu einer Individualpsychologie der Persönlichkeit Friedrich Nietzsches, in: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie I/4–5 (1914) 110–115, hier 111. 13 R. Freschl, Friedrich Nietzsche und die Individualpsychologie, in: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie 14 (1936) 50–61, hier 50 f. 14 Vgl. Striving for Power in Relation to Nietzsche, in: Journal of Individual Psychology 28 (1972) 12–24. 15 Vgl. Nietzsches Concept of the Will to Power, in: Ebd. 3–11. 9
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als Kritiker der Zeit gesehen, als Befreier von bürgerlichen Zwängen und bürgerlicher Moral gefeiert. Er wurde zur Leitfigur für die Propagierung von freier Sexualität, galt als Prophet des Schöpferischen, der Selbsterschaffung, als Vertreter des Vitalismus, der Feier von Stärke und Gesundheit. So wurde er zur Symbolfigur der Lebensreformbewegung, des Feminismus, Expressionismus. 16 Von der traditionellen, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Elite wurde er bekämpft oder ignoriert. So schreibt z. B. C. G. Jung aus seiner Baseler Studienzeit 1896/97: »Nietzsche wurde damals viel diskutiert, aber meistens abgelehnt, am heftigsten von den ›kompetenten‹ Philosophiestudenten.« 17 Gerade für die akademische Jugend galt Nietzsche als »Prophet«, er wurde »verehrt als ein Gott«. 18 Jung schreibt weiter: In seinen Studienjahren sei er von Nietzsches ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹ »restlos begeistert« gewesen »und bald las ich auch ›Also sprach Zarathustra‹. Das war, wie Goethes ›Faust‹, mein stärkstes Erlebnis. Zarathustra war der Faust Nietzsches.« 19 Nietzsche gehörte auch für Adler zu einem »Jugenderlebnis«, in seinem Fall verbunden mit sozialdemokratischen Studentenverbänden, zusammen mit seinem Freund, dem literarischen Rebellen, Franz Blei. Adler traf im weiteren auch bei manchen anderen Sozialdemokraten auf Nietzsche- Begeisterung (»Nietzscheanischer Sozialismus« um die Zeitschrift »Neue Gesellschaft«). Akademisch-wissenschaftlich wurde er dann durch den Philosophen Hans Vaihinger 20 wieder auf Nietzsche gelenkt und traf um und nach dem 1. Weltkrieg wieder auf die Nietzsche-Begeisterung der Expressionisten. Da schon frühzeitig eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Nietzsche und Freud vermutet wurde, könnte es auch sein, dass Adlers Interesse an Freud über Nietzsche vermittelt war, dass er in Freud Nietzsches Spuren (als »Entlarvungspsychologe«) sah und gesucht hat. Angesichts von Freuds ablehnender Haltung bzgl. Nietzsche hat Adler dies offenbar nicht deutlich gezeigt. Dass Adler Nietzsche selten wörtlich zitiert, Schlagwörter benutzt Vgl. S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart 2000. Erinnerungen, Träume, Gedanken, a. a. O., 108. 18 Wittels, zit. Lehrer, Nietzsche’s Presence in Freud’s Life and Thought, a. a. O., 189 19 Erinnerungen, Träume, Gedanken, a. a. O., 109. 20 Vgl. Nietzsche als Philosoph (1902). Berlin 1916; Die Philosophie des Als Ob. Leipzig 1911. 16 17
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oder nur sinngemäß verweist, ist noch kein Beleg dafür dass er Nietzsche nicht gelesen hat, wie dies Reinhard Gasser 21 aber vermutet. Die verschiedenen Bezüge, die Adler zu Nietzsche herstellt, deuten dagegen auf genauere Kenntnis, so dass wir auch von einer Lektüre ausgehen können. Adler bezieht sich auf Gedanken, die aus verschiedenen Nietzsche-Werken stammen, so auf ›Geburt der Tragödie‹, ›Genealogie der Moral‹, ›Menschliches Allzumenschliches‹, ›Ecce Homo‹. Auch ›Wille zur Macht‹ in der Ausgabe von 1901 könnte er, wie R. Kühn 22 vermutet, gelesen haben.
III. Nietzsche – Bezüge in Adlers Werkabfolge Im Umgang Adlers mit Nietzsche würde ich 4 Zeitabschnitte unterscheiden: 1. Ungenannte Einflüsse 1908–1911 2. Bekenntnis zu Nietzsche 1912/13 3. Zitierpause 1918–1928 4. Abgrenzung von Nietzsche ab 1928 1. 1908–1911: Adler nennt oder zitiert Nietzsche bis 1912 nur gelegentlich, aber interessiert, einen Einfluss auf die Grundlagen seiner Theorie lässt er von sich aus nicht erkennen. Trotzdem scheinen sich Nietzschesche Grundzüge in Adlers Theorie niederzuschlagen, so die Betonung des Aggressiven (im »Aggressionstrieb«, in der Kompensation), die Abkehr von einem biologischen Triebmodell, und vor allem in Adlers zentralem Begriff der Kompensation in ihren verschiedenen Facetten des Über-sich-hinaus-Wachsens (s. mehr unten). Immer aber füllt Adler diese Begriffe anders aus als Nietzsche. In der Mittwochgesellschaft wird Adlers Interesse an Nietzsche deutlich, aber nicht er ist es, der die Diskussionen über Nietzsche forciert. 1908 – noch ganz Freudianer – meint er in Nietzsche einen Philosophen zu sehen, der »unserer Denkweise am allernächsten stehe«. 23 21 Nietzsche und Freud. Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 38. Berlin, New York 1997, 64. 22 War Adler Philosoph? Der Umgang Adlers mit seinen Quellen im »Nervösen Charakter«, in: Zeitschrift für Individualpsychologie 21 (1996) 235–255, hier 242. 23 Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (Hg. H. Nunberg u. E. Federn), Band I. Frankfurt/M. 1976, 336 (vom 1. April 1908).
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Er selbst habe bisher die »Verbindungslinie zu Schopenhauer, Marx, und Mach gezogen und Nietzsche da ausgelassen« (ebd.). Die Verbindung mit der Psychoanalyse bestehe darin, dass Nietzsche »Beobachtungen wie in der Kur« habe, »wenn der Patient ziemlich weit gekommen ist und die Unterströmungen seiner Seele analysieren kann«. Und er habe »den Urtrieb unter allen Erscheinungsweisen der Kultur« entdeckt, der dann »in der Kultur eine Umwandlung erfahren hat« (ebd. 337). Adler muss mit »Urtrieb« wohl bereits hier damit den »Willen zur Macht«, den Adler erst 1912 nennt, meinen und spricht zugleich mit »Umwandlung« das Thema »Triebschicksal« an, worüber Adler zu dieser Zeit, in seinem »Aggressionstrieb« 24 selbst schreibt. Als Adler 1910 seine Kompensationstheorie in der Geschlechtermetapher »männlicher Protest« ausdrückt, d. h. als Wunsch, die gesellschaftlich unterlegene Stellung des Weiblichen zu überwinden, als »Ich will ein Mann sein«, verweist er kritisch auf eine Differenz zu Nietzsche – der Nietzsche-Verehrer Freschl nennt das sogar eine »unüberbrückbare« Gegensätzlichkeit«. 25 Es geht um den Antifeministen Nietzsche: Im gleichen Augenblick wie Adler sich im »männlichen Protest« der Geschlechtermetapher bedient, weist er diese als Klischee zurück: »Die Gleichstellung von Zügen der Unterwerfung mit Weiblichkeit, der Bewältigung mit Männlichkeit«, sei eine gesellschaftlich herrschende »falsche Analogie«, »die eine ganze Anzahl der feinsten Köpfe, – ich nenne nur Schopenhauer, Nietzsche, Moebius, Weininger – mit geistreichen Sophismen zu stützen gesucht haben«. 26 2. 1912/13: Nach dem Bruch mit Freud (1911) bezieht sich Adler 1912 nun an zentralen Stellen explizit und bekenntnishaft auf Nietzsche – womit er seine Diskrepanz zu und zugleich seine Befreiung von Freud unterstreicht. Gegen den Lust- und Selbsterhaltungstrieb, gegen Freuds »Libido als treibender Kraft« übernahm er Nietzsches »Willen zur Macht« als »Primärtrieb« und bekennt sich darin in seinem Hauptwerk, ›Der Nervöse Charakter‹ 27 zu ihm. Auch rühmt er Nietzsches Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose (1908), in: A. Adler, Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Studienausgabe, Band 1 (Hg. A. Bruder-Bezzel). Göttingen 2007, 64–76. 25 R. Freschl,. Friedrich Nietzsche und die Individualpsychologie, a. a. O., 246. 26 A. Adler, Über den Selbstmord, insbesondere den Schülerselbstmord (1910), in: A. Adler, Persönlichkeit und neurotische Entwicklung, a. a. O., 114–121, hier 119. 27 Vgl. Über den nervösen Charakter: Grundzüge einer vergleichenden Individual-Psy24
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»Intuition«, das »starke intuitive Erfassen«, das »Seelenkunde« verlange: »Wenn ich den Namen Nietzsche nenne, so ist eine der ragenden Säulen unserer Kunst enthüllt«. 28 3. 1918: Mit der Einführung des »Gemeinschaftsgefühls« nach dem 1. Weltkrieg hat sich Adler offenbar von Nietzsche abgewandt. Er zitiert ihn so gut wie gar nicht mehr. »Wille zur Macht« (als »Grundtrieb«) verschwindet in seiner Sprache. »Gemeinschaftsgefühl«, als Bedürfnis und als Fähigkeit des Menschen als sozialem Wesen, wird zum Gegenspieler gegen das Machtstreben, es lenkt und formt die Kompensation in eine soziale Richtung. Offenbar war diese Wende Adlers für viele seiner ehemaligen Anhänger enttäuschend, so dass sie sich abwandten und es zu einer neuen Zusammensetzung seines Kreises kam. 4. Ab 1928 grenzt Adler sich dann ganz ausdrücklich und geradezu aggressiv von Nietzsche ab. Adlers Faszination von Nietzsche ist in Gereiztheit umgeschlagen. Er kritisiert verschärft das Machtstreben, kritisiert Nietzsches Übermenschen und das Fehlen des Gemeinschaftsgefühls. Es sei ein »Missverständnis«, dass man die Individualpsychologie »in die Nähe Nietzsches versetzt hat«. 29
IV. Spuren Nietzsches in zentralen Begriffen von Adler Ich will an vier Varianten des Themas »Kompensation« – Kompensation, Wille zur Macht, Streben nach Vollkommenheit und das Schöpferische – Adlers Verhältnis zu Nietzsche skizzieren.
chologie und Psychotherapie (1912). Studienausgabe, Band 2 (Hg. K. H. Witte, A. Bruder-Bezzel u. R. Kühn). Göttingen 2008. 28 Der nervöse Charakter (1913), a. a. O., 123. 29 Individualpsychologie und Psychoanalyse (1931), in: A. Adler, Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze, Band II: 1930–32 (Hg. H. L. Ansbacher u. R. Antoch). Frankfurt/M. 1982, 192–209, hier 200.
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1.
Kompensation
Adlers Grundgedanke der Kompensation hat in der Vorstellung des Überwindens als Antriebskraft für Entwicklung zweifellos in Nietzsche eine seiner Quellen. »Kompensation« bei Adler ist treibende Kraft, der alle anderen »Triebe« untergeordnet sind, ist somit vom Ziel her bestimmt, in Abgrenzung von kausaler Triebdetermination. Kompensation als Wille zur Macht, als Streben nach Ansehen und Geltung, als männlicher Protest, ist aggressiv. Kompensation ist die Überwindung von Mangel, Schwäche, was auch Steigerung, ein über sich Hinausgehen bedeuten kann – darin Nietzsche ähnlich. Aber es geht bei Adlers »Überwinden«, im Unterschied zu Nietzsches »Überwinden«, nie um ein Überwinden zu einem Höheren schlechthin und nie um ein Überwinden des Menschen als Gattung. Auch ist Überwinden keine Leistung besonderer Menschen, keine Auszeichnung, sondern die Fähigkeit eines jeden Menschen und sogar eher dann erzwungen, je weiter unten sich einer wähnt.
2.
Machtstreben, Wille zur Macht/Wille zum Schein
Adler hat 1912 den Begriff des »Willens zur Macht« eingeführt, und damit dem Kompensationsstreben, dem Streben nach Überwindung, nach Geltung, nach Erhöhung, einen Namen, ein Ziel gegeben. Natürlich hat er diesen Begriff von Nietzsche übernommen und verweist er auch auf Nietzsche. Auch hat er mit Nietzsche den Willen zur Macht mit dem Willen zum Schein auf eine Ebene gesetzt. Man kann bei Adler, mit Nietzsche, dabei unterscheiden zwischen Willen zur Macht als »Grundkraft«, und Wille zur Macht als Machtstreben. Beides steht bei Adler nebeneinander, vor allem in seinem Hauptwerk, dem »Nervösen Charakter« von 1912, es hat einen aggressiven Charakter und wird mit dem »männlichen Protest« gleichgesetzt oder in Verbindung gebracht. a.
Wille zur Macht als Grundkraft
Als unbewusste psychologische Kraft, als »Grundtrieb« (1908: Urtrieb), der Leben in Bewegung bringt, als einem »Streben« das »tief 98 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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begründet« ist, als »Endzweck«, nennt Adler im »Nervösen Charakter« (1912) »Willen zur Macht«. Hier einige Zitate: – »Die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls [ist] Ausdrucksform eines Strebens und Begehrens, deren Anfänge tief in der menschlichen Natur begründet sind. Die Ausdrucksform selbst und die Vertiefung dieses Leitgedankens, den man auch als Wille zur Macht (Nietzsche) bezeichnen könnte, belehrt uns, dass sich eine besondere Kraft kompensatorisch im Spiel befindet, die der inneren Unsicherheit ein Ende machen will.« 30 – Die »neurotische Zwecksetzung«, »die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls«, »dessen einfachste Formel im übertriebenen männlichen Protest zu erkennen ist […] Nietzsches »Wille zur Macht« und »Wille zum Schein« umfassen vieles von unserer Auffassung« (ebd. 41 f.). – Die »Endzwecke« des Handelns sind weder Lust- oder Unlustempfindungen noch das Streben (Primat) nach Selbsterhaltung (ebd. 91), sondern »der unbedingte Primat des Willens zur Macht, einer leitenden Fiktion« (ebd. 92). – Dass aber in dem männlichen Protest des Neurotikers der ältere kompensatorische Wille zur Macht steckt […]« (ebd. 67). – »Alle diese Versuche des Höherstrebens, des Willens zur Macht müssen naturgemäß als eine Form des männlichen Strebens aufgefasst, mit dem männlichen Protest identifiziert werden, da dieser eine Urform psychischen Geltungsdranges darstellt, nach welchem alle Erfahrungen, Wahrnehmungen und Willensrichtungen gruppiert werden« (ebd. 74). Interessanterweise sind das im Gesamtwerk Adlers die einzigen Stellen zum »Willen zur Macht« im Sinn eines Grundtriebs, aber selbst hier ist »Trieb« kompensatorisch, nicht biologisch, also als »Antrieb«, verstanden. b.
Wille zum Schein
»Wille zum Schein« kommt bei Adler nicht sehr häufig und auch nur 1912 vor. Adler verbindet dies mit dem Fiktionsbegriff, den er, ebenso
30
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wie die Darlegung zum »Willen zum Schein«, von Hans Vaihinger übernommen hat. Ähnlich wie bei Nietzsche drückt hier Wille zum Schein die kompensatorische und fiktionale Funktion des Willens zur Macht aus. »Wille zum Schein« kann bei Adler die neurotische Übersteigerung des »Willens zur Macht« bedeuten: bei Misserfolgen oder wo die »Selbsteinschätzung« niedrig ist, wo »der Glaube an sich selbst« fehlt, erhebt sich der Neurotiker nicht mehr zum Willen zur Macht, sondern versucht nur mehr, den Schein für sich zu gewinnen. 31 Der Neurotiker geht »Umwege« oder strebt »Teil- und Scheinerfolge« an. 32 Die Verleugnung des Willens zur Macht wird als »Gegenfiktion« bezeichnet: »Aber die Fiktion der Überwältigung anderer« muss »frühzeitig unkenntlich gemacht werden, sich maskieren […]. Diese Verschleierung geschieht durch die Aufstellung einer Gegenfiktion, die vor allem das sichtbare Handeln leitet […]. Die Gegenfiktion bewerkstelligt den Formenwandel der leitenden Fiktion, indem sie ihr Rücksichten aufzwingt, soziale, ethische Zukunftsforderungen […] durch Bescheidenheit zu glänzen, durch Demut und Unterwerfung zu siegen« (ebd. 97 f.). »Was den Patienten wirklich treibt, ist das eindeutigste Verlangen nach ausschließlicher Macht, und da sein Persönlichkeitsgefühl an vielen seiner Mittel Anstoß nimmt, […] verbirgt er die verwehrten Charakterzüge vor sich und den anderen […], … lässt er sich im Tageslicht, in seinen ›bewussten Regungen‹ von dem Ideal der Tugend leiten« (ebd. 125 f.). c.
Wille zur Macht als Machtstreben
Adlers gesamtes Werk ist beherrscht von der Beschreibung und zugleich Kritik des Machtstrebens. Machtstreben des einzelnen und in der Gesellschaft ist für ihn aggressiv, zerstörerisch, ein Gift, das »hervorstechendste Übel in der Kultur«. 33 Wille zur Macht erscheint in diesem Sinn von Machtstreben als »Herrschaft und Überlegenheit erstreben«, »Verlangen nach ausschließlicher Macht«, »Herrschaft gewinnen«, »Kampfbereitschaft«, als Neigung zur Despotie, Macht31 32 33
Der nervöse Charakter (1913), a. a. O., 129 f. Über den nervösen Charakter (1912/2008), a. a. O., 223. Menschenkenntnis (1927), Studienausgabe, Band 5 (Hg. J. Rüedi). Göttingen 2007,
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begehren, Machtphantasie, Machtgier. 34 Auch die »Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls« oder der »männliche Protest« sind nicht nur ein über sich hinauswachsen, sondern Macht über andere haben, andere dominieren und erniedrigen. Das Machtstreben und seine jeweiligen Formen sind – wie auch die Gefühle der Inferiorität – bei Adler eng mit sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen verknüpft, aus diesen abgeleitet. Es impliziert eine hierarchische Achse von Oben und Unten, einen sozialen Vergleich. 35 Dieses Machtstreben kann in allen psychischen Phänomenen verborgen sein, vor allem auch in verwandelter, kaschierter Form (»Gegenfiktion«), um die Aggressivität des Ziels der Kompensation zu verbergen, sozial verträglicher zu gestalten. Im Aggressiven und Kämpferischen kann für Adler aber auch eine notwendige, befreiende, emanzipierende Komponente der Kompensation stecken, wie er dies einmal in Bezug auf die Arbeiter- und Frauenbewegung ausführt. Mit Adlers Machtbegriff ist somit immer auch Kritik am Machtstreben verbunden und zwar noch bevor Adler das Gemeinschaftsgefühl eingeführt hat. In übersteigerter Form wird es als krankhaft und krankmachend gesehen und kritisiert: »Dieses Streben nach Macht ist nicht unser Wahnsinn, es ist der, den wir bei den anderen finden.« 36 Darin ist Adler als schärfster Kritiker Nietzsches zu sehen – soweit wir Nietzsche als Verherrlicher verstehen. So schreibt Manès Sperber: »Jedenfalls ist der Wille zur Macht, wie Nietzsche ihn auffasste, durchaus verschieden von jenem Machtstreben, dem Adler besonders in seiner Neurosenlehre einen großen Platz einräumt … Man kann sich nichts Gegensätzlicheres denken.« 37 Einmal aber reklamiert Adler für seine Kritik an Macht und Despotie Nietzsche mit Dostojewski: »Wer gesehen hat, wie Dostojewski […] alle Phantasien ausströmen lässt in dem einen Begriff: Macht! … wer in der menschlichen Seele die Neigung zur Despotie so erkannt hat wie Dostojewski, der darf heute noch als unser Lehrer gelten, als den
Über den nervösen Charakter (1912/2008), a. a. O., 67, 125 u. 213. Vgl. A. Bruder-Bezzel u. K. J. Bruder, Auf einem Auge blind: Die Verleugnung der Macht in der Psychoanalyse, in: Zeitschrift für Individualpsychologie 26.(2001) 24–31, hier 30 f. 36 Persönlichkeit als geschlossene Einheit (1932), in: Psychotherapie und Erziehung, a. a. O., 236–247, hier 238. 37 Alfred Adler oder das Elend der Psychologie. Frankfurt/M. 1971, 78 f. 34 35
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ihn auch Nietzsche gefeiert hat.« 38 Diese Kritik an Macht, am Machtstreben wird bei Adler ab der Einführung des Gemeinschaftsgefühls 1918/19 verschärft. Die Verurteilung des Machtstrebens steht nun unter der Wertung des Gemeinschaftsgefühls, das zum Gegengewicht gegen das Machstreben wird. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft wird zu einem Grundbedürfnis und einer Grundfähigkeit, zum Wesen des Menschen gehörig.
3.
Streben nach Vollkommenheit – Kritik am Übermenschen
Mit Adlers Blickverlagerung in seinen späteren Jahren vom Neurotischen zum Gesunden, vom Bösen zum Guten im Menschen, führte er das »Streben nach Vollkommenheit« gegenüber dem Streben nach Macht und Geltung ein. Dieses »Streben nach Vollkommenheit« ist Kompensation (oder besser: Überkompensation), die im Einklang mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft stehe. Insofern sei das Streben nach Vollkommenheit Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls, was Adler beides als ein wesenhaftes, natürliches Bedürfnis sieht. Er betont, »dass jedes Individuum von diesem Streben nach Vollkommenheit erfasst ist […], dass es gar nicht notwendig ist, wie der kühne Versuch Nietzsches gezeigt hat, es erst den Menschen einzuimpfen, dass sie sich zum Übermenschen entwickeln sollen.«. 39 Adler setzt das Streben nach Vollkommenheit also in Gegensatz zum Streben nach dem Übermenschen, gegen den Adler in den 30er Jahren als negative Überkompensation polemisiert und den er mit Nietzsches Krankheit verbindet. Adler hat den Nietzschesen Übermenschen vor Augen, der das Überspannte, Despotische, Elitäre, Aristokratische impliziert und dem der Untermensch gegenüber steht. Das steht Adlers Verständnis ganz entgegen. Streben nach dem Übermenschentum ist für Adler das gesteigerte, ja krankhaft egoistische Machtstreben, Streben nach persönlicher Überlegenheit. Entscheidend für Adlers Verurteilung ist, dass der Übermensch im Widerstreit zu Bedürfnissen der Gesellschaft, der gesellschaftlichen Zusammenarbeit stehe, für den es keine Rücksicht Dostojewski (1918), in: A. Adler, Gesellschaft und Kultur, Studienausgabe, Band 7 (Hg. A. Bruder-Bezzel). Göttingen 2010, 101–110, hier 110. 39 Über den Ursprung des Strebens nach Überlegenheit und des Gemeinschaftsgefühls (1933), in: Psychotherapie und Erziehung, a. a. O., 21–32, hier 22. 38
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auf und kein Bedürfnis nach Gemeinschaft gibt: Das Ziel der »persönlichen Überlegenheit« ist das »Streben zum ›Übermenschentum‹«, als »Gegensatz zur Mitarbeit«. 40 Im Übermenschen stecke das Ziel der Gottähnlichkeit: »In bescheidenerer Form erscheint das Ziel der Gottähnlichkeit in dem Gedanken vom ›Übermenschen‹«. 41 Auch im Freudschen Überich sei »das fiktive Ziel der Überlegenheit«. Das Wort Überich sei dem Wort ›Übermensch‹ »nachgebildet«, darin stecke Gottähnlichkeitsstreben. 42
4.
Schöpferische Kraft 43
In den späten Jahren führte Adler, gleichzeitig mit dem Streben nach Vollkommenheit und sicher auch in Abgrenzung vom Übermenschen, das Schöpferische, die »schöpferische Kraft« im Menschen ein, die er früher nur sehr gelegentlich ins Spiel gebracht hatte. Er hat diesen Begriff in seiner Frühzeit nicht mit Kompensation zusammen genannt und ihn auch nie mit den Namen Nietzsche verbunden, obgleich gerade dieser Begriff und Gedanke »schöpferisch« in seinem Umfeld verbreitet und auch mit Nietzsche verbunden wurde. 44 Und auch als 1916 der Expressionist Ludwig Rubiner 45 Adler zu seiner »neuen Welt des Geistigen« hinzurechnet, in der – nietzscheanisch – der Mensch sich in einem »ungestümen Befreiungsakt« der »deterministischen Abhängigkeit« entledigt hat, »der Mensch erkennt sich heute als Schöpfer«, hat Adler dies nicht aufgegriffen. Adler bringt das Schöpferische in einer Zeit, in der er sich schon längst von Nietzsche abgewandt und Nietzsches Übermensch kritisiert hatte, so dass er auch das Schöpferische sicher nicht mit Nietzsche verbinden wollte. 40 Der Sinn des Lebens (1933), in: A. Adler, Studienausgabe, Band 6 (Hg. R. Brunner). Göttingen 2008, 11–176, hier 79 f. 41 Wozu leben wir? (1931). Frankfurt/M. 1979, 56. 42 Individualpsychologie und Psychoanalyse (1931), in: Psychotherapie und Erziehung, a. a. O., 192–209, hier 200. Auch Jones hatte Überich und Übermensch in Analogie gesetzt; vgl. auch G. Gödde, Traditionslinien des »Unbewussten« – Schopenhauer, Nietzsche, Freud. Tübingen 1999, 535. 43 Vgl. A. Bruder-Bezzel, Das schöpferische Unbewusste, in: dies. u. K. J. Bruder, Kreativität und Determination, a. a. O., 53–77. 44 Vgl. S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart 2000. 45 Zur Krise des geistigen Lebens, in: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie 1916, 231–240, hier 235 ff.
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Sein Zugang zum Schöpferischen in dieser Zeit – er lebte in Amerika – könnten nicht zuletzt Konzepte wie Selbstfindung, Selbstproduktion sein, die eher amerikanische Konzepte von schöpferischer Kraft waren. Gegenüber der aggressiven Komponente der Kompensation wird im Schöpferischen viel mehr das sich Entwickeln, das Gestalten gesehen, gegen (Freuds) Triebdetermination. Der Ausdruck »schöpferisch« oder »schöpferische Kraft« bezieht sich bei Adler auf die Fähigkeit jedes Menschen, unbewusst aktiv, gestaltend zu sein. Darin ist sein Menschenbild enthalten, seine Haltung zu Finalität/Kausalität, seine Auffassung von der Dynamik der Persönlichkeit. Direkt verknüpft sind mit ihm einzelne Begriffe wie Lebensstil, Lebenskraft Finalität, Einzigartigkeit, Einheit. Schöpferische Kraft ist auch »Lebenskraft« »die identisch ist mit dem Ich«. 46 Er sieht das »Ich als eine Gebundenheit […], die sich selbstschöpferisch bildet, unter Gebrauch aller Möglichkeiten.« 47 Schöpferisch zu sein ist für Adler eine basale Fähigkeit: »Schon die einfache Wahrnehmung ist nicht objektiver Eindruck oder nur Erlebnis, sondern eine schöpferische Leistung von Vor- und Hintergedanken, bei der die ganze Persönlichkeit in Schwingung ist.« 48 So gehört das Schöpferische für ihn zur Grundausstattung des Menschen, darin steckt wieder das egalitäre, demokratische Menschenbild – im Gegensatz zu Nietzsches. Mit diesem Schöpferischen kommt etwas ins Spiel, was Züge von Freiheit, Unbestimmtheit, nicht Vorhersagbarem hat. Es bleibt ein Rest in der Erklärbarkeit und Ableitbarkeit, der sich nicht deduzieren lässt. Damit wendet sich Adler gegen Freuds Triebtheorie und gegen den »psychischen Determinismus«, er lässt Wahrscheinlichkeiten zu, einen spielerischen Umgang auch im Unbewussten: »Hier arbeitet das Kind im Reiche der Freiheit mit eigener schöpferischer Kraft. Man findet Wahrscheinlichkeiten […]. Hier gibt es tausend Möglichkeiten im Reiche der Freiheit und des Irrtums«. 49 Verhalten ist durch mehrere mögliche unbewusste Motive bedingt, das Individuum wählt eines davon
Persönlichkeit als geschlossene Einheit (1932), in: Psychotherapie und Erziehung, Band 2, a. a. O., 236–247, hier 237. 47 Die Systematik der Individualpsychologie (1932), in: Ebd. 248–252, hier 249. 48 Zur Theorie der Halluzination (1912), in: A. Adler, Persönlichkeit und neurotische Entwicklung, a. a. O., 260–266, hier 262. 49 Der Sinn des Lebens (1933/2008), a. a. O., 116. 46
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Alfred Adlers Nietzsche-Bezug und die schöpferische Kraft
aus – damit ist eine strikte Kausalkette nicht möglich, für umfassende Prozesse schon gar nicht. Für Adler ist der Mensch somit einzigartig und steht in relativer Freiheit, und das drückt er nun so aus: »Das Individuum ist sowohl das Bild als auch der Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit«. 50 Die Persönlichkeit ist also »Bild«, d. h. Kunstwerk. Sie ist »gemacht«, kunstvoll aufgebaut und als solches ein Unikat, einzigartig. Und die Persönlichkeit ist zugleich selbst der Künstler oder Handwerker dieses Produkts. Die Person schafft sich selbst, erfindet seine Person, erzählt sich seine Geschichte, ist Subjekt seiner Geschichte. Trotzdem ist das Subjekt kein Übermensch, keineswegs fehlerlos oder gottgleich: »als Künstler ist er weder in der Ausführung unfehlbar noch besitzt er ein umfassendes Verständnis von Seele und Körper«. 51 Das »Schöpferische« manifestiert sich in der »subjektiven Einschätzung«, »Meinung«, »persönlichen Auffassung«. »Jeder gestaltet sich in Übereinstimmung mit seiner persönlichen Sicht der Dinge«. 52 Aus den immer wieder wiederholten Erfahrungen und den daraus geformten Meinungen bildet sich das, was Adler den »Lebensstil« nennt aus. »Lebensstil« ist für Adler ein »Schema«, ein »Bewegungsgesetz« des Lebens. Er setzt »Lebensstil« sowohl mit dem »Ich« als auch mit dem »Unbewussten« gleich. 53 Aus verschiedenen Adler-Zitaten kommt Witte dann zu »Gleichsetzungen«, die »eine Sprengkraft enthalten«: »Das Ich = das Unbewusste = der Lebensstil = die schöpferische Kraft«. 54 Lebensstil ist Produkt der schöpferischen Kraft, ist das Werk des »Künstlers«. Der Lebensstil hat die Einflüsse und Erfahrungen in schöpferischer Weise verarbeitet, er ist die Antwort, die Stellungnahme auf die – physische oder psychologische – Realität. Damit aber ist der schöpferischen Kraft eine Grenze gesetzt, nun durch den Lebensstil. 50 Kindererziehung (1930), in: A. Adler, Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung, Studienausgabe, Band 4 (Hg. W. Datler, J. Gstach u. M. Wininger). Göttingen 2009, 203–273, hier 206. 51 Ebd. 52 Ebd. 207. 53 Nochmals – die Einheit der Neurose (1930), in: A. Adler, Psychotherapie und Erziehung, Band II, a. a. O., 51. 54 Vgl. K. H. Witte, Wie wurde ich, der ich bin? Alfred Adlers Lehre von der Ichbildung, in: Beiträge zur Individualpsychologie 14 (1991) 73
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Almuth Bruder-Bezzel
Der »schöpferische Geist« wird »in die Bahn des kindlichen Lebensstils gezwängt«. 55 Das geschieht im Laufe der Entwicklung, – Adlers Meinung nach bereits im Alter von etwa drei bis fünf Jahren – was Freuds Vorstellung vom Entwicklungsabschluss etwa entspricht. Die »freie« schöpferische Kraft »in der ersten Kindheit« wird zur »gebundenen Kraft«, »sobald das Kind sich ein festes Bewegungsgesetz für sein Leben gegeben hat.« 56 Adler war sicher von Nietzsche fasziniert und er war von seiner Zeit, die von Nietzsche durchdrungen war, beeinflusst. Er verband Nietzsche zunächst mit den triebpsychologischen Grundlagen der Psychoanalyse und dem Unbewussten, und wurde darüber hinaus für seine eigenen Ideen angeregt. So ist sein Grundgedanke der Kompensation und der schöpferischen Kraft als treibender Kraft sicher nicht ohne Nietzsche, ohne den antipositivistischen, neoromantischen Geist in dieser Zeit denkbar. Der Einfluss Nietzsches auf Adler selbst darf aber auch nicht überschätzt werden. Nicht nur, dass Adler dies selbst zurückweist, sondern weil die Differenzen zwischen beiden beträchtlich sind bis zur Gegensätzlichkeit – so vor allem in ihrem sozialen und politisch geprägten Menschenbild. Zusätzlich gab es natürlich noch ganz andere gesellschaftliche und kulturell-wissenschaftliche Strömungen, die Adlers Denken geprägt haben.
55 56
Der Sinn des Lebens (1933/2008), a. a. O., 26. Ebd. 25.
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»Ein tiefstes Erlebnis« 1 C. G. Jungs Lektüre von Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ anhand seiner Seminare von 1934–39
1.
Der Weg zu Nietzsche
Noch zu Lebzeiten Nietzsches hatte C. G. Jung bereits dessen Werke auf seinem Lektüreplan. Er schreibt in seinem Erinnerungsbuch: »Nietzsche hatte schon für einige Zeit auf dem Programm gestanden, aber ich zögerte mit der Lektüre, da ich mich ungenügend vorbereitet fühlte. Nietzsche wurde damals viel diskutiert, aber meistens abgelehnt, am heftigsten von den ›kompetenten‹ Philosophiestudenten, woraus ich meine Schlüsse auf die in höheren Sphären herrschenden Widerstände zog. Höchste Autorität war natürlich Jakob Burckhardt, von dem verschiedene kritische Äußerungen in Bezug auf Nietzsche kolportiert wurden. Zudem gab es einige Leute, die Nietzsche persönlich gekannt hatten und darum imstande waren, allerhand Curiosa nicht gerade sympathischer Art über ihn zu berichten. Meistens hatten sie auch nichts von ihm gelesen und hielten sich dementsprechend bei äußerlichen Missverständlichkeiten auf, z. B. bei seiner ›gentleman‹-Spielerei, seiner Manier, Klavier zu spielen, seinen stilistischen Übertriebenheiten, lauter Eigentümlichkeiten, die dem Basler von damals auf die Nerven gehen mussten. Diese Dinge dienten mir nun allerdings nicht zum Vorwand, die Nietzschelektüre hinauszuschieben – im Gegenteil, sie wären für mich der stärkste Anlass gewesen- sondern es war eine geheime Angst, ich könnte ihm vielleicht ähnlich sein, wenigstens in dem Punkte des ›Geheimnisses‹. das ihn in seiner Umwelt isolierte. Vielleicht, wer weiß, hatte er innere Erlebnisse gehabt, Einsichten, worüber er unglücklicherweise reden wollte und von niemandem verstanden wurde? Offenbar war er eine Ausgefallenheit, oder galt wenigstens als eine solche, als ein lusus naturae, was ich unter keinen Umständen sein wollte … Trotz meiner Befürchtungen war ich 1
Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung (Hg. A. Jaffe). Olten 1971, 109.
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neugierig und entschloss mich, ihn zu lesen. Es waren die ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹, die mir zunächst in die Hände fielen. Ich war restlos begeistert, und bald las ich auch ›Also sprach Zarathustra‹. Das war, wie Goethes ›Faust‹, ein stärkstes Erlebnis. Zarathustra war der Faust Nietzsches, und Nr. 2 (so nannte Jung seinen ›inneren Menschen‹) war mein Zarathustra, allerdings mit der angemessenen Distanz des Maulwurfshügels vom Montblanc; und Zarathustra war – das stand mir fest – morbid. War Nr. 2 auch krankhaft? Diese Möglichkeit versetzte mich in einen Schrecken, den ich lange Zeit nicht wahrhaben wollte, der mich aber trotzdem in Atem hielt und sich immer wieder zu ungelegener Zeit meldete und mich zum Nachdenken über mich selbst zwang. Nietzsche hatte sein Nr. 2 erst später in seinem Leben entdeckt, nach der Lebensmitte, während ich Nr. 2 schon seit früher Jugend kannte. Nietzsche hat naiv und unvorsichtigerweise von diesem Arrheton, dem nicht zu Nennenden, gesprochen, wie wenn alles in Ordnung wäre.« 1 Man kann sagen, Jung mied Nietzsche lange aus einer »Doppelgängerscheu« 2 , wie sie Freud Arthur Schnitzler gegenüber empfand. Allerdings betonte Jung 1921 in seinem Buch »Psychologische Typen« die Bedeutung von Nietzsches ›Zarathustra‹ : »Sein Zarathustra vor allen hebt die Inhalte des kollektiven Unbewussten unserer Zeit überhaupt ans Licht.« 3 In seinen Seminaren über ›Also sprach Zarathustra‹, die Jung vor etwa 50 Teilnehmern von 1934–39 im Psychologischen Club Zürich abhielt, liest er dieses Buch als Ausdruck von Nietzsches psychischen Projektionen, was natürlich erst durch die Etablierung der psychoanalytischen Wissenschaft und deren spezifischer Metaphorik möglich wurde. Eine leitende Frage für Jung ist: Was findet auf Nietzsches innerer Bühne statt?
2.
Was interessiert Jung am »Zarathustra«-Text?
Sein 1. ›Zarathustra‹-Seminar 1934 beginnt Jung mit der Feststellung, dass der »Zarathustra« »ein höllisch verwirrendes und außerordentlich 1 2 3
Ebd. 108 f. S. Freud, Briefe 1873–1939. Frankfurt/M. 1980, 357. C. G. Jung, GW 6. Olten 1971, § 318.
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schwieriges« 4 Buch sei. Es sei sehr schwer, den Text aus einem psychologischen Blickwinkel heraus zu erhellen. Die einzelnen Kapitel des ›Zarathustra‹ seien Predigten in Versform, es handle sich bei dem Buch um Manifestationen des Unbewussten von visionärem Charakter. Aus den von James L. Jarrett edierten Mitschriften der englischsprachigen Seminare geht hervor, dass Jung Nietzsches ›Zarathustra‹ zur Veranschaulichung und Bestätigung seines eigenen psychologischen Systems benutzte. Zutiefst ist Jung davon überzeugt, dass Nietzsches Unbewusstes hellsichtig die politischen Ereignisse, die das Europa des 20. Jahrhunderts erschütterten, antizipiert hat. »Ich dachte, es müsste außerordentlich interessant sein, Einblick zu nehmen in die Arbeitsweise eines Unbewußten, das alle großen politischen und historischen Ereignisse unserer Tage vorwegggenommen hat.« 5 Gegen Ende des Seminars – also 1939 – wird Jung noch deutlicher: »Es ist, als hätte alle Welt von Nietzsche gehört oder seine Bücher gelesen und sie bewusst verwirklicht. Selbstverständlich war dies nicht der Fall. Er lauschte einfach dem untergründigen Prozeß des kollektiven Unbewußten und war in der Lage, es wahrzunehmen. … Niemand macht sich in der Tat klar, in welchem Ausmaß Nietzsche in Verbindung stand mit dem Unbewußten und daher mit dem Schicksal Europas im allgemeinen.« 6
3.
»Zarathustra« und »die geistige Epidemie« der NS-Zeit
Ich stimme mit Steven Aschheim überein, der Jung eine ambivalente Einstellung zum Nationalsozialismus bescheinigt, indem er ihn mit den Worten zitiert: »Gut, wir sind keine Richter, wir treffen lediglich Feststellungen. Sie wissen, dass nichts so böse ist, dass sich aus ihm nicht doch etwas Gutes entwickeln könnte.« 7 Aschheim fährt fort: »Nietzsches Konzeption des Lebens als amor fati, als Selbstopfer, hielt Jung für die mittlerweile in Deutschland vorherrschende Einstellung; sie ist der innere Sinn des Nationalsozialismus. Die Deutschen leben, um weiterzuleben – oder, um zu sterben. Wenn man die wirklich ernstJung’s Seminar on Nietzsches Zarathustra (edited and abridged by J. L. Jarrett). Princeton 1998, 3 (dt. Übers. M: Lindner) (abgk. JSNZ im Folgenden). 5 S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Stuttgart 1996, 279. 6 Ebd. 279 7 Ebd. 280. 4
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zunehmenden Leute reden hört, dann wird einem klar, dass Nietzsche diesen Stil einfach vorweg genommen hat. Sie rühmen sich, bereit zu sein […]. Darum ist Nietzsche in bestimmter Hinsicht der große Prophet dessen, was gegenwärtig in Deutschland geschieht.« 8 In den ›Zarathustra‹-Seminaren meint Jung, es sei ein Fehler gewesen, dass Nietzsche seinen ›Zarathustra‹ veröffentlichte. »Dieses Buch hätte nicht veröffentlicht werden, sondern denen vorbehalten bleiben sollen, die sich einer sorgfältigen Ausbildung in der Psychologie des Unbewußten unterzogen haben. […] Liest jemand den ›Zarathustra‹ unvorbereitet und mit all den naiven Unterstellungen unserer heutigen Zivilisation, dann muß er notwendig falsche Schlüsse ziehen hinsichtlich der Bedeutung des ›Übermenschen‹, ›der blonden Bestie‹ oder des ›bleichen Verbrechers‹.«9 Jung zitiert eine Weissagung aus dem ›Zarathustra‹ : »Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: – und aus ihm der Übermensch.« 10 Jung kommentiert wie folgt: »Wenn man sein Bewusstsein so erweitert, dass man sich neben dem eigenen Ich als vielerlei erfährt, dann nähert man sich einer gewissen Selbstverwirklichung. Doch gilt dies auch in anderer Hinsicht: Wenn nämlich ein Versuch zur Bewusstseinserweiterung irgendwo eintritt und nicht bemerkt wird, dann verursacht dies eine Art seelischer Ansteckung […] oder eine geistige Epidemie, wie sie gegenwärtig in Deutschland zu beobachten ist. Das ist dann der Übermensch, der nicht bemerkt wird. Das ganze Volk ist gleichsam ein Mensch, und ein Mensch erweist sich als Zeichen oder Symbol einer gesamten Nation. Dies ist ein Ersatz für die Integration des Bewusstseins eines Individuums. Wie Sie sehen, sollte Deutschland ein Individuum sein, aber mit einem integrierten Bewusstsein. Stattdessen gibt es keine Integration des Unbewußten, sondern das ganze Volk ist in eine sakralisierte Gestalt integriert – von der niemand voll und ganz glaubt, dass sie heilig sein könnte. Und das ist ein Unglück.« 11
Ebd. 280 f. Ebd. 281 f. 10 Ebd. 282. 11 Ebd. 8 9
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4.
Zarathustra- historische Gestalt oder archetypische Figur?
Jung meint, Nietzsche habe die Figur des Zarathustra gewählt, weil dieser den Gegensatz zwischen Gut und Böse erfunden habe und den kosmischen Kampf zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis gelehrt habe. In Nietzsches Interpretation habe Zarathustra seine Wiederkunft angekündigt, um den Gegensatz von Gut und Böse zu versöhnen. Nietzsche siedelt sich bekanntlich jenseits dieses Gegensatzes an. Nach Jungs Einschätzung war der Nietzsche der Vor-Zarathustra-Zeit – also vor 1883 – unfähig, Werte zu schaffen, er konnte lediglich destruktiv kritisieren. Dann hatte Nietzsche sein ZarathustraErlebnis, von dem er in seinem ›Sils Maria‹-Gedicht schreibt: »Da wurde eins zu zwei und Zarathustra ging an mir vorbei.« 12 Dieses Diktum stieß auf Jungs lebhaftes Interesse, sieht er doch in Nietzsches Äußerung einen Beleg dafür, dass dessen Bewusstsein in Kontakt kam mit seinem Unbewußten; dadurch trat in Nietzsche eine 2. Persönlichkeit in Erscheinung, so wie Jung es in eigener Sache in seinem Erinnerungsbuch beschrieben hatte. Nietzsche machte Jung zufolge eine archetypische Erfahrung in Form der Begegnung mit dem alten Weisen Zarathustra, die im Zeitalter des vorherrschenden Materialismus und Rationalismus um 1880 ein Sinndefizit zu füllen versuchte. Jedenfalls schrieb Nietzsche den »Zarathustra« aus einer ekstatischen Haltung heraus in unglaublich kurzer Zeit – die ersten drei Teile in jeweils zehn Tagen – und Jung betont, den ›Zarathustra‹ zu schreiben, sei für Nietzsche die dionysische Erfahrung par excellence gewesen. Die Worte seien aus ihm herausgeströmt, es sei nahezu eine autonome Produktion gewesen im Sinne von Jungs Autonomiebegriff des Unbewussten. Nietzsche selbst legt eine Analogie zu biblischen Inspirationsweisen nahe. Er bedient sich eines ästhetischen Kunstmittels, um die Zweifellosigkeit seiner Produktion zu untermauern. Freilich bleibt die Frage offen, ob hier ein souveräner künstlerischer Gestaltungsprozess vorliegt, oder ob – wie Jung meint – Nietzsche von einem kreativen Genius besessen war, wodurch er zum Sprachrohr des kollektiven Unbewussten wurde. Während die Philosophen sagen, dass in Nietzsches ›Zarathustra‹ das Ergebnis eines souveränen Denkakts vorliegt, vertreten wir mit Jung die These, dass Nietzsche einem arche-
12
F. Nietzsche, Gedichte. Stuttgart 1969, 76.
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typischen Geschehen erlag, welches er nicht durchschaute. Ja, man kann sagen, Jung wurde im Gegensatz zu Nietzsche nicht wahnsinnig, weil er zwar psychisch hochgefährdet war nach der Trennung von Freud 1913, aber um die überflutende Macht der inneren Bilder und archetypischen Visionen wusste. Es gelang ihm – im Gegensatz zu Nietzsche, den Archetyp vom Selbst zu unterscheiden und somit einen Inhalt des kollektiven Unbewussten ins persönliche Selbst zu integrieren. Folgerichtig sieht Jung Nietzsches geistige Erkrankung nicht als Resultat einer organischen Gehirnveränderung, sondern als Ergebnis einer Inflationierung seines Bewusstseins durch ein archetypisches Geschehen. In der Figur des Zarathustra spricht der Archetyp des Alten Weisen zu Nietzsche – oder anders gesagt, sein höheres Selbst spricht zu seinem Ich-Bewusstsein. Die Zarathustra-Gestalt ist mehrfach determiniert, so verkörpert sie für Nietzsche gleichsam als Schatten des Selbst den ›Antichrist‹, so wie er in einem Brief an Malwida von Meysenbug Ende März 1883 geschrieben hatte: »Wollen Sie einen neuen Namen für mich? Die Kirchensprache hat einen: ich bin – der Antichrist. Verlernen wir doch ja das Lachen nicht!« 13 Anfang April 1883 schreibt er ihr: »Es ist eine wunderschöne Geschichte: ich habe alle Religionen herausgefordert und ein neues ›heiliges Buch‹ gemacht! Und, in allem Ernste gesagt, es ist so ernst als irgendeines, ob es gleich das Lachen mit in die Religion aufnimmt.« 14 Am 28. 6. 83 heißt es dann in einem Brief an Carl von Gersdorff: »Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein tiefster Ernst und meine ganze Philosophie. Es ist ein Anfang, mich zu erkennen zu geben – nicht mehr! – Ich weiß ganz gut, dass niemand lebt, der so etwas machen könnte, wie dieser Zarathustra ist.« 15 Mit der historischen Figur Zarathustra – aber auch mit seinem Buch – war Nietzsche der Überzeugung, an einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte zu stehen; er war in Erwartung des »tausendjährigen Reiches«, in einer Endzeiterwartung wie Paulus, der den alten Adam ablegen wollte, um als neuer Mensch Christus anzuziehen.
13 14 15
Werke in drei Bänden, Band 3 (Hg. K. Schlechta). München 1966, 1205. Ebd. 1206. Ebd. 1207.
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Es geht hierbei um ein klassisches archetypisches Wandlungsmotiv. Jung greift den Gedanken der Wendezeit auf, wenn er 1935 im Seminar davon spricht, das vernunftgeprägte Zeitalter der Fische sei nun vorbei, nun folge das Zeitalter des Wassermanns, in welchem die Kräfte des Blutes herrschen. Jung übernimmt den »Nietzsche-Sound«, also Nietzsches hohen Ton, wenn er von dem »neuen tiefen Rauschen« spricht, das durch Deutschland hindurch gehe und einer »Wotanerfahrung« entspreche, Wotan verstanden als germanische Entsprechung des Dionysos. Natürlich bleibt es hochproblematisch – um das mindeste zu sagen –, geschichtliche Abläufe derart auf archetypische Vorgänge zu reduzieren.
5.
Nietzsche – für Jung ein Sprachrohr des kollektiven Unbewußten
An dieser Stelle seien einige charakteristische Jung-Zitate wiedergegeben, damit wir verstehen, warum Nietzsche für Jung im Kontext seiner Theorie des kollektiven Unbewußten so eminent wichtig war. 1918 schreibt Jung in seiner Schrift ›Über das Unbewußte‹ : »Ich begreife vollkommen, dass Freuds und Adlers Reduktionen auf primitive Sexualwünsche und auf primitive Machtabsichten für den Juden etwas Wohltätiges und Befriedigendes, weil Vereinfachendes an sich haben, weshalb sich Freud mit einer gewissen Berechtigung meinen Einwänden gegenüber verschließt. Für die germanische Mentalität sind aber diese spezifisch jüdischen Doktrinen durchaus unbefriedigend, denn wir Germanen haben noch einen echten Barbaren in uns, der nicht mit sich spassen lässt und dessen Erscheinen für uns keine Erleichterung und keinen angenehmen Zeitvertreib bedeutet. Man möge aus diesem Krieg etwas lernen! Mit witzigen und grotesken Deutungen kommen wir unserem Unbewußten nicht bei. Der jüdisch orientierte Psychotherapeut berührt beim Germanen nicht jene wehmütigen und humorvollen Überreste aus den Zeiten Davids, sondern den Barbaren von vorgestern, nämlich ein Wesen, dem die Sache in unangenehmster Weise plötzlich ernst wird. Diese ärgerliche Eigentümlichkeit des Barbaren ist auch Nietzsche aufgefallen, wohl aus eigenster Erfahrungdarum schätzte er die jüdische Mentalität, und darum predigte er das Tanzen und Fliegen und Nichternstnehmen. Er übersah dabei, dass es nicht der Barbar ist, der ernst nimmt, sondern es nimmt ihn ernst. Das 113 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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böse Wesen fasst ihn. Und wen hat es ernster genommen als eben gerade Nietzsche selbst.?« 16 Soweit Jung 1918. Er meint also, Nietzsche habe etwas von dem »germanischen Barbaren« gespürt, aber ihn letztlich nicht ernst genommen. 1936 schreibt Jung dann in seinem ›Wotan‹ : »Dass aber in einem eigentlichen Kulturlande, das schon geraume Zeit jenseits des Mittelalters gewähnt wurde, ein alter Sturm- und Rauschgott, nämlich der längst im historischen Ruhezustand befindliche Wotan wieder, wie ein erstorbener Vulkan, zu neuer Tätigkeit erwachen könnte, das ist mehr als kurios; es ist geradezu pikant. 17 Jung fährt fort: »Jenes Rauschen im Urwald des Unbewußten haben nicht nur die deutschen sonnwendfeiernden Jünglinge vernommen, sondern vorausahnend haben es auch Nietzsche, Schuler, Stefan George und Klages aufgefangen.« 18 1945 dann stellt Jung in seiner Schrift ›Nach der Katastrophe‹ folgende Beziehung zu Nietzsches ›Zarathustra‹ her: »Nietzsche hat es ja vorausgesagt, dass Gott tot sei und dass sein Erbe der Übermensch antrete, jener fatale Seiltänzer und Narr. Es ist ein unabänderliches psychologisches Gesetz, dass eine hinfällig gewordene Projektion wieder zu ihrem Ursprung zurückkehrt. Wenn also jemand auf die seltsame Idee kommt, Gott sei tot, oder sei überhaupt nicht, so kehrt das psychische Gottesbild, welches eine bestimmte dynamische und psychische Struktur darstellt, ins Subjekt zurück und erzeugt »Gottähnlichkeit«, nämlich alle jene Eigenschaften, die nur närrischen Menschen zukommen und darum zur Katastrophe führen.« 19 Zur Katastrophe führt also in Jungs Sicht der Überheblichkeitskomplex Nietzsches und seiner deutschen Nachbeter.
6.
Gegenentwurf zum Christentum
Indem Nietzsches Zarathustra sagt, es gibt keinen Teufel und keine Hölle, bildet er einen Gegenentwurf zum Christentum, dem er gleichwohl antithetisch verhaftet bleibt. Für Jung ist Zarathustra Nietzsches Seelenführer, der einen Wandlungsprozess einleiten und so die Indivi16 17 18 19
C. G. Jung, GW 10. Olten 1974, § 19. Ebd. § 373. Ebd. § 375. Ebd. § 437.
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duation ermöglichen soll. Zarathustra –ursprünglich ein Geistmensch wie Nietzsche – will Mensch werden durch Liebe zum Menschen, er will »einen tanzenden Stern gebären«, worin Jung ein Individuationssymbol erkennt. Wie Jesus, der sein öffentliches Wirken mit 30 Jahren beginnt, ist Zarathustra zu Beginn des Buches 30 Jahre alt, als er seine Heimat und den See seiner Heimat verlässt und ins Gebirge geht. In Jungs Lesart verlässt Nietzsche damit den Bereich seines persönlichen Unbewussten, um ins Gebirge zu steigen, was ihm eine Horizonterweiterung ermöglicht. Zarathustra, mit dem Nietzsche auf vielschichtige Weise identifiziert ist, ruft nun die Sonne an, was entfernt an den Sonnengesang des Franz von Assisi erinnern mag. Während dieser aber einen Lobgesang auf die von Gott geschaffene Kreatur anstimmt, feiert Nietzsche sich selbst, indem er zur Sonne als Symbol seines Bewusstseinszentrums spricht. Der einsame Nietzsche – Jung schildert in einem kleinen Exkurs, wie sehr Nietzsche mit seiner Ungeduld und seinem ungestümen und unbezogenen Enthusiasmus die Menschen seiner Umgebung vor den Kopf gestoßen habe (Parallelen zu Jung, der in seiner Studentenverbindung »die Walze« hieß, ließen sich hier aufzeigen) – der einsame Nietzsche jedenfalls sucht im ›Zarathustra‹-Buch die Begleitung des Adlers und der Schlange. Jung erkennt im Adler ein Symbol des hohen Gedankenflugs, der geistigen Beflügelung und Intuition, während die Schlange die erdhaften Naturkräfte und peristaltischen Empfindungen des Körpers repräsentiere, aber auch ein numinoses Symbol sei. Der vollständig mit seinem Bewusstsein identifizierte Zarathustra-Nietzsche muss nun in die Tiefe steigen, die »Nachtmeerfahrt« in Jungscher Terminologie steht an, um durch den Abstieg ins Unbewußte, den »descensus ad inferos«, Heilung von der Krankheit des Bewusstseins zu erfahren. In der krisenhaften Situation seines hypertrophierten Bewusstseins wird Nietzsche vom Archetyp des Alten Weisen in Gestalt des Zarathustra überwältigt, um eine psychische Wandlung einzuleiten. Während für Schopenhauer in Jungs Worten Philosophie lediglich »a mental affair« gewesen sei, eine Hirnangelegenheit also, seien bei Nietzsche auf tragische Weise Philosophie und menschliche Existenz in Verbindung getreten.
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7.
Nach dem Tode Gottes
Ausgangspunkt der Bewusstseinskrise Nietzsches ist bekanntlich seine Feststellung vom Tode Gottes. In Jungs Verständnis ist der Tod Gottes Vorbedingung für die psychische Wiedergeburt des Menschen. Die Zeiten, in denen man Gott in die Außenwelt projizieren konnte, sind vorbei, nun müssen wir ihn in uns selber finden, was zum einen eine Inflationierung des Menschen beinhaltet, zum anderen eine mächtige Erweiterung des Selbstbegriffs bedeutet. Nietzsche versteht das Selbst als »mächtigen Gebieter«, der über das empirische Ich verfügt. Unsere Seele drückt das Selbst aus, könnte man mit Nietzsche sagen. Jung ist in seiner prospektiv-finalen Fragestellung nach der Absicht des Selbst bzw. in seinem symbolischen Selbstbegriff fraglos von Nietzsche beeinflusst. In Jungs Verständnis ist es das höhere Selbst, das aus Nietzsche spricht und den Individuationsprozess, um den es im ›Zarathustra‹ letztlich geht, anstößt. In Jungs Modellvorstellung wird der kleine Kreis des Bewusstseins umschlossen vom großen Kreis des Selbst. Das Selbst drängt darauf hin, die Vereinseitigung des Bewusstseins aufzuheben, somit eine Coniunctio von Adler und Schlange zu ermöglichen, hochfliegender Geist und Instinktwelt sollen verknüpft werden. Der Geistmensch Zarathustra alias Nietzsche will Mensch werden, der Greis Zarathustra hat sich verwandelt, geht er nicht daher wie ein Tänzer? Aber »Liebe zum Menschen würde mich umbringen«, sagt er. Die große Angst des von seiner Denkfunktion beherrschten Nietzsche davor, sich emotional affizieren zu lassen, bleibt ihm unzugänglich. Hier setzt Jung an mit seinem Verständnis Nietzsches als pathologischer Persönlichkeit. Er nennt ihn »eine kranke, neurotische Existenz, die in Turin der Teufel holte«. 20 Entsprechend seiner Typologielehre sieht er in Nietzsche einen introvertierten intuitiven Typus mit inferiorer Fühl- und Empfindungsfunktion. Ist das Bewusstsein introvertiert, kommt es kompensatorisch zu einer Extraversion des Unbewussten, wovon das ›Zarathustra‹-Buch künde. Zum einen ist Nietzsche in seinem megalomanen Denken mit dem prophetischen Gestus Zarathustras identifiziert, zum anderen taucht Zarathustra als rettende archetypische Gestalt aus dem kollektiven Unbewussten auf. Zarathustra verkörpert Nietzsches nicht realisiertes Selbst in archetypischer Form. Jung beschäftigt sich in den Seminaren intensiv mit Nietzsches 20
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Sprache im ›Zarathustra‹, die er forciert und inflationiert nennt. Er meint, diese geschwollene Sprache sei vom Archetyp geschwängert worden. Nietzsche habe sich dieser Sprache wegen eines Inferioritätsgefühls bedient. Er habe »in der Welt kein fühlendes Herz angetroffen, deshalb schlug er mit dem Hammer gegen die Türen«, 21 meint Jung. Nietzsche habe die einfühlsame Animafunktion gefehlt. Der ›Zarathustra‹ sei mitunter ein lärmendes Buch, befindet Jung, obwohl es auch Passagen von großer Schönheit darin gebe. Jung bezeichnet das Buch als einen großen intuitiven Versuch einer Selbstanalyse, allerdings ohne Gewinn an hilfreichen bewussten Einsichten. Offenbar fehlte es dem vom Unbewussten inflationierten Nietzsche an einer reflektierenden Distanz zu seinen innerpsychischen Vorgängen. Thomas Mann meinte bekanntlich einmal, Nietzsche sei ein wunderbarer Psychologe gewesen, dem nur ein Gegenstand sich entzog – er selbst. Nietzsche wisse nicht, vermutet Jung, wer jeweils aus ihm spricht. Ist es der Künstler, der die Bibel parodiert, der Prophet, der bedürftige Mann Nietzsche? Ist es das höhere Selbst, eine Schattenfigur, die Anima, der alte Weise? Eine von Nietzsche undurchschaute Gemengelage bevölkert seine innere Bühne.
8.
Nietzsches Psychopathologie und Hellsichtigkeit
Die fortwährende Pathologisierung, die Jung an Nietzsche vornimmt, kann vielleicht als Abwehr der Tatsache gesehen werden, wie viel doch die Jungsche Psychologie ebenso wie die Freudsche Nietzsche verdankt. Nietzsche und Jung waren beide abtrünnige Pfarrersöhne, lebenslang von Gott verfolgt und dem christlichen Glauben im Hass verbunden. Wenn Gott tot ist, ist es an uns, die vitalen Kräfte der Selbsterneuerung aufzusuchen. Allerdings darf daraus Jung zufolge keine megalomane Selbstvergottung werden, wie sie Nietzsches Konzeption des Übermenschen beinhaltet. Das Reich Gottes bin ich selber, scheint Nietzsche sagen zu wollen. An eine Demut gegenüber dem Unbewussten, wie sie Jung postulierte, ist dabei nicht gedacht. Für ihn ist es das höhere Selbst, dem wir zu gehorchen haben. Nietzsche will immer über sich hinaus schaffen, eine Akzeptanz des eigenen Schattens gelingt ihm nicht. Immerhin, stellt Jung fest, 21
Ebd.
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Michael Lindner
habe Nietzsche eine Idee vom eigenen Schatten, denn er führt ja die Figuren des Seiltänzers und Possenreißers ein, aber er belächelt sie und weist sie vorschnell zurück. Es sind ihm zu geringe Gestalten. Nach Nietzsches guter Definition ist »der Mensch ein Seil über einem Abgrunde«. 22 Der Seiltänzer stürzt ab, »der Ekstatiker überspringt das Lebensgesetz« 23 , meint Jung. Das inflationiert hüpfende Bewusstsein stürzt ab, weil die »Ich-Selbst-Achse« (Erich Neumann) gebrochen ist. Mit seiner Ablehnung der christlichen Religion begibt sich Nietzsche für Jung in ein gefährliches Fahrwasser, denn die Halt gebende Funktion des Gottessymbols sei unverzichtbar. Für Jung ist Gott als Inhalt des kollektiven Unbewussten eine Naturtatsache. Hier begegnen wir einem Jungschen Naturalismus, der durchaus kritisch zu sehen ist. Nietzsches Konzept vom »Übermenschen« und seine »Idee der ewigen Wiederkehr« sind für Jung keine gültigen Symbole, sondern lediglich »Kopfgeburten«, defensive Strukturen gegen den Ansturm des Unbewussten. Echte Symbole haben ihre Wurzeln im kollektiven Unbewussten. Nietzsches Versuch, Gott abzuschaffen, um sich des christlichen Sündenbewusstseins zu entledigen, beraubt ihn der transformativen Kraft der Symbole. »Ich bin Dynamit«, 24 schreibt er in ›Ecce Homo‹, er will das Christentum in seiner gequälten Seele sprengen. Jung zufolge fürchtete Nietzsche seine Anima, sein Vertrauen in Bezogenheit und Gefühl, an die Stelle von Anima und Erosprinzip trat der »Wille zur Macht.« Wie erwähnt, ist es Jungs spezifischer Ansatz, den ›Zarathustra‹ auf seinen Subtext zu untersuchen. Er liest aus Nietzsches Buch einen innerpsychischen Dialog heraus, zentral den Dialog zwischen empirischem Ich und archetypischem Selbst. Jung sieht in Nietzsche quasi einen Schattenbruder, der zwar hellsichtig ist im Erspüren von Schätzen aus dem Bereich der unbewussten Psyche, diese Schätze aber nicht assimilieren und integrieren konnte. Dazu fehlte es Nietzsche an der notwendigen Distanzierungsmöglichkeit zum eigenen psychischen Geschehen.
22 23 24
F. Nietzsche, Kritische Studienausgabe (KSA), Band 4. München 1988. C. G. Jung, GW 7. Olten 1971, § 41. F. Nietzsche, KSA 6.
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»Ein tiefstes Erlebnis«
9.
Ein psychoanalytischer Blick auf »Zarathustra’s Vorrede«
Wenn wir zusammenfassend – nicht nur aus Jungs Perspektive – einen Blick auf ›Zarathustra’s Vorrede‹ 25 werfen, gewinnen wir folgendes Bild: Die Figur des alten Weisen Zarathustra besetzt mit ihrer energetischen Ladung Nietzsches Bewusstsein, mal ist er damit identifiziert, mal kann er sich distanzieren. Das Herz des alten Weisen verwandelt sich, und er spricht zur Sonne als Symbol seines Bewusstseins: »Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!« 26 Es geht um Bezogenheit, der einsame Nietzsche sucht die Nähe der Menschen. »Ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. Ich möchte verschenken und austheilen.« 27 »Dazu muss ich in die Tiefe steigen.« 28 Nietzsche hat intuitiv die wesentliche Einsicht, dass die Erhellung des eigenen Unbewussten Heilung bringen kann. Es geht darum, den inferioren Menschen in sich anzunehmen. Nietzsche muss ja nicht unbedingt Prophet sein, könnte man sagen, es reicht, wenn er mitfühlender Mensch ist. »Zarathustra will wieder Mensch 29 werden.« Hier wird offenkundig die Menschwerdung Christi paraphrasiert. Was aber heißt Menschwerdung? Selbstfindung, aber nicht Selbststeigerung, wie Nietzsche irrtümlich glaubt. »Was kündet euer Leib von eurer Seele?« 30 Ja, was kündet der Leib des psychosomatisch kranken Nietzsche von seiner Seele? Von der Kälte der mit gewaltigem Pathos aufgeladenen Gedanken und der verlockenden Wärme des Leibes hätte Nietzsches Anima zu ihm sprechen können, wenn er sie denn hätte hören können. Nietzsche lehnt hartnäckig seinen Schatten, also den Menschen des beschwerten Leibes und der einsamen Schritte, ab und lehrt den Übermenschen. Der Mensch soll zum Schöpfer seiner selbst werden, ein für Jung ganz inakzeptables Konzept. Wir sind nämlich nie bewusst Schöpfer unserer selbst, sondern entstehen aus einem rational unhintergehbaren beständigen Wandlungsprozess, in welchem wir uns unser Unbewusstes anverwandeln. Nietzsche gewinnt Einsicht in die Conditio humana: »Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der 25 26 27 28 29 30
KSA 4, 11. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 12. Ebd. 15.
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Michael Lindner
Mensch.« 31 Er wendet sich gegen »erbärmliches Behagen […]. Mein Glück sollte das Dasein selber rechtfertigen!« 32 Eine narzisstische Größenidee dient der Immunisierung gegen Verzweiflung. Dann wiederum heißt es: »Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung.« 33 Nietzsche möchte offenbar von seiner Verwundung sprechen, er möchte ins Fühlen kommen. »Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen sind.« 34 Er wendet sich gegen das Volatile, allzu Flüchtige in ihm. Er möchte sich erden. Er schreibt: »Eine Mitte bin ich noch den Menschen zwischen einem Narren und einem Leichnam.« 35 Eine habituelle Ironie dient der Abwehr der Depression, zu der er gleichwohl Zugang sucht. »Kein Weg zeigte sich ihm mehr […]. Verwundert sah er in sich hinein.« 36 So können wir Nietzsches ›Zarathustra‹ als psychoanalytischen Dialog lesen, bei dem uns die Stimme des Anderen fehlt.
31 32 33 34 35 36
Ebd. Ebd. Ebd. 18. Ebd. Ebd. 23. Ebd. 25.
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Daniel Krochmalnik
Um den Sinai Der Jüdische Nietzscheanismus 1 in religionsgeschichtlicher Perspektive
1.
Am Sinai
Ich lade Sie zu einer religionsgeschichtlichen Bergtour ein. Nur einigen uninspirierten Theologen kamen die Berge wie nachsintflutliche »Warzen und Pockennarben« vor (M. Luther), die Menschen betrachteten die erhabenen Gipfel dagegen seit jeher als Göttersitze zwischen Himmel und Erde. Von dort blickte der Gott auf ihr Treiben in den Niederungen herab, dort erwartete er die frommen Gipfelstürmer und verkündete der Welt seine himmelhohen An- und Aussprüche. Umgekehrt standen viele Tempel auf Höhen oder stellten wenigstens Hügel dar; dorthin zogen die Pilger mit ihren Gaben zu Gott hinauf. Berge sind also Symbole der Erhebung der Menschen wie der Herablassung des Gottes, Chiffren der Transzendenz wie der Kondeszendenz. Auch im Mittelpunkt der Bibel steht der »Gottesberg« (Har HaElohim), der im Pentateuch mal Sinai, mal Horeb genannt wird (Ex 3, 1). Gott stieg auf diesen Berg nieder (Ex 19, 11.18) und offenbarte die »Zehn Worte« (Asseret HaDiberot, Dekalog Ex 20). Er stellte sich als Gott vor, der »herabgekommen« sei, um sein Volk aus der Sklavenhütte herauszuführen (Ex 3, 8; 20, 2), und es zu diesem Berg (Ex 3, 12) und ins Gelobte Land hinaufzuführen. Im ersten Gebot schreibt er den Höhenunterschied zu allen Göttern und Geschöpfen fest: »Du sollst neben Vgl. die Beiträge im Band: D. Krochmalnik u. W. Stegmaier (Hg.): Jüdischer Nietzscheanismus, Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung (MTNF), Band 36. Berlin 1997, insbes. meinen Beitrag: Neue Tafeln. Nietzsche und die jüdische CounterHistory, ebd. S. 53–81, den wir hier in eine religionsgeschichtliche Perspektive stellen. Zum Thema vgl. ferner: D. Bourel u. J. Le Rider (Hg.): De Sils-Maria à Jerusalem. Nietzsche et le judaïsme. Les intellectuels juifs et Nietzsche. Paris 1991; Y. Yovel, Dark Riddle. Hegel, Nietzsche and the Jews. Pennsylvania 1998; C. Sonino, Exil, Diaspora, Gelobtes Land? Deutsche Juden blicken nach Osten (1998), dt. Übers. U. Lipka, Berlin 2002.
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Daniel Krochmalnik
mir keine anderen Götter haben, du sollst dir kein Bild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht niederwerfen vor ihnen und ihnen nicht dienen« (Ex 20, 3–5). Diese unvergleichliche Hoheit erhebt eine Reihe von scheinbar unbedeuteten Kleinigkeiten in den hohen Rang von höchsten Gütern und stellt sie unter seinen besonderen Schutz: seinen Namen, meine Freizeit, meine Eltern sowie Leben, Gemahl, Leib, Ruf und Besitz meines Nächsten. Wie gefährlich religiöser »Alpinismus« ist, beweist der tiefe Fall, der diesem Höhenflug auf dem Fuß folgte. Das erste Gebot war oben kaum ausgesprochen und bekräftigt worden: »Götter von Gold sollt ihr euch nicht machen« (Ex 20, 20), da wurde es am Fuß des Berges mit dem Goldenen Kalb schon gebrochen: »Auf mache uns Götter, die vor uns ziehen« (Ex 32, 1). Das genaue Echo auf den eklatanten Bundesbruch im Tal ist das Zerbrechen der von oben kommenden Bundestafeln; der Gesetzesbringer musste buchstäblich zum Gesetzesbrecher werden, wofür ihn die jüdische Tradition übrigens beglückwünscht (bSchab 87a u. Raschi zu Deut 34, 12). Sie überliefert auch, dass die Bruchstücke der alten Tafeln neben den neuen in der Bundeslade lagen (bBBa 14b), gleichsam zur Warnung für die Träger der scheinbar unzerbrechlichen Fracht: »Vorsicht Zerbrechlich!«. Die zerbrechlichen Worte auf den Tafeln lauten in Kurzform:
Dekalog 1. Ich bin der Herr, dein Gott (Anochi H’) 2. Du sollst keine anderen Götter haben (Lo Jihje) 3. Du sollst den Namen des Herren, deines Gottes, nicht missbrauchen (Lo Tissa) 4. Gedenke des Feiertages (Sachor Et-Jom HaSchabbat) 5. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren (Kabed Et-Awicha). 6. Du sollst nicht morden (Lo Tirzach) 7. Du sollst nicht ehebrechen (Lo Tinaf) 8. Du sollst nicht stehlen (Lo Tignow) 9. Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen (Lo Ta’ane) 10. Du sollst nicht begehren (…), was deines Nächsten ist (Lo Tachmod) (Ex 20,1–14). 122 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Um den Sinai
Die Heilsgeschichte Israels lässt sich als Itinerarium des Gottesberges schreiben. Gleich nach der Sinaioffenbarung gebot Gott die Errichtung eines Erdaltars (Misbach Adama) bzw. eines Altars aus unbehauenen Steinen, eines Miniaturberges also, und versprach, er werde stets zum dampfenden Altar »kommen« (Ex 20, 24) – wie er zuvor auf den rauchenden Berg »gekommen« war (Ex 19, 9). Dann rief er Moses auf den Berg herauf, übergab ihm die Bundestafeln und offenbarte ihm in den Wolken den detaillierten Bauplan für ein »Heiligtum« (Mikdasch), in das er sich niederlassen wollte (Ex 24, 12–25, 8). Diese Wohnung Gottes (Mischkan) mit der Bundeslade und dem Altar fungierte als »wandernder Sinai« (B. Jacob), auf den Gott in einer Wolke herabstieg und sich hören ließ (Ex 33, 7–11; 40, 34; Lev 1, 1). Erst nach langer Wanderung wurde das Wohnmobil Gottes zu einem festen Wohnsitz auf dem Zion, nunmehr der »Berg des Herren« (Har HaSchem, Ps 24, 3). Von hier sollte künftig die Lehre (Tora) und das Wort des Herren ausgehen (Jes 2, 3). Auch der Berg Zion erhebt einen moralischen Anspruch. »Wer«, fragt David, »geht hinauf auf den Berg des Herrn und wer steht auf seiner heiligen Stätte« (ebd. 3). Seine Antwort: »Der an Händen und Herzen Reine, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört« (4), der darf mit Gott durch die Welttore da oben einziehen (7 ff.). Die vier Einlassbedingungen sind Kernpunkte der zweiten Tafel vom Sinai. Das Gottesvolk war jedoch auch am Zion nicht immer auf der Höhe. Die Unheilsgeschichte Israels lässt sich als Geschichte der Zerstörungen und Transformationen des Jerusalemer Tempels schreiben, eine Geschichte, die hinab ins Exil – und hinüber in neue Religionen führt. 2
2.
Unterm Sinai
Bevor wir den überraschenden Kehren unserer Bergroute folgen, blicken wir noch einmal zum Sinai zurück und versuchen mit dem Talmud die Verfassung des Gottesvolkes am Fuß des Offenbarungsberges zu eruieren. Hier lässt die Bibel zwei völlig verschiedene Betrachtungen zu. Sie schildert einmal ein vor Angst schlotterndes (Ex 20, 15) und Vgl. R. Debray, Dieu, un itinéraire. Materiaux pour l’histoire de l’Éternel en Occident. Paris 2001, und mein Buch: Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen. Regensburg 2006, 63–67.
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einmal ein von Überschwang hingerissenes Volk (Ex 24, 7–8). Was im biblischen Erzählzusammenhang ein nachvollziehbarer Stimmungsumschwung ist, wird im Talmud in seine Pole zerlegt, an denen gegensätzliche Deutungen anknüpfen. Nach der einen rabbinischen Ansicht wurde das Volk vom Berg gleichsam überwältigt. Diese Meinung lehnt sich an den Ausdruck: »am Fuße des Berges« (BeTachtit HaHar) an, wo die Israeliten standen (Ex 19,17). Den Ausdruck »am Fuße« (BeTachtit) konnte man auch im Sinne von: »unter (Tachat) dem Berg« verstehen: »Dies lehrt«, sagt eine Überlieferung, »dass der Heilige, gesegnet sei Er, über sie den Berg wie einen Kübel (KeGigit) stülpte und zu ihnen sprach: Wollt ihr die Tora empfangen, so ist es gut, wenn aber nicht, so ist hier euer Grab« (bSchab 88a). Unter dem wie ein Damoklesschwert über sie schwebenden Gesetzesberg hätten die Israeliten demnach nur die Wahl zwischen Tora und Tod gehabt und das Gesetz in Todesangst angenommen. Das Bild vom Volk unter dem Gesetz (sub lege) entspricht genau dem Bild, dass sich das Christentum vom Judentum machte, gleichwohl bringt es die transzendente Aggression zum Ausdruck, die jede religiöse Offenbarung – auch die christliche – begleitet. Im Talmud bleibt diese Sicht aber nicht unwidersprochen, wäre doch ein erzwungener Bund (Ones) eine großartige Bekanntmachung (Moda’a Raba) für die Gesetzesbrecher. Dem Talmud ist daher sehr an der freien Zustimmung zum Bund gelegen, für die er in der Bibel Anhaltspunkte sucht und findet (an dieser Stelle z. B. Est 9, 27). An einer anderen Stelle bezieht sich der Talmud auf jene biblischen Berichte, wonach die Israeliten am Fuße des Offenbarungsberges spontan in den Bund einwilligten. Vor dem Beginn der Offenbarung erklärt das »ganze Volk einmütig (Jachdaw) und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun!« (Ex 19,8) und nach dem Ende der Offenbarung: »Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun und darauf hören« (Ex 24,7; Deut 4,13; 5,2). Es fragt sich allerdings, was dieses einmütige »wir« aussagt? Wenn es, wie Baruch Spinoza annahm, eine spontane kollektive Gefühlsäußerung ausdrückt (uno clamore), dann handelt es sich kaum um eine freie Unterwerfung. Dazu hätte die Bibel irgendwie in der Einzahl konjugieren müssen, so wie sie die Zehn Gebote konjugiert hat. Nach den Rabbinen drückt das »wir« jedoch einen hochkomplexen Gesellschaftsvertrag aus. Jeder der 603 550 Israeliten (Num 1, 46; 2, 32) habe sich am Sinai und bei allen folgenden 48 Bundesschlüssen zu jedem einzelnen der 613 mosaischen 124 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Um den Sinai
Gebote verpflichtet: »Du hast keines der in der Tora geschriebenen (613) Gebote, über das nicht 603 550 mal 48 Bündnisse geschlossen worden wären« (bSota 37a). Es hat also insgesamt 603 550 (Stimmen) 613 (Gebote) 48 (Bekräftigungen) = 17 758 855 200 Verträge gegeben. Die elfstellige Zahl gibt nur den »Willen Aller« im Sinne von Rousseaus »volonté de tous« wieder (Contrat sociale II, III), nicht aber die gegenseitige und gemeinsame Verpflichtung zu diesem Willen. Da »alle Israeliten für einander einstehen« (Kol Jisrael Arewim Se BaSe, bSchew 39a-b), besteht zusätzlich »für jeden Israeliten eine 603 550 fache Verpflichtung« hinsichtlich »der Bürgschaft für die Bürgschaft der anderen« (bSota 37a). Erst die astronomische siebzehnstellige Zahl 10 718 357 055 960 000 stellt den »Allgemeinwillen« im Sinne Rousseaus »volonté générale« dar (ebd.). Demnach hätte sich am Fuß des Sinai nach den Begriffen einer sehr modern anmutenden Vertragstheorie die Bildung einer freien Nation abgespielt. 3 Die jüdische Tradition hat den anschließend verkündeten und in Stein gemeißelten Dekalog als Magna Charta der Gottesfreiheit verstanden, wie ein kühnes rabbinisches Wortspiel zum Schriftvers: »Schrift Gottes, eingegraben (Charut) in die Tafeln« (Ex 32, 16) belegt. Der Midrasch fordert den Leser auf, den unvokalisierten Text ein klein wenig anders zu vokalisieren: »Lies nicht (Al-Tikre) ›Charut‹, eingegraben, sondern: ›Cherut‹, Freiheit« (mAw6,2). Die fernere Religionsgeschichte hat den Bund vom Sinai allerdings als neue Sklaverei und den Sklavenbefreier als schlimmeren Pharao, als eifersüchtigen »Orientalen im Himmel« (Fr. Nietzsche) gesehen.
3.
Über den Sinai
Zunächst profilierte sich das Christentum gegen den Sinai. Auf einem anonymen Berg in Galiläa predigte Jesus einen neuen Dekalog, den er Punkt für Punkt der zweiten Tafel des alten Dekalogs entgegensetzt: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde (ekousate oti erréthe tois archaiois): Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch (egò dé légo hymin): ein jeder Vgl. mein Buch: Schriftauslegung. Die Bücher Levitikus, Numeri, Deuteronomium im Judentum, Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament, Band 33/5. Stuttgart 2003, 140–148.
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der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen sein. […] Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: ›Du sollst nicht ehebrechen‹. Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen, in seinem Herzen. Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg […]« (Mat 21, 22). Von Aufhebung des Gesetzes kann hier nur im Sinn von Anhebung, nicht aber im Sinn von Enthebung gesprochen werden. Dass er nicht gekommen sei, das Gesetz abzuschaffen, sagt Jesus in der Einleitung zu seiner Predigt ausdrücklich: »Denn ich sage euch wahrlich: Bis dass Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz« (Mat 5,17–19). Nicht unter-, sondern überbieten will er die Forderungen vom Sinai und seine so genannten Antithesen sind eigentlich Hyperbeln. Damit steht er aber in seiner jüdischen Umwelt keineswegs alleine da. Die Rabbinen warfen unter dem Begriff »Torazaun« (Sejag LaTora) systematisch einen Schutzwall um das Gesetz auf, damit die Sünden schon weit im Vorfeld der Übertretung zurückgeschlagen werden können. Scheinbar lässliche Sünden werden in der rabbinischen Gesetzesparänese wie in der Bergpredigt zu Todsünden wie Blutvergießen erhoben, so z. B. der Nächstenhass (Derech Erez 10), die öffentliche Beschämung einer Person (Halbanat Panim BaRabim) usw. Fromme, die sich noch weniger erlauben, als das Gesetz vorschreibt (Lifnim Mischurat HaDin) und mehr leisten, als das Gesetz verlangt, werden im Talmud »Chassidim« genannt und ihr Verhaltenskodex »Lehre der Frommen« (Mischnat HaChassidim). In diesem Sinn kann man wenigstens den matthäischen Jesus als »Chassid« und sein Evangelium als Mischnat HaChassidim ansprechen. Der Gegen-Sinai erweist sich als Über-Sinai, der Christ als Überjude! 4 Paulus befürchtete dagegen, dass gerade die selbstgerechte Erfüllung und gar die eifrige Übererfüllung des Gesetzes ins Verderben führen. Denn auf dem Sinai werden nicht nur die göttlichen Gebote, sondern auch die menschlichen Schwächen offenbar: »wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung« (Röm 4,15); erst die Verbote machen die Sünde bewusst: »denn ich wusste nichts von der Lust, hätte das Gesetz nicht gesagt: ›Lass dir nicht gelüsten‹ (Ex 20,17)« (Röm 7,7). Paulus Vgl. G. Strecker, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar. Göttingen 1984, u. G. B. Ginzel, Die Bergpredigt: jüdisches und christliches Glaubensdokument. Eine Synopse. Heidelberg 1985.
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Um den Sinai
gibt dem Gesetz wohl nicht die Schuld an der Sünde (Röm 7, 12), aber das Gesetz offenbart das Versagen seiner Befolger und das Ausmaß ihrer Hilfsbedürftigkeit: »Du predigst, man solle nicht stehlen und du stiehlst? Du sprichst, man solle nicht ehebrechen und du brichst die Ehe? […] Du rühmst dich des Gesetzes und schändest Gott durch die Übertretung des Gesetzes« (Röm 2, 21–23). Der Sinai ist also kein Wegweiser zum Heil, sondern eine Bühne, auf der die Ohnmacht des fehlbaren Menschen gnadenlos ausgeleuchtet wird (Röm 2, 17–21). Für Paulus ist dagegen das Evangelium das »Ende des Gesetzes«, Aufhebung meint bei ihm Enthebung (Röm 10, 3–4). Wer unter dem Gesetzesberg zurückbleibt, ist der Knechtschaft verfallen. Der Heidenapostel illustriert die Unfreiheit des Judenmenschen mit der bezeichnenden Allegorie von den beiden Frauen Abrahams: der Magd Hagar, mit der der kinderlose »Patriarch« seinen erstgeborenen Sohn Ismael zeugte, und der Frau Sara, die nach langer Unfruchtbarkeit doch noch den verheißenen Sohn Isaak gebar: »Saget mir«, spricht er zu den gesetzestreuen Juden: »Höret ihr nicht das Gesetz? Denn es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd, den anderen von der Freien. Aber der von der Magd war, ist nach dem Fleisch geboren; der aber von der Freien, ist durch die Verheißung geboren. Diese Worte bedeuten etwas. Denn das sind die zwei Testamente: eins von dem Berg Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches ist die Hagar, denn Hagar heißt in Arabien der Berg Sinai und ist ein Gleichnis für das Jerusalem dieser Zeit, das dienstbar ist, mit seinen Kindern. Aber das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie; die ist unsre Mutter« (Gal 4, 21–26). Nachdem Paulus daran erinnert hat, wie der fleischliche den verheißenen Sohn verspottet und verfolgt hat (Gen 21, 9), ganz so wie die zeitgenössischen gesetzestreuen Juden die Christen (ebd. 29) und wie Abraham, der »Vater des Glaubens«, die rebellische Magd und ihren Sohn verstoßen hat (ebd. 30, Gen 21, 10–12), schließt er mit der folgenden Adresse an die christliche Gemeinde: »So sind wir nun, liebe Brüder, nicht der Magd Kinder, sondern der Freien« (ebd. 31). Die paulinische Antithese von Gesetz und Evangelium ist besonders von der Reformation aufgegriffen worden. Martin Luther betrachtet die »Freiheit eines Christenmenschen« als Freiheit von den Geboten: »Darum sind sie nur dazu geordnet, dass der Mensch darin sein Unvermögen zum Guten sehe und lerne, an sich selbst zu verzweifeln. Und darum heißen sie auch das Alte Testament und gehören alle ins Alte Testa127 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Daniel Krochmalnik
ment, wie das Gebot, ›Du sollst nicht böse Begierden haben‹ beweist, dass wir allesamt Sünder sind und kein Mensch vermag, ohne böse Begierde zu sein, er tue, was er will. Daraus lernt er, an sich selbst zu verzagen und anderswo Hilfe zu suchen, dass er ohne böse Begierde sei, und also das Gebot durch einen andern erfülle, was er selbst nicht vermag. So sind auch alle anderen Gebote uns unmöglich« (Von der Freiheit eines Christenmenschen 8). Paulus war kein Antinomist, selbst wenn sich christliche Gnostiker wie Marcion und die Paulicianer gerne auf ihn beriefen. Aber von ihm rührt im evangelischen Christentum die Frage her, wie sich der Mensch vom »Fluch des Gesetzes« (Gal 3, 13) endgültig befreien könne. Von Paulus und Luther führt ein Weg zu deutschen Propheten vom Schlage »Zarathustras« – Nietzsches »Zarathustra«.
4.
Gegen den Sinai
Wie der persische Religionsstifter einst auf den Höhen des Elbruz, so empfing nicht nur Nietzsches »Zarathustra«, 5 sondern Nietzsche selbst seine Offenbarung im Hochgebirge, wie er sagt, »6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit« 6 . Nietzsche hat den Augenblick der Inspiration zu seinem »Höhenluft-Buch« und dessen »Eis und Hochgebirge«-Philosophie 7 in einem Gedicht mit dem Titel Sils Maria festgehalten: »Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf nichts, jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich, Freundin, wurde Eins zu Zwei – – und Zarathustra ging an mir vorbei …« 8 : Die Offenbarung seines »Zarathustra« war aber der des persischen Propheten genau entgegengesetzt. Hatte jener die dualistische »Moral ins Metaphysische« übersetzt, 9 so weissagte dieser gegen die dualistische Also sprach Zarathustra (im Folgenden abgk.: Za), Vorrede 1, KTA 75, 5 (Wir zitieren Nietzsches Werke nach der leicht erreichbaren Kröner Taschenausgabe (abgk. KTA), Sämtliche Werke in 12 Bänden mit Registerband. Stuttgart 1965; die Bände 1–9 entsprechen den Einzelausgaben in Kröners Taschenbuchausgabe Band 70–78. Wir geben nach dem Sigel, diese Bandzahl und die Seitenzahlen an). 6 Ecce Homo, Za, 1, KTA 77, 370. 7 Ebd., Vorrede, 3 u. 4, KTA 77, 294 ff. 8 KTA 77, 495. 9 Ecce Homo: Warum ich ein Schicksal bin, 3, KTA 77, 401. 5
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Um den Sinai
Zweiwelten- und Zweiwertelehre. Obwohl Nietzsche kein »Religionsstifter« sein wollte, 10 wurde er von vielen Zeitgenossen als solcher betrachtet. Lou Salomé sah in Nietzsche den »Verkünder einer neuen Religion« und sein Freund und Schüler Heinrich Köselitz alias Peter Gast im ›Also sprach Zarathustra‹ eine neue »heilige Schrift«. An Nietzsche schrieb er am 2. April 1883: »Diesem Buch ist die Verbreitung der Bibel zu wünschen, ihr kanonisches Ansehen, ihr Kommentargefolge«. Eine »heilige Schrift« allerdings ohne Gott und Teufel, ohne Gut und Böse, ohne Gebote und Verbote, ohne Lohn und Strafe – eine Anti-Bibel. Nach Nietzsches eigener Darstellung im ›Ecce Homo‹ ist der aus der Gesamtkonzeption des ›Also sprach Zarathustra‹ deutlich herausragende Abschnitt ›Von alten und neuen Tafeln‹ die »entscheidende Partie« des Werkes. 11 Das Tafel-Motiv klingt bereits in der Vorrede des Werkes an. Wie einst Moses steigt Zarathustra vom Berg zu den Menschen herab, um die Tafeln zu zerbrechen, er kommt als »Brecher der Tafeln«, 12 der »Guten und Gerechten«, als »Verbrecher«. Aber sein Zorn – »Wenn mein Zorn […] alte Tafeln zerbrochen in steile Tiefen rollte« 13 – richtet sich nicht wie der des Moses (Ex 32, 19) gegen die Gesetzesbrecher, sondern gegen die Gesetzestafeln. Seine Jünger fordert er wiederholt auf: »Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln.« 14 Gewiss, mit den »alten Tafeln« sind nicht nur die Tafeln vom Sinai gemeint, vielmehr: »eine Tafel der Güter hängt über jedem Volke.« 15 Aber die Zehn Gebote, deren sklavische Gesinnung im Elterngebot zum Ausdruck kommt, 16 stehen zweifellos ganz oben auf der Liste der bruchreifen Tafeln. Darüber hinaus sind aber alle lebensfeindlichen Tafeln im Visier, 17 die heilig heißen, »was allem Leben widersprach und widerriet?« 18 . Die Tafeln des Todes sind freilich nicht einfach durch Tafeln des Lebens zu ersetzen, indem etwa die agonalen Werte der Ebd., Vorrede, 4, KTA 77, 295, u. Warum ich ein Schicksal bin, 1, KTA 77, 399. Ecce Homo: Za, 4, KTA 77, 377. 12 Za, Vorrede 9, KTA 75, 20 f. u. Za III, Von alten und neuen Tafeln 26, KTA 75, 236. 13 Za III, Die sieben Siegel (Oder: das Ja- und Amen-Lied) 2, KTA 75, 254. 14 Za III, Von alten und neuen Tafeln 7 u. 10, KTA 75, 222 u. 224. 15 Za I, Von tausend und Einem Ziele, KTA 75, 61 f. 16 »›Vater und Mutter ehren und bis in die Wurzel der Seele hinein ihnen zu Willen sein‹«, Za I, Von tausend und Einem Ziele, ebd. 62. 17 Za III, Von alten und neuen Tafeln 13; 15 u. 16, KTA 75, 226 u. 227 f. 18 Ebd., Von alten und neuen Tafeln 10 u. 16, KTA 75, 224 u. 227 f. 10 11
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Griechen an die Stelle der servilen Werte der Hebräer gerückt werden, denn damit würde nur ein toter Buchstabe gegen einen anderen eingetauscht. Lebendige Tafeln können überhaupt keine festen Werttabellen sein, sie müssen vielmehr frei flottierende Werte notieren können. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Aufgabe Zarathustras: »Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch neue halb beschriebene Tafeln«. 19 Gleichwohl bleibt die Metaphorik Nietzsches bei der gewohnten Antithetik von AT und NT: »toter« oder »tötender Buchstabe« (gramma apokteinei, II Kor 3, 6) einerseits, »lebendiger Geist« (pneuma zoopoei) andererseits. Nietzsche wählt übrigens ganz bewusst Bilder aus der Testamentenrivalität, wie das der steinernen und fleischernen Tafeln, wenn er etwa im Anschluss an Jeremia (31, 33) und Paulus (II Kor 3, 3) nach Jüngern Ausschau hält, die seine neuen Tafeln »zu Thale und in fleischerne Herzen tragen?« 20 . Dabei übernimmt er das gängige christliche Substitutionsschema, dreht aber dessen Fortschrittssinn um; seine neuen Tafeln sollen eine Rückkehr zu den primitiven vitalen Werten bewirken, während die alten Tafeln von Moses und Jesus als widernatürliche Verkehrungen dieser Werte entlarvt werden. Die Lebensverächter, die »frommen Hinterweltler«, 21 hätten die ursprünglichen Gesetze des Lebens auf den Kopf gestellt, es gilt, sie wieder auf die Füße zu stellen. Insbesondere die Verbote der zweiten Tafel Mosis werden als Perversionen aller gesunden Instinkte getadelt. Sind nicht das 6. und 8. Gebot: »Du sollst nicht rauben!, Du sollst nicht totschlagen!« Sünden wider das Leben, das in allem »Rauben und Todtschlagen« ist? 22 Ist nicht das Begehren Ausdruck der Vitalität und der Ehebruch die natürliche Folge schlechter Ehen? 23 Durch die Umwertung der Werte der Herdenmoral soll eine neue Herrenmoral begründet werden. Die neuen Tafeln richten sich an einen neuen Adel, 24 aus dem
Ebd., Von alten und neuen Tafeln 1, KTA 75, 217. Ebd., Von alten und neuen Tafeln 4. KTA 75, 220. Zu diesem Bild vgl. auch Ez 11, 19; 36, 26. 21 Za I, Von den Hinterweltlern, KTA 75, 30 ff. 22 Za III, Von alten und neuen Tafeln 10, KTA 75, 223. 23 »›wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe – mich!‹« Za III, Von alten und neuen Tafeln 24, KTA 75, 234. 24 »[…] auf neue Tafeln neu das Wort schreibt ›edel‹«, Za III, Von alten und neuen Tafeln 11. KTA 75, 224. 19 20
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ein neues auserwähltes Volk werden soll. 25 Kein Adel der Herkunft, sondern der Zukunft. Darum steht auf diesen Tafeln nicht das Gebot der Eltern-, sondern das der Kinderliebe, für einen neuen Aufbruch zu neuen Ufern. 26 Trotzdem kann keine Rede von einem neuen Bund sein, im Gegenteil, die schöpferischen Kräfte der Tafelstürmer sollen entund nicht gebunden werden. 27 Ob dieses Evangelium der Starken und Mutigen für die Niederungen taugt? Zarathustra bleibt jedenfalls in den Bergen und entledigt sich zuletzt auch noch des Mitleidens mit dem Übermenschen. Der Berg wird zur Lebensform, zum Symbol einer einsamen, eigentlichen, gesunden Existenz: »Mit seligen Nüstern atme ich wieder Berges-Freiheit! Erlöst ist endlich meine Nase vom Geruch alles Menschenwesens! Von scharfen Lüften gekitzelt, wie von schäumenden Weinen, niest meine Seele, – niest und jubelt sich zu: Gesundheit! Also Sprach Zarathustra!« 28 Wenn man berücksichtigt, dass die Antithesen ›Zarathustras‹ nicht nur einzelne Gebote, sondern auch deren theologische Voraussetzungen, so den Tod Gottes (»Dieser alte Gott lebt nicht mehr, der ist gründlich tot« 29 ) und die Apotheose des Übermenschen 30 betreffen; dass sie nicht nur gegen Moses, 31 sondern ebenso auch gegen den Berg-
25 »[…] Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen – und aus ihm der Übermensch«, Za I, Von der schenkenden Tugend, 2, KTA 75, 83 und »Seligkeit muss es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, – / – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz«, Za III, Von alten und neuen Tafeln 29, KTA 75, 237. 26 »Oh meine Brüder, als ich euch die Guten zerbrechen hieß und die Tafeln der Guten: da erst schiffte ich den Menschen ein auf seine hohe See …«, Za III, Von alten und neuen Tafeln 28, KTA 75, 236. »Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel suchen und suchen!«, Za III, Von alten und neuen Tafeln 12, KTA 75, 225. Vgl. dazu die Verbindung der Elternehrung und der Landsverheißung in Ex 20, 12. »An euren Kindern sollt ihr g u t m a c h e n , dass ihr eurer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch!«, Za III, Von alten und neuen Tafeln 12, ebd. 27 »[…] kein ›Vertrag‹ ! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen der Halb- und Halben!«, Za III, Von alten und neuen Tafeln 25, KTA 75, 235. 28 Za III, Die Heimkehr, KTA 75, 206. Vgl. auch das Gedicht: Aus Hohen Bergen, Nachgesang zu Jenseits von Gut und Böse, KTA 76, 234–36. 29 Za IV, Außer Dienst, KTA 75, 286; Der hässlichste Mensch, KTA 75, 293. 30 Ebd., Vom höheren Mensch, 2, KTA 75, 318. 31 Za III, Von alten und neuen Tafeln 12, KTA 75, 225.
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prediger 32 – und oft gegen beide gleichzeitig gerichtet sind, etwa in der Antithese gegen die Nächstenliebe (»Schone deinen Nächsten nicht!« 33 und: »Was fällt, das soll man auch noch stoßen!« 34 ) dann ergibt sich folgender nietzscheanischer Antidekalog:
Antidekalog 1. Moses: »Ich bin der Herr dein Gott« (Ex 20, 1) – »Zarathustra«: »›Dies eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott gibt!‹« 35 2. Moses: »Du sollst keine anderen Gott neben mir haben« (Ex 20, 3) – »Zarathustra«: »ein alter Grimm-Bart von Gott, ein eifersüchtiger, vergaß sich also: – Und alle Götter lachten damals und wackelten auf ihren Stühlen und riefen: ›Ist das nicht eben Göttlichkeit, das es Götter, aber keinen Gott gibt?‹« 36 3. Moses: »Du sollst nicht aussprechen den Namen des Herren deines Gottes zum Falschen« (Ex 20, 7). – »Zarathustra«: »Was hat er uns darob gezürnt, dieser Zornschnauber, dass wir ihn schlecht verstünden!«37 5. Moses: »Ehre deinen Vater und deine Mutter« (Ex 20, 12) – »Zarathustra«: »An euren Kindern sollt ihr gut machen, dass ihr eurer Väter Kinder seid« 38 6. Moses u. Jesus: »Du sollt nicht morden« (Ex 20, 13; Mat 5, 21 ff.) – »Zarathustra«: »Ist in allem Leben selber nicht (…) Totschlagen?« 39 7. Moses und Jesus: »Du sollst nicht die Ehe brechen« (Ex 20, 14; Mat 5, 27 ff.) – »Zarathustra«: »Besser noch Ehebrechen als Ehe – biegen, Ehe – lügen.« 40
32 33 34 35 36 37 38 39 40
Za IV, Der freiwillige Bettler, KTA 75, 297. Za III, Von alten und neuen Tafeln 4, KTA 75, 220 Ebd., Von alten und neuen Tafeln 20, KTA 75, 231 f. Ebd., Von alten und neuen Tafeln 2, KTA 75, 224. Ebd., Von den Abtrünnigen, KTA 75, 202. Za IV, Außer Dienst, KTA 75, 289. Za, III Von alten und neuen Tafeln 12, KTA 75, 225. Ebd., Von alten und neuen Tafeln 10, KTA 75, 223. Ebd., Von alten und neuen Tafeln 24, KTA 75, 234.
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8. Moses: »Du sollst nicht rauben« (Ex 20, 15) – »Zarathustras«: »Ist in allem Leben selber nicht rauben?« 41 10. Moses: »Du sollst nicht begehren« (Ex 20, 17) – »Zarathustra«: »Ihr sollt nicht wollen! Das ist eine Predigt zur Knechtschaft.« 42
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In Anbetracht dieser scharfen Antithesen klingt der Begriff »Jüdischer Nietzscheanismus« zunächst wie das sprichwörtliche hölzerne Eisen. Als literatur- und religionsgeschichtliches Phänomen handelt es sich dabei um die Aneignung der Lebensphilosophie Nietzsches durch ostjüdische Zionisten, zu denen einige der wichtigsten Autoren der neuhebräischen Literatur zählen. Alle Zionisten waren für die antireligiöse Botschaft »Zarathustras« empfänglich: »Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden.« 43 »Zarathustras« Predigt bestärkte sie im Kampf gegen wurzellose Assimilanten (Taluschim) und fromme Hinterweltler 44 und befeuerte sie bei der Schaffung eines neuen erdverbundenen, kämpferischen Hebräers. 45 Aber die ostjüdischen Zionisten waren religiös sozialisiert und rabbinisch zum Teil hochgebildet, sie hatten noch die Propheten im Ohr und lasen ›Also sprach Zarathustra‹ als religiöse Quelle im Bezugsystem von Bibel und Talmud. Sie erkannten »Zarathustra« – frei nach ISam 10, 12 – unter den Propheten, auch wenn er gegen die Propheten vom Sinai und vom Zion predigte. Im Jahr 1900, dem Todesjahr Nietzsches, nahm der nietzscheanische Ideologe, Micha Josef Berditschewsky (1865–1921), in einer Reihe von hebräischen Essays, die später unter dem bezeichnenden Titel ›Umwertung der Werte (Schinui-HaArachim)‹ erschienen sind, Stellung zum »Jüdischen Nietzscheanismus« (Nitscheanism Jehudi), 46 Ebd., Von alten und neuen Tafeln 10, KTA 75, 223. Ebd., Von alten und neuen Tafeln 16, KTA 228. 43 Za Vorrede, KTA 75, 9. 44 Za I, Von den Hinterweltlern, KTA 75, 30 ff. 45 Vgl. E. Luz: Spiritual and Antispiritual Trends in Zionism, in: A. Green (Hg.), Jewish Spirituality, Band 2, From the Sixteenth-Century Revival to the Present. New York 1987, 371- 401. 46 Die Artikel sind unter dem Titel ›Umwertung der Werte‹ veröffentlicht worden. Wiederabgedruckt in Micha-Josef Bin-Gorion (alias Berditschewsky), Sämtliche Arti41 42
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ein Begriff, den der Kulturzionist Achad Ha’am (1856–1927) in kritischer Absicht geprägt hatte. 47 Seiner Meinung nach setzt die nationale »Auferstehung des Volkes« (Tchijat HaAm), »eine vollständige Umwälzung« (Hafichat HaKeara Al Pi – ein rabbinischer Ausdruck für Häresie) im Sinne Nietzsches voraus. Um die geistige Situation des Judentums zu veranschaulichen, gebraucht er in seinem Essay ›Änderungen (Shinuim)‹ jenes talmudische Bild vom Sinai als übergestülpten Kübel und schließt mit Nietzsches ›Unzeitgemäßer Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹ : »Unsere Historie, unsere Literatur, unser Leben – alles lehrt uns, dass man den Berg über uns gestülpt hat, d. h. uns gezwungen hat, unsere Natur zu pervertieren.« 48 Sehnsüchtig erinnert er an die herrlichen Zeiten vor der Offenbarung des Buches (Lifnei Matan HaKtaw), die das Volk vom Leben entfremdet hat. Der rabbinisch hochgelehrte Berditschewsky fordert eine zeitgemäße Erneuerung (Chiddusch) des Buchstabens, ein neues Sinai-Erlebnis für seine Generation 49 : »Die Tafeln sind Gotteswerk und beständig. Die Buchstaben, die auf den Tafeln eingeschrieben sind, können so wenig ausgelöscht werden wie die Sterne. Aber lasst uns sie erneuern (LeChadesch), wie die Sterne erneuert werden; lasst uns auf unsere Art das Lied unseres Lebens singen, unser Wesen und Sein verkörpern. Lasst auch uns am Fuß des Berges (BeTachtit HaHar) stehen und rufen: ›das wollen wir hören und tun‹ (Ex 24, 7), zu allem was uns offenbart werden wird. ›Da kam Gott hernieder in einer Wol-
kel, Volksausgabe. Tel Aviv, 1952, 27–53, und im von Emanuel Bin Gorion herausgegebenen Reader: Micha Josef Berdyczewski (Bin-Gorion). Haifa 1983, S. 263- 281. Vgl. Dazu M. Brinker: Nietzsche’s influence on Hebrew writers of the Russian Empire, in: B. Glatzer-Rosenthal (Hg.), Nietzsche and Soviet Culture. Adversary and Ally. Cambridge 1994, 393–413, und ders. in unserem Band: Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., 35–52. 47 Der Aufsatz erschien erstmals in seiner hebräischen Zeitschrift ›HaSchiloach‹ 4 (5658) 2, sub voce Tagesfragen IV. Wiederabgedruckt in: Achad Ha’am: Sämtliche Schriften, Volksausgabe. Jerusalem 1947, 154–159. Vgl. in unserem Band den Beitrag von F. Niewöhner, Jüdischer Nietzscheanismus seit 1888 – Ursprünge und Begriff, a. a. O., 17–31. 48 Sämtliche Artikel, ebd. 46a. 49 Die Vorstellung einer revelatio continua ist freilich gut rabbinisch und knüpft gerne an das deuteronomistische »Heute« an (etwa Deut 4, 4; 29, 9 u. ö.): Das ganze Volk Israel einschließlich aller künftigen Generationen stand und steht am Fuß des Sinai (Ma’amad Sinai).
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ke‹ (Ex 34, 5) – lasst auch uns mit unseren Augen Visionen des Allmächtigen sehen.« 50 Der alte Berditschewsky bevorzugte aber schließlich einen anderen Berg und andere Tafeln: den Garizim und den in der Bibelwissenschaft so genannten sichemitischen Dodekalog (Deut 27, 15–26). Im Gegensatz zum Sinai liegt der Garizim jenseits des Jordan, im Land Israel. Der Garizim und Sichem bildeten als geographisches, politisches und kultisches Zentrum des Reiches Israel und als Heiligtum der Samaritaner auch ein Gegenpol zum Zion und Jerusalem im Reich Juda. In seinem nachgelassenen bibelkritischen Werk ›Sinai und Garizim. Über den Ursprung der Israelitischen Religion‹ 51 versucht Berditschewsky den, von der jüdischen Bibelredaktion angeblich verwischten historischen Vorrang des josuanischen Dodekalogs am Garizim (Jos 8, 32) vor dem mosaischen Dekalog vom Sinai nachzuweisen. Der Dodekalog, oder nach Abschnitten gezählt, der Dekalog vom Garizim reflektiert wenigstens in der Interpretation Berditschewskys viel bodenständigere und primitivere Verhältnisse als der »ethische« Dekalog vom Sinai. 52 Es wird der Meuchelmord verflucht, nicht der Mord (Deut 27, 24), nicht der öffentliche Götzendienst, sondern nur der geheime Götzendienst (ebd. 15), nicht der Diebstahl, sondern die Grenzverrückung (ebd. 17), nicht der Ehebruch, sondern der Inzest (ebd. 20–23) – letzteres, wie Berditschewsky meint, zur Beförderung der Exogamie und Assimilation! Insgesamt handle es sich bei diesem Dekalog nicht um eine übernatürliche Offenbarung, sondern um die natürlichen »Verordnungen zu der ersten Bildung einer Gesellschaft«. 53 Diese Aufwertung des natürlichen, nationalen Garizim im Land Israel gegen den übernatürlichen, universalen Sinai in der Wüste ist nur das letzte Beispiel für eine lange Reihe von ähnlichen Rettungen und Umwertungen Berditschewskys. Er bürstet in seinem essayistischen Oeuvre die gesamte jüdische Geschichte gegen den Strich und macht systematisch die Schurken zu Helden und die Ketzer zu Heili50 Vgl. den Essay: Zur Frage der Vergangenheit (LiSchelat HäAawar), Sämtliche Artikel, ebd. 42a. 51 R. u. E. Bin Gorion (Hg.), Sinai und Garizim. Über den Ursprung der Israelitischen Religion. Forschungen zum Hexateuch auf Grund rabbinischer Quellen. Berlin, 1926. 52 Ebd. 479–496. 53 Die Mischehe und Absorbtion der fremden Bevölkerung etwa der Kanaaniter ist nach Berdischewsky »beim Wiedererobern des eigenen Landes […] die erste Bedingung« (ebd. 484).
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gen. Im Sinne der nietzscheanischen »Gegengeschichte« werden etwa die verdammten biblischen und nachbiblischen Könige, die gewalttätigen Sikarier und Zeloten, die schismatischen Karäer und Sabbatianer, die verbannten Uriel Acosta und Spinoza etc. gegen ihre prophetischen und rabbinischen Richter verteidigt und historisch ins Recht gesetzt. 54 Zweck der Übung: die von der moralisierenden und spiritualisierenden Tradition verdrängten chtonischen, vitalen und agonalen Triebe wieder zu beleben und in den Dienst der nationalen Erneuerung zu stellen. Viele von Berditschewskys Revisionen der Tradition sind bis heute Bestandteile des zionistischen Geschichtsbildes geblieben. Im Jahr 1900 übersetzte David Frischmann (1859–1922) ›Also sprach Zarathustra‹ auf Hebräisch. 55 Damit hat er die Prophetenkontrafaktur Nietzsches in die Sprache der Propheten rückübersetzt und dabei die Dissonanzen zur Bibel noch weiter verstärkt. 56 Nachdem der Schlachtruf »Zarathustras«: »Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln«, auf Hebräisch: »Schibru, Schibru Na Li Et HaLuchot HaJeschanim«, auf Jiddisch: »Zerbrecht die alte luches« bereits zum geflügelten Modewort geworden war, 57 lag nun die ganze neue Heilige Schrift: ›Ko Amar Sarathustra‹ und 1919 auch die Jiddische Übersetzung: ›Asoj hot geret Zaratustre‹ (von Chajim Zhitlowski) vor. Wie sich Frischmann das »Zerbrechen der Tafeln« im Einzelnen vorstellte, hat er in einer Reihe von biblischen Erzählungen »Ma’assijot Biblijot« geschildert, die nach seinem Tod unter dem Titel des vierten Buches Moses »In
Zum Begriff der nietzscheanischen Gegengeschichte vgl. mein Beitrag: Neue Tafeln. Nietzsche und die jüdische Counter-History in unserem Band: Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., 54–55. Eine Quelle dieser Gegengeschichte ist Nietzsches ›Der Antichrist‹ 25 u. 26, KTA 77, 217–221. 55 Die Übersetzung ist 1909–1910 erschienen. Wir zitieren nach D. Frischmann, Schriften, Band 3, Tirgumim (Übersetzungen). Tel Aviv o. J. 56 Die Übersetzung Frischmanns verdient eine eigene Untersuchung. Siehe vorläufig meinen Aufsatz: Neue Tafeln. Nietzsche und die jüdische Counter-History in unserem Band: Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., 63 ff. 57 Z. B. Von Alten und neuen Tafeln (Al Luchot Jeschanim WeChadaschim) 7, Tirgumim, ebd. 159a. Es ist kein Zufall, wenn sich auch Achad Ha’am bei seiner Kritik des jüdischen Nietzscheanismus auf diesen Topos bezieht: »Neue Werte! neue Tafeln! An Stelle der ›Schrift‹ komme das ›Schwert‹, an Stelle der Propheten – die blonde Bestie! […] Wir vernehmen tagtäglich den Ruf, dass unsere ganze nationale Welt bis auf dem Grund zertrümmert werden müsse, um alles neu zu bauen« (Sämtliche Schriften, ebd. 157a). 54
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der Wüste« (BaMidbar) 1923 in Berlin erschienen.58 Hier erzählt er aus dem Blickwinkel des nietzscheanischen »Brechers« und »Verbrechers« (HaSchower, HaOwer) 59 den Kampf zwischen Gesetzesjoch und Freiheitsinstinkt am Beispiel der Übertretung einzelner mosaischer Gebote in der Wildnis. Paradigmatisch ist seine Erzählung »Im Berg Sinai«. 60 Es ist die Geschichte eines jungen Sklavenpärchens, das kurz vor dem Auszug Israels aus Ägypten in die Wüste flieht und sich im Berg Sinai versteckt. Dort leben sie frei ihre Liebe. Als das ausziehende Volk den Fuß des Berges erreicht, verwandelt sich ihr Venusberg in den Gesetzesberg. Je bedrohlicher die gebietende Stimme draußen wird, desto mehr ziehen sie sich ins Innere des Berges zurück. Die Szene ist kontrapunktisch und kreszendierend aufgebaut: auf jedes Gebot draußen folgt ein widerstreitendes Bekenntnis drinnen. Während die Stimme draußen gebieterisch exklusive Gottesverehrung fordert und den Götzendienst verbietet, bekennen sich die Liebenden drinnen zu ihrer exklusiven Liebe zueinander. Von Gebot zu Gebot auf dem Berg steigert sich der orgiastische Liebesrausch im Berg und gipfelt in Verschmelzungs- und Vernichtungswünschen. Doch das zehnte Gebot, das Wunschverbot, triumphiert schließlich über die dionysische Revolte. Dieses Verbot – nicht die Sünde – vertreibt die Liebenden aus ihrem Paradies und sie schließen sich resigniert Volk und Führer an. Diese Geschichte zerstört den rabbinischen Gründungsmythos von der freiwilligen, einmütigen und endgültigen Unterwerfung des Volkes am Sinai und illustriert sehr schön die erotische und antinomistische Rebellion der jüdischen Nietzscheaner. Als Saul Tschernichowsky (1875–1943) im Jahr 1900 den zweiten Band seiner ›Visionen und Melodien‹ vollendete, stand er unter dem Einfluss Nietzsches und Berditschewskys. Mit seinen hebräischen Gedichten, die er zum Teil als Medizinstudent in Heidelberg verfasste, wurde er zum »Psalmisten« des jüdischen Nietzscheanismus und zu einem der bedeutendsten neuhebräischen Dichter überhaupt. Im berühmten Gedicht ›Vor der Statue Apollos (LeNochach Pessel Apollo)‹ von 1899 feiert er den ebenso lebenstrunkenen wie lichten Olympier
58 D. Frischmann: Bamidbar. Maassijot biblijot, sippurim weaggadot. Berlin, 1923. Wir benutzen die Ausgabe des Knesset-Verlages, Tel Aviv 1962. 59 Za Vorrede 9, KTA 75, 21 u. Frischmann. Tirgumim, 97b. 60 BeHar Sinai (1919), Bamidbar, ebd. 43–52.
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im Gegensatz zum alten Gott des alten Volkes. 61 Der Dichter, der sich aus der Agonie des jüdischen »Schmerzenshauses« befreien will, wirft sich reuevoll vor seinem Bild nieder. Seinen eigenen Gott, den allmächtigen Gott des Lebens, den entfesselten Gott des Sturmes und des Krieges, den biblischen Schaddai, hätten die »Rebellen wider das Leben« (Morde HaChajim) mit »Gebetsriemen gefesselt«. Es gibt kaum einen Götzen oder einen falschen Propheten des alten Israel, für den Tschernichowsky in seiner Dichtung nicht Partei ergriffen hätte. Er verteidigt die angeblich »falschen Propheten« der Lebensbejahung und Lebensfreude gegen die »Todesprediger«, die das Volk der Sklaverei des Gesetzes und Rituals unterworfen hätten; 62 er rehabilitiert die heidnischen Götter Kanaans: Baal, Tamus, Aschera und klagt das Versagen des jüdischen Gottes an. 63 Die Urszene des Entscheidungskampfes zwischen Judentum und Heidentum ist für Tschernichowsky nicht der Sinai sondern der Karmel, wo Elia, der Prophet der »Jahwe-Allein-Bewegung«, die Propheten Baals vernichtend schlug (IKönige 18). Im Jahr 1900 hatte bereits Berditschewsky diesen Fall neu aufgerollt – als Frage seines Sohnes. Was wäre wohl passiert, wenn Elia den Kampf gegen die Propheten des Baal nicht zufällig verloren hätte? Dann, ja, dann »wären wir vielleicht nicht von unserem Land verbannt worden und wir hätten nicht unsere Erde verloren.« 64 Ganz im Gegensatz zum Glauben der biblischen Propheten hält Berditschewsky den Sieg über die Landesgötter für die eigentliche Ursache des Landverlustes. Dieser verhängnisvolle geschichtliche Irrtum soll nach zweitausendfünfhundert Jahren ethischen Monotheismus durch eine Rückkehr zu den Göttern des Bodens wieder gut gemacht werden. Tschernichowsky lässt in dem Gedicht »Vision des Aschera-Propheten« (1933) die radikale Revision der heiligen Geschichte, die Berditschewsky seinem Publikum noch insgeheim zuflüsterte (BaChaschai), einen Aschera-Propheten, der das Massaker am Kischon überlebt hat, laut verkünden. Er nimmt die Natur Wir zitieren nach der Gesamtausgabe der Gedichte, Tel-Aviv 1953, 72–74, engl. Übersetzung bei E. Silberschlag: Saul Tschernichowsky. Poet of Revolt, with translations by Sholom J. Kahn and others. New York 1968, 97 f. 62 Aus den Weissagungen der Lügenpropheten (Heidelberg 1900), Gedichte, ebd. 95– 102. 63 Tod des Tammus (1908), Gedichte, ebd. 252–255, vgl. An die Sonne (1919), Gedichte, ebd., S. 291–301. 64 Fragen und Anmerkungen, Sämtliche Artikel, ebd., 54a. 61
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zum Zeugen und weissagt gegen die Propheten Gottes, dass das Volk nach einer erdrückenden Herrschaft Gottes und seiner Gesetze, nach einem langen und erniedrigenden Exil wieder ins Land und zu den Baalim zurückkehren würden. 65 Zionismus mündet bei den jüdischen Nietzscheaneren in der Remythisierung und Repaganisierung des Judentums. Mit Salman Schne’ur (1887–1959) erreichte der jüdische Nietzscheanismus in der Neuhebräischen Literatur ihren Höhepunkt. 66 Sein philosophisches Poem ›In den Bergen‹ (›BeHarim‹, 1908 ff.) imitiert vor der Kulisse der Schweizer Alpen Nietzsches Traditions- und Zivilisationskritik. 67 Als ruheloser hebräischer Dichter in den westeuropäischen Kapitalen ist für ihn der Kampf am Fuß des Sinai entschieden. Er lässt das neue Volk (Am Chadasch) ohne Gesetzesjoch (Ol) das Totengebet (Jitgadal WeJitkadasch) am Grab des alten Volkes sprechen, das Gott aus der Sklavenhütte geführt und im Freiheitsgesetz (Torat Cherut) unterwiesen hat, das er aber Herren aller Herrenländer in Sklaverei verkauft hat, dem er die Last der Berge aufgeladen hat – Sinai, Mekka, Golgatha –, damit sie sie in die Wüste der Heidenvölker tragen. 68 Mit dem Metzger Noah Pandre schuf Schne’ur später den ungeschlachten, gutmütigen Stetl-Helden mit »unjüdischem Aussehen« und »stark wie Eichwurzeln« 69 und stimmte das hohe Lied des von der rabbinischen Intelligenz verachteten jüdischen »Landvolkes« (Am Ha’arez) an. Eine Summe der nietzscheanischen Umwertungen der Bibel bot sein spätes Versepos: ›Verborgene Tafeln (Luchot Genusim)‹, angeblich ausgegrabene Tafeln der »wahren« Geschichte Israels, in der endlich die polytheistische Opposition unzensiert zu Wort kommen darf, »die andere Bibel« im biblischen Stil. Die alten Tafeln der Knechtschaft sind zerbrochen, jetzt geht es um die neuen, uralten Tafeln der Freiheit. Das führt uns zu unserem letzten, bekanntesten jüdischen Jünger »Zarathustras« an der Grenze zwischen Ost- und Westjudentum, Martin Buber (1878–1965). ›Zarathustra‹ hat den jungen Buber überwältigt. In seiner Lemberger Schulzeit (1895) hat Buber eine polnische Gedichte, ebd. 501 ff. Zur Einordnung Schne’urs vgl. D. Ohana, Zarathustra in Jerusalem, »Nietzsche and the New Hebrews«, in R. Wistrich, u. D. Ohana (Hg.), The Shaping of Israeli Identity. Myth, Memory and Trauma. London 1995, 38–60. 67 Schriften, Dwir, Tel Aviv 1960, 138–166. 68 Jitgadal WeJitkadasch … (1923), Schirim WeSonatot, Schriften, ebd. 69. 69 Aus dem Jiddischen übersetzt von G. Fischer u. J. Leftwich, Berlin 1937, 5. 65 66
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Übersetzung des Buches begonnen. 70 Ein ›Zarathustra‹-Manuskript, aus jener Zeit, 71 aber auch die zionistischen Schriften, die Buber damals unter dem Einfluss von Achad Ha’am schrieb, zeigen das Ausmaß des Nietzsche-Erlebnisses und ahmen gelegentlich auch dessen Dithyrambos nach. 1900 verfasste der Zweiundzwanzigjährige einen Nachruf auf Nietzsche, indem wir die bereits vertrauten Töne vernehmen: »Die Anbeter des Jenseits lehrte er den hohen Sinn der Erde und des menschlichen Leibes. […] Dem Gottes des Weltbeginnes brachte er einen großen Widersacher: Den werdenden Gott, an dessen Entwicklung wir mitschaffen können.« 72 Gershom Scholem hat richtig diagnostiziert: »Buber gehört zu der Generation, die um 1900 von Nietzsche und seinen Losungen tief beeinflusst war. Nietzsches Rede von den ›Schaffenden‹ durchzieht alle seine frühsten Schriften. Das Schöpferische gegenüber dem Unproduktiven und im Leerlauf Beharrenden soll im Judentum wieder zur Geltung gebracht werden.« 73 Dieser lebensphilosophische Gegensatz bestimmte nachhaltig Bubers kritische Einstellung zur »Rabbinerreligion« mit ihrer »fortschreitenden Erstarrung des Gesetzes« und ihrer »kargen Herrschaft des Zeremonialgesetzes«, sowie sein zunehmendes Interesse an der »wahrhaften Religiosität« des Urchristentums und des Chassidismus 74 – dessen nietzscheanisches Verständnis Berditschewsky in seinem, übrigens auch 1900 erschienenen, ›Buch der Chassidim‹ vorbereitet hatte 75. Noch 1919 artikuliert Buber diese erweckungsreligiöse Botschaft Martin Buber Werkausgabe, Band 1, Frühe kulturkritische und philosophische Schriften (bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von M. Treml). Gütersloh 2001, Einl. S. 36. 71 Ebd. 103–117. 72 Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte, Werkausgabe, ebd. 151. 73 Martin Bubers Auffassung des Judentums (1966), in: Judaica 2. Frankfurt/M. 1970, 140. Buber hat als Vordenker der jungjüdischen Bewegung um 1900 starke nietzscheanische und berdischewskysche Impulse weitergegeben, vgl. M. H. Gelber, The »jungjüdische Bewegung«, An Unexplored Chapter in German-Jewish Literary and Cultural History, in: LBI-YB, Band 31. London 1986, 105–119. 74 M. Buber, Die Erneuerung des Judentums, Reden über das Judentum, 1911, in: Der Jude und sein Judentum, Gesammelte Reden und Aufsätze. Köln 1963, 36–38. Vgl. dazu meine Aufsätze: Martin Buber und die Religionen. Zum 30. Todestag, Jüdische Denker im 20. Jahrhundert, in: H. Lehming, Evangelische Akademie Hamburg (Hg.). Hamburg 1997, 88–106, und: Dom und heiliger Sand. Ausblicke auf eine Erneuerung des christlich-jüdischen Dialogs im Anschluss an Martin Buber, in: W. Zager (Hg.), Ich und Du – Mensch und Gott. Im Gespräch mit Martin Buber. Neukirchen-Vluyn 2006, 29–48. 75 Sefer Chassidim. Warschau 1900. 70
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Um den Sinai
in seiner ›Rede über Jugend und Religion: Cheruth‹ im Bild von den zerbrochnen Tafeln vom Sinai: »Gottes Schrift ist Freiheit auf den Tafeln: die Zeichen der Gottesfreiheit wiederzufinden, mühen sich die religiösen Kräfte je und je. Gottes Urtafeln sind zerbrochen: die Kräfte der ewigen Erneuerung mühen sich je und je, auf den zweiten Tafeln, den Tafeln der Lehre und des Gesetzes, verwischte Züge der Gottesfreiheit wiederherzustellen. Ihr ewig erneuerter Versuch bedeutet das Streben, das religiöse Grundgefühl mit der Unbefangenheit und Fülle des natürlichen Lebens zu verschmelzen, wie sie auf Gottes Urtafeln verschmolzen waren.« 76 Das rabbinische Charut/Cherut-Wortspiel, worauf Buber an dieser Stelle, wie im Titel und im Motto dieser Rede anspielt, bezieht er nicht auf die Tafeln der Lehre und des Gesetzes in unserem Besitz, sondern auf die verlorenen Urtafeln des natürlichen Lebens und der Freiheit. Zerbrochen sind hier nicht die Gesetzes-, sondern die Freiheitstafeln. Es ist aber klar, dass wir die neuen bzw. uralten Tafeln nur wieder finden können, wenn wir die in Lehrsätzen und Gesetzen versteinerte Schale der Religion durchbrechen und zum glühenden Kern der Religiosität vordringen. Auch wenn sich der reife Buber von polternder Rebellion fernhält, so sucht er doch stets durch kritische Interpretation der normativen Quellen der Religion die verborgene vitalistische Tradition wieder zu entdecken und wieder zu beleben – dieser nietzscheanische Impuls ist bis in seine Bibelübersetzung zu hören. 77 Biblisch gesprochen, könnte man sagen, die jüdischen Nietzscheaner Berditschewsky, Frischmann, Tschernichowsky, Schne’ur und Buber lassen den Streit am Fuß des Sinai noch einmal aufleben, ob der Rückweg nach Zion unter dem Gesetz oder gegen das Gesetz erfolgen soll (Ex 32, 1) – dieser Streit zwischen Gesetzeshütern und Gesetzesbrechern dauert am Fuß des Zion an.
6.
Vom Obersalzberg
Wir können unsere Bergtour leider nicht mit einem Ausblick auf den Zion beenden, ohne zuvor eine »Todesschattenschlucht« (Ps 23, 4 in 76 Cheruth. Eine Rede über Jugend und Religion, in: Der Jude und sein Judentum, a. a. O.,139. 77 Vgl. meinen Beitrag: Martin Buber und die Musikalität der Bibel, in: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft 13 (2010) 17–37.
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der Übersetzung Bubers) der Shoa zu durchwandern. Gleichgültig wie heftig die nietzscheanische Auflehnung der ostjüdischen Jünger »Zarathustras« gegen das Gesetz vom Sinai auch gewesen sein mag, schließlich wurden sie von den »arischen« Jüngern »Zarathustras« gezwungen, als Zeugen wider Willen für die alten Tafeln ins Feuer zu gehen und doppelt gestraft als Opfer der neuen Tafeln im mittelalterlichsten Sinn des Wortes den Martertod zu sterben. Unschuldig war der Prophet von Sils-Maria an alle dem nicht, auch wenn er sich in einem Brief an seine Schwester vom 7. Februar 1886 als »Anti-Antisemiten« bezeichnete und in einem Wahnsinnsbrief an Overbeck vom 4. Januar 1889 mitteilt, dass er alle Antisemiten erschießen lässt. Sein Lob der Härte und des Krieges, 78 seine Verachtung des Mitleids und der Schwachen, 79 seine Träume von der Übermenschenzüchtung, von der »schonungslosen Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen« und von einer dazu fähigen »neuen Partei des Lebens«, 80 seine maßlose Polemik gegen die alten Tafeln lieferten der faschistischen Rhetorik wichtige ideologische Versatzstücke und bereiteten den Zivilisationsbruch vor. Jedenfalls sahen Nietzsches Nachlassverwalter, Mussolini und Hitler als seine legitimen Erben an. Die Schwester Nietzsches übergab dem »Führer« am 1. November 1933 bei seinem Besuch des Nietzschearchivs in Weimar gleichsam als Stab den Degenstock des bergsteigenden Philosophen und telegrafierte 1934 an ihn und Mussolini: »Die Manen Friedrich Nietzsches umschweben das Zwiegespräch der beiden größten Staatsmänner Europas«. 81 Nicht nur die grandiose Gebirgs»Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen, und den kurzen mehr als den langen!« Za IV, Gespräch mit den Königen, 2, KTA 75, 272–273. 79 Ebd., Der hässlichste Mensch, Za IV, KTA 75, 293–296. 80 Ebd., Vom höheren Menschen, 2, KTA 75, 318. In seinen unveröffentlichten Aufzeichnungen wird der Philosoph konkret. Im Frühjahr 1884 wünscht er sich »Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie war!«, WM, Fr. 964, KTA 78, 643. Ecce Homo, Die Geburt der Tragödie 4, KTA 77, 351. Vgl. R. Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens. München-Wien 2000, 275. Das Thema »Nietzsche und die deutsche Katastrophe« (G. Müller, Gütersloh 1946) ist alt und kontrovers. Vgl. dazu jetzt das Standardwerk von S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults (1992), dt. Übers. K. Laermann. Stuttgart, Weimar 2000, 251–328. 81 E. Naake, Nietzsche und Weimar. Werk und Wirkung im 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2000, 112. 78
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landschaft von Hitlers Berghof passte ins Bild. Auf dem Obersalzberg, schreibt sein ehemaliger Vertrauter, Hermann Rauschning, »über die Welt schwebend, unerreichbar, thront der deutsche Führer […]. Von hier aus wirft er den Jahrhunderten den Fehdehandschuh hin.« 82 Wie sehr sich der neue »Führer« auch inhaltlich gerade in dem uns interessierenden Punkt als Testamentvollstrecker »Zarathustras« fühlte, belegt eine Erinnerung Rauschnings. Er berichtete von einem fanatischen Ausbruch Hitlers im Kreis seiner Paladine gleich nach der Ermächtigung: »Wir kämpfen gegen den ältesten Fluch, den die Menschheit auf sich gezogen hat. Wir kämpfen gegen die Perversion unserer gesündesten Instinkte. Ach ja, dieser Gott der Wüste, dieser verrückte, dumme, rachsüchtige Despot mit seiner Macht Gesetze zu erlassen! Dieser sklavenhalterische Einpeitscher! Dieses teuflische ›Du sollst, du sollst!‹ Und dann dieses törichte ›Du sollst nicht‹ ! Das muss endlich aus unserem Blut verschwinden, dieser Fluch vom Berg Sinai. Dieses Gift, durch das die Juden wie die Christen beschmutzt wurden, die freien und wundervollen Instinkte des Menschen auf das Niveau hündischer Furcht niedergedrückt wurden. […] Was gegen die Natur ist, ist gegen das Leben selbst. Deswegen gehen ganze Nationen unter. Sie töten sich selbst unter diesem Fluch ›Du sollst‹ oder ›Du sollst nicht‹.« ›Du sollst Vater und Mutter ehren‹. […] »Du sollst nicht stehlen. Falsch! Alles Leben ist Diebstahl«. […] »Ich bin der Herr dein Gott. Wer? Dieser asiatische Tyrann? Nein! Der Tag wird kommen, an dem ich den Geboten die neuen Gesetzestafeln entgegenhalten will. Und die Geschichte wird eines Tages unsere Bewegung anerkennen als die große Schlacht zur Befreiung der Menschheit, als Befreiung von Fluch des Berges Sinai, vom dunklen Gestammel der Nomaden, die ihren eigenen gesunden Instinkten nicht mehr vertrauen konnten, die das göttliche nicht mehr akzeptieren konnten außer in Form von Geboten, Dinge zu tun, die niemand mag. Deswegen kämpfen wir gegen: den masochistischen Geist der Selbstquälerei, gegen den Fluch so ge82 H. Rauschning, Hitler m’a dit. Paris 1979, 345 (unsere Übersetzung). Das Hochgebirge war dank der Bemühungen der deutschen und österreichischen Alpenvereine schon seit dem Anfang der Zwanziger Jahre »judenrein« und der Kampfalpinismus war ein bevorzugtes Exerzierfeld des arischen Übermenschen; vgl. R.-P. Märtin, Nanga Parbat. Wahrheit und Wahn des Alpinismus. Berlin 2002. Vgl. auch meinen Aufsatz: Heidegger, Ramon und wir. Erinnerungen aus dem All, in: B. E. Klein und Ch. E. Müller (Hg.), Memoria – Wege Jüdischen Erinnerns. Festschrift Michael Brocke, zum 65. Geburtstag. Berlin 2005, 89–101.
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nannter Moral, die dazu auffordert, den Schwachen gegen den Stärkeren zu schützen angesichts des unsterblichen Gesetzes des Überlebenskampfes, gegen das große Gesetz der göttlichen Natur. Gegen die so genannten Gebote. Gegen all das kämpfen wir.« 83 In diesem Monolog Hitlers erkennen wir unschwer »Zarathustras« Predigt ›Von alten und neuen Tafeln‹ wieder. Seit den akribischen Recherchen von Wolfgang Hänel sind Zweifel an der Glaubwürdigkeit Rauschnings aufgekommen, der nach seinem Abfall von Hitler, den Nationalsozialismus als neonietzscheanische Revolution des Nihilismus darstellte. Aber Hitler und die Nationalsozialisten haben genau nach dieser Vorhersage gehandelt und ihre neuen Tafeln mit der Lizenz zum Töten und Rauben seit den ersten Tagen des Regimes umgesetzt. Das Zerbrechen der alten Tafeln pflegten die Mörder aber nicht nur im übertragenen Sinn durch Mord und Raub, sondern auch wörtlich zu vollziehen. Brocke und Jochum halten in ihrem Buch über die jüdische Theologie nach Auschwitz fest: »Sie schändeten, beschmutzten, vernichteten die Gesetzes-Rollen vor aller Öffentlichkeit […]. GesetzesRollen wurden zerrissen, verbrannt, auf die Straße geworfen und mit Unflat und Exkrementen bedeckt«. 84 Noch in der industriellen Massentötung fehlt dieser metaphysische Aspekt nicht. Raul Hilberg erwähnt in seinem Buch ›Die Vernichtung der europäischen Juden‹ folgendes Zeugnis »Die Vorwand des Gasbaus von Treblinka war unterhalb des Giebels mit einem Davidstern verziert; am Eingang hing ein schwerer, dunkler Vorhang, der aus einer Synagoge stammte, auf dem in hebräischer Schrift geschrieben stand: ›Dies ist das Tor des Herren, durch das die Gerechten schreiten‹ (Ps 118, 20)« (Berlin 1982, 594). Gunnar Heinsohn führt in seinem Buch ›Warum Auschwitz?‹ A. L. Robinson (Hg.), Die zehn Gebote. Zehn Erzählungen über Hitlers Krieg gegen die Moral mit einem Vorwort von H. Rauschning, Neuausgabe bei Fischer: Verboten und verbrannt/Exil. Frankfurt/M 1988, 12 f. Hermann Rauschning (1887–1982), der ehemalige nationalsozialistische Präsident des Senats der Freien Stadt Danzig, der 1936 emigrierte, hat 1943 den Emigranten Armin L. Robinson (1900–1985) in New York zu dem Sammelband angeregt. Der Band eröffnet mit Moses-Novelle ›Das Gesetz‹ von Thomas Mann und erzählt in zehn Kapiteln die Übertretung von jeweils einem der zehn Gebote in Nazi-Deuschtland. Im Vorwort berichtet Rauschning über Hitlers Ausführungen zu den christlichen Kirchen und zum Gesetz vom Sinai und erwähnt, dass er gerade dieses Zeugnis seinerzeit auch dem päpstlichen Nuntius (der spätere Pius XII) und evangelischen Geistlichen mitgeteilt habe. 84 Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust. München 1982, 253. 83
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Um den Sinai
nicht weniger als 42 Theorien zur Erklärung des Holocaust an. Schließlich stellt er fest, dass die Juden vor allem als Verkörperung des Tötungsverbotes getötet wurden: »Hitler«, so Heinsohn, »hat versucht, mit der genozidalen Ausrottung der jüdischen Ethik aus dem deutschen Volk einen entscheidenden strategischen Vorsprung für das globale Völkerringen zu gewinnen«. 85 Dann wären die Juden wirklich als Zeugen des Sinai gestorben.
85 Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit nach Auschwitz. Hamburg 1995, 172.
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Erich Neumanns Tiefenpsychologie und ›Neue Ethik‹ im Kontext jüdischer Nietzscherezeption
I. »Während des Zweiten Weltkrieges und unter seinem Druck entstanden«, so formuliert Neumann die Entstehungsbedingungen seiner Schrift ›Tiefenpsychologie und Neue Ethik‹. Das Vorwort, geschrieben im Mai 1948 in Tel Aviv, gibt der apokalyptischen Sorge Ausdruck, in einer »Epoche des Totentanzes« zu leben, »von dem der Nationalsozialismus in Deutschland nur ein Vorspiel war.« 1 Wozu eine Ethik in diesem Zeitalter?, fragt Neumann: »Was will in dieser Weltsituation die lächerliche Frage nach der Ethik und die noch lächerlichere Antwort, es gehe um das Individuum?« 2 Neumanns Versuch, eine Ethik zu entwerfen, ist eingespannt in das Paradox einer Rettung des einzelnen angesichts einer vollkommenen Weltverfinsterung. Er denkt jedoch von einem der Menschheitsgeschichte inhärenten dynamischen Prinzip her 3 – freilich nicht dem der Vernunft – und nach diesem befinde sich die Welt in einer »Zeit des Übergangs«, einer Zeit des »kollektiven Normenzerfalls.« 4 Im Zentrum der Ethik steht das Phänomen des Bösen, dessen »kollektiver Ausbruch« als »das unsere Zeit brandmarkende Phänomen« dargestellt wird. 5 So setzt Neumann fundamentalkritisch an der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Moralkrise an, die bereits Nietzsche 50 Jahre zuvor diagnostiziert habe. 6 Die Moralkrise ist – so Neumann – das Produkt der »Alten Ethik«, unter der die abendländische Ethik in ihrer jüdischchristlichen Ausprägung zu verstehen ist 7 , deren wesentliches MoE. Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik. Frankfurt/M. 1985, 5 (abgk. TNE im Folgenden). 2 Ebd. 3 Vgl. auch W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt. Pfullingen 1972, 691 f. 4 TNE 13. 5 TNE 7. 6 TNE 12. 7 TNE 11. 1
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Erich Neumanns Tiefenpsychologie und ›Neue Ethik‹
ment »ein Verneinen des Negativen« bei gleichzeitiger Absolutsetzung des Guten sei. 8 Dieser Entkoppelungsvorgang von Gut und Böse in Gestalt zweier sich feindlich bekämpfenden Prinzipien habe schließlich zum »Unwirksamwerden« der Alten Ethik beigetragen, deren Folge und Ausdruck die gegenwärtige Katastrophe sei. 9 Denn die Alte Ethik »hat sich als unfähig erwiesen, die zerstörerischen Kräfte im Menschen zu bändigen.« 10 Oder, noch plakativer: »Die Kriege sind das Korrelat der Alten Ethik.« 11 Neumann ortet eine Zuspitzung dieser prekären ethischen Verfasstheit des abendländischen Menschen im Zeitraum der letzten 150 Jahre, also im »bürgerlichen Zeitalter.« Dieses bzw. dessen Schattenseite repräsentiert für ihn ein abschreckendes Konglomerat aus Hybris, Verblendung und Grausamkeit: »In keiner Zeit ist die illusionistische und wirklichkeitsverschleiernde Wertidentifikation des abendländischen Menschen größer gewesen als in der Epoche des ausgehenden bürgerlichen Zeitalters.« 12 »Hinrichtung, Zuchthaus, Gefängnis, Strafanstalt, Fürsorge, aber auch Schule und Familie sind in verschiedenem Grade als Institutionsformen des ethischen Kollektivs ein hervorragender Ausdruck und ein grauenhaftes Betätigungsfeld gerade der Schattenseite.« 13 Verdüstert wird dieser Befund noch durch den »Vermassungsprozess der Moderne.« 14 Woher nun soll, kann Neues entspringen? Neumann, von einer Dialektik durch Brüche freiwerdender Kräfte her denkend, 15 sieht Ansätze zu »Grundelementen einer Neuen Ethik« 16 aus der Tiefenschicht des Unbewussten emporsteigen. Ausgehend von der These, dass der TNE 17 f. TNE 11. Neumann spricht auch von »der iranischen Grundkonzeption vom Kampf des Lichtes gegen die Finsternis« und verweist damit direkt auf Zarathustra: »Die Menschheit steht vor dem seltsamen und für die alte Ethik paradoxen Problem, dass Welt, Natur und Seele der Schauplatz einer unerschöpflichen Neu- und Wiedergeburt des Bösen sind« (TNE 33). 10 TNE 8. 11 TNE 47. 12 TNE 27 f. 13 TNE 46. 14 TNE 62. 15 Vgl. hierzu A. Löwe, Aktualisierter Messianismus. Zur theologischen Konzeptualisierung von Krisenerfahrung, Identität und Wandlung bei Erich Neumann, in: Analytische Psychologie 40 (2009) 179–202. 16 TNE 12. 8 9
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Einzelne dem Kollektiv immer schon voraus sei, »dass die äußere Kollektiventwicklung zeitlich immer um Jahrzehnte hinter der Entwicklung des Einzelnen nachrollt« 17 , kreisen Neumanns Überlegungen hinsichtlich einer Neuen Ethik ausschließlich um Einzelne, deren »Schicksal […] prototypisch […] für das Kollektiv« ist. »Sie sind die Retorte, in der die Gifte und Gegengifte des Kollektivs destilliert werden.« 18 Wenn man nach der geistigen Handschrift von Neumanns radikaler Abrechnung mit abendländischer Grausamkeit und seiner Hinwendung zum Einzelnen sucht, in dem sich das Neue unter Zurücklassung alter, unbrauchbar gewordener Werte ankündige, stößt man auf das Werk Friedrich Nietzsches. Nicht unzufällig fällt gleich zu Beginn Nietzsches Name im Rahmen der Charakterisierung jener Einzelnen, die eine »Vorläuferfunktion« besitzen. Es sind »die Sensiblen, seelisch Kranken und schöpferischen Menschen«, deren »gesteigerte Durchlässigkeit für die Inhalte des kollektiven Unbewussten, der Tiefenschicht, welche die Geschichte des Gruppengeschehens bestimmt«, sie prädestiniert »für auftauchende neue Inhalte, die vom Kollektiv noch nicht wahrgenommen werden«. 19 Auffallend an ihnen ist ihre »Unzeitgemäßheit, Abseitigkeit und Einzelgängerei, aber auch ihr prophetisches Vorläufertum.« 20 Neumann, der Zionist war, hatte sich 1933 als Jungs Schüler in Zürich eingefunden, jenem Jahr, das den Geschichtsbruch einleitete und damit ihn selbst in Frage stellte. Die Existenz des Galuthjuden schien Neumann eine zutiefst entfremdete zu sein, die er hinter sich lassen wollte. »Sicher haben die Juden in anderen Ländern viel länger gelebt, aber ohne den Kontakt zum Boden, der ihnen durch die Verwurzelung in der Thora verlegt war. Erst jetzt beginnt Palästina aktuell zu werden, mit dem die Geschichte der seelischen Produktivkräfte verschmolzen ist«, schreibt Neumann 1936 an C. G. Jung. 21 Zu seiner persönlichen Gleichung, gewissermaßen seinem Lebensauftrag, wurde die Arbeit an der Aufhebung dieser Entfremdung, worin er sich mit C. G.
17 18 19 20 21
Ebd. TNE 13. Ebd. TNE 14. Unveröffentlichte Briefe Erich Neumanns an C. G. Jung, Brief vom 30. Januar 1936.
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Erich Neumanns Tiefenpsychologie und ›Neue Ethik‹
Jungs Auffassung des Individuationsprozesses verbunden wusste. Am 2. Mai 1934 begann Jung im psychologischen Club Zürich seine ›Zarathustra-Lectures‹ abzuhalten, ein Marathon-Unternehmen, welches bis zum Jahr 1939 dauerte. Neumann stand auf der Liste der Seminarteilnehmer, 22 und es ist wahrscheinlich, dass er an einigen der wöchentlich stattfindenden Seminare teilnahm. 1934 verließ Neumann Zürich, wohl mit Nietzsche im Gepäck, um von dort aus nach Palästina auszuwandern. Steven Aschheims Kurzkommentar zu Jungs ›Zarathustra-Lectures‹ lautet: »Jung machte aus Nietzsche einen Propheten des Begriffs des kollektiven Unbewussten ebenso wie ein lebendiges Exempel für dessen innere Vorgänge; er sieht also in ihm seine eigene Auffassung der Psychoanalyse bestätigt.« 23 In Neumanns Werk, insbesondere seinem frühen, das in großer geistiger Isolation in Palästina entstand, im wesentlichen vom Gedankenaustausch im Briefwechsel mit C. G. Jung begleitet, kreuzen sich auf eigenwillige Weise zwei Denkorientierungen: die Jung’sche mit jener bislang in der Neumann-Rezeption unbeachtet gebliebenen eines Jüdischen Nietzscheanismus. Achad Haam, der diesen Begriff prägte, 24 wollte damit einerseits eine denkerische Nähe des Judentums zu Nietzsches Geisteswelt, andererseits Auflehnung gegen das konventionelle Judentum zum Ausdruck bringen. Über Jahrzehnte hinweg war die Wirkung von Nietzsches Werk auf Juden, seien es traditionalistische, säkulare, ost- oder westeuropäische, nationalistische wie auch assimilierte – außerordentlich stark und bedeutsam, wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise. 25 Nietzsche ist als Autor zu sehen, durch den jüdische Intellektuelle am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer für sie neuen, lebbaren Form jüdischer Selbstbestimmung finden konnten. Es war insbesondere der Nietzsche, der die »Umwertung aller Werte« verkündete, der einen Jüdischen Nietzscheanismus entstehen ließ. »Der moral- und kulturkritische, kämpferische, prophetische, apokalypti22 Jung’s Seminar on Nietzsches Zarathustra (edited and abridged by J. L. Jarrett), Bollingen Series XCIX. Princeton NJ 1998, S. XXV. 23 S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, Karriere eines Kults. Stuttgart, Weimar 2000, 9. 24 F. Niewöhner, Jüdischer Nietzscheanismus seit 1888 – Ursprünge und Begriff, in: W. Stegmaier u. D. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus. Berlin, New York 1997, 22. 25 Stegmaier u. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., S. XX.
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sche Nietzsche« wusste neue Gedanken zu entfachen. 26 In Situationen großer Spannungen und Auseinandersetzungen konnte Nietzsche Mut machen, Altes aufzugeben und zu neuen Ufern aufzubrechen. Die intellektuelle Elite dieser Generation stellte die Tradition der rationalistischen Aufklärung und ihre Werte in Frage. Die antibürgerliche neoromantische Stimmung jener Jahre, nicht zuletzt mit ihrer Betonung der schöpferischen Rolle des Mythos, verband reformistische zionistische Bestrebungen mit Bedürfnissen nach persönlicher und kollektiver Erneuerung im Sinne einer zu neuem Leben erweckten Nation freier und schöpferischer Individuen. 27 In dieser wesentlich durch Martin Buber eingeleiteten »Renaissance des Judentums« machte sich nietzscheanisches Denken geltend. Vor allem durch Buber, auf den die Lektüre des ›Zarathustra‹ »wie eine Offenbarung« gewirkt hatte, 28 wurde Nietzsche dem deutschen Zionismus assimiliert. 29 Nietzsche, der im Zarathustra selbst die überzeugende Maske des Propheten anlegte, hatte dort den »Einsamen von heute«, den »Ausscheidenden« »die gute Botschaft« verkündet, sie sollten »einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk wachsen: – und aus ihm der Übermensch«. 30 Und, mehr noch, die Juden als Volk, das in der Geschichte bisher immer die größte Kraft zur Umwertung von Werten bewiesen hätte, wären imstande, so Nietzsche, zum moralischen »Gesetzgeber« Europas zu werden. 31 Zarathustras Aufruf: »Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln« 32 wurde zur Losung jüdischer Nietzschea-
Ebd. S. XVII. S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Stuttgart, Weimar 2000, 105; ebenso von S. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish consciousness, 1800–1923. Madison Wisconsin, 1982, insbes. Kapitel 4 u. 5. 28 Stegmaier u. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., S. XXIX. 29 Martin Buber unterhielt über die Jahre eine wechselnde, aber leidenschaftliche Beziehung zu den Schriften Nietzsches, die sein Werk in all seinen Phasen nachhaltig beeinflusste (vgl. hierzu P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog. Königstein/Ts. 1978). Bubers Frühwerk weist thematisch und sprachlich in vieler Hinsicht Ähnlichkeiten mit ihnen auf (vgl. hierzu auch S. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, a. a. O., 107). Hervorzuheben in diesem Kontext ist Bubers Schrift: Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte, in: Die Kunst im Leben I,2 (Dezember 1900), 13. 30 Kritische Studienausgabe (KSA), Band 4. München, Berlin, New York 1980: Also sprach Zarathustra I, 100 f., zit. Stegmaier u. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., S. XVI. 31 KSA 5: Jenseits von Gut und Böse, 211, zit. ebd. S. XVII. 32 KSA 4: Also sprach Zarathustra III, 253. 26 27
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ner. 33 Vermutlich ist Neumanns kontrastierende Gegenüberstellung »Alte Ethik – Neue Ethik« in Analogiebildung zu Nietzsches berühmtem Kapitel »Von alten und neuen Tafeln« aus dem dritten Teil des ›Zarathustra‹ entstanden. Dem Ruf Nietzsches, alte Tafeln zu zerbrechen, leistet Neumann in seiner Ethik im wörtlichen Sinn Folge, etwa, wenn er von der »Zertrümmerung der alten Werte«, 34 spricht oder Abraham nennt, »der die Götzen seines Vaters zerschlug«. 35 Oder Nietzsche zitierend, 36 auf dessen Wortspiel vom »Brecher« – »Verbrecher« verweist: Die Neue Ethik wurde zu Neumanns umstrittensten Buch; sie löste vor allem in Zürich einen Sturm der Entrüstung aus und führte fast zum Bruch mit den Zürcher Jungianern, ebenso waren die Umstände ihrer Veröffentlichung von dramatischen Brieftönen zwischen Neumann und Jung begleitet. Doch dazu am Schluss noch einige Bemerkungen. Zunächst eine kurze Übersicht zum Inhalt der neuen Ethik, an die sich eine Analyse jüdisch- nietzscheanischer Spuren in Neumanns Ethik anschließen wird. II. Sowohl Titel und Kapitelüberschriften der kurzen Streitschrift zeigen an, dass Altes überwunden, Neues geschaffen werden soll. 37 Durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts desavouierte sich die alte Ethik, und eine nihilistische Geisteshaltung nahm Platz auf dem Trümmerfeld der alten, einstmals hochgehaltenen Werte. Nun ist aber gerade diese alte Ethik haftbar für jene Katastrophen zu machen. Dies begründet Neumann mit den durch die alte Ethik geforderten Anpassungsstrategien, denen der einzelne zwecks Erfüllung kollektiver Normen unterworfen ist, was zu Fremdbestimmung und Entfremdung führt. Einer dadurch geprägten Persönlichkeit bescheinigt Neumann ein »Als-ob-Leben, ein scheinheiliges Leben in Heuchelei und Lüge.« 38 33 Ebd. III, 251, zit. D. Krochmalnik, Neue Tafeln, Nietzsche und die die Jüdische Counter History, in: Stegmaier u. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., 56 f. 34 TNE 49. 35 TNE 24. 36 Ebd. – Bei Nietzsche heißt es: »Den Schaffenden hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und alte Werthe, den Brecher – den heißen sie Verbrecher« (KSA 4: Also sprach Zarathustra III, 266). 37 Die Schrift umfasst vier Kapitel: Alte Ethik – Stufen ethischer Entwicklung – Die Neue Ethik – Ziele und Werte der Neuen Ethik. 38 TNE 27.
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Zugleich zeigt sich darin das »Gesicht einer gespaltenen seelischen Kollektivstruktur.« 39 In tiefenpsychologischer Terminologie handelt es sich hier um eine »Spaltung in die Wertwelt des Bewusstseins und Unwertwelt des Unbewussten.« Das »führt zu Schuldgefühlen und Stauungen mit anschließenden Ausbrüchen.« 40 Lässt sich diese Spaltung verhindern und wenn, wie? Neumann sieht eine beginnende Umorientierung induziert durch die »seelische Krise«, d. h. die nihilistische Positionierung des modernen Menschen, durch einzelne, die, sofern sie tiefenpsychologisch orientiert sind, eine spezifische Desillusionierung erfahren, nämlich sich »als böse und krank, als asozial und leidend, als hässlich und beschränkt (zu) erkennen, ein analytischer Weg, der die Inflation des Ich auflöst«. 41 Neumann sieht die »Assimilierung der Primitivseite der eigenen Natur« als unhintergehbare Forderung einer grundlegenden ethischen Korrektur, denn erst diese »kann zu einer stabilen Form menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühls und kollektiver Mitverantwortung führen«. 42 Neumann unterscheidet unterschiedliche moralische Entwicklungsstufen. Bei höheren Persönlichkeitsstrukturen spricht er von der Instanz der »Stimme«, die das Kollektivgesetz des Gewissens ausschaltet. Das Gewissen als Repräsentant des kollektiven Über-Ich sieht er als einen von außen kommenden heteronomen Einfluss, dem sich die »Stimme« als Ausdruck einer inneren Offenbarung des Neuen und sich Entfaltenden, dessen, was zu kommen hat,« gegenüberstellt. 43 Diese radikal individualisierte Form der neuen Ethik ist – so Neumann – »nicht kanonisierbar und kann nicht Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden »ohne Ansehen der Person«. 44 Die aus diesem Ansatz sich ergebenden Aporien sollen im Weiteren nicht diskutiert werden. III. Ich möchte mich nun der Rezeptionsgeschichte Nietzsches zuwenden, jenem Nietzsche, der die »Umwertung aller Werte« verkündete, TNE 41. TNE 48. 41 TNE 73. 42 TNE 95. 43 TNE 123; vgl. auch hierzu: »Dieses Phänomen wurde früher nur bei den genialen ethischen Persönlichkeiten sichtbar und wirksam, heute betrifft es bereits eine viel größere Schicht des individualisierten abendländischen Menschen« (TNE 111). 44 Ebd. 39 40
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dessen gedankliche Strahlkraft einen Jüdischen Nietzscheanismus entstehen ließ. D. Krochmalnik hebt insbesondere die Struktur der Counter-History, also das Phänomen der »Gegengeschichte« als »bevorzugte Ausdrucksform des jüdischen Nietzscheanismus« hervor, 45 strukturell als Anklageforum zu verstehen: »Geschichte wird vom Standpunkt einer Gegengeschichte dem Gericht unterworfen«, um ihren Bann zu brechen. Gegengeschichte hat also die Funktion emanzipatorischer Rebellion. Der Geschichtsverlauf wird aus der Perspektive des Ausgeschlossenen, nicht zuletzt aus dem Blickwinkel der Bibel rezipiert. Das eröffnet eine neue Betrachtungsweise und, damit verbunden, einen neuen Geschichtsentwurf. 46 Das Kriterium der Counter-History, das in der Umschreibung der Geschichte wirksam ist, ist aber kein anderes als die Umwertung aller Werte. 47 Betrachten wir das Prinzip »Gegengeschichte« zunächst aus dem Blickwinkel der Bibel. Die jüdischen Nietzscheaner verstehen sich, wie bereits gesagt, als die Brecher der alten Tafeln und Stifter neuer oder als Entdecker uralter »verborgener Tafeln«, 48 was zu einem starken Engagement für die »Wiedergeburt des jüdischen […] Mythos« führte. 49 »Religion des Mythos aus den Quellen des Judentums« war für nicht wenige intellektuelle Juden der Generation um 1900 ein bewusst gewähltes antiliberales Programm. So waren etwa für Oskar Goldberg der Pentateuch, für Buber die Bibel und die chassidischen Legenden, für Micha Josef Berdyczewski die Sagen des Midrasch und der Aggada, für Gershom Scholem die Kabbala verdrängte Quellen der jüdischen Mythologie. Zugleich lassen sich diese Bestrebungen als »reaktive Remythisierungsschübe auf den rabbinischen Rationalismus« ansehen. 50 Auch Neumann – in einem seiner unveröffentlichten Manuskripte – glaubt an eine Wiederbelebung des Judentum durch eine spezifische 45 D. Krochmalnik, Neue Tafeln, a. a. O., 59 (David Biale hatte diesen Begriff in seiner Scholem-Biografie erstmals verwendet: Gershom Scholem, Kabbalah and counter-history. Cambridge Mass. 1979). 46 Ebd. 81. 47 Ebd. 74 48 Ebd. 74 ff. Vgl. hierzu ›Der Antichrist‹ Nr. 26, wo Nietzsche sich gegen die jüdischen Priester wendet: »sie haben aus den mächtigen, sehr frei geratenen Gestalten der Geschichte Israels […] armselige Ducker und Mucker oder »Gottlose« gemacht, sie haben die Psychologie jedes großen Ereignisses auf die Idioten-Formel ›Gehorsam oder Ungehorsam gegen Gott‹ vereinfacht« (KSA 6: Der Antichrist, 196). 49 D. Krochmalnik, Neue Tafeln, a. a. O., 70 f. 50 Ebd. 71.
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Bibellektüre, deren Nähe zu Nietzsches Haltung gegenüber dem Alten Testament, wie sie in Kapitel 25 und 26 des Antichrist zum Ausdruck kommt, unverkennbar ist. 51 »Das hat immer den unvergleichlichen Reiz und die ehrfurchtgebietende Groesse der Bibel ausgemacht – wenn wir jetzt einmal von ihrem entscheidenden religiösen Inhalt absehen –, dass eine so starke Erdachse in ihr herrscht, eine Unverstelltheit im Guten und Bösen, die kein Volk und keine Zeit der Welt kennt. Diese letztlich höchst untheologische Haltung hat immer das Ressentiment aller christlichen und jüdischen moralisierenden Beurteiler geweckt. Diese diesseitsverflochtene Unbekümmertheit und Frommheit ist groß genug, um es zu erlauben, den Stammvater, der mit dem Engel ringt und ihn besiegt, trotzdem mit Geschick seine Habe vermehren zu lassen und zu gestatten, dass der Gesetzgeber vom Sinai ein Totschläger und Schüchterner zugleich ist. Es ist eine Kraft der Lebendigkeit, die den gotterfüllten Simson durch eine fremde Hure umkommen lässt und trotzdem an seiner Gotterfülltheit festhält, und die David, dem König und Volksund Gottesliebling, Ehe zu brechen, zu morden und feige zu sein, fast zugesteht. Man vergleiche damit die heroisierenden Bemühungen z. B. der Neu-Germanen, und man wird verstehen, was auffällig ist, aber sonst nicht ganz durchsichtig war, mit welcher Leidenschaft eine missdeutende Theologie z. B. ihr Gift an den jüdischen Menschen des Alten Testaments verschenkte, dessen Unverstelltheit gerade ihr Missfallen und ihre Fehlbewertungen hervorrief. Nietzsches Blick hat auch hier beide Seiten richtig gesehen, die Grösse und Urwüchsigkeit des Alten Testaments ebenso wie die Verpfarrerung seiner Beurteiler.« 52 Nietzsches Blick begleitete nicht nur Neumanns Entwurf einer
Siehe auch folgende Passage bei Nietzsche: »Im jüdischen ›Alten Testament‹, dem Buch von der göttlichen Gerechtigkeit, gibt es Menschen, Dinge und Reden in einem so großen Stile, dass das griechische und indische Schrifttum ihm nichts zur Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesen ungeheuren Übrigbleibseln dessen, was der Mensch einstmals war und wird dabei über das Alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen Europa, das durchaus gegen Asien den »›Fortschritt des Menschen‹ bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben. […] Der Geschmack am Alten Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf ›groß‹ und ›klein‹ […]« (KSA 5: Jenseits von Gut und Böse, 72). 52 E. Neumann, Beiträge zur Tiefenpsychologie des jüdischen Menschen und zum Problem der Offenbarung (während der 30ger Jahre entstandenes unveröffentlichtes Manuskript), S. 59 f. (abgk. BTJM im Folgenden). Vgl. dazu auch TNE 135. 51
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Tiefenpsychologie des jüdischen Menschen, sondern zeigt sich in grundsätzlichen Gedanken seiner Ethik. Die Neue Ethik lässt sich als Transposition von Neumanns Nietzsche-Lektüre, speziell des ›Zarathustra‹, in eine tiefenpsychologischphilosophische Partitur lesen. Als thematischer Hintergrund – neben der eingangs genannten Traumatisierung durch den Holocaust – lässt sich die Auseinandersetzung mit der für Neumann wie für viele Zionisten spezifischen Familienkonstellation mit ihrer Unauflöslichkeit und daraus resultierenden unerträglichen Schuldgefühlen vermuten. Die innerjüdischen Generationenkonflikte zu Beginn des 20. Jahrhunderts – im Elternhaus Neumanns geradezu prototypisch – nahmen zum Teil höchst komplexe Formen an: »Blieben die Väter orthodox, hatten sie mit der Rebellion ihrer Söhne zu rechnen, assimilierten sie sich, wurden sie durch den Antisemitismus diskreditiert, und ihre Söhne kehrten zum Judentum zurück. In keinem Fall konnten sie sich von ihrem Judentum […] einfach abkehren; der Antisemitismus ließ es nicht zu.« 53 Nietzsches ›Zarathustra‹ konnte symbolisch wahrgenommen werden als einer, dessen Wiederkunft die Bedeutung einer fundamentalen ethischen Korrektur hatte. »Zarathustra steht bei Nietzsche für einen einzelnen, der auf eigene Verantwortung Begriffe von Gut und Böse bildete, die dann mehr und mehr zu allgemeinen Begriffen wurden. So sollte er es sein, der diese Begriffe wieder aufhob. Nachdem er Lehrer für Jahrtausende gewesen war, sollte er nun eine neue Zukunft schaffen.« 54 Mit der Wiederkehr des ›Zarathustra‹ als eines Umformers, ja Zerstörers alter, unbrauchbar und starr gewordener ethischer Prinzipien gestaltete Nietzsche eine kunstvolle Zeit-Klammer, die ihm erlaubte, in Jahrtausenden zu denken und mit den ethischen Prinzipien von Jahrtausenden, genauer jenen der abendländisch-christlichen Moral, der Alten Ethik abzurechnen. So entwickelt Nietzsche eine fulminant provozierende, Traditionen radikal in Frage stellende Kritik an jener Moral und skizziert zugleich umrisshaft Ansätze einer neuen Moral. Ebenso durchzieht Neumanns Schrift, dessen entscheidende Koordinaten das Begriffspaar gut und böse bildet, eine Generalanklage gegen die abendländisch-christliche Moral. Ich möchte im Folgenden D. Krochmalnik, Neue Tafeln, a. a. O., 76 f. W. Stegmaier, Hauptwerke der Philosophie. Von Kant bis Nietzsche. Stuttgart 2005, 409. 53 54
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versuchen, drei für Neumanns Ethik wesentliche begriffliche Kontrastpaarungen, deren Struktur sich wesentlich aus dem oben skizzierten Prinzip der jüdisch-nietzscheanischen Counter-History speist, darzustellen.
1.
Gewissen – Stimme
Die Gestalt des ›Zarathustra‹ als wuchtiger Zertrümmerer alter Werte und Prophet neuen Lebens verhalf Neumann, wie anderen Zionisten, deren Leben von Abbrüchen, Umbrüchen und Neuanfängen geprägt war, zum Recht auf jenen zentralen Gedanken, die eigene unmittelbar gelebte Traditionslinie zu unterbrechen, um an anderer Stelle neu anzuknüpfen, inspiriert, wie bereits erwähnt, durch eine Relektüre der Bibel. Die als Offenbarung verlautbarte Weisheit und ebenso jene revolutionär umstürzlerischen Züge ›Zarathustras‹ 55 ermöglichten den jüdischen Nietzscheanern eine Rückbesinnung auf die transformativen Kräfte des prophetischen Wortes. Der Prophet ist bei Neumann – in Analogie zu Zarathustra, dem Einsamen – dem prototypisch »großen Einzelnen« zuzuordnen, seine das Wort Gottes offenbarende Stimme steht paradigmatisch für das im Einzelnen schlummernde ursprüngliche Potential. Ahnendes Vernehmen, ja die Vorwegnahme tiefster Inhalte als das Walten des schöpferischen Unbewussten ist einer der zentralen Gedanken, mit dem Neumanns Ethik steht und fällt, den er »die Stimme« nennt. Der Gedanke kulminiert in der zur Stimme in Antithese gesetzten Gewissensinstanz, die kollektiv orientiert, traditionsgebunden und fremdbestimmt ist. Die »Stimme« hingegen ist zukunftweisend, schöpferisch, individuell und selbstverantwortlich im Einzelnen wirksam. Neumanns bereits erwähntes unveröffentlichtes Manuskript ›Zur Tiefenpsychologie des jüdischen Menschen‹ ist wesentlich einer Phänomenologie des Prophetentums und des prophetischen Wortes gewidmet. Hier heißt es: »Es steht hinter dem Ergriffensein des Propheten, wie jedem vom »Geist« Ergriffenen etwas, was »laut« werden will, Nietzsche bemerkte u. a. in ›Ecce Homo‹ (KSA 6), dass der Zarathustra wie eine »Offenbarung« über ihn gekommen sei; ›Warum ich so gute Bücher schreibe‹ : Also sprach Zarathustra, 3, zit. Stegmaier, Hauptwerke der Philosophie von Kant bis Nietzsche, a. a. O., 403.
55
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was sich »aussprechen« will, was als Wort oder Spruch ins Leben einzugreifen bestimmt ist.« 56 Neumanns Verwerfung der Macht des Gewissens als der Zentralinstanz der Alten Ethik speist sich gänzlich aus Nietzsches in ›Ecce Homo‹ formulierter Zusammenfassung des zweiten Teils seiner ›Genealogie der Moral‹. Hier heißt es: »Die zweite Abhandlung gibt die Psychologie des Gewissens: dasselbe ist nicht, wie wohl geglaubt wird, »die Stimme Gottes im Menschen« – es ist der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet, nachdem er sich nicht mehr nach außen hin sich entladen kann. Die Grausamkeit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten Kultur-Untergründe hier zum ersten Male ans Licht gebracht. Vor allem fehlte ein »Gegen-Ideal« – bis auf Zarathustra.« 57 Eben jene Grausamkeit, die bei Nietzsche ihren Niederschlag in der Formel vom Gewissen qua Ressentiment fand, repräsentiert Neumann zufolge die Alte Ethik: »Sowohl die Inquisition wie der Puritanismus, das gesetzestreue Judentum des Pharisäers ebenso wie die Disziplinierung des Preußentums stehen unter diesem psychologischen Gesetz.« 58 Diese Grausamkeit gilt es zu überwinden, was einem revolutionären Akt gleichkommt, als dessen einzige Grundlage »innere Offenbarungsakte im großen Einzelnen« 59 gelten können. »Der Revolutionär jeder Art steht immer auf Seiten der inneren Stimme und gegen das Gewissen seiner Zeit, das jeweils Ausdruck der alten herrschenden Werte ist.« 60 Die »Verbrecher der inneren Stimme sind Vorläufer einer 56 BTJM 65; vgl. auch folgende Passage: »Den Gegensatz zu diesem erd- und diesseitsverhafteten Juden bilden die Propheten, die im Urerlebnis von JHWH als dem einbrechenden Gott erfasst werden in der numinosen Übermacht seiner ambivalenten GeistNatur« (BTJM 62). – Und Bibel, religiöse Urerfahrung und C. G. Jung miteinander verbindend: »Diese Seite der Gottheit ist aber, worauf Jung gerade wieder hingewiesen hat (Bruder Claus) als deus absconditus, eine unausweichliche Realerfahrung des religiösen Menschen, der nicht idyllisierend »religiöse Erlebnisse« hat, sondern der vom Abgrund der inneren Seite angesehen und angerufen worden ist. […] Von dieser Früherfahrung des Numinosen geht alle prophetische Erfahrung aus« (BTJM 63). 57 KSA 6: Ecce Homo, 353. Vergleiche auch folgende Stelle: »Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit […] zurückgedrängte, zurückgetretene, ins Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen« KSA 5: Zur Genealogie der Moral, 325. 58 TNE 45. 59 TNE 53. 60 TNE 25.
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neuen Ethik,« 61 sind doch Werte immer schon »durch Offenbarung der Stimme, die im begnadeten Einzelnen spricht«, entstanden. 62
2.
Vater – Sohn
Die Kontrastierung des Gewissens mit der Stimme steht in Analogie zu einer Neuakzentuierung des Generationenkonflikts nach folgendem Modell: Das Alte steht dem Neuen entgegen, das Vergangene dem Zukünftig- Ahnungsvollen, das Starre, Sklerotisch-Traditionelle dem Kreativ-Lebendigen, das Konventionelle dem Individuellen. Die Erstarrung zu konventionellem Traditionalismus sieht Neumann als Folge der »absoluten Forderungen«, deren Unerfüllbarkeit im Fluch der »Erbsünde« ihren Niederschlag finden. 63 Dies führe – so Neumann – unweigerlich zur »Ablehnung des Lebens in dieser Welt«, zur »Ablehnung der Erde und des Irdischen und nicht zuletzt« zur »Ablehnung des Menschen selber.« 64 Diese Kontrastierungen sind typisch für die Generation, der Neumann angehörte, für eine spezifische innerjüdische Familienproblematik – in seinem Fall das assimilierte, kaisertreue Elternhaus. Die älteren Geschwister waren ebenfalls assimilierte Juden ohne Beziehung zum Judentum. Erich Neumann war der zionistische Außenseiter, dem die Wiederbelebung verborgener jüdischer Quellen zutiefst am Herzen lag, der schließlich emigrierte, um zu »seinen Wurzeln« in Palästina zurückzufinden. Hier wirkte Nietzsches ›Zarathustra‹ als »Zerschmetterer« der Moral der »frommen Hinterwäldler« befreiend, da er es wagte, die Gebote des Dekalogs als lebensfeindlich anzuprangern. Im Kapitel ›Von alten und neuen Tafeln‹ im dritten Teil des ›Zarathustra‹ heißt es: »Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch neue, halb beschriebene Tafeln.« 65 Auf diesen neuen, halbbeschriebenen Tafeln steht nun nichts mehr von der Ehrung von Vater und Mutter, vielmehr etwas von der Wiedergutmachung an den Kindern: »An
61 62 63 64 65
Ebd. 25. Ebd. 53. TNE 116. Ebd. KSA 4: Also sprach Zarathustra III, 246.
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euren Kindern sollt ihr gutmachen, dass ihr eurer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch!« 66 Auf Neumanns »neuer Tafel« können wir lesen: »Immer und unausweichlich hat die Stimme »Sohn« – Charakter gegenüber dem »Vater«-Charakter des Gesetzes.« 67 Diese neue Tafel ist in absichtsvoll zugespitzter Gegenakzentuierung zu Freuds »alter Tafel« zu lesen, besonders in jenem Punkt, wo »das Drama des Vatermords, wie Freud es in ›Totem und Tabu‹ gedichtet hat,« als »Ursprungsgeschichte des Über-Ich zu gelten« hat und damit unter das zuvor zitierte Nietzschesche »Grausamkeits-Verdikt« gegenüber der alten Moral fällt, die es zu überwinden gilt. 68 Ursprüngliche, in Jungianischer Sprache »archetypische Tafeln«, sollen nun dem Gesetzesformalismus der im Dekalog formulierten ethischen Prinzipien gegenübergestellt werden. Wenn das LebendigZukünftige dem Archetyp des Kindes, in Neumanns Sprache dem Sohn, zuzuordnen ist, ist jeweils die Überwindung des Alten im archetypischen Bild des Vatermords enthalten. Keinesfalls sei, so Neumann, dieses Bild zu verwechseln mit der Beziehung zum persönlichen Vater, denn »entwicklungsgeschichtlich treten phylogenetisch ebenso wie ontogenetisch die überpersönlichen kollektiven Inhalte vor der Bildung der persönlichen Inhalte auf […]. Der Mythos geht dem Familienroman voraus.« 69 In diesem Sinn bleibt »der Vatermord durch den Sohn […] ein ewiges Urbild der inneren Geschichte der Menschheit und des Menschen.« 70 Für dieses archetypisch- revolutionäre Geschehen führt Neumann folgende Beispiele an: »Diese Beziehung besteht keineswegs nur zwischen der Sohn – Religion des Christentums und der Vater-Religion des Judentums, sondern derselbe Archetyp beherrscht den Mord des Vater-Papstes, der ja der Papa ist, durch den Ketzer Luther, wie umgekehrt im Judentum die Sohnrevolution des Chassidismus gegen die vatertypische Position des Rabbinismus.« 71
66 67 68 69 70 71
Ebd. 255. TNE 123. TNE 121. TNE 122 f. TNE 123. Ebd.
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3.
»Der hässlichste Mensch«
Die Umsturzabsicht des »Verbrecher«-Sohnes richtet sich nun gegen die abendländische Ethik in ihrer jüdisch-christlichen Ausprägung 72 , deren wesentliches Moment – so Neumann – »ein Verneinen des Negativen« bei gleichzeitiger Absolutsetzung des Guten sei. 73 Der revolutionäre Hebel wird hierbei am verleugneten Negativen angesetzt, von Neumann als »Einbruch der Dunkelseite des abendländischen Bewusstseins« apostrophiert. 74 Diese Dunkelseite ist für ihn durch den Jungschen Schattenbegriff repräsentiert. 75 Der Schatten ist das Ausgesperrte schlechthin. »Asozial, […] gierig, grausam, […] böse, arm und elend, […] Bettler, […] Neger, […] Tier« 76 . Oder ein »Buckliger« 77 . »Der Schatten […] ist der Outcast des Lebens.« 78 Gesellschaftspolitisch und kulturell macht sich dieser Outcast allerdings deutlich bemerkbar; von ihm geht »eine tiefe unheimliche und gefährliche Faszination aus.« 79 »Der kranke Mensch, der Psychopath und der Irre, der Degenerierte und Krüppel, der Fürsorgebedürftige, Anormale und Kriminelle erregen die Anteilnahme des heutigen Menschen.« 80 Ebenso dringt »das Hässliche, Dissonante und Böse […] in die Kunst ein.« Neumann weist auf »das Atonale in der Musik« hin, und er nennt »Dostojewski, für den der kranke, böse und abgründige Mensch im Zentrum der Verzweiflung steht.« 81 Dieser Outcast wird nun aber auch für den einzelnen erfahrbar als »der dunkle Bruder« in der eigenen Seele. »Die Begegnung mit der anderen Seite, dem negativen Teil, erfolgt in einer Fülle von Träumen, in denen er als Bettler, und Krüppel, Outcast und Böser, Narr und Erfolgloser, Erniedrigter und Beleidigter, Räuber und Kranker dem Ich entgegentritt.« 82 Dort, »wo die Persönlichkeit ihre Zusammengehörigkeit mit dem Feind der Menschheit, 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82
TNE 11. TNE 17 f. TNE 76. TNE 75. TNE 92. TNE 75. TNE 92. TNE 78. Ebd. Ebd. TNE 72.
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dem Aggressions- und Destruktionstrieb, in der eigenen Struktur erfährt,« 83 in diesem folgenschweren Zusammenprall also mit dem Unbewussten, in dem »die inflationistische Selbsterhöhung geopfert werden muss,« 84 sieht Neumann eine Brücke »zur Versöhnung mit dem dunklen Bruder der Menschheit überhaupt.« 85 An zentralen Stellen dieser Überlegungen zum »dunklen Bruder« wird Nietzsche als gedanklicher Mentor genannt, in Gesellschaft anderer »Zerstörer alter Werte«: »Die Zerstörung der alten Werte umfasst den Darwinschen »Nachweis« der menschlichen Verwandtschaft mit dem Affen, die Bibelkritik und die These, den Geist als Epiphänomen des Ökonomischen zu verstehen, ebenso wie das ›Jenseits von Gut und Böse‹ von Nietzsche und die ›Zukunft einer Illusion‹ von Freud.« 86 Explizit bezieht Neumann sich auf Nietzsches »hässlichsten Menschen«, jener Gestalt aus dem vierten Teil des ›Zarathustra‹. 87 Zur »Entdeckung des »hässlichsten Menschen«, 88 die »einen […] großen Raum im Kulturleben unserer Zeit« einnimmt, 89 erfahren wir im Briefwechsel Neumanns mit C. G. Jung Entscheidendes: In einem Brief vom 25. 5. 1957 spielt Neumann auf die Entstehungsbedingungen der TNE 73. TNE 74. 85 TNE 92: vgl. auch folgende Stelle: »Sich als Infantilwesen und Missglückten, als Unglücklichen und Hässlichen, als Tiermenschen und Verwandten des Affen, als Sexualwesen und als Herdentier zu erkennen, bringt gewiss schon eine schwere Erschütterung für jedes Ich« (TNE 73). 86 TNE 7. Vom »Ideal der blonden Bestie« spricht Neumann ebd. 81. 87 F. Nietzsche, KSA 4: Also sprach Zarathustra IV, 327 ff. Zarathustra gelangt in ein Tal, wo ein abstoßend hässliches Wesen am Weg sitzt. Zarathustra wendet voll Scham seinen Blick von ihm ab. Das Wesen, der hässlichste Mensch, ist der Mörder Gottes. »Er habe Gott deshalb getötet, weil dessen Mitleid mit seiner Hässlichkeit und Schmach schamlos gewesen sei: Selbst in die letzten Winkel seines Elends habe dieser Gott geschaut und ihn in allem erkannt. Einen solchen Zeugen seiner gequälten Existenz vermochte der hässlichste Mensch nicht zu ertragen. Er dankt und lobt Zarathustra für seine Verachtung des Mitleids.« Vgl. B. Himmelmann, Zarathustras Weg, in: V. Gerhardt (Hg.), F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Berlin 2000, 42. 88 Vgl. hierzu auch eine Passage der Vorlesung vom 24. Juni 1936 der ›ZarathustraLectures‹, in der Jung sich auf Fragen des offensichtlich brieflich am Seminar teilnehmenden Neumann bezieht. Eine Frage bezieht sich explizit auf »the rejection of the inferior function or the ugliest man« (Jung’s Seminar on Nietzsche’s Zarathustra, a. a. O., 247 ff.). 89 TNE 77. Im Zusammenhang mit Nietzsches »hässlichsten Menschen« folgen bei Neumann Überlegungen zum Begriff »Erde«, ebenso zur Thematik des Bösen, wie wir sie ebenfalls im Zarathustra wieder finden können 83 84
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Ethik-Schrift an. Neumann bezieht sich zunächst auf Jungs »schöne Schrift« ›Gegenwart und Zukunft‹. 90 »Mir persönlich war es eine Freude, dass Ihre Schrift meiner so schlecht weggekommenen ›Neuen Ethik‹ wenn auch natürlich im Verborgenen, die Hand reicht. Denn wenn ein Leser Ihrer Arbeit sich nun fragt, was ist nun eigentlich zu tun, dann stößt er auf die Probleme, die mich seinerzeit, im Zweiten Weltkrieg, mit Rommel vor der Tür, zu dieser Arbeit gezwungen haben. Aber eigentlich ist diese Genese nicht ganz richtig, denn die tiefere Ursache waren innere Bilder, in denen es um das Böse und den »Affenmenschen« als Zerstörer ging, innen wie außen.« 91 Drei Wochen später, am 14. 6. 1957, sollte Neumann Jung Genaueres von diesen »inneren Bildern« berichten als Reaktion auf einen schnellen Antwortbrief Jungs, der Neumann »sehr gerührt« hat. »Die Neue Ethik ist der Versuch gewesen, eine Phantasiereihe zu verarbeiten, die zeitlich ungefähr mit den Judenvernichtungen übereinstimmte, und in der sich das Problem des Bösen und der Gerechtigkeit bei mir austrug. Ich knabbere immer noch an diesen Bildern, an deren Ende, abgekürzt, folgendes steht. Ich schien im Auftrag zu stehen, den Affenmenschen im Urloch der Tiefe zu töten. Als ich an ihn herangeriet, hing er, nachts, schlafend am Kreuz über dem Abgrund, aber sein – quergestelltes – Stirnauge starrte in die Tiefe dieses Abgrundes hinein. Während es zuerst geschienen hatte, als sollte ich ihn blenden, erfasste ich mit einem Male seine Unschuld, seine Abhängigkeit von dem durch ihn die Tiefe erfahrenden Stirnauge der Gottheit, das ein menschliches Auge war. Dann, sehr abgekürzt, versank ich im Gegenüber dieses Stirnauges, sprang in den Abgrund, wurde aufgefangen von der Gottheit, die mich »auf Fittichen des Herzens« trug. Danach schloss sich im Gegenüber zum Affenmenschen dessen Stirnauge und öffnete sich an meiner Stirn. (Bisschen schwierig, dies zu schreiben, aber was soll man tun) Von dem Versuch aus, dieses Geschehen zu verarbeiten, kam es zur ›Neuen Ethik‹. Für mich sieht seitdem die Welt anders aus.« 92 Unveröffentlichte Briefe Erich Neumanns an C. G. Jung, Brief vom 25. Mai 1957. Ebd. (Jung antwortet nahezu umgehend, nämlich am 3. Juni 57, was auf ein starkes thematisches Interesse von Seiten Jungs schließen lässt). 92 Ebd., Brief vom 14. Juni 1957 Vielleicht nicht ganz unzufällig fühlt man sich bei Neumanns Imagination an einen der Aphorismen Nietzsches aus ›Jenseits von Gut und Böse‹ erinnert: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei 90 91
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Aus der imaginativ gewonnenen Erfahrung entwickelt Neumann zwei weitere auf Nietzsche zurückführbare Gedanken: Der erste bezieht sich auf die Verbindung, die die Erfahrung des Primitiven im Einzelnen mit einer verloren gegangenen Seite im Menschen stiftet: die Verbindung mit »Natur und Erde«, welche Neumann als »Gewichtsverschiebung nach unten zur Erde hin, wie sie die christlich abendländische Welt bis dahin nicht kannte noch kennen konnte«, bezeichnet. 93 »Indem das Ich seine Zusammengehörigkeit mit dem bösen und hässlichsten Menschen, dem Raubtiermenschen und dem im Urwald sich fürchtenden Menschenaffen verwirklicht, wächst ihm etwas Entscheidendes zu, dessen Fehlen dem modernen Menschen in die Katastrophe seiner Zerspaltung und Ich-Isolierung hatte geraten lassen, nämlich die Verbindung mit der Natur und der Erde.« 94 Erst unter der Prämisse schließlich dessen, was Neumann »die säkularisierte Erdbetonung des modernen Menschen nennt«, 95 lässt sich eine Phantasie der Solidarität unter den Menschen entwickeln: »eine stabile Form menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühls und kollektiver Mitverantwortung.«96 Schon in der Vorrede des ›Zarathustra‹, an derselben Stelle, wo Nietzsche seinen Evolutionsgedanken formuliert, der den Menschen über den Wurm zum Affen, vom Menschen schließlich zum Übermenschen führt, spricht ›Zarathustra‹ »vom Sinn der Erde.« 97 »Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen
zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein« (KSA 5: Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus Nr. 146). Vielleicht lässt sich in Neumanns Imagination auch eine Analogie sehen zu Zarathustras »schwerstem Traum«: »Wahrlich sie selber träumtest du, deine Feinde, das war dein schwerster Traum!« (KSA 4: Also sprach Zarathustra II, 175). Man erinnere sich ebenso an die Vorrede des Zarathustra: Beim Versuch, das Volk den Übermenschen zu lehren, knüpft Zarathustra an die Evolutionstheorie an. »Ihr habt den Weg vom Wurm zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt ist der Mensch mehr Affe als irgendein Affe« (KSA 4: Ebd. I, 14). Siehe hierzu Stegmaier, Interpretationen Hauptwerke der Philosophie, a. a. O., 425 f. 93 TNE 76. 94 TNE 94. 95 TNE 137. 96 TNE 95. 97 KSA 4: Also sprach Zarathustra I, 14.
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nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.« 98 Für Neumann führt das Leben in seinem Verwiesensein auf Leib, Erde und Natur, die für ihn heilende Aspekte der eigenen psychischen Tiefe, der »Tiefe des eigenen Urgrunds«99 repräsentieren, unweigerlich zur Frage des Bösen, welches zugleich die Ausgangsfrage der Ethik, wenngleich noch abstrakt gestellt, war. Die Erfahrung des dunklen Bruders in einem selbst oder die Begegnung mit dem hässlichsten Menschen führt den Einzelnen zur Bearbeitung und Annahme seines »eigenen Bösen«. »Es stellt sich für das Individuum als notwendig heraus, sein Böses »anzunehmen.« 100 »Die Unterscheidung meines Bösen vom allgemeinen Bösen ist ein wesentliches Stück Selbsterkenntnis, das niemandem beim Individuationsprozess erspart bleibt. Mit dieser Individualisierung zerbricht aber gleichzeitig die alte Vollkommenheitstendenz des Ich.« 101 So erweitert die neue Ethik »die Verantwortung der Persönlichkeit auf das Unbewusste, wenigstens auf den persönlichen Anteil des Unbewussten, welcher die Schattenfigur beinhaltet«, 102 was jeweils für den einzelnen »eine schwere Arbeit« darstellt. 103 Die Begrifflichkeit vom eigenen Bösen lässt sich, um ein letztes Mal auf Nietzsche zurückzukommen, im Kontext des Kapitels ›Selbst-Überwindung‹ des ›Zarathustra‹ lesen, ebenso im Kontext des Kapitels ›Von alten und neuen Ebd. I, 15. Auf derselben Seite: »An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als den Sinn der Erde! Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib. […] So dachte sie ihm und der Erde zu entschlüpfen.« Dieses Gebundensein an den eigenen Leib, die eigene Natur, das Verbundensein mit der Erde in Absage an eine überirdische Erlösung führt Zarathustra zu seinem »abgründigen Gedanken«, dem »Gedanken der ewigen Wiederkunft«. Ohne darauf hier näher eingehen zu können, sei zumindest erwähnt, dass am Ende des Zarathustra der hässlichste Mensch, von seiner Selbstverachtung nahezu aufgezehrt, überraschend von seiner Liebe zum Leben spricht: er möchte es genauso noch einmal leben (KSA 4: Ebd. IV, 395). Damit greift er – als Zarathustras dunkler Bruder – Zarathustras Ringen um den Gedanken der ewigen Wiederkunft auf, der als ein Ringen um Befreiung vom Überdruss gesehen werden kann durch die Erkenntnis, dass nicht allein das Hoffnungsvolle und Zukunftsweisende am Menschen ewig wiederkehrt, sondern ebenso das Hässliche, Kleine, Mittelmäßige, Inferiore, Böse. 99 TNE 93. 100 TNE 74. 101 Ebd. 102 TNE 90. 103 Ebd. 98
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Tafeln‹, d. h. der durch Nietzsche geforderten Individualisierung der Werte. 104 IV. Der Ton, den Neumann in seiner neuen Ethik anschlägt, ist ganz von jenem »Pathos der Distanz« durchdrungen, von dem Nietzsche in ›Ecce Homo‹ spricht,105 und das er zur »Maxime eines jeden außergewöhnlichen Lebens erhebt.« 106 »Pathos der Distanz« lässt sich als »die basale ethische Grundregel für den von Nietzsche geforderten »souveränen Menschen« verstehen. 107 Prinzipiell wird vom Philosophen eben jenes Pathos verlangt. 108 Dieser Ton, in dem sich Neumanns Verachtung gegenüber Traditionellem äußert, 109 irritierte die Zürcher Jungianer. Man warf ihm unter anderem einen »alttestamentarischen Standpunkt« vor. 110 Über die Empörung im neu gegründeten Schweizer Jung-Institut war Neumann vollkommen verblüfft. Neumann apostrophiert den Zürcher Aufstand als »geistige Unredlichkeit« und gibt sich kampfbereit: »Ich bin bereit, die ›Neue Ethik‹, die anscheinend in der Schweiz keinen Freund mehr hat, in voller Feldschlacht gegen das ganze Institut, Protestanten, Katholiken, getaufte Juden, ungetaufte Juden und sogar gegen Junganalytiker zu verteidigen, wenn sich welche finden sollten […]« 111 Auch Jung hatte, als er die ›Neue Ethik‹ zum ersten Mal las, das Gefühl, sie werde wie eine »Bombe« wirken, empfand, wie er schrieb »ein heimliches Vergnügen« dabei und sah seine Rolle in der zu erwar104 KSA 4: Also sprach Zarathustra II, 149: »Wahrlich ich sage euch, Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das giebt es nicht! Aus sich selber muß es sich immer wieder überwinden. […] Und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen: wahrlich, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische.« 105 KSA 6: Ecce Homo, 312 u. 258 f. 106 V. Gerhardt, Pathos der Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1988, 6. 107 Ebd. 108 »Es waren, so Nietzsche, wiederum die Juden, die sich seit alter Zeit auf »das Pathos der Distanz« verstanden: die dauernde »Fremdherrschaft« der sie »dem Hochmuth einer geistlichen Aristokratie entgegensetzten, hatte sie dazu erzogen.« (Stegmaier u. Krochmalnik [Hg.], Jüdischer Nietzscheanismus, a. a. O., S. XV mit Verweis auf KSA 13: Nachgelassene Fragmente, 169 f.). 109 Der Plural majestatis unterstreicht diesen Gestus: »Uns ist diese Heiligkeit zuwider geworden […]« (TNE 116). 110 Unveröffentlichte Briefe Erich Neumanns an C. G. Jung, Brief vom 6. Juni 1948. 111 Ebd.
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tenden Diskussion als die eines »Feuerwehrkommandanten.« 112 Neumann bittet Jung jedoch, sich nicht aufs Feuerlöschen zu verlegen, da ein reinigendes Feuer doch »einigen Dreck beseitigen könnte.« 113 Sein Hauptvorwurf richtet sich gegen die seiner Meinung nach falsch verstandene Funktion des Unbewussten: »Man lächelte etwas überlegen über meine provinzielle Einstellung, die nicht ganz auf der Höhe sei, weil ich eben wertete, wo man jenseits von Gut und Böse die Weisheit des Unbewussten walten lassen müsste. Dabei scheint man mir aber allzu oft Unbewusstheit des Ich mit Weisheit des Unbewussten zu verwechseln […]. Ein Teil der Hemmungen gegen Ihre Lehre beruht auf der unrevolutionären und allzu gemütlichen Haltung Ihrer Schüler, die immer schon die Weisheit der »dritten Lebenshälfte« vorwegnehmen wollen, bevor sie die Kämpfe der ersten hinter sich gebracht haben … Ich möchte Ihnen nicht verhehlen, dass mir manchmal scheint, Sie seien selber daran etwas mitschuldig … Ich möchte Ihnen aber gleichzeitig versichern, dass mein heißes Bemühen nach wie vor dahin gehen wird, mich »des Hasses der Leisetreter würdig zu erweisen.« 114 Zu dieser heftigen Kontroverse von damals, sowie zur Thematik der Verständigung über Konzepte von Moral und Ethik zwischen Jung und Neumann gibt es aufgrund des unveröffentlichten Materials bislang noch keine Debatte. 115 Der Verweis Roman Lesmeisters auf Jungs Auffassungen zu Moral und Ethik 116 zeigt, wie sehr Jung selbst von der Idee einer »radikalen Individualisierung der Ethik« 117 ergriffen war, einer »Ethik jenseits von Gut und Böse im konventionellen Verständnis dieser Begriffe«, einer »Ethik der radikalen Selbstermächtigung des C. G. Jung Briefe in drei Bänden, Band II. Olten 1973, 139 f. Unveröffentlichte Briefe Erich Neumanns an C. G. Jung, Brief vom 1. Januar 1949. 114 Ebd. 115 Gering war die Resonanz zu Neumanns Schrift auch außerhalb des psychoanalytischen Kontextes. Eine Ausnahme bildet der kurze Beitrag von Walter Schulz in seinem 1972 erschienenen Werk ›Philosophie in der veränderten Welt‹. In neuerer Zeit meldeten sich zu Neumanns Ethik in Jungianischen Fachkreisen vor allem kritische Stimmen zu Wort: R. Lesmeister, Grundlagen von Moral und Ethik in der Analytischen Psychologie, in: Analytische Psychologie 39 (2008) 52–69. Siehe ebenso auch die Beiträge von Anita von Raffay und Gerhard Burda in: Österreichische Gesellschaft für Analytische Psychologie (Hg.), Zur Utopie einer neuen Ethik. 100 Jahre Erich Neumann – 130 Jahre C. G. Jung, Kongressband Dreiländertagung. Wien 2005. 116 R. Lesmeister, Grundlagen von Moral und Ethik in der analytischen Psychologie, a. a. O. 117 Ebd.62. 112 113
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Erich Neumanns Tiefenpsychologie und ›Neue Ethik‹
Subjekts,« 118 aus der »etwas von Nietzsches Geist herüberweht.« 119 Dies vermittelt eine Ahnung dessen, was zur Auslotung der rezeptionsgeschichtlich höchst komplexen Sachverhalte in Jungs und Neumanns Werk noch zu leisten wäre.
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Ebd. 63. Ebd.
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Vom Übermenschen zum schöpferischen Menschen Erich Neumanns 1 Anthropologie der Kreativität
1.
Ausgangspunkt: Nietzsches »Übermensch«
Der Zusammenhang zwischen dem Schöpferischen und dem »Übermenschen« findet sich im ›Zarathustra‹, also in der dritten Werkperiode, genauer gesagt im Winter 1882/83. Nietzsche ist schweren psychischen Leiden ausgeliefert, bricht mit Familie und Freunden, und beinahe mit sich selbst, da er sich am Rande des Suizids bewegt. Ich möchte mich zunächst auf den Übermenschen beziehen und dann eine Brücke zu Neumanns Anthropologie der Kreativität schlagen. Der »Übermensch« entsteht in der Krise des Menschen Nietzsche: »Ich will das Leben nicht wieder. Wie habe ich’s ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? Der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht es selber zu bejahen – Ach!«2 Fragen wir in diesem ersten Abschnitt, wie die Ausrichtung am Übermenschen mit dem Schöpferischen zusammenhängt. »Seht, welche Fülle ist um uns! Und aus dem Überflusse heraus ist es schön hinaus zu blicken auf ferne Meere. Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch. Gott ist eine Mutmaßung; aber ich will, daß euer Mutmaßen nicht weiter reiche als euer schaffender Wille. Könntet ihr einen Gott schaffen? – So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und dies sei euer bestes Schaffen! – ist […] Schaffen – das ist die große Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden. Aber daß der Schaffende sei, dazu selber tut Leid not und viel Verwandelung. 1 2
Geboren 23. Januar 1905 in Berlin; gestorben 5. November 1960 in Tel-Aviv. Kritische Studienausgabe, Band 10. Berlin, New York 1980, 137 / VII 4 [81].
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Vom Übermenschen zum schöpferischen Menschen
Ja, viel bitteres Sterben muß in eurem Leben sein, ihr Schaffenden! Also seid ihr Fürsprecher und Rechtfertiger aller Vergänglichkeit. Daß der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muß er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin. Wahrlich, durch hundert Seelen ging ich meinen Weg und durch hundert Wiegen und Geburtswehen. Manchen Abschied nahm ich schon, ich kenne die herzbrechenden letzten Stunden« (Zarathustra II Auf den glückseligen Inseln).
Nietzsche findet Kreativität in der Größe des Übermenschen. Der schöpferische Mensch muss Widerstände überwinden – Widerstände, die ebenso von der Ablehnung des Leidens herrühren wie von der Blockade des »Willens zur Macht«. »Nietzsches ›höhere Menschen‹ sind zugleich Vorbilder und Gegenbilder. Es ist, als ob jedes bestimmte Ideal des Menschen zerschlagen werden müsste, da es als vollendet gedacht sich zugleich verkehrt. Die gestaltlose Unbestimmtheit des Übermenschen wirkt dagegen wie das führende Leitbild, das mich in keinem bestimmten Ideal versinken und verkümmern lassen soll.« 3 Mit Nietzsche können wir Menschen kreativ nennen, die bestimmte schöpferische Fähigkeiten haben: als Künstler, Wissenschaftler, Gottsucher, Problemlöser usw. Aber Menschen, die in diesem ersten Sinn schöpferisch sind, schätzen die Kreativität nicht unbedingt als Wert. Diese Wertschätzung macht nun die zweite Bedeutung von Kreativität aus: Menschen, die das Schöpferische als Wert anerkennen, suchen geradezu die Herausforderung durch Grenzen und Schwierigkeiten, sie verstehen, dass der schöpferische Prozess mit Leiden einhergehen muss. 4 Die Gefährdung des Menschen, sein mögliches Scheitern im Untergang und sein Ausgestrecktsein zum Übermenschen drückt Nietzsche in der berühmten Metapher vom Seil aus (Zarathustra Vorrede 4): »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke K. Jaspers, Nietzsches Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin, Leipzig 1936, 140. 4 Vgl. B. Reginster, The affirmation of life: Nietzsche in overcoming nihilism. Cambridge, London 2006, 190 f. 3
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und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist.«
Der große schöpferische Mensch ist nicht der inflationär mit dem Übermenschen identifizierte, sondern der Übergang, das Seil über dem Abgrund, das durch Stärke, Willenskraft, Risiko geknüpft ist. »Der Weg des Schaffenden« impliziert sowohl das Verbundenbleiben mit der Erde als auch das Ausgestrecktsein auf den Übermenschen hin.« 5 Nietzsches Experimental-Philosophie ist eine Anti- und TransAnthropologie. Die Seilmetapher beinhaltet einerseits Nicht-Bewegung, Verknüpftheit mit dem (animalischen) Ursprung. Andererseits kann sich der Mensch an dem über den Abgrund gespannten Seil nicht festhalten, er ist auf Gedeih und Verderb »nach oben« ausgerichtet. Das Geschöpf ist auf den Schöpfer ausgespannt, ja: »Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint.« 6 Kreativität heißt für Nietzsche: Opposition gegenüber einem Christentum, das nihilistisch-lebensverachtend dem Willen zur Macht entgegensteht und Hinwendung zum Dionysos-Mythos. In der ›Geburt der Tragödie‹ (4) bewertet er Mühe und Schmerz neu als für den schöpferischen Prozess charakteristisch. Ferner zeichnet sich der schöpferische Prozess durch Verlust und Zerstörung aus. Zwei Aphorismen vom Sommer 1883: »›Du sollst dich ausbeuten, bestehlen, belügen lassen‹ – Grundgefühl des katholischen Priesterstaats, speziell vollkommen im Jesuitism. sacrificio dell’intelletto uralt und ursprünglich – doch nicht als Opfer empfunden, sondern das Gegentheil als Qual« ( [12]). »Meine erste Lösung: die dionysische Weisheit. Dionysisch: zeitweilige Identification mit dem Princip des Lebens (Wollust des Märtyrers einbegriffen)« (8 [14]) (KSA, 334 f.). Mit dem erwarteten Kommenden ist eine Freude verknüpft, der nietzscheanische Messianismus des Übermenschen. 7
Ebd. 250 f. JKB 225; KGW VI/2, 167; vgl. Y.-S. Kang, Nietzsches Kulturphilosophie. Würzburg 2003, 38–40. 7 Vgl. H. Kopp-Oberstebrink, in: D. Krochmalnik u. W. Stegmaier (Hg.), Jüdischer Messianismus. Berlin, New York 1997; C. Hufnagel, in: Ebd. 5 6
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Vom Übermenschen zum schöpferischen Menschen
2.
Neumanns Anthropologie des Schöpferischen
Die Kreativität des Menschen taucht immer wieder in Neumanns Werken auf. Anhand der knappen Abhandlung ›Das Schöpferische als Zentralproblem der Psychotherapie‹ 8 möchte ich dieses Schlüsselkonzept in fünf Thesen zusammenfassen, im Gesamtwerk Neumanns verorten, auch in den unveröffentlichten Schriften zum Judentum, und dann von Nietzsche her lesen: Das Ich ist auf ein Nicht-Ich angewiesen – jede und jeder ist Adam: schöpferisches Geschöpf – Das Ich ist schöpferisch und kostbar – der schöpferische Mensch ist gefährdet – schöpferische Psychotherapie stellt demütig die Ich-Selbst-Achse wieder her. Ich überspringe die Einleitung (§§ 1–4), in der Neumann sein Programm ankündet: schulübergreifend den schöpferischen Mittelweg zwischen chaotischem Überschwemmtwerden und Überrationalisierung zu finden.
2.1. Das Ich ist auf ein Nicht-Ich angewiesen. Der Beitrag ›Das Schöpferische als Zentralproblem der Psychotherapie‹ ist insgesamt propädeutisch gehalten. Mit sparsamer Fachterminologie und möglichst ohne theoretische Voraussetzungen führt er den Grundgedanken der Ich-Selbst-Achse ein, den er in der ›Ursprungsgeschichte des Bewusstseins‹ und in ›Das Kind‹ archetypologisch, religions- und kulturanthropologisch, aber auch entwicklungspsychologisch im Sinne der sekundären Personalisierung eingeführt hatte: Während seiner lebenslangen Entwicklung ist der Mensch auf ein Nicht-Ich angewiesen, das sich als Selbst und als Welt herausstellt (§ 5), die Kreativität des Ich besteht in diesem Angewiesensein auf das ureigene und doch fremde, unbekannte Unbewusste (§ 6), welches die Mutter in der frühesten IchEntwicklung repräsentiert (§ 8). Ich-Transzendenz, Angewiesensein auf das Selbst heißt nun aber keineswegs, dass das Ich übersprungen werden dürfte, es ist vielmehr Garant (§ 7) der Ich-Selbst-Ganzheit, der Einheitswirklichkeit, also des Zustandes, in dem Welt und Psyche nicht gespalten sind bzw. diese Spaltung überwunden ist. Neumann hat gezeigt, wie Leonardo da Vinci und andere große schöpferische Menschen E. Neumann, Opus Magnum: GW 4. Acta Psychotherapeutica et Psychosomatica 8, 1960.
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aus dem Kontakt zur Einheitswirklichkeit heraus leben und gestalten, zu jener Einheitswirklichkeit die im Rationalismus eines einseitig extravertierten Bewusstseins unterzugehen droht. Gleichwohl: Es sind nicht nur die großen schöpferischen Gestalten und Gestalter(innen), die im Kontakt mit der Einheitswirklichkeit des Ursprungs sind. Vielmehr beginne ein neuer schöpferischer Prozess mit jedem neuen Menschen. Neumann sagt: »Das überpersönliche Dasein schränkt sich ein« (§ 9). Was Neumann mit dieser »Einschränkung« des überpersönlichen Daseins meint, wird deutlicher, wenn wir in seiner unveröffentlichten Arbeit zum Chassidismus lesen: »Eine Grundlehre der Kabbala, auf die sich der Chassidismus stützt, ist die Lehre vom Zimzum, der Einschränkung, als dem Grundprinzip der Schöpfung. Dieser Zimzum, der zur Entstehung der Welt aus dem an sich Unendlichen führt, bedeutet nicht nur eine stufenweise Einschränkung des Lichts der Gottheit und mündet über verschiedene Weltstufen in der am stärksten »eingeschränkten« Dingwelt, der stofflichen Welt unseres Daseins, sondern gleichzeitig ist der Zimzum das Prinzip der Individuation oder, wie man jetzt besser sagen muss, der Individualisiertheit, denn »jedes Ding in der Welt hat einen anderen Zimzum der Quantität und der Qualität nach« […] Dieses verschiedene Eingeschränktsein entspricht einem sich Einschränken der schöpferischen Gottheit, die ihre unertragbare Totalität einschränkt in die gefäßhafte Individualisiertheit der Welteinzelheit. […] So entspricht die Schöpfung als Schöpfung individualisierter Gefäßhaftigkeit einem Sichverbergen der Gottheit« (ChPBJ 5). Das Licht der schöpferischen Gottheit schränkt sich in jedem Geschöpf ein. Zimzum, Eingeschränktheit und Verborgenheit klingen zunächst negativ. Es handelt sich jedoch um entwicklungsoffene Eingeschränktheit, bezogen auf die Erlösung: Erlösung des Menschen nämlich, aber auch der Schöpfung und – für ein christliches Weltbild erstaunlich! – sogar des Schöpfers. In jedem Geschöpf gibt es den Funken des göttlichen Lichtes, der erlöst werden will. Neumann behandelt ausführlich die chassidische Funkentheorie, die er von ähnlich klingenden gnostisch-manichäischen Lehren abgrenzt. Denn den Chassidim gehe es gerade nicht um dualistische Lösungen, sondern um eine neue Synthese der JHWH 9 -Erd-Spannung, also der Spannung zwischen 9
Konsonantenstamm des Gottesnamens, der in der biblischen Tradition nicht durch
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dem geistig-feurig-himmlischen Gott Israels und der Erde, auf die Aspekte der Anima und der abgewiesenen Muttergottheiten projiziert wurden. Die »Erlösung« der verborgenen Funken bedeutet gerade ein Fruchtbarmachen der Spannungen zwischen Himmel und Erde, Gut und Böse, weiblichem und männlichen Prinzip. So der chassidische Mythos von den göttlichen Funken, die in allen Dingen verborgen sind. Dem Menschen kommt eine wichtige Rolle bei der Erlösung zu: Er ist nicht nur Geschöpf, sondern auch Schöpfer Gottes. Gott ist nicht nur vollkommenes Wesen, sondern in Entstehung. 10 Neumann sieht die Chance, den »asketischen, bewusstseinsübersteigerten und naturentfremdeten Rabbinismus«, die »gefährliche Abspaltung des Bewusstseins vom schöpferischen Fundament des Unbewussten«, durch den »zur schöpferischen Natur zurückkehrenden Chassidismus« zur Erde zurückzuführen.
2.2. Jede und jeder ist Adam: schöpferisches Geschöpf. Adam, nach Genesis 2,7 11 der von der Adamah, dem Ackerboden genommene »Erdige«, »Lehmige« kann schöpferisch sein, weil er mit dem schöpferischen Du verbunden ist: »In ihm ist die Verbundenheit des Menschen mit der geschaffenen und schöpferischen Welt lebendig ebenso wie mit dem zum eigenen Wesen gehörenden und ihm entnommenen Gegen-Du des Partners und mit der schöpferischen Gottheit. Das Göttliche ist hier nicht nur der tragende Grund des Daseins, sondern zugleich auch ebenbildlich sichtbares Gegenüber und hörbare Stimme, und Adams »Namengeben« ist der Ausdruck dieses wesenhaften Begegnens mit dem Du. Der Namen gebende Mensch ist nicht »Sein im Unbewusstsein«, wie das unbewusste Dasein des Tieres, sondern er besitzt die Möglichkeit einer schöpferisch und wesensmäßig bedeutsamen Erfahrung, denn Namen geben heißt: das Wesen erfassen. Diese Paradieses-Erfahrung des Adam stammt aus der Verbundenheit Hinzufügung von Vokalen ausgesprochen, sondern umschrieben wird als »Name«, »Herr« oder »Adonai«. 10 Vgl. M. Trevi Chassidismo. Note sul significato psicologico di un’esperienza religiosa, in: Revista di Psicologia Analitica 4 (1973) 99–141. 11 »Da formte JHWH Elohim den Menschen (adam) aus Erde vom Ackerboden (adamah) und bließ in seine Nase den Lebensatem (nishmat hajjim). So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen (näfäsh chajjah).«
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seines Seins mit allem Sein in einer Einheitswirklichkeit, in welcher das Wissen um das mit ihm verbundene Andere sich gründet« (§ 10). Wie bei Nietzsche ist der Mensch auf der einen Seite des Seils mit dem Tier verknüpft, auf der anderen Seite, im »Namengeben« streckt er sich gegenüber dem »unbekannten Gott« aus, wie er in der Apostelgeschichte 12 und in einem berühmten Gedicht Nietzsches genannt wird. In Genesis 32 kämpft der Stammvater Jakob des Nachts an der Jabboqfurt mit einem Unbekannten, mit einem unheimlichen Flussdämon, der ihm im Morgengrauen auf die Hüfte schlägt. »[Der Mann] sagt: Wie ist dein Name? [Jakob] sagt: Jakob« (V. 28). Der Namenlose fragt nach dem Namen. Im animistischen Kontext gilt: Wer den Namen eines Geistes weiß, kann diesen zitieren. Namen hängen also mit Verfügenkönnen zusammen. Nun kommt es zu einer Umbenennung durch den dunklen Rivalen: »[Jener] sagt: Nicht mehr Jakob wird dein Name sein, sondern Israel [Gott möge streiten]; denn mit Göttern und Menschen hast du gekämpft (srh) und hast gewonnen« (V. 29). Hier kommen die Subjekt-Objekt-Verhältnisse vollends durcheinander. Der Name Israels wird auf den kämpferischen Gott hin gedeutet; aber Jakob ist es, der kämpft und obsiegt und er bekommt diesen neuen Namen. Gott oder Götter und Menschen sind seine Unterlegenen, und doch ist es Älohim, der ihn mit Autorität umbenennt. »Da fragt Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! [Jener] sagt: Wozu dies, dass du mich nach meinem Namen fragst? Und er segnet ihn dort« (V. 30). Die animistische Retourkutsche: Die Frage nach dem Namen bleibt unbeantwortet, und bis heute spricht kein gläubiger Jude den Gottesnamen aus, sondern spricht lieber von hashem, von dem Namen JHWHs. Unbestimmt bleibt, wer mit Jakob kämpfte. Hingegen kommt es zur Übertragung von Kraft durch den dunklen Engel. Neumann erinnert daran, welche Missdeutungen alttestamentliche Stellen wie das Ringen des Stammvaters mit dem Engel hervorriefen, »mit welcher Leidenschaft eine missdeutende Theologie z. B. ihr Gift an den jüdischen Menschen des Alten Testaments verschenkte, dessen Unverstelltheit gerade ihr Missfallen und ihre Fehlbewertung hervorrief«. Nietzsche
12
17,23.
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Vom Übermenschen zum schöpferischen Menschen
habe sowohl »die Größe und Urwüchsigkeit des Alten Testamentes« als auch »die Verpfarrerung seiner Beurteiler« richtig gesehen (TPJM 23). Neumann interpretiert das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf anhand von Genesis 2,7: »Im Laufe der Geistesgeschichte des Judentums ist die Unterordnung des LeibErde-Natur-Systems unter das JHWH-Wind-Geist-Prinzip radikal vollzogen worden. Aber schon im Genesis-Text ist die belebende Geist-Ruach-Seite in den Vordergrund gerückt, ebenso durch die Lebenshauch-Beseelung und Begeistung des Adam, der durch sie zum Herrscher und Mittelpunkt der Welt eingesetzt wird, wie durch die Tatsache, dass die Welt durch das Wort, den sprechenden Sinn-Hauch, den Logos, geschaffen wird. So wird auch im RuachNefesch-Gegensatz der Gegensatz des JHWH-Erd-Prinzips wiederholt, wobei aber gerade die Erd-Blut-Seite, soweit sie eingeordnet ist, positiven Charakter hat« (TPJM 88 f.).
Die Parallele zwischen Ruach, Lebenshauch (nishmat hajjim) und dem schöpferischen Logos impliziert einen Verbindung sowohl zu Genesis 1 (»im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«) als auch zu Johannes 1 (»im Anfang war der Logos«). Neumann betont den für das semitische Denken zentralen Begriff der »Lebendigkeit« und begründet so, warum der (nicht mehr atmende) Leichnam als Inkarnation des Unreinen gilt: wegen des Vorranges der Lebendigkeit. 13 Das »Herrschen« Adams über die Tiere und die übrige Schöpfung leitet Neumann aus dem Benennen-Können her (§ 11). Aber: Es gibt Grenzen des Namengebens, manche Fragen nach dem Namen bleiben offen oder enden damit, selbst umbenannt zu werden. Wir spüren heute, dass eine hemmungslose Anthropozentrik das Herrschen pervertieren kann: Beim ersten Anzeichen von BSE, Vogel- oder Schweinegrippe »keult« der Mensch seine Mitgeschöpfe, oder wie immer man diese massiven Tötungsaktionen umschreiben mag. Was hat Adam mit uns Nachgeborenen zu tun? Jede und jeder Einzelne ist Adam (§ 40). Die Vertreibung aus dem Paradies drückt auch für uns die verlorene und angestrebte Einheitswirklichkeit aus (§ 12). Wahrheit der Ebenbildlichkeit (§ 13) heißt, dass unser Benennen- und Verfügenkönnen Grenzen hat, was auch religiös unmusika-
13 Vgl. T. Kuc ˇ era, Jüdische Spiritualität an den Grenzen des Lebensintervalls, in: E. Frick. u. T. Roser (Hg.), Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen. Stuttgart 2009, 164–170.
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lische Menschen mit dem Terminus »Geschöpflichkeit« belegen können. 14
2.3. Das Ich ist schöpferisch und kostbar. Im Rahmen des Zentroversions-Geschehens sieht Neumann das Ich als Sohn / Tochter des Selbst. Diese »Filialisierung« hat zur Folge, dass Neumann im kreativen Prozess einen starken Ich-Bezug wahrt und eine verstärkte Ich-Stabilität mehr betont als regressive Tendenzen. 15 Er hebt die schöpferische Qualität des Ich (§ 17) hervor und die Notwendigkeit, dessen Ebenbildlichkeit wiederherzustellen »und ihm die relative Herrschaftsstellung zu ermöglichen, welche die Voraussetzung für eine Wesenserfassung des Daseins, sein »mit Namen nennen« ist« (§ 33). An dieser Stelle redet Neumann vom Ich als Adam und vom Selbst als dem Schöpfer. Das Verhältnis des Ich zum Nicht-Ich wird – mit Buber gesprochen – nicht im Grundwort Ich-Es, sondern im Grundwort Ich-Du gefasst (§ 31). Den schöpferischen Einzelnen sieht Neumann nie isoliert, sondern immer in Bezug auf seine Gruppe, ja: auf das Ganze der Menschheit (§ 36). Wenn alte Werte zerbrechen, was sowohl Nietzsche als auch Neumann konstatieren, stellt sich für die Neue Ethik das Problem der Annahme des »Bösen« (§ 38). Dies beinhaltet auch, dass der geschaffene Mensch die Problematik der Schöpfung / des Schöpfers mitträgt (§ 39). Schließlich: der Einzelne ist kostbar, und dies rechtfertigt auch unsere psychoanalytischen Bemühungen (§ 44). Die große Erfahrung geht auf die Einheitswirklichkeit, die Innen-Außenheit umfasst, also das »Paradies« (§ 42). Aber: nicht nur die großen Künstler, sondern jeder kann fundamental schöpferisch sein (§ 41). Der Homo creator ist immer auch ein homo mysticus (§ 43).
Vgl. M. Reder u. E. Frick, Geschöpflichkeit in der post-säkularen Gesellschaft, in: Analytische Psychologie 41 (2010) 216–238. 15 Vgl. F. Aveni, Accerchiamento del centro. La geometria del creativo nella psicologia di Erich Neumann, in: Gionarle Storico di Psicologia Dinamica 13 (1989) 47–59. 14
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Vom Übermenschen zum schöpferischen Menschen
2.4. Der schöpferische Mensch ist gefährdet. Neumann sieht eine Reihe von Gefährdungen des schöpferischen Menschen durch Krankheiten und Krisen, letzteres nicht nur im individual-pathologischen, sondern auch im kulturgeschichtlichen Sinn. Er nennt die Gefährdungen der Adoleszenz (§ 20) sowie Sucht, Psychosen, Neurosen und andere Ausdrucksformen der Entwurzeltheit (§ 23). In den modernen Lebensformen erblickt er die Gefahr der Kollektivierung (§ 18). Den herstellenden Homo faber hält er für eine Entartung des ›Homo creator‹ (§ 19). Die Gefahr der Selbst-Entfremdung, der Bruchstückhaftigkeit (§ 21) geht mit der Fragmentierung der Welt (§ 22) einher.
2.5. Schöpferische Psychotherapie stellt demütig die Ich-Selbst-Achse wieder her. Die ärztliche Haltung gegenüber dem Selbst beschreibt Neumann als Demut (humilitas, § 26). Gemeinsam mit dem Patienten und nicht nur ihn »behandelnd« geht schöpferische Psychotherapie von der IchSelbst-Achse aus (§§ 14, 45). Schiere Anpassung ist Scheinlösung (§ 24). Echte »Lösungen« von Konflikten müssen das Unbewusste berücksichtigen (§ 28). Das Gesetz der psychischen Kompensation zwischen den Systemen des Bewussten und des Unbewussten (§ 30), die transzendente Funktion, das aus der Gegensatzspannung geborene »erlösende« Dritte, das Symbol (§ 29) sind Neumanns Fortführung von Nietzsches Seil-Metapher. Die typisch jungianischen Konstrukte dienen der schöpferischen Psychotherapie: die psychischen Instanzen Persona, Schatten, Anima / Animus (§§ 15;37). Dazu gehören die Berücksichtigung von Mitteilungen und Ausdrucksformen der unbewussten Psyche (§ 32), die Erfahrung der Sinnhaftigkeit des Traumes (§ 34) und der aktiven Imagination (§ 35). Der analytische Heilungsweg ist Rückgriff auf das Schöpferische (§ 16), auf die frühe Mutter-Kind-Konstellation, die im Übertragungsphänomen grundlegend neu konstelliert wird (§ 25). Das Zusammen der Übertragung (§ 27) ist demütig und schöpferisch, steht also im Dienst der wieder zu gewinnenden Einheitswirklichkeit. Diese Einheitswirklichkeit deutet Neumann in seiner Chassidismus-Schrift als schöpferisches Miteinander von Mensch und Gott, als 177 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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totalità teandrica. 16 Gegenüber einer ganz auf die Transzendenz ausgerichteten Theozentrik betont der leib-, welt- und lebensfreundliche Chassidismus das Leben im Hier und Jetzt. Neumann sieht darin die Chance, den »asketischen, bewusstseinsübersteigerten und naturentfremdeten Rabbinismus«, die »gefährliche Abspaltung des Bewusstseins vom schöpferischen Fundament des Unbewussten«, durch den »zur schöpferischen Natur zurückkehrenden Chassidismus« zu überwinden: »Diese neue Naturverbundenheit ist nur ein Symptom für die Rückfindung des Chassidismus zum Quellgrund der Seele, zum schöpferischen das Bewusstsein regenerierenden Nichts. Die Intention geht darauf, das Bewusstsein rückzubinden an die schöpferische Seite des Nichts, die wir heute bezeichnenderweise ebenso ›negativ‹ als Un-Bewusstes bezeichnen. Zu dieser Naturwiederbetonung gehört, wie wir noch sehen werden, die Betonung der ›Ganzheit‹ und der ›Freude‹ ebenso wie die relative Bejahung des ›Körpers‹. Selbstverständlich bleibt dabei die alte Rangordnung bestehen, dass der Körper die ›tiefste Weltstufe‹ ist, aber gerade sein entschiedenes Einbeziehen in die geistige-seelische Bewegung – im Gegensatz zur Askese – ist ein adäquater Ausdruck für das Annehmen der Welt; ihre Bejahung ist Voraussetzung zur Realisierung des im Schlummer des Nichts regenerierten ›ganzen Menschen‹. […] Die Entleerung des Menschen zum Nichts lässt die obere geistige Aktivität schöpferisch werden und vordringen, so erlangt man die innere Offenbarung der höheren Weisheit. Das Leersein als Zustand des inneren Empfangens wird seit je vom schöpferischen Menschen als Vorsituation der Produktivität dargestellt. […] Die Erfahrung des Chassidismus von der Unfestgelegtheit der Welt und Menschen ist ein entscheidender Zug. Das ›Neu-an-jedem-Tag‹ wird eine Revolution von ungeahntem Ausmaß gerade für das Judentum« (ChPBJ 26).
3.
Diskussion: Geschöpflichkeit?
Ich möchte nun Nietzsches »Seil« wieder aufgreifen und mit einigen Fäden aus Neumanns Gedanken zum Schöpferischen verknüpfen. Sowohl Jung als auch Neumann stellen dem differenzierenden Bewusstsein die unbewusste Sphäre des Ununterschiedenen und Ungetrennten gegenüber. Es geht um die »gegensatzvereinende oder gegensatzlose Hintergrundswelt jenseits von Zeit und Raum sowie über die Hypo-
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Vgl. M. Trevi, Chassidismo, a. a. O.
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these der Einen Wirklichkeit, welche Innen und Außen umfasst«. 17 Jung nennt sie »unus mundus« oder – innerhalb seiner Metapsychologie 18 – Synchronizität. Neumann nennt die Sphäre des Unus Mundus »Einheitswirklichkeit«, wobei er weniger transzendentalphilosophischkantianisch denkt als Jung, sondern vielmehr von Schellings Ästhetik des Schöpferischen inspiriert ist: 19 »Deswegen ist die Einheitswirklichkeit nichts Unerfahrbares, sondern sie ist die Welt, welche immer da vom Menschen erlebt wird, wo die mit der psychischen Systemtrennung verbundene Weltpolarisierung von Innen und Außen noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Sie ist die eigentliche, ganzheitliche Welt der Wandlung, wie sie der schöpferische Mensch erfährt.« 20 Wie sieht Nietzsche, wie sieht Neumann das Verhältnis des schöpferischen Menschen zum göttlichen Schöpfer? Bis ins 18. Jahrhundert hinein war auch für das wissenschaftliche Denken die Erschaffung der Welt durch Gott eine unhinterfragte Prämisse. Die Erschütterungen durch Darwins Evolutionstheorie, das Ringen um einen naturwissenschaftlich-theologischen Diskurs waren noch weit entfernt. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass Neumann durch die Treue zur jüdischen Tradition an dieser voraufklärerischen Sicht festhält. Und Nietzsche? Wir haben die Sätze: »Gott ist eine Mutmaßung; aber ich will, daß euer Mutmaßen nicht weiter reiche als euer schaffender Wille. Könntet ihr einen Gott schaffen? – So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen« (Zarathrustra II, Auf den glückseligen Inseln).
bereits gelesen. Jung schreibt sie Nietzsches aufklärerisch-philosophischer Skepsis in der Tradition Kants zu, 21 aber auch der titanischen Rivalität des schöpferischen Menschen mit dem schöpferischen Gott. 17 Vgl. A. Jaffé, Die Einheitswirklichkeit und das Schöpferische, in: Analytische Psychologie 11 (1980) 312–320. 18 Vgl. E. Frick, Kausalität und Synchronizität. Zur Polarität zweier metapsychologischer Prinzipien am Beispiel der Psychoonkologie, in: Analytische Psychologie 38 (2007) 26–40. 19 Vgl. Aveni, Accerchiamento del centro, a. a. O. 20 E. Neumann, Der schöpferische Mensch und die Wandlung (1954) (http://www. opus-magnum.de/index.php?area=vbcmsarea_content_und_sinn.pdf), in: G. Walch (Hg.), Der schöpferische Mensch. Frankfurt/M. 1954–55, § 58. 21 Vgl. C. G. Jung, Lecture III (20. Mai 1936), in: J. L. Jarrett (Hg.), Nietzsche’s Zarathustra. Notes of the seminar given in 1934–1939. Princeton, NJ 1988, 926–945.
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Jaspers22 hat Nietzsches »vorantreibendes Bild vom Menschen« kurz so charakterisiert: »Der sich selbst hervorbringende Mensch« – »Schaffen als Freiheit ohne Transzendenz«. Wenn es einen Gott gäbe und alles schon geschaffen wäre, dann bestünde kein Raum mehr für den schöpferischen Menschen. Aber Jaspers sieht auch die Krise der Transzendenz-Losigkeit, »die sich überschlagende Immanenz«. »Aber dass ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielt ich’s aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter. Wohl zog ich den Schluß; nun aber zieht er mich« – (Zarathrustra II, Auf den glückseligen Inseln). »Now, that is what happened to Nietzsche; he was dealing with a situation that he didn’t understand. He started with the assumption that God was a conjecture which one can handle; he drew that conclusion, and then it handled him. He said there could be no such thing as God, and then the self, the unconscious, said, Now you are in my hands; because you deny my existence, you are my victim. […] This is a most decisive moment in the whole drama of Zarathustra. He will be drawn by that unknown factor, and you will see […] testimony which shows very clearly how the thing which was denied was working in him.« 23 Dass der Schöpfer »vor« dem schöpferischen Menschen ist, und der Mensch durch Gott »vorweggenommen« (anticipated) ist, sagt Jung hier und ähnlich in seinem Kommentar zu dem auf Ignatius von Loyola zurückgehenden Satz »el hombre es criado« (der Mensch ist geschaffen) 24 – eine »spirituelle Erfahrung«, mit der Nietzsche zusammenstößt: »Schaffen – das ist die große Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden. Aber daß der Schaffende sei, dazu selber tut Leid not und viel Verwandelung. […] Daß der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muß er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin.« Der schöpferische Mensch wäre Nietzsche zufolge unmöglich, wenn das Schaffen durch Gott vorweggenommen würde. Deshalb schreibt er die KreaNietzsches Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, a. a. O., 132 f. C. G. Jung, Lecture III, a. a. O., 931. 24 Vgl. C. G. Jung, The process of individuation. Exercitia spiritualia of St. Ignatius of Loyola. Notes on lectures given at the Eidgenössische Technische Hochschule, Zürich, June 1939 – March 1940 (Textauszug), in: E. Frick u. B. Lautenschlager (Hg.), Auf Unendliches bezogen. Spirituelle Entdeckungen bei C. G. Jung. München 2008, 71–77. 22 23
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tivität nicht Gott, sondern dem Menschen zu, allerdings um den Preis des Leidens, der Geburtswehen des Bewusstwerdens. 25 Bei Nietzsche wird die tiefe Not des schöpferischen Menschen spürbar, »die im schmerzlichen Widerstreit zwischen Zeugen und Geopfertwerden besteht […]. Beides zu sein, beides sein zu wollen – gottähnlicher Schöpfer wie auch Geschöpf –, die geistige Leidenschaft in ihrem ›Ja‹ und in ihrem ›Nein‹, sich selber als Hammer und als Amboss erleben zu wollen: dies gehört zur Einmaligkeit des NIETZSCHEschen Schöpfergeistes. Sein Schicksal war es, Opfertier zu sein für den schöpferischen Dämon«. 26
Kehren wir abschließend noch einmal zu Neumann zurück. »Das ›Gott ist tot!‹ Nietzsches verkündet den Untergang des patriarchalen Gottesbildes, dessen Wurzel im abendländischen Menschen abzusterben begonnen hat. Der moderne Mensch hat zu viel zu leiden, hat zu viel Leiden gesehen, seine Augen sind von Grauen erfüllt. Das Sterben in Massen, das Zu-Tode-gequält-Werden von Millionen hat seine seelische Tragfähigkeit zerbrochen.« 27 Ich möchte diesen Beitrag weder mit einem oberflächlichen happy end abschließen noch mit dem »lächerlichen Unglauben« eines Abendlandes, das von den eigenen jüdisch-christlichen Wurzeln abgeschnitten ist. Angesichts von Nietzsches Abgrund zwischen dem Erdhaft-Animalischen einerseits und dem Übermenschen andererseits verstehen wir Neumanns Ringen um Erde und Himmel, um Israel und seinen Gott besser, abgründiger. Es ist zugleich ein Ringen um den schöpferischen Menschen, der nach Nietzsche ein Übergang ist, allerdings ein vom Untergang bedrohter: »Vom Untergang des Menschen zu sprechen, weil die Menschenauffassung des Abendlandes ad absurdum geführt worden ist und wir alle in die tödliche Konsequenz dieses Irrtums geraten sind, ist lächerlicher Unglaube. Der Satz Hölderlins: ›Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch‹ ist nicht Ausdruck eines optimistischen Wunschdenkens, sondern entspricht einer tiefsten Erkenntnis der Wirklichkeit. Allerdings ist das diese Wirklichkeit Erkennende
Vgl. Jung, Lecture III, a. a. O., 831. L. Frey-Rohn, Jenseits der Werte seiner Zeit – Friedrich Nietzsche im Spiegel seiner Werke. Zürich 1974, 146 f. 27 E. Neumann, Mensch und Sinn (1957), http://rapidshare.com/files/12841900/ neumann_mensch_und_sinn.pdf, in: Walch (Hg.), Der schöpferische Mensch, a. a. O., 150–154 (§ 9). 25 26
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nicht das rationale Ich, das Nur-Ich und das Bewusstsein, sondern der ganze Mensch, der um den ganzen Menschen und das ganze Leben weiß, welches ein Leben des schöpferischen, in jedem Menschen lebendigen Göttlichen ist« (ebd. § 32).
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Autorenverzeichnis
Almuth Bruder-Bezzel, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin in eigener Praxis (Berlin); Lehranalytikerin (DGIP, DGPT), Dozentin; Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie der Individualpsychologie; Mitherausgeberin der Alfred Adler Studienausgabe; Beiträge zur sozialpsychologischen Psychoanalyse. Email: [email protected] Eckhard Frick, Prof. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychiatrie; Professor an der Hochschule für Philosophie München (SJ) und für Spiritual Care an der Medizinischen Fakultät der Universität München (www.spiritualcare.de); Psychoanalytiker in eigener Praxis, Dozent und Lehranalytiker am C. G. Jung-Institut München. Arbeitsschwerpunkte: Psychosomatische Anthropologie, Psychosomatik schwerer körperlicher Erkrankungen, Themen der Analytischen Psychologie und Spiritualität. Email: [email protected] Gu¨nter Go¨dde, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis; Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut an der Berliner Akademie für Psychotherapie und an der Psychologischen Hochschule Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Psychoanalyse, Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie, Therapeutik und Lebenskunst. Veröffentlichungen: »Traditionslinien des Unbewussten – Schopenhauer, Nietzsche, Freud«; »Das Unbewusste I-III« (Hg. Mit M. B. Buchholz). Email: [email protected] Daniel Krochmalnik, Prof. Dr. Dr. h. c., Studium der Philosophie und Judaistik; Professor für jüdische Philosophie, jüdische Geistesgeschichte und jüdische Religionspädagogik an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; Privatdozent für Jüdische Philosophie an der 183 https://doi.org/10.5771/9783495860113 © Verl
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Universität Heidelberg; Mitherausgeber von Moses Mendelssohns »Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe« und Verfasser zahlreicher religionspädagogischer Publikationen. Email: [email protected] Michael Lindner, Dr. med., Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie; als Psychoanalytiker tätig in eigener Praxis; 2. Vorsitzender des C. G. Jung-Instituts Berlin; Vorträge und Publikationen zu Themen der Analytischen Psychologie. Email: [email protected] Angelica Lo¨we, Mag. Phil., Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte; tätig in Wien als Psychoanalytikerin (C. G. Jung) in eigener Praxis; Unterrichtstätigkeit in Deutscher Literatur und Philosophie. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu diversen Fachthemen. Email: [email protected] Harald Seubert, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie, neueren Geschichte, Literaturwissenschaft und Theologie. Professor für Kulturphilosophie und Ideengeschichte des deutschen Sprachraums in Poznan (Polen); Professor für Philosophie in Bamberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Philosophie der Antike, zum deutschen Idealismus und der Moderne seit Nietzsche, zur politischen und Rechtsphilosophie sowie zur Philosophie der Interkulturalität. Email: [email protected]
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